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German Pages 334 Year 2015
Andreas Heimann Die Zerstörung des Ichs
Lettre
Andreas Heimann (Dr. phil.), geb. 1977, studierte in Mainz und München. Der Literaturwissenschaftler promovierte an der Universität Mainz. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Theorien des Poststrukturalismus, Comicforschung und Gender Studies.
Andreas Heimann
Die Zerstörung des Ichs Das untote Subjekt im Werk Elfriede Jelineks
Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich 05 der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Jahr 2015 als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) angenommen.
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Inhalt
Einleitung. Zwischen Barthes und Boulevard ..............................7 Das Beispiel Otto, Otto das Beispiel .......................................... 17 Sacher Masoch........................................................................... 49 Die Lust der Klavierspielerin oder Ein Brief ist ein Vertrag ist ein Pakt ................................... 63 Tier-Werden, Kafkas Verwandlungen und Jelineks Monster ...... 81 Heteronormativität versus Heterogenität ................................... 85 Kafka-Werden............................................................................. 99 Das subversive Moment des Schweigens ................................ 107 Die schöne Leiche.................................................................... 131 Die Kinder der Toten ................................................................ 145 Unheimlicher Freud, phantastischer Todorov.......................... 153 Das Unheimliche bei Jelinek .................................................... 163 Die Angst als Affekt des Unheimlichen .................................... 173 Im Abseits ................................................................................ 187 Wie aus Auschwitz Disneyland wird ........................................ 195 Das ist Ekelhaft ........................................................................ 213 Unheim(at)licher Boden ........................................................... 235 Hand-lung ................................................................................ 245 Die Chiffre der Haare................................................................ 257 Das Abjekt verstanden als Moment der Selbstbewusstlosigkeit ................ 263 Wer sind die Kinder der Toten? ............................................... 293 Resümee .................................................................................. 297 Literaturverzeichnis ................................................................. 305
Moment, bleiben Sie stehen! Ihnen schaut da die Seele zum Körper heraus, als wäre da ein Werk wie eine schlummernde Göttin in Ihnen, die selbst im Schlaf noch von Ihnen fort will. So scheint es mir zumindest. ELFRIEDE JELINEK
Einleitung Zwischen Barthes und Boulevard
„Die Kinder der Toten“ ist sicher mein wichtigstes Werk. Es enthält alles, was ich sagen wollte; es hätte eigentlich genügt, dieses eine Buch zu veröffentlichen. ELFRIEDE JELINEK
Kaum eine andere Autorin der Gegenwart polarisiert Leser, Kritiker und Medien so sehr und ist darüber selbst zu einer medialen Figur geworden: Elfriede Jelinek. Von den einen geschmäht, beleidigt und als ewige Querulantin verschrien, feiern die anderen sie als Erneuerin der Literatur und als Kulturphänomen. Tatsächlich gibt es in der gegenwärtigen deutschsprachigen Literatur kaum andere Autoren, die auf eine vergleichbare Anzahl von Preisen und Ehrungen zurückblicken können und deren Dramen sich derart oft auf den Spielplänen der deutschsprachigen Bühnen finden. Elfriede Jelinek, so ließe es sich zumindest vermuten, gehört zum literarischen Kanon. Von einer Kanonisierung aber ist ihr Werk noch immer weit entfernt. Dies mag zum einen an der sich nur langsam verbessernden Übersetzungslage liegen1, 1
Die Verleihung des Nobelpreises an Jelinek hat in den letzten Jahren zu einem massiven Anstieg der Übersetzungen geführt. Lag deren Anzahl im Jahr 1997 noch bei dreizehn übersetzten Sprachen, sind es mittlerweile 37. Mit der Komplexität der Übersetzung von Jelinek-Texten setzen sich bereits mehrere Arbeiten auseinander. In Auswahl: Martin Chalmers: In Zungen sprechen. Über die Mühen des Übersetzers, Elfriede Jelinek auf Englisch gerecht zu werden, in: Daniela Bartens und Paul Pechmann (Hrsg.): Dossier extra: Elfriede Jelinek. Die internationale Rezeption, Graz 1997, S. 181-195. – Yasmin Hoffmann: Die französischen Jelinek-Übersetzungen,
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die auf die Komplexität Jelinekscher Texte zurückzuführen ist und die nachhaltig eine internationale Verbreitung hemmt – und somit einer derivaten Situation ausländischer Forschungsbeiträge –, zum anderen aber auch an der Skandalisierung ihres Werkes. Denn Jelinek ist bei allen Auszeichnungen und Erfolgen zugleich auch immer umstritten geblieben. Vor allem in ihrer Heimat Österreich sorgt sie fortwährend selbst für Skandale oder ist in Skandale involviert. Besonders perfide war etwa eine FPÖ-Kampagne gegen sie und andere Kulturschaffende Österreichs. Mit ihrem Slogan „Lieben Sie Jelinek und Peymann … oder Kunst und Kultur?“ löste die rechte Partei um Jörg Haider nicht nur in Österreich einen Skandal aus. Doch auch der Austritt zweier Mitglieder des Nobelpreiskomitees als Protest gegen die Auszeichnung Jelineks fand sein mediales Echo. Und auch im Feuilleton löste die Nobelpreisvergabe an sie ein geteiltes Urteil aus. Dabei sind die Skandalherde vielfältigen Ursprungs. Jelinek die verkopfte Linke, die kulturpessimistische Feministin, Autorin pornographisch anmutender Avantgardeliteratur, die überbewertete Nobelpreisträgerin und natürlich die österreichische Nestbeschmutzerin. Eine Bezeichnung, die gar zum Titel einer wissenschaftlichen Abhandlung wurde, welche sich allein Jelineks Skandalen widmet.2
Ein Beitrag zur Abschaffung der cartesianischen Logik, in: Bartens, Daniela / Pechmann, Paul (Hrsg.): Dossier extra: Elfriede Jelinek, Die internationale Rezeption, Graz 1997, S. 120-135. – Elisabeth Kargl: Das Theater Elfriede Jelineks in Frankreich oder wie Jelinek übersetzen? in: Francoise Rétif und Johann Sonnleitner (Hrsg.): Elfriede Jelinek. Sprache, Geschlecht und Herrschaft, Würzburg 2008, S. 47-69. – Sunanda Mahajan: Elfriede Jelinek: „Die Liebhaberinnen“. Einige stilistische Merkmale und Möglichkeiten ihrer Übersetzung, in: Deutscher Akademischer Austauschdienst (DAAD) (Hrsg.): German studies in India. Aktuelle Beiträge aus der indischen Germanistik/Germanistik in Indien, München 2006, S. 171-179. – Sabine Treude: Vom Übersetzen zum Verschwiegenen. Einige Überlegungen zum Übersetzungsverfahren in den Texten Elfriede Jelineks und Martin Heideggers, in: Sprache im technischen Zeitalter 38 (2000), Nr. 153, S. 75-87. – Bettina Brandt: The Poetics and Tropes of Translation: Elfriede Jelinek’s Afterlife, in: Gegenwartsliteratur, Ein germanistisches Jahrbuch 5 (2006), Schwerpunkt: Elfriede Jelinek, S. 165185. 2
Die Entstehungs- und Veröffentlichungszeit umspannt die Gründung des JelinekForschungszentrums. Pia Janke ist nicht nur die Leiterin des Forschungszentrums, sondern auch gleichzeitig Herausgeberin des Sammelbandes. Pia Janke (Hrsg.): Die Nestbeschmutzerin. Jelinek und Österreich, Salzburg; Wien 2002.
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Die Quelle der Skandale erwächst aber auch aus Jelineks Texten. Dabei ist der werkimmanente Skandal oft an das Erinnern von kollektiv Verschwiegenem, maßgeblich der Rolle Österreichs im Dritten Reich gebunden. Eine Menschenjagd mit jüdischen Gefangenen, faschistoide Strukturen des Sports, ein Tunnelbau unter der Mitwirkung von Göring, bei dem hunderte Strafgefangene ihr Leben lassen – alles gerne kollektiv vergessen und von Jelinek wieder an das Licht der (literarischen) Öffentlichkeit gezerrt. Aber auch die freiheitlich bestimmte Sexualität von Frauen oder deren Unfreiheit in Form von sadistischen Sexualpraktiken, Vergewaltigungen etc. sind Teil des skandalisierten Werkes. In den letzten Jahren wird diese Sozialkritik oft an die realen Biografien solcher aktuellen Unholde wie Fritzl oder Opfer wie Natascha Kampusch gebunden. Themen wie Kannibalismus, personifiziert durch den „Kannibalen von Rothenburg“, werden in der Literatur amalgamiert und sorgen in Verbindung mit einer steten Kapitalismuskritik für den verlässlichen Skandal des Jelinekschen Werks, das sich auch immer wieder tagespolitisch einmischt. Fukushima oder die Flüchtlingskatastrophe vor Lampedusa werden ebenso wie das eingestürzte Kölner Stadtarchiv oder die schon früh vorausgesehene globale Finanzkrise zu Themen ihrer Dramen. In der internationalen Tagespresse erscheinen zudem Texte zur Abschiebungspolitik Österreichs genauso wie zum bedenklichen Umgang Russlands mit der Punkband „Pussy Riot“. Doch auch die Autorin Jelinek polarisiert und skandalisiert3 etwa durch ihren sukzessiven Rückzug aus einer als feindlich empfundenen Öffentlichkeit nach ihrem Skandalroman „Lust“. Die Folge ist ihr Nichterscheinen bei der Nobelpreisverleihung in Stockholm, an der sie nur geisterhaft, als Projektion auf einer Leinwand teilnimmt und ihre Nobelpreisrede „Im Abseits“ vorliest. Eine weitere Folge ist der Umstand, dass sich die Autorin Jelinek selbst literarisiert und in mehrere ihrer Texte einschreibt.4 Hinzu kommen sorgsam ausgewählte Pressefo-
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Zur Selbstinszenierung Jelineks siehe: Margarete Sander: Textherstellungsverfahren bei Elfriede Jelinek. Das Beispiel „Totenauberg“, Würzburg 1996 (= Epistemata, Würzburger wissenschaftliche Schriften, Reihe Literaturwissenschaft 179) Zugl. Univ. Freiburg (Breisgau) Diss. 1996.
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Marlies Janz: Mütter, Amazonen und Elfi Elektra. Zur Selbstinszenierung der Autorin in Elfriede Jelineks Sportstück, in: Bettina Gruber und Heinz-Peter Preußer (Hrsg.): Weiblichkeit als politisches Programm? Sexualität, Macht und Mythos. Würzburg 2005, S. 87-96.
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tos5, die eine etwas zu auffällig geschminkte, blasse Frau mit rötlich gefärbten Haaren zeigen. Mal in ausgefallener Couture, mal in so dunkles Schwarz gekleidet, so dass der Film wie unbelichtet erscheint. Dies alles nährt positiv, wie auch negativ wahrgenommen den Jelinekschen Nimbus. Nicht zu vergessen sei hier Jelineks Privatleben, über welches die Öffentlichkeit wohldosiert unterrichtet ist. Eine herrschsüchtige Mutter, ein Vater, der psychisch erkrankte, weil er seine Erlebnisse als jüdischer Zwangsarbeiter während der Nazidiktatur im angeschlossenen Österreich nicht verarbeiten konnte und natürlich Jelinek selbst: ein musikalisches Wunderkind, das später am Orgelkonservatorium einen Abschluss mit Auszeichnung erreicht, aber in der Folge einen Nervenzusammenbruch erleidet, der sie zwingt, ihr Studium aufzugeben. Während der abgeschiedenen Genesungsphase folgen dann ihre ersten Schreibversuche, die sie als therapeutisch begreift. Doch auch Jelineks Schreibstil steht immer wieder unter dem Vorwurf, zu verkopft zu sein, zu mäandernd, kalauernd und nur auf eine Leseelite hin zugeschrieben.6 Nähert man sich dem Werk Jelineks, ist diese Flut an Skandalen und Skandälchen, an Streitigkeiten und Diskussionen schier unumgehbar, so dass ein „Verschwinden, nicht dasjenige des Autors in seinem Werk, sondern jenes des Werks hinter der überlebensgroßen Ikone seiner Autorin“
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Stefanie Holzer: Die Kunst der Selbstdarstellung. Über Elfriede Jelineks Photos, in: Stefanie Holzer und Walter Klier (Hrsg.): Essays aus fünf Jahren Gegenwart. Wien 1994, S. 51-56.
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Zur stellenweise sehr kontroversen Rezeptionsgeschichte Jelinekscher Texte liegt bereits eine große Anzahl an Arbeiten vor. Vgl. hierzu: Daniela Bartens, Paul Pechmann (Hrsg.): Elfriede Jelinek. Die internationale Rezeption, Graz / Wien 1997. – Christine Flitner: Frauen in der Literaturkritik. Gisela Elsner und Elfriede Jelinek im Feuilleton der Bundesrepublik Deutschland, Pfaffenweiler 1995. – Pia Janke (Hrsg.) & StudentInnen: Literaturnobelpreis Elfriede Jelinek. Wien 2005. – Margarete Lamb-Faffelberger: Valie Export und Elfriede Jelinek im Spiegel der Presse. Zur Rezeption der feministischen Avantgarde Österreichs, New York / Wien 1992. – Walter Ruprechter (Hrsg.): Elfriede Jelinek – Poetik und Rezeption. Studienreihe der Japanischen Gesellschaft für Germanistik, Tokio 2005.
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Daniela Bartens: Vom Verschwinden des Textes in der Rezeption. Die internationale Rezeptionsgeschichte von Elfriede Jelineks Werk, in: dies. und Paul Pechmann (Hrsg.): Dossier extra: Elfriede Jelinek, Die internationale Rezeption, Graz 1997, S. 28-51, hier: S. 37f.
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droht. Zu vielfältig ist der Ursprung der Skandale und deren mediale Begleitung, als das sich selbst bei der wissenschaftlichen Rezeption ihres Werkes nicht immer wieder der eine oder andere Skandal aufdrängt und dabei leider oft das Wesentliche ihres Werkes zu verdrängen scheint. Überschattend liegen diese feuilletonistischen Geschichten auf der Rezeption und verschieben sie oft ins Banalisierende. „Die Entpolitisierung und Mythisierung von Jelineks Werk wird auch hier in der Rezepti8
on auf ganzer Linie vollzogen.“
Analog zu der hier skizzierten Skandalisierung, verläuft auch die bisherige Rezeption. Von den einen einfach ignoriert, hat zum anderen die Jelinekforschung, trotz eines Jelinek-Forschungszentrums in Wien, bisher sehr einseitige Wege beschritten. Denn bei einer ersten Annäherung an den Forschungsbestand lässt sich selbiger, trotz einer vermeintlichen Fülle, schnell in drei Großkategorien gliedern. Neben enorm vielen feuilletonistischen Texten9 ist der erste und zugleich größte Block jener, der sich mit dem dramatischen Œuvre Elfriede Jelineks auseinandersetzt und zugleich ihren Erfolg an den Bühnen widerspiegelt. Der zweite Block bildet sich durch die beiden heftig diskutierten und meist zitierten Romane der Österreicherin: „Lust“ und „Die Klavierspielerin“.10 Damit ist aber nur ein Bruchteil des Gesamtwerks bedacht. Der dritte Block, der die restlichen Romane, Hörspiele, Drehbücher, Libretti und Übersetzungsarbeiten, sowie poetologischen Abhandlungen und journalistischen Texte beinhaltet, findet im Vergleich wenig bis gar keine Beachtung. Die von Marlies Janz vorgelegte erste große Darstellung des bisherigen Gesamtwerks im Jahr 1994 bemängelte bereits damals die defizitäre Forschungslage. Ihre Vorbemerkung leitete sie mit dem kontroversen Satz ein: „Von einer Jelinek-Forschung kann noch keine Rede sein.“11 Im Fokus ihrer Kritik stand dabei das nicht beachtete und doch so zentrale Thema der Shoa. Heute, zwanzig Jahre nach Janz` Studie und zehn Jahre nach der Nobelpreisvergabe an Jelinek haben
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Marlies Janz: Elfriede Jelinek. Stuttgart 1995, S. VIII. Bereits Janz verweist auf die enorme Fülle an feuilletonistischen Beiträgen, deren Sichtung sie aber als „wenig lohnend“ einschätzt. Vgl. Janz: Jelinek. S. X.
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Zu den Verkaufszahlen Jelinekscher Texte und ihren Theatererfolgen siehe: Katalin Nagy-György: Der Erfolg ist ein Status. Jelinek als Antibestseller? Unter: http://www.univie.ac.at/jelinetz/images/a/a7/György.pdf
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Janz: Jelinek. S. VII.
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sich die Gewichtungen verlagert bis umgekehrt. Denn neben der von jeher dominierenden, gendertheoretischen Lesart des Werkes, jene „Pseudo-femininistische Positionen, die auf das ‚Frausein‘ als vermeintlich privilegierten 12
Status des ‚Unterdrücktseins‘ rekurrieren zu können glauben“ ,
hat sich insbesondere in den letzten zehn Jahren eine ganze Flut an theoretischen Texten mit der Faschismus-Thematik befasst. Dabei droht eine solch einseitige Lesart andere Themen zunehmend zu verdrängen und eine unzulässige Simplifizierung zu befördern, die der kompositorischen Dichte der Texte nicht mehr gerecht wird. Bärbel Lücke weist in ihrer Einführung auf den besonderen Umstand hin, dass es sich im Falle Jelineks um eine poeta docta handelt.13 Ein Umstand, dem in einer wissenschaftlichen Analyse unbedingt Rechnung getragen werden sollte. Wurden dem Wirken von Roland Barthes Thesen auf das Jelineksche Œuvre längst diverse Arbeiten gewidmet14, soll die hier vorliegende Analyse dem von Lücke angemerkten Befund Rechnung tragen. Denn eine längere Jelinek-Studie auf diesen einen Denker als theoretischen Gewährsmann zu reduzieren, wäre wiederum eine Verknappung, gegenüber einem Werk, das geprägt ist von vielen literarischen und literaturwissenschaftlichen Traditionen, sozialem Engagement, Brüchen und Volten. Demgemäß fordert eine wissenschaftliche Beschäftigung sogar analoge Komplexität heraus. Denn das bisherige Werk Jelineks erscheint als geformt von einer Tradition der Kultur, die sich im weitestgehenden Gebrauch dieses Wortes kennzeichnet. In einer barocken Mixtur der Gedankenwelten von Heidegger, Kant, Nietzsche und Barthes, mit dem psychoanalytischen Inventar von Lacan, Freud und Kohut, über Versatzstücke, die aus den Werken so unterschiedlicher Autoren,
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Janz: Jelinek. S. IX. Bärbel Lücke: Elfriede Jelinek. Eine Einführung in das Werk, Paderborn 2008, S. 10.
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In Auswahl: Michael Fischer: Trivialmythen in Elfriede Jelineks Romanen „Die Liebhaberinnen“ und „Die Klavierspielerin“. St. Ingbert 1991. – Christa Gürtler: Die Entschleierung der Mythen von Natur und Sexualität, in: dies. (Hrsg.): Gegen den schönen Schein. A.a.O., S. 120-134. – Marlies Janz: „Die Geschichte hat sich nach 45 entschlossen, noch einmal ganz von vorne zu beginnen...“. Elfriede Jelineks Destruktion des Mythos historischer „Unschuld“, in: Daniela Bartens, Daniela und Paul Pechmann (Hrsg.): Dossier extra: Elfriede Jelinek. Die internationale Rezeption, Graz 1997, S. 225-238.
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wie Kafka, Goethe oder antiker Autoren stammen, reihen sich zudem musikalische Themen von Schubert und Wagner ein und konterkarieren Figuren aus der Populärkultur. Auch der filmische Einfluss auf die Texte ist, wenn auch bisher kaum erforscht, ein immanenter Bestandteil. Um dieses Spiel aus intertextuellen und intermedialen Bezügen, das darüber hinaus eine Signifikantenrealität in ihrem artifiziellen Charakter entlarvt und immer auch einen sozialkritischen Impetus der Kontingenz transportiert, zu erfassen, soll eine poststrukturalistische Lesart angestrebt werden. Um eine möglichst vielschichtige Betrachtung des Jelinekschen Werkes zu garantieren, soll die poststrukturalistische Analyse in all ihrer Vielfalt zum Tragen kommen. Die Diskursanalyse im Sinne Foucaults, mit Ideen wie der Archäologie oder Einschreibungsverfahren, soll dabei ebenso relevant sein wie eine psychoanalytische Deutung. Dieses Deutungsverfahren, wird in Bezug auf Probleme einer Subjektkonstituierung dominierend für die Lektüre sein. Hierfür sollen sowohl die frühen Ideen von Freud erfasst werden, aber insbesondere dessen Relektüre durch Lacan zur Interpretation dienen. Lacans Idee, dass das Unbewusste wie eine Sprache strukturiert sei, wird dabei in all seiner Ambivalenz Verwendung finden. Exegeten wie Žižek, aber auch scheinbare Kritiker wie Deleuze und Guattari sollen einen kritischen Diskurs beispielsweise zur Bedeutung des Phantasmas in Jelineks Texten befördern. Der Schrifttheorie soll im Sinne der Dekonstruktion von diachronen Systemen Rechnung getragen werden. Dabei ist mit der Zertrümmerung einer hierarchischen Ordnung, wie ihn die poststrukturalistische Schule dekliniert, bereits eine der entscheidenden Verfahren der Jelinekschen Poetik zu erfassen. In überspitzter, oft sarkastischer Schreibweise entlarven schon die frühesten Texte eine fehlerhafte Welt. Diese wird in Form von Popromanen in „Michael. Ein Jugendbuch für die Infantilgesellschaft“ (1972) und in „wir sind lockvögel baby!“ (1970) thematisiert. In ihnen findet eine kritische Auseinandersetzung mit einer medial beeinflussten Ausbildung von Subjekten und Realitätsebenen statt. In der Analyse von popkulturellen Erzählstrategien soll sowohl die Ambivalenz des Subjektbegriffs grob erfasst werden als auch die Einbettung der Jelinekschen Texte in eine literaturhistorische Tradition nachgezeichnet werden. Im Sinne der Wiener-Gruppe sind jene frühen Prosatexte noch durchgehend in Minuskeln gehalten. Wird diese Technik zwar von dem Text „Die Ausgesperrten“ (1980) an aufgegeben, mahnt der Umgang mit dem Zeicheninventar bereits in dieser frühen Schaffensperiode einen avantgardistischen Gebrauch des Signifikanten an, der Systemcharakter erlangen wird. Zunehmend fokussierend auf die Problematik der Realitätsausbildung, die als patriarchal-sprachliches Problem erfasst wird, erlangen die Texte einen immer progressiveren Umgang
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mit dem Zeicheninventar. Statt jedoch das Sprachbild zu verändern und somit eine Verschiebung der Signifikantenhoheiten zu erlangen, setzt ein Spiel mit Signifikanten und Signifikantenketten selbst ein, das zu den oft zitierten Sprachund Klangteppichen Jelinekscher Texte führt. Parallel zu diesen sprachlichen Entwicklungen steht die Frage nach dem Subjekt im Mittelpunkt der Analyse. Dominieren zunächst medienkritische Betrachtungen im Sinne von Roland Barthes die Texte der Nobelpreisträgerin, rückt die besondere Problematik der Subjektwerdung von Frauen zunehmend in den Fokus. Während „Die Liebhaberinnen“ (1975) noch den internen Kampf der Frauen um einen gesellschaftlichen Platz abbildet und diesen allein in der Unterordnung unter einem Mann verortet und anprangert, zeigt „Die Klavierspielerin“ (1983) ein individualisiertes Schicksal. Jelineks bekanntester Text offeriert darüber hinaus aber auch den Versuch eines Individuationsprozesses. Wurde das weibliche Subjekt zunächst in seiner Verstrickung einer heterosexuellen Matrix gezeigt, wird nun ein besonderer Fokus auf die Möglichkeit einer selbst bestimmten Sexualität gelegt. Der hier bereits immanente Diskurs um Sexualität, verstanden im Sinne Foucaults als Machtinstrument, wird in „Lust“ (1989) fortgeschrieben. Innerhalb der hier skizzierten „feministischen“ Textgruppe, kommt dem dramatischen Text „Krankheit oder Moderne Frauen“ (1987) in der poetologischen Entwicklung von Jelineks Œuvre eine besondere Position zu. Als paradigmatische Wende soll dieses Drama auch in den vorliegenden Überlegungen als Wendepunkt dienen und gleichzeitig eine Zäsur markieren. Rekurrierend auf früheste Texte Jelineks, wie etwa „DER FREMDE! störenfried der ruhe eines sommerabends der ruhe eines friedhofs“ (1969), gewinnt die Phantastik und mit ihr die Horrorgestalten zunehmend an Einfluss. Sind dies zunächst Vampire und Mutanten, dominieren von „Wolken. Heim“ (1988) an Zombies die Texte. Diese werden gar derart präsent, dass von den späten 1980er Jahren an nahezu alle Texte allein untote Figuren vorweisen und somit die Figur des Untoten Systemcharakter beanspruchen kann. Die Auflösung von Realitäten im apokalyptischen Szenario und die damit verknüpften Zerstörungen von Dichotomien im Raum der Phantastik sind zu verhandelnde Fragestellungen. Und auch die Idee des Untoten als Figur eines Dazwischen bildet eine genauer zu erörternde Problematik. Wird der erste Teil der Analyse Jelineks Texte auch immer in eine literaturhistorische Tradition einbinden, soll sich der zweite Teil der Betrachtungen, außer in Rekurs auf andere Jelinektexte, maßgeblich auf „Die Kinder der Toten“ (1995) konzentrieren. Dabei lassen sich die dramatischen Texte „Burgtheater“ (1985), „Präsident Abendwind“ (1987) und insbesondere „Wolken.Heim.“
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(1988) als Prätexte zu „Die Kinder der Toten“ erfassen. Die dramatischen Texte erweisen sich als literarische Petrischalen, in denen neue Ideen erprobt und literarische Themen etabliert werden, um in der Prosa zur vollen Entfaltung gebracht zu werden. So wird das immer stärker auftretende Thema der Shoa zwar auch das nachfolgende Werk dominieren, ebenso wie der Kannibalismus, Fragen nach der Autonomie des Subjekts oder die spezielle Bodenmetaphorik, doch bis heute konnte kein anderer Text alle Hauptthemen des Jelinekschen Schaffens in solcher Intensität subsumieren wie „Die Kinder der Toten“.15 Immer wieder wurde, seitens der Forschung, aber auch von Jelinek selbst auf die Bedeutung dieses Textes verwiesen. Von der Autorin als „mein Hauptwerk“16 ausgewiesen, ist gerade der Forschungsstand zu diesem Text aber noch immer erschreckend gering und wenig befriedigend. Die Frage nach dem Subjektstatus erweist sich als immanenter, aber auch als ein sich stets weiterentwickelnder Bestandteil aller Texte. Das Subjekt im Medienzeitalter, die besondere Perspektive einer Einschließung des Individuums in prädestinierte Formen, die Sexualität als Ich-Bildner und schließlich die Phantastik, als Möglichkeitsraum einer neuen Subjektivität, sind Themen der Jelinekschen Texte. Und mögen sich die Ansätze und Zugänge zu diesem Thema auch über die Jahre in unterschiedlichsten Varianten ausgebildet haben, hinterfragen sie doch auch immer die bestehende Ordnung. Dies geht wesentlich weiter als eine pure Mythenzertrümmerung im Sinne Roland Barthes. Es ist dies der Blick hinter eine vermeintlich feste Realität die sich zunehmend als Signifikantenrealität entlarvt. Dieses Erkennen, geeint in dem Anspruch einer gleichzeitigen Durchbrechung des artifiziellen Konstrukts, ist der zentrale Aspekt des Jelinekschen Schreibens. Damit soll erstmalig nicht allein die Problematik einer Subjektkonstituierung in das Zentrum einer Analyse zu Jelinektexten vollzogen, sondern diese in einer Genealogie als deren Zentrum erkannt werden. Es ist dies ein Fall des Subjekts in eine Selbstbewusstlosigkeit der immer auch auf eine Signifikantenrealität verweist. Eine Dialektik des Zerfalls, die sich bereits in einem der ersten Prosatexte Jelineks wieder findet. In „wir sind lockvögel baby!“ offenbart sich
15
Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangten bereits andere Analysen. Vgl. etwa: Uda Schestag: „Sprachspiel“ als Lebensform. Strukturuntersuchungen zur erzählenden Prosa Elfriede Jelineks, Bielefeld 1997, S. 209.
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Gerhard Fuchs und Elfriede Jelinek: „Man steigt vorne hinein und hinten kommt man faschiert und in eine Wursthaut gefüllt wieder raus“. Ein E-Mail-Austausch, in: Daniela Bartens und Paul Pechmann (Hrsg.): Dossier extra: Elfriede Jelinek. Die internationale Rezeption, Graz 1997, S. 9-25, hier S. 18.
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zugleich die Dialogizität Jelinekscher Texte zwischen Tradition und Populärkultur.
Das Beispiel Otto, Otto das Beispiel
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Du schlafwandelst/ Du bravwandelst/ Du herdentierst/ Du schlafwandelst/ Den Schäfchen hinterher WIR SIND HELDEN
Neben dem weiblichen Namen Anna ist es der männliche Otto, der als Palindrom die Arbitrarität der Zeichen in besonderer Weise sichtbar in sich trägt und ein Spiel der/mit Zeichen anbietet. Denn das vermeintlich feste Zeicheninventar wird durch die Spiegelung als artifizielle Größe enttarnt. Otto bleibt Otto, wie man die Leserichtung auch dreht und wendet. Otto, ein aus sich aufgeladenes Zeichen, das sowohl bei Jelinek als auch bei Goethe an prominenter Stelle literarische Verwendung findet. Die beiden „O“s und die wie Additionszeichen wirkenden „T“s in der Wortmitte reizten Elfriede Jelinek in ihrem ersten Roman „wir sind lockvögel baby!“, das im Namen Otto bereits angelegte Spiel mit Signifikanten und Signifikaten aufzunehmen und zu erweitern. Erweitern, weil sich eingeleitet durch Charlottes Frage: „wer spielt nicht gern mit Ähnlichkeiten?“18, bereits in Goethes letztem Roman, den „Wahlverwandtschaften“, ein Spiel mit dem Namen Otto findet.
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Teilergebnisse des vorliegenden Kapitels wurden in folgendem Aufsatz vorab publiziert: „Popu-leeres Individuum. Die Krise des Subjekts in Elfriede Jelineks PopRomanen“, In: Annie Bourguignon, Konrad Harrer, Franz Hintereder-Emde (Hrsg.): Hohe und niedere Literatur. Tendenzen zur Ausgrenzung; Vereinnahmung und Mischung im deutschsprachigen Raum, Berlin 2015, S. 371-386.
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Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandtschaften, in: ders.: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe., Abtlg. I, Bd. 8, hrsg. von Waltraud Wiethölter. Frankfurt 1994, S. 269-529, hier: S. 305.
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Als Ort der Handlung wählt Goethe ein abgelegenes Landgut. Dort hin hat sich das schon seit Kindheitstagen verliebte Paar Eduard und Ottilie zurückgezogen. Ihre Freizeit verbringen beide damit, den alten Garten des Landguts neu zu gestalten. Ihr Glück und die Stille ihres zurückgezogenen Lebens werden jedoch jäh gestört. Ottilies Nichte Charlotte und der Hauptmann Otto, ein Freund Eduards aus Militärzeiten, stoßen das junge Paar in eine Sinnkrise und allerlei Liebesverwechslungen, an deren Ende Charlottes Säugling ertrinkt, sich Ottilie zu Tode hungern wird und Eduard an Einsamkeit zu Grunde geht. Auffällig an Goethes Figurenkonstellation ist, dass alle Hauptfiguren durch den Taufnamen Otto oder doch zumindest das Präfix Ott verbunden sind: Charlotte, Ottilie und Otto. Nur Eduard mag scheinbar nicht in dieses Szenario passen und nimmt zunächst eine Sonderrolle ein, die sich jedoch als trügerisch erweist. „Eduard – so nennen wir einen Baron im besten Mannesalter.“19 So wird dem Leser der Akteur des Goetheschen Romans einleitend vorgestellt. Doch in der sonderlichen rhetorischen Figur des „so nennen wir“, regt sich schon ein Zweifel am auktorialen Sprecher. Was zu Beginn nur eine zweifelhafte Andeutung ist, wird im Verlauf des Romans geklärt: Eduard ist nur ein Pseudonym, hinter dem sich sein wahrer Name Otto palimpsestartig verbirgt.20 Ein Name, den er nicht, wie zuerst behauptet, ablegte, weil ein Kamerad denselben trug und er Verwechslungen Einhalt gebieten wollte, sondern den er wegen des schöneren Wortklangs in Eduard änderte. Doch die Maskerade fliegt auf und Eduard wird wieder ein Otto. Sein Versuch durch Namensänderung eine Individuation zu erreichen, wird negiert. Das Individuum Eduard wird wieder eingebunden in das übergeordnete System Otto. Durch Eduards gescheiterte Verschleierung sind am Ende der „Wahlverwandtschaften“ alle Otto. Goethe erweitert somit das ohnehin vorhandene spielerische Moment des Palindroms in Bezug auf seine Anbindung an die Macht der Namen und Zeichen. In seiner literarischen Wandlung ist Otto nicht mehr nur vor- und rückwärts lesbar. Das Goethesche Ott- kann als Präfix oder Suffix in drei Ausprägungen in den Namen des Romanpersonals gefunden werden und lässt somit nicht nur mehr Otto als ein Gemachtes erscheinen. Charlotte und Ottilie entpuppen sich
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Goethe: Wahlverwandtschaften. S. 269. Die These Goethes kompletten Roman als (dreigliedriges) Palimpsest zu begreifen, findet sich bei Waltraud Wiethölter, wenngleich bei ihr die Mythologisierung der Erkenntnis im Fokus steht und keine subjektzentrierte Lesart. Vgl. hierzu: Waltraud Wiethölter: Legenden. Zur Mythologie von Goethes Wahlverwandtschaften, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 56, 1982, S. 1-64.
D AS B EISPIEL O TTO , O TTO
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ebenso als Teile eines Zeichenkosmos, der durch das Spiel mit der Silbe Ott entsteht. Alles ist Zeichen, ist Spiel, ist wandelbar und wahlverwandt. Denn auch das Namensspiel ist als ein Spiel der Signifikanten zu verstehen, in dem die Zeichen eine freie Wahlverwandtschaft miteinander eingehen können. Sein somit entstehendes artifizielles Moment, das sich auch in der Entmächtigung der Erzählerinstanz zugunsten autonomer Zeichen zeigt, ist symptomatisch für den ganzen Text. Denn nicht nur das literarische Individuum ist von einem Verlust des Subjektstatus betroffen, sondern auch der auktoriale Erzähler. Dessen Glaubwürdigkeiteinbußen aber auch die immer wieder vorkommenden metatextuellen Vorverweise auf das Schicksal der handelnden Figuren stellen die Gemachtheit des Textes heraus. Goethe, der seinen Roman als Experiment verstand und den Druck des ersten Romanteils bereits begonnen hatte, ohne dass er wusste, wie sein Roman enden solle, glückte mit seinen „Wahlverwandtschaften“ schließlich ein „Sprachroman im engsten Sinne“21. Denn es ist wiederum die auffällige weil besonders karge Namensgebung, auf die eine weitere Metaebene zurückzuführen ist. „Nichts bindet den Menschen so sehr an die Sprache wie sein Name. Kaum in irgend einer Literatur wird es eine Erzählung vom Umfang der Wahlverwandtschaften geben, in der so wenige Namen sich finden. Diese Kargheit der Namen ist einer Deutung außer jener landläufig fähig, die da auf die Goethesche Neigung zu typischem Gestalten verweist. Sie gehört vielmehr innigst zum Wesen einer Ordnung, deren Glieder unter einem namenlosen Gesetze dahinleben, einem Verhängnis, das ihre Welt mit dem matten Licht der Sonnenfinsternis erfüllt.“
22
Denn natürlich widmet sich der Text Goethes auch dem Spiel der Verwechslungen, Wechsel und Umkehrungen in den Beziehungen seiner Protagonisten. Und der Verweis auf einen biologischen Diskurs, wie er etwa schon im Titel des Textes oder der Gartenthematik anklingt, ist unleugbar. Nähert man sich aber dem Alterswerk Goethes vermittels der Frage nach den Namen, entwickeln sich diese zum paradigmatischen Moment des Textes. In der Beschränkung auf nur noch einen Namen und seine Variationen sieht Walter Benjamin das Gesetz der Na-
21
Jochen Hörisch: „Die Begierde zu retten”. Zeit und Bedeutung in Goethes „Wahlverwandtschaften”, in: Jochen Hörisch, Georg Christoph Tholen (Hrsg.): Eingebildete Texte: Affairen zwischen Psychoanalyse und Literaturwissenschaft. München 1985, S. 78-90, hier: S. 81.
22
Walter Benjamin: Goethes Wahlverwandtschaften, in: ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften, 3. Auflage, Frankfurt a. M. 1984, S. 63-135, hier: S.72.
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men und der Sprache unterlaufen. Denn schon die (höchst unwahrscheinliche) Namensähnlichkeit von fünf Personen lässt das Konstruktartige des Romans aufscheinen. Goethe, der auf konventionelle Romantechniken verzichtete, setzt den Innenansichten, dem Abenteuer und der Exotik seiner Zeitgenossen die Thematisierung des Trivialen entgegen. Auch zu seiner eigenen Idee des Bildungsromans, der die innere Geschichte eines Menschen und seiner Entwicklungen beschreibt und die er selbst in seinem Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ exemplifizierte, geht er auf Distanz.23 Somit findet eine Neuausrichtung des Romans statt, die sich vom Ereignis hin zur kunstvollen Technik verschiebt und einen Paradigmenwechsel für die Motivik des europäischen Romans einläutet.24 Goethes Ehebruchstext erweist sich als Sprachkunstwerk, das die Sprache und damit auch deren artifiziellen Charakter nicht verleugnen möchte, sondern sie in den Fokus rückt. Das Besondere im Gemeinen suchend, wird die „immanente Stimmigkeit des Kunstwerks“25 zentrales Anliegen. Das (Sprach-)Kunstwerk besitzt damit auch die Möglichkeit der Hervorhebung, der Sichtbarmachung von Regeln, während im alltäglichen Sprachgebrauch die Regeln, nach denen das Sprechen und die Sprache funktionieren, namenlosen Gesetzen zu folgen scheinen. Hiermit sind natürlich nicht orthographische Regeln oder Intonationen gemeint, die der Sprechende ganz selbstverständlich anzuwenden weiß. Vielmehr zielt Benjamins Beobachtung auf den Umstand ab, dass Sprache ein machtvolles Konstrukt ist, das allerdings seine weitreichende Wirkung entfaltet, ohne sich im täglichen Umgang als solches zu zeigen bzw. ohne als solches verstanden zu werden. Das Arbiträre der Zeichen ist zwar Konstrukt, jedoch sind Sprache und Zeichen genau das System, mittels dessen die (vermeintliche) Realität, in der eine Gesellschaft lebt, sich formiert. Demgemäß werden sie selbst leicht als Realität missverstanden.
23
Was nicht bedeuten soll, dass der Bildungsroman zu seiner Zeit konventionell gewesen sei. Vgl. hierzu: Rolf Selbmann: Wilhelm Meisters Lehrjahre – Muster der Gattung? in: ders.: Der deutsche Bildungsroman. 2. überarbeitete Auflage, Stuttgart/Weimar 1994, S. 58-73.
24
Etwa bei Flauberts „Madame Bovary“, Tolstois „Anna Karenina“ und Fontanes „Effi Briest“, aber auch das Werk Updikes, dessen Schaffen vom Motiv des Ehebruchs dominiert wird.
25
Niklas Luhmann: Ist Kunst codierbar? in: ders.: Schriften zu Kunst und Literatur, hrsg. von Niels Werber, 1. Auflage, Frankfurt a. M. 2008, S. 14-44, hier: S. 19.
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„Das Symbolische ist kein bloß ästhetisches, sondern ein allgemein kulturelles Phänomen 26
und ist somit immer auf eine Ordnung bezogen, die Gesetzescharakter hat.“
Das Gesetz, dem das semiotische Symbol unterworfen ist, bleibt jedoch verborgen, auch wenn Sprache mithin eine künstliche Ordnung ist. „[…] (N)icht ein Kunstprinzip allein, sondern ein Motiv des schicksalhaften Seins vor allem ist in jener Typik zu erfassen. Diese schicksalhafte Art des Daseins, die in einem einzigen Zusammenhang von Schuld und Sühne lebende Naturen umschließt, hat der Dichter durch das Werk hin entfaltet. Sie aber ist nicht, wie Gundolf meint, der des Pflanzenda27
seins zu vergleichen. Kein genauerer Gegensatz zu ihr ist denkbar.“
Denn der Natürlichkeit der Pflanze steht die Konstruktion der Kunst gegenüber. Diese wiederum wird gleich zu Beginn der „Wahlverwandtschaften“ über die Natur erhoben. Der eben erst vorgestellte Eduard „hatte in seiner Baumschule die schönste Stunde eines Aprilnachmittags zugebracht, um frisch erhaltene Pfropfreiser auf junge Stämme zu bringen“28. Die vermeintliche Natur wird durch die Beschreibung der Kultivierung der Obstbäume als ein Künstliches, eine Züchtung enttarnt. Und auch die eigentlichen Protagonisten der „Wahlverwandtschaften“, die Sprache und mit ihr der Sinn, sind künstlich. Goethes Text erweist sich als thematisch verwandt mit Derridas Grammatologie, invertiert und kritisiert dieser doch stetig nicht nur das „phonozentrische Denken von konstitutiver Subjektivität und Sprache“, sondern „Formen zentrischen Denkens überhaupt“.29 Es ist wiederum der Name Otto, der alle Figuren eint30 und in dem
26
David Wellbery: Die Wahlverwandtschaften, in: Lützeler, Paul Michael; McLeod, James E. (Hrsg.): Goethes Erzählwerk: Interpretationen. Stuttgart 1985, S. 291–318, hier S. 291.
27
Walter Benjamin: Wahlverwandtschaften. S. 75.
28
Goethe: Wahlverwandtschaften. S. 269.
29
Jochen Hörisch: Das Sein der Zeichen und die Zeichen des Seins : Marginalien zu Derridas Ontosemiologie, in: Jacques Derrida: Die Stimme und das Phänomen. Ein Essay über das Problem des Zeichens in der Philosophie Husserls. Frankfurt/Main 1979, S. 7-50, hier: S. 14.
30
Vgl. hierzu: Heinz Schlaffer: Namen und Buchstaben in Goethes Wahlverwandtschaften, in: Norbert Bolz (Hrsg.): Goethes Wahlverwandtschaften: Kritische Modelle und Diskursanalysen zum Mythos Literatur. Hildesheim 1981, S. 211-229.
22 | D IE Z ERSTÖRUNG DES I CHS „die Gewalt und Verbindlichkeit dieses Namens so uneinsichtig (ist), wie mythische Blindheit und – bei Ottilie – Sprachlosigkeit angesichts der Transfigurationen dieses Na31
mens sie schlägt.“
Hier zeigt sich die Unterworfenheit des Subjekts unter die Macht des Signifikanten, an dessen „transsubjektive(r) In(si)stanz […] die designierten Subjekte ihre Vergängnis“32 erkennen. Und auch Eduards Versuch die Suprematie des Signifikanten besiegen und dominieren zu wollen, indem er im Krieg sich selbst zu einem neuen Zeichen, dem Zeichen Eduard, macht, verkennt „die Unmöglichkeit, Konstitutionstheorie semiologisch zu wenden: Zeichen sind oktroy33
iert und tradiert, und ihre differenzielle Ordnung ist nicht subjektzentrisch herstellbar.“
Indem es den Subjekten Autonomie entzieht, entwickelt das Reich der Zeichen und der Sprache zunehmend Macht. Eine Macht, die kaum greifbar zu sein scheint und die nach einem dem Subjekt übergeordneten System funktioniert. Ironisch liest sich dadurch etwa das Gespräch der vier Akteure, die ihre Schicksale und künftigen Konstellationen nichts ahnend in einem Gespräch über die Physik vorwegnehmen. Eduard, der eigentlich ein Otto ist, erklärt: „[…] bis wir alles dieses mit Augen sehen, wollen wir diese Formel als Gleichnisrede betrachten, woraus wir uns eine Lehre zum unmittelbaren Gebrauch ziehen. Du stellst das A vor, Charlotte, und ich dein B: denn eigentlich hänge ich doch nur von dir ab und folge dir, wie dem A das B. Das C ist ganz deutlich der Capitain, der mich für diesmal dir einigermaßen entzieht. Nun ist es billig, dass wenn du nicht ins Unbestimmte entweichen sollst, dir für ein D gesorgt werde, und das ist ohne Frage das liebenswürdige Dämchen 34
Ottilie, gegen deren Annäherung du dich nicht länger verteidigen darfst.“
Goethe beschreibt eine Welt, die sich im Wandel befindet. Der Einzelne wird darin zunehmend zu einer Kennmarke. Denn die von Benjamin beschworene Bindung des Menschen an die Sprache mittels seines Namens löst sich durch Goethes Namenskargheit, die einem Namensentzug gleichkommt, in einer Art
31
Hörisch: Sein der Zeichen. S. 19.
32
Hörisch: Sein der Zeichen. S. 20.
33
Hörisch: Sein der Zeichen. S. 21.
34
Goethe: Wahlverwandtschaften. S. 319f.
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von ewigen Wiederkehr des Gleichen auf.35 Der Raum der entindividualisierten Figuren ist die alltägliche Welt. Um jedoch dem Alltäglichen eine ästhetische Funktion abzugewinnen, sind Symbolisierungen ein entscheidender Faktor. Durch die Bedeutungsaufladung des Alltäglichen im Symbolischen unterstreicht das Kunstwerk sowohl seine Gemachtheit als auch (auf einer Metaebene) seine Überhöhung über die Wirklichkeit. Der poetischen Individuation einzelner Charaktere werden ein Gesellschaftsentwurf und dessen Analyse entgegengestellt. Der Bruch zwischen Poesie und Realität ist am sinnfälligsten in der Restrukturierung des Gartens ersichtlich. Wandeln sich die Außenanlagen von einer strengen (französischen) Form hin zu einer natürlich gestalteten (englischen) Landschaftsarchitektur, so ist weder die Gemachtheit der Natur noch die Aufladung der Gartenmotivik mit einer Vanitassymbolik zu verleugnen. Der Mensch nähert sich einem vermeintlich natürlichen Raum an. Es bleibt jedoch ein Raum, wie der Mensch ihn sich als natürlich vorstellt. In diesem geschaffenen Bild von Natur, das sich nur scheinbar der französischen Gartenregeln entledigt, findet die Wende zu einer unsichtbaren Kulturlandschaft statt. Die Gartenmetaphorik korrespondiert also mit den gesellschaftlichen Entwicklungen. Die zu verrückenden Grabsteine innerhalb des Gartens werden zur Symbolik eines Werte- und Gesellschaftswandels. Denn der an Religion und Aristokratie gebundene Erfahrungskosmos wird abgelöst von einer Welt, die durch Disziplinen, die sich der theoretischen Erkenntnis verpflichtet fühlen, wie die entstehenden (Natur-) Wissenschaften neu geordnet wird. Das hierarchische Ständemodell weicht nach dem Code Napoleon einer diffusen Machtkonstellation des Bürgertums. Eine Manifestation dieser neuen Mächte ist – wie Michel Foucault nachzuweisen vermag – besonders im Begehren festzustellen.36 Das erstarkende Bürgertum, das nach dem Wegfall alter Machtordnungen das Vakuum sogleich neu besetzt,
35
Dieser Gedanke Nietzsches ließe sich auch im Weiteren beispielsweise durch die Geburt des kleinen Otto am Ende von Goethes Text fortführen und findet sich in Ansätzen auch in Benjamins Bemerkungen. Vgl. hierzu: Walter Benjamin: Wahlverwandtschaften. S. 75.
36
Da sich das Denken Foucaults immer wieder mit Macht beschäftigt ist es schwierig einen besonderen Text hervorzuheben. Mit Hinblick auf Goethes Zeit und die vom18. Jahrhundert an entstehende Biomacht sei deshalb unter anderem auf Michel Foucaults Spätwerk verwiesen. Vgl. hierzu Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, übers. von Ulrich Raulff und Walter Seitter, 6. Auflage, Frankfurt a. M. 2006, insbesondere S. 68ff., 87, 100-120, 140 und 152.
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bezeugt ein reges Interesse an den Menschen und ihrem (sexuellen) Begehren.37 Entscheidend für die neue Form des Begehrens ist aber „die Bindung an ein Bild, in dem sich der Gegenstand zugleich gibt und entzieht“38; dieser Bindung ans Bild ist der Tod implizit, und zwar als „Tod des Gegenstandes in seinem Bildsein und als eigentliche(s) Ziel des Begehrens“39. So kristallisiert sich als kulturelle Grundkonstellation die triadische Gruppierung Bild – Begehren – Tod heraus.40 Die Ergebnisse seiner Analyse der Desorganisation überkommener symbolischer Ordnungen und der Entstehung einer neuen Ordnung, wie sie in Goethes „Wahlverwandtschaften“ aufgezeigt wird, fasst Wellbery prägnant zusammen: „Die aufgezeigten Prozesse der Desymbolisierung, der Entgrenzung und Entortung verdichten sich überall zur Grundkonstellation Bild – Begehren – Tod. Diese ist die Matrix, aus der die ganze Romanhandlung hervorgeht. Anders ausgedrückt: Die Entfaltung der Geschichte entlang dem narrativen Syntagma gehorcht der Logik eines Begehrens, dem nur im Bilde sein Gegenstand präsent wird. Im Bild jedoch ist dieser Gegenstand ein To41
tes; es ist der Tod selbst, in dem das Begehren seine Erfüllung findet.“
Die Selbstformung des Menschen wird ein „im Tod Erstarrtes“.42 Jedoch ist keine Umkehr zu erkennen. Die neue Begehrensstruktur wird zur Realität. Die Welt wird in ein bild- und zeichenhaftes Verständnis übertragen und subsumiert. Durch die Bildwerdung indes verfehlt sich der Mensch. Sich in einer künstlichen Matrix bewegend, wird es dem Individuum, das seinen Individualitätsstatus zunehmend einbüßt, unmöglich gemacht, sich aus dem begonnen Prozess zu lösen. „Statt die Subjekte gegenüber der ‚Suprematie de(s) Signifikanten‘ zu emanzipieren, zitieren die geschilderten Sprachverfehlungen dessen mythische, subjektverschlingende Macht
37
Zu den Parallelen des Foucaultschen Machtdiskurses in Goethes Wahlverwandtschaften siehe: Jang-Hyok An: Goethes „Wahlverwandtschaften“ und das Andere der Vernunft. Die Mikro- und Makrokonstellation der Andersheit als atopische Gegeninstanz zum Identitätszwang, Würzburg 2004, insbesondere S.51ff.
38
Wellbery: Wahlverwandtschaften. S. 307.
39
Wellbery: Wahlverwandtschaften. S. 307.
40
Eine implizierte Todessymbolik in Goethes „Wahlverwandtschaften“ konstatiert auch Walter Benjamin. Vgl. hierzu: Benjamin: Wahlverwandtschaften. S. 73f.
41
Wellbery: Wahlverwandtschaften. S. 312f.
42
Wellbery: Wahlverwandtschaften. S. 316.
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herbei. Das imaginär gezeugte Kind ist das deutlichste wie unschuldigste Opfer dieser Verfehlung.“
43
Das Kind Otto, das schon allein durch seinen Namen erkennen lässt, dass die Matrix nicht zerbrochen wurde, sondern vielmehr sich automatisiert, entspricht dem Bild, das sich die Eltern noch vor seiner Geburt von ihm gemacht haben. Das Kind kann als Zeichen verstanden werden, das zuerst gedanklich geschaffen wird und dem darüber hinaus auch etwas Mythisches zukommt. Bei seiner Zeugung denken die leiblichen Eltern an ihre jeweiligen Affären, sodass gedanklich alle handelnden Hauptfiguren indirekt bei der Zeugung beteiligt werden. Die Oxymoronstruktur des Wortes Wahlverwandtschaft, das sich auf die Abhandlung des schwedischen Chemikers Torbern Bergmann bezieht44, auf die Goethe später in einer Vorbemerkung einging45, lässt sich an dieser Stelle besonders gut erklären. Einer freien Willensentscheidung, also der Wahl, steht eine aus biologischer Formung entstandene Bindung, also die Verwandtschaft gegenüber. Im Oszillieren dieser beiden Konstanten entsteht das neue wahlverwandschaftliche Zeichen. Denn: „Nichts ist bedeutender in jedem Zustand, als die Dazwischenkunft eines Dritten.“46 Das Dritte ist in diesem Fall das Kind Otto. Es ist das sichtbarste Zeichen eines Textes, der eine Interpretation erschwert. Freier Wille konkurriert mit der Determiniertheit der Protagonisten, Natur verschwindet hinter Kultur, Wissenschaft rivalisiert mit Übersinnlichem. In diesem Zwischenraum der Empirie und Mystik, den der Goethesche Text offeriert, entsteht das, was Matias Martinez als die Doppelte Welt beschreibt.47 Nah an den Topoi der Phantastik hat es der Leser hier mit einem Spiel der Zeichen zu tun. Einem Realitäten ausbildenden Zeichenkosmos steht ein scheinbar autonomes Subjekt gegenüber, das sich jedoch in seiner Determiniertheit erkennen muss. Dadurch, dass Zeichen aber auch nur
43
Hörisch: Sein der Zeichen. S. 27.
44
Torbern Bergmann: De attractionibus electivis, 1775.
45
Vgl. hierzu: Johann Wolfgang von Goethe: „Cottas Morgenblatt für gebildete Stände“, 1809, in: ders.: Epoche der Wahlverwandtschaften 1807-1814, hrsg. von Christoph Siegrist, S. 285.
46 47
Goethe: Wahlverwandtschaften. S. 277. Vgl. hierzu: Matias Martinez: Doppelte Welten. Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens, Göttingen 1996, besonders Kapitel 2, Empirische Vorderwelt und mythische Hinterwelt, Johann Wolfgang von Goethe Die Wahlverwandtschaften (1809), S. 37-89.
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durch Hervorbringung eines Senders entstehen können, wird die Dazwischenkunft das entscheidende Agens. Otto, das Kind, muss somit als das Zeichen verstanden werden, welches ein Dazwischen der doppelten Weltmöglichkeiten anbietet. Sein Kainsmal indes ist jenes, das Derrida als die Différance bezeichnet. „Könnte man die différance definieren, so müßte man sagen, daß sie sich der Hegelschen Aufhebung überall, wo sie wirkt, als Grenze, Unterbrechung und Zerstörung entgegenstellt.“
48
Ottos früher Tod unterstreicht das Nicht-Erkennen-Können mittels des Anderen durch den Verlust an Bedeutungsgehalt und Identität. Es wird klar, dass der Säugling Otto das „ins Zeichen dieses aus vier Buchstaben bestehenden Namens tretende Subjekt ist, indem es die Mangelstruktur dieses mittelosen Namens imaginär aufhebt, buchstäblich überzäh49
lig; an ihm manifestiert sich zuerst die Gewalt des Signifikanten zum Tode.“
Somit gelingt für den Namen Otto noch eine dritte Bedeutung. Außer als Palindrom, als Spiel mit Präfixen und Suffixen sowie als Offenbarung eines machtvollen Zeichenkosmos offenbart Otto seine Mitte-Losigkeit. Die einzige Möglichkeit, sich in der Mitte des Zeichens sprachlich auszudehnen, wäre die kraft eines Infix. Diese Möglichkeit bleibt in der deutschen Sprache jedoch verwehrt. Das Zeichen Otto scheint ausgereizt, nicht weiter konnotierbar. Der Name Otto offenbart also nicht nur seine unterschiedlichsten Anknüpfungspunkte, sondern auch seine Determiniertheit. Otto ist das Zeichen, das als Differenz den Verlust bezeichnet; einen Verlust, der innerhalb des Zeichenkosmos nicht sichtbar werden kann und bloßes Zeichen bleibt. Der Bedeutungsverlust der Zeichen und die Nivellierung von Sinnebenen sind bereits im Gleichwerden der Schrift von Ottilie und Eduard zu erkennen. „Sie [Ottilie] legte das Original und die Abschrift vor Eduard auf den Tisch. ‚Wollen wir kollationieren?‘ sagte sie lächelnd. Eduard wußte nicht, was er erwidern sollte. Er sah sie an, er besah die Abschrift. Die ersten Blätter waren mit der größten Sorgfalt, mit einer zar-
48
Jacques Derrida: Positionen. Gespräche mit Henri Ronse, Julia Kristeva u.a., Graz und Wien 1986, S. 91.
49
Jochen Hörisch: Das Sein der Zeichen. S. 28.
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ten weiblichen Hand geschrieben; dann schienen sich die Züge zu verändern, leichter und freier zu werden: aber wie erstaunt war er, als er die letzten Seiten mit den Augen überlief! ‚Um Gottes willen!‘ rief er aus, ‚was ist das? Das ist meine Hand!‘ Er sah Ottilien an und wieder auf die Blätter; besonders der Schluß war ganz, als wenn er ihn selbst geschrieben hätte.“
50
Bezeichnend ist, dass das Verschwinden der Individualität im Medium der Schrift einsetzt. In der Welt der Zeichen schon längst gleich, können die Figuren zunächst noch vermeintlich ihre Individuationen behaupten. Dem zunehmenden Verschwinden des Subjekts und dem Machtgewinn einer zeichenhaft zu verstehenden Welt setzt Goethe am Ende eine mystische Hoffnung entgegen, die in ihrem Pathos einer Liebe über den Tod hinaus nicht zu überzeugen weiß. Goethes Text ist dagegen an jenen Stellen stark, die eine Krise des Individuums vorweg nehmen, die zugleich auch eine Krise der Zeichen ist. Emblematisch wird die Brüchigkeit des Subjekts in der Idee Ottos. Die Variationen des Namens ausschöpfend, zeigt Goethe anhand dieses Palindroms nicht nur die Arbitrarität, sondern auch die Ambiguität und also Begrenztheit der Zeichen. Dieses artifizielle Moment der Zeichen wird mit dem Verlust des Individuums, das nur noch oberflächlich über einen eigenen Namen und somit eine Individualität verfügt, gekoppelt. Das Experiment Goethes wird von Elfriede Jelinek in ihrem erstpublizierten Roman51 „wir sind lockvögel baby!“ genau an dieser Stelle aufgegriffen. Noch viel unverhohlener als bei Goethe trägt der Text Jelineks, der ursprünglich Illustriertenroman heißen sollte52, schon in seiner Materialität die Gemachtheit des Werkes nach außen hin zur Schau. Die Erstausgabe erschien als Oktavheft mit einer Plastiktasche über dem Buchtitel und erinnert damit an ein Schulheft. Das Plastikfenster soll mit den im Buch befindlichen Karten, welche mit
50 51
Goethe: Wahlverwandtschaften. S. 355. Auch wenn der Text zeitlich nach „bukolit. Ein hörroman“ entstand, entschied sich der Rowohlt Verlag damals dafür „wir sind lockvögel baby!“ zuerst zu publizieren. Vgl.: Elisabeth Spanglang: Elfriede Jelinek: Studien zum Frühwerk. Wien 1992, Dissertation der Universität Wien; 233. Phil. Diss. Wien 1991.
52
Eine weitere Veränderung des ursprünglichen Manuskripts ist die dem Text vorangestellte Widmung. Die geplante Widmung für den Bundeskanzler Österreichs musste auf Intervention des Rowohltverlags in die heutige Widmung für das österreichische Bundesheer abgeändert werden.
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Alternativtiteln beschriftet sind, ersetzt oder besser überschrieben werden.53 Diese ungewöhnliche äußere Aufmachung kann als paradigmatisch für den ganzen Text verstanden werden.54 Dementsprechend wird schon auf den ersten Seiten das avantgardistische Moment der Jelinekschen Prosa ersichtlich, einer Prosa der Überschreibungen, Assoziationen und Aneinanderreihungen.55 Jelineks in Kleinbuchstaben gehaltener und außer auf Punkte auf Satzzeichen verzichtender Text weist nur wenige Konstanten auf, eine Inhaltsangabe ist deshalb kaum möglich. In einer Mischung aus Burroughsscher Cut-Off Technik und Mediensprache reihen sich die Ereignisse nahezu wahllos aneinander, sind einzig assoziativ verknüpft oder eben wahlverwandt. Dabei muss die Kritik von Marlies Janz an Jelineks Erstling differenziert beurteilt werden. Denn tatsächlich birgt „wir sind lockvögel baby!“ für den heutigen Leser zwar die Schwierigkeit, dass „viele der Medien-Zitate, aus denen sich das Buch zusammensetzt, kaum mehr identifizierbar“56 sind, Janz’ Kritik an der Sprache, die zeige „(w)ie schnell die Avantgarde veraltet“57, ist jedoch wenig nachvollziehbar. Denn gerade die merkliche Alterung der Zitate zeigt nur umso mehr, wie die Werbesprache immer noch als Werbesprache zu erkennen ist und die scheinbaren Bedeutungen sich als Worthülsen enttarnen, auch wenn deren genauer Ursprung nicht geklärt werden kann, weil sie nicht mehr Teil des kollektiven Gedächtnisses sind.
53
Anstelle eines Schmutzblattes findet sich in der Taschenbuchausgabe eine rechteckige, gestrichelte Rahmung wieder, auf der durch den Leser ein alternativer Titel eingefügt werden kann.
54
So versteht Schmid-Bortenschlager in ihrer Analyse des Covers Plastik als das Material einer Wegwerfgesellschaft und als Symbol einer Literatur, die nunmehr zum Gebrauchsgegenstand verkommt. Vgl.: Sigrid Schmid-Bortenschlager: Gewalt zeugt Gewalt zeugt Literatur … wir sind lockvögel baby! Und andere frühe Prosa, in: Christa Gürtler (Hrsg.): Gegen den schönen Schein. Texte zu Elfriede Jelinek, Frankfurt a. M. 1990, S. 30-43, insbesondere S. 30.
55
Besonders Jelineks frühe Texte sind als Texte im Sinne einer Avantgarde zu verstehen. Erwähnenswert ist insbesondere die Bedeutung der Wiener Gruppe. Deren Programm setzt sich in die Traditionslinie der Ismen der 1920 Jahre, speziell im Hinblick auf eine antifaschistische Textproduktion. Hierzu, wie auch zu einem generellen Überblick über die frühen Texte Jelineks, siehe: Spanglang: Elfriede Jelinek. – Barbara Alms: Triviale Muster – „hohe“ Literatur. Elfriede Jelineks frühe Schriften, in: Umbruch 6, Nr. 1, 1987, S. 31-35.
56
Marlies Janz: Elfriede Jelinek. Stuttgart 1995.
57
Ebd.
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In ihrer literaturhistorischen Einschätzung von Jelineks erstpublizierten Text ordnet Janz diesen neben William S. Burroughs auch den surrealistischen Ideen der 1920er Jahre zu. Unbewusst, so die These, sollen die verfassten Texte eine Wirkkraft aus sich selbst beziehen. Doch wenn auch sicherlich ein avantgardistischer Anspruch der Texte nicht geleugnet werden kann, so hat Jelineks Roman doch mit den Kernthemen der von Janz angeführten Surrealisten – wie etwa dem Traum und dem Unbewussten – wenig zu schaffen. Die Begeisterung für avantgardistische Schreibtechniken kann indes in Form von Überschneidungen geltend gemacht werden.58 Wie das surreale Spiel des Cadavre Exquis59 oder die Écriture automatique falten sich die einzelnen Textfragmente, die sich aus einem populärmythischen Kosmos speisen, assoziativ übereinander. In seiner reduktiven, regelbefolgenden Machart erinnert der Text jedoch auch an spätere Avantgarden wie etwa die Gruppe Oulipo. Lücke weist in ihrer literaturhistorischen Einschätzung des Textes darüber hinaus auch mehrfach auf die Bedeutung poststrukturalistischer Theoreme für das Schaffen Jelineks hin.60 Gleich zu Beginn mit einem was bisher geschah die Sprache von Trivialliteratur kopierend, schichten sich popkulturelle Figuren wie Mickey Mouse, Batman oder der Weiße Riese, auf Personen wie die Beatles oder Roy Black und verändern so deren tradiertes Bild. Sie alle sind die titelgebenden Lockvögel, die sich nicht allein mehr in einer medialen Sprachwelt bewegen, sondern längst in die Alltagssprache hineinwirken, wo sie nicht mehr nur zum Kauf von Produkten animieren. Vielmehr werden die Werbefiguren zu einem Zerrspiegel des Alltäglichen, das sie fortwährend beeinflussen und verändern. All diese Figuren einer verzerrten Werbe-, Konsum- und Medienwelt mit ihren tradierten Eigenschaften und Slogans liefern das sprachliche Material, aus dem der Text Jelineks komponiert und das den handelnden Figuren in den Mund gelegt wird. Sich selbst hinter der Collagetechnik des Textes zurücknehmend, der eine Aneinanderreihung von Werbetexten, Liedtexten und Phrasen darstellt, ist keine klare Erzählerinstanz mehr bestimmbar. Ihren trivialmythischen Gehalt offenbart Jelineks Prosa, indem sie etwa Batman als dicken Mann auftreten lässt und somit dessen Mythos ins Absurde überführt.
58
Wobei Jelinek nicht einem Manifest folgt und schon sehr bald, auch durch die Reflektion der Thesen von Roland Barthes, ihren eigenen Schreibstil finden wird.
59
Besonders die Darstellungen von zusammengefügten Körpern im sechzehnten Kapitel erinnern an diese surrealistische Idee.
60
Bärbel Lücke: Elfriede Jelinek. S. 35, 42f.
30 | D IE Z ERSTÖRUNG DES I CHS „Der halbblinde spiegel wirft dem fledermausmenschen das bild eines mannes in mittleren jahren im mittelgrauen anzug mit mittelscheitel mit mittelnase & mittelschwengel kurz ei61
nes durchschnittsmenschen mit gutem verdienst zurück.“
Die Mitte bei Jelinek, sie ist nicht mehr wie bei Goethe die Chance auf ein Neues, ein Drittes, sondern bezeichnet den Abgrund des Seins in einer Mittelmäßigkeit, in der alles nivelliert wird. In mittelmäßiger Durchschnittlichkeit bietet auch der Spiegel keine Hilfe mehr zur Emanzipation des Subjekts. Denn „legen uns Lacans Reflexionen über das Spiegelstadium nahe, daß Wahrnehmung (oder zumindest Wahrnehmung des eigenen Körpers als einer nicht zerstückelten Einheit) und 62
Spiegelerfahrung Hand in Hand gehen“ ,
sind es bei Jelinek nunmehr nur noch halbblinde Spiegel, die diese Aufgabe übernehmen sollen. Und auch an anderer Stelle wird klar, dass der Spiegel im Werk Jelineks keinerlei positive Rolle mehr einnimmt. Selbst wenn ein positives Abbild gezeigt wird, so wird dieses doch sofort nur in seiner temporären Gestalt begriffen: „voller hass betrachtet sie sich im spiegel noch war ihr leib flach die hüften schmal aber wie lange.“63 Zwar kann dieser Spiegel noch den Körper des Individuums abbilden, aber halblind vermag er auch nur noch, die Hälfte seiner eigentlichen Funktionen zu erfüllen. Seltsam autonom wirft Jelineks Spiegel „das bild“ und nicht „ein Abbild“ zurück. Über das Bild hinaus weiß dieser Spiegel zunächst wenig zu zeigen – zumindest nicht das, was im Lacanschen Sinne einer Ich-Ausbildung gleichkommen würde. Doch hat auch der Jelineksche Spiegel die Möglichkeit ein Mehr für den Betrachter zu offenbaren, das über die reine Reflektion des Körpers hinausreicht. Denn obwohl der Fledermausmensch Batman einen Anzug trägt, betrachtet er auch zeitgleich seine Genitalien. Und auch wenn dies durch eine absurde Pose vor dem Spiegel möglich wäre, kann der Spiegel doch über diesen zu vermutenden Röntgenblick hinaus auch den guten Verdienst des Mannes erkennen lassen. Soweit kann das initiierende Moment einer Ich-Bildung über die Wahrnehmung des eigenen Körpers nachvollzogen werden. Was indes über diese rein körperliche Verortung und den kapitalistischen Modus hinausreicht, versagt der Spiegel
61 62
Elfriede Jelinek: wir sind lockvögel baby! 6. Auflage, Hamburg 2004, S. 28. Umberto Eco: Über Spiegel und andere Phänomene, übers. von Burkhart Kroeber, 7. Auflage, München 2002, S. 27.
63
Jelinek: lockvögel. S. 66.
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allerdings: Ein Spiegelstadium im Lacanschen Sinne kann nicht erreicht werden.64 „Man kann das Spiegelstadium als eine Identifikation verstehen und zwar im vollen Sinne, den die Psychoanalyse diesem Terminus gibt: als eine beim Subjekt durch die Aufnahme eines Bildes ausgelöste Verwandlung.“
65
Doch diese Verwandlung in ein Imago wird zum halbblinden, negativen Image. Das gemachte Image eines Schlagerstars oder eben Batmans, des dunklen Ritters von Gotham wird durch Jelineks Text offenbart. Denn der stereotype Held wird in „wir sind lockvögel baby!“ nicht mehr als Idealtypus verstanden. Vielmehr ist er die Imago, welche die Mittelmäßigkeit erhalten soll, die sich in letzter Instanz doch nur noch zur Akkumulierung von Gütern als hilfreich erweist und die weit von einer wirklichen Ich-Identifikation oder Ich-Bildung entfernt ist. Schon durch seine in die Mittelmäßigkeit überführte äußere Erscheinung, die nichts mehr mit den konstitutiven Heldenkostümen der amerikanischen Superhelden zu schaffen hat, muss Batman bei Jelinek sein künstliches Image einbüßen. Das ist eigentlich eine Unmöglichkeit. „Weil sie Marken sind, dürfen diese Helden nicht altern; ihr psychischer, moralischer und sozialer Zustand ist der einer auf ewig eingerasteten Pubertät. Keine Geschichte, so herzzerreißend sie erzählt, so hypnotisch sie gezeichnet sein mag, ist da kanonischer als irgendeine andere. Gegen den kathartischen Gebrauchswert des Erzählens an sich sind diese massengefertigten Produkte gleichgültig, und am Ende muß immer alles so sein wie zu Beginn der Geschichte – Fortsetzungen sind Verlängerungen, nicht Stufen auf einer evolutionären Leiter, nicht Bestandteile eines Entwicklungsbogens, den doch die Protagonisten
64
Das Spiegelstadium ist nicht, wie oft zu lesen ist, als einmaliger Akt in der frühesten Kindheit eines Menschen zu verstehen. Vielmehr wird das Bild des eigenen Ichs immer wieder erneuert. Realität und Imago sollen dadurch bestätigt bzw. einander angeglichen werden.
65
Jacques Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. Bericht für den 16. Internationalen Kongreß für Psychoanalyse in Zürich am 17. Juli 1949, in: ders.: Schriften I. Hrsg: Norbert Haas, übers. von Rodolphe Gasché, Norbert Haas, Klaus Laermann und Peter Stehlin unter Mitwirkung von Chantal Creusot, 4. durchgesehene Auflage, Weinheim, Berlin 1996, S. 61-70, hier: S. 64.
32 | D IE Z ERSTÖRUNG DES I CHS des bürgerlichen Romans selbst dann durchlaufen dürfen, wenn sie Gegenstand der bissigen satirischen Belustigung ihrer Erfinder sind.“
66
Der Entwurf eines Superhelden, sein serielles Dasein wird vor dem Jelinekschen Zerrspiegel zur Reflektion seiner Mechanismen. Der gestählte Körper Batmans sinkt auf das Niveau seiner Leserschaft hinab, mit all seiner Fehlerhaftigkeit oder doch zumindest in all seiner Durchschnittlichkeit. Batmans Image, das in letzter Instanz nur dazu angelegt ist, einen Ist-Zustand zu erhalten, zerbröckelt. Durch das Erkennen der Mittelmäßigkeit des eigenen Ichs mahnt Jelinek die bedrohliche Gewalt des Spiegels an, der nicht nur Ich-Konstituierer ist, sondern auch Richter des Selbst, eine Macht des Spiegels, die bereits Foucault erkennt: „Vor meinen Augen zeichnet sich unausweichlich das Bild ab, das der Spiegel mir aufzwingt […]. Mein Körper ist der Ort, von dem es kein Entrinnen gibt, an den ich verdammt bin. Ich glaube, alle Utopien sind letztlich gegen ihn geschaffen worden, um ihn zum Verschwinden zu bringen.“
67
Doch die Utopie eines Superhelden wird demaskiert als popkultureller Mythos, der Spiegel wird zum Mythenzertrümmerer. Jelinek spielt an dieser Stelle geschickt mit Ideen von Masken, Images und Demaskierungen, die speziell im USamerikanischen Superheldencomic von konstitutiver Bedeutung sind. Denn die Demaskierung des Superhelden ist genau jenes gefürchtete Moment, das die Familie des Superhelden bedrohen kann, den privaten Rückzugsraum des Helden zerstört und eben aus Spiderman Peter Parker und aus Batman
66
Diese Ausführungen Dietmar Daths fassen prägnant zusammen, wie der USamerikanische Heldencomic funktioniert. Doch gab es in der langen Tradition, beispielsweise der Batman-Serie, auch Abweichungen. Dath erwähnt z.B. sehr zu Recht das öffentliche Abstimmen über das Weiterleben oder Sterben der zweiten Robinfigur. Die erste Robinfigur jedoch hatte zu diesem Zeitpunkt bereits seine Lehre bei Batman beendet und lebt auch heute noch im DC-Comic-Universum weiter. Sie hat unter dem Namen Nightwing sogar seine eigene Heftserie. Dietmar Dath: Faustrecht als graphisches Erzählideal: Batman, Frankfurter Allgemeine Zeitung 15.10.2005, über: http://www.faz.net/themenarchiv/2.1200/ueber_comics/klassiker_der_comic_ literatur_faustrecht_als-graphisches_erzaehlideal_batman_1104283.html
67
Michel Foucault: Der utopische Körper. France Culture 21. Dezember 1966, in: ders.: Die Heterotopien, Les hétérotopies. Der utopische Körper, le corps utopique, Zwei Radivorträge, Zweisprachige Ausgabe, übers. von Michael Bischoff, mit einem Nachwort von Daniel Defert, 1. Auflage, Frankfurt a. M. Mai 2005, S. 25f.
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Bruce Wayne macht. Allerdings geht Jelineks Blick hinter die Superheldenmaske noch weiter und stellt die Frage, was hinter dem idealisierten Stereotyp wartet. Denn aus einem Batman ohne Maske wird nicht einfach dessen menschlich bürgerliche Identität Bruce Wayne, der Multimilliardär und Playboy, dies würde nur einer weiteren Stereotypisierung desselben Mythos entsprechen – sondern ein durchschnittlicher Mensch.68 Auffällig ist hierbei, dass Batmans durchschnittlicher Penis Erwähnung findet. Dies kann sowohl als Angriff auf die Asexualität vieler Superhelden gedeutet werden als auch auf die bizarren Sexualitätsdebatten rund um die Batmanfigur.69 Bemerkenswert an Jelineks gereinigtem, mittelmäßigem Durchschnittsmenschen aber ist, dass gerade das Einkommen als einzige Einheit nicht durchschnittlich ist und zudem auch zur Bildausprägung beiträgt. Die Ausbildung eines Ideal-Ichs, die nach Lacan Ziel des Spiegelstadiums ist, bleibt indes versagt. Das Ideal Batman, Idol der Popkultur, verhaart in der Mittelmäßigkeit und wird ins Lächerliche überführt. Das dargestellte Spiegelstadium muss deshalb als regressiv verstanden werden. Denn an das frühkindliche Stadium bindet sich nach Lacans Logik eine Phase, in der das Ich sich mittels des Anderen objektiviert, „bevor ihm die Sprache im Allgemeinen die Funktion eines Subjektes wiedergibt“.70 Nur durch diese triadische Entwicklung kann ein Subjekt ein Ich-Ideal ausbilden. Doch weder auf den Anderen noch auf die Sprache ist dabei zu vertrauen. Statt eines Gegenübers
68
Bemerkenswert an der Figur des Batman ist zwar, dass es sich bei ihm um einen Menschen und keinen Menschen mit Superkräften handelt, wie etwa bei Spiderman, dem Flash oder Green Arrow, er in seinem offiziellen Leben aber ein extrem reicher und egozentrischer Milliardär ist und somit immer noch einem Typus oder Stereotyp entspricht. Diese Dualität aufnehmend spielte die Serie oft mit der Frage, welche der Identitäten von Wayne/Batman dessen wahre ist. Auch die Figur des Two-Face, aus der Batman-Serie, nimmt diese Frage auf und kann als Alter Ego zu Batman verstanden werden. Dies wird etwa in der Verfilmung von Christopher Nolan in Batman The Dark Knight exemplifiziert. Besonders prägend für die innerpsychischen Reflektionen der Batman-Figur waren die Comics von Frank Miller.
69
Der Figur Batman wurde immer wieder der Vorwurf der Homosexualität gemacht. Selbst sein Zusammenleben mit seinem minderjährigen Mündel Robin führte zu der Vermutung Batman sei ein homosexueller Pädophiler, woran auch ein immer wieder propagiertes Verhältnis zu Catwoman nichts ändern konnte. Wiederum war es Frank Miller, der in seinem bahnbrechenden Comic „Batman – The Dark Knight returns“ auf diese Vorwürfe ironisch einging. In seiner Neuinterpretation des Fledermausmannes ist Robin eine junge Frau.
70
Lacan: Spiegelstadium. S. 64.
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tauchen in Jelineks Text immer nur noch mehr monadisch wirkende Figuren auf. Durch ihren Ursprung in der Populärkultur ist ihnen allen schon ein festes Image oder ein vor-geschriebenes Ideal zu eigen. Doch verharrt dieses Ideal im Stillstand, unfähig sich zu entwickeln oder gar in Kommunikation und somit Veränderung mit anderen Subjekten einzutreten. Diese fehlende Entwicklung wird bei Jelinek durch die Gegenüberstellung der monadischen Stereotype offenbart. Jelinek nutzt sowohl die Vernetzung unter den Figuren als auch die Gegenüberstellung absurder Signifikanten zur Konstruktion neuer Dichotomien, um die innere Leere des Images zu zeigen. Dies geschieht desgleichen durch die Sprache, die immer wieder den Verlust einer Autorinstanz zeigt, welche keinerlei Macht mehr über den fremden weil autonomen und tradierten Zeichenkosmos besitzt. In einem Werk, das aus Fremdmaterialien geschaffen wird, führt Jelinek sowohl die mythisierte Sprache der Werbung und Populärkultur als auch den Topos des schaffenden Dichtergenies als unfruchtbar und unvereinbar vor. Somit wirkt weder ein Gegenüber auf die Charaktere ein noch die Sprache, die sich jeder ordnenden Instanz entzieht. Die „Wendung vom Spiegel-Ich (je spéculaire) zum sozialen Ich (je social)“71 kann somit nicht mehr vollzogen werden. Doch nicht nur redundantes Sprechen und eine missglückte Ich-Ausbildung von monadischen Typen ist in Jelineks Text zu konstatieren. In ihrer Sprachkritik nutzt sie die Collagetechnik, um dem im Image erstarrten Signifikanten des fremden Textmaterials wieder subversives Potenzial zu verleihen. Dem Stereotypen Batman, der als Superheld, Superdetektiv, als Ritter und Rächer eigentlich ein Zeichen der Ausnahmen ist, setzt sie analog zu Goethe das Alltägliche entgegen. Die mythisierte Sprache wird bereinigt. Doch ist Batman hierbei nur eines unter vielen Beispielen. Ihm kommt keine Sonderrolle zu. Innerhalb der Jelinekschen Zitations- und Assoziationsflut, die schier überbordend wirkt und die kaum en détail interpretierbar ist, scheint die einzige feststehende Größe zunächst ein ganz anderer Name zu sein, der immer wiederkehrt und an Bedeutung gewinnt: Otto. Doch so wie sich die einzelnen Kapitel in ihren Handlungen nicht aneinanderreihen, sondern eher wie das stete Umschalten – das Switchen – eines Fernsehers72 immer neue Situationen und Bilder aufrufen,
71
Lacan: Spiegelstadium. S. 68.
72
Jelinek fokussiert sich besonders stark auf die Wirkweisen des Fernsehens, die in den späteren Überlegungen noch von erheblicher Relevanz sein werden. Zu den Modi eines intermedialen Erzählens bei Jelinek und deren (angeblichen) Primat des Fernsehens über das Kino, siehe: Katharina Langhammer: Fernsehen als Motiv und Medium des Erzählens. Elfriede Jelinek, in: Jörn Döring, Christian Jäger, Thomas
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so ist auch in der Figur des Otto sowohl das Ambivalente des Textes als auch der Verlust von Subjektivität zu erkennen. Denn es handelt sich analog zu Goethes Text nicht einfach um einen Otto, sondern um die Variation Ottos. Wird aber bei Goethe der Verlust an Individualität in scheinbar autarken Charakteren noch subtil angelegt – dies zeigt etwa das Verwirrspiel um die Figur Eduard –, so ist der Verlust der Autonomie des Individuums bei Jelinek bereits vollzogen. Ihre Simulakren73 an Ottos durchziehen den Text und lassen das vermeintliche Individuum seltsam unbelebt. War es bei Goethe noch ein Eduard, der sich schließlich als Otto entlarven ließ, so sind es bei Jelinek Batman, Flipper oder auch der Weiße Riese, die hinter einer Maskerade aus entleertem Zeicheninventar sich als Ottos entpuppen. Jelineks Otto, bei dessen Anbindungen an die Werbewelt auch immer der Otto Normalverbraucher mitschwingt, bleibt eine indifferente Möglichkeit. Das Durchspielen der Otto-Möglichkeiten, also den Antwortmöglichkeiten auf die Frage, was Otto alles sein könnte, zeigt dessen Gemachtheit auf. Keine seiner Varianten kann einen Anspruch auf Echtheit oder gar Autonomie einfordern. In der Variation geht das Individuum verloren, Variante ist nicht Reichtum, sondern Ödnis. Die Ödnis, die sich schon im Gleichwerden der Handschrift bei Goethe andeutete, erfährt in Jelineks Text durch das Aneinanderfügen vorhandenen Textmaterials noch eine Steigerung. Im elften Kapitel mit dem Titel „aber otto konnte auch anders sein“ werden folgerichtig als letzte Barrieren einer Individuation selbst Geschlechtergrenzen überschritten. Denn: „die junge dame war das sei gleich verraten unser otto.“74 Dabei ist sicherlich nicht etwa Transvestismus gemeint, da im 25. Kapitel Otto außerdem schwanger wird und später ein Verhältnis mit sich selbst eingehen wird. Auch keine gendertheoretischen Ansätze müssen geltend gemacht werden. Nicht Butlers Troubel in Gender wird gezeigt oder gar vollzogen, sondern eine
Wegmann (Hrsg.): Verkehrsformen und Schreibverhältnisse. Obladen 1996, S. 187203. 73
Der Terminus ist im Sinne Baudrillards zu verstehen. In seinem triadischen System ist die erste Ordnung der Simulakren eine Abbildung der Wirklichkeit. Die zweite Ordnung ist eine Kopie der Wirklichkeit, die bereits ihre eigene Künstlichkeit verbirgt. Die dritte Ordnung, die Baudrillard in unserer Zeit ansiedelt, ist die Ordnung der Simulakren, die nicht mehr auf ein Außen, sondern stets nur auf sich selbst verweist. Diese Simulakren produzieren selbst Realitäten. Vgl. hierzu: Jean Baudrillard: Die Ordnung der Simulakren, in: ders.: Der symbolische Tausch und der Tod, übers. von Gerd Bergfleth, Gabriele Ricke und Ronald Voullié, Berlin 2005, S. 77-78.
74
Jelinek: lockvögel. S. 32.
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Nivellierung des Ichs, welche selbst die Geschlechtergrenzen vernichtet und somit noch die geringste Möglichkeit einer Unterscheidung von Individuen zunichte macht. Otto, das ist bei Jelinek keine Möglichkeit, sondern mehr noch als bei Goethe ein verstecktes Spiel. Aus dem Spiel wird Ernst, denn die Ottos dieser Welt, die sich doch scheinbar in fast jede (nicht) handelnde Person eingeschlichen haben, werden zur Bedrohung. Und nur weil die Idee Otto über ein paar Seiten verschwunden bleibt, ist sie dennoch keineswegs überwunden. „otto ist nicht tot. otto ist nur untergetaucht um sich dem zugriff der polizei zu entziehen. jetzt kommt er wieder um die herrschaft über die welt zu erobern. in seinen händen hält er die mittel zur macht. aber hätte er anders handeln können? in jedem von uns ist ein stück otto wo kinder lachen und scherzen wo frau und mann glücklich zusammenliegen und pflichten wo eine frohe mutter unter schmerzen noch lächelt wo eine greisin sich mit einem greis an der frühlingssonne freut überall ist otto zu haus in stadt und land. armes burgenland.“
75
Die bei Goethe noch angedeutete Idee eines Subjektverlustes ist bei Jelinek damit vollzogen. Individualität und Ich-Konstituierung zerreißen in der medial geschaffenen Welt. Das Reich der Zeichen und der Sprache entwickelt keine neuen Machtverhältnisse mehr, ist also kein im Werden befindliches, denn Otto hält bereits die mittel zur macht in den Händen und zeigt somit den vollzogenen Machtwechsel an. Im Foucaultschen Sinne findet sich hier also ein vollendeter Übergang von einer Biomacht des 18. Jahrhunderts zu einer postmodernen Gouvernementalität.76 Hiernach lässt sich das Verschwinden jeglicher Unterscheidungsmerkmale der Jelinekschen Ottos etwa als eine Biopolitik der zu verwaltenden biosoziologischen Prozesse mittels Statistiken deuten, die einer Entindividualisierung gleichkommen. Eine Verhaltenssteuerung des Individuums wird mittels moderner Medien im Sinne eines Sicherheitsdispositives erreicht. 77 Eine Steigerung der Machtdurchdringung, die jedes Individuum ergriffen hat.
75 76
Jelinek: lockvögel. S. 35. Vgl.: Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität 1. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, Vorlesung am College de France 1977/1978, hrsg. von Michael Sennelart, übers. von Claudia Brede-Konersmann und Jürgen Schröder. Frankfurt a. M. 2004. Insbesondere S. 93, 157, 162 und 398.
77
Vgl.: Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, übers von: Walter Seitter, 15. Auflage, Frankfurt a. M. 2004. Insbesondere S. 148, 166f., 173f.
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In den systeminternen Machtstrukturen der Massenmedien wird die Suprematie der Zeichen für die Masse Otto erzeugt und zugleich von selbiger Masse rezipiert und getragen. Dem möglichen Fluchtraum Natur in Form eines Gartens, wie er bei Goethe noch angedeutet wird, wird eine Hyperrealität der Medien gegenübergestellt, an der sich fortan Natur messen lassen muss. „es ist klar: fernsehen ist heute so etwas wie das massenkommunikatorische über ich. es 78
hat die vergesellschaftung übernommen als das technisch fortgeschrittenste medium.“
In ihrer Annährung an das Fernsehen, also dem modernen Massenmedium, nutzt Jelinek eine Populärkultur, in die sie sich selbst einschreibt. Populäre Figuren wie der schon angesprochene Batman, überhaupt die Welt der Comics, des Horrorfilms, aber auch der Heimatmusik und Werbung, tauchen schon in den frühesten Texten der Autorin auf und werden von nun an das Gesamtwerk Jelineks bevölkern. „Ich sehe zumindest mein Nora-Stück als eine Weiterentwicklung des Brechtschen Theaters mit modernen Mitteln der Literatur, den Mitteln der Popkultur der fünfziger und sechziger Jahre, die auch darin bestehen, vorgefundenes Material – pur oder gemischt mit eigenem, aus dem ursprünglichen Zusammenhang gerissen – nebeneinanderzusetzen, um eine Bewußtmachung von Zuständen und Sachverhalten zu erreichen. Schon die Surrealisten haben ähnlich gearbeitet. Der Faschismus hat in Deutschland die experimentellen Kunsttechniken radikal abgeschnitten und so klafft eine Lücke in der Tradition der deutschsprachigen Literatur.“
79
Die Populärkultur – und diese im weitesten Sinne als Zeichenfundus verstanden – wird zusehends das Schaffen Jelineks bestimmen und den gesellschaftskritischen Impetus ihrer Texte tragen. Dabei ist Pop ein Begriff, der seltsam undefiniert erscheint und doch zu einem Schlagwort des 20. Jahrhunderts avancierte. Spätestens seit den 1980er Jahren prägte sich der Begriff Popmusik im kollektiven Gedächtnis ein. Ebenfalls setzen sich Definitionen wie die einer Popliteratur durch, zu der auch Jelineks
78
Der hier zitierte Essay entstand zeitgleich zu Jelineks Lockvögel-Text und kann als dessen poetologische Grundlage angesehen werden. Elfriede Jelinek: Die endlose Unschuldigkeit. Essay, in: dies.: Die endlose Unschuldigkeit. Prosa – Hörspiel – Essay, Schwifting 1980, S. 49-82, hier: S. 52.
79
Elfriede Jelinek: Ich schlage sozusagen mit der Axt drein. 1984, in: TheaterZeitSchrift 7/1984, S. 14-16, hier: S.15.
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erste Romane gerechnet werden. Pierre Bourdieu verortete das entscheidende Moment einer populären Ästhetik noch im populären Spektakel des Zirkus, des Melodrams, des Kinos oder des TV-Sports, dem er eine Geschmacksbefriedigung am Fest zugestand. Doch müssen auch seine Thesen neu überdacht werden. Denn der Begriff des Pop selbst ist einem Wandel unterworfen und muss in seinen Ambivalenzen und Entwicklungen immer differenzierter verstanden werden. Zunächst als Prinzip einer Gegenbewegung zum Diskursiven begriffen, stehen sich heute Pop und der sogenannte Mainstream nicht mehr diametral gegenüber, sondern müssen schon von den 1970er Jahren an – also der Entstehungszeit von „wir sind lockvögel baby!“ – als integriertes Gegenüber, also als ein Diskurs desselben Dispositivs80 verstanden werden. Der Pop als Denken in Überschreitungen gründete zunächst auf den Ideen eines „offenen Drauflos-Reden(s)“ und des „offenen Gelächters“81, aber auch des Schocks und der zu überschreitenden Grenzen, die gegen eine als hermetisch, konservativ empfundene Gesellschaft revoltierten. Populäre Bewegungen, wie etwa der Punk, funktionieren „indem sie die soziale Welt auf den Kopf stellen, indem sie die Konventionen, Anstand und Sitte, für Momente außer Kraft setzen.“
82
Der Schock, aber auch der Skandal, dessen rebellische Kraft schon von der Gruppe der Surrealisten erkannt und genutzt wurde83, verlor jedoch zunehmend sein subversives Moment. Heute sind vermeintlich lesbische Küsse auf offener Bühne (wie bei Madonna und Britney Spears), der öffentliche Angriff auf Juden (Lars von Trier) etc. meist nur marketingtechnisches Kalkül. In der Kritik, dass
80
Foucault nutzt den Begriff des Dispositivs, um die Verwobenheit eines Machtbereiches zu definieren. In dieser Bündelung ergeben mehrere Diskurse die heterogene Gruppe eines Dispositivs. Vgl.: Michel Foucault: Nr. 206, Das Spiel des Michel Foucault, in: ders.: Dits et Ecrits. Schriften, Bd. III, 1976-1979, hrsg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, übers. von Michael Bischoff, Hans-Dieter Gondek, Hermann Kocyba und Jürgen Schröder, Frankfurt a. M. 2003, S. 391-429, hier: S. 392.
81
Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, übers. von Armin Russer, Bernd Schwibs, 6. Auflage, Frankfurt a. M 1993, S. 67.
82 83
Ebd. Marcel Duchamp wird etwa von Bärbel Lücke in ihren Ausführungen zu Jelineks Lockvögeln erwähnt. Mit seinen ready mades entmythologisiert er Ideen der Originalität des Werks, des Künstler- Schöpfer(s) und jene der reinen Kunst. Vgl.: Lücke: Jelinek. S. 34.
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der Schock und die Grenzüberschreitung des Pop zu einer Vermarktungsstrategie verkommen seien und den Spielregeln einer kapitalistischen Ökonomie gehorchten, klingt Horkheimers und Adornos Begriff der Kulturindustrie an.84 Mithin also eine Kritik am Pop, die sich auch schon im lockvögel-Text Jelineks finden lässt. „Damit rekurriert Jelinek immanent sowohl auf Adorno als auch auf Barthes, auf die „Entfremdung“ durch die ‚Kulturindustrie‘, die einem brainwashing gleichkommt, das über TV und Events aller Art unsere Gehirne in einem gängigen Wortspiel popu-leer und so 85
durch jeden Mythos im bartheschen Sinne manipulierbar macht.“
Das Spiel aus „wir sind lockvögel baby!“ aufnehmend, scheint sich zunächst nichts zu ändern. Und wirklich sind onkel hans und tante grete in Jelineks drittem Roman „Michael. Ein Jugendbuch für die Infantilgesellschaft“ zu bedauern, wenn sie vor dem Fernseher sitzen, konsumieren und am Ende in ihren gehässigen und infantilen Reaktionen mehr einer aufgebrachten Affenbande als Menschen ähneln. „der herr chef lebt in wirklichkeit wie die chefs im tv. es gibt fast nur chefs im tv zu sehen. ein tag ohne chef im tv und das publikum käme aus der übung. eben geht ein mädchen über den bildschirm das ingrid sehr ähnlich sieht. onkel hans und tante grete brüllen wie am spiess und winken. sie steigen sogar auf die sofalehne. aber das mädchen dreht sich nicht mal um. na warte sagen onkel hans und tante grete: sie drohen mit den fäusten. sie debattieren noch stundenlang darüber: kaum ist die nichte im fernsehn ist sie auch schon hochnäsig. tante grete hat schaum vorm mund. gott sei dank wird die blöde gans im laufe des 86
films von ihrem herrn chef entlassen. recht geschieht ihr!“
Die Jelinekschen Figuren des Michael-Textes sind sich ihres eigenen medialen Gefängnisses gar nicht mehr bewusst und die im Untertitel benannte Infantilgesellschaft erlangt doppelte Bedeutung.87 Denn das Fernsehen bricht nicht nur in
84
Vgl. hierzu: Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Kulturindustrie, Aufklärung als Massenbetrug. in: dies.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, 16. Auflage, Frankfurt a. M. 2006, S. 128-176.
85 86
Lücke: Jelinek. S. 33. Elfriede Jelinek: Michael. Ein Jugendbuch für die Infantilgesellschaft, 7. Auflage, Hamburg 2004, S. 83.
87
Freilich ist auch der Titel Michael eine Anspielung im mehrfachen Sinne. In seiner Anlehnung an den 1929 erschienen „Bildungsroman“ Michael. Ein deutsches
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den Alltag ein, es bestimmt ihn auch. Der Tagesablauf wird auf das Fernsehprogramm abgestimmt. „ingrid denkt hoffentlich sind wir zum fernsehn wieder zurück. die mutti denkt tv ist ja schön. aber die natur ist in wirklichkeit noch schöner. gut das wir beides haben. die wirklichkeit und das tv! alle denken: gut dass wir es uns aussuchen können die wirklichkeit 88
oder fernsehn. nicht?“
Uneindeutig bleibt hier die Funktion des Fragezeichens. So kann es die Unsicherheit der eigenen Behauptung anzeigen oder auf den Umstand deuten, dass die Wahl zwischen einer möglichen Wirklichkeitswelt und der artifiziellen Fernsehwelt (und damit deren Unterscheidbarkeit) noch nicht endgültig und eindeutig entschieden ist. Und wirklich wäre es eine verkürzte Sicht, würde man hinter Jelineks Umsetzung eines Popromans allein Häme vermuten. Bewegt sich Jelinek doch selbst im Bereich des Pop, nutzt dessen Mechanismen, um sie dann als Mechanismen erst kenntlich zu machen. Ein Verfahren, das sich stilbildend durch ihr weiteres Werk fortsetzen wird: „Deutlich wird in den frühen Werken, zumal im lockvögel-Roman, bereits das spätere Verfahren Jelineks, der künstlichen Welt der Mythen und Trivialmythen keine Sphäre der Natürlichkeit oder Eigentlichkeit gegenüberzustellen, sondern im Medium der entfremdeten und verdinglichten Sprache zu bleiben und sie lediglich durch Überzeichnung und abermalige Deformation zu denunzieren. Niemals wird einer ‚unwirklichen‘ Welt eine ‚wirkliche‘, wird der Fiktion die ‚Realität‘ entgegengesetzt. Vielmehr wird die Entlarvung des Falschen und Entfremdeten vorgenommen durch seine abermalige Entstellung, die nichts Neues und Anderes schafft, sondern selbst gebunden bleibt an das triviale Muster 89
und ihre wie immer auch deformierende Reproduktion.“
Doch erkennen die Frankfurter Schule ebenso wie viele Jelinekinterpreten in ihren kritischen Auseinandersetzungen fast nur ein konformistisches Moment im Pop, der allein der kapitalistischen Wertschöpfung verpflichtet ist. Demgegenüber gestehen die späteren poststrukturalistischen Thesen dem Phänomen Pop allerdings auch ein gesellschaftlich produktives Moment zu. Dabei geht es ihnen
Schicksal in Tagebuchblättern von Dr. Josef Goebbels, zieht Jelinek eine Parallele zur Macht der Medien, welche zur Stimmungsbildung, sprich Propaganda missbraucht werden kann. 88
Jelinek: Michael. S. 127.
89
Janz: Jelinek. S. 7.
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nicht um eine postmarxistische Lesart, also um die kapitalistische Nutzbarkeit des Pop, sondern vielmehr um die Sprache, die Modi und gar die Chancen, die der Pop offeriert und die sich auch Jelinek in ihren Texten zu eigen macht, wenn sie so dem Pop wieder ein Stück seiner verbrauchten Subversivität abzutrotzen versucht: In Bezug auf Homophonie, Antonymie, Synonymie aber auch mittels Wiederholungen oder hyperbolischen Sprechens zeigt sich ein erneuerter spielerischer Umgang mit Sprache innerhalb des Pops, der bei Jelinek allein schon in den Kapitelüberschriften wie wirklichkeit, wirkliche wirklichkeit, erzählung oder nacherzählung zu erkennen ist: „ingrid kann den blick nicht vom fernseher wenden. sie sagt zu ihrer mutti ich möchte dass mich auch einmal jemand liebt. ich meine richtig liebt und zu mir gehört wie im film. ich meine richtig lieben mutti. die mutter sagt aber hasilein ich hab dich doch lieb. richtig lieb. mutterliebe ist die reinste liebe. auf sie kannst du dich verlassen auf einen mann nicht. die zuschauer lächeln geringschätzig haben sie doch oft im tv erfahren dass es echte 90
liebe gibt. auch ingrid glaubt daran. bewahr dir deinen glauben an das gute ingrid.“
Jelineks Figuren verlieren den Bezug zur Realität und versuchen diesen immer wieder in der Welt des Fernsehens zu finden. Dominant legen sich Filmsequenzen auf die scheinbare Realität und immer wieder muss sich diese Realität an der Filmwelt messen lassen – um dabei gnadenlos abzufallen, wenn es etwa heißt: „aber das bild ist wirklich gut getroffen. so echt wie im wirklichen leben. (so echt wie im 91
wirklichen leben. fast noch echter.)“
Ununterscheidbare Instanzen beginnen ein geschicktes Spiel von Sprechern und Gesprochenem. Diesem doppelten Spiel der Signifikanten konstatieren Deleuze und Guattari die Möglichkeit, das Moment des Diskursiven, des bestimmenden Kapitalismus oder, um mit Foucault zu sprechen, der Macht zu unterlaufen. In der Sprache des Pop sehen sie deshalb die Chance, sich der vorherrschenden und bestimmenden Sprache zu widersetzen. Bei beiden Denkern zum ersten Mal in deren gemeinsamen Kafka-Abhandlungen92 zu finden, entwickelt sich der nur
90
Jelinek: Michael. S. 96.
91
Jelinek: Michael. S. 139.
92
Gilles Deleuze und Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur, übers. von Burkhart Kroeber, Frankfurt a. M. 1976.
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kurz erwähnte Begriff des Pop in ihren weiteren gemeinsamen Schriften fort.93 Die Sprache des Pop wird von ihnen als Wörterflucht94 begriffen; als eine Flucht, die es ermöglicht, den Sprechenden innerdiskursiv und zugleich aufbegehrend zu verstehen. Bei Deleuze und Guattari ist Pop eine Frage, die über den Konsens hinaus Fragen stellt. Sie vertreten dabei aber nicht die Ansicht, dass sich das sprechende Subjekt ins Dialektale, den Slang oder ähnliche Randbereiche der Sprache retten muss95, wie dies etwa in der Dada-Bewegung zu erkennen ist.96 Vielmehr ist es Aufgabe, die vorhandene Sprache einer erneuten Prüfung zu unterziehen. Aus einer Sprache der Vielen, der Mehrheitssprache bildet sich somit ein Minderheitlich-Werden, in dem die Sprache sich selbst zu entkommen versucht: „Vielsprachigkeit in der eigenen Sprache verwenden, von der eigenen Sprache kleinen, minderen oder intensiven Gebrauch machen, das Unterdrückte der Sprache dem Unterdrückenden in der Sprache entgegenzustellen, die Orte der Nichtkultur, der sprachlichen Unterentwicklung finden, die Regionen der sprachlichen Dritten Welt, durch die eine Sprache 97
entkommt, eine Verkettung in sich schließt.“
Deleuze und Guattari schlagen also ein zweigliedriges System für die Wörterflucht vor. Zum einen soll das einzelne Wort auf seine unterschiedlichsten Konnotationen hin geprüft werden und auch verdeckte Bedeutungsebenen manifest gemacht werden, zum anderen sind es die Orte der Sprache, die eine wesentliche Rolle in der Konzeption der beiden Denker spielen. Die offiziellen, bürgerlichen
93
Auch wenn sich Deleuze zuvor schon mit der Idee der Serie in der Pop-Art bei Andy Warhol auseinandersetzt. Siehe hierzu: Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung, übers. von Joseph Vogl, München 1992.
94 95
Im Original in Deutsch. Obwohl sich Jelinek in späteren Werken mittels künstlicher Dialekte, etwa in Burgtheater, auf die Mundartgedichte H.C. Artmanns beziehen wird. Vgl.: Gerhard Rühm (Hrsg.): Die Wiener Gruppe. Achleitner, Artmann, Bayer, Rühm, Wiener, Reinbeck 1985, S. 13.
96
Interessant hierbei ist Janz` Unterscheidung zwischen Collage- und MontageVerfahren. Während sie Jelineks ersten Roman bukolit noch als gescheiterten Versuch im Sinne einer dadaistischen Collagetechnik versteht, sieht sie im lockvögelRoman bereits die später von Jelinek sehr fruchtbar gemachte Form der Montagetechnik im Sinne der Pop-Art wirken. Vgl: Janz: Jelinek. S. 2ff.
97
Deleuze/ Guattari: Kafka. S 38f.
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Werte- und Normbegriffe können somit einer Korrektur mittels des Pop unterzogen werden. Den so gewonnenen „Ausweg für die Sprache, für die Musik, für das Schreiben“98 sieht auch Giorgio Agamben, der in Anlehnung an Deleuze und Guattari die Verwendung von Sprache in eine Entwicklungsgeschichte einbettet: „Die Vorkehrungen der Medien haben eben den Zweck, die profanatorische Macht der Sprache als reines Mittel zu neutralisieren und zu verhindern, daß sie die Möglichkeit eines neuen Gebrauchs, einer neuen Erfahrung des Wortes auftut. Schon die Kirche hatte nach den ersten zwei Jahrhunderten der Hoffnung und des Wartens ihre Funktion so aufgefaßt, daß sie im wesentlichen die neue Erfahrung des Wortes zu neutralisieren habe 99
[…].“
Der Unterdrückung eines freien Sprachgebrauchs der Massen durch eine Neutralisierung kann also mit der subversiven Verwendung einer Pop-Sprache entgegengewirkt werden, wodurch diese auch ein revolutionäres Moment in sich trägt. Tom Holert erkennt deshalb in seinen Reflektionen zu Deleuze und Guattari auch treffend dieses erweiterte Potential, das sich im Zuge eines neuen Sprachgebrauchs eröffnen kann. „Die anti-institutionelle, anti-konventionelle Improvisation dient zugleich einer Enthierarchisierung oder Egalisierung der Zugangsmöglichkeiten zu Wissen sowie zu der Lizenz, dieses Wissen auf unerwartete, das Neue realisierende Weise zu verknüpfen und schöpferisch zu verketten.“
100
In der Deterritorialisierung von Sprache wird das einzelne Wort zertrümmert und von seinen scheinbar festen Bedeutungsträgern abgelöst. Die bequeme, weil diskursive Sinnstruktur wird postrukturalistisch modifiziert. Nicht nur zufällig wirken die Thesen dieser Wörterflucht eng mit Nietzsches Thesen einer Nihilisierung und Neuschaffung verbunden. Deleuze, der sich in einer philosophiegeschichtlichen Abhandlung früh mit Nietzsches Thesen beschäftigte, versteht diese als Entwurf der Neuschaffung der Sprache in einem triadischen System. Das
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Ebd.
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Giorgio Agamben: Lob der Profanierung, in: ders.: Profanierungen, übers. von Marianne Schneider, Frankfurt a. M. 2005, S. 70-91, hier: S. 87.
100 Holert, Tom: Dispell them. Anti-Pop und Pop-Philosophie: Ist eine andere Politik des Populären möglich? in: Peter Gente und Peter Weibel (Hrsg.): Deleuze und die Künste. Frankfurt a. M. 2007, S. 168-189, hier: S. 173.
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Wort wird erfasst, in seiner Bedeutung deterritorialisiert und, um in einer Gesellschaft wirken zu können, einer Reterritorialisierung unterzogen. Pop muss in diesem Verständnis also als Avantgarde erfasst sein, als eine Sprache avant la lettre, die ein Volk anspricht, das im Werden befindlich ist: das kommende Volk. Pop ist demnach also zunächst alles andere als populär, so wie auch Jelineks Sprachverfahren bei all ihren Anleihen im populären Raum kaum als populistische oder konsumierbare Literatur verstanden werden kann. Ebenso wie eine Pop-Philosophie mitnichten eine Philosophie des Pop meint, sondern „ein Philosophieren im Modus und im Milieu des Pop, ohne das, was allgemein für Pop gehalten wird, zu affirmieren“101. Die Gefahren für eine Sprache des Pop, entstehen also viel eher durch deren Erfolg, ihr Populär-Werden. Und auch wenn sich die anfänglichen Dichotomien einer Alltagskultur gegenüber der Pop-Kultur aufgelöst zu haben vorgeben, birgt der Pop doch auch im 21. Jahrhundert noch subversives Potential. Diesem gehen kulturwissenschaftlich orientierte Denker wie John Fiske, Lawrence Grossberg und nicht zuletzt Stuart Hall nach. Halls Hauptaugenmerk liegt dabei auf den kulturellen Identitäten, die maßgeblich durch Phänomene des Pop erwachsen. Besonders randständige Gruppen wie die farbigen US-Amerikaner mit ihrer kulturellen Entwicklung und ihrem Versuch eine eigene Identität auszubilden, bilden dabei seinen Fokus. Denn der Reiz des Pop liegt im Falle einer dominierten Minderheit in der Chance einer kulturpolitischen Einmischung. Die Differenz des Anderen wird zwar, so Hall, im Pop konsumierbar gemacht und verliert dadurch an subversivem Potential, lässt das Andere aber auch als weniger fremd oder gar bedrohlich erscheinen.102 Somit kann dem System des postmodernen Pop noch ein positiver Aspekt abgerungen werden. Aber: „There is no escape from the politics of representation.“103 Denn schon längst hat die Ökonomie des Turbokapitalismus Mechanismen ausgebildet, um in rasender Geschwindigkeit etwa jugendkulturelle Strömungen mittels Headhuntern, des Internets und den darin agierenden Social Networks kommerziell zu erschließen. Überhaupt erweisen sich die neuen Medien als perfekte Instrumentarien des Mainstreams. Die aktuellen Chartlisten offerieren zusehends eine immer schneller fluktuierende Mischung an Talenten aus TVCastingshows, aber auch an jungen Musikern, die ihre ersten Auftritte im Inter-
101 Holert: Dispell. S. 175. 102 Vgl.: Stuart Hall: What Is this ‚Black’ in Black Popular Culture? in: ders.: Critical Dialogues in Cultural Studies. Hrsg.: David Morley, Kuan-Hsing Chen, London/New York 1996, S. 465-475. 103 Ebd.: S. 473.
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net absolvierten und um deren Entdeckung, Alter oder Lebensumstände, sprich deren Person ein postmoderner Mythos entworfen wird, der doch nur Teil eines größeren Marketingkonzepts ist.104 Eigenständige Kritik verstummt auch in den Werken Jelineks schnell, wenn der Fernseher ein anderes Bild der Realität vermittelt. „trotzdem bewundert ihn ingrid weil er aussieht wie alle jungen leute von heute im tv. ingrid sieht so aus wie alle jungen leute von heute die im fernsehen als lehrlinge vorgestellt werden.“
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Doch das Bild eines rhizomatischen Geflechts106, das selbst die kleinsten Strömungen aufzuspüren und dem Großen nutzbar zuzuführen weiß, um es in letzter Konsequenz dadurch abzutöten, beinhaltet ein Spiel der Wechselseitigkeiten, das nicht allein negativ zu bewerten ist. Denn schon lange nicht mehr sind es allein die randständigen Gruppen einer Gesellschaft, wie Schwule oder Farbige, die eine eigene, möglicherweise eine Gegen-Kultur ausbilden. Die gesellschaftlichen Differenzen des Diskurses können sich unabhängig von Glauben, sexueller Präferenz oder politischer Überzeugung überall wieder finden. „Deshalb wird es zugleich immer leichter und immer schwieriger, die popphilosophischen, pop-literarischen oder pop-musikalischen Orte der ‚Nicht-Kultur‘, ‚Unterentwicklung‘ und ‚Dritten Welt‘ aufzuspüren, durch die hindurch oder von denen aus 107
eine Ausflucht möglich wäre.“
104 Im musikalischen Bereich wäre hier etwa die Band Gorillaz zu nennen. Aber auch Justin Bieber, der mit fünfzehn Jahren via Youtube entdeckt wurde. Doch auch in der Literatur sind vergleichbare Phänomene zu entdecken. Prominenteste Beispiele jüngeren Datums sind etwa J. K. Rowling, deren Privatleben klarer Bestandteil der späteren Vermarktungsstrategie ihrer Bücher war. Einen ähnlichen Nimbus erhielt Christopher Paolini, der bei der Veröffentlichung seines ersten Buches erst siebzehn war, beim Schreiben sogar erst 15 Jahre alt gewesen sein soll. 105 Jelinek: Michael. S. 66. 106 Vgl.: Gilles Deleuze und Félix Guattari: Einleitung: Rhizom, in: dies.: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, übers. von Gabriele Ricke und Ronald Voullié, hrsg. von Günther Rösch, 6. Auflage, Berlin 2005, S. 11-42. 107 Holert: Dispell. S. 189.
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Die deleuzianischen Ort108 erfahren durch ihre Ambivalenzen in den neueren Thesen zum Pop, wie sie in den US-amerikanischen Cultural Studies entwickelt werden, eine verstärkte Aufmerksamkeit. Zum einen kann ein Spiel der Zeichen, der Wörterfluchten an verschiedensten Orten der Gesellschaft aufgenommen werden und ist somit nicht mehr nur als Spiel der gesellschaftlichen Randzonen zu verstehen. Zum anderen droht bei zu hoher Akzeptanz aber auch immer die Kulturindustrie Adornos, die in letzter Konsequenz jegliches subversive Potential des Pop im Diskursiven auflöst. Bemerkenswert an Jelineks Michael-Text ist, dass insbesondere die Frauen – wenn sie nicht die Geliebten berühmter Männer sind und selbst als solche – im Spiel der popkulturellen Verweise, in der Welt des Fernsehens randständige Zaungäste bleiben. „kein mensch käme auf den gedanken dass gerda oder ingrid was zu sagen haben wenn sie den mund aufmachen. gerda und ingrid schweigen besser. das reden sollten sie jenen überlassen die es gelernt haben. und das sind eine ganze menge. wenn gerda oder ingrid versuchen wie im fernsehen oder kino zu sprechen dann wissen sie gleich nicht weiter und müssen sich schämen. manchmal glauben gerda und ingrid dass es zwei verschiedene arten von sprache geben muss. diejenige die sie sprechen und diejenige die die anderen sprechen. die anderen vom fernsehen sind fast so anders wie der herr chef oder die junge frau patrizia.“
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Der Idee des Schweigens wird sich Jelinek in ihrem 1987 publizierten Drama „Krankheit oder Moderne Frauen“ auf ganz neue Art annähern. Sie wird in der weiteren Analyse noch von Bedeutung sein. Verharrten die bisherigen Frauenfiguren im Werk Jelineks in einer passiven (Opfer-)Rolle und werden sie zudem meist in einer Gruppe, also als eine Schicksalsgemeinschaft gezeigt, ändert sich diese Position in Jelineks bekanntestem Text „Die Klavierspielerin“.110 Erika Kohut, die titelgebende Klavierspielerin, wagt den Versuch, ihr Schicksal selbst zu bestimmen. Dominiert von einer herrischen Mutter, ist es Erika bislang nicht gelungen, sich eine eigenständige Sexualität aufzubauen. In Bezug auf damalige Debatten, unternimmt der Text den Ver-
108 Als Orte des Pop definiert Deleuze „Orte der Nichtkultur“, also etwa GrindhouseKinos oder die Punkbewegung. Deleuze und Guattari: Kafka. S. 38f. 109 Jelinek: Michael. S. 81. 110 Der Text ist nicht nur der meist zitierte, sondern diente, auf Grund seiner eher konventionelleren Erzählweise, in den meisten Ländern auch als der erstpublizierter Text. Vgl.: Bartens: Verschwinden des Textes. S. 44.
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such eine genuin weibliche Sexualität auf dem Feld des Masochismus zu etablieren. Zu einer Analyse eben jener waltenden Mechanismen der Sexualität in „Die Klavierspielerin“ ist zunächst ein genauere Betrachtung des Masochismusthemas für die Literatur und dessen genuiner Narrativik nötig.
Sacher Masoch I am tired, I am weary I could sleep for a thousand years A thousand dreams that would awake me Different colours made of tears Kiss the boot of shiny, shiny leather Shiny leather in the dark Tongue of thongs, the belt that does await you Strike, dear mistress, and cure his heart THE VELVET UNDERGROUND „VENUS IN FURS“
Erstmals 1886 von Krafft-Ebing in dessen „Psychopathia sexualis“ genannt, wurden die zunächst abgetrennten Bereiche des Sadismus und des Masochismus zunehmend als ergänzende, schon fast als sich gegenseitig bedingende Komplexe verstanden, was sich schließlich in dem kombinatorischen Gebrauch beider Begriffe widerspiegelt. Doch ist der Sadomasochismus eine – zumindest für die Literatur – unnatürliche Einheit, die nicht nur verkürzt, sondern sogar die Komplexitäten beider Spielarten negiert und ein verwässertes Drittes übrig lässt, das Deleuze als semiologisches Monstrum bezeichnet. Denn das im Kunstwerk evozierte Geflecht von Sexualität und Gewalt muss als Reflexion auf und nicht in Realität verstanden sein. Eine Abstraktion in der Kunst soll mittels der Zeichen einen Neuzugang zur Realität, zur Natur offerieren. Denn während sowohl Deleuze als auch Lacan111; die uns in der Folge noch
111 Lacan beschäftigt sich in seinen Analysen auch mit den Abhandlungen Freuds über den Masochismus, erweitert sie aber um eine linguistische Ebene. Siehe hierzu auch: Sigmund Freud: Ein Kind wird geschlagen. Ein Beitrag zur Kenntnis der Entstehung sexueller Perversion (1919), in: ders.: Studienausgabe. Zwang, Paranoia und Perver-
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beschäftigen werden, nach Systemen der Realität fragen und sich dafür explizit ebenso im Bereich der Linguistik wie auch der Kunst bewegen, stellen Autoren wie Krafft-Ebing oder der oft zitierte Laplanche allein einen medizinischen Katalog der pathologischen Befunde auf, die dementsprechend auch nur bedingt in der Interpretation auf ein Kunstwerk angewandt werden können. Innerhalb der Psychoanalyse gibt es natürlich den Begriff des Sadomasochistischen, er wird sogar als psychische Störung von der WHO gelistet. Im Bereich der Kunst jedoch sind beide Systeme kaum zu vermischen, da sowohl der sadistische, als auch masochistische Texte genuine Ansätze in Bezug auf Narrativik, Personenentwicklungen etc. beinhalten, die untereinander nicht vermischbar oder gar austauschbar sind. Werden beide Systeme in der Rezeption von Kunst durcheinander gebracht, entsteht aus dem legitimen klinischen Begriff eine illegitime Kreuzung für die Geisteswissenschaft. Gerade die Berufung auf klinisch konnotierte Texte führt zum oft geäußerten Vorwurf der Pathologisierung. Es gilt jedoch nicht Figuren zu pathologisieren, sondern vielmehr nach den Regeln eines masochistischen oder sadistischen Kunstwerks zu fragen. Es gilt, die Unterschiede beider Systeme zu erkennen und sie voneinander abzugrenzen. Geschieht dies nicht, entsteht eine unreine Trennschärfe, die im Begriff des unzulässigen Sadomasochismus gegeben ist und die bereits von Deleuze in seiner Abhandlung zu Sacher-Masoch und de Sade beklagt wird: „Klinisch gesehen gilt Masoch als Ergänzung zu Sade. […] Man meint zu schnell, man brauche nur die Zeichen zu vertauschen, nur die Triebe umzukehren und die größere Einheit des Gegensätzlichen zu denken, und schon sei einem von Sade aus Masoch gegeben. Das Thema einer sado-masochistischen Einheit hat sich für Masoch sehr zum Nachteil ausgewirkt. Er hat nicht nur unter einem ungerechten Vergessen gelitten, sondern unter 112
einer ungerechten Komplementarität, einer ungerechten dialektischen Einheit.“
Denn während der Machtposition des Sadisten unzählige Abhandlungen gewidmet sind113, wurde der Masochist zumeist nur als das traurige und passive Opfer
sion, Bd. VII, hrsg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey, Mitherausgeber des Ergänzungsbandes Ilse Grubrich-Simitis, Frankfurt a. M. 2000, S. 229-254. 112 Gilles Deleuze: Sacher-Masoch und der Masochismus, in: Leopold von SacherMasoch: Venus im Pelz. Mit einer Studie über den Masochismus von Gilles Deleuze, 4. Auflage, Frankfurt a. M. 1989, S. 163-281, hier: S. 168f. 113 Beispielsweise von Susan Sontag, Roland Barthes oder Klossowski.
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des Sadisten aufgeführt.114 Genauso entstand eben das falsche Verständnis, dass der Masochist allein nur ein komplementierender Teil eines größeren sadistisch motivierten Systems sein könne. Eine genuin masochistische Struktur erschien schon aufgrund des scheinbar devoten Verhaltens des Masochisten ausgeschlossen. Um diesem Missverhältnis entgegenzuwirken, beginnt Deleuze seine Überlegungen mit einer genauen Gegenüberstellung der Werke de Sades und SacherMasochs: „Da das klinische Urteil voller Vorurteile steckt, ist alles von einem Standpunkt außerhalb des klinischen Bereichs neu aufzunehmen, vom Literarischen her, von dem aus die Perversionen auch bezeichnet werden. Denn es ist ja kein Zufall, daß die Namen zweier 115
Schriftsteller hier zur Bezeichnung dienen.“
Eine Beobachtung, die nicht nur augenscheinlich ist, sondern bereits von KrafftEbing hervorgehoben wird: „Anlass und Berechtigung, diese sexuelle Anomalie ‚Masochismus‘ zu nennen, ergab sich mir daraus, dass der Schriftsteller Sacher-Masoch in seinen Romanen und Novellen diese wissenschaftlich damals noch gar nicht gekannte Perversion zum Gegenstand seiner Darstellungen überaus häufig gemacht hatte. Ich folge dabei der wissenschaftlichen Wortbil116
dung ‚Daltonismus‘ (nach Dalton, dem Entdecker der Farbenblindheit).“
In seiner Relektüre der klassischen Primärtexte, die sich so prominent in die verschiedenen Wissenschaften eingeschrieben haben, geht Deleuze zunächst der Frage nach, wie eine Sprache der Sexualität, die bei de Sade ebenso wie bei Sacher-Masoch auch noch an eine andere Größe, nämlich die der Gewalt gekoppelt ist, möglich sei. Dabei konstatiert er beiden Systemen ein schambelastetes, tabuisiertes Dasein innerhalb der Gesellschaft. Sowohl Gewalt als auch Sexualität sind schon gemeinhin die Bereiche, über die geschwiegen wird; umso mehr jedoch in einer sadistischen oder gar masochistischen Ausprägung. Wir können also in Deleuzes Reflektionen eine Verbindung zu Aussagen Susan Sontags zie-
114 Zu klinischen Untersuchungen des Masochismus sind nur vereinzelte und leider auch nur ältere Abhandlungen zu finden. Siehe hierzu: Alfred Spierek: Das Vermächtnis Kains von Leopold von Sacher-Masoch. Diss., Wien 1949, sowie: Eberhard Hasper: Leopold von Sacher-Masoch. Diss., Albert-Ludwigs-Universität 1932. 115 Deleuze: Masoch. S. 169. 116 Richard von Krafft-Ebing: Psychopathia sexualis. Eine klinisch-forensische Studie, 14. Aufl., München 1997, S. 105.
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hen, die gleichfalls eine unterdrückte und belastete Sprache der Sexualität identifiziert, welche ferner jedoch den Reiz des Verbotes und des Tabubruchs kennt. Deleuze sieht zunächst in der Scham der gesellschaftlichen Regeln ein doppeltes Verbot. Das seinen Trieben nachkommende Individuum ist sich der Verletzung des diskursbestimmenden Konsens bewusst und fürchtet zugleich die Demaskierung als Außenseiter, als Anormaler oder Perverser. Diese Angst vor einer Entdeckung gliedert sich wiederum in zwei Instanzen. Es ist die Angst vor dem Gesehenwerden durch die Anderen und dem Darüber reden der Anderen, wobei letzteres, das Sprechen über den Tabubruch, als noch weitaus unerträglicher gewertet wird als die reine Entdeckung. Der Sprache mit ihren zwei Tabuzonen des Sprechens wird somit ein doppeltes Bemühen seitens des Individuums entgegengesetzt, das darauf angelegt ist sowohl das Schweigen der Anderen über Gewalt und Sexualität als auch das Schweigen über die eigene Sexualität aufrecht zu erhalten: „Es ist wohl richtig, daß die Gewalttätigkeit das ist, was wenig oder gar nicht spricht, und die Sexualität das, worüber man nicht spricht. Die Scham hat mit biologischen Angstreaktionen nichts zu tun. Verhielte es sich so, würde sie sich nicht so ausdrücken, wie sie es tut: ich fürchte weniger, berührt als gesehen, und weniger gesehen zu werden, als in Gerede zu kommen. Was bedeutet dann diese Verbindung von Gewalttätigkeit und Sexualität in der so überreichen, provozierenden Sprache Sades und Masochs? Wie ist diese Gewalt117
tätigkeit zu verstehen, deren Sprache erotisch ist?“
Die Scham ist nicht als biologische, sondern vielmehr als gesellschaftliche Reaktion zu verstehen, die sich in Schweigen ausdrückt. Dieses Schweigen wird aber in den provokanten Werken Sades und Masochs gebrochen. Als tabubrechende Skandaltexte wurden denn auch ihre Werke begriffen und müssen sich mitunter noch heute der leidlichen Debatte stellen, ob sie denn nun ernstzunehmende Literatur oder doch nur pure Pornografie seien. Und wirklich lassen sich die Mechanismen einer an die pornografische Sprache angelehnte Rede bei beiden Schriftstellern mühelos nachweisen: „Man nennt pornographisch eine Literatur, die auf einige Befehlswörter (mach dies oder das …) reduziert ist, denen obszöne Beschreibungen folgen. Gewalttätigkeit und Erotik treffen hier also zusammen, wenngleich auf rudimentäre Weise. Bei Sade und bei Masoch
117 Deleuze: Masoch. S. 172.
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wimmelt es von Befehlswörtern, ausgesprochen von grausamen Libertins oder despotischen Frauen.“
118
Doch wäre es übereilt sofort ein moralisches Urteil zu fällen, eröffnet Deleuzes Entdeckung doch genauer zu betrachtende Mechanismen. Denn de Sade und Sacher-Masoch gehen noch weiter, als sich einfach nur einer vermeintlich pornografischen Sprache zu bedienen. Vielmehr eröffnen sich darüber hinaus neue Perspektiven, die sich jenseits der vordergründigen voyeuristischen Sexualität etablieren. Dem holzschnittartigen Gut versus Böse, beziehungsweise einem Dominant versus Devot setzten Masoch und Sade einen Weg der Freiwilligkeiten entgegen. Ihre Texte entfalten sich demnach nicht nur als Versuchsstätten einer neuen, der gesellschaftlichen Norm entgegengerichteten Sexualität, die den Bund mit Gewalt eingeht. Darüber hinaus wird ein Ideal ausgebildet – und dies ist gerade bei Masoch entscheidend –, das die scheinbar festen Ebenen der Dominanzen durcheinander bringt, indem es ein Spiel mit ihnen anstimmt. Dies geschieht also nicht allein im sadistischen System, an dem es jedoch klarer ersichtlich ist: „Auch bei Masoch gehen die Befehlswörter und die Beschreibungen in eine höhere Sprache ein. Doch hier nun ist alles Überredung und Erziehung. Da ist kein Henker mehr, der sich seines Opfers bemächtigt und an ihm um so mehr seine Lust hat, je weniger es einwilligt und überzeugt ist. Statt dessen ist da ein Opfer, das seinen Henker sucht, das ihn zu diesem Zweck erst bilden und überzeugen muß, um einen Bund für das allersonderbarste 119
Unterfangen mit ihm eingehen zu können.“
Dieser Bund des Allersonderbarsten ist die Suche nach phantasmatischen Räumen der Dominanz. Denn Dominanzen sind nicht allein an ein sadistisches Prinzip gekoppelt, sondern können auch auf der Seite des Gequälten bestehen, der die Qual sucht. Das aktive dominante Moment darf deshalb nicht als Synonym für Sadismus verstanden werden, sondern findet sich auch in einem aktiv geführten Masochismus wieder. Der neue Blick, der uns also durch die Lektüre Masochs eröffnet wird, ist der einer aktiven dominanten Opferperspektive. Diese sollte uns bereits im Werk Sades vorgeführt werden; scheiterte aber letztlich. Denn nicht anders ist sein Text „Histoire de Juliette, ou les Prospérités du Vice“ zu verstehen, der als Gegenkonzept zum ungleich stärkeren „Justine ou les Malheurs de la vertu“ zu lesen ist. Doch bleibt Sade im System des Sadismus starr
118 Deleuze: Masoch. S. 173. 119 Deleuze: Masoch. S. 176.
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verhaftet und weiß eine masochistische Spielart kaum glaubwürdig darzustellen. Sein reiner Perspektivenwechsel von der gequälten zur quälenden Seite verändert nichts. Noch immer gibt es das dominante Individuum, das die Strafen ausführt, personifiziert durch Figuren wie den Henker, der seine Rolle genießt. Auf der anderen Seite findet sich das Opfer, das seinem Peiniger und den Qualen entkommen will. So bleibt Sade immer auf der Seite eines dominanten Blicks und somit im System des Sadismus verhaftet. Erst Masoch setzt das scheinbare Paradoxon von Schmerzen, die aktiv gesucht werden in Szene. Das lusterfüllte Opfer und damit ein dominant masochistischer Blickwinkel sind Masochs Innovationen für die Literatur. Eine Systematik, die es genauer zu erörtern gilt.
Abbildung 1: Masochistisches versus Sadistisches System nach Deleuze
Quelle: A. Heimann
Die ellipsenförmig umrandeten Positionen des Schaubildes geben jeweils den aktiven Part der beiden Systeme wieder. Denn auch wenn der aktive Masochist derjenige ist, der Gewalt erlebt, unterscheidet ihn vom passiven Sadisten, dass er gleichzeitig der Vertragssteller ist, was ihm eine aktive Rolle zubilligt. Diese erlangt er dadurch, dass die gesellschaftlichen Parameter eine Umkehrung erfahren:
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„Gesetze beziehen ihre Wirkungsmacht vor allem aus der Androhung einer Strafe, die der Betroffene zu vermeiden sucht. Indem der Masochist seine Strafe provozierend als Recht einfordert, entzieht er der Macht, die das Gesetz ausführt, ihre Wirksamkeit, und lässt sie funktionslos zurück.“
120
Nicht das Erleben oder Erfahren von Gewalt sind also die bestimmenden Pole, an denen wir die Figuren einem masochistischen oder sadistischen System zuordnen können, sondern die Konstituierung des Vertrags offenbart uns den masochistischen Vor-Schreibenden. Der Sadist hingegen braucht keinen Suspensions-Vertrag. Im Masochisten, so die Lehre, begegnet uns also die zunächst als unmöglich erscheinende Figur einer aktiv devoten Person. Diese Aktion richtet sich nicht hin zu einer Person (der Domina/ dem Dominus), sondern gegen den Vertrag der Massen, in Lacans Terminologie den Namen des Vaters (nom du père).121 Um die konstituierende symbolische Ebene der vorherrschenden Gesetze außer Kraft zu setzen, ist es notwendig die Symbolebene zu verlassen, die das Individuum immer von der Ebene des Begehrens und Genießens trennt. Das Lustprinzip des Menschen ist nach Lacan darauf angelegt, seine Sexualität immer jenseits der vorherrschenden symbolischen Ebene auszuleben. Bedenkt man, dass das Gesetz des Vaters sowohl das Inzestverbot verhängt als auch Begründer der Kastrationsangst ist, gilt es jene Ebene zu suspendieren. Im Bereich der als neurotisch wahrgenommenen Sexualspielarten lassen sich an diesen allgemein vorherrschenden Mechanismen einer Flucht vor den Gesetzen des Vaters nur am deutlichsten aufzeigen.122 Auf der Erklärungssuche, wie sich das Individuum Befriedigung jenseits der reinen Vitalfunktionen sucht, ist Lacan bewusst „daß diese Ordnung imaginärer Befriedigung sich nur in den sexuellen Registern finden läßt“123. Das Individuum
120 Torben Lohmüller: Verschlagene Lust. Zur ästhetischen Subversion im Masochismus, Heidelberg 2006, S. 53. 121 Lacan spielt oft mit der Homophonie von „le nom du père“ und „le non du père“, um die Dualität der Vaterfigur zwischen Gesetzgeber und Urheber des Verbots zu unterstreichen. 122 Es sei an dieser Stelle jedoch noch einmal darauf hingewiesen, dass Lacans ganze Lehre nicht auf eine Heilung abzielt oder es gar einen erstrebenswerten Normtypen gäbe. Lacans Denken ist allein dem Erkennen des Subjekts und seiner Umwelt gewidmet. 123 Jacques Lacan: Namen des Vaters, übers. von Hans-Dieter Gondek, Wien 2006, S. 20.
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verlässt demnach den als Realität akzeptierten symbolischen Raum nur, wenn es die Überwindung des Lustprinzips erforderlich macht: „So gehen wir davon aus, daß ein Verhalten imaginär werden kann, wenn seine über Bilder erfolgende Weichenstellung und sein eigener Wert als Bild für ein anderes Subjekt es zu einer Verschiebung aus dem Zyklus heraus befähigen, der die Befriedigung eines natürlichen Bedürfnisses sichert. Von daher läßt sich für das neurotische Verhalten behaupten, 124
daß es über die Ebene der Instinktökonomie eine Erhellung erfahre.“
Denn nur die Suspendierung der Symbolebene, die geprägt ist von gesellschaftlichen Konventionen, macht eine wirkliche Lusterfahrung möglich. Nicht zufällig sieht Lacan den Masochismus dem Invokationtrieb anverwandt: Beide sind darauf angelegt, das Lustprinzip zu überwinden.125 Bemerkenswert ist auch, dass Lacan den Masochismus als primär ansieht und den Sadismus als sekundär. „Während also der Masochist den Schmerz der Existenz am eigenen Körper erdulden will, leitet der Sadist diesen Schmerz auf den Anderen ab.“126 Komplementiert wird die Figur des aktiven Masochisten ebenso wie die Figur des aktiven Sadisten durch die nun empfundene Lust, die somit deren Gemeinsamkeit bildet (auch wenn sie auf unterschiedlichen Wegen erreicht wird). Das interessante und moderne Moment der masochistischen Figur besteht also im Kippen der Dominanzen. Während der Masochist seine Dominanz ausspielt, indem er den (imaginären) Vertrag aufsetzt, der uns im Gewand des perversen Spiels begegnet, verneint er gleichzeitig die (symbolische) Macht: „Vielleicht muß die Verneinung als der Ausgangspunkt eines Vorgangs verstanden werden, der nicht darin besteht, zu negieren oder zu zerstören, sondern vielmehr den Rechtsgrund dessen, was ist, anzufechten und dieses gleichsam in einen Zustand der Schwebe oder der Neutralisierung zu versetzen, in dem jenseits des Gegebenen neue Horizonte des nicht Gegebenen aufscheinen.“
127
124 Lacan: Namen des Vaters. S. 23. 125 Vgl. hierzu: Jacques Lacan: Seminar, Buch XI. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, hrsg. und übers. von Norbert Haas, Berlin 1987, S.166. Sowie: Dylan Evans: Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse, übers. von Gabriella Burkhart, 1. Auflage, Wien 2002, S. 257. 126 Evans: Wörterbuch. S. 257. 127 Deleuze: Masoch. S. 176.
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Der zu negierende Rechtsgrund, das gesellschaftliche Gefüge, in dem der Masochist sich bewegt, wird durch (s)einen Vertrag, also durch einen neuen von ihm erwählten Rechtsgrund suspendiert. Weder Verdrängung noch Negation, sondern vielmehr die Verneinung, ist hierbei entscheidend. In dieser artifiziellen Unterdrückung wird keine Zerstörung angestrebt – was dem Ziel des Sadisten und somit der Negation entspräche – vielmehr soll ein Raum des nicht Gegebenen eröffnet werden: „Es geht also nicht darum, die Welt zu negieren oder zu zerstören, und ebenso wenig, sie zu idealisieren; es geht darum, sie zu verneinen, sie im Akt der Verneinung in einen Zustand des Schwebens zu versetzen und sich selbst einem Ideal zu öffnen, das seinerseits im 128
Schwebezustand des Phantasmas verharrt.“
Während also die Realität angezweifelt wird, kann zeitgleich ein neuer Raum der Ideale eröffnet werden. Der Sadist reagiert mit Zerstörung auf eine negierte Weltordnung, während der Masochist die Realität suspendiert und ihr eine mögliche Welt der Verneinung entgegensetzt, die gleichzeitig durch ein Moment des Juridischen getragen wird: „Anders als in der Konzeption Lacans oder Sartres will der Masochist bei Deleuze nicht Objekt für den Anderen werden, um sich so seiner selbst zu vergewissern. Er strebt vielmehr nach einer völligen Neugeburt, die er durch eine Restrukturierung und Subversion 129
des symbolischen Feldes der väterlichen Ordnung zu erreichen sucht.“
Die hier anklingende Kritik an dem Lacanschen Konzept der väterlichen Ordnung muss allerdings erläutert werden. Zwar sieht Lacan den Namen des Vaters bzw. den großen Anderen als machtvolle Instanz an, die in der Regel einen enormen Anteil der Subjektkonstituierung übernimmt, dieses von Lacan entworfene System findet jedoch mitnichten dessen positiven Zuspruch. In Hinblick auf die drei Konstitutiva des Ichs ist es geradezu sein Bestreben, der Konstante des Le Reel130 einen größeren Raum zuzugestehen.131 Dieser Raum des Realen entsteht aber gerade erst durch die Restrukturierung der symbolischen Felder und findet seinen Platz im Phantasma. Lohmüllers Kritik, die sich etwa auch bei Ju-
128 Deleuze: Masoch. S. 187. 129 Lohmüller: Verschlagene Lust. S. 60. 130 Im weiteren Verlauf wird die deutsche Übersetzung „Reales“ verwendet. 131 Imaginäre und symbolische Ebene nehmen in seinem Ermessen einen viel größeren Raum, als die Ebene des Realen ein.
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dith Butler wiederfindet, geht jedoch davon aus, dass sich alle immer schon im Einklang befinden würden. Analog zu der antiken Idee der Viersäftelehre sieht aber auch Lacan die drei Strukturbestimmungen des Ichs in permanentem Ungleichgewicht; eine Harmonie bleibt Utopie.132 Gerade Butlers Kritik, die in der Psychologie die Gefahr einer Gleichschaltung auf eine heteronormative Matrix versteht, geht aber von der Anstrebung eines Ist-Zustand aus, der synonym zum Idealzustand verstanden wird.133 Die Psychologie würde demnach allein dazu dienen, einen Ist-Zustand zu erhalten. Dies verfälscht jedoch den subversiven Charakter des Lacanschen Denkens. Sein Ansatz ist nicht dem Freuds entsprechend, die menschliche Psyche nach dem Vorbild eines anzustrebenden Ideals zu „heilen“, sondern vielmehr die eigenen Lüste, Fehler und Unzulänglichkeiten zu begreifen und diese als bewusste Parameter des eigenen Ichs anzuerkennen. Eben diesem idealisierten Individuum versucht sich der Masochist durch die Eröffnung einer phantasmatischen Ebene anzunähern. Dem Nietzscheanischen Diktum folgend, nach dem alle Lust Ewigkeit einfordert134, will auch der Masochist sein im Vertrag gewonnenes Ideal halten und zeitlich dehnen, womit sowohl der Vertrag als auch die darin befindliche subtextuelle Ebene der Verneinung zugleich eine Ebene der Zeitlichkeit inkludiert: „Die Verneinung im Sinne Freuds ermöglicht es dem Subjekt, die Vergangenheit – die Geschichte, d.h. das Notwendige, Vergangene – zu re-präsentieren, als ob es nicht (da) wäre. Zwar ist das Notwendige im Freud`schen Kontext die Vergangenheit des Subjekts – seine Geschichte. Nach Jean Hyppolite beschreibt aber Freud in seinem Aufsatz zur Ver-
132 Vgl.: Raymond Klibansky, Erwin Panofsky, Fritz Saxl: Die Lehre von den „Quattuor Humores“, in: dies.: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, übers. von Christa Buschendorf, 6. Auflage, Frankfurt a. M. 2006, S. 39-54. 133 Vgl.: Judith Butler: Lacan, Riviere und die Strategie der Maskerade, in: dies.: Das Unbehagen der Geschlechter. Gender Studies, übers. von Kathrina Menke, 13. Auflage, Frankfurt a. M. 2008, S.75-92. 134 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen, Kritische Studienausgabe, Bd. 4, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 2. durchgesehene Auflage, München 1999, S. 19.
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neinung dazu noch die Genese des Denkens. Die Genese sei ‚von der Ordnung der Ge135
schichte und des Mythos‘“.
Das Innehalten ist hier am Besten geeignet, das zu beschreibende Moment zu fassen. Denn nur vermeintlich ist das masochistische dem sadistischen Prinzip der Steigerung unterworfen. Der Masochismus ist gegenüber dem Sadismus nicht als absolutes, sondern als polares System zu fassen, das zwischen innerem Ideal und äußerer Schäbigkeit zu changieren droht. Dem Äußeren und dessen Einwirkungen fliehend, geht es allein darum, das gewonnene Idealmoment zu bannen bei gleichzeitiger Flucht einer voranschreitenden Zeitebene, die als repräsentierte Sanktion empfunden wird. Sprachlich gut zu erfassen, wählt der Masochist in seinen Briefen, die oft die Bedeutungsebene des Vertrags innehaben, statt des Präsens oder Perfekts das Futur Perfekt.136 Dabei ist dem masochistischen Weltentwurf ein starres Moment seiner Narrativik zu eigen, die sich auch klar an dem verwendeten Inventar erkennen lässt: „[…] (W)eil der weibliche Henker starre Posen annimmt, welche sie einer Statue, einem Porträt, einer Photographie gleichen lassen. Weil sie in der Geste der niederfallenden Peitsche, des sich öffnenden Pelzes in der Schwebe hält. Weil sie sich in einem Spiegel reflektiert, der ihre Pose fixiert. […] Sie bilden einen der schöpferischen Beiträge zur Romankunst, die Masoch geleistet hat. Ebenso werden bei Masoch in einer Art erstarrter Kaskade 137
die gleichen Szenen auf verschiedenen Ebenen immer wieder durchgespielt.“
Durch die Suspendierung der Zeit und der gesellschaftlichen Regeln erreicht die Ästhetik des Masochisten einen permanent wiederholten, verzögerten und dadurch unendlichen Ausnahmezustand. Denn während der Sadist die Steigerung sucht, die ihn hin zum Exzess führen muss, wird im Masochismus der Exzess, sprich der Ausnahmefall zum Regelhaften erhoben. In diesem kristallinen Moment gilt es, das erreichte Bild aus jedem Blickwinkel zu genießen. Der Ausnahmezustand und seine suspendierte Zeit bilden die Basis, auf deren Grund nun
135 John Noyes: Deleuze liest Sacher-Masoch. Zur Ambivalenz des literarischen Kanons, in Acta Germanica. Jahrbuch des Germanistenverbandes im Südlichen Afrika 1990, S. 69-80, hier: S. 73. 136 Der Beobachtung, dass masochistische Texte sehr oft im Futur Perfekt geschrieben sind, widmen sich mehrere Abhandlungen. Siehe hierzu: Noyes: Deleuze liest Sacher-Masoch. – Lynda Hart: Between the Body and the Flesh. Performing Sadomasochism. New York 1998. 137 Deleuze: Masoch. S. 188.
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der Exzess(ive Moment) in immer neuen Permutationen erlebt sein will. Mit einem Inventar, das sich aus Peitschen, Pelzen und in neueren Formen Materialien wie Stiefeln, Leder und Latex speist, ist natürlich ein artifizielles Moment, ein Spiel der sexuellen Zeichen zu erkennen: „In Sade und Masoch benennt die Literatur – zwar nicht die Welt, denn das ist schon geschehen, aber eine Art der Doppelgängerwelt, in der Gewalt und Exzess der Welt aufgefangen werden können. Es heißt, daß alle übermäßige Erregung irgendwie erotisiert ist. Daher wohl ist auch das Erotische geeignet, der Welt den Spiegel abzugeben, an dem sie ihr Übermaß bricht und ihre Gewalttaten abreagiert, womit ‚Vergeistigung‘ zu leisten das 138
Erotische um so mehr vorgibt, als es jene in den Dienst der Sinne stellt.“
Sowohl das masochistische als auch das sadistische System beruhen also auf Abstraktionen. Eine latent vorhandene Gewalt, wie sie in jeder Gesellschaft zu finden ist, muss durch die Gesellschaft in einen zeichenhaften Kosmos übertragen werden. Diese Vorgehensweise, wie sie beispielsweise von René Girard beschrieben wird, kann auch innerhalb der Sexualität geschehen. Dabei bilden im Dispositiv der Sexualität die beiden entgegen gesetzten Systeme Sadismus und Masochismus nur die offensichtlichsten Machtverhältnisse: „In einem gewissen Sinne gibt es nichts Banaleres als diese Vorherrschaft der Gewalt im Begehren. Wenn wir sie beobachten können, dann nennen wir sie Sadismus, Masochismus usw. Wir sehen darin ein pathologisches Phänomen, eine Abweichung von einer der Gewalt fremden Norm. Wir glauben, es gebe den normalen und natürlichen Wunsch, den 139
gewaltlosen Wunsch, von dem sich die meisten Menschen nie sehr weit entfernen.“
Da das Zusammenleben jedoch immer von Gewalt durchprägt ist, sieht man auch hier wieder analog zu Lacan im Sadismus und Masochismus nur Mechanismen deutlicher hervortreten, wie sie prinzipiell überall und in jeder Gesellschaft vorhanden sind. Die Doppelgängerwelten der beiden zu beschreibenden Systeme weisen aber auch Unterschiede auf, die in ihrer Gemachtheit zu suchen sind. Während der Sadist negiert und zerstört und in seinem Gegenüber die echte Qual als Lust sucht, benötigt der Masochist einen willigen Anderen für sein reglementiertes Spiel. Der Sadist macht den Anderen zum Opfer, wohingegen der Masochist den
138 Deleuze: Masoch. S. 190. 139 René Girard: Das Heilige und die Gewalt, übers. von Elisabeth Mainberger-Ruh, Düsseldorf 2006, S. 213.
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Verbündeten sucht, seinen Vertragspartner. Das Gleichgewicht der physischen und psychischen Ebene des Sadisten verschiebt sich im Masochismus hin zu einem stark psychischen Konstrukt und rückt den aktiven Masochisten in das Blickfeld der Überlegungen. Denn nur mit dem passenden Vertragspartner sind Suspension und Verneinung, die das masochistische Spiel eröffnet, zu erreichen. Ein selbst bestimmtes, aktives Spiel, das die Literatur aufnimmt und nicht vorschnell als „Krankengeschichte einer Masochistin“140 gelesen werden sollte.
140 Marlies Janz: Jelinek. S. 86.
Die Lust der Klavierspielerin oder Ein Brief ist ein Vertrag ist ein Pakt
Auch wenn Jelinek andere „Perversionen“ wie Pädophilie, sexuell motivierten Kannibalismus oder Inzest in ihren Texten vorkommen lässt, ist es doch vor allem ein selbstbestimmter – und nicht aufoktroyierter – Masochismus, der insbesondere in den frühen Werken der Autorin eine immense, jedoch bisher kaum beachtete Bedeutung einnimmt. Als mögliche Inspirationsquelle für eine Auseinandersetzung mit einem weiblichen Masochismus ist für Jelinek etwa die US-amerikanische Punkschriftstellerin Kathy Acker zu nennen. Neben einem Schreibverfahren, das den Autorinnen gemeinsam ist, – historische Personen kommen in ihren Fiktionen vor, sie bedienen sich an vorhandenen Texten und arbeiten sich an diesen ab141, ist darüber hinaus beider nachdrückliches Interesse an einer genuin weiblichen Sexualität zu nennen. Besonderes Interesse erzeugt ebenfalls Kathy Ackers unkonventioneller Umgang mit Perversionen. Beispielsweise wird in ihrer Adaption eines weiblichen Don Quijote gerade dem Masochismus die Macht eines Erfahrungsraums genuin weiblicher Freiheiten zugeschrieben142, womit sie an Ideen der frühen feministischen Bewegung anknüpft.143 141 Auch wenn Ackers Schreibverfahren eher als potenzierte Fortsetzung von Burroughs Cut-Up-Technik zu bewerten ist, Jelineks Schreibweise aber, auch wenn es Anteile dieser Techniken aufweist, doch eher dem Intertextualitätsverfahren entspricht. 142 Kathy Acker: Don Quixote, Which Was a Dream. 1986. 143 Einen guten Überblick über einen explizit weiblichen Masochismus bietet die Studie von Schricker, die zudem eine Analyse zu Jelineks „Die Klavierspielerin“ vorlegt. Siehe hierzu: Regine U. Schricker: Masochismus im feministischen Diskurs: der weibliche Masochismus – ein Mythos? in: dies.: Ohnmachtsrausch und Liebeswahn. Weiblicher Masochismus in Literatur und Film des 20. und 21. Jahrhunderts, Würzburg 2011, S. 55-77.
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Sind im Falle von Jelineks Texten auch Konstrukte der Dopplungen und Verschiebungen zu erkennen, die ihren sexualliterarischen Diskurs begleiten und somit auch uneindeutiger werden lassen, ist ihre Faszination für die Möglichkeiten eines weiblichen, gar eines feministischen Masochismus doch unübersehbar. Gemeinsam ist beiden Autorinnen darüber hinaus, dass sie die Ebene des Sexuellen immer auch als politisch wahrnehmen.144 Während die Ebenen der Macht und vor allem der Machtzentren bei Jelinek zwar schwer bestimmbar sind, so können doch gerade ihre bekanntesten Werke,145 „Die Klavierspielerin“ und „Lust“, eine interessante Verschiebung der Machtebenen des Sexuellen innerhalb ihres Werkes erklären und darüber hinaus Prinzipcharakter gewinnen. „Lust“, von Jelinek als „weiblicher Gegenentwurf zu Bataille und Sade“146 konzipiert, wirft ebenso wie „Die Klavierspielerin“ die Frage auf, wie sich ein solcher Gegenentwurf darstellen könnte. Sades Werk ist ein klar männlich dominiertes Werk, das die Frauen zumeist nur prominent in den Titeln seiner Texte trägt, den weiblichen Protagonistinnen ansonsten aber wenig Individualität und Chancen in der patriarchalen Welt der Libertins einräumt. Es ist eben jener Gesellschaftsentwurf, der sich vermeintlich auch der Frau in „Lust“ darbietet. Gekettet an einen Ehemann, der eigentlich nur deshalb die Sexualität wieder in seiner Ehe sucht, weil er die Infektion mit dem HI-Virus fürchtet, wenn er sich weiterhin außerehelich engagiert. Dabei sind die Beweggründe, aufgrund derer sich die Frau in „Lust“ nicht zu befreien weiß, keineswegs allein in der finanziellen Abhängigkeit vom Ehemann zu suchen. Fehlende Bildung und Naivität tragen ebenfalls zu dem Gefühl der Verzweiflung bei. Und auch Erika Kohut, jene Klavierspielerin, die eine Anspielung auf den Hysterieforscher Heinz Kohut schon im Namen trägt, scheint zunächst in einen verzweifelten Lebenskampf verstrickt, der in seiner Konstellation einem Gefängnis gleicht. Jelineks 1983 erschienener sechster Roman „Die Klavierspielerin“ wurde in mehrerer Hinsicht einer ihrer bis dato erfolgreichsten Texte. Seine Popularität bei einer breiten Leserschaft erlangte er zum einen durch seine fast schon – für Jelinektexte allemal – konventionelle Schreibweise: zum anderen trug Michael
144 Vgl. hierzu: Elfriede Jelinek: Der Sinn des Obszönen, in: Claudia Gehrke (Hrsg.): Konkursbuch extra Frauen und Pornographie, Tübingen 1988, S. 102f. 145 Der Bekanntheitsgrad beider Werke ist an gleich mehreren Faktoren ablesbar. Es handelt sich um die meistverkauften, meistübersetzten und in der Forschungsliteratur meist rezipierten Werke Jelineks. 146 Jelinek im Gespräch mit Roland Gross, zwei Jahre vor Erscheinen von Lust, in: „Nichts ist möglich zwischen den Geschlechtern“, Süddeutsche Zeitung, 20.1.1987.
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Hanekes erfolgreiche und in Cannes mehrfach ausgezeichnete Verfilmung aus dem Jahre 2001 mit Isabelle Huppert in der Hauptrolle hierzu bei.147 Ausgestattet mit viel Talent fehlt Erika Kohut allein der Genius für eine große Karriere. Sie bleibt einfache Klavierspielerin und muss sich sowohl einem Konservatorium als auch einem (nur scheinbar gebildeten) Bildungsbürgertum anbiedern, welches Jelinek in ätzender Häme zur Schau stellt. Neben der Verpflichtung der unliebsamen Arbeit und den damit verbundenen Unwegsamkeiten und Vorschriften ist es aber besonders die fast inzestuöse Bindung Erikas an ihre Mutter, die der Text immer wieder prominent ausstellt und der auch den Anfang der Romanhandlung maßgeblich bestimmt. Gebunden an die dominante Mutter und eine Welt, die ihr den scheinbar verdienten Erfolg versagt hat und deren Regeln dennoch befolgt werden müssen, führt der Text den Leser somit zunächst in das triste Leben Erikas ein. Die gerade beschriebene Grundkonstellation veranlasste indes auch mehrere Forscher allein an dieser Ausgangssituation anzusetzen.148 Doch das sexuelle
147 Besonders in Frankreich löste die Verfilmung auch ein vermehrtes Interesse an der Autorin Jelinek aus. In Frankreich erschienen bisher die meisten Übersetzungen von Jelineks Texten. Doch vor allem die Übersetzung von „Die Kinder der Toten“ wurde als Ereignis gefeiert. Siehe hierzu: Anna Häusler: Wer hat Angst vor Elfriede Jelinek? Frankreich entdeckt einen modernen Klassiker, in: Text + Kritik. Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Elfriede Jelinek. 3. Auflage, Neufassung, München, S. 99-105. 148 Eine rein auf die Mutter-Tochter-Konstellation ausgerichtete Lesart findet sich etwa bei Schmidt. Ihre Überlegungen unterscheiden zudem nicht zwischen einem masochistischen und einem genuin sadistischen Konzept in der Literatur. Vgl. hierzu: Ricarda Schmidt: Die böse Mutter. Zur Ästhetik sadomasochistischer Mutter-TochterBeziehungen in literarischen Texten aus dem Kontext der Frauenbewegung, in: Irmgard Roebling und Wolfram Mauser (Hrsg.): Mutter und Mütterlichkeit, Wandel und Wirksamkeit einer Phantasie in der deutschen Literatur. Festschrift für Verena Ehrich-Haefeli, Würzburg 1996, S. 347-358. Für weitere Analysen zu der verhandelten Mutter-Tochter Beziehung siehe in Auswahl: Katharina Aulls: Im Land der grauen, grausamen Mutterliebe. Die Klavierspielerin von Elfriede Jelinek, in: dies.: Verbunden und gebunden. Mutter-Tochter-Beziehungen in sechs Romanen der siebziger und achtziger Jahre. Frankfurt a. M. 1993, S. 209-229. – Susanne Lackner: Zwischen Muttermord und Muttersehnsucht. Die literarische Präsentation der MutterTochter-Problematik im Lichte der écriture féminine. Würzburg 2003, insbesondere: S. 128-142. – Yoriko Nishitani: Literarische Auseinandersetzung mit der zerstörten Mutter/Tochter-Beziehung in autobiographischen Prosawerken deutschsprachiger
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Gegenkonzept, das Erika Kohut nach und nach entwickelt, und das auch als gesellschaftliches Gegenkonzept verstanden werden kann, vermag sich erst mit dem Auftreten Klemmers, des jungen, attraktiven Schülers voll zu entfalten. Viele der anfänglichen sexuellen Begebenheiten entwickeln erst in der Rückschau ihr ganzes Ausmaß.149 Neben den redundanten Ansätzen, die den Roman verkürzt als (semi-)inzestuöse Mutter- Tochter Beziehung erklären wollen, findet sich auch oft eine fast schon panische Abwehr gegen eine psychologische Lesart wieder. Dabei ist eine „psychoanalytische Dechiffrierung“150, die auch von mehreren Forschern im Text selber wahrgenommen wurde, tatsächlich unübersehbar. Die Schlussfolgerung aber, jedwede psychoanalytische Lesart aufgrund dieser offensiven Zurschaustellung des Psychologischen zu unterlassen, erscheint wenig nachvollziehbar und wird von den Befürwortern jener Kritik zumeist selbst nicht stringent durchgehalten.151 Obwohl Jelinek selbst darauf hingewiesen hat, wurde der Roman bisher kaum auf sein Kernthema – also auf den Masochismus – hin untersucht: „Sadomasochismus ist mein Thema Nummer eins. Das geht durch alle meine Texte. Das ist mein bisher ungelöstes Problem. Wenn ich die Kunst nicht hätte, als Ventil, würde ich mich wahrscheinlich in Dinge verstricken, die sehr zerstörerisch wären. Unlängst habe ich in einer Kritik meines Theaterstücks Clara S gelesen: ‚Sie könnte um so vieles besser sein, wenn sie nicht diese sexuellen Obsessionen hätte.‘ Das stimmt nicht. Gerade daß ich diese
und japanischer Autorinnen. Europäische Hochschulschriften: Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 1663, Frankfurt am Main 1998, insbesondere: S. 75-101. 149 Appelt sieht dennoch in ihrer auch auf die Thesen Lacans und Deleuzes begründeten Analyse in der Abwendung von der Mutter und der Hinwendung zu Klemmer allein eine Übertragung eines dyadischen Systems in Erika walten. Siehe hierzu: Hedwig Appelt: Folie à deux, Mädchenrätsel – Der masochistische Vertrag – Gebranntes Kind, in: dies.: Die leibhaftige Literatur. Das Phantasma und die Präsenz der Frau in der Schrift, Weinheim und Berlin 1989, S. 111-135. 150 Michael Gratzke: Liebesschmerz und Textlust: Figuren der Liebe und des Masochismus in der Literatur. Würzburg 2000, S. 236. 151 Marlies Janz kehrt so beispielsweise nach ihrer Kritik einer psychoanalytischen Lesart nach Umwegen zu eben einer solchen zurück und weiß deshalb wenig zu überzeugen. Vgl. hierzu: Marlies Janz: Die Klavierspielerin. S. 71-86, insbesondere S. 73ff., in: dies.: Elfriede Jelinek. Stuttgart, Weinheim 1995.
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Obsessionen literarisch aufarbeiten kann, hält mich überhaupt noch halbwegs in einer normalen Existenz.“
152
Die nachfolgenden Überlegungen sollen sich allein auf „Die Klavierspielerin“ beziehen. Und dies nicht etwa, weil Jelinek „Lust“ als gescheitert betrachtet (was wohl eher als Kokettieren mit der Presse verstanden werden darf, denn als wirkliches Scheitern ihres Projekts), sondern, weil es so erscheint, als sei ihre (Kampf-)Ansage einen weiblichen Gegenentwurf zu Sade liefern zu wollen, bereits in dem sechs Jahre zuvor erschienenen Roman „Die Klavierspielerin“ erfüllt worden. Das Gegenstück zu Sade und seinem sadistischen patriarchalen Roman, so die These, ist bei Jelinek im weiblichen Masochismus von „Die Klavierspielerin“ zu suchen. Denn wurde „Lust“ auch zu einem (medialen) Skandal, entwickelt Jelinek doch eine nicht weniger kontroverse Figur in der Masochistin Erika Kohut, zumal zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung des Romans: „Insbesondere aus dem Umfeld der PorNO-Bewegung wurden Anfang der 1980er-Jahre gegen S/M-praktizierende Frauen der Vorwurf erhoben, mit Vergewaltigern und Unterdrückern zu kollaborieren.“
153
Und so mag es nur wenig verwundern, dass besonders feministische Lesarten immer wieder versuchten und versuchen, in Erika Kohut ein Opfer zu sehen und dies unbeachtet der Tatsache, dass sie damit eine nicht zulässige Stilisierung vornehmen. Vielmehr muss Jelineks Klavierspielerin im Deleuzeschen Sinne als aktive Masochistin verstanden werden.154 Heselhaus’ richtigen Anmerkungen, dass es in Jelineks Roman nicht um die Psychologisierung oder eine dingliche,
152 Georg Biron: Wahrscheinlich wäre ich ein Lustmörder. Ein Gespräch mit der Schriftstellerin Elfriede Jelinek, in: Die Zeit. Nr. 40, 28.9.1984, S. 47. 153 Lohmüller: Verschlagene Lust. S. 21. An der PorNO-Bewegung beteiligte sich auch Elfriede Jelinek aktiv. 154 Das aktive Moment, die immer neuen Versuche, sich von einer knechtenden Mutterinstanz zu lösen müssen als aktive Handlung gewertet werden. Der Masochismus der Erika Kohut kann somit nicht, wie in Kostas These, als Reaktion auf erfahrenes Leid gewertet werden. Vgl. hierzu: Barbara Kosta: Muttertrauma: Anerzogener Masochismus. Waltraud Anna Mitgutsch, „Die Züchtigung“; Elfriede Jelinek, „Die Klavierspielerin“, in: Helga Kraft, Helga und Elke Liebs (Hrsg.): Mütter – Töchter – Frauen. Weiblichkeitsbilder in der Literatur. Stuttgart/Weimar 1993, S. 243-265.
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körperliche Welt ginge, sondern um die „textuellen Vorgaben“155 und deren mal gelungener, mal scheiternder Umgang mit ihnen mittels der Protagonisten, mag zwar überzeugen; doch muss seinem Rückschluss, dass eine psychoanalytische Lesart somit obsolet sei, mit einer entschiedenen Absage begegnet werden. Zu klar erscheinen die Anspielungen, als dass sie vereinfacht als mythologisches Inventar im Sinne Barthescher Thesen zu subsumieren sind. Vielmehr eröffnet sich mittels der Sprache die Möglichkeit, eine Subjektwerdung der weiblichen Protagonistin zu erreichen, die sie über das Spiel des Masochismus zu konstituieren versucht. Um dies aufzeigen, werden sich die folgenden Überlegungen auf die entscheidende Wende des Textes – und die textuelle Vorgabe von „Die Klavierspielerin“ überhaupt – konzentrieren: Erikas Brief. Es ist die wohl monströseste Szene des Romans, in der Erika in einem Brief ihrem Geliebten mitteilt, wie sie sich eine Beziehung vorstellen könnte. Das unbetitelte Kapitel, das sich in der Mitte des Romans über die Seiten 213 bis 233 erstreckt und in dem das Lesen des Briefes mit (Unter-)Brechungen die Seiten 216 bis 229 einnimmt und somit entscheidendes Moment nicht nur dieses Kapitels ist, wird zum bekennenden Augenblick und gleichzeitigen Wendepunkt des Textes. Der Brief zeigt in voller Tragweite, wie weit die beiden Figuren Klemmer und Erika wirklich voneinander entfernt sind. Klemmer, der sich lange weigert den Brief zu lesen, „schildert Erika eine utopische Partnerschaftlichkeit, durch liebende Gefühle gut gewürzt“.156 Dieser Utopie der Gesellschaft setzt Erika ihren Brief entgegen, versteht nicht einmal, warum Klemmer den Brief nicht lesen will: „Hier hat er ja den Brief, warum öffnet er ihn nicht? Erika zerrt verlegen an ihrer Freiheit und ihrem Willen, die endlich ihren Rücktritt einreichen können; der Mann versteht dieses Opfer gar nicht.“
157
In dem Brief an Klemmer offenbart sich Erika und legt eine Art der sexuellen Beichte ab. Typisch für das masochistische System geschieht dies nicht durch ein mögliches Gespräch, wie es Klemmer zunächst einfordert, sondern auf einer brieflichen, einer textuellen Ebene, in der Erika einen Pakt anbietet. Der Pakt des
155 Herrad Heselhaus: „Textile Schichten“. Elfriede Jelinek Bekenntnisse einer Klavierspielerin, in: Im Bann der Zeichen. Die Angst vor der Verantwortung in Literatur und Literaturwissenschaft, hrsg. von Markus Heilmann, Thomas Wägenbaur. Würzburg 1998, S. 89-101, hier: S. 98. 156 Elfriede Jelinek: Die Klavierspielerin. Hamburg 1995, S. 213. 157 Jelinek: Klavierspielerin. S. 215.
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Masochisten steht hier traditionell diametral zum gewalttätigen Sich-Nehmen des Sadisten: „Mit tiefer Einsicht unterschied das Mittelalter zwei Arten von Diabolik oder Grundperversionen: die eine durch Besessenheit, die andere durch den Pakt. Der Sadist den in Begriffen der systematisierten Besessenheit, der Masochist in solchen vertraglicher Bindung. […] Der Masochist muß sich seine Despotin heranbilden, er muß sie überreden, sie muß ‚unterzeichnen‘.“
158
Und auch wenn Deleuze in seinen Überlegungen an einen männlichen Masochisten denkt, so sucht Erika doch nach nichts anderem als nach einem Despoten, der den Pakt mit ihr eingeht. Severin und Wanda können analog zu Erika und Klemmer verstanden werden. Wie schon in den Briefen Sacher-Masochs – sowohl den literarischen innerhalb seiner Prosa als auch den Privatkorrespondenzen mit seiner Ehefrau und seinen Geliebten –, so ist auch der masochistische Brief Erikas nichts anderes als ein Vertragstext, der einen Pakt besiegeln soll. Analog zu Masochs Idee sich seinen Geliebten und seiner Frau nur noch schriftlich angemeldet zu nähern, verfährt auch sie: „Sie gibt brieflich an, daß sie sich immer schriftlich oder fernmündlich, nie persönlich an 159
ihn wenden wird. Sie wagt es ja nicht einmal laut auszusprechen!“
Und wie um diese Aussage und Vorgehensweise noch zu unterstreichen, heißt es kurz darauf: „Erika spricht nicht, sie schreibt […].“160 Doch wie bei Masoch, so ist es auch bei Jelinek der aktive Masochist, der im masochistischen Spiel die Normen (schriftlich) aufsetzt bzw. Erika, die die Regeln vorgibt: „Er soll frei sein, sie aber durchaus in Fesseln. Doch ihre Fesseln bestimmt Erika selbst. Sie entscheidet sich, zum Gegenstand, zu einem Werkzeug zu machen; Klemmer wird sich zur Benutzung dieses Gegenstands entschließen müssen.“
161
Jelineks Anspielungen an die Dingwerdung der Masochistin, eine Objektwerdung wie sie etwa in den Abhandlungen Sartres zu finden ist, erfährt eine ironi-
158 Deleuze: Masoch. S. 176f. 159 Jelinek: Klavierspielerin. S. 218. 160 Ebd. 161 Jelinek: Klavierspielerin. S. 214.
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sche Brechung. Erika bleibt, als folge sie den Thesen Deleuzes, der dominante Part, der sich wohl wissend und freiwillig unterwerfen möchte, wodurch ein Spiel der doppelten Brechung eröffnet wird. Ein Umstand, den auch Jelinek, referierend auf die Arbeiten Ackers, selbst unterstreicht: „Wenn man diese Aufsätze zum Masochismus hernimmt, dann ist der Masochist der, der den Sadisten dadurch trägt, dass er spricht und damit formelle Akte setzt, wie Verträge abschließt. Er bestimmt, wann es genug ist mit irgendwelchen Gesten; während der Sadist in dieser Trockenheit, Direktheit und Verbissenheit seiner Begierde – wie Sartre in Das Sein und das Nichts über den Sadismus, den ich zum Teil auch zitiert habe, schreibt – eigent162
lich unkreativ ist.“
Nicht Erika soll zu einer dominierten Person degradiert werden, es ist vielmehr Klemmer, der zum Objekt degradiert wird. Denn Erika „möchte von äußerlich anzuwendenden Hilfsmitteln Verantwortlichkeiten abgenommen kriegen. Sie will sich jemand anvertrauen, doch zu ihren Bedingungen. Sie fordert ihn heraus!“
163
Erika offenbart Klemmer nicht ihre Liebe, sondern nur ihre Sexualität. Als Erfüllungsgehilfe ihrer Obsessionen wird er Hilfsmittel. Denn auch wenn Erika diejenige ist, die den Schmerz und die Erniedrigungen sucht, so dominiert sie dennoch Klemmer. Kaum kann davon die Rede sein, dass Erika durch patriarchale Mächte (symbolisiert durch Klemmer) hierzu gezwungen wird. Der schon zitierte und von Jelinek zum Teil auch referierte Sartre findet eine Ausdifferenzierung: „In dem vertraglich geregelten Bündnis mit seiner Domina sucht der Masochist nicht, wie Sartre vermutete, Objekt für ein anderes Subjekt zu werden, es geht im Gegenteil viel mehr um eine in Teilen narzisstische Befreiung aus der autoritären Umklammerung des väterlichen Gesetzes.“
164
162 Elfriede Jelinek im Interview mit Rudolf Maresch am 22.02.1992: Nichts ist verwirklicht. Alles muss jetzt neu definiert werden, Über: http://www.rudolf_maresch.de/interview/23.pdf 163 Jelinek: Klavierspielerin. S. 216. 164 Lohmüller: Verschlagene Lust. S. 52.
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Die Macht des masochistischen Spiels besteht gerade darin, zwar vordergründig freiwillig einen Objektstatus einzunehmen, diesen sogar einzufordern, der dominante Masochist will sich gegenüber dem passiven Masochisten (oft fälschlich Sadist genannt) aber auch durch das juridische Moment seines Vertrags, das die Suspension reglementieren soll, zum Subjekt erheben. Diese narzisstische Befreiung in der Suspension inkludiert das Aussetzen der symbolischen Ordnungen. Der symbolischen Ordnung bzw. dem Gesetz des Vaters, dem eine bedeutende Position im Denken Lacans zukommt, kann Jelinek eine neue Wendung abgewinnen. Das väterliche Gesetz ist in Jelineks Prosa schon längst ein mütterliches Gesetz geworden, das in seiner oft asexuellen Strenge oder zum Teil sogar inzestuösen Nähe überwunden werden muss. Jelineks „Die Klavierspielerin“ zeigt einen abwesenden Vater, schon lange geistig verwirrt wurde er in ein Sanatorium abgeschoben. Er hinterlässt ein Machtvakuum, das mühelos von Erikas dominanter Mutter eingenommen wurde. Schon auf der ersten Seite wird klar, dass Erikas Mutter „Inquisitor und Erschießungskommando in einer Person, in Staat und Familie einstimmig als Mutter anerkannt“165 ist. Und auch diese schon früh als „übergeordnete Instanz“166 erkannte Mutter, die das Gesetz des Patriarchats durch das maternale Gesetz ersetzt, vergisst Erika in ihren brieflichen Ausführungen nicht. Fast schon in periodisch zu nennenden Abständen weißt sie darauf hin, dass Klemmer sich nicht um die Mutter sorgen solle und dass diese ihr Problem sei. Wie sich Erika indes um ihre Mutter kümmern will, verraten ihre Briefe nicht. Doch darf vermutet werden, dass die spätere Handlung des Romans von Erika so antizipiert wurde. Denn Klemmer, der schließlich den Wünschen Erikas nachgibt, muss sich sehr wohl auch um Erikas Mutter kümmern und zwar indem er sie wegsperrt. Doch bei aller Brutalität, welche die Frauen im Verlauf des Textes erleiden müssen, die wahrhaften Opfer sind in „Die Klavierspielerin“ sicher nicht auf der weiblichen Seite zu suchen. In Klemmer begegnet dem Leser kein männliches Ungeheuer, auch wenn sie in anderen Texten Jelineks nicht eben selten auftreten. Weder bringt Klemmer Erika dazu, wider ihren Willen irgendetwas mit sich geschehen zu lassen, dass sie ablehnt, noch geht der Impuls von ihm aus. „Sie verrät dem Mann, daß sie diese Sehnsucht nach Schlägen schon seit vielen Jahren gehabt habe.“167 Doch es sind nicht nur Zweifel, die Klemmer gegenüber der von Erika offenbarten Sexualität hegt, sondern Ekel und Abscheu. Dabei offenbart
165 Jelinek: Klavierspielerin. S. 5. 166 Jelinek: Klavierspielerin. S. 9. 167 Jelinek: Klavierspielerin. S. 231.
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sich ihm die ganze Bandbreite des masochistischen Plans erst nach und nach. Auf die ersten Absätze des Briefes reagiert er noch mit irritierter Ironie: „Und wo bleibt dabei meine Belohnung, scherzt Klemmer daraufhin. Er fragt es, weil ihm die Qualen von anderen keinen Spaß machen. Eine Sportqual, die er freiwillig auf sich 168
nimmt, ist etwas anderes; nur er selbst leidet dann.“
An den Leiden anderer kann er sich jedoch nicht erfreuen, geschweige denn sexuelle Lust darüber empfinden. Und: „Klemmer fragt erneut, was habe ich denn davon.“169 Seine anfängliche Ironie geht über in harsche Ablehnung, die schließlich in Ekel und rasender Enttäuschung mündet und das Ende des Kapitels bildet: „Der Leim der Gier verklebt seine diversen Denkarten, und die bürokratischen Lösungen, die Erika ihm vorschreibt, geben ihm die Richtlinien für ein Handeln im Sinne seiner Lust. […] Noch liest er die Wünsche als Außenstehender vom Papier ab. Doch bald wird er vom Genuß verändert werden!“
170
Ein Genuss stellt sich zunächst jedoch nicht ein. Die Motivation Klemmers, sich Erikas Plänen doch noch zu beugen, ist allein darin zu suchen, dass er sich innerhalb des starren juridischen Masochismussystems Erikas eine Hoffnung auf die Erfüllung seiner eigenen Wünsche macht. Es ist seine körperliche Lust, die schließlich den Ausschlag gibt. „Klemmer findet in seinem Körper, der unwillentlich reagiert, einen willkommenen Mitschuldigen.“171 Auf der Gefühlsebene ahnt er bereits beim ersten Lesen des Briefes, dass die vermeintliche Macht, die Erika ihm über ihren Körper anbietet, alleinig ein narzisstisches Dopplungsspiel Erikas bedeutet, in dem er Erfüllungsgehilfe bleiben wird: „Was will diese Frau von mir, befürchtet er. Hat er recht verstanden, daß er dadurch, daß er ihr Herr wird, ihrer niemals Herr werden kann? Indem sie bestimmt, was er mit ihr tut, 172
bleibt immer ein letzter Rest von ihr unergründlich.“
168 Jelinek: Klavierspielerin. S. 219f. 169 Jelinek: Klavierspielerin. S. 225. 170 Jelinek: Klavierspielerin. S. 227. 171 Jelinek: Klavierspielerin. S. 229. 172 Jelinek: Klavierspielerin. S. 217.
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Wahre Liebe ist von Erika nicht zu erwarten, die ihrerseits aber Klemmers Begehren schamlos missbrauchen will. Sie weiß, dass nur die Liebe diesen Mann motivieren kann, auf ihr Spiel einzugehen und den Pakt zu besiegeln. „Er soll Erika bis zur Selbstaufgabe lieben, dann wird wiederum sie ihn bis zur Selbstverleugnung lieben.“173 Erikas Liebe kann nur eine Selbstverleugnung sein. Der letzte unergründliche Rest Erika spiegelt sich allein in den Regeln ihres Briefes wieder. Denn in letzter Konsequenz bleibt auch Erikas Masochismus ein psychologisches Spiel. Die Suspension der äußeren Welt, symbolisiert durch Erikas dominante Mutter, soll ihr die Freiheit in einem phantasmatischen Raum bringen. Dass dieser nicht der Norm entspricht und vollkommen konträr zu ihrer gesellschaftlichen Rolle steht, ist Erika dabei durchaus bewusst. Denn neben der immer wieder erwähnten Mutter und deren „Ausschaltung“ ist es ein Außerhalb der Gesellschaft und die Angst vor Entdeckung, das von ihr beschworen wird: „Der Brief schlägt Heimlichkeiten zwischen ihnen vor, die von der Öffentlichkeit unbemerkt vor sich gehen. Unterricht bietet idealen Nährboden für die Hefe des Heimlichen 174
und Verstohlenen, aber auch für öffentliches Brillieren.“
Und: „Erika hofft, daß ihr Retter schon da ist, und hofft ferner auf Diskretion und Verschwiegenheit.“175 Neben der Suspension des väterlichen Gesetzes, vertreten durch die Mutter und die Öffentlichkeit, ist es die Zeit, die von Erikas Vertrag außer Kraft gesetzt werden soll. Denn auch sie will den Exzess des masochistischen Spiels möglichst endlos erweitern und nicht enden lassen: „Sie drängt Klemmer daher den Brief auf, in dem sie schreibt, wie man den Saum des Verhältnisses unter Umständen verlängern kann.“
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Doch innerhalb der Suspension ist es wieder vielmehr das Wort als die Tat, das regiert und das in der Wiederholung von beschworenen, kristallinen Bildern auch die Zeit außer Kraft setzen soll. Der phantasmatische Raum des Masochismus ist auch bei Erika ein Raum der Worte und der Sprache. „Alles muß in Einzelheiten ausgemalt werden. Auch Steigerungsstufen sollen breitgefächert ge-
173 Jelinek: Klavierspielerin. S. 214. 174 Jelinek: Klavierspielerin. S. 220. 175 Jelinek: Klavierspielerin. S. 230. 176 Jelinek: Klavierspielerin. S. 215.
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schildert werden.“177 Wie von Deleuze richtig erkannt, ist es also vielmehr das Theater der Sexualität als eine wirklich ausgelebte Körperlichkeit, die der Masochist sucht. Es ist dies eine Sexualität des Als ob:178 „Masochistische Veranstaltungen sind nur Ausführungen vorangegangener Phantasien. […] Im Anfang war im Masochismus nicht die Tat, sondern die Phantasie. Die aktuellen Szenen des Perversen entsprechen so Inszenierungen eines Dramas und verhalten sich zu den Phantasien wie die Aufführung zur dichterischen Konzeption. […] Die Anweisungen an die Partnerin in einer solchen Szene lassen sich wirklich mit Regieanweisungen vergleichen. Es entspricht dem Spielerischen im Masochismus, daß in ihnen viel seltener 179
„blutiger Ernst“ gemacht wird als in der sadistischen Perversion.“
Diese Konzeption des scheinbar artifiziellen Moments innerhalb des Masochismus mag zunächst befremdlich anmuten, aber bereits: „die Idee der Aristotelischen Katharsis als auch Schillers ‚moralisches Anstaltstheater‘ beruhen auf der Fähigkeit, in einem gegebenen Kontext Fiktion als Realität zu akzeptieren.“
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Und auch Erika zeigt immer wieder das spielerische Moment ihrer Sexualität. Zwar ist sie in der Drastik ihrer Ausführungen kaum zu überbieten – obwohl sie wiederholt darauf hinweist, dass spätere Briefe sicher besser geschrieben sein würden – so soll diese Drastik kaum jemals physisch erlebt werden: „Beschreibe bitte immer lauthals, was du gerade unternimmst, und beschreibe Steigerungsmöglichkeiten, ohne dich jedoch in deiner Grausamkeit tatsächlich zu steigern. 181
Sprich darüber, doch deute Handlung nur an. Drohe mir, aber ufere nicht aus.“
177 Jelinek: Klavierspielerin. S. 218. 178 Hans Vaihinger: Die Philosophie des als ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus. Mit einem Anhang über Kant und Nietzsche, Leipzig 1918. 179 Theodor Reik: Aus Leiden Freuden. Masochismus und Gesellschaft, Hamburg 1977, S. 68f. 180 Lohmüller: Verschlagene Lust: S. 170. 181 Jelinek: Klavierspielerin. S. 220.
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Den ausufernden Worten wird also eine reduktive Handlungsebene entgegengestellt, die dadurch geprägt ist, dass sie immer noch einmal aufs Neue wiederholt wird: „Jetzt erbittet sie sich Vergewaltigung, welche sie sich mehr als eine stetige Ankündigung von Vergewaltigung vorstellt. […] Doch sprich bitte stets mehr, als du tatsächlich unternimmst!“
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Die fortgesetzte Ankündigung, der Primat der Sprache über die Handlung, wie auch die Suspension eines Außen bilden die Grundlage für das masochistische Spiel. Um dieses endlich in Gang zu setzen, scheut Erika vor kaum etwas zurück. Sie betont: „aufgeschrieben ist aber nicht vorgeschrieben! Und aufgeschoben ist nicht aufgehoben.“183 Doch durch das nachgeschobene Sprichwort wird Erikas Lüge offenbar. Natürlich soll Klemmer sich ganz genau so verhalten, wie sie es in ihrem Brief an ihn beschreibt. Ihre Ausführungen der einzelnen Foltern und quälenden Szenarien sind keine deutbaren Phantasien, sondern vertragliche Bestimmungen. Wie in einem Gesetzestext erklärt Erika akribisch, was sie erwartet. Letzte Hoffnungen Klemmers auf eine Liebesbeziehung schließt Erika zum Ende des Kapitels bereits kategorisch für sich aus: „Wenn er sich leidenschaftsmäßig an ihr ausließe, stieße sie ihn mit den Worten; zu meinen Bedingungen oder gar nicht zurück.“184Als der aktive Masochist ist Erika die Vor-Schreibende. Doch ihr letzter Wunsch „[…] wobei sie inbrünstig hofft, daß ihr erspart bleibe, was sie in dem Brief verlangt“185 wird nicht erfüllt. Erika wird von Klemmer im Verlauf des Textes überrumpelt und vergewaltigt. Dieser Akt muss als doppelter Vertragsbruch gewertet werden. Erikas Regeln wurden nicht befolgt, der Vertrag in seinen Grundsätzen eklatant überschritten. Denn Erika wollte natürlich nie eine wirkliche Vergewaltigung, nie reale Gewalt erleben. Ihr Vertrag weist in der erlebten Gewalt seine Brüchigkeit und Konstruiertheit auf. Und er erfüllt schließlich nicht das, wofür ein Vertrag überhaupt erst aufgesetzt wurde: eine Risikovermeidung.186 Sich selbst vor Gefahren,
182 Jelinek: Klavierspielerin. S. 227f. 183 Jelinek: Klavierspielerin. S. 231. 184 Jelinek: Klavierspielerin. S. 232. 185 Jelinek: Klavierspielerin. S. 214. 186 In der Risikovermeidung setzt die Analyse von Gratzke den zentralen Aspekt des literarischen Masochismusthemas. Analog zu Jelineks Text sieht er diese Vermeidungsstrategie in mangelnden Liebeserfahrungen und einer allgemeinen Krise des
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Eventualitäten und schließlich auch vor einer gelebten Liebe schützend, ist dem Masochismus diese Risikovermeidung zu eigen. Annegret Mahler-Bungers unterstreicht in ihren psychoanalytischen Reflexionen zu „Die Klavierspielerin“ Erikas Unfähigkeit, zu lieben. Diese führt sie auf eine nicht vollzogene (psychische) Individuation als Frau zurück, die zur Folge hat, das Erika unfähig wird zu trauern, sodass ihr ohne Trauerverständnis jegliche Form einer Liebeserfahrung verwehrt bleibt. Die erwähnte Risikovermeidung wird aus dieser Perspektive zu einer vertraglich geregelten Liebesvermeidung.187 Einer Liebe mit ihren negativen Möglichkeiten wie Kontrollverlust, Enttäuschung oder dem Ende der Liebe wird das juridische Moment eines literarischen Verfahrens entgegengehalten.188 Dieses wird gerade durch ein Zuviel an Realität gestört. Ihr Theater der Grausamkeiten wird in der Konfrontation mit realer Gewalt zerstört. Erika Kohut kann somit als ein Negativ des Barons von Charlus verstanden werden. Denn das gescheiterte, masochistische Theater findet sich auch in Marcel Prousts „Le temps retrouvé“. Doch während Erika unter einem Ausbruch an realer Gewalt zu leiden hat, beschwert sich Prousts Charlus in einem Knabenbordell über einen Mangel an Echtheit. Ein den Baron auspeitschender junger Frauenmörder entpuppt sich als einfacher Stricherjunge. Seine Phantasie kann deshalb nicht voll erlebt werden, ein wirklicher Lustgewinn bleibt verwehrt.189 In beiden Fällen,
Subjekts begründet. Vgl. hierzu: Michael Gratzke: Liebesschmerz und Textlust: Figuren der Liebe und des Masochismus in der Literatur. Würzburg 2000. 187 Mahler-Bungers übt jedoch Zweifel an einer Deleuzeschen Lesart. Ihre Kritik richtet sich jedoch stark auf das verfehlte Ziel eines machtvollen Masochismus, ohne das bereits im masochistischen Spiel angelegte, temporäre Moment zu gewichten. Siehe hierzu: Annegret Mahler-Bungers: Der Trauer auf der Spur. Zu Elfriede Jelineks „Die Klavierspielerin“, in: Johannes Cremerius (Hrsg.): Masochismus in der Literatur. Freiburger literaturpsychologische Gespräche, Bd. 7, Würzburg 1988. S. 80-95, insbesondere S. 86f. 188 Zur These der Risikovermeidung siehe u.a. Alfred Koschorke: Leopold von SacherMasoch. Die Inszenierung einer Perversion, München 1988. – Karen Horney: New Ways in Psychoanalysis. New York 1939, S. 246-275. Eine neuere Arbeit, die den Faktor der Risikovermeidung in eine Genealogie des Liebesleidens in der Literatur einzuschreiben versucht, setzt Sacher-Masochs Texte in Bezug zu Goethes Werther, Eichendorffs Marmorbild und Kleists Verlobung auf St. Domingo. Aber auch Erika Kohut wird als Figur des Masochismus eingeordnet. Siehe hierzu: Michael Gratzke: Liebesschmerz und Textlust. Insbesondere: S. 217250. 189 Marcel Proust: Le temps retrouvé. Edition de la Pléiade, Paris 1986. S. 405f.
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unabhängig ob durch ein Zuviel oder ein Zuwenig ausgelöst, offenbart sich die Schwäche des Masochismus mit all seinen Verträgen und theatralen Momenten in seiner reinen Gemachtheit. In seiner Egozentrik bezieht sich der ganze Vertrag der Klavierspielerin nur immer auf Erika und ihre Phantasien. Jedwede Handlung ist ihrem Lustgewinn untergeordnet, wird Klemmer vorgeschrieben und beinahe wie eine Symphonie detailliert inszeniert. Doch so wie Erika nur von Notenblättern abspielt und die Variation oder gar das eigene Komponieren nie gemeistert hat, so wenig erlangt sie die Möglichkeit zu einer freien Sprache der Liebe. Jelinek wählt hier einen bekanten Topos der Literatur, nämlich den des wechselseitigen Spiels zwischen Musik und Sprache. In diesem Zusammenhang bindet Jelinek „Der Wegweiser“ aus Schuberts Liederzyklus „Die Winterreise“ mit den Worten von Wilhelm Müller in den Text ein. Erst jüngst nahm die Autorin den namenlosen Wanderer in ihrem Dramentext „Winterreise“ erneut auf, nachdem er bereits in dem kleineren Monolog „Der Wanderer“190 verwendet wurde. Doch während „Winterreise“ eine Interpretation des Müllerschen Textes ist, die auf die Frage nach dem Stellenwert des Autors in der Postmoderne reflektiert, ist es in „Die Klavierspielerin“ eher eine generelle Fragestellung an die Musikalität innerhalb der Literatur. Die Musik der Sprache, also die Analogien zwischen Literatur und Musik werden von Jelinek anhand von strukturellen Gleichheiten wie etwa der Leitmotivik sichtbar gemacht. Eine Musikalität der Sprache, die sich in nahezu allen Texten Jelineks nachweisen lässt und die in Ideen wie etwa der Lautmalerei oder einer bewussten, kanonischen Wiederholung zu erkennen sind, gewinnen spätestens ab „Die Klavierspielerin“ an Bedeutung für das Werk der Autorin. Hier wird jedoch auch ein zweiter gemeinsamer Topos der Musik und Literatur beschworen: die Sprache der Musik. In seiner Aussage „Musik ist sprachähn-
190 Elfriede Jelinek: Der Wanderer, in: dies.: Macht nichts. Eine kleine Trilogie des Todes, Hamburg 2002, S. 47-84. Alle drei, darin enthaltenen Texte greifen zuvor verwendete Sujets erneut auf. Der erste Text „Erlkönigin“ versteht sich als Epilog auf Jelineks Drama „Burgtheater“. Der einzige Dialogtext, „Der Tod und das Mädchen“, eröffnet ein weiteres, fiktives Gespräch mit Martin Heidegger. Diesmal aber nicht mit seiner ehemaligen Geliebten Hanna Arendt, wie in „Totenauberg“, sondern zwischen einem Jäger und Schneewittchen, das sowohl die Züge des Philosophen, als auch jene von Jelinek selbst trägt. Alle drei Titel dieser Textsammlung beziehen sich auf Titel aus Schuberts Werk. Das Schneewittchen-Thema in Jelineks Werk wird an späterer Stelle noch genauer analysiert.
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lich. […] Aber Musik ist nicht Sprache“191, subsumiert Adorno die Kernaussage über Gleichheit und Differenz von Musik und Sprache. Zwar werden sowohl Musik als auch Sprache auf temporaler und auditiver Ebene geformt und erlebt, doch schon Klang und Wort trennen sie wieder. Während der Klang scheinbar das Unsagbare einer absoluten Sprache zu sagen vermag, kann die Literatur mit dem Wort Bedeutungen transportieren und einen gelebten Zeichenkosmos ausbilden. Die eine Kunst erlebt also ihren Mangel und zugleich ihre Erfüllung in der jeweils anderen. In dieser belebenden Konkurrenz sucht die Musik das erzählende Moment der Literatur und die Literatur nach der Wirkungsästhetik der Musik innerhalb der Sprache. Auch dieses Paradigma findet in Jelineks Text seine postmoderne Negation. Denn weder in der Musik noch im alltäglichen Sprachgebrauch erreicht Erika eine Meisterschaft und somit findet sie keinerlei Erfüllung. Das Versprechen von der Erfüllung des Individuums in der Kunst kann im Falle Erikas also nicht eingelöst werden. Sie entspricht aber auch nur schwerlich dem Topos des an der Welt krankenden Künstlertypus. Nur Klavierspielerin, keine Künstlerin bietet die Kunst ihr keinen Ausweg aus der Enge der familiären und gesellschaftlichen Umklammerung. All ihre persönlichen Opfer, etwa das einer nicht erlebten Jugend, in der Erika von Großmutter und Mutter zum Üben gezwungen wird, bleiben vergebens. Musik kann nicht als das Gegenkonzept zu einer bedrohlichen Welt gelesen werden. Alle beschriebenen Entbehrungen, die Erika zu leisten hatte, werden nicht belohnt. Sowohl die vielen Konzertabende, zu deren Erscheinen sie ihre Schüler zwingt, als auch ihre Arbeit am Konservatorium können nicht über das Scheitern, ihre verfehlte Karriere hinwegtäuschen oder gar trösten. Und auch im Privaten kann die Klavierspielerin keine Befreiung herbeiführen. Die Jelinekschen Wortkaskaden kontrastieren hier mit Erikas eigener Sprachlosigkeit. Diese äußert sich jedoch nicht im alltäglichen Leben, in dem sie sich sehr wohl zur Wehr setzen kann und nicht selten ihren Mitmenschen verbale Ohrfeigen erteilt.192 Eine Sprache der Sexualität oder gar der Liebe hingegen ist ihr vollkommen fremd und wird verzweifelt in den Kabinen von Sexkinos gesucht. Jelineks Text, der in einer Paraphrasierung des Finales von Kafkas „Der Prozeß“ endet, lässt Erika mit einem Messer in der Brust nachhause zurückkehren.
191 Theodor W. Adorno: Fragment über Musik und Sprache. Gesammelte Schriften 16, Frankfurt a. M . 1990, S. 251-256, hier: S. 251. 192 Diese verbalen Entgleisungen steigern sich im Verlauf des Textes. Einen Höhepunkt erreichen sie in Erikas Anschlag auf eine Violinistin, die mit Klemmer geflirtet hat. Ihr schüttet Erika Glasscherben in die Manteltaschen.
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Die angestrebte Befreiung mittels eines aktiven Masochismus bleibt verwehrt. Dass der eingeschlagene Weg eine Sackgasse war, wird durch die Klammerung der ersten und letzten Sätze in „Die Klavierspielerin“ deutlich. Aus einem „Die Klavierlehrerin Erika Kohut stürzt wie ein Wirbelsturm in die Wohnung, die sie mit ihrer Mutter teilt.“193 wird ein „Erika weiß die Richtung, in die sie gehen muß. Sie geht nach Hause. Sie geht und beschleunigt langsam ihren Schritt.“194 Der Text dazwischen bleibt Versuch. In seiner zum Ursprung, der Ausgangsposition zurückkehrenden Konstruktion gleicht Jelineks Text somit Flauberts „Bouvard et Pécuchet“. Der Anfang wird zum Ziel, die Erzählung eingeklammert dazwischen. Nicht unwillkürlich fühlt man sich an Klemmer erinnert, der zum Auslöser eines Versuchs wird, der nur seinen eigenen Ausgangspunkt wieder einholen kann. Während Jelineks frühe Texte zunächst den Sadismus einer patriarchalen Gesellschaft aufdeckten, folgt dieser Kritik einer männlichen Konstruktion des Weiblichen eine Neujustierung der Perspektive auf die Frauen. Als brave Gefolgschaft ohne inneren Zusammenhalt erscheinen die Frauen etwa in „Die Liebhaberinnen“. Aber den triebhaften und egoistischen Männern folgen weibliche Pendants. In „Raststätte oder Sie machens alle“ werden die Frauen zu aktiveren Parts und offenbaren dabei nur noch mehr den Warencharakter des Sexes auf beiden Seiten der Geschlechter. Als Teil einer Industrie aus Bordellen, Videotheken und Sexspielzeug kristallisiert sich die Sprache, verstanden als männlicher Machtanspruch über die Sexualität, immer mehr aus. Diesem Diktum zu entkommen, setzte Jelinek in „Die Klavierspielerin“ den Versuch eines freiwilligen und aktiv bestimmten Masochismus entgegen. Auf die Sackgasse, in der dieses Gedankenspiel endet, weiß die Autorin erst vier Jahre nach „Die Klavierspielerin“ zu antworten. „Krankheit oder Moderne Frauen“ kann aus der Perspektivierung eines sprachlichen Troubles in Gender und einer freiheitlichen Subjektkonstituierung als entscheidender Text und gleichzeitig als Umbruch im Werk Jelineks verstanden werden. In der Analyse der sprachlichen Muster ist hier wiederum die Egozentrik eines sadistischen Patriarchats, wie es in den früheren Texten vorkommt, zu erkennen. Dem stillen Ertragen („Die Liebhaberinnen“), der Nachahmung patriarchaler Muster („Raststätte oder Sie machens Alle“) und dem zuletzt getätigtem Versuch, Autonomie und Subjektstatus mittels des masochistischen Briefes zu erreichen („Die Klavierspielerin“), wird in der Folge durch ein subversives Schweigens ersetzt, das
193 Jelinek: Klavierspielerin. S. 5. 194 Jelinek: Klavierspielerin. S. 283.
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als Rückbesinnung auf die Phantastik gelesen werden kann, die in der Folge Systemcharakter entwickeln wird.
Tier-Werden, Kafkas Verwandlungen und Jelineks Monster Vows are spoken/ To be broken Feelings are intense/ Words are trivial Pleasures remain/ So does the pain Words are meaningless/ And forgettable DEPECHE MODE
Zusammenfassend: Jelineks Poetik fokussiert die gesellschaftliche Rolle der Frauen, denkt diese jedoch fortwährend weiter. Die realen Missstände werden in ihren frühen Texten sowohl vermittels popkultureller Narrative als auch durch rhetorische Figuren wie Ironie, Hyperbel etc. angezeigt. Ihr Text „Krankheit oder Moderne Frauen“ kann in dieser Entwicklung als paradigmatische Wende verstanden werden. Das im Text erstmals aufgeführte Figurenpersonal der Vampirinnen und Mutanten wird in der Folge vor allem um Zombies, aber ebenfalls um die Untoten im Allgemeinen erweitert, die eine zentrale Stellung im weiteren Schaffen Jelineks einnehmen werden. Könnte der Text „Krankheit oder Moderne Frauen“ auch als regressive Rückkehr zu alten Mustern verstanden werden, gewinnt Jelinek vielmehr der schon in ihren frühesten Werken vorkommenden Phantastik hier eine neue Perspektive ab. Entscheidend wird von diesem Text an das Hinaustreten der zunächst nur weiblichen Figuren aus den sie umgebenden gesellschaftlichen Strukturen. Exemplifizieren Texte wie „Die Liebhaberinnen“ noch weibliche Schicksale an Fallbeispielen, was immer wieder im Text durch Kapitelüberschriften wie „das beispiel paula“ markiert wird, so durchlaufen Jelineks (weibliche) Figuren in „Krankheit oder Moderne Frauen“ einen evolutionären Schritt. Diese Metamorphose kann auch Verwandlung oder Werdung genannt werden und wirft die Frage auf, ob sie als Flucht oder aktive Handlung zu beurteilen ist. Eine
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Antwort kann gesucht werden in der literarisch-philosophischen Tradition, in welche sich Jelinek hier einschreibt. Denn es zeigt sich, dass Jelineks phantastische Verwandlungen sich nicht nur namentlich, sondern auch aus philosophischer Perspektive mit den Texten Kaf, kas und vermittels des Begriffs Werden mit den Thesen Gilles Deleuzes und Félix Guattaris verbinden lassen.195 Analog zu Jelineks Kritik, findet sich in den gemeinsamen Schriften Gilles Deleuzes und Félix Guattaris immer wieder eine Anklage in Bezug auf das traditionelle Konzept des Subjekts, das als repressiv bewertet wird. In der eigenen, konträr zu den Idealen der Aufklärung stehenden Subjektkonzeption zeigen sie zunächst auf, wie das Individuum – fern davon seinen Anspruch auf Autonomie einlösen zu können – fest in die geltenden patriarchalen Herrschaftsverhältnisse eingebunden wird. In der Negation der vorherrschenden Gesellschaftsordnung füllen sie die Leerstelle mit einer Neudefinition des Subjekts.196 Um diese neue
195 Die Komplexität des Textes „Tausend Plateaus“ und des Denkens von Deleuze und Guattari birgt indes auch Probleme, auf die kurz eingegangen werden soll. Man kann sich nur der Meinung Michaela Otts anschließen, die in Bezug zu Deleuze anmerkt: „An den neuesten Studien fällt als gemeinsamer Zug auf, dass sie trotz Perspektivierung der deleuzeschen Philosophie und trotz Verfolgung singulärer Fragestellungen (…) mehr oder weniger sein Denkfeld abschreiten, das Gesamt seiner Texte gegengelesen, keine Übertragungen auf andere Texte, Bilder oder Filme vornehmen und so insgesamt dahin tendieren, die Deleuzesche Karte im Sinne von Borges noch einmal zu zeichnen. (…) Von daher werden seine Texte entgegen seiner Aufforderung eher nicht als ‚Werkzeugkisten‘ verwendet, wird sein Instrumentarium kaum auf bislang nicht Gesehenes angewandt. Wider Willen entfaltet Deleuze eine Autorität, die seinen Adepten ein umso getreueres Durchbuchstabieren abzuverlangen scheint, als dieses Denken sich freimütig, anarchisch und paradox geriert.“ Michaela Ott: Gilles Deleuze zur Einführung. 2. Auflage, Hamburg 2010, S. 17f. Deshalb erhebt der hier vorliegende Text auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit in der Darstellung des Denkens beider Philosophen, sondern versucht viel eher in Lexik und Logik den Thesen beider Denker zu folgen, um sie im Weiteren dem Verständnis Jelinekscher Theoreme fruchtbar zu machen. 196 Die Kritik von Deleuze und Guattari zielt, wie schon der Untertitel „Kapitalismus und Schizophrenie“ andeutet, auch gegen die Psychoanalyse und maßgeblich gegen die Thesen von Jacques Lacan. Der Hauptvorwurf richtet sich dabei – ohne Lacan namentlich zu nennen – an dessen RSI-Lehre, in der Deleuze und Guattari die Etablierung eines starren Subjektgefüges realisiert sehen, das letztlich nur dazu angetan ist, bestehenden Machtverhältnissen zuzuspielen. Sich von Lacans Lehre absetzend,
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erscheinen die beiden Denksysteme in manchen Punkten somit kaum mehr miteinander vereinbar. Auch wenn die Differenzen und Überschneidungen nicht in Gänze ausgeführt werden können, sollen dennoch kurz einige Punkte zur Sprache kommen: So ist das Subjekt nach Lacan etwa geprägt durch einen permanenten Mangel, den er mit dem Objekt klein a beschreibt und der als imaginärer, nie erreichbarer Wunsch des Menschen fungiert. Deleuze und Guattari sehen indes den positiven Wunsch als Triebfeder des Menschen und das Subjekt als eine un-anhaltbare Wunschmaschine. Guattaris und Deleuzes Fokussierung auf das Reale und die komplette Negation von symbolischer und imaginärer Ebene wirkt aber nur auf den ersten Blick revolutionär. Tatsächlich betont auch Lacan immer wieder, dass der Ebene des Realen im RSIModell des Subjekts eine besondere Rolle zukäme, insbesondere in der Umformung und Erneuerung von Lebensrealitäten. Des Weiteren wird nirgendwo in Lacans Schriften nahe gelegt, das Subjekt sei ursprünglich, wie von Deleuze und Guattari vorgeworfen. In Lacans Spiegel-Aufsatz klingt schon im Titel mit an, dass der Spiegel als Bildner der Ich-Funktion fungiert, folglich das Subjekt aus einer als zerstückelt wahrgenommenen Welt mittels des Spiegels Ordnung und Konsistenz für sein Dasein erreicht. Die daraus resultierende und immer wieder aufkommende Kritik an Lacans Bild des Spiegels, die manchen Denker dazu veranlasste zu behaupten, dass jeder Mensch ohne Spiegel nach Lacans Konzeption zwangsläufig zu einer gestörten Ich-Ausbildung führen müsste, ist natürlich abwegig. Diesen allzu wörtlich genommenen Kritiken wurde bereits mehrfach in der neueren Forschung begegnet, indem Lacans Konzeption etwa um Melanie Kleins stark rezipierte These der Objektbeziehungstheorie sinnvoll erweitert wurden. Die besagte Theorie unterstreicht die schon bei Lacan vorkommende Idee, dass sich das auszubildende Individuum sehr wohl auch in anderen Individuen – im Falle des Säuglings etwa dessen Mutter und deren Verhalten – oder Objekten – einer Wasseroberfläche oder Glas – spiegeln kann und eine Spieglung nicht auf das Objekt Spiegel allein anzuwenden sei. Die Objektbeziehungstheorie wird an späterer Stelle genauer analysiert werden. Erwähnenswert aus Sicht einer Arbeit, die sich mit dem Werk Elfriede Jelineks befasst, ist, dass der Psychoanalytiker Heinz Kohut Kleins These der Spiegelübertragung für seine Narzissmus-Thesen aufgreift. Abschließend bleibt zu bemerken, dass in der jüngsten Zeit immer mehr die Annäherungen, als die Differenzen zwischen den Thesen von Deleuze und Guattari und dem Denken Lacans gesucht werden. Prominentestes Beispiel hierfür ist sicherlich ein Text Slavoj Žižeks, der in seiner Einleitung noch einmal kurz die Unterschiede und Berührungspunkte beider Denker zusammenfasst. Siehe hierzu: Slavoj Žižek: Einleitung: Eine Begegnung, kein Dialog, in: ders.: Körperlose Organe. Bausteine für eine Begegnung zwischen Deleuze
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Stufe einer Individuation zu verwirklichen, etablieren sie den Begriff Werden. Da Deleuze und Guattari jegliche finale Sinnsuche, Ideologie oder Erkenntnistheorie ablehnen, geht es in ihrer Theorie konsequenterweise nicht um eine singuläre, klar definierte Werdens-Form, sondern um mehrere Möglichkeiten des Werdens, die sich ihrerseits in steter Permutation befinden. Angelehnt an Theoreme von Bergson, Nietzsche, Heidegger und vor allem Spinoza, von dem sie die Idee des Seins als Werden adaptieren, entwickelt sich somit ihre WerdenTheorie. Es gilt somit diese Theorie in ihrem Facettenreichtum zu erfassen. Als narrative Taktik der Phantastik ist sie in der Folge auf die Texte Jelineks zu übertragen. Denn anlog zur Jelinekschen Suche einer autonomen Subjektebene, ist auch das Werden zunächst als Individuationsprozess zu fassen197.
und Lacan, übers. von Nikolaus G. Schneider, 1. Auflage, Frankfurt a. M. 2005, S. 7-10. 197 Zur Problematik des Subjektbegriffs im Poststrukturalismus siehe: Gabriel Kuhn: Das autonome Subjekt, in: ders.: Tier-Werden, Schwarz-Werden, Frau-Werden. Eine Einführung in die politische Philosophie des Poststrukturalismus, 1. Auflage, Münster 2005, S. 36-40.
Heteronormativität versus Heterogenität Entweder das 21. Jahrhundert wird deleuzianisch sein – oder es wird nicht sein! MICHEL FOUCAULT
Wie in fast all ihren Texten bedienen sich Deleuze und Guattari auch in „Tausend Plateaus“ literarischer Beispiele, um ihre Thesen zu verdeutlichen. In diesem Werk jedoch wird der Literatur und dem Schreibprozess eines Autors in ganz besonderer Weise Bedeutung zugemessen, da die Literatur hier nicht als Exemplifizierung einer These dient, sondern vielmehr die Literatur selbst der Ort der These und somit des Werdens ist, wie etwa Michaela Ott präzise beschreibt: „Das Buch versteht sich als Immanenzebene, die einerseits unterschiedliche, nichthierarchisch geschichtete Wissensfelder umfasst, andererseits diesen selbst innerlich ist; quer dazu sollen zeitliche ‚Transversalen‘ einzelne Momente der unterschiedlichen Felder zueinander in Korrespondenz versetzen und die Wissensfelder immanent diversifizieren, so dass zuletzt jenes rhizomatische ‚Wurzelgeflecht‘ der ‚Konnexion und Heterogenität‘ entsteht.“
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Das Buch dient Deleuze und Guattari als Kulminationspunkt gleich mehrerer Ebenen. Als Knotenpunkt fungiert es sowohl auf einer zeitlichen Ebene, durch die es immer wieder neu durchschnitten wird, wie auch auf einer kommunikativ gesellschaftlichen Ebene des Austauschs, durch den der Neokonnex eine Diversität erreichen soll. Den subversiven Charakter eines Textes bestimmen sie besonders in minoritären Gesellschaftsgruppen. Mittels der Literatur wird es diesen Gruppen möglich, nicht nur eine Plattform für sich zu finden, sondern im besten Falle, sich als randständige Gruppe störend in den Konsens einzuschreiben und
198 Michaela Ott: Deleuze. S. 45.
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ihn somit zu wandeln. Ein kommunikatives Moment des Textes zu einer nach außen gerichteten Instanz, ist somit im gesellschaftskritischen Impetus des Textes zu sehen und nicht etwa mit einer Aufwertung der Autorschaft zu verwechseln, von der sie sich in Konkordanz mit Roland Barthes klar absetzen wollen. Stattdessen wird eine Dekonstruktion des Autorbegriffs angestrebt, wie sie auch von Jelinek angelegt wird und als bewusstes Thema virulenter Bestandteil ihrer Texte ist.199 In der Einleitung von „Tausend Plateaus“ erteilen Deleuze und Guattari der Möglichkeit jeglicher interpretatorischer Funktion des Autors eine Abfuhr: „Ein Buch hat weder ein Objekt noch ein Subjekt, es besteht aus verschieden geformten Materien, aus den unterschiedlichsten Daten und Geschwindigkeiten. Wenn man das Buch einem Subjekt zuschreibt, läßt man diese Arbeit der Materien und die Äußerlichkeit ihrer Beziehungen außer acht. Man bastelt sich einen lieben Gott zurecht, um geologische Vorgänge zu erklären. Wie bei allen anderen Dingen gibt es auch in einem Buch gliedernde oder segmentierende Linien, Schichten und Territorien; aber auch Fluchtlinien, Bewegungen, die die Territorialisierung und Schichtung auflösen. Die auf diesen Linien zunehmenden Fließgeschwindigkeiten führen zu Phänomenen einer relativen Verlangsamung, zu einer Zähigkeit oder aber auch zu Phänomen der Überstürzung oder Unterbrechung. Das alles, die Linien und die meßbaren Geschwindigkeiten, bilden ein Gefüge.“
200
In der Annäherung an die Mannigfaltigkeit201 von Texten unterstreichen sie einerseits die Bedeutung des eigentlichen Textes, seine Immanenzebene, verweisen aber schon an dieser Stelle auch auf die besondere äußere Verankerung des Textes und die Veränderbarkeit der Zeichen.202
199 Auch wenn immer wieder die vermeintliche Autorin Jelinek in den Texten vorkommt, handelt es sich hierbei doch um eine geschickte Vermeidungsstrategie. In „Ein Sportstück“ beispielsweise erscheinen gleich mehrere Figuren, die der Autorin entsprechen können. Die Jelineksche Autoreninstanz verschwindet also in einer Vielheit der möglichen Autorenfiguren. Siehe hierzu: Janz: Mütter, Amazonen und Elfi Elektra. – Peter Clar: „Was bleibt ist fort“ – Die Autorinnenfigur in Elfriede Jelineks Dramen. Über: http://jelinetz2.files.wordpress.com/2013/02/xwas_bleibt_ist_ fort.pdf 200 Deleuze und Guattari: Tausend Plateaus. S. 12. 201 Ebd. 202 Zu dem hier anklingenden Problem des plurivoken, univoken und äquivoken Zeichens siehe: Michel Foucault: Andere Räume, in: Karlheinz Barck u.a. (Hrsg.):
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In ihrem zehnten Denkplateau203 „Intensiv-Werden, Tier-Werden, Unwahrnehmbar-Werden …“, etablieren Deleuze und Guattari in diesem Zusammenhang die Idee eines strukturalistischen Ordnungssystems, das die Differenzen der einzelnen Subjekte als deren Beziehungen untereinander erfasst und diese mittels Techniken der Phantastik erkennbar zu machen vermag. Im Begriff des Werdens, also der Metamorphose als einer klassisch phantastischen Narrativik sehen sie die Möglichkeit der Sichtbarmachung dieser Differenzen. Mit Tiermetamorphosen einleitend, unterstreichen Deleuze und Guattari die Mannigfaltigkeit des Werdens: „Das Tier-Werden ist nur ein Fall unter anderen. Man kann eine Art von Ordnung oder scheinbaren Fortschritt zwischen Segmenten von Werden feststellen, in denen wir uns befinden: Frau-Werden, Kind-Werden; Tier-, Pflanze- oder Mineral-Werden; alle möglichen Arten von Molekular-Werden, Partikel-Werden. Fasern führen von den einen zu den anderen, formen die einen in die anderen um und gehen dabei durch Pforten hindurch und über Schwellen hinweg. Singen oder komponieren, malen, schreiben haben kein anderes Ziel, 204
als diese Arten von Werden freizusetzen.“
Das Werden als Agens der Künste verstanden ist somit als stete Weiterentwicklung gefasst, während gleichzeitig jeglicher Endpunkt oder gar die Möglichkeit einer finalen Erfüllung negiert wird. Wäre es bei einer Thematik wie der Metamorphose sicherlich möglich, an die klassischen Texte Ovids zu denken, die in der Logik der beiden Denker einen Reigen des Werdens anzeigen, so beziehen sich Deleuze und Guattari im Verlauf ihrer Argumentation jedoch auf Texte der klassischen Moderne, die einen phantastischen Impetus tragen. Die Sprachskepsis des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts bietet sich aus Sicht der Autoren deshalb an, weil in den Texten dieser Zeit im besonderen Maße die Suche nach einer neuen Sprache thematisiert wird, die Deleuze und Guattari als Teil des subversiven Moments des Werdens bestimmen. In der wohl bekanntesten Textpassage aus Hugo von Hofmannsthals Novelle „Ein Brief“ beklagt sich der Briefschreiber Lord Chandos:
Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1992, S. 34-46, insbesondere S. 36f. 203 Es wird hier, im Sinne Deleuzes und Guattaris, bewusst das Wort Kapitel vermieden. Gleich zu Beginn ihres Textes verweisen sie auf die Möglichkeit des Lesers, jedes der einzelnen Plateaus nach eigenem Empfinden in eine Reihenfolge zu stellen. 204 Deleuze und Guattari: Tausend Plateaus. S. 371.
88 | D IE Z ERSTÖRUNG DES I CHS „(D)ie abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um ir205
gendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.“
In dieser Sprachkrise, die sich in Hofmannsthals Texten bzw. in deren Kunstsprache, etwa im „Rosenkavalier“ oder auch dem „Jedermann“, erkennen lässt, sehen Deleuze und Guattari die Möglichkeiten des Werdens. In Bezug auf Hofmannsthals Chandos-Brief reflektieren sie: „So entsteht in ihm der seltsame Imperativ: entweder aufhören zu schreiben oder wie eine Ratte schreiben … Wenn der Schriftsteller ein Zauberer ist, dann liegt das daran, daß Schreiben ein Werden ist; das Schreiben ist von einem seltsamen Werden durchdrungen, das kein Schriftsteller-Werden ist, sondern ein Ratte-Werden, ein Insekt-Werden, ein Wolf-Werden etc.“
206
Das Werden erhält somit eine Qualität des Einfühlens. Die Sprachkrise führt nicht zu Resignation, sondern kann vielmehr als Chance begriffen werden, um untergründige Strukturen aufscheinen zu lassen. Nicht die Abbildung des Alltäglichen, sondern vielmehr Figuren aus der Phantastik und Anthropomorphisierungen bestimmen das Schreiben des Werdens. Hofmannsthals Figuren des Jedermann oder Mammon sind allegorische Werdungsfiguren, die auf ein Außerhalb der Literatur verweisen und gleichzeitig den Anspruch auf Originalität erfüllen sollen. Hofmannsthal gelingt sowohl sprachlich als auch in der Wahl seiner Figuren ein Rückgriff auf bereits Vorhandenes, der jedoch nicht ohne die Erweiterung um einen neuen Aspekt erfolgt. In seinen Texten erfüllt sich der Anspruch der „Tausend Plateaus“, auf zuhandenes Inventar zurückzugreifen, ohne jedoch die transversale Zeit außer Acht zu lassen. Zeitlicher Abstand, so die These, soll die Figur „aufschneiden“ und sie über ihren Entstehungskontext hinaus mit neuem Konnotat anreichern. Auch hier versuchen Deleuze und Guattari sich von jeglicher Art der Genealogie, etwa einer literarischen Stoffgeschichte oder ähnlichem zu distanzieren. Auch Michel Foucault verneint die Möglichkeit einer ursprünglichen und bruchlosen Genealogie, da er in diesem Konzept eine Idealisierung der Methode erkennt. Stattdessen etabliert er vielmehr den Bruch und das Ereignis als bestimmende Faktoren der zu erforschenden Entstehung und Herkunft eines ge-
205 Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief, in: ders.: Erfundene Gespräche und Briefe. Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, Bd. 21, hrsg. von Ellen Ritter, Frankfurt a. M. 1991, S. 45-55, hier: S. 48f. 206 Deleuze und Guattari: Tausend Plateaus. S. 327.
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schichtlichen Gegenstandes. Analog zu Deleuze und Guattari sieht er ebenfalls den zeitlichen Verlauf der Geschichte als segmentierendes Moment. Somit muss Geschichte immer wieder neu erfasst bzw. geschrieben werden, da sich mit dem zeitlichen Verlauf auch der retrospektive Blick ändert und sich einzelne Faktoren erst durch den Verlauf der Zeit zu erkennen geben. In seinem Ansatz orientiert sich Foucault an Ideen von Leibniz und Nietzsche207, um das Besondere im Alltäglichen zu suchen, jene „kleinen unscheinbaren Wahrheiten, welche mit strenger Methode gefunden wurden.“208 Die Gefahr einer einheitlichen Sinnstiftung erkennend, finden sich bei Foucault schon in dessen frühen Schriften zu Geisteskrankheiten, Kliniken und den Humanwissenschaften die Begriffe der Archäologie und des Archivs, die dem Plateau und der Karte bei Deleuze und Guattari ähnlich erscheinen und einen zentralen Aspekt sowohl im Denken Foucaults als auch bei Deleuze und Guattari einnehmen.209 Im Rahmen seiner Analyse von vorrangigen, weil diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken und deren jeweils unterschiedlichem Beitrag zur Wissensbildung in einer Gesellschaft, prägt Foucault den Begriff des Dispositivs, dem er analog zu Deleuze und Guattari eine anzustrebende, „heterogene Gesamtheit“210 zuspricht. In seiner poststrukturalistischen Ausprägung, die maßgeblich auf die Werke Foucaults, Deleuzes und Guattaris zu beziehen sind, ist das Dispositiv als von drei epistemologischen Grenzen bedingtes zu verstehen. Macht, Subjekt und Wahrheit sind im Begriff des Dispositivs die strukturellen Konstituenten. Poststrukturalistisch wird die Macht jedoch nicht nach ihrer Wesensart befragt, sondern nach ihren Funktionsweisen und ihren Wirkbereichen.211 Macht versteht sich also als eine systemimmanente Kräftebeziehung, die nach klar strukturierten
207 Vgl. hierzu: Michel Foucault: Nr. 84, Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: ders.: Dits et Ecrits. Schriften, Bd. II, 1970-1975, hrsg. von Daniel Defert und François Ewald, übers. von Michael Bischoff, Hans-Dieter Gondek, Hermann Kocyba und Jürgen Schröder, Frankfurt a. M. 2002, S. 166-191. 208 Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches I und II. Kritische Studienausgabe, Bd. 2, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 3. Auflage, München 2005, S. 25. 209 Vgl. hierzu: Michel Foucault: Archäologie des Wissens, übers. von Ulrich Köppen, 10. Auflage, Frankfurt a. M. 2003, S. 278f., 296. 210 Michel Foucault: Das Spiel. S. 392. 211 Sarasin sieht die Totalität der Foucaultschen Macht, die auch im Begriff des Dispositivs enthalten ist, in einer oppositionellen Haltung gegenüber der Lacanschen Theorie. Vgl. hierzu: Philipp Sarasin: Michel Foucault zur Einführung. Hamburg 2005, S. 156f.
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Strategien agiert. Eine Macht, deren vornehmlichstes Ziel die (kapitalistische) Produktion ist und nicht die Repression. „In Wirklichkeit ist die Macht produktiv, und sie produziert Wirklichkeit.“212 Dieses von Foucault bereits in „Überwachen und Strafen“ angemerkte produktive Moment der Macht findet sich in Jelineks Texten immer wieder. Ist das einzige Ziel der Frauen in „Die Liebhaberinnen“ der Produktionsstätte zu entkommen, nur um sich der Macht des Mannes unterzuordnen, trägt Jelineks Drama „Stecken, Stab und Stangl“ ein kapitalistisches Moment bereits im Untertitel. Als „Eine Handarbeit“ soll den Regieanweisungen folgend die Bühne eine „überdimensionale Supermarkttheke in Chrom und Glas“213 sein, in der die Schauspieler unaufhörlich stricken und ausbessern und die Produktion über den Verlauf der Inszenierung hinweg stetig steigern. Wie sich das Verständnis des Machtbegriffes im Denken des Poststrukturalismus maßgeblich verändert und von Hobbes abkommt und den produktiven Aspekt herausstellt, so ist auch der Begriff der Wahrheit unter neuen Vorzeichen zu erfassen. Denn auch hier ist nicht nach dem Wesen zu forschen, sondern nach deren Veridiktion, also der „Gesamtheit der Regeln, die in Bezug auf einen gegebenen Diskurs die Bestimmung dessen gestatten, welches die Aussagen sind, die darin als wahr oder falsch charakterisiert werden können.“
214
In der Frage nach der Produktion von Wahrheiten – die Wahrheit über die Wahrheit215 – ist bereits die Problematisierung des Begriffes enthalten. Die Frage nach der Entstehung von Wahrheiten verweist auf den dritten Bereich des Dispositivbegriffs, der das Subjekt selbst in den Fokus stellt. Denn das Subjekt wird nicht mehr in einem Sinne verstanden, der es als eine Entität im Verhältnis zu seiner Umwelt erfasst, sondern als durch den Prozess der Veridiktion gebildet. Das Subjekt ist somit kein erschaffendes Wesen, sondern ein Erschafftes. Aus
212 Michel Foucault: Überwachen und Strafen. S. 250. 213 Elfriede Jelinek: Stecken, Stab und Stangl. Eine Handarbeit, in: dies.: Stecken, Stab und Stangl. – Raststätte – Wolken.Heim. Neue Theaterstücke, Mit einem „Text zum Theater“ von Elfriede Jelinek, 3. Auflage, Hamburg 2004, S. 15-68, hier: S. 17. 214 Michel Foucault: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II, Vorlesung am Collège de France 1978-1979, hrsg. von Michel Sennelart, übers. von Jürgen Schröder, 2. Auflage, Frankfurt a. M. 2009, S. 60. 215 Vgl.: Michel Foucault: Die Hermeneutik des Subjekts. Vorlesung am Collège de France 1981-1982, übers. von Ulrike Bokelmann, Frankfurt a. M. 2004, S. 288.
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dieser Perspektive ist der Begriff des Dispositivs eng an die Idee einer (unfreien) Subjektkonstituierung gebunden. In Jelineks Texten ist diese Unfreiheit des Subjekts zunächst als genuin weibliche Problematik dargestellt. Etwa, wenn sich in „Die Liebhaberinnen“ eine der Hauptprotagonistinnen bewusst wird: „heinz soll die geschichte von brigitte werden, er soll ihr ein eigenes leben machen“216. Denn statt Teil einer weiblichen Masse zu sein, wollen die Frauen, die immer schon von den Männern definiert werden, als aktiver Teil des Machtgefüges gelten. Diese Macht scheint jedoch immer nur in der Verbindung zu einem dominierenden Mann möglich, die bis zur Selbstaufgabe gerät, beispielsweise wenn sich Brigitte wünscht „lieber selbst zu verlängerten gliedmaßen von heinz, zu einem teil vom heinzkörper“217 zu werden, als in ihrem (vermeintlichen) Schicksal zu verharren. Eine weibliche Subjektkonstituierung schließt der Text als Möglichkeit konsequent aus. Diese zunächst rein weibliche Problematik wird im weiteren Werk als ein generelles Subjektwerdungsproblem erfasst werden. In seiner Verwobenheit aus Wahrheit, Macht und Subjekt, wie er uns auch bei Jelinek begegnet, vermag also im Begriff des Dispositivs, wie ihn die poststrukturalistische Schule ausbildet, der Anspruch einer politischen Dimension erfüllt werden, der sich aus dem Erkenntnisprozess einer reinen Epistemologie zu befreien vermag und vielmehr nach dem „Netz, das man zwischen diesen Elementen“218 aus Gesetzen, Maßnahmen, Lehrsätzen und Diskursen wirkt, fragt. Im Begriff des Territoriums, den Deleuze und Guattari in „Tausend Plateaus“ konstituieren, setzen beide Denker den Begriff des Foucaultschen Dispositivs in ein klar segmentierendes Konzept um. Im Territorium, so die These, sind die ansonsten im Verborgenen agierenden Machtdispositive zu erkennen. Eben diese Aufgabe schreiben sie auch der Kunst zu. In der Territorialisierung des Kunstwerkes wird das Unsichtbare des Machtdispositivs sichtbar, aber auch das Sichtbare, das als das Alltägliche zu verstehen ist, um seine unsichtbar mitwirkende Komponente erweitert. So kann man es als eine im Sinne Foucaults dispositive Haltung begreifen, wenn Deleuze und Guattari im Zuge ihrer Reflexionen zu phantastischen Figuren in der Literatur und ihrer Einordnung in ein a-genealogisches System auf Jorge Luis Borges verweisen. Im „Handbuch der phantastischen Zoologie“ widmet sich dieser – zusammen mit anderen Schriftstellern – phantastischen Figuren, unter ihnen auch moderne, wie der noch genauer zu untersuchende „Odra-
216 Elfriede Jelinek: Die Liebhaberinnen. 26. Auflage, Hamburg 2004, S. 10. 217 Jelinek: Die Liebhaberinnen. S. 55. 218 Michel Foucault: Das Spiel. S. 392.
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dek“ Kafkas. Und auch wenn Borges hier sicher keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt, so ist doch genau jene Aufschlüsselung in Listen und somit eine lexikalisch kategorisierte Herangehensweise an die Phantastik und ihre Figuren, die Deleuzes und Guattari an Borges kritisieren. „Borges interessiert sich nur für Eigenschaften, sogar die phantastischsten, während Zauberer wissen, daß Werwölfe ebenso wie Vampire Banden sind und daß diese Banden sich von den einen in die anderen verwandeln. Aber was heißt das nun? Das Tier als Bande oder Meute? Gehört zu einer Bande nicht eine Abstammung, die uns zur Reproduktion bestimmte Eigenschaften zurückführen würde? Wie kann man eine Bevölkerung, ein SichFortpflanzen oder ein Werden ohne Filiation und Produktion durch Vererbung verstehen? Eine Mannigfaltigkeit ohne die Einheit eines Vorfahren? Das ist ganz einfach und jeder weiß es, auch wenn man darüber nur im Geheimen spricht. Wir stellen die Epidemie der Abstammung gegenüber, die Ansteckung der Vererbung, die Bevölkerung durch Ansteckung der geschlechtlichen Fortpflanzung und der sexuellen Produktion. Menschliche und tierische Banden vermehren sich durch Ansteckungen, Epidemien, Schlachtfelder und Katastrophen. So wie Zwitter, die selber unfruchtbar sind und durch eine sexuelle Vereinigung zustande kommen, die selber nicht reproduziert wird, sondern jedesmal von vorn be219
ginnt und dabei an Terrain gewinnt.“
Nur in der stetigen Neuerfindung von Figuren sehen Deleuze und Guattari Möglichkeiten des sozialen Wandels. Ein reines Repetieren der bereits etablierten phantastischen Figuren wird negiert. Sich dabei klar von dem klassisch abendländischen Ordnungssystem des Baumschemas abgrenzend, das immer auch auf die zu einem Ursprung zurückzuverfolgende Entwicklungen verweist, wagen sie den Versuch eine Innovation zu etablieren. Eine rein „mechanische Wiederholung, die trotz des zeitlichen Abstands ein Identisch-Werden anstrebt und nicht das Andere im Wiederkehrenden begrüßt“220, ist demnach zu vermeiden. Vielmehr soll die Wiederholung eine Verdrängung werden, wie Deleuze in seinem Text „Differenz und Wiederholung“ betont. „Ich wiederhole nicht, weil ich verdränge. Ich verdränge, weil ich wiederhole. Ich verdränge, weil ich zunächst manche Dinge oder manche Erfahrungen nur im Modus der Wiederholung erleben kann.“
221
219 Deleuze und Guattari: Tausend Plateaus. S. 329. 220 Ott: Gilles Deleuze, S. 11. 221 Deleuze: Differenz und Wiederholung. S. 35f.
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Somit ist die Wiederholung zwar möglich, weil sie mit zeitlichen Komponenten korrespondiert, die Zeit aber muss immer wieder eine neue, dem aktuellen Zeitgeist entsprechende Bedeutungsebene erreichen, die nur durch die Verdrängung von bereits Gewesenem glücken kann, also in der Differenz zum Vergangenen zu erlangen ist. Plateaus, Karten und Rhizome sollen anstelle der herkömmlichen Erzählungen vom Ursprung treten. Denn während diese die Abfolge als scheinbare Notwendigkeit erklärt, impliziert das Plateau eine Schichtung, die Karte ein Auswuchern auf andere Denkgebiete und das Rhizom die Anbindung an zeitlich bedingte Diskurse. „Ein Buch ist, entgegen einem fest verwurzelten Glauben, kein Bild der Welt. Es bildet mit der Welt ein Rhizom. Es gibt eine aparallele Evolution von Buch und Welt, wobei das Buch die Deterritorialisierung der Welt sichert, die Welt aber eine Reterritorialisierung 222
des Buches bewirkt, das sich seinerseits in der Welt deterritorialisiert.“
Folgerichtig wendet sich ihre Vorstellung von Phantastik und deren Wesen, in Abgrenzung von Borges, gegen die Einbettung phantastischer Figuren in eine wissenschaftliche bzw. biologische Systematik, die Deleuze und Guattari im Falle der phantastischen Wesen ohnehin nicht erkennen können. Ihr Augenmerk liegt vielmehr auf dem rudelartigen Auftreten vieler phantastischer Figuren und deren epidemischer Verbreitung. Und wirklich kann man einem phantastischen Artenlexikon den Vorwurf machen, es evoziere den Gedanken, dass sich diese Wesen mittels biologischer Fortpflanzung verbreiten, was jedoch weder bei Vampiren, noch Werwölfen oder gar Zombies der Fall ist. Auch die Jelinekschen Vampire in „Krankheit oder Moderne Frauen“ pflanzen sich nicht fort. Vielmehr wird die biologische Vermehrung in direkter Diskrepanz zum Akt der Werdung gesetzt. Direkt nach der Geburt stirbt die weibliche Hauptprotagonistin und wird durch eine lesbische Vampirin selbst zur Untoten. Auch das Auffressen ihrer eigenen Kinder steht in klarer Abgrenzung zu einem biologisch reproduzierenden Diskurs. Somit etabliert sich eine Entwicklung des Werdens, die „[…] nicht länger eine abstammungs- und erbschaftsmäßige Evolution ist, sondern vielmehr kommunikativ oder ansteckend wird.“223 Im Falle des Zombies wäre dies der Biss, durch den er seine epidemische Verbreitung erreicht. Abgrenzend zum Vampir ist festzustellen, dass es sich bei Zombies nicht um eine Auswahl oder gar eine
222 Deleuze und Guattari: Tausend Plateaus. S. 22. 223 Deleuze und Guattari: Tausend Plateaus. S. 325.
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elitäre Kaste an Individuen handelt. Gerade die rasante, oftmals globale Verbreitung des Zombievirus sind genuine Grundnarrative dieser Figur. Umso mehr stellt sich also die Frage, wie oder inwieweit eine solche Gruppe der phantastischen Wesen, die stets im Werden begriffen sind, einen inneren Zusammenhalt aufbauen kann und was ihre Gemeinsamkeit ausmachen soll, die sie als Gruppe etabliert. „Es gibt eine Politik des Tier-Werdens und auch eine Politik der Zauberei: diese Politik entfaltet sich in Gefügen, die weder zur Familie, noch zur Religion oder zum Staat gehören. Sie bringen eher Gruppen zum Ausdruck, die minoritär, unterdrückt oder verboten sind, die revoltieren oder sich immer am Rande der anerkannten Institutionen befinden und umso geheimer sind, weil sie extrinsisch oder anomisch sind. Wenn das Tier-Werden die Form einer Versuchung annimmt, die Form von Ungeheuren, die in der Phantasie vom Dämon heraufbeschworen werden, so deshalb, weil es in seinen Ursprüngen wie in seiner Entwicklung von einem Bruch mit den zentralen Institutionen begleitet wird, die bereits bestehen oder sich zu bilden versuchen.“
224
Zusätzlich zu evolutionären Vorstellungen erteilen Deleuze und Guattari also auch staatstragenden Momenten im Bezug auf das Werden eine Abfuhr. Entscheidender Impuls des Rudels ist statt traditionell sozialer Paradigmen, die auf breitem Konsens basieren, die Randständigkeit innerhalb einer homogenen Gruppe. Diese Gruppen sind deshalb extrinsisch, weil sie weniger aus sich selbst heraus eine Gruppenbildung als Notwendigkeit wahrnehmen, sondern vielmehr die Kerngruppe eines sozialen Gefüges ein Außen erschafft, indem sie auf die Besonderheiten einer Gruppe verweist und diese damit in den Bereich des Dissenses verbannt. Der Antrieb zur Gruppenbildung erfolgt also durch einen äußeren Druck, weshalb die Gruppe auch anomisch zu nennen ist. Gebildet durch das Außen – oder eigentlich eine die Inklusion verweigernde Kerngesellschaft – bildet die Gruppe, die nach der Formulierung Deleuzes und Guattaris im TierWerden begriffen ist, keine sozialen Normen aus. Dies alles führt zu einer scheinbar widersprüchlichen Aussage: die Tier-Werden-Gruppe findet ihren Zusammenhalt eher im Unterschied, als in den Überschneidungen. Dies mag aber nur auf den ersten Blick erstaunen, bedenkt man etwa, dass die Zuordnung zu einer externen Werden-Gruppe durch ein Außen erfolgt, an das Individuum herangetragen und nicht gesucht wird, folglich also auch nicht der sich selbst zugeschriebenen Individuation zugehörig ist. Das Werden ist somit die heterogene Seinsform einer Externalität. Diese Externalität, das gesell-
224 Deleuze und Guattari: Tausend Plateaus. S. 337.
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schaftliche Gefüge ist jedoch nicht nur die Instanz der Differenz, sondern auch Verursacher der Differenzen. Im Bezug auf den Zombie zeigt sich dies in der Zombiefizierung selbst. In einer offenen Narrativik können unterschiedliche Faktoren zur Zombiefizierung einer Gesellschaft führen. Das Werden des Zombies jedoch ist stets an ein apokalyptisches Szenario gebunden. Der Bezug der Zombieapokalypse orientiert sich dabei an realen Ängsten der Gesellschaft und ist – im Sinne Deleuzes und Guattaris – über die Jahrzehnte hinweg an immer neue, zeitgeschichtliche Ängste angeschlossen worden, die den zeitlichen Transversalien – einschneidenden Erfahrungen – entsprechen. „Durch Krieg, Hungersnöte und Epidemien verbreiten sich Werwölfe und Vampire.“225 Aber auch von nuklearen Katastrophen, Umweltverschmutzungen oder außerirdischen Einflüssen bedingte Zusammenbrüche sind möglich, ebenso wie die Schrecken des Terrors oder die eines moralbefreiten Turbokapitalismus. Zunächst durch den Konsens einer breiten Masse getragen, können sich unterschiedlichste Machtbereiche plötzlich gegen die – scheinbar unbeteiligten – Individuen wenden. In Jelineks Texten ist dies etwa in „Die Kontrakte des Kaufmanns“ gut ersichtlich. Noch vor der globalen Finanzkrise entwirft das Drama eine Welt, in der sich das Kapital über den Menschen erhebt. Befreit von zockenden Menschen hat sich das Geld verselbstständigt und führt ein untotes Dasein. Jelineks Text kehrt die Virtualität der Märkte in ein Lebendig-Werden um, etwa wenn das Geld „lebt“226, „wandert“227 oder „reist“228. Das Geld übernimmt das Leben von den Menschen, während der Mensch leblos als ein „Habenichts“229 und „Niemand“230 zurückbleibt. Mag dies alles zunächst rein negativ konnotiert erscheinen, so inkludiert das Werden doch ebenfalls klar positive Aspekte: „Das Werden ist involtiv, die Involution ist schöpferisch. Regredieren bedeutet, sich zum weniger Differenzierten zu bewegen. Involution bedeutet dagegen, daß ein Block gebildet
225 Deleuze und Guattari: Tausend Plateaus. S. 331. 226 Elfriede Jelinek: Kontrakte des Kaufmanns. Eine Wirtschaftskomödie, in: dies.: Drei Theaterstücke. Die Kontrakte des Kaufmanns, Rechnitz (der Würgeengel), Über Tiere, 1. Auflage, Hamburg 2009, S. 207-349, hier: S. 251. 227 Jelinek: Kontrakte des Kaufmanns. S.272, 303f. 228 Jelinek: Kontrakte des Kaufmanns. S. 251, 262. 229 Jelinek: Kontrakte des Kaufmanns. S. 259. 230 Ebd.
96 | D IE Z ERSTÖRUNG DES I CHS wird, der sich an seiner eigenen Linie entlang bewegt, ‚zwischen‘ vorhandenen Termen 231
und unterhalb bestimmbarer Beziehungen.“
Wirkliche Impulse für eine Gesellschaft sind nur aus der Werden-Gruppe zu erwarten. Konsens innerhalb eines sozialen Gefüges verstehen Deleuze und Guattari als Regression, da der Konsens zwangsweise und unaufhörlich Differenzen minimiert und ausmerzt, was in der Folge zu akzeptierten bzw. ignorierten Ungerechtigkeiten innerhalb einer Gesellschaft führt. Werden-Gruppen dagegen sehen beide als involtiv an. Involution aber ist hier nicht etwa im Sinne einer Demenzerkrankung zu verstehen, bei der sich beispielsweise eine Rückbildung des Sprachvermögens beobachten lässt, und demgemäß als negativ anzusehen ist. Deleuze und Guattari betonen vielmehr den Verlust bekannter Lexeme und fester moralischer Inventare in der Kunst als Möglichkeit einer neuen, ausgegliederten Bedeutungshoheit, vorbei an gesellschaftlichen Normen, die sich – wie immer wieder betont – in der Findung eines neuen Sprachgebrauchs als eher hinderlich erweisen. Auch hiermit akzentuieren die beiden Denker also die Verwobenheit und gleichzeitige Abspaltung gegenüber der Kerngruppe. Die Externalität, also die ursprüngliche Kerngruppe, aus der die Individuen des Werdens durch Ausschließung hervorgehen, überträgt auch ihre verborgenen Sehnsüchte auf die Werdungsgruppe. Erst in ihr finden geheime Wünsche eine sichtbare Ausprägung. Die vermeintliche Versuchung ist aber nichts weiter, als ein bereits vorhandener Reiz, bedenkt man, dass die Werden-Gruppe unfähig ist, Impulse aus sich selbst heraus zu schaffen. Die Raserei des Untoten, sein unstillbarer Hunger ist demnach nur die extreme Ausformung unterschwelliger Gelüste, die durch moralische Formeln unterdrückt werden. Der dämonisierte Reiz erzeugt erst den Dämon.232 Voreilig im Masochismus Erikas aus „Die Klavierspielerin“ also eine Krankheit oder gar Perversion zu sehen, würde die gesellschaftskritische Komponente verkürzen. Vielmehr spiegelt ihre vermeintliche Perversion die Unmöglichkeit einer genuin weiblichen Sexualität wieder. In einer patriarchal heterose-
231 Deleuze und Guattari: Tausend Plateaus. S. 325. 232 In der Ausschließung des verbotenen Reizes, der zur Kontrolle des Diskurses aus einem Innen heraus funktioniert, finden sich auch Analogien sowohl zu den Thesen René Girards, als auch zu Michel Foucault. Vgl. hierzu: Girard: Das Heilige und die Gewalt. – Foucault: Überwachen und Strafen. S. 295-297. – Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, übers. von Ulrich Köppen, 15. Auflage, Frankfurt a. M. 2003, insbesondere: S. 6870.
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xuell bestimmten Matrix, flüchtet sie sich der – Logik von Deleuze und Guattari folgend – also in ein Frau-Werden.233 Die Ausgeschlossenen spiegeln allein vorhandene, doch unterdrückte Begierden einer Gesellschaft wider, weshalb das Werden einer Begehrensstruktur entspricht.234 Wie ein Virus ist das Werden bereits in jedem Individuum angelegt. Ob es ausbricht und zu einer Verwandlung führt, wird jedoch, wie eben beschrieben, erst durch eine Kerngruppe bestimmt, in der sich das Individuum befindet. Der Dissens mit einer heterogenen Gruppe kann vom Geschlecht, der sexuellen Orientierung, der religiösen Überzeugung, aber auch von ganz banalen äußeren Faktoren ausgelöst werden. Beginnend mit der Stigmatisierung einzelner Faktoren des eigenen Seins werden diese für das Individuum oftmals erst ersichtlich: „Vor allem vollzieht sich das Werden nicht in der Phantasie, auch wenn die Phantasie, wie bei Jung oder Bachelard, ein sehr hohes kosmisches oder dynamisches Niveau erreicht. Die Arten des Tier-Werdens sind weder Träume noch Phantasmen. Sie sind durch und durch real. Aber um was für eine Realität handelt es sich dabei? Denn wenn das TierWerden nicht darin besteht, ein Tier zu spielen oder nachzuahmen, dann ist es auch klar,
233 Deleuze und Guattari betonen sogar, dass der Logozentrismus des Abendlandes gleichzusetzen sei mit einem Phallogozentrismus. Zur Möglichkeit des Werdens speziell in gendertheoretischen Perspektiven siehe: Gabriel Kuhn: Der Phallus, in: ders.: Tier-Werden, Schwarz-Werden, Frau-Werden. Eine Einführung in die politische Philosophie des Poststrukturalismus, 1. Auflage, Münster 2005, S. 42-44. 234 „In gewisser Weise muß man am Ende anfangen: alle Arten des Werdens sind schon molekular. Weil Werden nicht bedeutet, etwas oder jemanden zu imitieren oder sich mit ihm zu identifizieren. Es bedeutet auch nicht, formale Beziehungen einander anzugleichen. Keine der beiden Analogieformen entspricht dem Werden, weder die Imitation eines Subjekts noch die Proportionalität einer Form. Werden heißt, ausgehen von Formen, die man hat, vom Subjekt, das man ist, von Organen, die man besitzt, oder von Funktionen, die man erfüllt, Partikel herauszulösen, zwischen denen man Beziehungen von Bewegung und Ruhe, Schnelligkeit und Langsamkeit herstellt, die dem, was man wird und wodurch man wird, am nächsten sind. In diesem Sinne ist das Werden der Prozeß des Begehrens. Dieses Prinzip der Nähe oder der Annäherung ist ganz eigentümlich und hat nichts mit einer wie auch immer gearteten Analogie zu tun. Es verweist so strikt wie nur möglich auf eine Zone der Nachbarschaft oder der Kopräsenz eines Partikels, auf die Bewegung, in die jeder Partikel gerät, wenn er sich in dieser Zone befindet.“ Deleuze und Guattari: Tausend Plateaus. S. 371.
98 | D IE Z ERSTÖRUNG DES I CHS daß der Mensch nicht ‚wirklich‘ zum Tier wird und daß das Tier auch nicht ‚wirklich‘ zu 235
etwas anderem wird. Das Werden produziert nichts als sich selber.“
Dabei sollen bestehende soziale Systeme nicht zerstört, sondern um alternative Denkweisen bereichert werden. Da das von Deleuze angestrebte Sprechen zwar dem Sprechen einer Minorität, aber somit immer noch einer Gruppe zugehörig ist, soll die verwendete Sprache nicht im einzelnen Subjekt verharren, sondern sich auf eine Vielheit verteilen, was sich etwa in der Verwendung des unbestimmten Artikels widerspiegelt. Dieser unbestimmte Artikel soll die Etablierung einer neuen Möglichkeit anzeigen und nicht falsch verstanden werden als Einführung eines neuen Systems, das in letzter Instanz nur wieder zur Norm werden würde.
235 Deleuze und Guattari: Tausend Plateaus. S. 324.
Kafka-Werden Dein Kerker bist Du selbst, die Welt, die hält dich nicht, Du selber bist die Welt, die Dich in Dir mit Dir so stark gefangen hält. ANGELUS SILESIUS
All diese Ansprüche sieht Deleuze im Werk Kafkas verwirklicht, das eine Fülle an Verwandlungen/Werdungen aufweist. In seiner viel beachteten KafkaInterpretation bemerkt Deleuze: „Was Kafka interessiert, ist ein intensiver klanglicher Rohstoff, der sich tendenziell selber aufhebt, ein deterritorialisierter musikalischer Klang, ein Schrei, der sich ebenso der Bedeutung entzieht wie der Komposition, der Melodie und dem Wort, eine Klanglichkeit im Bruch, im Bestreben, sich von einer noch viel zu signifikanten Fessel zu lösen. Im Klang 236
zählt allein die Intensität, die in der Regel monoton und a-signifikant ist […].“
Deleuze führt hierfür Beispiele aus „Der Prozeß“, „Josefine, die Sängerin, oder Das Volk der Mäuse“ und „Bericht für eine Akademie“ an, doch auch in einem der kryptischsten Texte Kafkas, „Die Sorge des Hausvaters“, können dieselben Denkansätze aufgefunden werden. Hier heißt es zu Beginn des Textes: „Die einen sagen, das Wort Odradek stamme aus dem Slawischen, und sie suchen auf Grund dessen die Bildung des Wortes nachzuweisen. Andere wieder meinen, es stamme aus dem Deutschen, vom Slawischen sei es nur beeinflußt. Die Unsicherheit beider Deu-
236 Deleuze: Kafka. S. 11.
100 | D IE Z ERSTÖRUNG DES I CHS tungen aber läßt wohl mit Recht darauf schließen, daß keine zutrifft, zumal man auch mit 237
keiner von ihnen einen Sinn des Wortes finden kann.“
Der Neologismus Odradek entzieht sich jeglicher Charakterisierung. Spöttisch erteilt Kafka wissenschaftlichen Erklärungsversuchen eine Abfuhr. Im Falle des Odradeks hilft kein etymologisches Wörterbuch, um zum Verständnis der Vokabel beizutragen. Im Deleuzeianischen Sinne ist das Odradek also die perfekte Versinnbildlichung einer Deterritorialisierung, die sich der Bedeutung entzieht.238 Im weiteren Verlauf des Textes wird dem Leser bewusst gemacht, dass auch das Äußere Odradeks sich jeglichem Deutungsansatz widersetzt. Kafkas Analogien, die er besonders zum Ende des Textes immer wieder verwendet, kennzeichnen Odradek, bestimmen ihn zeitgleich jedoch nicht und bleiben unklar. Ein Umstand, auf den auch Žižek verweist, wenn er auf Milner rekurriert:239 „Odradek hat zwei Beine, er spricht, lacht … kurz, er läßt alle Merkmale eines menschlichen Wesens erkennen. Doch obwohl er menschlich ist, ähnelt er keinem menschlichen 240
Wesen, sondern macht einen eindeutig nicht-menschlichen Eindruck.“
Nur scheinbar ist Odradek Mensch. Denn legt die Formulierung „wie ein Kind“ noch nahe, das Odradek menschlich sei, lässt unmittelbar darauf die Definition „wie man es nur ohne Lungen hervorbringen kann“ den Schluss zu, dass es sich bei dem Odradek um eine Maschine handeln könnte. Die nur scheinbaren Erklärungen „wie das Rascheln in gefallenen Bäumen“ und „wie das Holz, das er zu
237 Franz Kafka: Die Sorge des Hausvaters, in: ders.: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe, Hrsg. von Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch, Gerhard Naumann, Frankfurt a. M. 1996, S. 282-284, hier: S. 282. 238 Freilich gibt es trotzdem mehrere Studien, die sich mit der Wortbedeutung von Odradek auseinandersetzen. Siehe hierzu i. A.: Wilhelm Emmrich: Franz Kafka. Bonn 1957, S. 93. – Gerd Backenköhler: Neues zum „Sorgenkind, Odradek“, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie 89 (1970), S. 269-273. – Hana Arie-Gaifman: Milena, Odradek, Samsa. Zur tschechischen Etymologie bei Kafka, in: GermanischRomanische Monatsschrift41, Heidelberg 1991, S. 96-100. 239 Jean-Claude Milner: Odradek, la bobine de scandale, in: ders.: Eludication 10, Paris 2004, S. 93-96. 240 Slavoj Žižek: Die politische Suspension des Ethischen, übers. von Jens Hagestedt, 1. Auflage Frankfurt a. M. 2005, S. 58.
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sein scheint“ jedoch verweisen auf ein Element oder zumindest auf ein florales Lebewesen. Zu einer ähnlichen Stelle im Werk Kafkas merkt Deleuze an: „Wir befinden uns nicht mehr in der Situation einer gewöhnlichen, reichen Sprache, in der zum Beispiel das Wort ‚Hund‘ ein Tier designiert und sich metaphorisch auf anderes an241
wenden läßt (von dem man dann sagt, es sei ‚wie ein Hund‘).“
Odradek ist nicht deshalb unbestimmbar, weil ihm keinerlei Beschreibungen zugewiesen werden. Odradek ist vielmehr überdeterminiert und diese Überfülle an Möglichkeiten verhindert jegliche finale Aussage über ihn/es. Die Sprachkrise, die sich hier bei Kafka zeigt, ist als universelle Krise zu verstehen. Sowohl Signifikant als auch Signifikat sind betroffen, weshalb der eine auch nicht mehr auf das andere zu verweisen vermag. Die Sprache verliert also ihre repräsentative Form. Anstelle einer Metapher, von der zu reden nicht mehr möglich erscheint, schlägt Deleuze deshalb den Begriff der Metamorphose vor. Denn: „Die Metamorphose – das heißt die Verwandlung – ist das Gegenteil der Metapher. Es gibt keinerlei Sinn mehr, weder primären noch übertragenen, es gibt nur noch Verteilung von Zuständen über das aufgefächerte Wort. […] Es geht um ein Werden, das, ganz im Gegenteil, die größtmögliche Differenz umfaßt, die Intensitätsdifferenz, das Überschreiten einer Schwelle, Aufstieg oder Fall, Niedergang oder Erhebung, Wortbetonung. Das Tier spricht nicht ‚wie‘ ein Mensch, sondern schält bedeutungslose Tonalitäten aus der Sprache heraus; auch die Worte sind nicht ‚wie‘ Tiere, sondern klettern empor, bellen oder wimmeln in ihrer Eigenschaft als Sprachhunde, Sprachinsekten oder Sprachmäuse. Die Sequenzen vibrieren, das Wort öffnet sich unerhörten inneren Intensitäten, kurzum, die 242
Sprache wird asignifikant, also intensiv benutzt.“
Deleuze spricht dem Wort bei Kafka die klassisch de Saussuresche Repräsentationsfunktion ab, die er durch die Aufgabe der Metapher zugunsten einer Etablierung der Metamorphose/der kafkaesken Verwandlung bestätigt sieht. Der Zeichenkosmos ist somit nicht weiter der (unsichtbare) Träger von Sinnstrukturen und somit eines sozi-kulturellen Netzes, in dem sich das Individuum bewegt. Auch steht in Frage, wie das Zeichen in diesem Zusammenhang überhaupt noch bezeichnen kann, da in den Erzählungen Kafkas, maßgeblich den VerwandlungsTexten gängige Dichotomien wie Tier-Mensch verloren gehen. Konnotat und
241 Deleuze: Kafka. S. 32. 242 Ebd.
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Denotat büßen deshalb zwar ihre klaren Bedeutungsebenen ein, sie verlieren sich aber nicht in Bedeutungslosigkeit. An die entstehende Leerstelle rückt in Deleuzes Logik vielmehr die Intensitätsdifferenz, unter der die Auflösung starrer Wortbedeutungen zu Gunsten einer neuen, d. h. unerhörten Signifikantenkette zu verstehen ist. In der Öffnung des Wortes ist die Möglichkeit gegeben, einen klar konnotierten Charakter der Sprache zu verlassen, um neue Bedeutungsebenen des zum Phonem verfallenen Wortes zu erforschen. Durch das Verlassen klarer Zuweisungen des Sprechens erlangt der Signifikant somit zwar eine A-Signifikanz, die jedoch zur Intensivierung des Zeichens führt oder besser dessen feste Bedeutung in eine Mannigfaltigkeit rück-überführt, weil sich infolgedessen auch die artifizielle Setzung der Konnotationsebene auflöst und das Wort in all seinen Facetten erscheint. Dadurch kann das Odradek lebendig und zugleich tot sein, Mensch und Tier, Subjekt und Objekt. Erweist sich eine Analyse des Odradek also als Reflektion über Signifikate und Signifikantenstörung, so bleibt oft die zweite und zugleich titelgebende Person wenig beachtet. Die Aufgabe eines Hausvaters, eine schon zu Lebzeiten Kafkas antiquierte Bezeichnung, ist zunächst die Leitung des Haushalts. Der Hausvater ist der Garant für Ordnung und Kontinuität und gleichzeitig derjenige, der jedem Ding seinen Platz im Gefüge zuordnet. In der abgeschlossenen Sphäre eines Haushalts ist er die ordnende Instanz. Die Sorge des Hausvaters ist folglich die Unordnung. Eben jene Unordnung aber verursacht der/das Odradek. Er bildet die irritierende Lücke, in der ansonsten geordneten Welt des Hauses, jener kleinsten, sozialen Einheit. Das Odradek, wie Kafka es uns beschreibt, ist eine Figur der scheinbaren Unvereinbarkeiten. Er ist eine Figur des Sowohl-als-auch, gekennzeichnet durch ein Zuviel der Zuschreibungen, die in ihrer Inkohärenz mehr Fragen, als Antworten geben und das Odradek sowohl vor jeglicher Analyse als auch vor der Einordnung durch den Hausvater bewahrt. Sich jeglicher Bestimmung entziehend wird das Odradek schließlich selbst zum Bestimmer des vermeintlichen Forschers. Jäh die unpersönliche Sprechweise verlassend, fokussiert sich Kafkas Text auf das Ich, also den Hausvater selbst. Eine wichtige Wendung der Erzählebene, zu der Žižek anmerkt: „Die abschließenden Worte des Vaters in Kafkas Erzählung von Odradek (‚die Vorstellung, daß er mich auch noch überleben sollte, ist mir fast eine schmerzliche‘) sind ein Nachhall der Schlußworte des Prozesses (‚als sollte die Scham ihn überleben‘): Odradek 243
ist in der Tat die Scham des Familienvaters (des Erzählers der Geschichte).“
243 Žižek: Politische Suspension. S. 65.
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Denn auf den Hausvater beziehen sich nun die Fragen und machen aus dem Fragenden den Befragten. Das Odradek, in all seiner Unbestimmtheit führt dem sprechenden Ich schließlich seine eigene Endlichkeit vor. Es löst, dadurch, dass es ein Unbehagen an den Zeichen verursacht, nach Deleuze die Intensitätsdifferenz aus, die es erst möglich macht, sowohl das Ordnungsnetz der Signifikantenwelt, in dem sich auch der Hausvater bewegt, zu erkennen, als auch die Endlichkeit des in ihm befindlichen Subjekts, das sich in den Bahnen dieses sprachlichen Gefüges bewegt. Das Odradek wird zur Störung im virtuellen Netz der Signifikantenrealität und führt dem Hausvater dessen artifiziellen Charakter genauso vor wie auch die Endlichkeit des eigenen Seins. Doch ist das Odradek allein nur ein Auslöser und kein Erschaffer. In Analogie zu den Thesen Deleuzes und Guattaris hat das Odradek keinerlei eigene Schaffenskraft, sondern zeigt nur bereits Vorhandenes auf, das allerdings bis zu seinem Auftreten verborgen war. Auch das Schicksal Gregor Samsas hat sich, klammert man den eigentlichen Verwandlungsakt in ein Insekt aus, eigentlich nicht verändert, sondern nur potenziert. Die latent vorhandenen beruflichen Probleme und die Konflikte innerhalb seiner Familie sind nach der Verwandlung nur unverkennbarer ersichtlich. Auffallend an Kafkas Verwandlungen sind überdies die Tiergruppen, zu welcher seine Protagonisten sich verwandeln oder die diesen begegnen. Denn nicht rein zufällig handelt es sich hierbei um Mäuse, Schakale oder Käfer. In der Aufteilung einzelner Tiergruppen ordnen Deleuze und Guattari eben jene Tiere in die Gruppe der dämonisch wahrgenommenen ein: „Man müßte sogar drei Arten von Tieren unterscheiden. Zunächst die vereinzelten, gefühlsmäßig besetzten Haustiere, die ödipalen Tiere […]. Dann gibt es eine zweite Art von Tieren, Tiere mit einer Eigenschaft oder einem Attribut, die Gattungs-, Klassifikationsoder Staats-Tiere, so wie die großen Göttermythen sie behandeln, um aus ihnen Serien oder Strukturen, Archetypen oder Modelle zu beziehen (Jung geht allerdings doch tiefer als Freud). Und schließlich gibt es Tiere, die vor allem dämonisch sind, Tiere in Meuten und 244
mit Affekten, die eine Mannigfaltigkeit bilden, Werden, Population, Märchen …“
Kafkas Figuren des Tier-Werden erfüllen den in „Tausend Plateaus“ erhobenen Anspruch, weder eine mythologische Vorbedeutung innezuhaben, noch den Haustieren zugehörig zu sein. Doch obwohl die Werdungs-Tiere zumeist in Scharen auftreten, erscheinen sie in seinen Texten meist vereinzelt. In besonderer Weise begegnet dieser Umstand dem Leser in „Bericht für eine Akademie“, in welchem der verwandelte oder menschlich gewordene Affe dennoch äußerlich
244 Deleuze und Guattari: Tausend Plateaus. S. 328.
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ein Affe bleibt und sich weder der einen noch der anderen Gruppe zugehörig fühlt. Dabei steht dem sich verwandelnden Individuum – der Figur des Werdens – immer wieder in Kafkas Texten eine (oft anonyme) Gemeinschaft gegenüber, wie die Zuschauer dem Hungerkünstler, das Gesetz vor K., das soziale Umfeld Gregor Samsa oder eben Rotpeter die Zivilisation. In den Verwandlungen seiner Protagonisten erreicht der Text eine Aufspaltung der Konotat-Denotat-Dichotomie, die auch zu einer Sichtbar-Werdung des verwandelten Gegenübers und seiner sozialen Sphäre führt. Deshalb ist in den Verwandlungen weniger eine gescheiterte Assimilation auszumachen, als vielmehr das Scheitern des Assimilierungsanspruches zu erkennen. In seiner artifiziellen Setzung wird der Verwandelte das dämonische Zeichen einer normativen Gesellschaftsstruktur, die ihrerseits ihren artifiziellen und normativen Charakter offenbart. Erst in der Verwandlung, also einer phantastischen Fluchtstrategie wird ein Unbehagen an den Zeichen ersichtlich. Am opaken Körper des Verwandelten zeichnet sich das artifizielle Moment der Mehrheitsgesellschaft ab. Kafka führt dem Leser Individuen vor, die unter einem enormen gesellschaftlichen Druck stehen. Rotpeters Assimilierung an die menschliche Welt, der zu erbringende Echtheitsbeweis des Hungerkünstlers in einer sich verändernden Zeit, familiärer wie auch beruflicher Druck auf Gregor Samsa sind die vielfältigen Diskurse desselben Dispositivs. Auf den gesellschaftlichen Druck, der an die Individuen herangetragen wird, reagieren Kafkas Figuren mit einer Werdung. Es ist dies eine Sichtbar-Werdung gesellschaftlicher Missstände, die ein aufbegehrendes Subjekt als ostentatives Zeichen hervorbringen, welches sich der Mechanismen der Phantastik bedient. Die Verwandlung wird zur Fluchtlinie aus einer homogenen Gesellschaft, der Flüchtende zum sichtbaren Zeichen sozialer Mängel. Allein es scheint, als ob dies alles Einzelschicksale wären und ein epidemisches Moment nicht vorhanden sei. Doch wenn auch Kafkas Verwandlungen sich nicht in der Bildung von Meuten anzeigen, so weisen sie doch einen epidemischen Charakter auf – nämlich in der wechselseitigen Verwandlung der Figuren. Die Meute ist im Falle Kafkas demnach nicht das Tier-WerdungsIndividuum, sondern das soziale Gefüge, dem sich das Tier gegenübergestellt sieht. Erst im Chitinpanzer von Gregor Samsa leuchtet die unterschwellige Gier seiner Familie auf. Kafkas Texte weisen somit einen Werdungsprozess im Sinne der „Tausend Plateaus“ auf, der sich bei genauerer Betrachtung weniger im Verwandelten selbst finden lässt – sein Schicksal bleibt sogar erschreckend unverändert – als vielmehr in dem ihn umgebenden gesellschaftlichen Gefüge, das letztlich auch als Auslöser des Werdens verstanden werden muss. Die Lesart einer Verwandlung als Werden, lässt sich auch in den Texten und Figuren Elfriede Jelineks wieder finden. In ihren Prozessen des Werdens ver-
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wandeln sich die Figuren jedoch erstens in radikalere Formen, die mehr der Phantastik, als dem Märchen oder der Fabel zugehörig sind, und zweitens wird bei Jelinek auch die Idee der Meute explizit thematisiert, die bei Kafka noch im vereinzelten Werden-Individuum verharrt und ihr infektiöses Moment im Außen findet. Obwohl bereits darauf hingewiesen wurde, dass Jelineks 1987 publiziertes Drama „Krankheit oder Moderne Frauen“ hierbei als paradigmatische Wende verstanden werden kann, ist das Auftreten phantastischer Figuren keine Neuerung speziell dieses Dramas. Schon in den frühesten Texten Jelineks tauchten Vampire auf. Neu ist auch nicht die Narrativik einer eigentümlichen Gleichzeitigkeit von Stille und wahren Sprechflüssen im Jelinekschen Œuvre. Schon bei einer oberflächlichen Betrachtung fällt auf, dass immer wieder Wortkaskaden konterkariert werden mit Schweigen. In den nicht phantastischen Texten aber war es ein Verstummen aus Duldsamkeit, Angst oder Resignation, das vorgeführt wurde. Doch mit dem erneuten Auftauchen von Vampirinnen und Untoten245 wird das Schweigen als klassisches Narrativ einzelner Phantasiewesen gekoppelt an den Versuch einer gesellschaftlichen Neuordnung des Werdens und führt zu einem Paradigmenwechsel. Zum genaueren Verständnis soll nun näher ausgeführt werden, welche Lesart die Thematisierung der Phantastik im Werk Jelineks bietet und wie das Schweigen als subversive Taktik begriffen werden kann. Deleuzes und Guattaris Theorie des Werdens soll hierbei ebenso wie Lacans Sprachtheorie das Moment der Macht in der subjektkonstituierenden Funktion der Sprache erhellen, das auch Jelinek in ihren Texten als den eigentlichen Verursacher von Ungerechtigkeiten und Unterdrückungen thematisiert. Somit kann auch dem oft zitierten und langsam zur geronnenen Idee gewordenen Feminismus in Jelineks Texten ein modernes Moment zurückgegeben und dessen subversives Potential aufgezeigt werden.
245 Schon die frühesten Texte Jelineks bedienen sich am Repertoire der Phantastik, wie etwa dem Vampir. Vgl.: Elfriede Jelinek: DER FREMDE! Störenfried der ruhe eines sommerabends der ruhe eines friedhofs, in: Peter Handke (Hrsg.): Der gewöhnliche Schrecken. Horrorgeschichten, Stuttgart 1969, S. 149-163.
Das subversive Moment des Schweigens Les beaux livres sont écrits dans une sorte de langue étrangère. MARCEL PROUST
Nach Jacques Lacan ist Sprache das bestimmende Moment der conditio humana. In einem Raum, der als Kollektivphantasma verstanden werden kann, erfährt das einzelne Subjekt sein Dasein durch den Anderen, indem es sich selbst in ihm spiegelt. Es ist dies der Ort der Sprache, des Zeichens und der Namen, in dem die Einzelindividuen interagieren und anfangen zu sein. Lacan, der wie Cassirer, Heidegger oder Nietzsche den Menschen als einen Homo symbolicus begreift, verweist aber auch auf die Grenzen des Zeichenhaften. In Relektüre Freuds bestimmt Lacan die drei Register des Ichs neu und verweist zugleich auf die Gefahr des Undarstellbaren. Denn erkennt das Subjekt den künstlichen Raum, den es sich mittels der Symbole und Zeichen geschaffen hat, erfährt das Individuum den irreduziblen Anteil seiner Existenz als Angst. Der Einbruch dieser Angst ist das, was Lacan als das Reale (le réel) bezeichnet. Das Reale markiert somit die Grenzen des Darstellbaren. Ihm gegenübergestellt ist die alltägliche Rede. In seiner „Rede von Rom“246 erinnert Lacan an den französischen Dichter Stéphane Mallarmé, der den alltäglichen Gebrauch der Sprache mit dem Austausch einer alten, gebrauchten Münze gleichsetzt, „deren Vorder- und Rückseite nur noch abgegriffene Figuren tragen und die man sich ‚schweigend‘ von Hand
246 Jacques Lacan: Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse. Bericht auf dem Kongreß in Rom am 26. und 27. September 1953 im Instituto di Psicologia della Università Roma, in: ders.: Schriften I, hrsg. von Norbert Haas, übers. von Rodolphe Gasché, Norbert Haas, Klaus Laermann und Peter Stehlin unter Mitwirkung von Chantal Creusot, 4. durchgesehene Auflage, Weinheim/Berlin 1996, S. 71-169.
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zu Hand reicht“247. Die ursprüngliche Prägung ist nicht mehr zu erkennen. Auch der Wert des Geldstücks sowie die ursprüngliche Idee des Geldwechsels selbst gehen verloren. Das Geldstück wird auf ein reines Material reduziert, wird metallenes Objekt. Die symbolischen Kreisläufe des Geldtauschs, aber auch der Sprache, die bei Lacan maßgeblich auf der Ebene des Symbolischen funktioniert, ergehen sich in einem leeren Hin und Her.248 Das so entstehende leere Sprechen meint denn auch einen eigentlich stummen und blinden Austausch von Sprache, der die Wertigkeit des Tauschobjekts nicht zu fassen weiß: eine leere Sprache, bei der Worthülsen aneinandergereiht werden und Wörter ihres ursprünglichen Sinngehaltes beraubt wurden. Dieser wird überlagert von Signifikantenketten, die durch die Zeit und ständige Wiederholungen geschaffen wurden: „Man kann also sagen, dass der Sinn in der Signifikantenkette insistiert, dass aber nicht ein Element der Kette seine Konsistenz hat in der Bedeutung, deren es im Augenblick ge249
rade fähig ist.“
Als Gegenkonzept entwickelt Lacan seine Idee des vollen Sprechens. Die hohlen Signifikanten sollen hierbei gegen Bedeutungen ausgetauscht werden. Ziel ist das Wiedererlangen eines Ur-Signifikanten, also die Prägung der Sprachmünze wieder sichtbar zu machen: „Beim vollen Sprechen handelt es sich um die Wiederherstellung der Prägung [figure] der Münze, um die Wiederherstellung der originären Metaphorizität der durch das Wort geschaffenen Illusion.“
250
247 Lacan: Funktion und Feld. S. 89. Dieses Motiv findet sich auch im Seminar von 1953/54, S. 180 und S. 203 und in „Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten“. Lacan, S. 175 und S. 800f. Zitiert nach Dylan Evans. 248 Angedeutet ist hier auch die Freudsche Idee des hic et nunc. 249 Jacques Lacan: Das Drängen des Buchstaben im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud (1957), in: ders.: Schriften II., hrsg. von Norbert Haas und Hans-Joachim Metzger, Olten und Freiburg im Breisgau 1975, S. 15-55, hier: S. 27. 250 John Forrester: Truth Games. Lies, Money, and Psychoanalysis, Cambridge (Mass.) 1997, S. 142. Übersetzung folgt: Nicolas Langlitz: Lacans Praxis der variablen Sitzungsdauer und seine Theorie der Zeitlichkeit, Köln 2003.
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Die hier angesprochene Illusion ist der Irrglaube, dass Sprache Realität abbildet und beschreibt: ein Unterfangen, das zum Scheitern verurteilt sein muss. Der wahre Signifikant bleibt dem Sprechenden stets verborgen. Vielmehr geht Sprache in einen steten Diskurs ein, der – wenn wir im Bild der Sprachmünze bleiben – mit der Zeit eher die Prägung verwischt, als dass er ihre Konturen schärft. Immer weiter von seinem ursprünglichen Sinngehalt entfernt, büßt der Signifikant ihn schließlich vollständig ein. Sprache, wie abgegriffen sie uns auch erscheinen mag, ist im Umlauf und verliert bei starkem Gebrauch an Sinn. Lacan sieht im Sprechakt ein duales System walten. Die alltägliche Rede in Signifikantenketten wird als leeres Sprechen251 definiert. Historische Chiffren und systemische Einbindungen eines Signifikats bewusst zu erkennen hat ein volles Sprechen zur Folge. Ein Erzählmodell früher Jelinekscher Texte konfrontiert – meist weibliche – Figuren mit Situationen, die schier unerträglich auf sie selbst wirken, jedoch banalisiert werden von Seiten der meist männlichen, allerdings immer mächtigen Protagonisten.252 Die (weiblichen) Ängste negierend, sind es die bestimmenden (männlichen) Protagonisten – oft stehen sie in einer Koalition mit der Erzählerstimme der Prosatexte – die sich einer Sprache der abgegriffenen Redewendungen, Phrasen und Zitate aus der Werbe- und Fernsehsprache bedienen und somit noch immer den popkulturellen Impetus der frühen Jelinektexte tragen. „Ich sage dir jetzt etwas, das ich, außer im Fernsehen, noch nie zu einer Frau gesagt habe: Ich liebe dich, Emily. Mein Gott, was bin ich für eine tolle Hose!“253 In einer Sprache von Phrasen, die ein Geflecht von Unterdrückung und Entindividualisierung254 begünstigen, findet sich das zumeist weibliche Subjekt gefangen. Die scheinbaren Möglichkeiten werden ironisch als Scheinfreiheiten vorgeführt und können doch nicht über den Umstand hinwegtäuschen, dass sie männliche Machtkonstrukte sind. Frauen werden zur Biomasse, die im Laden zum Verkauf liegt:
251 Lacan: Funktion und Feld. S. 84f. 252 Zu denken wäre hier an Konstellationen, wie der von Erika Kohut und ihrer Mutter aus „Die Klavierspielerin“, aber auch an klar patriarchale Muster, wie in „Die Liebhaberinnen“. 253 Elfriede Jelinek: Krankheit oder Moderne Frauen, hrsg. von Regine Friedrich mit einem Nachwort von Ute Nyssen, in: dies.: Theaterstücke. 6. Auflage, Köln 2005, S. 191-285, hier: S. 196. 254 Als Referenzstelle hierfür ist beispielsweise an die Frauen in „Die Liebhaberinnen“ zu denken, die im Verlauf des Textes entindividualisiert und nur noch als Beispiele behandelt werden und dabei sogar ihren Namen einbüßen.
110 | D IE Z ERSTÖRUNG DES I CHS „der konsumladen ist die drehscheibe des natürlichen kreislaufs der natur […] in seiner einzigen auslagenscheibe spiegeln sich die aufmerksamen gesichter seiner verkäuferinnen, 255
die hier zusammengekommen sind, um auf die heirat und das leben zu warten.“
Natur und kapitalistische Kultur sind längst eins geworden. Und auch die vermeintlichen Verkäuferinnen erkennen für sich selbst nicht, dass sie die eigentlichen Waren sind. Der Dingcharakter der weiblichen Protagonistinnen wird durch Jelinek noch gesteigert, indem die Frauen als Ware für den Hochzeitsmarkt der Männer ausgestellt werden. Erst in der Annahme durch einen Mann gibt es ein Leben für die Frau. Doch bleibt auch diese Hoffnung auf ein Leben nur Wunschdenken. Die Männer in Jelineks Texten suchen mitnichten eine gleichgestellte Partnerin. Bei genauerer Betrachtung der Sprechanteile etwa innerhalb von „Die Liebhaberinnen“ fällt auf, dass die Männer den klar überwiegenden Anteil der wörtlichen Rede übernehmen, die Meinungen der Frauen jedoch meistens nur per Gedanken – und nochmals gefiltert – über die Erzählerinstanz vermittelt werden, wodurch eine direkte Rede der weiblichen Protagonisten fast gänzlich entfällt. Dialoge, die nur noch reduktiv vorkommen, wirken hingegen wie gegeneinandergerichtete Monologe: „außerdem liebt brigitte heinz, weil dieses gefühl in ihr ist, gegen das sie nicht ankommt. schluß. […] / ich werde es mir bis morgen überlegen, sagt heinz. so macht man das im modernen wirtschaftsleben, in welchem ich mich auskenne. / ich liebe dich so sehr, antwortet brigitte. morgen ist schon die zukunft, und die habe ich nicht. / mich hast du jeden256
falls auch nicht, sagt heinz. ich möchte daher nicht in deiner haut stecken.“
Ein klares Sender-Empfänger-Verhältnis scheint nicht zu bestehen. In der doppelten Reduktion von Sprachgebrauch und sprachlichem Inhalt konstituiert sich ein Primat des patriarchalen leeren Sprechens. Eine Steigerung des ohnehin stark redundanten Sprechens wird mittels eines invertierten Sprachverhaltens erreicht. In der menschlichen Sprache kann eine Kommunikation konstituiert werden, in welcher der Sender seine eigene Nachricht von sich selbst in invertierter Form erhält. Dieser schon von Freud benutzte, von Lacan jedoch stark modifizierte Begriff der Inversion bezeichnet eine neue Rückbezüglichkeit, in welcher die Sprache stehen kann.257 Mit jeder Aussage sendet das Individuum eine von ihm
255 Elfriede Jelinek: Die Liebhaberinnen. 26. Auflage, Hamburg 2004, S. 15. 256 Jelinek: Die Liebhaberinnen. S. 26. 257 Marlies Janz geht zwar in ihrem Aufsatz „Falsche Spiegel“ auf den Begriff der Inversion ein, sieht in den Metamorphosen der Frauenfiguren aber eine Pervertierung,
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gesetzte Wahrheit. Dieses besondere Sprachmodell Lacans braucht den Empfänger nicht mehr, denn in der Aussage des Senders ist bereits eine Antwort an das sendende Subjekt selbst gerichtet. Das Individuum verschafft also durch seine eigene Aussage eine Selbstbestätigung; im besten Falle noch mit der Bestätigung des angesprochenen Empfängers, der aber in Lacans Sprachmodell eines Egozentrismus eine eher untergeordnete Rolle spielt. Bei Jelinek erreicht das beschriebene invertierte Sprachmodell eine extreme Ausprägung. „Ich bin dein Mann“, die Aussage, auf die die beiden Liebhaberinnen Paula und Brigitte so sehnlich warten, heißt also für den Mann „Du bist meine Frau“ in seiner invertierten Form. Dabei unterstreicht Jelinek klar, dass ein inverses Sprechen als rein männliches Modell zu verstehen ist: „die weiblichen mittel sind untaugliche mittel, um etwas herbeizuschaffen. ich liebe meinen mann, sagt paula zu diesem manne und zum nächsten und zum übernächsten. […] es 258
ist eine prostitution, die paula da macht. paula ist eine hure.“
Die Sprache und das Bitten der Frauen bleiben unerhört und finden kein (sprachliches) Echo. Die weiblichen Versuche in der patriarchalen Machtstruktur eine liebenswerte Beziehung zu finden, verkommen zum menschlichen Fleischmarkt, der aus Paula eine „Hure“ macht. Der Mann bestimmt somit nicht nur den Status der Frau und ihr Verhältnis zu ihm, sondern verortet sich darüber hinaus selbst in seiner Machtposition. Die Frau wird nur als blinder Spiegel ohne autonome Spiegelungskraft genutzt, also ohne sie als eigenständiges Individuum zu sehen. Das sprechende männliche Ich sieht in diesem Beispiel nur sich selbst.259 Was das weibliche Individuum ist, wird mittels der männlichen Sprache bestimmt. „mama, wie brigitte jetzt heißt“260 ist dabei nur ein Beispiel, wie der Mann in Je-
ohne eine „positive Neubestimmung des Weiblichen und der Frau herzustellen“. Die Möglichkeit einer Umschreibung von gegebenen Weiblichkeitsbildern wird von Janz negiert. Marlies Janz: Falsche Spiegel. Über die Umkehrung als Verfahren bei Elfriede Jelinek, in: Christa Gürtler (Hrsg.): Gegen den schönen Schein. Frankfurt a. M. 1990, S. 81-97, hier: S. 82. 258 Jelinek: Krankheit. S. 152. 259 Erwähnenswert hierbei ist die Nähe der Inversion zu Lacans Idee des Spiegelstadiums. In der Funktion der Ich-Ausbildung befinden sich beide Lacanschen Termini im Bereich des Imaginären. Siehe hierzu: Jacques Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint, in: ders.: Schriften I, S. 61-70. 260 Jelinek: Krankheit. S. 149.
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lineks Text der Frau die Rolle vorschreibt, die sie zu erfüllen hat. Er ist es, dem die Macht der Namen und der Sprache zu eigen ist und der somit Macht ausüben kann, denn das Individuum lebt nicht mit Sprache, sondern durch sie und in ihr.261 Sprache ist also im Sinne Lacans das konstitutive Moment des menschlichen Daseins, denn: „Das Unbewusste ist wie eine Sprache strukturiert.“262 Diese existentielle Verwobenheit des Subjekts in Sprache ist entscheidend, möchte man originäre Denkmodelle Lacans in ihrer ganzen Tragweite verstehen. Denn die „[…] Funktion der Sprache ist nicht zu informieren, sondern zu evozieren. Was ich im Wort suche, ist die Antwort des Anderen. Was mich als Subjekt konstituiert, ist meine Frage.“263 Wie aber schon anhand des nur kurz umrissenen Sprachmodells der Inversion ersichtlich ist, sind Sprache und menschliche Kommunikation nicht unproblematisch oder gar ungefährlich. Denn ein invertierend sprechender Mensch negiert gleichzeitig sein Gegenüber, welches er nur noch als machtlosen Spiegel braucht, indem er ihm jegliches eigenständiges Leben versagt. Sprache wird somit zum Unterdrückungsmechanismus, degradiert das Gegenüber zum Objekt. Denn das so ausgebildete Ich des invertierten Sprechens ist nichts als ein Konstrukt. In imaginärer Verkennung gefangen, werden die sprachlich vermittelten Machtstrukturen verschleiert. Somit ist es erst die männliche Sprache in Jelineks Texten, welche die unterdrückte Frau schafft und nicht nur eine unterdrückende Situation.264 Dabei kön-
261 Vgl. hierzu auch: Walter Benjamin: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, in: ders.: Sprache und Geschichte. Philosophische Essays, ausgewählt von Rolf Tiedemann mit einem Essay von Theodor W. Adorno, Stuttgart 1992. S. 30-49. 262 Jacques Lacan: Die vier Grundbegriffe. S. 26 263 Jacques Lacan: Funktion und Feld. S. 133. 264 Hierbei ist auch an Hegels Dialektik einer klassischen Herr-Knecht-Konstellation zu denken, die aber im Jelinekschen Text auch durch ein devotes Beantworten und Anerkennen seitens der Frauen begünstigt wird. In seiner „Phänomenologie“ sieht Hegel zunächst nur zwei Möglichkeiten der Subjektkonstitution: entweder die Anerkennung des Einen als Herren und damit die Knechtschaft für den Anderen oder bei Nicht-Anerkennung des Herren-Anspruchs, das Aufkommen von Gewalt. Hegels Thesen müssen dabei nicht im Sinne des Klassenkampfs gelesen werden. Zur HerrKnecht-Thematik bei Elfriede Jelinek siehe auch: Matthias Luserke: Ästhetik des Obszönen. Elfriede Jelineks „Lust“ als Protokoll einer Mikroskopie des Patriarchats, in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Text + Kritik, Heft 117, Elfriede Jelinek, 2. erweiterte Auflage, August 1999 München, S. 92-99, besonders S. 93ff.
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nen diverse Oppositionspaare zur Setzung eines entscheidenden Antagonismus dienen, wie etwa Jung versus Alt, Reich versus Arm. Jelinek besetzt diesen Anerkennungskampf (in der Sprache) jedoch meist mit der Opposition Männlich versus Weiblich. In den Thesen von Deleuze und Guattari bildet der männliche Teil der Gesellschaft also den homogenen Part aus, der weibliche wird zum heterogenen Teil. Das männliche Individuum hat somit die Möglichkeit, sich selbst als Ich zu verstehen, während das Ich des weiblichen Individuums bei Jelinek erst durch den Mann ausgebildet wird: „brigitte hofft, daß sie einmal durch heirat und kindsgeburt ausscheiden wird. brigitte hofft, daß heinz sie hier herausholen wird. alles andre wäre ihr tod, auch wenn sie am leben bleibt. […] büstenhalternähen ohne heinz bedeutet jetzt schon lebensende. […] heinz soll die geschichte von brigitte werden, er soll ihr ein eigenes leben machen, dann soll er ihr ein kind machen, dessen zukunft wiederum von heinz und seinem beruf geprägt sein wird.“
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Die Existenz ohne Mann zwischen Leben und Tod zu verharren, ist hier noch als Gefahr zu verstehen, der es zu entkommen gilt. Die weiblichen Hoffnungen, sich mittels des Mannes ein eigenes Ich auszubilden – wie es sich als Möglichkeit in diesem Text noch andeutet –, müssen allerdings scheitern. Hoffnungsschimmer, etwa die Aussicht auf eine Heirat, werden von Jelinek mit ätzender Häme negiert: „in paula klingt ein lied, aber sehr schwach. […] keine seifenlauge, sondern eine schöne blumenhaube. keine aborte, sondern eine gute hochzeitstorte. kein toter embryo klein, sondern ein guter braten vom schwein. […] für paula ist eine welt zusammengebrochen, 266
was nichts macht, weil die welt sowieso in keinem stückchen paula jemals gehört hat.“
Der vermeintlich schönste Tag im Leben der jungen Frau löst sofort eine Assoziationskette in ihr aus, die ihr sowohl die (Menschen-)Opfer bewusst macht, die sie darbringen musste, als auch der Arbeitswelt, der sie zu entrinnen glaubt. Dabei markiert die Hochzeit nur den Beginn anderer männlicher Rollenzuweisungen, als Hausfrau, Mutter, Pflegerin der Alten etc. Das im Endreim im Paarreimschema gehaltene Gedicht unterstreicht in seiner einfachen Machart den naiven Glauben der jungen Frau, der gesellschaftlichen Ordnung mittels einer Heirat entkommen zu können. Der unbestimmte Erzähler hat für Paulas Schicksal eben-
265 Jelinek: Liebhaberinnen. S. 9f. 266 Jelinek: Liebhaberinnen. S. 97.
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so wenig Mitleid, wie das sie umgebende soziale Gefüge, das im Gebrauch des Diminutivs von „Stück“ noch die kleinste Hoffnung auf Glück verneint. Das männliche Ich und die gesellschaftliche Ordnung werden in Erweiterung als das man der Moderne im Jelinekschen Text gesetzt. Definiert Heidegger die Macht des man als Modus der alltäglichen Rede, der zunächst keine Wertung innewohnt, wird in „Die Liebhaberinnen“ die alltägliche Rede als regressiv sadistisch gegenüber weiblichen Bedürfnissen dargestellt. Die Mechanismen des man werden somit als patriarchale Struktur definiert, der gegenübergestellt die weibliche Entfremdung aufscheint. Die Modi des alltäglichen Sprechens als männliche Machtstruktur entlarvend, fokussiert der Text zudem die Übertragung der erlebten Welt in Signifikantenstrukturen. Denn in der Übertragung von Objekten in eine Signifikantenrealität ist immer auch ein Defizit-Modus zu konstatieren. Dies kann dazu gereichen, dass das eigene Selbst veräußert wird und in Jelineks Text zu einem feministisch geprägten Sujet wird. Besonders auffällig wird dieses Defizit in dem Wort man, wie es Heidegger konnotiert, beziehungsweise wie es bei Jelineks Text „Die Liebhaberinnen“ in Kategorien, wie etwa am beispiel paula Entsprechung findet: „Das Sein zu Anderen ist zwar ontologisch verschieden vom Sein zu vorhandenen Dingen. Das ‚andere‘ Seiende hat selbst die Seinsart des Daseins. Im Sein mit und zu Anderen liegt demnach ein Seinsverhältnis von Dasein zu Dasein. Dieses Verhältnis, möchte man sagen, ist aber doch schon konstitutiv für das je eigene Dasein, das von ihm selbst ein Seinsverständnis hat und so sich zu Dasein verhält. Das Seinsverhältnis zu Anderen wird dann zur Projektion des eigenen Seins zu sich selbst ‚in ein Anderes‘. Der Andere ist eine 267
Dublette des Selbst.“
Wird von Heidegger die Dublette nur als Modus des Daseins verstanden, wird dieser in Jelineks Text als Gefahr beschrieben. Der Titel „am beispiel paula“ oder die entindividualisierende Beschreibung von Brigitte als „teil vom heinzkörper“268 legen davon Zeugnis ab und setzen sich in klaren Kontrast zum männlichen Diskurs. Jene weibliche Biomasse, die nicht weiter individualisiert wird, tritt nicht in Aktion, sodass die Macht des mans sich noch frei entfalten kann. „In dieser Unauffälligkeit und Nichtfeststellbarkeit entfaltet das Man seine eigentliche Diktatur. Wir genießen und vergnügen uns, wie man genießt; wir lesen, sehen und urteilen
267 Heidegger: Sein und Zeit. S. 124. 268 Jelinek: Liebhaberinnen. S. 55.
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über Literatur und Kunst, wie man sieht und urteilt; wir ziehen uns aber auch vom ‚großen Haufen‘ zurück, wie man sich zurückzieht; wir finden ‚empörend‘, was man empörend findet. Das Man, das kein bestimmtes ist und das Alle, obzwar nicht als Summe, sind, 269
schreibt die Seinsart der Alltäglichkeit vor.“
Die Macht des man definiert die Rolle des weiblichen und des männlichen, die zwar alle Teil der Summe sind, deren Machtanteil am man jedoch differiert. Die Frauen in Jelineks frühen Texten sind unfähig sich dem Diktat der männlichen Masse zu entziehen. Dominant bleibt auch in folgenden Texten und in modifizierten Konstellationen der Mann. Waren „Die Liebhaberinnen“ noch heiratswillige junge Frauen, so sind die Protagonistinnen in „Krankheit oder Moderne Frauen“ bereits verheiratet und führen das Sujet der nach Identitätsbildung suchenden Frau fort. Die Frauen in „Krankheit oder Moderne Frauen“ sind aber anders als in „Die Liebhaberinnen“ im wörtlichen Sinne Selbst-bewusst. Schon die Titel deuten an, dass Jelineks Frauenfiguren sich nicht nur in einem phantastischen Sinne einer Metamorphose unterziehen. Aus einer männlichen Zuschreibung, also der Fremdbestimmung als Liebhaberinnen werden moderne sich ihres eigenen Selbsts bewusste Frauen. Zwar gibt es noch immer einen männlichen Blick auf die Frauen, der ihre Werdung als Krankheit ansieht, das trennende „oder“ des Titels aber zeigt, dass es nun erstmals möglich ist auch eine weibliche Lesart des Seins zu konstituieren. Dem männlichen Anspruch, symbolisiert durch den Diskurs der Medizin und der Klinik, begegnen die Frauen als Individuen des Dissenses mit einem bestimmten, modernen, weil nicht diskursiven Werden. Doch versuchen die Männer auch im Krankheit-Text, zunächst ihre patriarchale Vormachtsstellung zu erhalten: „Heidkliff: […] Ich. Der Mann geht etwas kaufen und kehrt nie mehr zurück. Ich. Die Frau geht etwas kaufen und kehrt mit dem Vielfachen ihres Eigengewichts zurück. Ich. 270
Sie entschuldigt sich. Ich. Aber zu spät! Exitus.“
Zeigen die männlichen Protagonisten klar ihre Ich-Identifizierung, so versuchen sie gleichfalls das weibliche Gegenüber mittels Zuschreibungen im doppelten Sinne auszubilden. Doch ist das Verhältnis des Mannes zur Frau in diesem Text bereits fragiler, als zunächst zu vermuten ist. Die Frauen in Jelineks Drama erkennen zunehmend die Position, unter der sie verzweifelt leiden. Zwar wurden
269 Heidegger: Sein und Zeit. S. 126f. 270 Jelinek: Krankheit. S. 220f.
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die Meinungen der Männer kontinuierlich von den Frauen internalisiert, doch durchschauen sie nun immer besser die sie umgebende heteronormative Matrix. Dabei kann Carmillas Aussage, „Ich bin gottlos. Ich bin eine Dilettantin des Existierens. Ein Wunder, daß ich spreche. Ich bin restlos gar nichts.“ 271, wie eine Paraphrasierung der Thesen von Monique Wittig gelesen werden. Bei ihr heißt es: „Ein relatives Subjekt ist unvorstellbar, ein relatives Subjekt könnte überhaupt nicht sprechen.“272 Da die Sprache dem männlichen Diktat obliegt, ist ein Frau-Sein kaum möglich. Carmillas Verwunderung über ihre Sprachfähigkeit inkludiert sowohl diesen Gedanken als auch eine Aussicht auf das kommende Schweigen der weiblichen Figuren. Doch eine Erlösung, die nur mittels einer Autonomie des unterdrückten Ichs zu erreichen ist, bleibt zunächst undenkbar. Nur eine Aberkennung des männlichen Herrschaftsanspruchs durch das geknechtete weibliche Ich kann eine Befreiung bewirken. Wird der Machtanspruch infrage gestellt, zerfällt der gesetzte, männliche Anspruch und in letzter Konsequenz der Mann selbst als Subjekt. Jelineks Frauen, die zunächst nur Opfer waren, erwehren sich dieses dominanten männlichen Anspruchsdenkens durch eine ungeahnte Wende: sie retten sich in ein Werden im Sinne Deleuzes und Guattaris. Das Werden ist hierbei immer dialektisch zu sehen. Denn erst durch eine Ausgrenzung der weiblichen Individuen, können sich diese ihrer unerkannten Gleichheiten bewusst werden. Als ausgeschlossene und unterdrückte Gruppe legen sie auch die Lexik der dominanten, homogenen Kerngruppe ab. Dabei erfüllen die Frauen in Jelineks Texten klar die Voraussetzungen für eine Werden-Gruppe: „Sie bringen eher Gruppen zum Ausdruck, die minoritär, unterdrückt oder verboten sind, 273
die revoltieren oder sich immer am Rande der anerkannten Institutionen befinden […].“
Nach den gescheiterten Versuchen der Jelinekschen Figuren in „wir sind lockvögel baby“, einer männlich medialen Welt zu entfliehen und nach „Die Klavierspielerin“, in der sich Erika mittels eines weiblichen Masochismus zu emanzipieren versucht, muss „Krankheit oder Moderne Frauen“ als paradigmatische Wende im Werk Jelineks verstanden werden. Denn erkannten die Frauen auch schon in früheren Texten ihre Unterdrückung, so versuchten sie doch immer innerhalb der sie umgebenden Sinnstrukturen, maßgeblich denen der Sprache zu
271 Jelinek: Krankheit. S. 203. 272 Monique Wittig: The Straight Mind, in: Feminist Issues, Bd. 1, Nr. 1, Sommer 1980, S. 6. Zitiert nach Butler. 273 Deleuze und Guattari: Tausend Plateaus. S. 337.
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entkommen. Eine Flucht innerhalb einer bekannten Lexik ist jedoch nicht möglich. Erst durch das Aufbrechen einer bekannten Lexik, der Neubestimmung der Signifikantenketten und der damit verbundenen Werdung ist eine Veränderung möglich. Die Theorie des Werdens scheint geradezu prädestiniert für eine feministisch ausgeprägte Subjektkonstituierung, denn: „(E)s gibt kein Mann-Werden, weil der Mann die molare Entität par excellence ist, während die Arten des Werdens molekular sind. Die Funktion der Gesichthaftigkeit hat uns gezeigt, in welcher Form der Mann die Mehrheit gebildet hat, oder vielmehr den Standard, auf dem diese Mehrheit beruht: weiß, männlich, erwachsen, ‚vernünftig‘ etc., kurz gesagt, 274
der Durchschnittseuropäer, das Subjekt der Äußerung.“
Noch lange vor Judith Butler erkennen Deleuze und Guattari die Mechanismen einer heterosexuellen, weißen, männlichen Gesellschaft. Denn wie Lacan sehen sie gesellschaftliche Diskriminierungen vorrangig in der Sprache selbst begründet. Somit kann Lacans – oft falsch verstandener – Ausspruch „Die Frau existiert nicht (Le femmes n’existe pas)“275 mit einer Antwort von Deleuze und Guattari begegnet werden: „Schreibend werden sie Frau.“276 Denn Lacans Kritik an der weiblichen Subjektwerdung ist klar die, dass die Frau sich immer in einer männlich durchprägten Sprache bewegt. Alles Weibliche kann deshalb nur mittels eines männlichen Filters gesagt werden, was jegliche genuin weibliche Aussage unmöglich macht. Jelinek verdoppelt indes den Werdungsgedanken. Statt eines Frau-Werdens in der Literatur, wird aus der Frau die phantastische Figur der Vampirin.277 Ganz den Thesen Deleuze und Guattaris folgend bröckelt die scheinbare Macht der Männer nach der ersten Metamorphose der beiden toten Frauen in „Krankheit oder Moderne Frauen“. Die neu entstandene Existenz der Frau in einem nicht greifbaren, sich dem Verstand und dem vorherrschendem (Sprach-) Diskurs entziehenden phantastischen Raum wird zur existentiellen Bedrohung
274 Deleuze und Guattari: Tausend Plateaus. S. 398. 275 Jacques Lacan: Gott und das Genießen der Frau, in: ders.: Das Seminar. Buch XX (1972-1973), Encore, nach dem von Jacques-Alain Miller hergestellten französischen Text, übers. von Norbert Haas, Vreni Haas und Hans-Joachim Metzger, 2. korrigierte Auflage, Weinheim, Berlin 1991, S. 71-84, hier: S. 81. 276 Deleuze und Guattari: Tausend Plateaus. S. 376. 277 Mit dem Namen Carmilla wird zitierend auf die Vampirin in Sheridan Le Fanus gleichnamiger Novelle verwiesen.
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des Mannes. Das im Titel angesprochene moderne Moment der Frau, wie auch des Jelinekschen Textes selbst liegen in der Fluchtmöglichkeit, welche die Phantastik/das Werden den weiblichen Protagonistinnen bietet. Erst VampirinnenWerden, später außerdem Mutant-Werden – und somit sogar gemeinsam eine neue Entität ausbildend278 – erzeugt ihre neue Existenz eine Bedrohung des vorherrschenden Machtsystems. Benno fordert deshalb nach der Metamorphose flehend: „Carmilla! Carmilla! Gönn mir deinen geraubten Anblick! Sei eingeschränkt! Existiere nicht mehr!“279 Das Werden der Frauen verändert nicht nur die rein äußerliche Sicht auf sie. Der geraubte Anblick ist auch der verloren gegangene, männliche Blick(-winkel) auf die Frau, die nunmehr Vampirin ist und sich der männlichen Macht entzieht. Die Vampir-Werdung der Frau hat also sowohl die Befreiung eines genuin weiblichen Machtpotentials zur Folge und markiert darüber hinaus den Beginn einer wirklichen Existenzbildung. Der Beginn der Werdung setzt mit der fehlgeschlagenen Geburt und dem daraus resultierenden Tod von Carmilla ein. Jelinek unterbricht somit den scheinbar natürlichen Kreislauf in gleich doppelter Hinsicht. Die Frau kommt nicht mehr der zugeschriebenen Rolle als Geburtenmaschine nach; bedenkt man, dass Carmilla schon fünf Kinder geboren hat, unterbricht erst ihr Tod das serielle Moment. Doch wird nicht nur die Geburt selbst gestört, als vielmehr der Lebenskreislauf im Ganzen. Carmillas Tod markiert nicht den Neubeginn der Wiederholung des biologischen Kreislaufs aus Geburt, Leben und Tod, vielmehr nutzt Jelinek den Tod ihrer Figur als wirkliche Zäsur und gewinnt somit, wie etwa von Butler gefordert, der (unausweichlichen) Wiederholung ein neues Moment ab. „Die Frage ist nicht: ob, sondern wie wiederholen – nämlich jene Geschlechter-Normen, die die Wiederholung selbst ermöglichen, wiederholen und durch eine radikale Vervielfäl280
tigung der Geschlechtsidentität verschieben.“
278 Dies kann auch so verstanden werden, dass nach einer erneuten Werdung die „molekularen“ Vampirinnen zu einer neuen molaren Entität im Sinne Deleuzes und Guattaris werden. Somit wäre es mittels mehrerer Werdungen möglich, eine neue bestimmende Entität aus einer zunächst auf Dissens beruhenden Gruppe zu erschaffen, die das bestehende System ersetzt. Diese Idee wird durch die Ermordung des Mutanten jedoch vernichtet, was wiederum als bitteres Zitat auf die Etablierung neuer Ideen in einer heteronormativen Gesellschaft gewertet werden kann. 279 Jelinek: Krankheit. S. 241. 280 Butler: Unbehagen. S. 217.
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Bleiben Butlers Forderungen auf einen realen trouble in genders wenig überzeugend281, zielt sie neben innergesellschaftliche Neuentwicklung aber auch auf eine Neubestimmung der gängigen Normen in künstlerischen Verfahren ab. Butler beschreibt also, analog zu Deleuze und Guattari, die Wiederholung als möglichen Akt einer aktiven Veränderung. Erst in der bewussten Vervielfältigung der Normen, sind diese als artifizielle Größen ersichtlich und können in eine neue Ebene verschoben werden. Dabei ist bemerkenswert, dass die von Deleuze und Guattari geforderte zeitliche Transversale in Jelineks Text mit dem Durchschneiden des lebendigen Körpers gleichgesetzt wird. Erst nach dem biologischen Tod können die Frauen in ihre neue Identität gleiten. Es ist bezeichnend, dass dies alles in Jelineks Text an gleich zwei der wichtigsten (männlichen) Diskurse angebunden wird: die Medizin282 und die Geburt. Statt einer Nabelschnur wird das Leben selbst abgeschnitten. Doch ist der Tod weder der finale Punkt noch der Ausgangspunkt für eine Wiederholung, sondern markiert den Beginn einer Differenz. In Butlers Theoriegerüst kann die (Wieder-)Geburt der Frau als Vampirin und somit Untote als Parodie auf die Genealogie der Geburt und die Medizin verstanden werden. Neben Leben und Tod wird das Untote als Raum des Werdens etabliert, der sich in seiner Unerklärlichkeit der männlich medizinischen Meinung, die Werdung sei eine Krankheit, entzieht. Das Untote erscheint somit als ein Raum des Dazwischen:
281 Butlers Einschätzungen einer Persiflage heterosexueller Strukturen im schwulen, lesbischen oder transsexuellen Kontext etwa, sind kaum zu folgen, auch wenn sie diese als vermeintlich positiv deklariert. Neben dem Umstand, dass sie in ihrer Aufzählung transsexuelle Menschen nicht erwähnt, ist ihre Idee der Persiflage doch zu nahe an einer Mimikry heterosexueller Normen geklammert. Dies kann unfreiwillig evozieren, dass der nicht-heterosexuelle Mensch nicht in der Lage wäre, eigene Normative zu bilden, was aber eine heterosexuelle Prädestinierung begründen würde und somit sowohl jeglichen biologischen Forschungsstand negieren würde als auch Butlers eigene Thesen. 282 Natürlich ist hier auch an Foucault zu denken. Im Verhalten der Männer gegenüber Carmilla ist zu erkennen, dass sie die Frau nur noch als Subjekt einer Krankheit wahrnehmen und sie nicht als Individuum, sondern als zu erforschenden, medizinischen Fall betrachten. Auch Foucaults Analogie zwischen der medizinischen Sprache und dem Subjektverständnis innerhalb der Medizin ist in diesen Passagen ersichtlich. Vgl. hierzu: Michel Foucault: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des medizinischen Blicks, übers. von Walter Seitter, Frankfurt a. M. 1988.
120 | D IE Z ERSTÖRUNG DES I CHS „Die einzige Möglichkeit, aus den Dualismen herauszukommen, ist dazwischen sein, da283
zwischen hindurchgehen, Intermezzo […] – niemals aufhören zu werden.“
Analog zu den bereits besprochenen Taktiken des Pop ist es wiederum die Möglichkeit eines Dazwischen, auf welches die Ideen Deleuzes und Guattaris referieren. In der Dazwischenkunft einer dritten Möglichkeit, den der Raum der Phantastik eröffnet, durchlaufen Jelineks Frauen gleich zwei Werdungsprozesse. Doch bleiben diese weiblichen Metamorphosen nicht folgenlos für die Männer. Nach Benno bettelt auch Heidkliff die zunächst bedrohten, nun ermächtigten Frauen an: „Seid adrett! Seid gepflegt! Seid eine Agentur! Gebt unsere Lust wieder heraus! Gebt etwas von euch her! Verbindet euch mit uns! Seid fraulich. Sonst würden wir nämlich mit 284
der Zeit ebenfalls stumpfe Rockträger. Werdet wieder leer! Wir oder ihr!“
Dem Werden als einer weiblichen Entwicklung wird ein regredierendes männliches Seid entgegengestellt. Dabei versuchen die Männer, die Frauen wieder in Kategorien zu fassen. Analog zur Sorge des Hausvaters gegenüber dem Odradek sind auch die Frauen in ihrer Werdungs-Gestalt nicht mehr kategorisierbar und entziehen sich. Doch nicht allein die Subjektwerdung bzw. das Subjekt-Werden der Frau, das in einem phantastischen Zwischenraum erreicht wird, und der damit verbundene Machtverlust des Mannes kennzeichnen die Jelineksche neue Ordnung. Denn wie auch das Odradek als a-signifikantes Wesen die Macht über den Signifikanten gewinnt und somit den Hausvater bestimmen kann, sind es bei Jelinek die Frauen, die zu einer Störung des männlichen Signifikanten-Kosmos führen und damit deren diskursive Macht bedrohen. Auch die Männer durchlaufen eine Metamorphose und drohen in der Folge ihres Machtverfalls zu Tieren zu werden.285 Je höher der Grad an Verweigerung der Frau, desto tierischer das Verhal-
283 Deleuze und Guattari: Tausend Plateaus. S. 377. 284 Jelinek: Krankheit. S. 242. 285 Einem weiblichen Subjekt wird auch in Raststätte oder Sie machens alle ein tierisches, männliches Subjekt entgegengesetzt. Die verabredeten Liebhaber, hinter denen sich jedoch nur die eigenen Ehemänner verstecken, erscheinen bei den beiden Frauen auf einer Rasthoftoilette im Bären- und Elchskostüm.
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ten und die Verwandlung der Männer.286 Und auch wenn die Metamorphosen sichtbar geschehen, ist es primär die Sprache, an der die Tierwerdung deutlich wird. Die Klagen der Männer werden mit der Vampirwerdung der Frau immer wieder von Belllauten, die sich in ihr Sprechen mischen, unterbrochen. Die Regieanweisungen, die ansonsten in Jelineks Stücken eher rar sind, werden zum Ende der dritten Szene eindeutig. Nachdem die beiden Frauen ihre Kinder getötet haben und über und über mit Blut besudelt sind, soll Benno „bellend, in Stößen, eruptiv“ sprechen. Die Szene endet daraufhin, denn Benno will zwar weitersprechen, er „kann aber nur bellen. Beide Männer bellen wütend die Frauen an. Die sitzen satt und blutig auf dem Boden.“287 Die Stärke der Frauen, die sie aus ihrer aktiven Verweigerung des männlichen Diskurses beziehen, führt zur Schwächung der Männer. Die weiblichen Metamorphose/Werdung als Gegensatz zur Regression der Männer unterstreicht den epidemischen Charakter des Werdens. „Sexualität ist die Produktion von tausend Geschlechtern, die lauter unkontrollierbare Arten von Werden sind. Die Sexualität vollzieht sich durch das Frau-Werden des Mannes 288
und das Tier-Werden des Menschlichen […].“
Auch hier zeigt sich eine Analogie zu den Thesen des Werdens nach Deleuze und Guattari. Unfähig, Werte aus sich heraus zu erschaffen, rekurrieren die Werden-Wesen immer nur auf bereits vorhandene, oft jedoch verdeckte Wahrheiten, so deutet Jelinek etwa das Tier-artige des Mannes bereits im Nachnamen Benno Hundekoffer an. In den nächsten Szenen verlieren die zunächst nur bellenden Männer nahezu ganz ihr Sprachvermögen, sie artikulieren sich nur noch in stammelndem Dialekt. Dabei verliert Sprache bei Jelinek nicht nur mehr ihren repräsentativen Charakter wie noch bei Kafka. Konnotat und Denotat büßen zwar auch hier ihre klaren Bedeutungsebenen ein, an die entstehende Leerstelle rückt im Falle Jelineks aber eine ideologische Sprache. Die Intensitätsdifferenz wird in ihrem Text durch die Anbindung der Sprache an ein stark an die NS-Ideologie angelehntes Vokabular erreicht. Im folgenden Beispiel handelt es sich um den Koppelspruch
286 Eine Gefahr der Tierwerdung ist neben den sprechenden Namen, bereits beim ersten Auftritt Heidkliffs gegeben. Dieser soll den Regieanweisungen folgend „keuchend und wolfsartig hechelnd angelaufen kommen“. Vgl.: Jelinek: Krankheit. S. 193. 287 Jelinek: Krankheit. S. 246. 288 Deleuze und Guattari: Tausend Plateaus. S. 379f.
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der Waffen-SS, derer sich die menschliche Wolfsmeute bedient.289 „Heidkliff: Unsere Ehren heißen Treue. Unsere Pflicht das Gericht. Strafen. Hinrichten. Kehricht wegsaubern. Wo und wer kann solchenes noch glauben: Politisches wahr?“290 Der Verlust des alltäglichen Sprachgebrauchs einer durch patriarchale Strukturen durchwobenen Sprachwelt wird indes nicht allein durch die Flucht der Frauen in die Phantastik ausgelöst. Auch die nach der zweiten Metamorphose einsetzende Sprachverweigerung des Mutanten trägt hierzu maßgeblich bei. In der Figur des Vampirs schon angelegt, lässt sich das spätere Schweigen des Mutanten erkennen und erklären. So wie Vampire nicht mehr von einem Spiegel wiedergegeben werden, kann man sich auch nicht mehr im Untoten spiegeln. Vampire sind Figuren, die sich physikalischen Gesetzen entziehen. In Jelineks Konzeption des Untoten widersetzt sich das nach der Metamorphose erschaffene Geschöpf auch einer Spiegelung auf sprachlicher Ebene. Die Befreiung von einer Spiegelung muss im doppelten Sinne verstanden werden. Dies belegt auch Emilys Aussage nach ihrer vampirischen Metamorphose. Ihre Situation kritisierend: „Emily: Ich möchte so gerne einmal in einem Spiegel durch mich hindurch auf etwas anderes sehen. Doch das ist mir leider versagt. Danke schön.“291 Diese Klage kann aber keinesfalls als Bemerkung zu einem physikalischen Sachverhalt verstanden werden. Den neuen, der Phantastik gehorchenden Gesetzen folgend, weiß sie zu erklären: „Auch wenn ich mich nicht im Spiegel sehen kann.“292 Sie wäre also problemlos in der Lage durch sich hindurch zu sehen. Ihre Aussage ist also auf psychologischer Ebene anzusiedeln. Sowohl Inversion und die Spiegelung des eigenen Ichs im Anderen als auch die Aufgabe gängiger männlicher Lexeme nach der Werdung führen in Jelineks Drama in letzter Konsequenz zum Verstummen. Doch das Verstummen muss auch in diesem Fall als freiwilliger Akt verstanden werden. Die Frauen verlieren nicht ihre Sprache durch eine Tierwerdung,
289 Vertiefend für die Wolfsthematik und die „Hund-Sprache“ im Werk Jelineks siehe: Rainer Just: Zeichenleichen. Reflexionen über das Untote im Werk Elfriede Jelineks. http://www.univie.ac.at/jelinetz/index.php?title=Rainer_Just:_Zeichenleichen _Reflexionen_%C3%BCber_das_Untote_im_Werk_Elfriede_Jelineks 290 Jelinek: Krankheit. S. 247. 291 Jelinek: Krankheit. S. 221. 292 Jelinek: Krankheit. S. 222.
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sondern schweigen nach ihrer zweiten Metamorphose. Wir haben es also mit einem gewählten Verstummen zu tun.293 Jelinek, die die Grenzen und Gefahren der Sprache kennt, sucht nach einer Fluchtmöglichkeit für ihre gemarterten Figuren und entdeckt dabei den Raum der Phantastik. Diese phantastischen Figuren, wie die Vampirinnen oder der Untote, verweigern in der Folge das Sprechen. Schweigen bedeutet indes den Rückzug aus den bestehenden Diskursen und das Durchbrechen der Machtstruktur, die durch Sprachmodelle erst möglich wurde. Nicht mehr Teil einer patriarchalen Macht, nicht mehr an der Akkumulierung von Gütern teilnehmend, nicht mehr einem klar definiertem Sexualdiskurs zugehörig:294 Schweigen muss hier als positive Möglichkeit begriffen werden. Die stumme Untote wird das Symbol des Nichtsymbolisierbaren. Ihr Schweigen ist deshalb als ein Akt der subversiven Verweigerung zu verstehen, der eine neue Wertigkeit erreicht, die Elfriede Jelinek mit der popkulturellen Figur des Zombies fortsetzen wird. Doch was heißt es, sich all diesen Strukturen zu entziehen und was eröffnet der Raum der Phantastik, was nicht in der gegebenen Situation zu erreichen war? Klar ist zunächst nur, dass die Figuren Jelineks meist Figuren auf der Flucht sind: Flucht vor der Mutter, der (männlichen) Gesellschaft, sogar vor dem Erinnern. Immer wieder empfinden sie sich dabei als fremdbestimmt und können doch kaum den gegebenen (Sprach-)Strukturen entkommen. Das Ich wird jedoch immer wieder durch den Anderen ausgebildet. „Denn ich ist ein anderer.“295
293 In einem Punkt ist Clemens Ruthner zu widersprechen. Sich in seiner Aussage auf Silvia Volckmann stützend, ist sein Konnex zwischen lesbischer Sexualität und einer Utopie der Einswerdung, sowie seine Schlussfolgerung, dass es sich bei dieser Metamorphose im Jelinektext um einen Akt der Perversion handelt, wenig plausibel, verharrt er doch zu sehr in einem binären System, das der Jelineksche Text gerade zu überwinden versucht. Clemens Ruthner: Dämon des Geschlechts. Prolegomena zu Vampirismus und Gender in der neueren deutschsprachigen Literatur, in: Christine Ivanovic / Jürgen Lehmann / Markus May (Hrsg.): Phantastik – Kult oder Kultur? Aspekte eines Phänomens in Kunst, Literatur und Film, Stuttgart, Weimar 2003, S. 215-238, besonders S. 230-233. 294 Zu bedenken wäre hier, inwieweit aktiv ein Trouble in Gender nach Judith Butlers Theorie erreicht werden kann. Auch diese Möglichkeit wird bei Ruthners These (vgl. Fußnote 293) negiert. Das neue Leben der beiden Frauen sieht er als einen untoten „Dämmerzustand abgegriffener Populärmythen“. Ruthner: Dämon des Geschlechts. S. 232. 295 Auch hier bezieht sich Lacan auf einen Dichter, um seine Thesen zu entwickeln. Vgl. hierzu: Arthur Rimbaud: 2. Seherbrief, in: ders.: Gedichte. Französisch und
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Vor eben jenem Anderen und in letzter Instanz also vor dem Ich selbst findet im Jelinekschen Text eine Flucht in die Phantastik des Werdens hinein statt. Denn nur die Phantastik vermag es, eine neue Ebene der Realität zu erschaffen. „Über das Vergnügen, die Neugier, über alle Emotionen hinaus, die die Erzählungen, die Märchen und Legenden in uns bewirken, über das Bedürfnis hinaus, sich zu zerstreuen, zu vergessen, sich angenehme und erschreckende Empfindungen zu verschaffen, ist das wirkliche Ziel der wunderbaren Reise […] die umfassendere Erforschung der universalen 296
Wirklichkeit.“
Die Phantastik ist also geeignet, neue Aussagen oder gar Möglichkeiten für die Wirklichkeit zu eröffnen. Einer Wirklichkeit, die nicht allein in einer mess-, erforsch- oder erfahrbaren Welt zu finden ist. Denn nur scheinbar fußt unsere Wirklichkeit auf einem sicheren Fundament. Dies wollen auch die Männer in Jelineks Krankheit-Text verschleiern. So „Heidkliff: An der Wirklichkeit zerbricht die Gedankenwelt noch lang nicht.“297 Wirklichkeit und Wahrheit werden durch die Sprache, nach Lacans Bild eine abgegriffene Münze, verschleiert. Doch das Symbolisch-Imaginäre der Sprache, das sich immer wieder auf vorgetäuschte Realitäten beruft, findet seinen Gegner in der Phantastik. „Im Phantastischen offenbart sich aber das Übernatürliche wie ein Riß in dem universellen Zusammenhang. Das Wunder wird dort zu einer verbotenen Aggression, die bedrohlich wirkt und die Sicherheit der Welt zerbricht, in der man bis dahin die Gesetze für allgültig und unverrückbar gehalten hat. Es ist das Unmögliche, das unerwartet in einer Welt auf298
taucht, aus der das Unmögliche per definitionem verbannt worden ist.“
Deutsch, hrsg. von Karlheinz Barck, Leipzig 1989. Vertiefend zur Idee einer IchDissoziation siehe: Gerda Pagel: Im Banne des Spiegels – „Ich ist ein anderer“, in: dies.: Jacques Lacan zur Einführung. Hamburg 2007, S. 21-56. 296 Pierre Mabilles „Le Miroir du merveilleux“, zitiert nach Tzvetan Todorov: Einführung in die fantastische Literatur, übers. von Karin Kersten, Senta Metz und Caroline Neubaur, Frankfurt a. M. 1992, S. 54. 297 Jelinek: Krankheit. S. 261. 298 Roger Caillois: Das Bild des Phantastischen. Vom Märchen bis zur Science Fiction, in: Rein A. Zondergeld (Hrsg.): Phaicon 1. Almanach der phantastischen Literatur, Frankfurt a. M. 1974, S. 44ff, hier: S. 46.
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Im Begriff des Unmöglichen ist nun der Konnex der untoten Wesen des Werdens und der Ebene des Realen zu finden, deren Sprache das Schweigen ist. Die toten Frauen erlangen das Unmögliche, indem sie untot weiterexistieren. Ihre Existenz, diese unmögliche Existenz als Figur der Phantastik ist dabei ein Widerstand. Widerstand gegen die Männer, die scheinbar geordnete Welt mit all ihren vermeintlichen Gegebenheiten. „Dieser Wesenszug von Unmöglichkeit und von Widerstand gegenüber der Symbolisierung verleiht dem Realen seine wesentlich traumatische Eigenschaft.“299 Denn das Phantastische des Werdens erlaubt neue Blickwinkel auf die bestehende Realität, indem es die Ebene des Realen eröffnet. Sicherheiten, scheinbar Kontinuierliches und Gegebenes werden dabei als Illusionen enttarnt. Das subversive Potential dieser Risse in der Wirklichkeit wird in Jelineks Texten durch jene genutzt, die am meisten unter der vorherrschenden Wirklichkeitsdoktrin zu leiden haben. Was nicht bedeutet, dass vorherrschende Missstände nicht auch für die Herren-Seite zu erkennen sind. „Heidkliff: […] Die Welt des Sichtbaren ist wie ein Verwaltungsgebäude, in dem man die 300
Duschen nicht abstellen kann: Etwas stimmt nicht, aber es ist einem egal.“
Zwar ist den Männern der Mangel der gegebenen Ordnung bewusst, er wird aber im Zuge einer Konsensbildung ausgeblendet. In Erweiterung der Thesen des Werdens, durch die psychoanalytische Perspektivierung nach Lacan lässt sich dieser Konsens genauer fassen: Die Welt des Sichtbaren, also die Ebene des Imaginären in seinem Konnex zur symbolischen Ebene, die mittels der Sprache verwaltet, geordnet und lebbar gemacht wird. Gleichsam den stetig tropfenden Duschen wird diese Machtstruktur angemahnt. Es ist dies der schon bei Deleuze und Guattari anklingende Zerfall der Sprache, der sich in einem prekären Konsens einnistet und nur noch durch Werdungs-Gruppen den homogenen extrinsischen Gruppen aufgezeigt werden kann. Denn der Riss durch das sprachliche Realitätskonstrukt, jenes Fundamentalphantasma301 wird (zunächst) nicht wahrgenommen, ist jedoch vorhanden und erhält im Körper des WerdungsIndividuums eine Gestalt. Denn die symbolisch-imaginäre Welt des Menschen ist zwar durch differenzierte Elemente, die wir als Signifikanten bezeichnen, ge-
299 Evans: Wörterbuch. S. 251. 300 Jelinek: Krankheit. S. 225. 301 Vgl. hierzu: Slavoj Žižek: Die Tücke des Subjekts, übers. von Eva Gilmer, Andreas Hofbauer, Hans Hildebrandt und Anne von der Heide, 1. Auflage, Frankfurt a. M., S. 25f.
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ordnet, wird jedoch gleichzeitig aus der Opposition eines Moments von An- und Abwesenheiten ausgebildet. „Die Welt der Worte schafft die Welt der Dinge – Dinge, die ursprünglich ungeordnet wa302
ren im hic et nunc des Ganzen im Prozeß, in dem ihr Sein zu deren Wesen wird.“
Wie aber bereits beschrieben, bleibt immer ein unauflösbarer Rest von der Übertragung aus der imaginären Ebene in die symbolische Ebene der Sprache übrig. Dieser Rest ist das bedrohliche Ding-an-sich, das nicht darstellbar ist und seinen Platz im Realen hat. Bedrohlich ist es, weil es das Konstrukt in seiner Konstruiertheit zu entlarven vermag. Es ist der Riss in der Realität. Aber: „Das Reale ist ohne Riß.“303 Das Reale ist vielmehr eine Totalität, die unsere Welt in ihren Grundfesten erschüttert, weil sie dessen Opposition ist, das Zerbrechen des Konstanten. Das Phantastische, das seine Heimat im Realen findet, ist deshalb prädestiniert, den Schock der Realität – nicht mit dem Realen zu verwechseln – darzustellen. Das Reale befindet sich oft in einem Ausnahmezustand, der Konstanten neu verbindet und/oder auflöst, etwa in der Gestalt des fliegenden Pferds oder des sprechenden Baums oder aber wie im Falle von „Krankheit oder Moderne Frauen“ in der Vampirin und dem Mutanten. Die Realität wird mittels eines Dazwischen, einer Möglichkeit in Frage gestellt. Dabei ist das Reale „keineswegs eine indifferente Leere […], zirkuliert aber auch nicht zwischen den Subjekten, ist also genauso wenig ein Objekt des Austauschs“304. Weder indifferent leer noch zwischen den Subjekten zirkulierend meint also, das Reale ist aktiv teilnehmend und dennoch sich verweigernd. Übertragen auf Jelineks Figurenkonstellationen kann festgehalten werden, dass nach einer Periode der Opferhaltung eine aktive Flucht aus den Situationen, in denen sich die Figuren wiederfinden, beginnt. Passivem Ertragen wird ein aktiver Rückzug entgegengesetzt. Dabei wird mit der Flucht in die Phantastik der Raum der symbolisch-imaginären Ebene verlassen. Mit der Phantastik geht das Individuum in den Raum des Realen über. Dies macht es ihm möglich, zwar aktiv seinen Lebensentwurf zu wählen, indem es die Metamorphose des Werdens vollzieht; seine Anwesenheit wird aber in einen realen Bereich verlagert, der
302 Jacques Lacan: Funktion und Feld. S. 82. 303 Jacques Lacan: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse. Seminar II (1954-1955), hrsg. und übers. von Norbert Haas, 2. Auflage, Weinheim und Berlin 1991, S. 122. 304 Slavoj Žižek: Liebe Dein Symptom wie Dich selbst. Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien, übers. von Thomas Hübel, Berlin 1991, S. 57.
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zugleich zum dominierenden und vorherrschenden Ort der Realität wird. Dieser Fluchtraum, der also als Entkommen in eine neue Innerlichkeit verstanden werden muss, impliziert die Negation gegebener Konstrukte, öffnet aber auch den Raum der Angst und des Unheimlichen. In der Figur des Werdens sind diese existentiellen Ängste jedoch erst ersichtlich. Sie werden nicht erst durch die Werdens-Figur in den Raum der Erfahrungen übertragen. Hier gilt: das Dämonisierte, Verschlossene und Ungesagte bildet den Körper des vermeintlichen Monsters erst aus. Eine Verweigerung der realitätsbildenden Konstanten ist also sowohl durch das Heraustreten aus gesellschaftlichen Konstrukten gegeben als auch mittels einer anwesenden Abwesenheit des Werdungs-Wesens im Raum des Realen. Das Schweigen ist dabei nunmehr die Sprache der realen Ebene, die vom Individuum aufgesucht wird. Schweigen folgt demselben antagonistischen Prinzip. Die Symbolisierung der Welt und damit ihre eigentliche Hervorbringung werden negiert. Die Konkretisierungen durch das Schaffen von Signifikanten werden ausgesetzt. Dabei löst die Metamorphose der Figuren und somit der Eintritt in die Ebene des schweigenden Realen bei dessen Beobachtern – am Beispiel der Männer in „Krankheit oder Moderne Frauen“ – Angst aus. Denn das nicht Konkretisierte evoziert Angst. Die Figuren des Werdens sind die materialisierten Gestalten einer konstruierten, weil zeichenhaften Welt. An ihrer (plötzlichen) Unmöglichkeit zerbricht das Fundamentalphantasma. Die phantastische Figur des Werdens wirkt, indem sie Angst evoziert, der Vereinnahmung des Daseins durch die nicht hinterfragten (sprachlichen) Strukturen des man entgegen, denn wie Heidegger bemerkt: „Das Wovor der Angst ist das In-der-Welt-sein als sol305 ches.“ Das Tropfen der Dusche als Zeichen einer nicht perfekten Signifikantenwelt wird demgemäß erst manifest in der phantastischen Gestalt, die ein allmächtiges und scheinbar konstantes Konstrukt infrage stellt. Durch das Schweigen und das Zusammenbrechen gegebener Sprachmodelle werden sich die ehemaligen Herren der Künstlichkeit ihrer gesetzten Machtposition bewusst. Das schweigende Gegenüber negiert ihre Macht. Dabei nimmt die Angst eine besondere Position innerhalb der individuellen Befindlichkeiten ein. Denn natürlich kann der Mensch durch alle Befindlichkeiten hindurch sich die Welt erschließen und somit erfahrbar machen, doch nur die Angst lässt die Bewandtnisganzheit des symbolisch-imaginären Raums für das Individuum zur Unbedeutsamkeit schrumpfen. Wenn die imaginierte Welt jedoch für das Individuum an Signifikanz verliert, kann es sich nicht mehr in diese Welt flüchten. Auch das kollektive Fluchtmoment in das leere Reden verliert an Relevanz, kann also somit auch keine Flucht aus der Angst anbieten. Das In-der-
305 Martin Heidegger: Sein und Zeit. 19. Auflage, Tübingen 2006, S. 186.
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Welt-sein wird somit in aller Deutlichkeit als ein fragiles Konstrukt entlarvt. Das Erkennen in der Angst wird gekoppelt an das Gefühl des Unheimlichen. Wie schon Freud nur die Angst als einzige echte Gefühlsregung anerkannte, sieht auch Lacan die Angst und das damit auftretende Unheimliche als ursprüngliche Erfahrung des Menschen. In ihr verliert das Individuum sein kollektives Erleben, die Flucht in leeres Sprechen bleibt verwehrt. Die Verweigerung, in einem Fundamentalphantasma aufzugehen, bietet somit auch Möglichkeiten. Nur durch die Negierung dieser Ebene ist ein Möglichsein und Selbst-sein-können zu erfahren. Der Untote und die phantastische Figur stellen in Elfriede Jelineks Texten das bestehende gesellschaftliche System infrage. Aktiv schweigend, verweigern sich die weiblichen Figuren durch ihrer Andersartigkeit, ihre Unmöglichkeit, die sie offen nach ihren Metamorphosen zeigen. Es ist jene Umformung des Ichs und sein damit verbundener Eintritt in eine Ebene des subversiven Schweigens, das die Signifikantenrealität hinterfragt. Die verwandelten Figuren sind nicht mehr dem Gerede zugehörig. Folgen sind das Auslösen von Angst und das Gefühl des Unheimlichen bei den noch im Bereich der symbolisch-imaginären Ebene befindlichen (männlichen) Individuen. Hierbei muss zwischen der männlichen und weiblichen Reaktion unterschieden werden. Denn war Angst und Unheimlichkeit, ganz im Sinne Heideggers, für die weiblichen Figuren noch positiv besetzt, weil sie zur Loslösung vom man dienten und hinführten zur Reflexion des In-der-Welt-seins im Ganzen; vertieren die Männer im Jelinekschen Text. Diese Aufrechterhaltung einer binären Logik ist in der Formel Reflexion versus Regression zu fassen. Waren die Frauen zunächst die unterdrückten Individuen, erfolgt eine Reflexion ihrer Lage und eine freiwillige Werdung. Die Männer hingegen sind immer schon in einer Machtposition und werden mit den Machtmechanismen des Sprechens erst durch die Werdung der Frauen konfrontiert. In der Spiegelung mit der Werdungs-Frau zerfällt das Trugbild des männlichen Imagos. Die vom m/Man/n Befreiten sind die Frauen. Der Untote, der Mutant, das Phantasiewesen verlassen somit die abgegrenzten Räume, in denen sich noch Kafkas Figuren bewegen. Bei Jelinek dringen sie zunehmend auf die Welt ein und entfesseln ihr epidemisches Moment. Die Minoritäten sind bei ihr auch nicht länger Einzelindividuen, sie verwandeln sich als Gruppe und sind nach ihrer Werdung keine passiv erduldenden Opfergestalten mehr. Sie entgehen der sie bedrohenden Welt, verlassen diese jedoch nicht, sondern nehmen vielmehr eine Sonderposition, losgelöst von scheinbaren Konstanten, ein. Als neue Mächte im Zeichenkosmos verursachen sie eine Sprachzertrümmerung. Gleichzeitig decken sie das konstruierte Moment einer Scheinrealität und Scheinmoralität des Zeichenkosmos auf und stellen mittels der Angst und
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des Unheimlichen das Realitätskonstrukt des Daseins in Frage. Sinnlosem Gerede begegnen sie mit stolzem Schweigen, denn erst durch das Schweigen und die Angst wird die diskursive Macht des leeren Sprechens von ihnen aufgehoben. Das phantastische Wesen gibt somit mittels des Schweigens und seiner unmöglichen Existenz der Sprachmünze ihre Prägung wieder. Das Schweigen, das sich der Sprache verweigert, wird nach „Krankheit oder Moderne Frauen“ in Jelineks Texten Systemcharakter beanspruchen und markiert ein Unsprachlich- bzw. ein Vorsprachlich-Werden. Einem festen Inventar wird zusehends dessen artifizieller Charakter entgegengestellt. Neben den sprachlichen Besonderheiten, die Jelineks Texten seit den ersten Publikationen zu eigen sind und in den Thesen der Wiener Gruppe gründen, gibt es doch auch eine Besonderheit in der Jelinekschen Figurenkonzeption. Innerhalb der Forschung kaum beachtet und somit noch immer Desiderat sind es die Figurationen der Phantastik, die eine nähere Betrachtung verlangen. Schon in dem Text mit dem überlangen Titel „DER FREMDE! störenfried der ruhe eines sommerabends der ruhe eines friedhofs“, einem der ersten publizierten Jelinektexte, figuriert der im Titel angemahnte Fremde als ein Vampir. 306 Das im Titel verwendete Wort „Friedhof“ mag zunächst auf eine klassische Motivik verweisen, der der Text jedoch nicht entspricht. Zwar bedient sich Jelinek traditioneller Narrativik der Schauergeschichte, etwa in der Verwendung von Motiven wie der Nacht, des Friedhofs oder der Fremdartigkeit des Vampirs, der 1969 publizierte Text lässt darüber hinaus aber bereits Ansätze erkennen, die das Œuvre der Autorin im Weiteren bestimmen werden. Flüchten zwar erst die weiblichen Protagonistinnen im Krankheit-Text vor einer männlichen Kategorisierung und entziehen sich der patriarchal geprägten Sprache, so ist doch bereits im störenfried-Text eine Fluchtbewegung zu erkennen. In der Tradition der Wiener Gruppe ist der gesamte Text in Kleinschreibung gehalten, was einer Höherwertigkeit des Substantivs vorbeugen soll. Doch auch der Text selbst ist darauf angelegt, sich einer Wertung oder Interpretation zu entziehen. Der Leser erfährt in den Beschreibungen beispielsweise immer wieder, was nicht geschieht: „der fremde bleibt nicht ruckartig stehen. er hat keine mühe einen aufschrei zu unterdrücken. kein blutroter schleier legt sich vor seine augen. er steht nicht erstarrt daneben. seine 307
zähne schlagen nicht wie im fieber aufeinander.“
306 Mein Dank geht an dieser Stelle an Christopher Strunz, der mich auf diesen wenig beachteten Text von Elfriede Jelinek hingewiesen hat. 307 Elfriede Jelinek: DER FREMDE. S. 151.
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Der beschriebene Fremde selbst entzieht sich klassischer Genderkategorien und ist nicht klar im binären Konzept von männlich oder weiblich kategorisierbar.308 Vielmehr evoziert der Text eine Vielheit der Figur, die sich trotz manch verwendeter Stereotype doch einer Gender-Regulierung geschickt zu entziehen vermag.309 Oliver Claes’ Einschätzung, dass der Jelineksche Vampir eine Metapher unterdrückter, weiblicher Subjektkonstituierung darstellt, verbleibt derweil in den binären Systemen, welche es gerade zu durchbrechen gilt.310 Denn der Tod der Frau ist bei Jelinek nicht länger ein Endpunkt. Und der Übergang der weiblichen Figuren in eine phantastische Daseinsform, in einen untoten Zustand wie etwa im Krankheit-Text, ist eben nicht einfach ein Scheitern gegenüber der Patriarchalgewalt. Der phantastische Raum, in dem sich Untote treffen, wird in der Folge ein Raum des Realen und vermag es somit, ein Raum der Möglichkeiten zu werden, in dem realitätsausbildende Signifikanten und Dichotomien zu Gunsten einer neu ausgerichteten Subjektkonstituierung überwunden werden. Doch es muss festgehalten werden, dass analog zu Erika Kohut auch die beiden Vampirinnen schlussendlich an einem patriarchalen System scheitern und von den Männern vernichtet werden. In dieser Reihe feministischer Texte, die realitätsstiftende Mechanismen sichtbar machen, ist auch der Einakter „Der Tod und das Mädchen I (Schneewittchen)“ zu fassen. In ihm werden heteronormative Machtstrukturen nicht allein in der Realität, sondern auch im literarischen Diskurs sichtbar. Es ist dies der literarische Topos der schönen Leiche und das implizierte Ziel Jelinekscher Texte, sich dem begehrenden und wertenden männlichen Blick zu entziehen, die es genauer zu betrachten gilt.
308 Poole nimmt diesen Umstand zum Anlass seiner Analyse und weiß den Jelinek-Text gut in eine literaturhistorische Perspektive zu setzen, vermag es jedoch nicht die binäre Struktur der Geschlechter zu überwinden. Vgl. hierzu: Ralph J. Poole: „Ich gebäre nicht. Ich begehre dich.“: The Lesbian Vampire as Mother/Artist in Elfriede Jelinek, in: Christoph Lorey, John L. Plews (Hrsg.): Queering the Canon. Defying Sights in German Literature and Culture, 1998, S. 248-271. 309 Der von Butler verwendete Begriff verweist auf die Prägung vermeintlich typischer Charakteristika der Geschlechter und entlarvt diese in ihrem artifiziellen Gehalt. Vgl. hierzu: Judith Butler: Gender-Regulierungen, in: dies.: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, übers. von Karin Wördemann und Martin Stempfhuber, Frankfurt a. M. 2009, S. 71-96. 310 Oliver Claes: Verweigerte Menschwerdung. Vampirismus bei Elfriede Jelinek, in: ders.: Fremde, Vampire. Sexualität, Tod und Kunst bei Elfriede Jelinek und Adolf Muschg, Bielefeld 1994., S. 64-83.
Die schöne Leiche
Der Darstellung von schönen, jungen, weiblichen Leichen kommt in der Literatur eine besondere Bedeutung zu. Mit seiner Ansicht „der Tod einer schönen Frau ist also fraglos der dichterischste Gegenstand auf Erden“311, stellt sich Edgar Allan Poe keineswegs ins Abseits, vielmehr ist er nur ein prominenter Vertreter einer Epoche von (männlichen) Autoren, die vermehrt den toten, weiblichen Körper als Faszinosum in den Fokus ihrer Arbeiten rücken und eine literarische Tradition begründen. Denn zwar sind freilich schon in früheren Texten weibliche Leichen zu finden, etwa in Goethes „Braut von Korinth“, doch speziell die Literatur der Romantik ist wie gebannt vom weiblichen Leichnam. Sie erhebt den noch jungen, doch bereits verstorbenen Frauenkörper erst zum literarischen Topos. Ob Friedrich de la Motte Fouqué in „Undine“, Clemens Brentano in seiner „Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl“, Wilhelm Raabes „Else von der Tanne“, oder Heinrich Heine mit „Florentinische Nächte“, sie alle greifen das Thema der schönen Leiche in ihren Texten auf und variieren es als Votivbild, als Stillleben, Menschenopfer oder tote Braut. Novalis` „Tagebuchaufzeichnungen zum Tod der Sophie von Kühn“ verlassen gar den fiktiven Rahmen und reflektieren den realen Tod seiner geliebten Verlobten.312
311 Edgar Allan Poe: Die Methode der Komposition, übers. von Ursula Wernicke, in: ders.: Der Rabe. Zweisprachig, übers. von Hans Wollschläger, mit einem Nachwort von E. Y. Meyer, Holzschnitte von d’Aragues, 10. Auflage, Frankfurt a. M. 2003, S. 25-52, hier: S. 39. 312 Der Tod seiner 15-jährigen Verlobten findet seinen (literarischen) Niederschlag auch in den „Hymnen an die Nacht“. Zur besonderen Bedeutung des Todes von Sophie von Kühn auf Novalis Schaffen vgl. etwa: Hermann Kurzke: Eine Viertelstunde hat sein Leben bestimmt. Sophie von Kühn, in: ders.: Novalis. 2. überarbeitete Auflage, München 2001, S. 25-33.
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Doch bei aller Prominenz der weiblichen Leiche in der romantischen Literatur wirft diese Figur auch Fragen auf, kollidieren in ihr doch zwei zunächst disparate Begriffe. Denn kulturgeschichtlich ist der weibliche Körper zumeist als Ursprung des Lebens zu verstehen und somit das genaue Gegenteil des Toten. Stirbt der Frauenkörper, so wird dies vornehmlich mit dem Aussterben einer Art, der Unterbrechung der biologischen Linie gleichgesetzt und somit als zivilisatorischer Rückschritt begriffen. Innerhalb der Kunst jedoch findet in der Darstellung der weiblichen Leiche eine Symbolisierung statt, die auf das generelle künstlerische Verfahren zu verweisen vermag. Diesen Sachverhalt beschreibt Edgar Allan Poe in seinem Aufsatz „Philosophy of Composition“. Symbolisiert zum einen der weibliche Körper für ihn das Schöne, ist zum anderen der Tod als der Auslöser melancholischer Gefühle zu fassen. In der Ineinssetzung von Schönheit und Melancholie subsumiert die Figur der schönen Leiche folglich den höchsten Grad künstlerischen Erfahrens. Hinzu kommt, dass Poes Aussage über das „dichterischste Thema“, im Original „the most poetical topic in the world“, zugleich eine selbstreflexive Komponente aufzeigt. Der Tod der Frau ist also nicht nur ästhetisch schön und zugleich als melancholisch zu verstehen, sondern schließt darüber hinaus auch an ein wirkmächtiges poetologisches Konzept an. Besonders anschaulich exemplifiziert wird dieses in E. T. A. Hoffmanns „Rat Krespel“, in dem das künstlerische Erschaffen analog zum Tod einer jungen Frau in Szene gesetzt wird und gleichsam ein Menschenopfer Billigung findet, das zum Wohle der Kunst dargebracht wird. „Die damit implizierte Gleichsetzung von Leiche und Kunstwerk zeigt eine lang tradierte Problematik der Ästhetik auf. Der Künstler tötet Materie und Erfahrung, indem er sie in Kunst umsetzt, denn die Vergänglichkeit des Körpers und die zeitliche Erfahrung kann dem Tod nur entkommen, indem sie in die Unsterblichkeit der künstlerischen Form hineinstirbt. Nicht grundlos sind die Wörter Textsammlung und Leichnam etymologisch in 313
dem Wort corpus verknüpft.“
Ein generelles Verfahren des künstlerischen Schaffensprozesses reflektierend, wird die schöne Leiche somit zum beliebten Topos der Romantik. Abgesehen von den bereits angeführten Texten und Autoren sind in diesem Kontext besonders die Märchen und hier insbesondere jene der Brüder Grimm zu nennen, deren Texte von ganzen Heerscharen toter und untoter Frauenfiguren bevölkert werden. Bekanntestes Beispiel hierfür ist sicherlich der Text „Snee-
313 Bronfen: Nachwort. S. 378.
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wittchen“314. An ihm kann exemplarisch aufgezeigt werden, wie die Darstellung der schönen Leiche mit dem männlichen Blick korrespondiert und dabei ein Konzept etabliert wird, das changiert zwischen vergänglichem Körper bzw. vergänglicher Schönheit und der Überführung derselben in den kristallinen Zustand der Kunst. Sneewittchens Tod, der sich erst zum Ende des Märchens als Scheintod oder untoter Zustand herausstellt, wird von einem besonderen Umstand begleitet: Ihr Ableben leitet keinen Verwesungsvorgang ein. So wirkt sie auch nach drei Tagen noch äußerlich lebendig und büßt ihre sinnlichen Reize nicht ein. Statt sie also zu begraben, wie es der Ritus nach der Totenwache verlangen würde, soll ihr unversehrtes Äußeres bewahrt, konserviert und ausgestellt werden. Denn die schönste Frau des Landes scheint nur zu schlafen und wird durch die Zwerge in all ihrer Schönheit mittels eines gläsernen Sargs präsentiert.315 „Nun lag Sneewittchen lange, lange Zeit in dem Sarg und verweste nicht, sondern sah aus, als wenn es schliefe […].“316 Der Bruch zum konventionellen Bestattungsritus basiert also auf Sneewittchens anhaltender Schönheit und Unversehrtheit. „Das können wir nicht in die schwarze Erde versenken“317, ist die Meinung der Zwerge, die eben dieser Schönheit dann auch nicht allein durch den gläsernen Sarg huldigen, sondern ebenfalls durch dessen Positionierung auf einem Berg, die den schönen Leichnam allgemein sichtbar macht. In ihrer transparenten Materialität hat diese (vermeintlich) letzte Ruhestätte den Vorteil, dass Sneewittchen von allen Seiten betrachtet
314 Brüder Grimm: Sneewittchen, in: dies.: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm, Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen herausgegeben von Heinz Rölleke, Bd. 1, Märchen Nr. 1-86, Stuttgart 2002, S. 269277. 315 Bronfen verweist in ihren Anmerkungen auf die frappierende Analogie des GlasargThemas im 18. Kapitel des zweiten Teils von Goethes „Die Wahlverwandtschaften“. Eduard stimmt der Beerdigung von Ottilie nur unter der Bedingung zu, dass es sich um einen offenen Sarg handelt, der höchstens mit einem Glasdeckel verschlossen werden darf. Vgl.: Elisabeth Bronfen: Nachwort und Anmerkungen, in: dies.: Die schöne Leiche. Texte von Clemens Brentano, E.T.A. Hoffmann, Edgar Allan Poe, Arthur Schnitzler und anderen, Ausgewählt und mit einem Nachwort, Anmerkungen und bibliographischen Hinweisen versehen von Elisabeth Bronfen, 1. Auflage, München 1992, S. 376-443, hier: S. 430f. 316 Grimm: Sneewittchen. S. 276f. 317 Ebd.
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werden kann und wie Elisabeth Bronfen dazu steigernd ausführt: „er bietet sich den Blicken an, zieht sie geradezu auf sich“318. Sich auf die Studien Ariès berufend, verweist Bronfen des Weiteren auf den Umstand, dass die Inszenierung des Todes, das Aufbahren des Leichnams und die Totenwache Erfindungen des 19. Jahrhunderts sind, die mit dem Erbauungscharakter eines Museumsbesuchs verwandt sind. Diese „Kopplung von Tod und ästhetischer Betrachtung wird im Grimmschen Märchen noch potenziert“319. Die Steigerung erfolgt dabei nicht allein durch das gläserne Material des Schreins und seine Positionierung, sondern auch durch die Beschriftung des Sarges. In Goldlettern wird von den Zwergen Sneewittchens Name und ihr Adelstitel (Prinzessin) an dem Sarg angebracht. Die Trias aus Sarg, Leichnam und Schrift wird somit zum Kunstobjekt, das in seiner Positionierung auf dem Berg sogar einer Kunstinstallation entspricht. Interessant ist jedoch nicht nur die Ausstellung des weiblichen Leichnams durch die Zwerge, sondern auch die Reaktion des Prinzen auf diese letzte Ruhestätte. Auffällig am Verhalten des Prinzen, der den Zwergen und der argwöhnischen Stiefmutter als der männliche Beobachter entgegengesetzt werden kann, ist, dass er sich nicht bemüht von den Zwergen den Leichnam Sneewittchens zu erhalten, sondern eben das künstliche Gesamtensemble. Sein Wunsch: „Laßt mir den Sarg, ich will euch geben, was ihr dafür haben wollt. […] denn ich kann nicht leben, ohne Sneewittchen zu sehen, ich will es ehren und hoch achten wie mein 320
Liebstes.“
offenbart ein erotisches Verlangen, das jedoch an das inszenierte Moment der Totenschau gebunden ist. In einem Zustand des „als ob“, personifiziert Sneewittchen die unsterbliche Liebe. Sie wird unter einem nekrophil männlichen Blick zum Objekt, das nicht verwesen kann, das seinen Schauwert nicht einbüßt und somit zeitlos begehrenswert bleibt. In seiner inszenatorischen Überhöhung in die Kunst kann der konservierte weibliche Leichnam auf unerhörte Weise die Lust des Prinzen befriedigen und erfüllen. Die Überführung des Individuums Sneewittchen in das Kunstobjekt Sneewittchen vermag es, eine generelle Sicht des Prinzen zu verschleiern, nämlich,
318 Bronfen: Nachwort. S. 381. 319 Bronfen: Nachwort. S. 381. 320 Grimm: Sneewittchen. S. 277.
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„daß der Prinz Sneewittchen von Anfang an als schöne Leiche und nur als totes Objekt seines Blickes begehrt. Ein erotisierter und ästhetischer Fetisch tritt an die Stelle der verwesenden Leiche.“
321
Diese triadische Verknüpfung des männlichen Blicks von Frau, Objekt und Tod erkennt auch Žižek. In Bezug auf Texte von Poe bemerkt er: „Das ideale Liebes-Objekt, die Geliebte, lebt am Rand des Todes, ihr Leben ist überschattet durch den bevorstehenden Tod […]. Dieses Merkmal konstituiert einen wesentlichen Teil ihrer fatalen Schönheit – schon von Beginn an ist klar, daß sie „zu schön ist, um von langer Dauer zu sein“. Aus diesem Grund bewirkt ihr Tod keinen Verlust an Faszinationskraft: Ganz im Gegenteil, es ist gerade ihr Tod, der sozusagen ihre absolute Herrschaft über ihn, den Liebenden, das Subjekt, besiegelt – ihr Verlust wirft ihn in eine langwährende melancholische Depression […]. Nur wenn der Poet seine Dame verliert, kann er sie schließlich und wahrhaftig erreichen (hierin liegt eine verborgene Dimension des Todestriebes: Der Poet will den Tod seiner Dame, damit er sie in Ruhe und Frieden feiern kann). Mit anderen Worten, es ist wahr, daß das Objekt verloren ist, aber gerade in diesem Verlust wird es allgegenwärtig: Sein Platz im Raum des Phantasmas, der das Begehren des 322
Subjekts reguliert, ist definitiv errichtet.“
Die Frau als Objekt dient somit allein der männlichen Begehrensstruktur. Bemerkenswert ist, wie somit ein duales Machtsystem erhalten bleibt. Dient die Frau, noch über die Grenzen des Todes hinweg als Objekt, dient sie somit dem Mann und seinem Subjektstatus. Zudem kann von einer strukturellen Verwobenheit von Weiblichkeit und dem Todesmotiv gesprochen werden. Wird in Sneewittchens untoter Sargexistenz der Tod suspendiert und so dem Prinzen ein anhaltendes Moment seiner Gefühle zugestanden, verursacht bereits Sneewittchens Geburt den Tod der leiblichen Mutter. Auch für ihre Stiefmutter, die böse Königin, wird sie ein Zeichen des Todes. In Sneewittchens Schönheit erkennt die Königin ihren eigenen Verfall. Diesem biologischen Kreislauf versucht sie zunächst, dem griechischen Gott Kronos gleich, durch einen kannibalischen Akt, nämlich dem Aufessen von Sneewittchens Lunge und Leber entgegenzuwirken.
321 Bronfen: Nachwort. S. 382. 322 Slavoj Žižek: Sublimierung und der Fall des Subjekts, in: Slavoj Žižek, Mladen Dolar, Alenca Zupančič, Stojan Pelko, Miran Božovič, Renata Salecl: Was sie schon immer über Lacan wissen wollten und Hitchcock nie zu fragen wagten, übers. von Isolde Charim, Thomas Hübel, Robert Pfaller, Michael Wiesmüller, 1. Auflage, Frankfurt a. M. 2002, S.174-180, hier: S. 177f.
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Betrogen von einem Jäger, der die junge Prinzessin nicht tötet und aus Gnade entfliehen lässt, beschließt die Königin die eigenhändige Tötung Sneewittchens. Gequält durch den Anblick der Jüngeren, der Nachfolgerin in ihrem magischen Spiegel wird ihr fortwährend die Jugendlichkeit der Gegnerin wie ein Menetekel vorgeführt, das mit ihrem eigenen Verfall korrespondiert. Ihre dramatische Drohung die Rivalin auszulöschen „und wenn es mein eigenes Leben kostet“ bewahrheitet sich am Ende des Märchens, das somit auch eine Kreisstruktur vollendet, ist doch Sneewittchens abermalige Geburt/Auferstehung der Auslöser für einen erneuten weiblichen Tod. Die im Grimmschen Märchen dargestellte, scheinbar unzerstörbare Kreisstruktur weiblicher Subjektwerdung und Vernichtung, greift Elfriede Jelinek in ihrem Drama „Der Tod und das Mädchen 1 (Schneewittchen)“ auf. Der symbolische Tod der Frau und die Verhinderung einer weiblichen Subjektwerdung durch eine patriarchale, heterosexuelle Machtmatrix bilden den gedanklichen Überbau von Jelineks Dramenquintologie „Prinzessinnendrama“. Der dazugehörige Schneewittchentext wurde bereits 1999 im Sammelband „Macht nichts. Eine kleine Trilogie des Todes“ publiziert. In dem 2003 veröffentlichten Sammelband „Der Tod und das Mädchen I-V“323 wurden erstmals alle Texte des Dramenkomplexes ediert. Jelinek thematisiert in den darin enthaltenden fünf Einaktern die Schicksale bekannter weiblicher Figuren und setzt diese in einen kritischen Genderdiskurs. Neben einer Reflexion auf das Leben von Jackie Kennedy findet sich auch ein Drama über die Märchenfigur Sneewittchen. Jelinek ist natürlich nicht die erste Autorin, die sich daran versucht, das populäre Märchen umzuschreiben324 oder in Jelineks Vokabular: feministisch-
323 Elfriede Jelinek: Der Tod und das Mädchen I-V. Prinzessinnendramen, 2. Auflage, Berlin 2004. 324 Das Gedicht „Snow White and the Seven Dwarfs“ aus dem Jahr 1971 von Anne Sexton ist hierfür ein Beispiel. In ihrem Buch „Transformations“ unterzieht sie die Märchen der Brüder Grimm einer kritisch-feministischen Relektüre und Umschreibung. Tanith Lee setzte sich in ihren phantastischen Texten gleich mehrmals mit dem Sneewittchen-Stoff auseinander, etwa in „Red as Blood or Tales of the Sisters Grimmer“ (1979) oder „Blood-Mantle“ (1985). Auch Angela Carters „The Snow Child“ (1979) ist der Versuch einer feministischen Umschreibung und kann als Textualisierung der feministischen Thesen Carters gelesen werden. Berühmt wurde Carter auch durch die Verfilmung ihrer beiden Rotkäppchen-Texte „Der Werwolf“ und „Die Gesellschaft der Wölfe“. Der Film „Die Zeit der Wölfe“ von Neil Jordan beschreibt das Treffen zwischen einem jungen Mädchen und einem Jäger und kann
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parasitär zu besetzen.325 Der von ihr geschaffene Terminus des Parasitärdramas wirkt an dieser Stelle besonders treffend, denn ist durch die Umschreibung eines tradierten Textes sicherlich keine allumfassende Neubewertung zu erwarten, so zumindest doch eine Erweiterung und Störung des (männlichen) Blickwinkels mittels eines sich am Prätext parasitär anhaftenden Dramas. Die Jelinekschen Termini Sekundär- und Parasitärdrama unterstreichen zunächst das intertextuelle Verfahren Jelineks. Als Beispiele eines Sekundärdramas gelten „Abraumhalde“ zu Gotthold Ephraim Lessings „Nathan der Weise“ und „FaustIn and out“ zu Johann Wolfgang von Goethes „Faust“. Jelineks Verfahren entwickelt den Urtext weiter, setzt ihn in Bezug zu zeitgenössischen Vorkommnissen und bietet somit eine Lesart des Klassikers an. Dies soll durch die von Jelinek erwünschte parallel stattfindende Inszenierung der Urtexte und ihrer sekundären Weiterschreibung noch unterstützt werden. Frühere stark intertextuelle Dramen, wie „Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften“, „Präsident Abendwind“, aber auch Texte wie „Ulrike Maria Stuart“ oder „Winterreise“, werden als Parasitärdramen erfasst. In beiden Dramentypen werden Figuren anderer Texte und Autoren aufgegriffen, in Varianten eines veränderten soziökonomischen (Zeit-)Raums präsentiert und damit auch deren Geschichte weitergeschrieben, wie etwa mit Schillers Figur der Maria Stuart, die mit dem Schicksal Ulrike Meinhoffs in Analogie gesetzt wird und zugleich eine Reflexion auf eine literarisierte geschichtliche Person bietet. Da jedoch eine genauere Einteilung, Unterteilung und Differenzierung von Sekundärdrama, Parasitärdrama sowie die sich aufdrängenden Fragen, etwa nach absoluten Metaphern, Intertextualität, theaterwissenschaftlichen Fragestellungen und Originalität den Rahmen der Arbeit überschreiten würde, kann an dieser Stelle nicht genauer darauf eingegangen werden.326 Somit wird auch im „Prinzessinnendrama“ die Tradition, in der dieser Text steht, nicht negiert, sondern vielmehr in seiner Wirkungsgeschichte transparent gemacht und seine (gendertheoretischen) Machtstrukturen offenbart.
analog zu Jelineks Text als ein psychologisches Treffen gewertet werden, in dem sich Motive von Gewalt, Sexualität und der Vertierung des Menschen wiederfinden. 325 Zu den unterschiedlichen Lesarten feministischer Märchendeutung vgl.: Kay F. Stone: Feminist Approaches to the Interpretation of Fairy Tales, in: Ruth B. Bottigheimer (Hrsg.): Fairy Tales and Society. Illusion, Allusion and Paradigm, Pennsylvania 1986, S. 229-236. 326 Auf Forschungstexte kann an dieser Stelle nicht verwiesen werden, da eine Erforschung bislang nicht erfolgt ist.
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Eine klare Veränderung – außer dem Wechsel von einem Märchen in ein Drama – ist am Personenensemble zu erkennen. In Jelineks Text treten nur noch Schneewittchen und der Jäger auf (und erst zum Schluss die sieben Zwerge), die sich im Wald begegnen. Dass bei dieser Begegnung laut Regieanweisungen keine Schauspieler zu sehen sind, sondern „Zwei riesige, popanzartige Figuren, die zur Gänze aus Wolle gestrickt und dann ausgestopft“327 und nur „die Stimmen […], leicht verzerrt, aus dem Off“328 zu hören sind, verweist auf die Gemachtheit und die Materialhaftigkeit der (Märchen-)Figuren. In dieser besonderen Regieanweisung – die bisher noch nie umgesetzt wurde – erkennt Bärbel Lücke, dass „Paradigmen einer Geschlechterdifferenz nicht unveränderbar, zeitlos und stabil sein können“329. Doch offenbart der Text darüber hinaus auch die Gegenpole männlich versus weiblich als ineinander verstrickte330 und kaum auflösbare Setzungen, selbst wenn ihr artifizieller Charakter klar erkennbar gemacht wird und sogar den Figuren selbst bewusst ist. Denn analog zu anderen feministischen Texten der Autorin, die sich in die Gruppe der Parasitärdramen eingliedern lassen, sich also ausdrücklich in die Tradition bekannter Texte einschreiben, wie etwa Jelineks Nora-Text, ist sich auch ihr Schneewittchen der eigenen Tradiertheit bewusst. Selbstreflexiv weiß sie etwa: „[…] meine Geschichte gibt es schon seit Jahrhunderten.“331 Auch ihr (Schein-)Tod ist ein Umstand, über den sie sich im Klaren ist und den sie, wie in
327 Elfriede Jelinek: Der Tod und das Mädchen I (Schneewittchen), in: dies.: Der Tod und das Mädchen I-V. Prinzessinnendramen, 2. Auflage, Berlin 2004. S. 7-24, hier: S. 9. 328 Ebd. 329 Bärbel Lücke: Denkbewegungen, Schreibbewegungen – Weiblichkeits- und Männlichkeitsmythen und -bilder im Spiegel abendländischer Philosophie: Eine dekonstruktivistische Lektüre von Elfriede Jelineks „Prinzessinnendramen“ Der Tod und das Mädchen I–III, in: Bettina Gruber, Heinz-Peter Preusser (Hrsg.): Weiblichkeit als politisches Programm? Sexualität, Macht und Mythos, Würzburg 2005, S. 107-136, hier: S. 114. 330 Florian Auerochs stellt über das Wort „Verstricktsein“ auch eine Analogie zu Lacans symbolischer Ebene auf, die durchaus logisch erscheint, jedoch leicht verkürzt in Analogie zu Barthes Mythendestruktion und Jelineks Mythendekonstruktion gesetzt wird. Vgl. hierzu: Florian Auerochs: Vom gläsernen Sarg zum „Glaspalast des Männlichen“: Volksmärchen und feministische Philosophiekritik in Elfriede Jelineks Schneewittchen-Adaption Der Tod und das Mädchen I. Über: http://jelinetz2.files. wordpress.com/2013/05/auerochs_jelinetz_mc3a4rchen.pdf, S. 4. 331 Jelinek: Schneewittchen. S. 10.
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einem Möbiusband gefangen, doch immer wieder neu erleiden muss. Jelineks radikal-gendertheoretische Relektüre und Neuinszenierung des tradierten Stoffs der Brüder Grimm wird schon in den ersten Passagen offensichtlich, in denen sich Schneewittchen selbst als „eher fürs Leichte zuständig“332 charakterisiert und geradezu resignativ ihr Gefangensein in vorgefertigten Bildern beschreibt. Es ist typisch für die Figuren des Jelinekschen Theaters, dass sie „die Bedingungen ihres Erscheinens ausstellen, wenn sie im Zitat „von sich“ sprechend ihre Nachträglichkeit und Fiktionalität offen legen“333. Diese Dekonstruktionsverfahren erlauben es den Figuren zwar, ihre eigene Gemachtheit, ihr artifizielles Gehäuse zu analysieren. Doch führt die Erkenntnis des eigenen Ichs keinesfalls zu einer Umkehrung der Machtverhältnisse, vielmehr werden diese nur offensichtlicher ausgestellt und sogar noch konzentriert.334 In bitter ironischem Sprachstil erhebt sich demzufolge die Grimmsche Nebenfigur des Jägers im „Prinzessinnendrama“ zum Beherrscher der Natur. Die Tiere des Waldes sind für ihn eine ebenso zu erjagende Beute wie die Frauen. Diese Ineinssetzung von Weiblichkeit und Tier offenbart sich etwa in einer paraphrasierten Textzeile, die im Grimmschen Prätext noch den Zwergen zukam. „(I)ch nehme meine Beute stets mit. Für die Erde ist sie mir zu schade.“335 Wird im Original noch auf Schneewittchens Schönheit verwiesen, die es unmöglich macht, sie nach ihrem Tod zu beerdigen, bezieht sich die Wertigkeit der Beute bei Jelinek auf Tiere. Doch macht eine Unterteilung zwischen Tier und Frau für den Jäger ohnehin wenig Sinn. Er ist der Beherrscher der ganzen Natur, dem darüber hinaus das Wissen über die Dinge zu eigen ist. Schneewittchen hingegen irrt untot durch den Wald und sucht verzweifelt nach den Zwergen, bei denen sie Erkenntnis und Wahrheit zu finden hofft. Aus der jungen Prinzessin wird somit eine Verirrte, eine Sinnsuchende, die der (männlichen) Gewalt des Jägers und seinem Gutdünken hilflos ausgeliefert ist. Ein Ausgeliefertsein gegenüber dem Jäger, wie es sich auch im Grimmschen Text ausmachen lässt. Doch heißt es bei den Grimms noch: „Und weil es so schön war, hatte der Jäger Mitleiden“336, so wird aus dem rettenden Attribut der Schönheit im „Prinzessinnendrama“ Jelineks
332 Jelinek: Schneewittchen. S. 9. 333 Evelyn Annuß: Elfriede Jelinek. Theater des Nachlebens, München 2005, S. 11. Zitiert nach Auerochs. 334 Vgl. hierzu: Heide Helwig: Mitteilungen von Untoten. Selbstreferenz der Figuren und demontierte Identität in Hörspiel und Theaterstücken Elfriede Jelineks, in: Sprachkunst 25 (1994), 2. Halbbd., S. 389-402, insbesondere S. 395f. 335 Jelinek: Schneewittchen. S. 10. 336 Grimm: Sneewittchen. S. 270.
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ein negatives Moment. Der Jäger bemerkt zu Schneewittchens Äußerem abwertend: „Hohe Absätze, Spezialeinlagen, auftoupierte Beton-Frisuren! Kein Wunder, daß die Wahrheit sich mit so einem Wesen nicht identifizieren mag.“337 War im Märchen Schneewittchens Schönheit noch gleichzeitig Auslöser und Rettung ihres Schicksals, wird Schönheit von dem Jelinekschen Jäger nur hämisch verachtend betrachtet. Schneewittchens Eitelkeit, die im Grimmschen Text angelegt ist, lässt sie sich doch durch die Königin mit einem Kamm und einem Schnürriemen verführen, wird vom Jäger im „Prinzessinnendrama“ als Schwäche und Unnatürlichkeit gewertet. Jelineks Kritik gilt an dieser Stelle auch dem weiblichen Verhalten, das sich schmückend den Männern anbiedert und auf diesem Wege tradierte Rollenmuster festigt. Somit bleibt in der oppositionellen Rolle der Mann als der Träger von Wahrheiten das Subjekt, welches Realitäten erschafft und beherrscht. Denn während die Schneewittchenfigur noch über ihr eigenes, künstliches Dasein spekuliert und wortreich referiert, erklärt der Mann „Ich bin der Tod und aus. Der Tod als die ultimative Wahrheit.“338 Mit dieser Aussage unterstreicht er klar seine Machtposition. Dabei bleibt seine energische Ausführung keine leere Drohung. Zum Ende des Dramas tötet er das verstörte Schneewittchen mit einem Gewehr. „Zur Leiche“339 zugewandt negiert er seine vorherige Aussage, indem er erklärt: „Das ist jedenfalls einmal Beute, die ich liegenlasse.“340 Denn nur im Liegenlassen, im Sich-nicht-Kümmern kann sich die patriarchale Geschichte wiederholen. War die Waffe des Jägers im GrimmText noch ein Dolch, sollte die Verwendung eines Gewehrs nicht als modernistische Attitüde abgetan werden. Vielmehr kann diese Modernisierung der Waffen als wortwörtlich genommene Aufrüstung im fortwährenden Geschlechterkampf gelesen werden. Hierauf verweist auch der vorletzte Monolog Schneewittchens, in dem sie über ihre bereits erlittenen „Todesarten“341 im Grimmschen Text nachsinnt. Das wiederholte „Todesarten“ verweist intertextuell auf Bachmanns342 „Todesarten-Projekt“, das nach Jelinek im Kern einen „Krieg mit ande-
337 Jelinek: Schneewittchen. S. 11. 338 Jelinek: Schneewittchen. S. 12f. 339 Jelinek: Schneewittchen. S. 23. 340 Ebd. 341 Jelinek: Schneewittchen. S. 19. 342 Eine Nähe zu Ingeborg Bachmann ist den Prinzessinnendramen auch dadurch zu eigen, weil im fünften Teil „Die Wand“, neben Sylvia Plath, Bachmann selbst als zentrale Dramenfigur steht.
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ren Mitteln“343 beschreibt, der zwischen den Geschlechtern tobt. Die Waffen mögen sich demnach weiterentwickeln, die Quintessenz bleibt die ewig Gleiche. Folgerichtig muss auch Jelineks Schneewittchen wieder sterben und weiß sich nicht aus dem prädestinierten Daseins zu befreien. „Die Opferung der reinen Frau kann vordergründig einer Gesellschaftskritik dienen, indem an ihr, als der Verkörperung einer profanisierten Form Christi, gezeigt wird, daß die Reinen in dieser Welt nicht überleben, dabei aber die weltliche Schuld dennoch auf sich nehmen können. Die Opferung der gefährlichen Frau hingegen stellt die Ordnung, die durch ihre Gegenwart kurzfristig aufgehoben wurde, wieder her und bändigt die Ängste wie auch die gefährlichen Phantasien, die sie auslöste. In beiden Fällen wird die Norm bestätigt und erhalten.“
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Jelineks Text offeriert demnach noch eine Steigerung. Denn bevor die Frau überhaupt gefährlich werden kann, wird sie (symbolisch) getötet, um nicht die Machtverhältnisse neu ordnen zu müssen. Lakonisch urteilt der Jäger: „Nur die Zeit habe ich ihr genommen, das mußte genügen, die war ja auch das Gefährlichste an ihr. Noch fünf Minuten, und ich hätte mich vielleicht überreden lassen, kleiner 345
zu werden als ich bin.“
Der Akt des Tötens muss sich demnach immer wieder erneuern, sollen die Machtverhältnisse gleich bleiben. Die symbolische Tötung darf dabei nicht aufgeschoben und dem weiblichen Gegenüber nicht zu viel Zeit eingeräumt werden. Die Gefahr einer möglichen Subjektwerdung der Frau, die durch eine Unterbrechung der Möbiusstruktur erreicht würde, liegt in der Klein-Werdung des Mannes, seinem Machtverlust. Denn kaum hat der Jäger Schneewittchen getötet und ist verschwunden, kommen schon die sieben Zwerge und vollenden somit die Kreisbewegung. „Sie legen Schneewittchen in den gläsernen Sarg und tragen ihn fort.“346 Im letzten Teil des Dramas, der den einzigen Redeanteil der Zwerge bildet und wie ein Epilog gelesen werden kann, unterstreichen diese noch den bis dahin
343 Elfriede Jelinek: Der Krieg mit anderen Mitteln. Über Ingeborg Bachmann, in: Die Schwarze Botin 21, Berlin 1983, S. 149-153, hier: S. 149. 344 Bronfen: Nachwort. S. 379. 345 Jelinek: Schneewittchen. S. 23. 346 Jelinek: Schneewittchen. S. 24.
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nur subtilen Vorwurf, dass auch die Frauen mit ihrem Verhalten das vorherrschende patriarchale Machtsystem unterstützen. „Typisch. Da geht sie hin, die Gute. Dabei hätte sie uns rechtzeitig finden können, wenn 347
sie ihre Wanderkarte nicht die ganze Zeit verkehrt herum gehalten hätte.“
In ihrer Aussage geben die sieben Zwerge auch Schneewittchen Schuld an deren Schicksal, wodurch das Drama noch einmal differenziert wird und sich einer allzu plakativen Dialektik verwehrt. Denn wird auch der Mord an der jungen Frau euphemistisch als ein Hinweggehen bezeichnet, das stetige Wiederholen des ewig Gleichen nur mit einem „Typisch“ quittiert, wird doch die Kritik am Geschehenen klar an Schneewittchen adressiert. In dem Witz, Schneewittchen hätte die Karte nur falsch herum gehalten, schwingt bitterer Sarkasmus mit, ihr Schicksal wird im Nachhinein als selbst verschuldet bewertet. Ihre Orientierungslosigkeit ist also der eigenen Dummheit geschuldet, die sie hindert, die Zwerge, die mehrfach als Personifikationen der Wahrheit beschrieben werden, zu finden. Statt die Wahrheit zu finden, so die weitere Kritik der Zwerge, verlässt sich Schneewittchen zu sehr auf ihr Äußeres. Wie bereits zuvor der Jäger, werfen nun auch die Zwerge Schneewittchen ihre Eitelkeit vor. „Was die Schönheit für Täler gehalten hat, waren in Wirklichkeit Berge. Nur das Gute kann Berge versetzen, manchmal auch der Glaube, die Schönheit kanns jedenfalls nicht. […] Die Berge waren, wo sie schon immer waren, bloß die Schönheit war leider am falschen Ort.“
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Sich auf die eigene Schönheit zu verlassen, offenbart sich als großer Fehler. Rettete sich im Grimmschen Text Schneewittchen zweimal mit ihrem Aussehen, unterstreicht Jelinek einerseits, dass Schneewittchens Schönheit sie erst in die missliche Lage versetzte, andererseits beschreibt sie aber auch ein weibliches Verhalten, das ganz auf Äußerlichkeiten vertraut und dem Mann kampflos das Machtdispositiv überlässt. Die im Grimmtext angelegte „bewegende Schönheit, die bei Frauen Hass, bei Männern Liebe auslöst und selbst die gefährlichsten Wilden besänftigt“,349 wird bei Jelinek zerschlagen. Denn nicht nur, dass die Schönheit die Männer nicht besänftigt, sie zeigt überhaupt erst die Unterordnung, die per se
347 Jelinek: Schneewittchen. S. 24. 348 Jelinek: Schneewittchen. S. 24. 349 Christine Shojaei-Kawan: Schneewittchen, in: R. W. Brednich u.a. (Hrsg.): Enzyklopädie des Märchens, 14. Bde. , Berlin 2007, Bd. 12, Sp. 131.
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den Mann als Machthaber und Herren akzeptiert und so jegliche autarke Sinnsuche im Keim erstickt, ist doch das Dispositiv der Schönheit bereits immer ein nach männlichen Parametern bereiteter Diskurs. Schneewittchen bleibt also auch in der dramatischen Relektüre im Tradierten gefangen. Jelinek zeigt sie aber als eine Frauenfigur, die keinen Ausweg aus dem Möbiusband findet und dazu verflucht ist, ihr Schicksal immer wieder zu erdulden. Durch den Wegfall des Prinzen potenziert sich dieses Schicksal noch. War im Grimmschen Text die Frau nur metatextuell als Objekt zu erkennen, ist dieser Status nun offensichtlich. Schneewittchens Stellung als schöne Frau mündet nicht mehr im Zusammenleben mit einem Prinzen, der sie wieder einfügt in die heterosexuelle Matrix. Konnte schon im Grimmtext der Objektstatus für Schneewittchen nachgewiesen werden, so lässt Jelinek also ihre Frauenfigur noch weiter abfallen in ein Objekt-Dasein. Zwischen Tier und Mensch angesiedelt, ohne Macht und Orientierung hat sich der Kampf der Geschlechter weiterhin zugespitzt und macht aus der Frau ein untotes Objekt. Jelinek schreibt sich nicht nur ganz offensichtlich in die literarische Tradition ein, indem sie bestehende Texte adaptiert und parasitär besetzt, sie vermag darüber hinaus auch bestehenden Figuren, wie der schönen Leiche, neue Aspekte mittels einer Radikalisierung ihrer eigenen Tradition abzugewinnen. Eine Weiterentwicklung des hier beschriebenen Themas der weiblichen Leiche, wie sie in romantischen Texten etabliert und in der SchneewittchenVariation aufgenommen wird, wurde bereits durch die Brechung des EntitätsBegriffs in früheren Jelinektexten gegeben. Doch die Auflösung des Körpers in ein Partialobjekt bleibt nicht die einzige Taktik einer Subjektkonstituierung, die sich den gegebenen Dichotomien verweigert. Blieben die Frauen sowohl in Jelineks Krankheit-Text als auch im Prinzessinnendrama Objekte, verweist ihr Objektstatus auf eine Ästhetik, die dem männlichen Blick untergeordnet bleibt. Die Vampirinnen wie auch Schneewittchen bleiben in letzter Instanz Objekte des männlichen Blicks, der die Regeln der Schönheit bestimmt. Ist der Schneewittchenfigur wie auch dem weiblichen Vampir immer schon ein sexuell begehrenswertes Moment zu eigen, werden es die untoten Zombies sein, die in „Die Kinder der Toten“ die heterosexuelle Matrix durchbrechen. Jelineks 1995 publizierter Roman kann als der Kulminationspunkt des bisherigen Œuvres der Autorin verstanden werden und wird demgemäß auch die weitere Analyse der vorliegenden Arbeit bestimmen.
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Verzichtet Jelinek seit „Wolken.Heim“ (1988) weitestgehend auf die dramentypischen Figuren- und Rolleneinteilungen und ist – wie bereits gesehen – seit „Krankheit oder Moderne Frauen“ (1987) zudem ein massiver Anstieg phantastisch-untoter Figuren in ihren Texten zu registrieren, so kann der Roman „Die Kinder der Toten“ als Summe der dramatischen Texte bezeichnet werden. Von Jelinek selbst als Hauptwerk bezeichnet350, allgemein als ihr Opus Magnum verstanden351 und gar als „eines der bedeutendsten Prosawerke deutscher Sprache im 20. Jahrhundert“352 gerühmt, verweist schon die formale Struktur des Textes auf dessen Mehrdeutigkeit. Symbolisch aufgeladen ist dem Text zunächst die von Eran Schaerf geschaffene Grafik einer verwobenen Schriftrolle vorangestellt. Die an eine Mesusa erinnernde Schriftrolle ist mit hebräischen Zeichen beschrieben, für die der Text keine Übersetzung anbietet. Nur die deutsche Erstausgabe aus dem Jahr 1995 hatte auf der Rückseite des Schutzumschlags eine Übersetzung, die als solche jedoch auch nicht gekennzeichnet war.353 Ins Deutsche übertragen, greift der Sinnspruch „Die Geister der Toten, die solange verschwunden waren, sollen kommen und ihre Kinder grüßen“ den Titel des Textes auf und vollzieht eine Art
350 Verena Mayer und Roland Koberg: Elfriede Jelinek. Ein Porträt, Hamburg 2006, S. 206. 351 Bärbel Lücke etwa betitelt das Kapitel zu die „Kinder der Toten“ in ihrer JelinekEinführung so. Vgl. Bärbel Lücke: Elfriede Jelinek. S. 91. 352 Ralf Schnell: Stoffwechselprozesse, in: Album (Der Standard), 21.10.2006. zitiert nach Lücke: Jelinek. S. 91. 353 Mertens Ausführungen sind an dieser Stelle ungenau. Vgl.: Moira Mertens: Die Ästhetik der Untoten in Elfriede Jelineks Roman „Die Kinder der Toten“. S. 68. über: http://jelinetz2.files.wordpress.com/2013/02/xdie_c3a4sthetik_der_untoten_m_mert ens.pdf
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Totenbeschwörung.354 Doch das abgebildete in sich mehrfach gefaltete dreifache Band bezeugt bereits in mehrerlei Weise die Gesamtkonzeption des Textes und seine Komplexität. Neben der – außer in der Erstausgabe – verweigerten Übersetzung des Spruchbandes ist auch die Autorschaft des Geschriebenen nicht der Autoreninstanz Jelinek eindeutig zuweisbar. Hinzu kommt, dass durch die Faltung der Eindruck erweckt wird, dass der nicht sichtbare, weg-gefaltete Teil des Spruchbandes einen verborgenen Textanteil beinhalten könnte.355 Der noch nicht begonnene Text verweigert sich also schon an dieser Stelle den üblichen Regeln und Interpretationsansätzen und verweist somit bereits vor seinem eigentlichen Anfang darauf, dass es sich zwar um einen durchkomponierten Text handelt, der sich aber auch im weiteren Verlauf klassischen Fragestellungen entzieht und deshalb einen modernen Interpretationsansatz geradezu herausfordert. Neben der Mesusa-Grafik ist es die Konzeption des Romans auf 666 Seiten, auf die in wissenschaftlichen Texten häufig verwiesen wird. In gedruckter Form kam der Text zwar auf eine Seite mehr, entsprach aber damit nicht mehr dem
354 Nach Mertens wurde aufgrund der Ungewissheit der Übersetzung im deutschsprachigen Feuilleton lange die Vermutung angestellt, es handle sich um einen Spruch aus der Thora. Während diese Vermutung eine Eigendynamik entfaltet, die schließlich sogar die Forschungsliteratur erreichte, konnte der Lektor Jelineks 2006 mit diesem unhinterfragten modernen Mythologem endgültig aufräumen. Delf Schmidt: „Ein Schreiben findet hier nicht statt.“, in: Brigitte Landes (Hrsg.): Stets das Ihre. Elfriede Jelinek, Theater der Zeit, Arbeitsbuch 2006, Berlin 2006, S. 7. Den weiteren Beobachtungen Mertens, die von einer bewussten Zurückhaltung der deutschen Übersetzung ausgeht, stehen jedoch Lückes Ausführungen gegenüber, die von einer Übersetzung auf dem Backcover der Erstauflage berichtet. Vgl.: Bärbel Lücke: „Das Geheimnis der Welt“ – zur Phänomenologie und Genealogie von Gewalt in Roberto Bolaños Roman „2666“, Elfriede Jelineks Roman „Die Kinder der Toten“ und ihrem Theaterstück „Über Tiere“. S. 7. über: http://www.vermessungs seiten.de/luecke/bolano.pdf 355 Vogel greift in ihrer Analyse die Deleuzesche und Leibnizsche Idee der Falte auf und erhebt diese zum poetologischen Konzept des Textes. In der Falte, so die These, sind keine starren, immerwährenden Bedeutungsträger mehr möglich. Konstituierende Raum- und Differenzmodelle werden in einem Akt des steten Faltens und Entfaltens gebrochen, jedoch auch die Möglichkeit der Modulation und Variation eröffnet. Vgl.: Juliane Vogel: „Keine Leere der Unterbrechung“ – „Die Kinder der Toten“ oder der Schrecken der Falte, in: Modern Austrian Literature 39 (2006), Nr. 3/4, S. 15-26.
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von Jelinek angelegten Manuskript. Ein Umstand, auf den wiederum Jelineks Lektor in einem offenen Brief an die Autorin verweist. „Deshalb sollte das Buch auf Seite 666 enden, mit der berüchtigten Zahl, der Zahl des Tiers, die zum bekannten Symbol des Satanismus geworden ist. Dein Roman war, ungeachtet der Kürzungen in den Fahnen, nicht auf 666 Seiten unterzubringen, zehn Zeilen 356
blieben übrig, sie stehen nun auf einer neuen, nicht mehr paginierten Seite (667).“
Die satanisch konnotierte Zahl der dreifachen Sechs nimmt Bezug auf das von Johannes von Patmos357 verfasste, „letzte kanonische und einzige prophetische Buch des Neuen Testaments“358. Doch ist es nicht allein die Offenbarung des Johannes, auf die die Nennung der 666 verweist. Längst ist diese magische Zahl ein Synonym für das satanische Tier der Apokalypse, des Antichristen, des Okkultismus als Inventar des popkulturellen Kosmos in einer Vielzahl an Filmen und Gruselheftchen verwendet worden. Die dem Jelinekschen Text vorangestellte Widmung geht an den Satanismusforscher Josef Dvorak. Der österreichische Tiefenpsychologe und katholische Theologe erlangte Berühmtheit durch Happenings, in denen er den Satan anrief und die in ihren Praktiken auf den weltweit bekanntesten Satanisten Aleister Crowley zurückgehen. Sowohl die Übertragung solcher Sessions im österreichischen Fernsehen als auch seine Publikation über den Satanismus Ende der 1980er Jahre machten Dvorak einem größeren Publikum bekannt. Jelineks Spiel mit einer Zahlenmystik, der Widmung für einen Satanismusforscher und einer schützenden Mesusa, die sich einer Sinngebung zu entziehen versucht, nehmen bereits die Verschlossenheit vorweg, die der Text selbst nicht schuldig bleiben wird. Das hermetische Moment von „Die Kinder der Toten“ entsteht zum einen durch Jelineks Textverfahren selbst, das sich in intertextuellen Bezügen immer wieder zu überbieten versucht und deshalb eine palimpsestgleiche Struktur aufweist.359 Zum anderen deuten Mesusa, Zahlenmystik und „Geheimschrift“ aber
356 Schmidt: „Ein Schreiben findet hier nicht statt.“ S. 7. 357 Offenbarung des Johannes, 13, 1-3 und 13,18. 358 Lücke: Das Geheimnis der Welt. S. 4. 359 Zu intertextuellen Verfahren und der Idee des Palimpsest als strukturierendes Moment von „Die Kinder der Toten“ siehe: Alexandra Pontzen: Pietätlose Rezeption? Elfriede Jelineks Umgang mit der Tradition in Die Kinder der Toten, in: Sabine Müller und Cathrine Theodorsen (Hrsg.): Elfriede Jelinek – Tradition, Politik und
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auch auf die Massen von Untoten hin, die den Text bevölkern und auch als Anlehnung an die Tradition der Gothic Novels verstanden werden kann. Denn auch wenn sich „Die Kinder der Toten“ einer linearen Textstruktur immer wieder verweigern, ist doch die Figur des Untoten eine wiederkehrende Konstante. Zusammengefasst entwirft der Text eine sich anbahnende Apokalypse, in der untote Zombiemassen eine Bergpension in Österreich heimsuchen. Die drei Hauptfiguren sind der Sportler Edgar Gstranz, die Studentin Gudrun Bichler und die Sekretärin Karin Frenzel. Gstranz ist das Opfer eines Autounfalls, Bichler beging Suizid, weil sie den Druck der Universität nicht aushielt und Karin Frenzel ist das Opfer einer Naturkatastrophe, die im Prolog geschildert wird. Der Leser folgt diesen geisterhaften Figuren, die sich durch ein Totenreich kämpfen, ihren eigenen Simulakren360 begegnen und zugleich in Kontakt mit anderen Untoten geraten. Untote, die im Verlauf des Romans immer zahlreicher zurück ins Leben gleiten und versuchen, von den drei Protagonisten Besitz zu ergreifen, ohne dabei zu bemerken, dass die drei Hauptprotagonisten ebenfalls tot sind. Dieses narrative Grundkonstrukt wird angereichert mit und durchzogen von der bereits in älteren Texten auffälligen Jelinekschen Assoziationsflut. Denn auch die seit ihren ersten Texten verhandelten Themen wie Medienkritik („wir sind lockvögel baby!“ 1970), Geschlechterdifferenzen („Die Liebhaberinnen“ 1975), Gewaltdiskurse („Die Klavierspielerin“ 1983), das artifizielle Erleben einer vermeintlich „unberührten“ Natur (Oh Wildnis, oh Schutz vor ihr“ 1985) oder die unverarbeitete Geschichte Österreichs der 1930er und 1940er Jahre („Burgtheater“ 1985, „Präsident Abendwind“ 1987, „Wolken.Heim.“ 1988, „Totenauberg“ 1991) bestimmen das Romangeschehen und können die These von „Die Kinder der Toten“ als Kulminationspunkt des Jelinekschen Œuvres nur unterstreichen. Gerade letzteres Thema, die unverarbeiteten Verstrickungen Österreichs in die Gräuel der Nazidiktatur, deutete sich in den Dramentexten bereits an und bildet erstmals in diesem Text die dominante Thematik eines Jelinekschen Romans. Eine Beobachtung, die sich auch klar in der Rezeption des Textes niederschlägt. Denn innerhalb der bisherigen Forschungsliteratur – die in Bezug auf die Bedeutung des Textes für das Jelineksche Werk immer noch vergleichsweise schmal ausfällt – überwiegt die Lesart der Erinnerungskultur zu „Die Kinder der
Zitat (Ergebnisse der Internationalen Elfriede Jelinek-Tagung 1.–3. Juni 2006 in Tromsø). Wien 2008, S. 51-69. 360 Der von Baudrillard geprägte Begriff wird im weiteren Verlauf noch von Bedeutung sein.
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Toten“, die den Text Jelineks als Beitrag zu der nicht aufgearbeiteten nationalsozialistischen Vergangenheit Österreichs deutet.361 Doch neben der unverarbeiteten NS-Vergangenheit der Alpenrepublik, die zum Ausbruch der Katastrophe in „Die Kinder der Toten“ führt, sind es die den Text bevölkernden sprachunfähigen Zombies und die vermeintlich oppositionellen Überlebenden einer post-apokalyptischen Dystopie, die besonders aufschlussreich sind und dies nicht allein deswegen, weil schon ab „Wolken.Heim.“ nahezu alle Personen des weiteren Schaffens Jelineks Untote sind. Innerhalb der Forschungsliteratur ist jedoch die Neigung zu erkennen, den Untoten bei Jelinek vorschnell als Allegorie zu erfassen.362 Der Untote erscheint
361 In Auswahl: Jutta Gsoels-Lorensen: Elfriede Jelinek’s Die Kinder der Toten: Representing the Holocaust as an Austrian Ghost Story, in: The Germanic Review 81 (2006), H. 4, S. 360-382. – Axel Dunker: Writing Auschwitz. Elfriede Jelineks „Kinder der Toten“, in: ders.: Die anwesende Abwesenheit. Literatur im Schatten von Auschwitz, München 2003, S. 140-153. – Klaus Kastberger: Mörderrepublik. Jüngste Beiträge der österreichischen Literatur zur Dramatisierung hiesiger Verhältnisse, in: Wespennest (1995), Nr. 101, S. 14-19. – Alexandra Pontzen: Die Wiederkehr des Verdrängten im Akt der Lektüre. Zu Elfriede Jelineks „Das über Lager“ (1989) und „Die Kinder der Toten“ (1995), in: Inge Stephan und Alexandra Tacke (Hrsg.): NachBilder des Holocaust. Köln/Weimar/Wien 2007, S. 91-110. – Jens Birkmeyer: Elfriede Jelinek. Tobsüchtige Totenwache, in: Norbert O. Eke und Hartmut Steinecke: Shoah in der deutschsprachigen Literatur. Berlin 2006, S. 302310. – Andrea Kunne: „Het einde van de ‚schone schijn‘. Elfriede Jelineks roman „Die Kinder der Toten“ als reactie op de holocaust“, in: Liesbeth Korthals Altes und Dick Schram (Hrsg.): Literatuurwetenschap tussen betrokkenheid en distantie. Assen 2000, S. 253-264. – Jacques Lajarrige: Des cannibales après Auschwitz – Une lecture de Die Kinder der Toten, in: Austriaca 29 (2004), H. 59, S. 137-155. – Sabine Treude: Die Kinder der Toten oder: Eine Verwirklichung der Geschichten mit einer Geschichte, die fehlt, in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Text+Kritik, Heft 117: Elfriede Jelinek, 2. erweiterte Auflage, München 1999, S. 100-109. 362 Siehe hierzu etwa: Marlies Janz: Elfriede Jelineks Destruktion des Mythos historischer „Unschuld“, in: Daniela Bartens (Hrsg.): Elfriede Jelinek. Dossier Extra. Wien 1997. – Ralf Schnell: „Ich möchte seicht sein“ – Jelineks Allegorese der Welt: Die Kinder der Toten, in: Waltraud Wende (Hrsg.): Nora verläßt ihr Puppenheim. Autorinnen des zwanzigsten Jahrhunderts und ihr Beitrag zur ästhetischen Innovation, Stuttgart/ Weimar 2000. – Sabine Kyora: Untote. Inszenierungen von Kultur und Geschlecht bei Elfriede Jelinek, in: Hanjo Berressem (Hrsg.): Grenzüberschreibungen. „Feminismus“ und „Cultural Studies“, Bielefeld 2001. – Annette Runte: „Kin-
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hier als eine Figur der Rückkehr der unaufgearbeiteten Vergangenheit Österreichs. Verdrängte Ereignisse, so die Argumentation, bahnen sich in der Figur des Zombies ihren Weg zurück in die Gesellschaft. Die Zombiefigur wird so zu eine Art des untoten Rächers. Dabei kann der Untote ebenfalls als Verweis auf eine generelle Problematisierung des Subjektbegriffs und der Zeichenrealität gelesen werden, auf die sich etwa Žižek bezieht.363 „Das intersubjektive Verhältnis funktioniert in der Art, daß jeder von uns durch den anderen bzw. die anderen mit einer Stelle in der symbolischen Struktur bzw. mit einer phantasmatischen Stelle identifiziert wird. Der gewöhnlichen Auffassung zufolge sind Phantasiegestalten verzerrte, kombinierte Abbilder von ‚realen‘ Modellen, von Menschen ‚aus Fleisch und Blut‘. Die Psychoanalyse vertritt einen anderen Standpunkt: zu diesen ‚Menschen aus Fleisch und Blut‘ haben wir nur insofern ein Verhältnis, als wir sie mit einer phantasmatischen Stelle, mit einer Stelle in der symbolischen Struktur identifizieren 364
[…].“
Der Untote kann demnach nicht als Allegorie erfasst, sondern muss in seiner Verhältnismäßigkeit zur symbolischen Ordnung verstanden werden. War dem Vampir (auch bei Jelinek) noch ein Moment des Märchenhaften inne, ist der Zombie eine entmystifizierte Figur der Neuzeit und weiß in seiner Tradierbarkeit, wie kaum eine andere Gestalt, die aktuellen Ängste des Lesers in sich zu subsumieren. So dient der Zombie etwa zur Personifizierung eines Turbokapitalismus, der wahllos alles frisst, obgleich er schon längst satt ist. In „Die Kinder der Toten“ stehen einer anonymen untoten Horde vereinzelte Subjekte gegenüber, die eine Schicksalsgemeinschaft bilden und prinzipielle Fragen nach dem Status des Individuums aufwerfen. Denn die Vernichtung des ursprünglichen Lebensraums wird nach anfänglichem Schock als möglicher
der der Un/Toten“. Zu Elfriede Jelineks „Versprechen“ zwischen Satire und Allegorie, in: Francoise Rétif und Johann Sonnleitner (Hrsg.): Elfriede Jelinek. Sprache, Geschlecht und Herrschaft, Würzburg 2008, S. 119-140. 363 Kyrora problematisiert in ihrer Studie zwar auch den Subjektbegriff, sieht die Untoten in Jelineks Text jedoch als Figuren, die wiederum auf Grund historischer Dominanzen keinen Subjektstatus zuerkannt bekommen. Vgl. hierzu: Sabine Kyrora: Literarische Inszenierungen von Subjekt und Geschichte in den Zeiten der Postmoderne, in: Stefan Deines, Stephan Jaeger und Ansgar Nünning (Hrsg.): Historisierte Subjekte – Subjektivierte Historie. Zur Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit von Geschichte, Berlin 2003, S. 263-274. 364 Žižek: Symptom. S. 45.
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Wunschraum empfunden, um dessen Restrukturierung und Neuausrichtung gekämpft wird. Die Spiegelung des Individuums im Untoten ist ein Kampf um die generelle Konzeption des Subjekts: Untot versus Subjekt. Die Zombieapokalypse erweist sich bei Jelinek somit nicht nur als Reaktion auf die Shoa und die damit verbundene und praktizierte Erinnerungskultur, sondern auch als eine soziokulturelle Versuchsanordnung. Das Jelineksche Geschichtskonzept, das auf einem „nie ganz da“ und „nie ganz weg“ beruht, verweist außerdem auf ein Aufbrechen von Dichotomien. Denn zeigte sich bereits im Krankheit-Text eine Konzeption der Subjektwerdung, wenn auch nur im Raum des Untoten, erlangt dieser poetologische Ansatz in „Die Kinder der Toten“ einen ungleich höheren Anspruch. In diesem Text werden alle realitätsbildenden Konzepte außer Kraft gesetzt. Nicht nur die Dichotomie von Geschlechtergrenzen wird dekonstruiert, auch das Raum- und Zeitkontinuum wird literarisch zerschlagen, wodurch in letzter Konsequenz das Konzept einer im Zeichenkosmos gebildeten Wirklichkeit in Frage gestellt wird. Kulminationspunkt bildet in diesem Zusammenhang die Anlehnung an die Tradition der Gothic Novels, der apokalyptische Raum und die Literarisierung der filmischen Figur des Zombies. „Die Kinder der Toten“ offeriert einen avantgardistischen Ansatz, der sich an der Zertrümmerung binärer Ordnungssysteme versucht. Einem vermeintlich wirklichen Sehnsuchtsraum wird die Ebene des Lacanschen Le Réel entgegengesetzt, in der zudem das Kristevasche Abjekt seine Beheimatung finden wird. Deshalb soll im weiteren Verlauf dieser Arbeit nicht nur die Figur des Untoten mittels verschiedener Fragestellungen genauer erfasst werden, sondern auch Jelineks poetologisches Konzept an Transparenz gewinnen. In einer groben Einordnung und in Rekurs auf die bereits skizzierte Einordnung in Narrationen der phantastischen Literatur und deren Inventar, lässt sich „Die Kinder der Toten“ zunächst als ein unheimlicher Text oder besser als Text des Unheimlichen verstehen.
Unheimlicher Freud, phantastischer Todorov
Bei einer Verwendung und Beschäftigung mit den Begriffen der Phantastik, des Horrors oder dem Unheimlichen, bleibt es unumgänglich eine genauere Definition der verwendeten Begriffe zu geben. Zwar kann diese Darstellung, wie sich im Nachfolgenden zeigen wird, nur verkürzt erfolgen, es sollen aber zumindest jene Begrifflichkeiten präzisiert werden, auf denen die weitere Analyse gründet. In der Erforschung von Texten, die sich eines Repertoires an unheimlichen Vorkommnisse und phantastischen Figuren bedienen, prallen mit den Wörtern Unheimlich und Phantastisch zwei Begrifflichkeiten aufeinander, die zwar Überschneidungspunkte aufweisen, sich zugleich aber auch nicht einfach unter einen Oberbegriff subsumieren lassen, denn nicht alles Unheimliche ist phantastischen Ursprungs, so wie nicht alles Phantastische zwangsweise unheimlich zu erscheinen hat. Als Ausgangspunkt für die weitere Beschäftigung und Präzisierung sollen zunächst die jeweils als kanonisch geltenden Texte für beide Begrifflichkeiten dienen – zur Erläuterung des Begriffes der Phantastik sollen also die Thesen Tzvetan Todorovs herangezogen werden und zur Einordnung des Unheimlichen der 1919 erstpublizierte Text „Über das Unheimliche“ von Sigmund Freud. Freud, der den Begriff des Unheimlichen zunächst in seiner etymologischen Tradition betrachtet und hierfür etwa das Grimm-Wörterbuch nutzt, setzt den Begriff erst einmal in Opposition zu heimlich, heimisch, vertraut. In der Folge zeigt er auf, dass in der vermeintlichen Dichotomie der Begriffe schon etymologisch das verwandtschaftliche Verhältnis angelegt ist, das sich in der folgende Reflexion auch auf psychologischer Ebene zeigen wird. Denn allein das Präfix Un- trennt das Heimische vom Unheimlichen, das Vertraute vom Unbekannten. Das Unbekannte aber ist in der Unterteilung nach Freud genau genommen ein Wiederkehrendes und ehemals Vertrautes, das nur seines urtümlichen Ursprungs entbehrt.
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Er folgert daraus zwei Ursprünge der Wiederkehr, aus denen sich das Unheimliche zu konstituieren vermag. In der Wiederkehr des Überwundenen ordnet Freud Phänomene wie den Animismus (Unbelebtes ist belebt, Belebtes wirkt unbelebt), Magie, Zauberei und die Wiederkehr der Toten ein. Diese Faktoren des Unheimlichen genauer erfassend, bemerkt er zur Wiederkehr des Überwundenen: „Greifen wir das Unheimliche der Allmacht der Gedanken, der prompten Wunscherfüllung, der geheimen schädigenden Kräfte, der Wiederkehr der Toten heraus. Die Bedingung, unter der hier das Gefühl des Unheimlichen entsteht, ist nicht zu verkennen. Wir – oder unsere primitiven Urahnen – haben dereinst diese Möglichkeiten für Wirklichkeit gehalten, waren von der Realität dieser Vorgänge überzeugt. Heute glauben wir nicht mehr daran, wir haben diese Denkweisen überwunden, aber wir fühlen uns dieser neuen Überzeugungen nicht ganz sicher, die alten leben noch in uns fort und lauern auf Bestätigung. Sowie sich nun etwas in unserem Leben ereignet, was diesen alten abgelegten Überzeugungen eine Bestätigung zuzuführen scheint, haben wir das Gefühl des Unheimlichen, zu dem man das Urteil ergänzen kann: Also ist es doch wahr, daß man einen anderen durch den bloßen Wunsch töten kann, daß die Toten weiterleben und an der Stätte ihrer 365
früheren Tätigkeit sichtbar werden u. dgl.!“
Freud wählt den Terminus des Überwundenen, weil die hier aufgezählten Phänomene vermeintlich durch zivilisatorische Entwicklungen bewältigt schienen. An anderer Stelle beklagt Freud deutlicher, dass trotz angeblicher Aufgeklärtheit seiner Zeitgenossen eine Unsicherheit in Bezug auf scheinbar unerklärliche Vorkommnisse gesellschaftlich virulent bleibt und die Einflüsse des Unheimlichen unterschwellig fortleben366 und lauern. Hierbei stellt Freud einen Faktor in der Wiederkehr des Überwundenen besonders hervor.
365 Sigmund Freud: Das Unheimliche. (1919), in: ders.: Studienausgabe. Psychologische Schriften, Bd. IV, hrsg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey, Mitherausgeber des Ergänzungsbandes Ilse Grubrich-Simitis, Frankfurt a. M. 2000, S. 241-274, hier: S. 270. 366 Wenig beachtet wurde bisher, dass schon in dieser Passage eine Uneinheitlichkeit der Zeit im Unheimlichen angelegt ist. Nicht nur ersichtlich darin, dass Überwundenes wiederkehrt, sondern auch durch eine Form des (unfreiwilligen) Dialogs, den das Vergangene mit dem Präsenten aufnimmt. An anderer Stelle nennt Freud das Wiederkehrende das „Primitive“, das mit den eben zitierten „primitiven Urahnen“ korrespondiert und das er scharf vom vermeintlich Entwickelten einer Zivilisation abgrenzt.
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„Aber auf kaum einem anderen Gebiet hat sich unser Denken und Fühlen seit den Urzeiten so wenig verändert, ist das Alte unter dünner Decke so gut erhalten geblieben, wie in unserer Beziehung zum Tode. Zwei Momente geben für diesen Stillstand gute Auskunft: Die Stärke unserer ursprünglichen Gefühlsreaktionen und die Unsicherheit unserer wissenschaftlichen Erkenntnis.“
367
Freud verortet die wiederkehrenden Toten, wie auch die Wiederkehr des Überwundenen generell, in einem Interdependenzstatus. Zwischen Vernunft und (Aber-)Glaube schwankend sieht er das Unbewusste des Ichs ankämpfen gegen „die Vorstellung der eigenen Sterblichkeit“368. Aufgrund des gegensätzlichen Verhältnisses von Ratio zu Gefühl und dem Vorkommen im Alltäglichen hält Freud das Unheimliche der Wiederkehr des Überwundenen jedoch auch für rasch verstandesmäßig auflösbar und (erneut) überwindbar. Doch steht dieses Überwundene nicht nur im eben beschriebenen Wechselspiel, sondern auch in starker Verbindung zur zweiten Kategorie des Unheimlichen. Da sich das Überwundene oft von dieser zweiten Kategorie ableitet, bildet sie die ungleich stärkere Kategorie des Unheimlichen und wird von Freud als Wiederkehr des Verdrängten bezeichnet. In ihr sieht er das (Wieder-)Auftreten infantiler Komplexe wie der Kastrationsangst oder der Mutterleibsphantasie. Durch die Komplexität und die tiefe Verwobenheit in die menschliche Psyche erkennt Freud im Verdrängten eine potenziell zwanghafte Störung und somit eine ungleich tiefer greifende Gefahr für das Subjekt in dieser Kategorie des Unheimlichen. Anders als das Überwunde, das im Alltag auftreten kann, ist der Ursprung des Verdrängten in der psychischen Realität anzusiedeln. Doch begnügt sich Freuds Analyse des Unheimlichen nicht allein mit der Festlegung dieser beiden Register, die lediglich dessen Ursprung bestimmen. Dem verdrängten Heimischen (ein von Freud synonym zum Unheimlichen gesetzter Begriff) weiter nachspürend, erkennt er, dass dem Individuum nicht alle aufgezählten Faktoren des Unheimlichen immer als unheimlich erscheinen müssen.
367 Freud: Unheimlich. S. 264. 368 Freud: Unheimlich. S. 264. Siehe hierzu vertiefend: Sigmund Freud: Zeitgemäßes über Krieg und Tod (1915), in: ders.: Studienausgabe. Fragen der Gesellschaft, Ursprünge der Religion, Bd. IX, hrsg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey, Mitherausgeber des Ergänzungsbandes Ilse Grubrich-Simitis, Frankfurt a. M. 2000, S. 33-60, insbesondere: S. 49ff.
156 | D IE Z ERSTÖRUNG DES I CHS „Wir haben gehört, daß es in hohem Grade unheimlich wirkt, wenn leblose Dinge, Bilder, Puppen, sich beleben, aber in den Andersenschen Märchen leben die Hausgeräte, die Möbel, der Zinnsoldat und nichts ist vielleicht vom Unheimlichen entfernter. Auch die Belebung der schönen Statue des Pygmalion wird man kaum als unheimlich empfinden. Scheintod und Wiederbelebung von Toten haben wir als sehr unheimliche Vorstellungen kennen gelernt. Dergleichen ist aber wiederum im Märchen sehr gewöhnlich; wer wagte, es unheimlich zu nennen, wenn z. B. Schneewittchen die Augen wieder aufschlägt? Auch die Erweckung von Toten in den Wundergeschichten z. B. des Neuen Testaments ruft Gefühle hervor, die nichts mit dem Unheimlichen zu tun haben. Die unbeabsichtigte Wiederkehr des Gleichen, die uns so unzweifelhafte unheimliche Wirkungen ergeben hat, dient doch in einer Reihe von Fällen anderen, und zwar sehr verschiedenen Wirkungen. […] So müssen wir wohl bereit sein anzunehmen, daß für das Auftreten des unheimlichen Gefühls noch andere als die von uns vorangestellten stofflichen Bedingungen maßgebend sind. Man könnte zwar sagen, mit jener ersten Feststellung sei das psychoanalytische Interesse am Problem des Unheimlichen erledigt, der Rest erfordere wahrscheinlich eine ästhetische Untersuchung. Aber damit würden wir dem Zweifel das Tor öffnen, welchen Wert unsere Einsicht in die Herkunft des Unheimlichen vom verdrängten Heimischen eigentlich beanspruchen darf. Eine Beobachtung kann uns den Weg zur Lösung dieser Unsicherheiten weisen. Fast alle Beispiele, die unseren Erwartungen widersprechen, sind dem Bereich der Fiktion, der Dichtung, entnommen. Wir erhalten so einen Wink, einen Unterschied zu machen zwischen dem Unheimlichen, das man erlebt, und dem Unheimlichen, das man sich bloß vorstellt, oder von dem man liest.“
369
Immer wieder rekurrierend auf Beispiele aus der Kunst, ist es eben jener Wirkraum des Unheimlichen, der für Freud einer weiteren Differenzierung bedarf. Im Bereich der Literatur, welchen wir heute um den Bereich des Films, aber auch der Videospiele und anderer neuer Medien erweitern können, vermag das vermeintlich Unheimliche in ein Komisches oder sogar Erhabenes umzuschlagen.
369 Freud: Unheimlich. S. 268f.
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Abbildung 2: Das Unheimliche nach Freud
Quelle: Andreas Heimann
Was in der Realität unheimlich erscheint, kann also in der Kunst ambivalente Reaktionen beim Rezipienten hervorrufen. Doch gesteht Freud dem Unheimlichen in der Kunst auch zu, weitaus vielfältiger in seinen Ausprägungen zu sein. Seine Unterscheidung gilt also einem Unheimlichen in der Erfahrungswelt und in der Kunst. Freuds Differenzierung erscheint nicht zuletzt deshalb sinnvoll, weil sich in der Kunst und dem Kunstwerk immer eine „poetische Realität“370 vorfinden lässt, die auch von den Bedingungen des jeweiligen Genres geprägt
370 Freud: Unheimlich. S. 269
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wird.371 Demgemäß spricht Freud etwa dem Märchen den Gehalt des Unheimlichen ab. Die Unterscheidung, ob es zu einer als unheimlich oder als nicht unheimlich wahrgenommenen Figuration kommt, lässt sich nach Freud in der gewählten Realitätsebene des Kunstwerks begründen. Fingierte Realität, wie sie etwa im Märchen vorherrscht, lässt auch das Erlebte als fingiert erscheinen. Wählt man für das Kunstwerk jedoch die gemeine Realität, so gelten auch deren Regeln für das Kunstwerk und somit auch für das Unheimliche, das darin sogar in besonderer Weise durch die Instanz des Erzählers zu wirken vermag, „indem er solche Ereignisse vorfallen läßt, die in der Wirklichkeit nicht oder nur sehr selten zur Erfahrung gekommen wären. Er verrät uns dann gewissermaßen an unseren für überwunden gehaltenen Aberglauben, er betrügt uns, indem er uns die gemeine Wirklich372
keit verspricht und dann doch über diese hinausgeht.“
Der vermeintlich den Bedingungen der Realität verpflichtete Erzähler spielt mit den Faktoren des überwunden geglaubten Unheimlichen, das er im Leser auszulösen vermag. Das Wechselspiel zwischen einem erlebten Unheimlichen und einem gebrochenen Unheimlichen, wie es etwa für das Märchen beschrieben wurde, gilt zunächst jedoch nur für das Überwundene. Das Verdrängte hingegen wird nach Freud sowohl in der Realität als auch in der Fiktion als unheimlich wahrgenommen. Sollen die infantilen Komplexe und deren Figurationen in der Kunst ihre Unheimlichkeit jedoch einbüßen, ist es nach Freud notwendig, dass der Leser entweder keine Identifikation mit der handelnden Person aufbaut, der innerhalb des Kunstwerks das verdrängte Unheimliche widerfährt, dass eine Ironisierung des Verhandelten stattfindet oder drittens, dass der Leser einen Wissensvorsprung vor den handelnden Figuren hat. Allein in diesen „Abwehrmechanismen“ sieht Freud die Möglichkeit, die Unheimlichkeit des Verdrängten zu brechen. Doch geht es freilich in den meisten Kunstwerken nicht um die Brechung des Unheimlichen, sondern gerade um dessen Darstellbarkeit (vornehmlich in den noch zu erörternden Texten). In dem von Freud angemerkten und eben zitierten Betrug jedoch, den der Erzähler am Leser begeht, erkennt er sowohl eine Schwächung des Kunstgenusses als auch der Wirkung des Unheimlichen. Das Kunstwerk kann demnach zwar das Unheimliche hervorrufen, der Leser aber
371 Es ist dies auch eine Absage an all jene Forschungstexte, die immer wieder versuchen die christliche Ikonographie und Heilsgeschichte in Eins zu setzen mit Phänomenen des Untoten in den Künsten. 372 Freud: Unheimlich. S. 273.
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fühlt sich hintergangen. Einen Ausweg oder eine Möglichkeit der Vermeidung dieser nur vorgetäuschten Figuration des Unheimlichen sieht Freud erneut in der Narrativik. „Es besteht darin, daß er [der Autor, Anm.: A.H.] uns lange Zeit über nicht erraten läßt, welche Voraussetzungen er eigentlich für die von ihm angenommene Welt gewählt hat, oder daß er kunstvoll und arglistig einer solchen entscheidenden Aufklärung bis zum Ende ausweicht. Im Ganzen wird aber hier der vorhin angekündigte Fall verwirklicht, daß die Fiktion neue Möglichkeiten des unheimlichen Gefühls erschafft, die im Erleben wegfallen würden.“
373
Freuds Lösungsversuch eines „reinen“ Erlebens des Unheimlichen durch die Unbestimmtheit der Realitätsebene im Kunstwerk weist eine frappierende Ähnlichkeit auf mit ähnlichen Überlegungen Todorovs. Dessen Kernthese zur Definition phantastischer Literatur setzt ebenfalls eben die Unbestimmbarkeit als bestimmendes Merkmal dieser Textgattung. Zwischen den Spannungspolen des phantastisch Unerklärlichem und rational Erklärbarem changierend, sieht Todorov hier die Verwirklichung des Phantastischen. Im Gegensatz zu Caillois, der eine maximalistische Definition des Phantastikbegriffs anstrebt, verfolgt die strukturalistische Zielsetzung bei Todorov einen minimalistischen Ansatz. Die Phantastik in sehr kleinteilige und unterschiedlichste Register kategorisierend, dient ihm auch das Unheimliche, das er von Freud entlehnt374, neben dem Wunderbaren als Unterscheidungs- und Bestimmungskriterium der Phantastik. Über das von ihm benannte unvermischt Unheimliche bemerkt er: „In den Werken, die dieser Gattung zugehören, wird von Begebenheiten berichtet, die sich gänzlich aus den Gesetzen der Vernunft erklären lassen, die jedoch auf die eine oder andere Weise unglaublich, außergewöhnlich, schockierend, einzigartig, beunruhigend oder unerhört sind und aus diesem Grunde in der Person und dem Leser eine Reaktion hervorrufen, die der ähnelt, die uns von fantastischen Texten her vertraut ist. Die Definition ist, wie man sieht, weitgefaßt und verschwommen, aber ebenso verhält es sich mit dem Genre, das sie beschreibt: das Unheimliche ist im Gegensatz zum Fantastischen kein wohlabgegrenz-
373 Ebd. 374 Auch wenn Todorov an anderer Stelle Freuds Thesen sehr stark für seine eigene Argumentation nutzt, bewertet er dessen Definition des Unheimlichen als unscharf. Diese gibt er jedoch nur in einem Satz und sehr simplifiziert wieder. Vgl. Todorov: Einführung. S. 61f.
160 | D IE Z ERSTÖRUNG DES I CHS tes Genre. Genauer gesagt, es wird nur von einer Seite, der des Fantastischen, her be375
grenzt. Auf der anderen Seite verliert es sich ins allgemeine Feld der Literatur […].“
Während Freuds Überlegungen auf den Affekt des Unheimlichen in Leben und Literatur abzielen, beschäftigt sich Todorov mit der Verwobenheit des Unheimlichen in Genredefinitionen und gesteht dem Unheimlichen gar die Funktion einer Art von Subgenre zu. Doch seine Aussage, das Phantastische sei ein wohl abgegrenztes Genre, täuscht. Die Abgrenzung eines eigenen Subgenres wird im Verlauf seiner Analyse immer weiter betrieben, so dass er schließlich die Phantastik weniger in einer fixen Definition als vielmehr in Abgrenzung zu anderen Genres fasst. In der Vorgehensweise erinnern seine Techniken an jene von Vax376, der auch weniger Konventionen des Genres zu subsumieren vermag, als vielmehr die Abgrenzung desselben zu anderen Genres betont. Klarheit in der Definition des Phantastischen versucht Todorov deshalb auch mittels des psychoanalytischen Inventars zu schaffen. Seine Aufteilung in Ichund Du-Themen, die den letzten Teil seiner Analyse bestimmt, ist hierfür ein Beispiel. Ich-Themen können dabei analog zu Freuds Wiederkehr des Verdängten verstanden werden. Todorov subsumiert hier Themen, die sich aus dem Bereich des Wahnsinns speisen. Unter Du-Themen versucht er Tabuthemen wie Homosexualität, Inzest oder Nekrophilie als Impuls für phantastische Texte zu erfassen. Doch sind die viel rezipierten Thesen Todorovs nicht unumstritten. Eingewandt werden kann beispielsweise, dass sich seine Textanalysen allein auf Texte des 19. Jahrhunderts beziehen. Diese Präferenz verweist zugleich auf den zweiten immer wieder erhobenen Kritikpunkt: Als Deckmantel für tabuisierte Themen benötigte die Literatur des 19. Jahrhunderts nach Todorov die Phantastik. Diese versteckte Schreibweise tabuisierter Komplexe jedoch habe sich gewandelt, was Todorov zu seiner höchst umstrittenen Aussage führt: „(D)ie Psychoanalyse hat die fantastische Literatur ersetzt (und damit überflüssig gemacht).“377 Kritikwürdig erscheint hier der Umstand, dass sich frühere Tabus nicht durch die Psychoanalyse abgebaut haben, sondern ein gesellschaftlicher Wandel zu deren Abbau führte und dass des Weiteren kaum von einem Verschwinden, sondern vielmehr von einer Konjunktur des Phantastischen in den Künsten zu sprechen ist.
375 Todorov: Einführung. S. 61. 376 Louis Vax: Die Phantastik, in: Rein A. Zondergeld (Hrsg.): Phaïcon 1. Almanach der phantastischen Literatur. Frankfurt a. M. 1974, S. 11-43. 377 Todorov: Einführung. S. 143.
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Doch auch Todorovs meist zitierte Unterscheidung bzw. Genredefinition, die auf die Unbestimmtheit der Erzählung verweist, steht heute in der Kritik. „Das Fantastische liegt im Moment dieser Ungewißheit; sobald man sich für die eine oder die andere Antwort entscheidet, verläßt man das Fantastische und tritt in ein benachbartes Genre ein, in das des Unheimlichen oder das des Wunderbaren. Das Fantastische ist die Unschlüssigkeit, die ein Mensch empfindet, der nur die natürlichen Gesetze kennt und 378
sich einem Ereignis gegenübersieht, das den Anschein des Übernatürlichen hat.“
Diese Abgrenzungen jedoch basieren, wie schon Freuds Unterscheidungen, auf der Kausalität, also darauf, dass der Realitätsbegriff der erlebten Welt im Einklang zu einer Realität innerhalb der Literatur stehen müsse. Neue Bewegung in diese Diskussion brachte der Stuttgarter Literaturwissenschaftler Uwe Durst, der eine generelle Problematisierung des Wirklichkeitsbegriffs innerhalb der Literatur thematisierte. Durst sieht die Literatur als ein Feld, das prinzipiell auf der Künstlichkeit der gewählten Realität beruht. Seine These, „die Wirklichkeit ist nicht die Sache der Literatur“379 brachte die Ineinssetzung des Realitätsbegriffs in Kunst und Leben ins Wanken und beeinflusste die weitere Debatte. „Als realistisch ist demnach das Produkt einer Reihe von Verfahren zu bezeichnen, die Wirklichkeit nicht widerspiegeln, sondern einen Realitätseffekt erzeugen, indem auf vielfältige Weise Bezug auf das genommen wird, was als die außerliterarische Wirklichkeit gelten kann.“
380
Der Bereich der Phantastikforschung erweist sich demnach zwar als eine noch junge Disziplin der Literaturwissenschaft, gleichwohl aber ebenfalls als ein hoch produktives Forschungsfeld.381 Festzuhalten ist, dass sich zwei konkurrierende Schulen, zwischen einer minimalistischen und einer maximalistischen Genredefinition, etabliert haben. So befindet sich die Wissenschaft in der Situation noch keine präzise und abschließende Definition des Phantastischen und seiner Kategorien liefern zu kön-
378 Todorov: Einführung. S. 25f. 379 Uwe Durst: Theorie der phantastischen Literatur. Tübingen 2001, S. 79. 380 Ulrike Schnaas: Das Phantastische als Erzählstrategie in vier zeitgenössischen Romanen. Stockholm 2004, S. 18. 381 Für einen etwas breiteren Überblick über die aktuelle Forschungssituation bietet sich wiederum die Arbeit von Uwe Durst an. Siehe hierzu: Uwe Durst: Theorie der phantastischen Literatur. Tübingen 2001.
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nen und lässt den Begriff der Phantastik im Bereich einer „literaturwissenschaftlichen Mehrzweckkategorie“382 verharren. Was bleibt, ist ein unüberschaubares Durcheinander an Meinungen, Abgrenzungen und Formeln, das Hans Richard Brittnacher sehr präzise zusammenzufassen versteht: „Mal soll sie eine Stileigentümlichkeit charakterisieren (Andrzej Zgorzelski 1975), mal wird sie texttheoretisch verstanden (Tzvetan Todorov 1970); mal gilt sie eher als weltanschauliche Kategorie mit hoher prognostischer Kraft (Stephan Berg 1991), mal als ästhetischer Ausdruck einer psychotischen Welterfahrung (Joachim Metzner 1980), mal soll sie Strukturen in literarischen Texten bezeichnen (Marianne Wünsch 1991); mal heißt so eine Gattung (bei Todorov), mal umfasst sie benachbarte literarische Bereiche wie Science Fiction, Fantasy und Utopie (Juli Kagarlitzki 1977 und Erwin Gradmann 1957), mal Kriminalroman und Detektivgeschichte (Horst Conrad 1974), mal findet der Begriff exklusiv Verwendung für die nonkonformistischen Autoren der ästhetischen Moderne (Edward Verhofstadt 1975), und dann wieder handelt es sich um eine wirkungsästhetische Kategorie, die sich an Texten zu bewähren habe, denen vornehmlich an der Verängstigung ihrer Leser liegt (Roger Caillois 1974). Und schließlich, auch dies sollte erwähnt werden, durchläuft die Verwendung des Begriffs sämtliche Tonlagen des philologischen Urteils, 383
von anerkennend bis verwerfend. Überdeterminierter kann ein Begriff schwerlich sein.“
Anstelle fixer Genredefinitionen, die den Text stets nach der Umsetzung eines festgelegten Inventars befragen, soll das weitere Interesse dieser Arbeit vielmehr auf die Figurationen selbst gerichtet werden. Denn nur so bleibt eines der Hauptelemente der Phantastik erhalten, das auch die meisten der hier genannten Forscher betonen: die Permutationen des Phantastischen.384
382 Hans Richard Brittnacher: Vom Risiko der Phantasie, in: Gerhard Bauer und Robert Stockhammer (Hrsg.): Möglichkeitssinn. Phantasie und Phantastik in der Erzählliteratur des 20. Jahrhunderts, Wiesbaden 2000, S. 36-60, hier: S. 41. 383 Ebd. 384 Das das Werk Poes zum größten Teil in Todorovs Abhandlung nicht seinen festen Genrefestlegungen entspricht und somit nur einzelne Texte Poes von ihm als phantastisch bewertet werden, ist sicherlich einer der Mängel der minimalistischen Definition. Die maximalistische Definition läuft freilich immer Gefahr, bestehende Unterschiede zu nivellieren.
Das Unheimliche bei Jelinek Logik gebiert bisweilen Monster. HENRI POINCARÉ
In den bereits definierten Termini Freuds ist „Die Kinder der Toten“ als ein Text des Unheimlichen fassbar, expliziter ist von einer Wiederkehr des Verdrängten zu sprechen. Denn nach Freud handelt es sich in der Wiederkehr um eine „wirkliche Verdrängung eines Inhalts und um die Wiederkehr des Verdrängten, nicht um die Aufhebung des Glaubens an die Realität dieses Inhalts“385. Um hier noch einmal klar eine Unterscheidung zu den gängigen Lesarten des Textes herauszuarbeiten, muss betont werden, dass Freud mit der Wiederkehr des Verdrängten nicht historische Gegebenheiten bezeichnet wissen will, in diesem Sinne in Jelineks Text also der Untote nicht einfach als Verweis auf eine unverarbeitete faschistoide Vergangenheit verstanden werden kann. Diese Vergangenheit ist allein der Auslöser der Katastrophe.386 Žižek erweitert die Thesen Freuds noch im Rekurs auf Lacan. „Die zwei großen traumatischen Ereignisse ‚Holocaust‘ und ‚Gulag‘ sind natürlich die exemplarischen Fälle für die Wiederkehr der Toten im 20. Jahrhundert. Die Schatten ihrer Opfer werden so lange fortfahren, uns als ‚lebende Tote‘ zu verfolgen, bis wir ihnen ein anständiges Begräbnis bereiten, indem wir diese Traumata in unsere Geschichte integrieren.“
387
385 Freud: Unheimlich. S. 271. 386 Über die Ursprünge apokalyptischer Bilder, insbesondere dem Auftauchen des Zombies in der Kunst wird an späterer Stelle zu lesen sein. 387 Žižek: Symptom, S. 106.
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Aus Žižeks Sicht zeigt sich hier ein Problem der Symbolisierung in der Rückkehr des Verdrängten. Die nicht gelungene Symbolisierung meint jedoch nicht, dass keine Verarbeitung oder Gedächtniskultur gegriffen hat, sondern dass sich die zu beschreibenden Schrecken als nicht symbolisierbar erweisen. In der Symbolisierung, so die These, bleibt ein nicht symbolisierbarer Rest, der die Determiniertheit des Zeichenkosmos anzeigt. Unfähig die Schrecken und Gräueltaten der Vergangenheit in ein Zeichen zu überführen, bleiben von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts bedrohliche, nicht auflösbare Reste, die zu einer Wiederkehr des Verdrängten führen. Denn das symbolisierte Wissen um die Grauen der Vergangenheit gaukelt zwar Erkenntnis vor, ist aber nicht fähig, den Kern und den Schrecken des Geschehenen zu fassen. Und auch Freuds Fokus zielt neben der Wiederkehr von infantilen Komplexen auf einen generell innerpsychischen Angriff in der Wiederkehr des Verdrängten, die er in Untoten und Geistern ausgedrückt sieht. Diese Wiederkehr ist jedoch nicht mit einer Wiederholung zu verwechseln. Wiederholt wird nur der Akt des Verdrängens. Wird im Individuum jedoch eine Wiederkehr ausgelöst, so figuriert diese in Form des Unheimlichen. Der Herkunftsort der Wiederkehr des Verdrängten in der menschlichen Psyche verweist auf eine psychische Realität, die gestört wird und die in eine unheimliche, dem Ich fremde Ebene übertragen wird. Auch Jelineks Text rekurriert an gleich mehreren Stellen auf das Unheimliche und setzt sich somit ins Verhältnis zu einem freudianischen Dualismus: „Karin Frenzel, diese plötzlich (und ohne das Gleitmittel der Schuld) Unheimische, hat inzwischen das Bluten gründlich verlernt.“
388
„Die zwei Jägersöhne haben den Weg vom Heimischsein ins Unheimische bereits zu389
rückgelegt, jetzt können sie ihn also auch Edgar zeigen.“
„Ja, hier wird endlich etwas aufgedeckt und zur Schau gestellt. Luft erhebt sich, das Heitere ist auf einmal verschwunden, es folgt die Werbung, und die Unheimlichkeit taucht ein, beginnt ihre freie, kühle Bahn.“
390
Das Unheimliche taucht immer in Gegenüberstellung mit der Realität auf und verweist somit auf seine Sonderstellung als Opposition zu derselben. Heimisch
388 Elfriede Jelinek: Die Kinder der Toten. Hamburg 2000, S. 257. 389 Jelinek: Kinder der Toten. S. 303. 390 Jelinek: Kinder der Toten. S. 622.
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wird unheimlich und das vermeintlich Heitere zeigt seine unter der Oberfläche immer schon vorhandene dunkle Kehrseite. Doch nicht nur in der Suspendierung der alltäglichen Realität lässt sich der Jelineksche Text als unheimliches Kunstwerk definieren. Generell lassen sich all jene Faktoren, die nach Freud inhaltlich in der Kunst zum Gefühl des Unheimli391 Die Natur chen beitragen, in Jelineks „Die Kinder der Toten“ wiederfinden. entlarvt sich im Text als von Menschenhand beeinflusstes Stückwerk oder aber mit einem übernatürlichen Surplus an Leben ausgestattet, während dem Boden zugleich Gesichter entwachsen und damit auf die doppelte Anwendung eines Animismus verweisen. Dieses wird natürlich in der Darstellung von Untoten, die als einzig handelnde Figuren den Text bevölkern, noch gesteigert. Freud verweist bereits in der Kategorie des Überwundenen explizit auf eine Wiederkehr von Toten und Geistererscheinungen als Figurationen des Unheimlichen. Der Untote zeigt schon in dem Präfix Un- an, dass er sich als Figur der Negation außerhalb des binären Realitätssystems aus tot und lebendig etabliert. Geister und Untote sind demnach die perfekten Figurationen des Unheimlichen, stellen sie doch die Frage nach einer Auflösung der festen Realitätsregister. Aber auch die angesprochene Figur des Doppelgängers392, die das wiederholte Auftauchen von sich gleichenden oder sich selbst ähnlichen Personen meint, wird in all ihren Facetten im Jelinekschen Text durchgespielt, etwa wenn Karin, eine der Protagonistinnen des Textes, bei der Beobachtung einer vermeintlich Fremden erkennt: „diese Frau scheint ebenfalls Karin zu sein!“393 oder wenn Edgar Gstranz bemerkt, dass ihm ein Fremder „bekannt vorkommt, es ist, als blickte er in einen Spiegel“394. Der Text lässt dabei den Leser im Unklaren, welche der handelnden Personen der vermeintlich „echten“ Person entspricht und wer nur ein Simulakrum
391 Hierauf verweist auch Schestag in ihren Studien zu „Die Kinder der Toten“, ohne diese jedoch explizit auszuführen. Vgl.: Uda Schestag: „Sprachspiel“. S. 223. 392 Das literarische Motiv des Doppelgängers findet, wenn nicht seinen Ursprung, so doch seine erste Hochzeit, in der romantischen Literatur Deutschlands und wurde zu einer der bedeutendsten Figuren der (Schauer-)Literatur. In der deutschsprachigen Literatur etwa prominent vertreten durch „Die Elixiere des Teufels von E. T. A. Hoffmann, im englischsprachigen Raum durch Robert Louis Stevensons „Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde“. Siehe hierzu: Christof Forderer: Ich-Eklipsen. Doppelgänger in der Literatur seit 1800, Stuttgart und Weimar 1999. 393 Jelinek: Kinder der Toten. S. 89. 394 Jelinek: Kinder der Toten. S. 139.
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ist.395 Werden dadurch etwa existenzialphilosophische Fragestellungen angesprochen, so ist nach Freud auch eine textuell bedingte Ich-Dissoziation396 gegeben, die er in der Literatur mit den Mitteln der „Ich-Verdopplung, Ich-Teilung, Ich-Vertauschung“397 bezeichnet, welche allesamt Anwendung auch in Jelineks Text finden. Freuds Kategorie der Telepathie, verstanden als die abrupte Erfahrung der seelischen Verhältnisse einer vermeintlich fremden Person, erfährt in der Erzählerperspektive von „Die Kinder der Toten“ eine besondere Ausprägung. Zwischen neutraler, personaler und auktorialer Erzählform changierend – und dies mitunter innerhalb eines Satzes – erreicht der Text ein Maß an Einsicht in die Figuren, die weit über den gängigen Begriff der Polyperspektive hinausweist. Denn auch die Verwendung von rhetorischen Figuren wie der Metalepse, die als „narrativer Kurzschluss“398 fungiert, deutet auf eine Erzähltechnik hin, die einer generellen Interpretationsverweigerung des gesamten Romans gleich kommt. Als Unterbrechung des ohnehin fragmentarischen Erzählens dient etwa die plötzliche direkte Rede, die eine vermeintliche Autorinstanz adressiert, womit die extradiegetische Ebene zum Teil der Intradiegese wird.399 „Frau Autor, sich in so triumphierender Wärme auszubreiten! Keiner muß soviel Un400
fruchtbarkeit sehen wie Sie sie enthalten. Besser, Sie halten sich ein wenig zurück.“
395 Auch wenn hier der Baudrillardsche Begriff der Simulakren benutzt wird, finden sich ebenfalls Anleihen zur literarischen Tradition der Doppelgängermotivik. 396 Maria-Regina Kecht: The Polyphony of Remembrance: Reading „Die Kinder der Toten“, in: Margarete Lamb-Faffelberger und Matthias P. Konzett (Hrsg.): Elfriede Jelinek. Writing Woman, Nation, and Identity. A Critical Anthology, Madison, NJ 2007, S. 189-217. 397 Freud: Unheimlich. S. 257. 398 Michael Scheffel und Matias Martinez: Einführung in die Erzähltheorie. München 2007, S. 79. 399 Auch wenn das nachfolgende Zitat (wie noch einige andere des Textes) Spekulationen auslöste und nicht selten zu Interpretationen mit Bezug auf die Person Elfriede Jelinek anregte, ist hier kaum von einer personalisierten Autorinstanz auszugehen. Nicht nur, dass ein solcher Ansatz diametral zu den Thesen Barthes steht, ist das hier verwendete Verfahren doch viel eher als eine doppelte Metalepse zu verstehen. Die extradiegetische Ebene eröffnet an den Stellen einer Autorennennung eine weitere, sozusagen eine sub-extradiegetische Ebene. Vgl. hierzu außer dem nachfolgenden Zitat auch: Jelinek: Kinder der Toten. S. 176, 206, 210. 400 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 282.
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Denn die Erzählerstimme, wie auch die Metalepsen, deuten mit ihren sich multiplizierenden Erzählperspektiven und gleichzeitigen Brechungen einer erzählerischen Stringenz nur auf das ästhetische Konzept des Textes hin. Zwar lässt sich dieser in 35 Kapitel aufteilen und wird durch einen Prolog und einen Epilog gerahmt, doch ist die Texthandlung selbst geprägt von Abbrüchen, hyperbolischem Sprechen, Kalauern, Redundanzen, Wiederholungen etc. und macht die Übertragung in eine klare und prägnante Inhaltsangabe, die über eine grobe Rahmenhandlung hinausgeht, unmöglich. Auch die bereits angesprochene Auflösung von Dichotomien innerhalb des Beschriebenen, etwa in der Destruktion eines klaren Raumgefüges aus Himmel und Erde, findet seine Umsetzung in der Erzählerperspektive einer Mise en abyme, die in der Übersetzung des abyme einen Text „ohne Boden“ bezeichnet. Dieses poetologische Prinzip, dem „Die Kinder der Toten“ verpflichtet ist, wird bereits im Prolog des Textes ersichtlich. In ihm stürzt ein Bus als Folge eines Steinschlags in den Abgrund.401 Dieses Bild oder eher die Bebilderung einer Mise en abyme wird zum poetologischen Prinzip erhoben. „Achtung, ducken Sie sich, es beginnt der vorliegende Text. Er rutscht unter Ihren Händen weg, aber das macht nichts, muß mich halt ein andrer zur Vollendung tragen, ein Bergführer, nicht Sie!“
402
Der Steinschlag und der Absturz des Reisebusses sind die Textualisierung einer Mise en abyme, eines Hineinwerfens in den Abgrund. Der Leser, direkt von der Erzählerstimme adressiert, wird nun gewarnt, dass nicht nur die zuvor beschriebene Szenerie ein Abgleiten, Abrutschen und Zusammenbrechen zeige. Das gilt ebenfalls für den folgenden Text, auf den dieser Anfang verweist. Es ist das textuelle Gefüge, das sich nicht mehr in strikten Gefügen beschreiben und zusammenhalten lässt, sondern dem Leser unter den Händen entgleitet und ihn in den textuellen Abgrund wirft. Text ist demnach kein Gewachsenes mehr, kein Zusammengefügtes, das seine eigene Künstlichkeit zu verschleiern sucht, sondern wird zur Geröllhalde des bewusst unvollendet Wirkenden, das nicht mehr einer klassischen, sondern klar einer avantgardistischen Komposition folgt. Das „mich“, das auf den Text selbst zielt, soll nicht mehr von einem Leser zusam-
401 In Jelineks Drama „Im Bus“ wird dieses Motiv wiederum Verwendung finden. Es hat das Busunglück von Trudering in München zum Thema. Eine Gedruckte Variante liegt nicht vor, der Text ist jedoch über Jelineks Homepage abrufbar. http://www.elfriedejelinek.com/ 402 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 15.
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mengefügt werden. Im Sinne eines Lector in fabula403 fordert Jelineks Text stattdessen zu einem postmodernen Verstehen in segmentierten Sinneinheiten auf. Die endgültige Fügung des Textes in eine Sinnstruktur obliegt dabei nicht allein der Autoreninstanz, die sich mittels verschiedenartiger literarischer Figuren stetig entzieht und mehr als kompositorische Instanz zu verstehen ist. Und auch die Leserinstanz ist nicht mehr gezwungen, einer klaren Sinn- und Erzählstruktur zu folgen. Der Leser wird vielmehr konfrontiert mit einer postmodernen Variante des Romans und ist aufgerufen, dem einhergehenden „Verlust seiner hermeneutischen Unschuld“404 frei zu folgen. Im Bild einer Geröllwüste in den österreichischen Alpen verharrend, fordert der Text einen Bergführer auf, eine Sinnstruktur in das Hingeworfene, diesen Abgrund der Literatur hineinzuinterpretieren, was als Aufruf für die Literaturwissenschaft deutbar ist. Die wörtliche Übersetzung der Mise en abyme als ein „in den Abgrund werfen“ findet somit bei Jelinek sowohl eine doppelte textuelle Umsetzung durch das erzählte Abrutschen des Berges sowie dem daraus resultierenden Absturz des Reisebusses als auch in seiner poetologischen Konzeption selbst. Das Bild des Berges wird kurz darauf erneut verwendet und unterstreicht nochmals das bereits Beschriebene: „Der Fels öffnet sich jetzt, Achtung! Der Wildbach öffnet sich uns auch. Unheimlich.“405 Sowohl der in Geröll verwandelte Fels als auch der entfesselte Wildbach, verstanden als das textuelle Gefüge, verweisen auf einen Erzählfluss406, einen stream of consciousness, der sich nunmehr in Fragmente aufspaltet und dabei dem Primat eines unheimlichen Erzählens untergeordnet ist. Der Leser wird da-
403 Ecos Terminus scheint hier besonders treffend zu sein, inkludiert seine These doch sowohl die interpretatorische Freiheit des Lesers als er zugleich auch den Kunstwerkcharakter. Vgl.: Umberto Eco: Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, übers. von Heinz G. Held, 3. Auflage, München 1998, insbesondere Kapitel 3.1. „Die Rolle des Lesers“ und 3.2. „Wie der Text den Leser vorsieht“, S. 61-69. 404 Pontzen: Pietätlose Rezeption. S. 53. 405 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 17. 406 Vogel sieht gar das Wasser als narratologische Klammer des Jelinkschen Gesamttextes. In ihren Überlegungen weißt Vogel mehrere Bilder der Verflüssigung nach. Vgl.: Juliane Vogel: Wasser, hinunter, wohin. Elfriede Jelineks „Die Kinder der Toten“ – ein Flüssigtext, in: Literaturmagazin 39, 1997, S.172-180.
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bei „zu einer intertextuellen Lektüre gezwungen“407, der sich auch der wissenschaftliche Interpret Jelinekscher Texte schwerlich verschließen kann. Zunächst soll der Ort der Handlung einer genaueren Betrachtung unterzogen werden. Jelineksche Texte sind bis auf die beiden Ausnahmen „Die Klavierspielerin“ und „Die Ausgesperrten“ im eher ländlichen Milieu Österreichs angesiedelt. Auch „Die Kinder der Toten“ ist keine Ausnahme. Mit episodischen Passagen auf Wiens Zentralfriedhof, Krankenhauskellern und der „Kinderfachabteilung“408 „Am Spiegelgrund“ verweist bereits die Wallfahrtskirche Maria Zell auf den Haupthandlungsort des Romangeschehens: die Steiermark. Neben der Kirche ist es die Pension Alpenrose, die als neuralgischer Punkt der Handlung dient. Doch es ist die steiermärkische Natur, die den wichtigsten und überwiegenden Ort der Handlung ausmacht. Das gleich auf der ersten Seite evozierte Naturbild („gute Luft“, „tiefe Wälder“ und „schöne Berge“409) wird gleich darauf gebrochen. Nicht nur offenbart es seinen artifiziellen Charakter410, sondern auch seine unheimliche Seite, denn „wenn die Techniker das Stauwerk zu schnell öffnen, dann ersticken die Forellen im Schlamm und treiben, die Bäuche nach oben, glitzernde Geschwader von Hundertschaften 411
[…].“
407 Alexandra Pontzen: Pietätlose Rezeption. S. 53. 408 In Ermangelung eines anderen Namens musste ich die von den Nationalsozialisten geprägte Bezeichnung übernehmen. Es handelt sich jedoch um einen zynischen Euphemismus, wurden in den Kinderfachabteilungen doch unter Ausschluss der Öffentlichkeit körperlich oder geistig behinderte Kinder systematisch zur medizinischen Forschungszwecken missbraucht und danach ermordet. Schätzungen gehen von 30-40 solcher Einrichtungen auf damaligem Reichsgebiet aus, in denen die nationalsozialistische Tötung, die als Euthanasie verbrämt wurde, stattfand. Die Zahl der Ermordeten beziffert sich auf ca. 5000 Menschen. Eine Erforschung zu diesem Thema ist erst in den letzten Jahren erfolgt. Die Forschungen beziehen sich jedoch nur auf einzelne Anstalten, eine Gesamtübersicht zu diesem Thema bleibt bisher ein Desiderat. 409 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 7. 410 Sieglinde Klettenhammer: „Das Nichts, das die Natur auch ist“, Zur Destruktion des Mythos ‚Natur‘ in Elfriede Jelineks Die Kinder der Toten, in: Axel Goodbody (Hrsg.): Literatur und Ökologie. Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 43 (1998), S. 317-339, hier: S. 324f. 411 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 8.
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Das Bild der toten Forellen verweist bereits auf das nahende Busunglück und die Untoten des Haupttextes. Doch zeigt sich schon hier auch eine textuelle Verfahrensweise. Wird durch den angemahnten Tod der Tiere ein zunächst vertraut wirkender Ort verfremdet, so geschieht dies in der Folge ebenfalls mit den städtischen Orten. Die Ortswahl, die vermeintlich an einen Heimatroman denken lässt, offenbart sich zusehends als Grundlage eines Anti-Heimatromans. Es handelt sich also um eine Natur, die sich nicht mehr als idealistischer Erfahrungsraum begreifen lässt, sondern den Charakter des Gemachten nicht verheimlichen kann und nur noch ein untotes Eigenleben führt. Die Sicherheit und Idylle der Heimat – sie löst sich ebenso wie der Berg ins Fragmentarische auf und lässt ein Unheimliches entstehen. Es sind somit nicht nur die Figuren, die einer Ästhetik des Untoten zu- und untergeordnet werden können, sondern auch der (Natur-) Raum in dem diese agieren. Freuds Teilresümee seiner Untersuchungen zum Unheimlichen soll hier als Überleitung dienen und die Frage nach dem Affekt eröffnen, den Jelineks Text evoziert. „Erstens, wenn die psychoanalytische Theorie in der Behauptung recht hat, daß jeder Affekt einer Gefühlsregung, gleichgültig von welcher Art, durch die Verdrängung in Angst verwandelt wird, so muß es unter den Fällen des Ängstlichen eine Gruppe geben, in der sich zeigen läßt, daß dies Ängstliche etwas wiederkehrendes Verdrängtes ist. Diese Art des Ängstlichen wäre eben das Unheimliche und dabei muß es gleichgültig sein, ob es ursprünglich selbst ängstlich war oder von einem anderen Affekt getragen. Zweitens, wenn dies wirklich die geheime Natur des Unheimlichen ist, so verstehen wir, daß der Sprachgebrauch das Heimliche in seinen Gegensatz, das Unheimliche übergehen läßt, denn dies Unheimliche ist wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden 412
ist.“
Jeder Affekt kann, unabhängig vom ursprünglichen Affektempfinden, in der Wiederkehr des Verdrängten Angst im Individuum hervorrufen. Neben der Wiederkehr des Überwundenen bildet folglich das Verdrängte den Bereich des Unheimlichen aus. Dabei verweist Freud immer schon auf den ursprünglichen Charakter des Affekts, also seinen Ursprung im Heimeligen und der Heimat. Freuds Definition wirft jedoch die Frage auf, warum das Individuum überhaupt verdrängt und was den Ursprung der Angst begründet.
412 Freud: Unheimlich. S. 263f.
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In der Angst, so die These, ist eine existenzielle Wahrheit zu vermuten, die in der Gestalt des Unheimlichen hervorbricht.
Die Angst als Affekt des Unheimlichen
Analog zu Freuds Definition des Unheimlichen, das er als eine Grundempfindung des Menschen bestimmt, die in der Kunst ihre besondere Ausprägung findet, kann Heideggers Analyse der Angst gelesen werden, die weitere Aufschlüsse über die Wesenheit der Angst als Affekt des Unheimlichen offenbaren kann. In § 40 „Die Grundbegrifflichkeit der Angst als eine ausgezeichnete Erschlossenheit des Daseins“ aus „Sein und Zeit“ lassen sich auch Erkenntnisse für ein präziseres Verständnis der phantastischen Texte gewinnen. Vergleichbar mit der Einsicht Freuds, dass das Unheimliche vom Heimeligen abzuleiten ist, und Todorovs Feststellung, dass das Phantastische wiederum mit dem Unheimlichen und dem Wunderbaren in Korrespondenz und verwandtschaftlichen Verhältnissen stehe, definiert auch Heidegger die Angst als einen changierenden Zustand der Bedeutungen und Demarkationen. „Für die Analyse der Angst sind wir nicht ganz unvorbereitet. Zwar bleibt noch dunkel, wie sie ontologisch mit der Furcht zusammenhängt. Offensichtlich besteht eine phänomenale Verwandtschaft. Das Anzeichen dafür ist die Tatsache, daß beide Phänomene meist ungeschieden bleiben und als Angst bezeichnet wird, was Furcht ist, und Furcht genannt wird, was den Charakter der Angst hat.“
413
Heidegger sieht die Angst also in einem ebenso wenig eindeutigen wie trennscharfen Verhältnis stehen, wie Freud das Unheimliche und Todorov die Phantastik: Die Begriffe der Angst und der Furcht befinden sich im alltäglichen Sprachgebrauch eher in einem phänomenalen Austausch und bleiben ungeschieden voneinander.
413 Heidegger: Sein und Zeit. S. 185.
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Ging es Freud in seiner Analyse aber noch um die unterschiedlichen Figurationen des Unheimlichen, zielen Heideggers Überlegungen zur Angst auf deren Ursprung und die Einordnung unter ein ontologisches Prinzip ab. „Für das Verständnis der Rede von der verfallenden Flucht des Daseins vor ihm selbst muß das In-der-Welt-sein als Grundverfassung dieses Seienden in Erinnerung gebracht werden. Das Wovor der Angst ist das In-der-Welt-sein als solches.“
414
Die Überlegungen zur Angst korrespondieren hier mit Heideggers Begriff der Seinsvergessenheit. Das Dasein empfindet demnach keine Angst vor etwas, das in der Welt ist, sondern vor der Erfahrung des eigenen Seins. Heidegger sieht also in der Angst den Ansatz bzw. die Voraussetzung für das Wissen des Daseins um die Voraussetzung seiner existenzialen Verfasstheit. In diesem Denken, das sich klar in Opposition zum Descartesschen Subjektverständnis positioniert, leistet die Angst also einen kaum zu unterschätzenden Beitrag zum Verständnis des Seins selbst. In der Angst erfährt das Dasein sein Sein in unverstellter Form. Für eine Textanalyse von besonderer Relevanz ist in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Zeichenlehre, die im Heideggerschen Verständnis die Grundlage der Wahrnehmung von Realität darstellt. Auf die Semiotik übertragen bedeutet dies, dass die Künstlichkeit der Welt der Zeichen erst in der Angst bewusst werden kann. In der Suspension des Verweisungszusammenhangs der Zeichen aber wird das Dasein in unverstellter Ebene der Bedingtheit seiner so gebildeten Realitätserfahrung gegenwärtig. Das wovor, vor dem sich das Individuum ängstigt, ist folgerichtig nicht in der dinglichen Welt als Materialität existent. Semiotisch jedoch zielt Heideggers Angstbegriff demzufolge auf das im Zeichen nicht Erfassbare ab, da in ihm sowohl die Künstlichkeit des Zeichenkosmos entlarvt wird, als es auch das Fundamentalphantasma einer zeichenhaft verstandenen Realität aufzudecken vermag. Heideggers Gedanken können an dieser Stelle sehr gut mit den Überlegungen Žižeks zusammengeführt und erweitert werden. Auch dieser sieht das Zeichenhafte der Welt als phantasmatischen Raum, dessen Auflösung jedoch auch immer mit einem Erkennen der Angst verwoben ist. „Nicht das noumenale Reale soll uns unzugänglich bleiben, sondern unser Fundamentalphantasma selbst; in dem Augenblick, in dem das Subjekt seinem phantasmatischen 415
Kern zu nahe kommt, verliert es die Konsistenz seiner Existenz.“
414 Heidegger: Sein und Zeit. S. 186. 415 Žižek: Die Tücke des Subjekts. S. 86.
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Dem rein phänomenalen Erkennen des Daseins wird das Phantasma entgegengesetzt. Der sich von Freuds Definition der Phantasie her entwickelte Begriff des Phantasmas wird von Lacan geprägt und in einer Weiterentwicklung von Žižek verwendet. Beschrieb der Begriff der Phantasie bei Freud zunächst nur eine bildhafte Erinnerungsstruktur, die den Wunsch als erfüllt darstellt, zielt der Begriff des Phantasmas auf dessen strukturelle Besonderheit ab, also auf den Bildungsvorgang selbst. Im Imaginären angesiedelt dient das Phantasma also dazu, Begehrensstrukturen zu imaginieren. Im Verbund mit der Symbolebene konstituiert es das vermeintliche Realitätskonstrukt. Lacans Weiterentwicklung zielt aber darauf ab, dass das im Phantasma evozierte Begehren freilich immer den Kern des Begehrens verkennt und somit den Mangel nur weiterträgt. Die vermeintlich erlebte Signifikanten-Existenz des Menschen ist somit nur ein imaginiertes Fundamentalphantasma416, das Wahrheiten und Dasein als den phantasmatischen Kern des Subjekts mittels der Zeichen, geschickt verschleiert. Wird aber der daraus resultierende Verlust der Konsistenz der Existenz seitens des Individuums erkannt und somit die Ebene des Realen, kann dies im schlimmsten Fall eine Psychose verursachen. In der abgemilderten Version figuriert dieses Erkennen als Angst. In der Weiterführung dieser Gedanken lässt sich bestimmen, warum die Angst, der Horror oder das Unheimliche in einer solchen Variantenvielfalt auftreten können. Jedem Zeichen ist immer schon eine Arbitrarität zu eigen. Die künstliche Setzung des Zeichens, verschleiert ihren vorhandenen Variantenreichtum. Bricht die Sinnstruktur des Zeichens kann sein verborgener Anteil zum Vorschein kommen. Heidegger betont sogar noch die Möglichkeit, in der Angst sich manifestieren kann. Aufschlussreich erweist sich in diesem Zusammenhang das Abklingen der Angst, welches wiederum in der auf das Innerweltliche gerichteten Furcht mündet. Ist die Furcht erst überwunden, „dann pflegt die alltäg-
416 Der Begriff des Fundamentalphantasmas taucht keineswegs bei Žižek das erste Mal auf, wie an manchen Stellen zu lesen ist. Es handelt sich hierbei nur um eine Besonderheit der deutschen Übersetzung. Ist in der von Gondrek vorgenommenen Übertragung von einer „grundlegende Phantasievorstellung“ zu lesen, so kann diese auch als „fundamentales Phantasma“ übersetzt werden. Auf Žižek geht also allein die kompositorische Verwendung des Begriffs zurück. Vgl. hierzu: Jacques Lacan: Die Übertragung. Das Seminar, Buch VIII (1960-1961), 1. Auflage, übers. von HansDieter Gondek nach dem von Jacques-Alain Miller hergestellten französischen Text in der 2. korrigierten Auflage von 2002, Wien 2008, S. 127 und 138. Zu den Besonderheiten des Phantasma-Begriffs siehe: Christoph Braun: Das Phantasma. S. 141146, in: ders.: Die Stellung des Subjekts. Lacans Psychoanalyse, Berlin 2007.
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liche Rede zu sagen: „es war eigentlich nichts.“417 Werden Heideggers Ausführungen auf eine sprachtheoretische Ebene übertragen, wie sie von Lacan verwendet wird, bezeichnet dieses Nichts aber genau das, was sich nicht zeichenhaft in einen Zeichenkosmos vereinnahmen lässt, also irreduziblen Anteil des Le Réel. Das Nichts, das hier im allgemeinen Sprachgebrauch verwendet wird, bezeichnet also keine Leere, sondern kann ganz im Gegenteil als die Vielfältigkeit des nicht Auflösbaren im Zeichenkosmos interpretiert werden, der die vermeintliche Realität ausbildet. Zeigt sich indes das nicht im Zeichen Auflösbare, figuriert es als Angst, dass im Sinne Heideggers immer das In-der-Welt-sein meint. Erweisen sich viele Aussagen Heideggers über die Angst dem Unheimlichen nach Freud als ähnlich, so ist dies nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass sich beide Denker auf die Thesen Søren Kierkegaards beziehen. Besonders dessen Idee, dass die Angst durchschritten, also bewusst erlebt werden muss, um eine Subjektwerdung zu erreichen, findet sich bei Heidegger nahezu wortwörtlich wieder. Ziel ist es bereits bei Kierkegaard, „sich der Angst auszuliefern, die das Unheimliche in uns ans Licht holt“418. Angst und Unheimliches erscheinen somit als einander bedingende Komplexe. In der Angst begegnet dem Subjekt das Unheimliche, das in letzter Instanz einen Erkenntnisprozess des eigenen Ichs auslöst. Auch der im Erleben des Unheimlichen waltende Zeit-Begriff erscheint bereits bei Kierkegaard, der dem Erlebten einen Moment der Ewigkeit zugesteht. Dieser kurze Zusammenbruch der Kontingenz von Alltag und alltäglicher Zeit findet sich auch wieder in „Sein und Zeit“.419 Angst wird somit zu einer totalen, weil die Existenz im Ganzen betreffenden Erfahrung. „Die alltägliche Vertrautheit bricht in sich zusammen. Das Dasein ist vereinzelt, das jedoch als In-der-Welt-sein. Das In-Sein kommt in den existenzialen ‚Modus‘ des Unzuhause. Nichts anderes meint die Rede von der ‚Unheimlichkeit‘. Nun wird phänomenal sichtbar, wovor das Verfallen als Flucht flieht. Nicht vor innerweltlichem Seienden, sondern gerade zu diesem als dem Seienden, dabei das Besorgen, verloren in das Man, in beruhigter Vertrautheit sich aufhalten kann.“
420
417 Heidegger: Sein und Zeit. S. 187. 418 Søren Kierkegaard: Der Begriff Angst. hrsg. u. Nachwort von Uta Eichler, übers. von Gisela Perlet, Stuttgart 1992. 419 Siehe hierzu insbesondere § 80. Die besorgte Zeit und die Innerzeitigkeit, in: Martin Heidegger: Sein und Zeit. S. 411-420. 420 Heidegger: Sein und Zeit. S. 189.
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Wie das Heimelige dem Unheimlichen gegenübersteht und es verdeckt, so ist auch die Angst ein Erleben im Un-zuhause fernab des Vertrauten. Es zeigt sich jedoch, dass die einzelnen Termini schwer voneinander zu trennen sind. Wie das Phantastische nahe am Unheimlichen steht, hat auch das Unheimliche mit dem Un-zuhause der Angst Schnittmengen. Das Vertraute bei Heidegger ist der uneigentliche Modus des In-der-Welt-Seins im man, welche das Individuum sucht. Nur in diesem Modus ist es möglich im kollektiven Mit-Sein aufzugehen, was jedoch auch immer die Gefahr beinhaltet, in ein leeres Sprechen abzugleiten. In der Angst jedoch erfährt sich das Dasein als vereinzelt. Doch die oppositionelle Setzung der Erfahrung in der Angst zum Seinszustand im man lässt bereits erkennen, dass Heidegger der Angst analog zu Kierkegaard eine existenziale Rolle zugesteht. „Das beruhigt-vertraute In-der-Welt-sein ist ein Modus der Unheimlichkeit des Daseins, nicht umgekehrt. Das Un-zuhause muß existenzial-ontologisch als das ursprünglichere Phänomen begriffen werden.“
421
In Heideggers Philosophie erweist sich das Verwobensein des Menschen in ein In-der-Welt-sein, die kollektive Macht des Man, in der jegliche Individuation verloren zu gehen droht und sich der Signifikat jeglicher Bedeutung entleert, als vom Unheimlichen begründetes. Konträr zu Freud, der im Unheimlichen nur ein überwundenes oder verdrängtes Moment zu erkennen vermag, versteht Heidegger das Unheimliche, hervorgerufen durch die Angst, als existenzialontologische Chance für das Dasein. Es ist dies die Chance, sich aus jenem sozio-symbolische Netz, das in der Angst aufreißt, zumindest zeitweise zu lösen. Diese Überwindungsstrategien werden auch das Denken etwa von Foucault, Žižek und Butler bestimmen. „Allein in der Angst liegt die Möglichkeit eines ausgezeichneten Erschließens, weil sie vereinzelt. Diese Vereinzelung holt das Dasein aus seinem Verfallen zurück und macht ihm Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit als Möglichkeiten seines Seins offenbar. Diese Grundmöglichkeiten des Daseins, das je meines ist, zeigen sich in der Angst wie an ihnen selbst, unverstellt durch innerweltliches Seiendes, daran sich das Dasein zunächst und zumeist klammert.“
422
421 Heidegger: Sein und Zeit. S. 189. 422 Heidegger: Sein und Zeit. S. 190f.
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In der Angst sieht Heidegger die Möglichkeit des Erkennens. Frei von einem Netz der Signifikanten vermag das Dasein sich selbst zu erfassen. Die Chance, die Heidegger in einem vermeintlich negativen Gefühl findet, erinnert an die Phantastikdefinition Caillois’. „Im Phantastischen aber offenbart sich das Übernatürliche wie ein Riß in dem universellen Zusammenhang. Das Wunder wird dort zu einer verbotenen Aggression, die bedrohlich wirkt und die Sicherheit einer Welt zerbricht, in der man bis dahin die Gesetze für allgültig und unverrückbar gehalten hat. Es ist das Unmögliche, das unerwartet in einer Welt 423
auftaucht, aus der das Unmögliche per definitionem verbannt worden ist.“
Denn auch das zunächst Unheimliche (dessen Definition auch hier eindeutig analog zu Freud vorgenommen wird) ist nur ein Verdrängtes, das unter Umständen sogar in der Vergangenheit noch ein Teil des Realitätsgefüges war. Die Angst, das Unheimliche, die Phantastik – sie stellen die vermeintliche Wahrheit auf den Prüfstand und offenbaren den Riss im Realitätskonstrukt. Von besonderer Bedeutung ist hierbei der Angsttraum. In Freuds bekanntestem Text „Die Traumdeutung“ findet sich eine Passage über einen trauernden Vater. Dieser schläft ein während der Totenwache, die er neben dem aufgebahrten Leichnam seines Sohns hält. In seinem Traum begegnet ihm das Kind und ruft in Flammen stehend, ob der Vater nicht sehen könne, dass es brennt. Er erwacht und sieht eine Kerze, die gefährlich nahe am Sarg des Sohnes zu Boden gefallen ist und ein Tuch in Brand gesetzt hat. Freud beschreibt zunächst die Möglichkeit, wie besonders kurz vor dem Erwachen äußere Einflüsse in die Logik des Traums eingewoben werden können, um die Schlafphase zu verlängern. Doch kann dieser äußere Einfluss nicht vorschnell auch als Ursprung des Traumtextes angesehen werden, sondern nur als Bestandteil einer generellen Struktur. Diesen ersten allgemeinen Einordnungen des Traumprotokolls lässt Freud eine scheinbar paradoxe Deutung folgen. „Der Angsttraum ist gewöhnlich auch ein Wecktraum; wir pflegen den Schlaf zu unterbrechen, ehe der verdrängte Wunsch des Traumes seine volle Erfüllung gegen die Zensur 424
durchgesetzt hat.“
423 Caillois: Bild des Phantastischen. S. 46. 424 Sigmund Freud: Die Wunscherfüllung, in: ders.: Studienausgabe. Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Und Neue Folge, Bd. I, hrsg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey, Mitherausgeber des Ergänzungsbandes Ilse Grubrich-Simitis, Frankfurt a. M. 2000, S. 217-230, hier: S. 228
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Die erste Aussage ist leicht zu verstehen. Die im Traum wahrgenommene Angst bringt den Vater dazu, aus seinem Traum aufzuschrecken. Freud betont die Verbundenheit zwischen dem Angsterleben und dem Aufwachen als Reaktion auf die Angst. Dabei muss eine genauere Betrachtung nach dem Ursprung dieser Angst fragen sowie nach der von Freud umschriebenen Zensur des Traumes. Žižek verweist in Relektüre des beschriebenen Traumprotokolls auf die hier bereits anklingende wechselseitige Beziehung von Traum- und Wachzustand und sieht die Realitätsebene, gebildet durch die symbolische und imaginäre Ebene, als den Zensor des Traums. „Wachte der Vater auf, als der äußerliche Reiz (Rauch) zu stark wurde, um in dem Traumszenario integriert zu bleiben? Oder war es nicht eher genau umgekehrt: Der Vater konstruierte zuerst den Traum, um länger schlafen zu können, das heißt, um das unangenehme Erwachen hinauszuzögern; was ihm dann aber in dem Traum begegnete – die buchstäblich brennende Frage, das grausige Gespenst seines Sohns, das den Vorwurf aussprach – , war viel unerträglicher als die äußerliche Wirklichkeit, also wachte der Vater auf und floh damit in die äußerliche Wirklichkeit – warum? Um weiterzuträumen, um dem unerträglichen 425
Trauma seiner Schuld am schmerzhaften Tod seines Sohns zu entgehen.“
Žižek stellt in seinen Ausführungen den Umstand in den Vordergrund, dass der Vater sich zunächst in die Welt der Träume flüchtet, um der Realität zu entfliehen, in der sein Sohn gestorben ist. Selbst äußere Einflüsse, werden in die Traumhandlung integriert, um dem Erwachen vorzubeugen, was Freud zu der Annahme verleitete, dass eine Ausdehnung des Schlafs die eigentliche Funktion des Traums sei. Doch gebildet durch das Unbewusste, ist die Welt des Traums ungleich brutaler und unvermittelter als die Realität. Das unverarbeitete Trauma des Vaters, seine Angst, eine Mitschuld am Tod seines Sohnes zu tragen sowie die vollkommene Erkenntnis des erlittenen Verlusts werden erst im Traum ersichtlich. Da diese Einsicht zu schrecklich wäre, um sie in der Realität zu ertragen, wird sie nicht in das Realitätskonstrukt integriert. Das Erwachen lässt den Vater somit nicht aus der schrecklichen Welt des Traums zurückkehren in die Realität, sondern das Erwachen markiert eine Flucht zurück in das Fundamentalphantasma unserer Realität, um der Wahrheit des Traumas, wie sie uns in den Alptraumszenarien begegnet, zu entkommen.
425 Slavoj Žižek: Die brennende Frage. Hundert Jahre Traumdeutung lehren: Wach sein ist feige, in: Die Zeit, Nr. 49, 1999, S. 27.
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Analog zu Freuds Traumanalyse nutzt auch Lacan einen Traum426, um nach dem verborgenen phantasmatischen Gehalt der Realitätsebene zu fragen.427 Bildet sich die Realität in einem Wechselspiel aus imaginärer und symbolischer Ebene aus, so geht in dieser Repräsentation der Signifikantenrealität ein Teil, im Falle des Freudschen Traumprotokolls ein traumatischer Teil, in der Repräsentation verloren. Lacan bestimmt den Traum in seiner Grundstruktur als geprägt von der Einsicht über ein „fundamentales Phantasma“428. „Daher ist die Kluft, die für alle Zeiten den Bereich der (symbolisch vermittelten, d. i. ontologisch konstituierten) Realität von dem sich entziehenden und gespenstischen Realen trennt (wobei dieses jenem vorausgeht), entscheidend: Was die Psychoanalyse ‚Phantasie‘ nennt, ist die Bemühung, diese Kluft durch eine (Miss-)Verständnis des präontologischen Realen als einer anderen, ‚tieferliegenden‘ Ebene der Realität zu schließen – die Phantasie 429
projiziert auf das präontologische Reale die Form der konstituierten Realität.“
Die Welt der Phantasie und Träume ist also nicht als ein der Realität entgegengesetzter Entwurf zu fassen. Vielmehr entlarvt der Traum die Konstruiertheit der Realität. Von besonderer Bedeutung ist demnach nicht die Realität hinter der Illusion des Phantasmas, sondern die Illusion innerhalb der Realität. Erinnerungen und Erfahrungen werden demgemäß immer wieder ausgebildet und einer (lebbaren, d. h. erträglichen) Realität zugeführt und in selbige eingeordnet. Die Logik des Traums konstituiert sich somit aus den aus dem Zeichenkosmos herausgefallenen Teilen, die als nicht subsumierbar erscheinen. Als Teil des Realen zeigt sich im Angsttraum die „Logik des Phantasmas“430, die immer auf
426 Der Philosoph träumt er sein ein Schmetterling. Nach dem Erwachen stellt er sich die Frage, ob er wirklich Tschung-Tse sei, oder nur ein Schmetterling, der sich dies erträume. Vgl. hierzu: Lacan: Seminar XI. S. 82-85. 427 Der von Lacan eingeführte Begriff des Phantasmas ist als Weiterführung des Phantasie-Begriffs nach Freud zu fassen. Siehe hierzu: Jacques Lacan: Die Ausrichtung der Kur und die Prinzipien ihrer Macht, übers. von Norbert Haas, in: ders.: Schriften 1. S. 171-239. 428 Lacan: Seminar VIII. S. 127. 429 Žižek: Tücke. S. 82. 430 Die Logik des und Bedeutung des Phantasmas nimmt im Denken Lacans eine so bedeutsame Rolle ein, dass er diesen Überlegungen ein ganzes Jahr seiner Studien widmet. Der Text „Logique du fantasme. 1966-67“ liegt weder in deutscher Übersetzung, noch in gedruckter, französischer Form vor. Abrufbar über: http://staferla. free.fr/S14/S14%20LOGIQUE.pdf
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den traumatischen Gehalt des träumenden Subjekts verweist und Lacan zu seiner Aussage bewegt: „Der Traum gleicht sehr einer Lektüre im Spiegel.“431 Jelineks Text präsentiert eine Welt des apokalyptischen Phantasmas und die Schrecken der Shoa auf einer horizontalen Ebene. Das implizite Problem der Nicht-Repräsentierbarkeit und der tabuisierten Diskurse über die historischen Geschehnisse rückt in den untoten Figuren und deren obszönen Handlungen in den Fokus. Die Sprachunfähigkeit zeigt einen immanenten Mangel der sprachlichen Realität, während die dargestellten Tabubrüche auf gesellschaftlich reglementierte Diskurse etwa der Nahrungsaufnahme und der Sexualität verweisen. Jelineks Text markiert die Shoa somit als ein unvorstellbares Ereignis. „Was den Raum für solche erhabenen, monströsen Erscheinungen eröffnet, ist das Zusammenbrechen der Logik der Vorstellung, d.h. der radikalen Inkommensurabilität zwischen dem Feld der Vorstellungen und dem unvorstellbaren Ding, wie sie bei Kant auf432
taucht.“
Jelineks Text bildet keine Realität der Shoa ab, die sich doch immer nur in den Konstanten eines diskursiven Zeichenkosmos bewegen würde, sondern die psychische Realität des Phantasmas. Infolgedessen beschreibt „Die Kinder der Toten“ nicht einfach eine phantastische Welt des Ekels und der mannigfaltigsten Ungeheuerlichkeiten, sondern erweitert den bisherigen Diskurs über die Shoa um dessen phantasmatischen Gehalt. In einer Durchbrechung der „naiven ideologischen Opposition von ‚harter Realität‘ und ‚Traumwelt‘“433 zeigt sich „Die Kinder der Toten“ einer (Alp-)Traumstruktur verpflichtet, die darüber hinaus auf die Kernaussage allen psychologischen Denkens verweist. „Das ist das Bild, das die Psychoanalyse von der Alltagsrealität gibt; ein prekäres Gleichgewicht, das jederzeit zerstört werden kann, wenn die Dinge, auf ganz zufällige und unvorhersehbare Weise, eine gefährliche Wendung nehmen. Dieser Ort, der sich im nachhinein, rückwirkend, als ein fiktionaler erweist, der Raum zwischen dem ersten und zweiten Erwachen […] ist, seiner formalen Struktur nach, ein Ort der Wahrheit: ein fiktionaler Raum, ein ‚anderer Schauplatz‘ auf dem allein die Wahrheit […] zum Ausdruck kommen 434
kann – deshalb hat auch, Lacan zufolge, Wahrheit ‚die Struktur der Fiktion‘.“
431 Lacan: Seminar II. S. 77. 432 Žižek: Metastasen. S. 29. 433 Žižek: Symptom. S. 110. 434 Žižek: Symptom. S. 111f.
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Jelineks Text, dem ein Busunglück als Prolog vorangestellt wird, eröffnet in seinem Hauptteil eine alptraumhafte Welt, in der die Untoten wüten. In der Fiktion ist es der Ort des Unheimlichen und der Angst, der das Phantasma in ganz besonderer Weise aufleuchten lässt. Denn per se normale Dinge, wie etwa das menschliche Haar, werden in Jelineks Text nicht nur mit dem historischen Sinngehalt als Chiffre für Auschwitz sichtbar gemacht, sondern entfalten darüber hinaus ihren phantasmatischen Gehalt – etwa durch deren Eigenleben. Die phantastischen Elemente sind somit nicht als abgetrennte Teile des Textes zu verstehen, sondern erweisen sich als mit der Shoa-Thematik verwoben. Sie folgen damit einer psychoanalytischen Lesart, der entsprechend ein alltäglicher Gegenstand, ein simples Wort plötzlich die Realität zerreißen kann, um auf deren phantasmatischen Gehalt zurückverweisen zu können. Diese Konzeption von „Die Kinder der Toten“ wird gleich im ersten Absatz des Hauptteils ersichtlich. „Wir haben das als Geborgene erlebt und berichten davon, als hätte uns gerade nur ein 435
Wort gestreift, und dann, im Vorbeigehen, plötzlich zugetreten.“
Das einzelne Wort bekommt im phantastischen bzw. phantasmatischen Raum eine neue Wirkkraft zugesprochen. Der verwandelte, befreite Signifikant ist aber nicht als sinnbefreit zu verstehen, sondern vielmehr in seine ursprüngliche Sinnstruktur rückübersetzt. „Die Lehre, die daraus gezogen werden kann, ist jene, daß – manchmal zuletzt – das wahre subversive Ding nicht das Nichtbeachten des expliziten Buchstabens des Gesetztes im Interesse der unterlegenen Phantasie ist, sondern diesem Buchstaben gegen die Phantasie treuzubleiben, der sie aufrechterhält. Mit anderen Worten, den Akt der leeren Geste […] wörtlich zu nehmen, das heißt, die erzwungene Wahl als wahre Wahl zu behandeln ist vielleicht eine Möglichkeit, das, was Lacan ‚Traversieren der Phantasie‘ nannte, zu bewir436
ken […].“
Der einzelne Signifikant wird also nicht mehr nur in seiner Wortbedeutung verwendet, sondern wortwörtlich genommen. Hierdurch können nicht nur seine unterschiedlichen Konnotation und seine Arbitrarität zurückgewonnen werden,
435 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 14. 436 Slavoj Žižek: Die Pest der Phantasmen. Die Effizienz des Phantasmatischen in den neuen Medien, übers. von Andreas Leopold Hofbauer, hrsg. von Peter Engelmann, 2. verbesserte Auflage, Wien 1999, S. 56.
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sondern zugleich gelingt es, seine künstliche Setzung in einer Signifikantenrealität, seine erzwungene Wahl ersichtlich zu machen. Dieses Spiel zeigt sich auch in der Verwendung des Polysems „Geborgene“. Wird zuvor von verunglückten Menschen berichtet, kann das „wir“ auf diese nun Untoten verweisen. Die Erzählerstimme kann jedoch auch auf die zweite Bedeutungsebene des Wortes „Geborgene“ anspielen. Beschützt und heimelig in eine Signifikantenrealität eingebettet, eröffnet der nun entfesselte Signifikant eine Ebene des Unheimlichen. Auch das kollektive Wir bleibt unbestimmt und kann sowohl als heterooder homodiegetisch als auch autodiegetisch verstanden werden, wodurch nicht nur der einzelne Signifikant in eine Unbestimmbarkeit verrückt, sondern auch die Hierarchie innerhalb der Erzählstruktur immer wieder neu gesetzt wird. Diese changierenden Bedeutungsebenen der Erzählstruktur korrespondieren mit dem Erzählten. „Wenn der phantasmatische Rahmen sich auflöst, unterliegt das Subjekt einem ‚Realitätsverlust‘ und beginnt, die Realität als ein ‚irreales‘ alptraumhaftes Universum ohne sichere ontologische Fundierung wahrzunehmen; dieses alptraumhafte Universum ist nicht ‚bloße Phantasie‘, sondern im Gegenteil das, was von der Realität übrig bleibt, nachdem ihr die Stütze der Phantasie entzogen wurde.“
437
Nicht nur die sprachliche Struktur gerät ins Wanken. Auf der erzählten Ebene eröffnet sich ein alptraumhaftes Szenario. Das Unheimliche in Jelineks Beschreibung der Shoa ist also nicht allein in den grausamen Handlungen zu finden, sondern vielmehr wird eine generelle Kritik an der sprachlichen Realität, an die auch eine Kritik der Erinnerungskultur gebunden ist, ersichtlich. Denn die vermeintlich historischen Wahrheiten bleiben doch auch immer in einer Repräsentationsmaschinerie gefangen und sind nicht fähig den phantasmatische Anteil darzustellen. Die im Jelinekschen Text anklingende Kritik an der betriebenen Erinnerungskultur liegt also nicht allein in einer Praxis des Verschweigens und Leugnens, sondern in der Unmöglichkeit, den traumatischen Kern der Shoa zu erfassen. Am Ende des Textes erweist sich „Die Kinder der Toten“ selbst als ein Vorstoß auf diesen traumatischen Kern, wenn Aufräumarbeiter auf menschliche Überreste stoßen.
437 Žižek: Tücke. S. 74.
184 | D IE Z ERSTÖRUNG DES I CHS „Wir graben weiter, die stählernen Schaufeln wühlen sich voran und stoßen auf ein Zeichen: Haar. Menschliches Haar. Menschliches Haar. Es wird ausgegraben. Alles schläft. 438
Nur: Es ist einfach zuviel Haar da für die geschätzte Anzahl von Verschütteten.“
Die Schaufeln der Männer erledigen eine archäologische Leistung im Sinne Foucaults. Denn nicht nur Erdschichten werden in dieser Passage befreit, sondern auch eine historische Wahrheit. Doch ist der erreichte und nun freigelegte Kern nicht fassbar. Keine Verleugnung der unzähligen Toten ist hier im Zweifel der Männer zu erkennen, sondern eine Unbegreiflichkeit des historischen Inhalts. Der innere Erdkern wird so zum Kern des Traumas, dass nun befreit von ihn überlagernden Schichten und Geschichten439 hervorquillt. Žižek folgend, kann die Hauptstruktur des Textes als „der Raum zwischen dem ersten und zweiten Erwachen“ bestimmt werden. Folgt dem Prolog ein Eintauchen in das Phantasma des Haupttextes, so endet dieser mit einer Murenszene, in der die gesamte Landschaft versinkt. Bemerkenswert an diesen beiden narrativen Eckpfeilern ist, dass sie jeweils eine Sturzbewegung beschreiben. Ist dies im Prolog der Sturz des Reisebusses, ist es gegen Ende des Haupttextes die Mure, die alles in einem Strudel versinken lässt. Dabei kann der letzte Satz des Haupttexts – „Und endlich ist auch sie zu Haus.“440 – wie ein Erwachen aus der Romanhandlung gelesen werden. Jelineks Text bietet somit ein Erinnerungsprojekt, das in psychoanalytischer Lesart ein Durchqueren des Phantasmas beschreibt und an dessen Ende das geborgene Phantasma in Form der menschlichen Haare offeriert wird. Der Epilog korrespondiert zugleich mit dem Prolog. Ging dem Jelinekschen Text noch eine Warnung voran, klingt der Epilog wie eine spöttische Belobigung des Lesers, der es bis zu diesem Punkt durchgehalten hat.
438 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 665. 439 Das Wortspiel der Schichten und Geschichten wird Jelinek in ihrem nächsten Romantext „Neid“ aufgreifen. Hier ist die Erzählerinstanz ein Bergmassiv, das in immer neuen Tiefen und Schichten eine Wahrheitsfindung als archäologischen Akt beschreibt. „Neid“ ist als Teil des „Todsünden-Projekts“ als Online-Roman veröffentlicht worden und über Jelineks Homepage abrufbar. Über: http://www.elfriedejeli nek.com/ 440 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 661.
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„Glücklich können wir also in den Spiegel schauen, daß wir auch diesmal nicht unter den Toten dieses Landes gewesen sind, was daran kenntlich ist, daß wir uns im Spiegel ins 441
Gesicht schauen können und nicht ins pure Nichts.“
Die scheinbar wieder hergestellte Dichotomie von Leben und Tod ist trügerisch, bedarf sie doch erst der Vergewisserung im Spiegel. Dabei ist das Hineingleiten in die wahnsinnige Struktur des Traumas nicht nur als ein Erinnerungsprojekt zu lesen, sondern in seiner (Alp-)Traumstruktur auch der von Lacan angemahnten „Lektüre im Spiegel“ als eine generelle Hinterfragung des uns umgebenden Phantasmas. „Die Kinder der Toten“ präsentiert sich als ein Roman der Sprache. Die Sprache selbst wird immer wieder in ihrer künstlichen Setzung entlarvt. Als Form der Erinnerungskultur zeigt sich der Text als der Mechanismen der sprachlichen Zeichen bewusst. Erst mit deren Anerkennung ist ein Erinnern über tradierte Zeichen hinaus möglich. Bewusst die Chiffren der Shoa abrufend, werden diese mit einem phantastischen Gehalt aufgeladen, um den traumatischen Kern zu bergen.
441 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 663.
Im Abseits Der Mensch steht genau dort, wo der Diskurs verstummte. MICHEL FOUCAULT
Auf eben jene Risse und die Porosität der Realität geht auch Elfriede Jelineks Nobelpreisrede „Im Abseits“ ein. Ihr in Stockholm auf drei Videoleinwänden übertragener Vortrag gibt nicht nur einen guten Einblick in ihr poetologisches Konzept, sondern ebenfalls in die Thematik einer als instabil verstandenen (Zeichen-)Realität. In Anerkennung der Signifikantenrealität, wie sie etwa durch Lacan definiert wird, ist es nach Jelinek Aufgabe der Literatur, die Mechanismen der Realität, dem Fundamentalphantasma nach Žižek, selbst zum literarischen Thema zu erklären. Gleich zu Beginn ihres Textes wird dementsprechend einem Realitätsanspruch im Sinne einer möglichst objektiven Wiedergabe der Welt innerhalb der Literatur eine klare Abfuhr erteilt. „Ist Schreiben die Gabe der Schmiegsamkeit, der Anschmiegsamkeit an die Wirklichkeit? Man möchte sich ja gern anschmiegen, aber was geschieht da mit mir? Was geschieht mit denen, die die Wirklichkeit gar nicht wirklich kennen? Die ist ja sowas von zerzaust. Kein Kamm, der sie glätten könnte. Die Dichter fahren hindurch und versammeln ihre Haare verzweifelt zu einer Frisur, von der sie dann in den Nächten prompt heimgesucht werden. […] Es läßt sich einfach nicht ordnen. Es will nicht. So oft man auch mit dem Kamm mit den paar ausgebrochenen Zinken hindurchfährt – es will einfach nicht. Etwas stimmt jetzt noch weniger. Das Geschriebene, das vom Geschehen handelt, läuft einem unter der Hand davon wie die Zeit, und nicht nur die Zeit, während der es geschrieben wurde, während der nicht gelebt wurde.“
442
442 Elfriede Jelinek: Im Abseits. Über: http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/litera ture/laureates/2004/jelinek_lecture_g.html
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Die vermeintlich objektive Wiedergabe der Realität im Textherstellungsverfahren wird in der Metapher unbändiger Haare gefasst und zugleich als unfassbar erkannt.443 Im Bild des Kämmens der Realität werden gleich mehrere Probleme der Transformation von „Realität“ in Text angesprochen. Mit dem Bild der Haare wird die nahezu unmögliche Bändigung der Realität angezeigt. Der Kamm, als ordnende Instanz, soll keine natürliche Ordnung des Wuchses nachzeichnen, sondern eine neue Form, eine künstliche Anordnung erreichen. Diese künstliche Form jedoch fällt kaum erschafft gleich wieder in sich zusammen. Auch das ordnende Instrument, der Kamm, ist unvollkommen, fehlen ihm doch gleich mehrere Zinken. Neben der zitierten Haarsymbolik ist es das Bild des Bodens, das dem Text im Werk Jelineks beigestellt wird. Es ist Treibsand, aber er treibt nichts an. Es ist grundlos, aber nicht ohne Grund. Es ist beliebig, aber es wird nicht geliebt.444
Die Wahrheitssuche im Schreiben wird als Graben im Abgrund der Realität verstanden. Der Grund der vermeintlichen Realität eröffnet sich jedoch als ein Abgrund, der keinen festen Halt bietet. Jelineks Text scheint an dieser Stelle die Ideen Michel Foucaults aufzunehmen, die dieser in „Die Ordnung der Dinge“ ausformuliert. Foucault weist, ausgehend vom 19. Jahrhundert, eine Selbstreferentialität des Zeichens nach. „Vom neunzehnten Jahrhundert an verschließt sich die Sprache, erhält sie ihre eigene Mächtigkeit, entfaltet sie eine Geschichte, Gesetzte und eine Objektivität, die nur ihr gehören. Sie ist ein Erkenntnisgegenstand unter anderen geworden […]. Die Sprache zu erkennen, heißt nicht mehr, sich der Erkenntnis selbst möglichst stark zu nähern, sondern heißt lediglich, die Methoden des Wissens im allgemeinen auf ein besonderes Gebiet der Objektivität anzuwenden.“
445
Demnach verweist das Zeichen im modernen Verständnis nicht mehr einfach auf den ihm zugeordneten Gegenstand, sondern immer wieder nur auf andere Zeichen. Ohne Repräsentationscharakter ist der Diskurs nach der Klassik in einen
443 Auf die Verwendung von Haarbildern als Elemente unheimlichen Erzählens wird an späterer Stelle noch genauer eingegangen werden. 444 Jelinek: Abseits. 445 Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, übers. von Ulrich Köppen, 18. Auflage, Frankfurt a. M. 2003, S. 360f.
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steten Wandel eingetreten. Es vermittelt nicht länger direkt eine Erkenntnis, sondern wird zu einem Mittel der Gestaltung, das seine Ausprägung in immer neuen Epistemen erhält. Doch „Im Abseits“ geht nicht nur auf die Undarstellbarkeit der Realität ein, sondern verweist (wieder) auf deren Verbundenheit mit der Zeit. Auch dieser Konnex (von Text/Sprache und Zeit) findet ein Analogon bei Foucault: „Die Zeit ist der Sprache innerlich geworden.“446 Denn nicht nur die Sprache hat sich in einen Fluss verwandelt. Durch den Konnex von Zitaten aus unterschiedlichsten Epochen, sollen die Worte zeitenthoben und nicht mehr in ihrem geschichtlichen Kontext begriffen werden. In immer neue Ordnungen der Dinge gefügt sollen sie enthistorisiert und dekontextualisiert werden. Auch der Mensch selbst, der auf sich als Erkennender zurückgeworfen ist, kann nicht mehr als Entität begriffen werden. Foucault unterstreicht die Brüchigkeit des Wesens-Begriffs, indem er diesem einen Verlust des Subjektbegriffs zuordnet. In seinem bekannten Schlusswort von „Die Ordnung der Dinge“ warnt er vor einem drohenden Posthumanimus: „Wenn diese Dispositionen verschwänden, so wie sie erschienen sind, wenn durch irgendein Ereignis, dessen Möglichkeit wir höchstens vorausahnen können, aber dessen Form oder Verheißung wir im Augenblick nicht kennen, diese Dispositionen ins Wanken gerieten, wie an der Grenze des achtzehnten Jahrhunderts die Grundlage des klassischen Denkens es tat, dann kann man sehr wohl wetten, daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.“
447
Sowohl Foucault als auch Jelinek bedienen sich bei der jeweiligen Analyse des Textbegriffs der Metaphorik eines porösen Untergrunds. Nichts Festes oder Wirkliches ist mehr in diesem fließenden, sandigen Boden zu er- und begreifen. Seine liquide Konsistenz lässt die Sinnzusammenhänge der Wirklichkeit unter dem Zugriff des Autors zerfließen. Jelineks Rede rekurriert also auf ein generelles Problem der mittels Zeichen verstandenen Realität, die dann in ihrem konzeptionellen Kern die Konstruiertheit nicht verbergen kann. Der scheinbar feste Realitätsgrund, der Boden der Realität, auf dem alles Handeln, Verstehen und letztlich jede Subjektkonstituierung fußt und den Foucault bereits als Gesicht im Sand beschreibt, wird zum Jelinekschen Treibsand. Die Übertragung dieser Zeichen-Realität in Literatur erschafft eine Realität, die noch weiter von der Möglichkeit einer objektiven Wahrheitsoder Erkenntnisfindung entfernt ist.
446 Foucault: Die Ordnung der Dinge. S. 129. 447 Foucault: Die Ordnung der Dinge. S. 462.
190 | D IE Z ERSTÖRUNG DES I CHS „In jedem Fall ist es ein Markieren, das gleichzeitig zeigt und wieder verschleiert und die 448
Spur, die von ihm selbst gelegt wurde, danach sorgfältig wieder verwischt.“
Die Autorinstanz wählt aus, markiert einzelne Punkte und versucht diesen artifiziellen Charakter der Wahl innerhalb eines bereits artifiziellen Realitätskonstrukts künstlerisch zu verbergen. Aufgabe des Autors ist es somit nicht mehr, das Konstruktartige der Realität wieder zu erschaffen, sondern aus einer Position des Lacanschen Le Réels, dem titelgebenden Abseits, die Spielregeln der Realität selbst zu filtrieren und sichtbar zu machen. Allein es bleibt die Verbundenheit des Subjekts in die Realität der Zeichen. „Bitte, ich möchte jetzt den Weg nicht aus den Augen verlieren, auf dem ich nicht bin. Ich möchte ihn doch ordentlich und vor allem richtig und genau beschreiben. Wenn ich ihn schon anschaue, soll es auch etwas bringen. Aber dieser Weg erspart mir nichts. Er läßt 449
mir nichts. Was bleibt mir also übrig?“
Da das Zeichen immer schon auf etwas verweist und dieser Verweisungscharakter Teil des Repräsentationsprinzips ist, wird die Frage nach einer möglichen Repräsentation bei gleichzeitiger Ablösung des konnotierten Zeichenkosmos angemahnt. Hierfür entwirft der Jelineksche Text eine Opposition von Reden und Sprechen. „Das Gerede, das Reden überhaupt redet jetzt dort drüben weiter, denn es ist immer ein 450
Weiterreden, ohne Anfang und Ende, aber es ist kein Sprechen.“
Bereits in „Krankheit oder Moderne Frauen“ wurde die an Heidegger erinnernde Opposition von vollem Sprechen und Gerede etabliert. Doch war es in diesem Drama noch so, dass sich die weiblichen Protagonisten in ein Schweigen und somit ein freiwilliges Verstummen flüchteten, während die Untoten aus „Kinder der Toten“ in einem sprachlosen Raum auftreten. Im phantastischen Raum des Realen werden die Grenzen der Signifikanten überwunden. Ähnlich den bereits früher verwendeten freien Assoziationsketten bzw. Signifikantenketten, die an Schreibexperimente der surrealistischen Bewegung erinnern, wird nun der Versuch unternommen, das Gerede zu überwinden. Losgelöst von einem festen Be-
448 Jelinek: Im Abseits. 449 Ebd. 450 Ebd.
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deutungsinventar soll der Signifikant ohne das Signifikat frei im Raum des Realen fluktuieren. Während nach Lacan im alltäglichen Sprechen der Sinn nie im Signifikanten selbst zu finden ist, sondern in der unendlichen Verwobenheit von signifikanten Ketten, der „Kette des Diskurses“451, verweist jedes Sprechen letztendlich immer nur auf den Herrensignifikanten. Dieser ist als das ordnende System der Sprache zu verstehen. Eine Sprache, die von je her da ist und der Lacan auf Grund der ordnenden und sinnstiftenden Funktion den Ausdruck „der große Andere“ gibt. Diesen Anderen, der das Subjekt im Raum der Sprache ausbildet, gilt es aber zu überwinden, um eine wirkliche Subjektwerdung zu vollziehen. Verharren Signifikantenketten also immer in der übergeordneten und ordnenden Macht des Herrensignifikanten, sind nur im abseitigen Raum des Realen ein freies Sprechen sowie eine Subjektwerdung möglich. Dabei tritt nach Jelinek, vereinbar etwa mit den Thesen Barthes’, auch die Bedeutung des Autors notwendigerweise in den Hintergrund: „Mir sagt meine Sprache nichts, wie soll sie dann anderen etwas sagen? Sie ist aber auch nicht nichtssagend, das müssen Sie zugeben! Sie sagt umso mehr, je ferner sie mir ist, ja, erst dann traut sie sich, etwas zu sagen, das sie selber sagen will, dann traut sie sich, mir nicht zu gehorchen, sich mir zu widersetzen. Wenn man schaut, entfernt man sich von seinem Gegenstand, je länger man ihn ansieht. Wenn man spricht, fängt man ihn wieder ein, aber man kann ihn nicht behalten. Er reißt sich los und eilt der eigenen Benennung hinterher, den vielen Worten, die ich gemacht und die ich verloren habe. Der Worte sind genug gewechselt, der Wechselkurs ist unheimlich schlecht, und dann ist er nur noch: unheim452
lich.“
Wieder an die Instanz des Unheimlichen gebunden, ist dem Verlust der Autorinstanz, der die Sprache und den Bedeutungsträger in den Vordergrund treten lässt, eine Aufwertung der Leserposition zu eigen. Das offene Kunstwerk offeriert eine freie Interpretation des Geschriebenen. Sich von der klaren Konnotation des Wortes auf der Ebene des Symbolischen entfernend, ist es der Raum des Realen, in dem sich das Wort in all seinen Bedeutungsebenen enthüllt. Doch offenbart sich nicht nur für den Leser eine frei konstituierbare Lesart, sondern entmündigt zugleich das schreibende Subjekt. Jelineks Absage an die Autorinstanz war bereits im Text „Wolken.Heim“ klar erkennbar, der sich fast ausschließlich aus Zitaten zusammensetzt. Auch hier an die literarische Avantgarde, diesmal jene der Bourroughsschen Cut-Off-
451 Jacques Lacan: Schriften 3. S. 296. 452 Jelinek: Abseits.
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Technik erinnernd, offenbart das Jelineksche Schreibverfahren zudem den Autor als rein ordnende Instanz. Der Originalität und der damit verbundenen Debatte um die Autonomie eines Kunstwerks oder gar dem Anspruch auf eine Genieästhetik erteilt sie eine klare Abfuhr. „Ich habe immer nur nachgesagt. Man hat mir vieles nachgesagt, aber das stimmt fast alles nicht. Ich habe selber nur nachgesagt, und ich behaupte: das ist jetzt das eigentliche Sagen. 453
Wie gesagt – einfach sagenhaft!“
Literatur wird im Verständnis Jelineks ein Schreiben mit vorhandenem Inventar. Hinter dieses tritt der Autor zurück. Mit einem Seitenhieb auf die oftmals, gerade bei Jelineks Texten vorgenommenen biographischen Interpretationen, erhebt sie das fluktuierende Spiel der Signifikanten zur einzigen Möglichkeit der postmodernen Literatur. Auch an dieser Stelle unterstreicht sie noch einmal den Raum einer solchen Literatur als im Sagenhaften, d. h. Unheimlichen und Phantastischen beheimatet. Jelinek nutzt in der Verwendung des „Abseits“ einen aus dem Sport entlehnten Begriff. Beschreibt dieser eine regelwidrige Position innerhalb eines Spielfeldes, so wird diese Definition nun auf das Textherstellungsverfahren übertragbar. Denn auch die hier von Jelinek entwickelte Poetik verweigert sich den gängigen (Spiel-)Regeln. Zugleich eröffnet das Wort des Abseits das für Jelinek typische Spiel mit unterschiedlichen Konnotationen des Wortes. Denn verweist das sportliche Abseits noch auf einen Regelverstoß, so klingt bei Jelinek doch auch das schreibende Subjekt mit an, das sich mit Abseitigem beschäftigt und sich selbst durch den forcierten Regelverstoß ins gesellschaftliche Abseits bewegt hat. Doch nicht allein der Autor steht in einem abseitigen Bereich. Auch die Literatur selbst wird eine Literatur des zu beschreibenden Abseits. Dieser Raum kann nur als Gebiet verstanden werden, der sich der vorherrschenden symbolischen Ordnung und somit dem Regelwerk der Sprache bewusst macht und zugleich in Erkennen dieses Raums die Grundsätze umgeht. Der nicht reglementierte, der ungeordnete und vorsprachliche Raum, der abseits der Regeln funktioniert, ist wiederum der Raum des Realen. Jelineks poetologischer Text dringt somit an das Kernproblem eines vollen Sprechens, eines Schreibens und einer Subjektwerdung im Feld der symbolischen Ordnung vor: zu der symbolischen Ordnung selbst. Diese muss, im Erkennen der waltenden Mechanismen, ein Raum des Realen sein.
453 Ebd.
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Wie bereits ausgeführt, ist dieser Raum dem Phantastischen und dem Unheimlichen zugehörig. Und so ist die von Jelinek erhobene Forderung einer selbstreflexiven sprachlichen Ebene auch in „Die Kinder der Toten“ zu erkennen.
Wie aus Auschwitz Disneyland wird
Der schwedische Literaturhistoriker Knut Ahnlund sorgte kurz vor der Literaturnobelpreisvergabe im Jahr 2005 für einen Skandal, als er unter Protest seine weitere Mitarbeit im Nobelpreiskomitee aufkündigte. Grund für die Auseinandersetzung mit der Akademie war neben internen Querelen vor allem die Vergabe des Nobelpreises im vorangegangenen Jahr an Elfriede Jelinek. In einer schwedischen Zeitung gab er zu Protokoll: „Erniedrigung, Demütigung, Schändung und Selbstekel, Sadismus und Masochismus“454 seien die Hauptthemen im Werk von Elfriede Jelinek. Manch deutscher Kritiker mag sich in dieser Reaktion bestätigt gefühlt haben455, bedenkt man die recht zwiespältigen Reaktionen auf Jelineks Auszeichnung hierzulande.456 Auf Seiten der Fürsprecher des Jelinekschen Werks wurde
454 Aldo Keel: Unlust mit Jelinek. Skandal in der Schwedischen Akademie kurz vor der Nobelpreisverleihung, Onlineausgabe der Neuen Zürcher Zeitung vom 12.10.2005. http://www.nzz.ch/aktuell/startseite/articleD7YRV_1.176452 455 Neben einer negativen Reaktion von Marcel Reich-Ranicki, wurde besonders die Kritik an der Vergabe von Iris Radisch bekannt, die Jelinek als eine „große regionale Schriftstellerin“ bezeichnete. Vgl. hierzu: Iris Radisch: „Die Heilige der Schlachthöfe“, in: Die Zeit. Nr. 43 vom 14.10.2004, S. 44. – Marcel Reich-Ranicki: „Die missbrauchte Frau“, in: Der Spiegel. Nr. 42 vom 11.10.2004, S. 180. 456 Zur Rezeption auf die Literaturnobelpreisvergabe siehe: Pia Janke (Hrsg.) unter Mitarb. v. Peter Clar, Ute Huber, Stefanie Kaplan u.a.: Literaturnobelpreis Elfriede Jelinek. Wien 2005 (= Diskurse. Kontexte. Impulse. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums. Bd. 1). S. 35-49 (Allgemeine Beiträge – Deutschland) und S. 140-144 (Reaktionen – Kommentare – Deutschland). – Andrea Geier: Das ist doch keinen Nobelpreis wert! Über literarische Wertung und Kanonisierung am Beispiel der Nobelpreisverleihung an Elfriede Jelinek im Jahr 2004, in: Der Deutschunterricht 58 (2006), H. 1, S. 91-96.
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diese Kritik bisher nur aufgenommen, um sie zu entkräften. Doch scheint es schon bei einer flüchtigen Betrachtung naheliegend, Ahnlund – zumindest an dieser Stelle – unumwunden zuzustimmen. Denn mag seine Kritik im Detail kaum Bestand haben, kann jedoch nicht ernsthaft bestritten werden, dass sich die Texte Jelineks mit genau den von ihm aufgelisteten Themen auseinandersetzen. Die Erniedrigung der Frauen in „Die Liebhaberinnen“, Demütigungen in „Lust“ und der Selbstekel und der Masochismus der Erika Kohut in „Die Klavierspielerin“ sind hierfür nur die offensichtlichsten Beispiele. Statt die gewiss nicht als Lob gemeinte Kritik an den Jelinekschen Texten also einfach nur reflexartig abzuwehren, empfiehlt es sich, sie ernst zu nehmen, verweist die weitere Beurteilung Ahnlunds doch auf einen interessanten Punkt: „Jelinek schreibt mit der abscheulichen, aber für sie unwiderstehlich verlockenden Machart des Porno- und Horrorgenres: Ganze Bücher sind in großen Teilen jämmerlicher und unbehaglicher Gewaltporno.“
457
In den vorangestellten Reflexionen wurden bereits die Mechanismen des Masochismus und dessen Gewaltdiskurse einer genaueren Analyse unterzogen, die sich klar im Werk Jelineks wiederfinden lassen. Die Kritik Ahnlunds also vorschnell als unreflektierte Verbalattacke abzuwehren458 verstellt die Einsicht, dass nicht nur der von ihm erwähnte Sexualitätsdiskurs vorhanden ist und verhandelt wird, sondern dass er auch mit Recht auf den in der Forschung bisher kaum beachteten Diskurs des Horrorgenres aufmerksam macht.459 Zum Thema der Pornographie indes liegen, insbesondere für den Jelinekschen Text „Lust“, der von der Autorin selbst als Antiporno propagiert wurde,
457 Zitiert nach: André Anwar: Nobelpreisjuror schmeißt hin. Protest gegen Jelinek, Onlineausgabe des Focus-Magazins vom 11.10.2005. Über: http://www.focus.de/ wissen/protest_gegen_jelinek_aid_100198.html 458 Siehe hierzu etwa: Helen Ackel: Sprechen ohne Sein. Elfriede Jelineks HeideggerKritik in „Über Tiere“, S. 1, 62 und 64f. Über: http://jelinetz2.files.wordpress.com /2013/09/helen_ackel_beitrag_jelinetz.pdf 459 In meiner Volte, die Kritik Ahnlunds ernst zu nehmen und sie im Folgenden fruchtbar für eine weitere Forschung anzuwenden, sehe ich eine Analogie zu Jelineks eigenem Verhalten. Es liegt der Verdacht nahe, dass Jelineks Neologismus des Parasitärdramas auf die Vorwürfe Ahnlunds, ihr Werk sei rein parasitär, zurückzuführen sind. Ein Umstand, auf den bisher nicht verwiesen wurde.
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bereits zahlreiche Überlegungen vor460, nicht aber für die Bezugnahme auf das Horrorgenre.461 Denn auch wenn „Die Kinder der Toten“ klar an die Narrative des Horrorgenres gebunden ist und in der Tradition der Gothic Novels steht, so ist es doch die Shoa, welche den bisherigen Blick der wissenschaftlichen Betrachtungen dominiert. Dabei wird die Thematik der Shoa, die fraglos im Text verhandelt wird, oft in ein Konkurrenzverhältnis zu anderen Themen gesetzt. Es entsteht eine hierarchische Literaturwissenschaft, die sich maßgeblich an der Geschichtswissenschaft orientiert. Die Shoa als die historische Katastrophe des 20. Jahrhunderts nivelliert dergestalt aber alle anderen Themen des Textes und lässt eine Fülle an offenen Fragen bezüglich Figuren, Motiven etc. zurück. Denn „Die Kinder der Toten“ deutet nicht nur in seiner Konzeption auf einen unheimlichen Text hin, dieser Anspruch wird auch im Text selbst erfüllt. Die Untoten sind darin immer wieder die Verursacher von Ekelbildern, die den gesamten Text durchziehen, bzw. sind dergestalt wesentlicher Teil des Textgefüges. Eine reine Konzentration auf das Thema der Erinnerungskultur kann hierfür nur in begrenztem Umfang schlüssige Erklärungen liefern und kaum den Anspruch auf eine umfassende Deutung erheben. Des Weiteren verkennen diese schon im Ansatz sehr
460 In Auswahl: Ulrich Struve: „Denouncing the Pornographic Subject“: The American and German Pornography Debate and Elfriede Jelinek’s Lust, in: Jorun B. Johns und Katherine Arens (Hrsg.): Elfriede Jelinek: Framed by Language. Riverside 1994, S. 89-106. – Alexandra Tacke: Zwischen LeseLUST und PorNO: zum Vor- und Nachspiel von Elfriede Jelineks Lust (1989), in: Sabine Müller und Cathrine Theodorsen (Hrsg.): Elfriede Jelinek: Tradition, Politik und Zitat. Ergebnisse der Internationalen Elfriede Jelinek-Tagung 1.-3. Juni 2006 in Tromso, Wien 2007. – Jutta Osinski: Satire auf einen Porno. „Lust“ von Elfriede Jelinek, in: Christina Kalkuhl und Wilhelm Solms (Hrsg.): Lustfallen. Erotisches Schreiben von Frauen, Bielefeld 2003, S. 4144. – Christiane Rasper: „Der Mann ist immer bereit und freut sich auf sich“, Die satirische Inszenierung des pornographischen Diskurses, in: Liebes- und Lebensverhältnisse: Sexualität in der feministischen Diskussion, Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Frauenforschung (IFF), Frankfurt am Main, New York 1990, S.121-140. 461 Ein Gegenbeispiel hierfür bietet Innerhofers Analyse zu „Die Kinder der Toten“. Er erkennt darin, dass „Entstehungsgeschichte, Paratexte und Buchgestaltung ebenso wie Figuren und Handlungsmuster“ auf das Horrorgenre zurückgehen. Vgl. hierzu: Roland Innerhofer: „Da tauchen Menschen auf und verschwinden wieder“. Horrorszenarien in Elfriede Jelineks Roman Die Kinder der Toten, in: Claudio Biedermann und Christian Stiegler (Hrsg.): Horror und Ästhetik. Eine interdisziplinäre Spurensuche, Konstanz 2008, S. 86-101, hier: S. 86.
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strikt fokussierten Lesarten den postmodernen interpretierenden Anspruch Jelinekscher Texte, der sich nicht einfach in einer Literatur der Umkehr in eine vermeintlich bessere Welt erfassen lässt. Jegliche Utopie, auch in der Phantastik, ablehnend, zeichnen sich die Texte durch eine im Sinne Foucaults archäologisch zu nennende Schreibweise aus. Im Erkennen von Machtstrukturen weisen frühe Texte zwar noch das Mittel der Mimikry – etwa patriarchaler Strukturen, wozu auch Sprache zu rechnen ist – auf462, doch scheitern diese Texte, zu denen beispielsweise „Lust“ zählt ist, an dem Verfahren. In einer patriarchal geprägten und durchprägten Sprache ist die Individualisierung des Weiblichen – oder Jelineks Ansatz, mit „Lust“ einen weiblichen Porno/Antiporno zu schreiben – nicht umsetzbar, da das verwendete Sprachinventar nicht von einem männlichen zu einem weiblichen Machtpotential umgewandelt werden kann.463 Wird das Wissen über die Regeln der Sprache jedoch erkannt, kann dieses, im Sinne Foucaults, archäologische Erkennen „zu neuen Theorien, Meinungen oder Praktiken führen“464, was sich im Jelinekschen Schreiben durch eine Verschiebung von einer reinen Mimikry der patriarchalen Sprache hin zu einem mimetischen Schreiben manifestiert. Diese in den Texten angelegte Verfahrens-
462 Auch Breuer verweist in seiner Studie auf die beiden Jelinekschen Verfahren der Mimikry und der Mimesis. Vgl.: Ingo Breuer: Zwischen „posttheatralischer Dramatik“ und „Postdramatischem Theater“. Elfriede Jelineks Stücke der neunziger Jahre, in: TRANS, Internetzeitschrift für Kulturwissenschaften Nr. 9 (2001), über: http:// www.inst.at/trans/9Nr/breuer9.htm 463 Mit der (patriarchalen) Machtstruktur von Sprache und der Möglichkeit eines frei sprechenden, weiblichen Individuums in „Lust“ setzen sich gleich mehrere Studien auseinander. Konsens ist hier, dass trotz der ironischen Sprache des Jelinekschen Textes die männlich sexuelle Sprache nicht durch das Mittel der Mimikry adaptiert und somit in ein neues Machtverhältnis transformiert werden könne. Vgl. in Auswahl: Susanne Hess: „Erhabenheit quillt weit und breit ...“. Weibliche Schreibstrategien zur Darstellung männlicher Körperlichkeit als Ausdrucks- und Bedeutungsfeld einer Patriarchatskritik, (Edition Philosophie und Sozialwissenschaften, Bd. 40). Hamburg und Berlin 1996, S. 85-102. – Leopold Federmair: Sprachgewalt als Gewalt gegen die Sprache. Zu Jelineks „Lust“, in: Weimarer Beiträge 52 (2006), H. 1, S. 50-62. – Allyson Fiddler: Problems with Porn: Situating Elfriede Jelinek's „Lust“, in: German Life and Letters 44 (1991), H. 5, S. 404-415. – Silvia Henke: Pornographie als Gefängnis. Elfriede Jelineks „Lust“ im Vergleich, in: Colloquium Helveticum (2000), H. 31, S. 239-263. 464 Michael Ruoff: Foucault-Lexikon. Entwicklung – Kernbegriffe – Zusammenhänge, Paderborn 2007, S. 67.
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weise eignet sich wiederum auch zur Analyse der Texte, dringt eine derartige Analyse im Sinne Foucaults doch besonders zu jenen Diskursen vor, die in einer „bestimmten Epoche und für eine bestimmte Gesellschaft die Grenzen und Formen der Sagbarkeit definieren: worüber können wir sprechen?“
465
Das mahnende Diktum eines „worüber können wir sprechen“ verweist aber bereits ebenfalls auf die Radikalität des Archäologiebegriffs und die Autonomie des Foucaultschen Kunstbegriffs. Demnach ist es nicht Ziel, eine klassische Geschichtsschreibung voranzutreiben, sondern vielmehr die untergründigen „Fundstücke“, die sich zunächst einer Diskurspraktik verweigern, zu betrachten. Es ist dies eine Praktik des Uneinheitlichen, die eine „reine Beschreibung diskursiver Ereignisse“466 zum Ziel erklärt und sich einer voreiligen Taxonomie in Sinn- und Bedeutungseinheiten entziehen will. In dieser wissenschaftlichen Haltung profiliert Foucault die Denkweise in Streuungen. Angewandt auf Jelineks Text bedeutet dies, dass nur in einer offenen Lektüre der Streuung, die alle inkludierten Themen als zunächst gleichwertige Diskurse akzeptiert, eine Wissensarchäologie des Textes erfasst werden kann. Und auch wenn Jelineks verhandeltes Sujet der Shoa zwangsläufig emotional verhandelt wird, wäre die entgegengesetzte Haltung jene, die Foucault als Präzisierung bezeichnet. Diese ist jedoch nicht als positiver, sondern vielmehr als ein apodiktischer Zugriff voreiliger und zu enger Denkmuster zu verstehen. Die Anwendung eines festen Inventars für eine Analyse führt zu verfälschten Resümees, werden doch voreilig inkludierte Merkmale im Sinne eines vorherrschenden Diskurses ausgeschlossen und somit beigeordnete Aussagen und Themen – etwa eines Textes – negiert. Nur durch eine Lektüre der Streunungen ist es möglich, dass die Bereiche des Nichtsagbaren, also die nichtdiskursiven Bereiche, das worüber nicht gesprochen wird, seine Relevanz erhält, sich diskursiv ausbildet und ein Kunstwerk in seiner rhizomatischen Bedeutungsstruktur erfassbar wird.467 Somit soll in ei-
465 Michel Foucault: Nr. 58, Antwort auf eine Frage, in: ders.: Dits et Ecrits. Schriften, Bd. I, 1954-1969, hrsg. von Daniel Defert und François Ewald, Frankfurt a. M. 2001, S. 859-886, hier: S. 869f. 466 Foucault: Archäologie. S. 41. 467 Zwar verwendet Foucault in Bezug auf die Archäologie selbst nicht den Begriff des Rhizoms, spricht jedoch von Strukturen, die den ordnenden Baumschemata widersprechen und begibt sich somit in Analogie zu dem von Deleuze geprägten Terminus, der eine poststrukturalistische Alternative der Wissensorganisation anbietet.
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ner archäologischen Analyse die Gefahr, nur das rein Diskursive zur Sprache zu bringen, überwunden werden, um vielmehr die „Formationsregeln“ zu erkennen, die „mit nichtdiskursiven Systemen verbunden sein können“.468 Dies mag umso mehr gelten, insofern sich der Jelineksche Text auch als ein allgemeines System „der Formation und der Transformation der Aussagen“469 begreifen lässt, in dessen Rahmen die Verweigerung des Diskursiven immanenter Bestandteil des textuellen Gefüges ist. Deutet schon der Titel von „Die Kinder der Toten“ auf die Thematik des Unheimlichen hin, so fokussieren bisherige Studien, wie bereits dargestellt, fast ausschließlich die mitverhandelte Erinnerungskultur und vollziehen somit eine kaum nachvollziehbare Vereinfachung. Denn ebenso, wie die Gräuel der Shoa den Text als strukturierendes Thema durchziehen, sind es die im Konnex vorhandenen Ekelbilder, die zudem stark an die unheimliche Figur des Untoten gebunden sind, die einen wesentlichen Teil des Textes dominieren – doch gerade diese sind ein bisher vernachlässigtes Thema.470 Dadurch entsteht der falsche Eindruck, bei Jelineks Text handle es sich um ein reines Erinnerungsprojekt. Auch die Wucht des Jelinekschen Textes, die sich maßgeblich durch die sich immer wieder übertreffenden Bilder des Ekels und Abscheus entwickeln, verkommen trotz ihrer Prominenz zumeist zur Randnotiz.471
468 Foucault: Archäologie. S. 231. 469 Foucault: Archäologie. S. 188. 470 Miess Analyse, die hierzu ein Gegenbeispiel ist, bleibt, was auch der Kürze ihres Texts zuzurechnen ist, auf einer eher oberflächlichen Betrachtung verhaftet. Ihre einleitende Analogie etwa zu Stephen King, den sie in Jelineks Text adaptiert sieht, erscheint kaum nachvollziehbar und wirkt konstruiert. Auch filmische Beispiele werden zwar erwähnt, so etwa Georges Romero, werden aber auch keiner genaueren Probe unterzogen. Vgl.: Julie Miess: Elfriede Jelinek: Die Kinder der Toten – „Eine Geschichte, die nie ganz sterben und nie ganz leben darf“. Die Rückkehr der „Alpenzombies“: Jelinek neuer Hypertext des Horrors, in: dies.: Neue Monster. Postmoderne Horrortexte und ihre Autorinnen, Köln, Weimar, Wien 2010, S. 238-248. 471 Meyer-Sickendiek bildet hier eine Ausnahme und macht Ekel als Topos der Österreichischen Literatur der 1980er Jahre zum Thema seines Aufsatzes, der, trotz produktiver Denkanstösse, auf Grund seiner Kürze und seiner Subsumierung der Autoren Jelinek, Werner Schwab und Josef Winkler an der Oberfläche des Themas verharrt. Vgl.: Burkhard Meyer-Sickendiek: Ekelkunst in Österreich. Zu den Ab- und Hintergründen eines Phantasmas der 80er. Über: http://parapluie.de/archiv/epoche/ ekel/
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So verharrt beispielsweise Mertens Untersuchung, die sich mit der Konzeption der Untoten in „Die Kinder der Toten“ beschäftigt, in den Techniken einer zu eng verstandenen Textanalyse. „Das Buch Dvoraks hilft nur wenig weiter im Textverständnis von Die Kinder der Toten, denn im Roman selbst gibt es keine Teufelsanbetereien oder satanistisches Ritualspiel. Sicherlich könnte die Autorin dort einige Inspiration für all die ekelerregenden Morde an den Untoten, vom Pfählen über das Zerhacken zum kannibalistischen Fressen, bezogen haben. Doch solch ein Kompendium des quälenden Mordens könnte sie auch bei De Sade oder in der Kronenzeitung gefunden haben.“
472
Wie viele andere Rezensenten nimmt auch Mertens den grundsätzlichen Entwurf des Jelinekschen Textes nicht als Teil ihrer Analyse auf. Durch eine unbefriedigende Suche nach klassischen Textzitaten aus Dvoraks Buch, die zu keinerlei Zitat-Ergebnissen führt, wird die dem Buch vorangestellte Widmung vorschnell abgetan, ohne dieser eine andere Bedeutung zuzusprechen. Doch verweist die Widmung an den Satanismusforscher, das gefaltete Band mit den hebräischen Schriftzeichen wie auch die Konzeption auf 666 Seiten bereits auf einen Text, der sich klar in eine Tradition des Unheimlichen stellen möchte. Und wirklich gibt es keine Teufelsanbetereien oder satanisches Ritualspiel in „Die Kinder der Toten“, weil dies kein Text des drohenden Unheils ist, sondern ein Text, der sich als bereits apokalyptisch verstehen lässt.473 Mit ihrem apokalyptischen Text bietet Jelinek aber keinesfalls eine Novität, sondern schreibt sich vielmehr in die österreichische Literaturgeschichte ein, die das Thema der Weltuntergangsszenarien gekoppelt an die unverarbeitete Geschichte im besonderen Maße aufnimmt.474 Als Ausgangspunkt darf hierbei Karl Kraus` Drama „Die letzten Tage der Menschheit“ gelten, das die Geschehnisse
Auch seine große Abhandlung zur Affektpoetik nimmt selbiges Thema wiederum kurz auf. Vgl. Burkhard Meyer-Sickendiek: Affektpoetik. Eine Kulturgeschichte literarischer Emotionen, Würzburg 2005, S. 456f. 472 Mertens: Ästhetik der Untoten. S. 75. 473 Dem Thema der Apokalypse in Jelineks Werk widmen sich bereits mehrere Arbeiten. Vgl. hierzu: Klaus Kastberger: Österreichische Endspiele: Die Toten kehren zurück, in: TRANS. No. 15/2003. – Hammerschmid: Apocalypse now. – Burkhard Meyer-Sickendieck: Apokalyptisch vs. postapokalyptisch: Die Überwindung der modernen Satire, in: TRANS. No. 15/2003. 474 Nick Büscher: Apokalypse als Utopie. Anthropofugalität in der österreichischen Nachkriegsliteratur, Würzburg 2013.
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des Ersten Weltkriegs reflektiert. Seine polyphone Anklage der Erlebnisse, vorgetragen von historischen und fiktiven Figuren, mündet in der Auslöschung der Menschheit durch göttliche Hand. Aber auch Ödön von Horváths Drama „Der jüngste Tag“ lädt noch vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs zum untoten Gerichtsverfahren ein. Thomas Bernhards Text „Verstörung“ wirft nach dem Kriegsende einen Blick hinter die gutbürgerlichen Fassaden und sieht darin das unverarbeitete faschistoide Erbe der Österreicher am Werk. Seinen Todeslandschaften folgt die „kultische Administration eines Totenreichs“475 in Ingeborg Bachmanns einzigem Roman „Malina“. Ransymayers „Morbus Kitahara“ schreibt die österreichische Geschichte im Sinne des Morgenthauplans um und „Schubumkehr“ von Robert Menasse entzaubert den Mythos Natur als eine menschlich geschaffene Fassade, hinter der sich ein regressives Geschichtsverständnis verbirgt.476 Auch in „Die Kinder der Toten“ wird die beschriebene Katastrophe auf ein historisches Ereignis bezogen und klar an den Genozid an den Juden Europas gekoppelt. Doch ist die Kritik, die Jelinek formuliert und der eigentliche Auslöser der beschriebenen Apokalypse nicht allein im Mord an den europäischen Juden zu suchen, sondern gerade auch in den Mechanismen, die sich in der heutigen Erinnerungskultur etabliert haben. Sontag weist in dem Reiz des apokalyptischen Szenarios, das den Erinnerungen an die Shoa verbunden ist, eine „unerträglichen Drohung einer kollektiven Einäscherung und Auslöschung“477 nach, die zu einer ungehemmten Welle an künstlerischen Auseinandersetzungen führte. Ausgehend von den Thesen von Guy Debord478 legt bereits Umberto Eco in seinen Überlegungen479 dar, dass das historische Ereignis in der medialen Welt zum Spektakel verkommen ist. Degradiert zu einer konsumierbaren Ware, ist dem Spektakel keinerlei kritische Auseinandersetzung zu eigen, wodurch eine
475 Ingeborg Bachmann: Malina. Frankfurt a. M. 1980, S. 100. 476 Vgl. hierzu: Klettenhammer: „Das Nichts, das die Natur auch ist“. S. 322. 477 Susan Sontag: Die Katastrophenphantasie, in: dies.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen., übers. von Mark W. Rien, 10. Auflage, Hamburg 2012, S. 232247, hier: S. 235. 478 Vgl.: Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels, übers. von Jean-Jacques Raspaud, Hamburg 1978. 479 Umberto Eco: Reise ins Reich der Hyperrealität, in: ders.: Über Gott und die Welt, übers. von Burkhart Kroeber, München 1985, S. 36-99.
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Nivellierung der historischen Ereignisse begünstigt wird.480 In dem Ansatz, sich den tradierten Zugängen einer Erinnerungskultur zu entziehen, wird Auschwitz als repräsentativer Ort für die Shoa von Jelinek demgemäß auch an keiner Stelle von „Die Kinder der Toten“ namentlich erwähnt. Dabei verweist der Text nicht nur auf die problematischen Techniken der Erinnerungskultur, sondern beinhaltet ebenfalls die Aufforderung, sie am besten ganz zu beenden. Eine Abwehr ist darin zu erkennen, „[…] das Wort zu werden, das keiner mehr hören mag: DER ORT IN POLEN. Oh Gott, sofort ein Kloster hineinstopfen! Eine Kirche! Eine Kapelle! Ein Dom! Nonnen!! Schulen!! Spitäler! Noch mehr Nonnen!!! Rasch die Gottesmörder mit der Gottesmutter verdrängen! Was kam danach? Memento mori: Jean A., Sarah K., Primo L. Und außerdem 481
Der pneumatische, schnaufende Mensch, vom TV erleuchtet […].“
Jelineks Text stellt sich somit der Aufgabe einer doppelten Verweigerung. Der Verweigerung einer Gesellschaft, die keine Erinnerungsarbeit mehr leisten möchte und einer Rezeption der historischen Geschehnisse, die sich nicht mehr in tradierten Bahnen bewegen möchte. In ihrem Anspruch, einen postmodernen Text über die Shoa zu schreiben, vergisst Jelinek jedoch auch nicht die literarische und literaturwissenschaftliche Einbettung, wenn sie etwa unterschwellig an Adornos Diktum erinnert, dass nach Auschwitz, das Schreiben von Gedichten Barbarei sei. „Lieber fahren wir jeden Tag nach A., um der Toten zu gedenken, als daß wir kein Gedicht mehr schreiben. Jedes fünfte, na sagen wir sechste Essen bei uns ist ja schon ein Gedicht! Und inzwischen gibt es mehr Gedichte als je zuvor, jede Seitenumwendung eine Überwindung für den Künstler, der es besser machen möchte als die andern. Die Befreiten sind längst zurückgestiegen, aber wir, wir sind gar nicht mehr gefesselt, sonst könnten wir unseren Vergnügungen nicht mehr nachgehen, und die Vergnügungen gehen dann uns nach, in ein Schloß am Wörthersee, wo auch wir leicht sein könnten. Ja, und bis dorthin kommen uns dann die Vergnügungen nach!“
482
480 Zur speziellen Ästhetik der literarischen Apokalypse siehe: Klaus Vondung: „Überall stinkt es nach Leichen“. Über die ästhetische Ambivalenz apokalyptischer Visionen, in: Peter Gendolla, Carsten Zelle (Hrsg.): Schönheit und Schrecken. Entsetzen, Gewalt und Tod in alten und neuen Medien, Heidelberg 1990, S. 129-144. 481 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 632. 482 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 455.
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Der Text lässt klar erkennen, dass Adornos Diktum längst obsolet geworden ist, was sich nicht allein durch das Spiel der Homonymie des Wortes Gedicht ablesen lässt, sondern auch in der bereits massenhaft stattgefundenen literarischen Verarbeitung der Shoa selbst. Doch nicht nur die Katastrophe der Shoa, sondern auch die Täter sind längst als Teil eines popkulturellen Inventars zu verstehen. Die Rezeption des Nazis wird bestimmt durch eine eigene Ästhetik und ein großes Inventar an Zeichen. Als Bestandteil der heutigen westlichen Popkultur wird der historische Faschist schon längst von stereotypen Nazigestalten bestimmt.483 Gerade subkulturelle Bewegungen wie etwa Punk, Gothic, aber auch – als eine der ersten – die queere Community484, haben sich rege am Zeicheninventar des Nationalsozialismus bedient und dieses neu konnotiert. Die Grenzen der Ethik, Moral und Pietät wurden auch bei diesem scheinbar sensiblen Thema schon lange ausgelotet und nicht selten überschritten. Nicht nur in der Literatur finden sich genügend Beispiele für die Banalisierung der nationalsozialistischen Vergangenheit. Als besonders prägend für das Feld der diskursiven Stereotypisierung eines, wenn nicht sogar des Nazis und der Shoa erweist sich der Film.485 Auch Jelineks Text nimmt Bezug auf das Massenmedium Fernsehen. Dabei dient das Fernsehen keiner kritischen Meinungsbildung, sondern verweist mit der Sendung „Ein Schloß am Wörthersee“ vielmehr auf gewollt seichte Unterhaltung. Das Fernsehen wird zu dem Medium, in dem der Zuschauer sein mehrfach angemahntes Vergnügen findet, das formelhaft wiederholt wird und dem Menschen überallhin folgt. Dieses Vergnügen steht dem namenlosen Buchstaben A, der doch noch immer auf Auschwitz verweist, entgegen und entlarvt das Bedürfnis, sich nicht
483 Vgl. hierzu die Analyse von Burkhard Schröder: Nazis sind Pop. Berlin 2000. 484 Frühe Beispiele einer Vereinnahmung stark nationalsozialistischer Inventare durch vornehmlich homosexuelle Künstler finden sich etwa bei Genet, Cocteau oder Tom of Finnland wieder. Auch heutige (homosexuelle) Künstler wie die Pet Shop Boys, Pierre et Gilles oder aber Künstler mit stark homosexuell geprägten Fankreisen wie jenen von Madonna oder Marilyn Manson bedienen sich am Zeicheninventar der deutschen Nationalsozialisten. Vgl. hierzu: Susan Sontag: Anmerkungen zu „Camp“ (1964), in: dies.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, übers. von Mark W. Rien, 10. Auflage, Hamburg 2012, S. 322-341. 485 Zum Thema der Popularisierung des Nazis und der Auflösung der Shoa in Bilderkonventionen des Horrorfilms eignet sich Markus Stigleggers Analyse. Demnach lassen sich die Mechanismen der Stereotypisierungen in bekannten Hollywoodfilmen etwa von Spielberg (Schindler´s List) nachweisen. Vgl.: Markus Stiglegger: Sadiconazista. Faschismus und Sexualität im Film, 2. Auflage, St. Augustin 2000.
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weiter kritisch mit der Schwere der historischen Schuld zu befassen, sondern den angestrebten Genuss des Fernsehens zu erleben, durch das auch wir leicht sein könnten. Die vornehmliche Kultur entlarvt sich wie schon in den frühen Texten, etwa in „Die Ausgesperrten“ oder „wir sind lockvögel baby!“, als ein referenzloser Zeichenstrom. Dessen Macht subsumiert jedes Ereignis unter den Rausch des Konsumierbaren oder wehrt es bereits im Vorfeld ab. Auf die – besonders in den Massenmedien stattfindende – Nivellierung der historischen Ereignisse bei gleichzeitiger Auflösung in ein vorhandenes Inventar verweist bereits Sontag: „Wurde die Botschaft des Faschismus durch eine ästhetische Betrachtungsweise des Lebens neutralisiert, so ist sein Aufputz sexualisiert worden. Diese Erotisierung des Faschismus ist erkennbar in solch fesselnden und innigen Darstellungen wie Mishimas Büchern Geständnis einer Maske und Sun and Steel und in Filmen wie Kenneth Angers Scorpio Rising und, als neuere und weitaus langweiligere Beispiele, Viscontis Die Verdammten und Der Nachtportier von Liliana Cavani.“
486
Sontag verweist zunächst auf eine generelle Problematik der künstlerischen Auseinandersetzung mit historischen Ereignissen, die sie in der Ästhetisierung als Teil eines künstlerischen Verfahrens verortet. Nach Sontag hat sich der Faschismus im Feld der Kunst nicht nur in ein vielfältiges Inventar aus Stereotypen aufgelöst, sondern wurde in der Folge auch sexuell aufgeladen. Dem historischen Ereignis stehen somit nicht nur Verweigerung und Massenrezeption gegenüber, sondern auch eine virulente Umdeutung und Neukonnotation von Zeichen.487
486 Sontag: Camp. S. 120. 487 Es ist an dieser Stelle kaum möglich, die in Deutschland einmalige Rezeptionsgeschichte in Bezug auf die Faschismus-Thematik in den Künsten aufzuzeigen. Selbige muss jedoch als eine Vorgehensweise der Aussparungen, der Retuschen und des scheinbar nicht Vorhandenen verstanden werden. Zu den Beispielen der freiwilligen Kontrolle seitens der Produktions- und Vertriebsfirmen kommen die staatlichen Kontrollinstanzen hinzu, die das spezielle Verbot der Darstellung von Swastika in Deutschland überprüfen. Dieses führt immer wieder zu Indizierungen und Diskussionen. Denn als Kennzeichnung verfassungsfeindlicher Organisationen obliegen Symbole wie das Hakenkreuz, Doppel-Sigrune etc. einem Darstellungsverbot. Was sich aber in den sogenannten Mainstreamproduktionen, die auf den Markt gelangen, oft nur andeutet, zeigt sich im Bereich des Underground umso deutlicher: Die zumeist ausländische Rezeption des deutschen Nationalsozialismus in Comics, Filmen und Videospielen ist hoch produktiv, gelangt jedoch meistens nur zensiert oder gar
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Sich dieser Problematik bewusst, hinterfragt „Die Kinder der Toten“ selbstreflexiv den Ansatz und Anspruch eines Kunstwerks, das sich erneut mit der Shoa auseinandersetzen will. Die Vermutung, dass Motivation hierfür auch der Anspruch sei, es besser machen zu wollen als die andern, verweist darauf, dass Adornos Diktum nicht nur überkommen, sondern in sein Gegenteil verkehrt wurde. Denn Auschwitz und die Shoa sind längst schon zum literarischen und filmischen Topos, wenn nicht gar zu dem von Eco vorweggenommenen Spektakel geworden. Die zelebrierten Gedächtnisfeiern entlarven Jelineks Text in seiner Gemachtheit: „Wer immer all diese Hekatomben von Leuten vernichtet haben mag, er hat nicht bedacht, konnte vielleicht auch nicht wissen, daß sie mit ihrem Durchgang durchs Feuer eine dauernde Kraft erhalten würden, die jetzt mit uns, die wir noch da sind, zusammenwächst und uns, die wir uns hier brieflich an Sie wenden, in einem Wirbelsturm hinausreißt, wo uns keine Gedenkfeiern mehr finden werden, zu denen die Präsidenten und Kanzler sprechen, singen, trinken und lachen.“
488
Jelinek verbindet die Vernichtung der Shoaopfer in Hochöfen mit dem Bild einer unheimlichen Feuertaufe. Unsterblich im Reich der Zeichen, wirkt ihre Geschichte nach und heftet sich an die Lebenden. Selbstreferentiell liest sich die Passage über das kollektive wir, das sich brieflich an die Toten wendet. Dabei klingt auch immer die Hoffnung auf eine Neubestimmung des Diskurses an, die sich in apokalyptischen Bildern wie dem beschriebenen Wirbelsturm manifestiert, der in all seiner vernichtenden Kraft auch die Möglichkeit einer Neuordnung der Verhältnisse offeriert. Immer wieder verweigert sich Jelineks Text dem Spektakel. Statt Auschwitz auch nur zu erwähnen, entlarvt sie die Aushöhlung des geschichtlichen Ortes in einer bewusst vorgenommenen Distanzierung: „[…] in der Nähe einer kleinen polnischen Stadt […], heute ein History-Disneyland, das schon in mehreren Filmen mitgewirkt hat und als maßstabsgetreues Modell von unseren 489
Augen sogar mit nach Hause genommen werden durfte.“
nicht nach Deutschland. In Jelineks Heimatland Österreich beispielsweise gelten diesbezüglich weniger reglementierende Gesetzgebungen. 488 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 165. 489 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 338.
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Wiederum verweist der Text auf die massenhafte Rezeption der Shoa. In der Personifizierung von Auschwitz rezipiert der Text nicht nur die Rolle, die dem Massenvernichtungslager zugeschrieben wird, sondern auch seinen Modellcharakter, den es zu erfüllen hat. In der zunächst pietätlos anmutenden Gleichsetzung von Auschwitz als „History-Disneyland“, offenbart sich die ätzende Kritik an der Kommerzialisierung und Nivellierung der historischen Ereignisse.490 Mit dem Beispiel des Unterhaltungsgiganten Disney eröffnet sich eine bedrohliche Analogie, wie sie Bärbel Lücke auch in Jelineks acht Jahre später publizierten Text „Bambiland“ erkennt: „Wenn nun Bambiland die Ereignisse des Dritten Golfkriegs gerade unter diesem Titel entfaltet, so nimmt Jelinek auch die Baudrillard’sche Kritik an Amerika als Disneyland auf, die eine infantilisierte Gesellschaft zeigt, die den Zweiten Golfkrieg als reines Medien-Spektakel und War-tainment erlebte, sodass die Ereignisse hinter der ‚banalen Omnipotenz‘ der Bilder ganz zum Verschwinden gebracht wurden, d.h. das Ereignis des Krie491
ges selbst hatte nicht stattgefunden.“
Das hier von Lücke nur kurz umrissene Konzept von Baudrillard findet auch in „Die Kinder der Toten“ seine Entsprechung. Mit dem Begriff der Hyperrealität, der sowohl von Baudrillard als auch von Umberto Eco geprägt wurde, wird ein Verfahren des „Realitätsrausches“492 beschrieben. Dabei geht es nicht um eine Abbildung der Realität, die ihr Äquivalent im Stil des Realismus finden würde, sondern um eine Negation aller negativen Komponenten. Sinnbildlich für diese Hyperrealität steht bei Baudrillard das Konzept von Disneyland. Demnach stellt der berühmte Freizeitpark seine Künstlichkeit offen zur Schau. Im Erkennen dieses artifiziellen Charakters wird die vermeintlich entlarvte Kunstwelt, der scheinbaren Realität entgegengestellt und im Folgeschritt bestätigt. Baudrillard erkennt in diesem Prozess, der analog auf die Unterhaltungsindustrie übertragbar ist, eine Täuschung des Subjekts. Danach soll der ver-
490 Schon zuvor wird die Totenrückkehr als ein sich bahnbrechendes Disneyland bezeichnet, dass sich seinen Weg an die Oberfläche bahnt. Vgl. hierzu: Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 105. 491 Bärbel Lücke: Zu Bambiland und Babel. Essay, in: Elfriede Jelinek: Bambiland. Babel. Zwei Theatertexte, 1. Auflage, Hamburg 2004, S. 229- 271, hier: S. 242. 492 Jean Baudrillard: Der Hyperrealismus der Simulation, in: ders.. Der symbolische Tausch und der Tod, übers. von Gerd Bergfleth, Gabriele Ricke und Ronald Voullié, Berlin 2005, S. 112-119, hier: S. 114.
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meintliche Erkenntnisprozess „kaschieren, daß das Reale nicht mehr das Reale ist, um auf diese Weise das Realitätskonzept zu retten […].“493 Baudrillards postmarxistische Kritik ist in zweifacher Hinsicht zu verstehen. Nicht nur wird die Realität in ihrer Konstruiertheit erkannt, sondern ebenfalls werden die Techniken einer Massenkultur entlarvt, die letztlich der Aufrechterhaltung des bestehenden Systems dient.494 Im Anschluss an Derridas differánceTheorem erkennt Baudrillard somit eine „Referenzlosigkeit der Bilder“.495 Eine Referenzlosigkeit, die sich in der Kritik Jelineks an der medialen Rolle von Auschwitz widerspiegelt. Ihre Weigerung, Auschwitz namentlich zu nennen, obwohl sie den Genozid gleichzeitig zum Sujet ihres Textes macht, kann im Sinne Baudrillards als eine Kritik an der medialen Simulation der Wirklichkeit erfasst werden. Somit wäre das oft gefällte Urteil, die Katastrophe von Auschwitz sei als der Auslöser der beschriebenen Apokalypse in „Die Kinder der Toten“ auszumachen, eine unzulässige Vereinfachung. Denn Jelineks Apokalypse ist geprägt durch eine der Geschichte enthobene, generalisierende Unheilsgeschichte, was sich nicht zuletzt in der bereits angesprochenen Verschiebung der Erzählerstimme erkennen lässt. Denn, wie Derrida bemerkt: „Von dem Augenblick an, wo man nicht mehr weiß, wer spricht oder wer schreibt, wird der Text apokalyp-
493 Baudrillard: Agonie des Realen. Berlin 1978, S. 25. 494 Eine Kritik an dieser Lesart findet sich etwa bei Kratz. Sie folgt zunächst in ihrer Interpretation der oft geäußerten Meinung, das Jelineksche Œuvre in frühe und späte Texte einordnen zu können. Dies geschieht jedoch in vollkommener Verkennung der Etablierung und Weiterentwicklung einzelner Topoi des Schreibens Jelineks. Gerade in ihrem Spiel der sprachlichen Zeichen lässt sich die Brüchigkeit der Signifikantenrealität begreifen. In ihrer Deutung, dass es um eine Neuordnung ginge, die sich an Herrensignifikanten ausrichtet, verkennt Kratz die Einbetung der Texte im Raum des Realen. Denn der von ihr beschriebene Raum der fluktuierenden Zeichen, wie er uns in Jelineks Texten begegnet, ist nur in der Entmächtigung des Herrensignifikanten zu erreichen. Vollkommen unbeantwortet bleibt zudem die Frage nach der Konzeption der Untoten, die per se das Realitätskonstrukt in Frage stellen. Stephanie Kratz: Undichte Dichtungen. Texttheater und Theaterlektüren bei Elfriede Jelinek, Köln 1999, 74f. 495 Baudrillard: Agonie des Realen. Berlin 1978, S. 10.
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tisch.“496 Die Apokalypse präsentiert sich demnach in der unheimlichen Unbestimmtheit einer metaleptischen Erzählebene. Sie bricht radikal mit der vorhandenen Welt und lässt die alltägliche Realität zusammenstürzen. Eine Haltung, auf die der Leser schon im Prolog eingestellt wird. Der dort beschriebene Sturz ist in mehrerlei Hinsicht zu verstehen und wird von Hammerschmid, der in seiner Analyse die Apokalyptik des Textes untersucht, gut zusammengefasst: „Die Apokalyptik von Jelineks Text lässt dabei weder eine Idee von Fortschritt noch eine Ahnung von einem realen Ende aufkommen. Sie steht jedem endgültigen Zu-Ende-Gehen geradezu völlig entgegen. Man könnte sagen, sie löst es in sich auf, indem sie es perpetuiert. Diese Art der Apokalypse kennt gewissermaßen nichts als Stürze, die ähnlich folgenlos wie jene in einem Comic wirken. So gesehen ist Die Kinder der Toten eine ewige Apokalypse, bestehend aus zahllosen Untergangs-Momenten, gewissermaßen aus lauter nows. Apocalypse now, and now, and now ...“
497
Die Jelineksche Apokalypse mündet somit nicht wie die Apokalyptik der Bibel in einem finalen Punkt, sondern in einem Zustand der steten Wiederholungen.498 „Die Kinder der Toten“ entbehrt also einer Heilsgeschichte. Für den Mord an den europäischen Juden ist keine Absolution zu erwarten. Doch ist der Genozid nur ein Teil der thematisierten Problematik. Jelineks Text vermag es, an der Katastrophe des 20. Jahrhunderts ein generelles Rezeptionsproblem zu entlarven. Jelineks Apokalypse lässt sich hier am besten in der wörtlichen griechischen Übersetzung der Vokabel als eine Entschleierung begreifen. Der Text führt hinter diese Schleier:
496 Jacques Derrida: Apokalypse. Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie/ No Apocalypse, not now, hrsg. und übers. von Peter Engelmann, Wien 2000, S. 63. 497 Michael Hammerschmid: Apocalypse now, and now, and now... Beobachtungen zu Literatur und Apokalypse bei Ernst Jandl, Imre Kertész, Heiner Müller und Elfriede Jelinek, in: TRANS, Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Nr. 15 (2004), über: http://www.inst.at/trans/15Nr/05_16/hammerschmid15.htm 498 Das Thema der Apokalypse wird sich auch in den nachfolgenden Texten Jelineks wieder finden, am signifikantesten in ihrem Text „Kein Licht“, der sich kritisch mit der Reaktorkatastrophe in Fukushima beschäftigt. Publiziert über Jelineks Homepage. http://www.elfriedejelinek.com/
210 | D IE Z ERSTÖRUNG DES I CHS „[…] die beiden also stürzen ins Nichts der Verborgenheit, der Verhüllung, der Verdeckung und Verschleierung, die hier bei uns Wahrheit genannt wird; und die Unverborgenen, all diese ruhigen Menschen am Grunde des Tals, sie würfeln jetzt um ihre Beute und erhalten immerhin jeder noch ein paar Fetzen vom Gewand.“
499
Erst hinter den Schleiern ist die Wahrheit zu finden. Stürzen sich einige der Figuren in diesen Raum der Erkenntnis, so verbleiben andere im Tal der Ahnungslosigkeit. Die Textstelle erinnert dabei an das Würfelspiel der römischen Soldaten unter dem Kreuz Jesu. Die Bedeutung der Kreuzigung nicht verstehend, spielen sie um den Mantel des Gekreuzigten. Analog dazu bleibt den Würfelnden in Jelineks Text die Wahrheit verborgen und sie verharren in der materiellen Welt der Objekte. Im christlichen Heilsverständnis auch als Offenbarung zu fassen, ist die Apokalypse in „Die Kinder der Toten“ nicht allein als Zusammenbruch der materiellen Welt, sondern vielmehr einer imaginierten Welt zu deuten. In der Gleichzeitigkeit der Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart offenbaren sich in Jelineks Text keine einfachen Wahrheiten, sondern die Entschleierung der Mechanismen der vermeintlichen Wahrheit, die sich in einer überkommenen Zeichenrealität niederschlagen. Das Lacansche Netz der Signifikanten, die Baudrillardsche Simulation – ihre Strukturen werden in der Apokalypse sowohl offen gelegt, als auch an einen neuen Ort geführt. Denn in einem möglichen Zusammenbruch der imaginären und der symbolischen Ebene fällt das Subjekt in die Ebene des Realen. Doch das Reale entbehrt alle gängigen Konstanten der Realitätsausbildung, wird vom Subjekt somit als ein frei fluktuierender Raum aufgefasst. In diesem psychotischen Möglichkeitsraum walten das Unheimliche und die Angst. Der Raum des Realen ist apokalyptisch zu nennen. Die Sprach-Apokalypse im Raum des Realen, in dem der Signifikant entleert ist, deutet sich immer wieder in „Die Kinder der Toten“ an: „[…] Buchstaben kriechen auf mich zu. Das Haus der Sprache ist mir leider zusammengekracht. Die Sprache ist ja auch gleichzeitig schwungvoll und produktiv wie verhüllend, ähnlich dem Feuer, das diesen Schädel ausgespien hat, den Frau Frenzel da jetzt herumträgt: Ein großes J in altdeutscher Schrift ist eingraviert, seine Gattungsbezeichnung, wei500
ter braucht er nichts, dies ist ein Unterrichtsgegenstand […].“
Die Spuren der Vergangenheit wirken sich auf die Sprache mit einer solchen Macht aus, dass selbst einzelne Buchstaben davon betroffen sind. Nicht nur dem
499 Vgl.: Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 462. 500 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 340.
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Wort ist ein Moment des Unheimlichen zu eigen. Die Buchstaben selbst sind von einem untoten Sein befallen und kriechen, um in Jelineks Bild zu bleiben, bedrohlich auf den Ich-Erzähler zu. Eine Steigerung des Zerfalls der Zeichenrealität erreicht der Text in Folge dadurch, dass der Sprache konstatiert wird, generell zusammengebrochen zu sein. Das Haus bietet keinen Schutz oder Rückzugsraum mehr an.501 In der Metapher des zerbrochenen Sprachhauses offenbart sich sowohl das generell Konstrukthafte jeder Signifikantenrealität als auch ein neues Moment der Unheimatlichkeit. Ohne den Schutz des Hauses und das Gefühl des Heimlichen kehrt sich die Sprache in ein Unheimliches. Neben der Ambivalenz der Sprache, die der Text als schwungvoll und produktiv bezeichnet, reflektiert die Passage aber auch auf das verhüllende Moment der Zeichen. Wie eine Bestätigung dieser These wirken dann auch die folgenden Sätze. Denn ohne die Sachverhalte genauer auszusprechen, zeigt sich doch das performative Geflecht des altdeutschen „J“, das auf die Kennung von Juden in ihren Pässen verweist und das sich als Symbol der Verfolgung ins Gedächtnis der Menschen eingeschrieben hat. Zynisch als Gattungsbezeichnung formuliert, evoziert der Text die faschistoide Idee einer Rassenlehre, die mit dem Wort Unterrichtsgegenstand auf die ideologische Massenverbreitung verweist. Eine Individualisierung bleibt dem Totenschädel verwehrt und wird lapidar mit den Worten weiter braucht er nichts abgewehrt. Somit verweigert der Text zwar die direkte Verwendung des Namens Auschwitz und eröffnet ein Spiel metatextueller Verweise, ruft dabei aber dennoch ein explizit ikonographisches Inventar der Shoa ab.502 Brillen-, Zahn- und Haarberge, herrenlose Koffer, Züge und Verladerampen finden Einzug in den Text. Doch bleiben diese Symbole ohne Verweischarakter: „So leben wir in einer Lagergemeinschaft mit Körpern, Brillen, Zähnen, Koffern, Puppen, 503
Plüschteddys von Fremden, ohne daß uns das etwas nützen oder schaden würde.“
501 Die Wendung vom „Haus der Sprache“ ist zudem ein Zitat, das von Heidegger adaptiert wird. Heidegger-Zitate finden sich, wie bereits in anderen Texten Jelineks, auch an anderer Stelle wieder (etwa S. 72).Vgl. hierzu: Martin Heidegger: Über den Humanismus. Frankfurt a. M. 1949, S. 5 und S. 25. 502 Annika Nickenig: „Haar wächst und wächst“. Haare als Chiffre für Auschwitz in Elfriede Jelineks „Die Kinder der Toten“, in: Birgit Haas (Hrsg.): Haare zwischen Fiktion und Realität. Interdisziplinäre Untersuchungen zur Wahrnehmung der Haare, Berlin 2008, S. 218-233. 503 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 394.
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„Die Kinder der Toten“ offeriert somit eine geschickte Ausblendung und Neukonnotation von bestehenden Dichotomien auf der sprachlichen Ebene. Doch auch der Umgang mit der zuvor gescheiterten Ebene des Subjekts ändert sich in Jelineks Opus magnum maßgeblich. Scheiterten frühere Frauengestalten etwa in „Krankheit oder Moderne Frauen“ oder den „PrinzessinnenDramen“ an einem männlichen Blick, so ist dieser als literarischer Topos der schönen Leiche interpretierbar. In der Streichung des Schönheitsideals bleibt allein die Leiche, die nicht nur auf die dominante Figur des Untoten verweist, sondern auch die kontradiktorische Ebene der Schönheit eröffnen wird: der Ekel. Ekel ist indes keine Novität im Jelinekschen Werk. Bereits „Die Klavierspielerin“ Erika Kohut versuchte sich der Dichotomie aus Schönem und Ekelhaften zu entziehen. Die amerikanische Forscherin Wright sieht gar in diesem Text eine „Ästhetik des Ekels“.504 In Anlehnung an die Thesen Lacans konstatiert sie schon in diesem frühen Text des Jelinekschen Schaffens das „Ziel, das Reale des Körpers, seine exzessive Gegenwart zu erklären.“505 Doch vermag „Die Klavierspielerin“ keine Ebene außerhalb der symbolischen Ordnung zu erschaffen: „Die Ästhetik des Ekels kommt so über eine ‚Verfallserklärung‘ für den Signifikanten des 506
‚Gesetzes‘ nicht hinaus.“
In der Phantastik jedoch entkommt der Körper einer ordnenden Realität aus symbolischer und imaginärer Ebene. Um aber den Körper auch vor einer Ordnung des Schönen, und somit patriarchalen Kategorien zu befreien, muss nicht nur die Ebene der Realität, sondern auch die Kategorie der Schönheit radikal destruiert werden. Das Verständnis des Körperlichen als Grenzerfahrung und Grenzüberschreitung des „Naturschönen“ entsteht bereits in der schwarzen Romantik. Namentlich durch Charles Baudelaires „Fleur du mal“ bricht die Literatur nicht nur mit der Tradition einer Konservierung von Schönheit mittels der schönen Leiche, sondern darüber hinaus ebenfalls mit dem bis dahin vorherrschenden Schönheitsbegriff, der mitnichten natürlich war. Baudelaires Lyrik entlarvt erstmals die Künstlichkeit des Schönheitsbegriffs und erschließt das schließlich auch von Jelinek genutzte ästhetische Potential des Ekelhaften.
504 Siehe hierzu die gleichnamige Studie: Elisabeth Wright: Eine Ästhetik des Ekels. Elfriede Jelineks Roman „Die Klavierspielerin“, übers. von Frauke Meyer-Gosau, in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Elfriede Jelinek. (Text & Kritik, H. 117, 1993), 2. erweiterte Auflage, München 1993, S. 51-59. 505 Wright: Ästhetik des Ekels. S. 86. 506 Wright: Ästhetik des Ekels. S. 90.
Das ist Ekelhaft Erinnerst Du Dich an Baudelaires unglaubliches Gedicht ,Une Charogne‘? Es kann sein, daß ich es jetzt verstehe. Abgesehen von der letzten Strophe war er im Recht. Was sollte er tun, da ihm das widerfuhr? Es war seine Aufgabe, in diesem Schrecklichen, scheinbar nur Widerwärtigen das Seiende zu sehen, das unter allem Seienden gilt. RAINER MARIA RILKE „DIE AUFZEICHNUNGEN DES MALTE LAURIDS BRIGGE“
Nicht nur Rilke war von Charles Baudelaires Gedicht „Une Charogne“ fasziniert, das 1857 in der ersten Auflage der ,,Fleurs du Mal“ im Großkapitel ,,Spleen et Idéal“ erscheint. Den ästhetischen Grundsätzen treu, die Baudelaire in seinen poetologischen Texten ,,Curiosités esthétiques“ und ,,L’art romantique“ (beide posthum 1868 erschienen) darlegt, bilden die „Fleurs du Mal“ eine generelle Zäsur in der Ästhetik der europäischen Literatur, deren Wirkmächtigkeit kaum überbewertet werden kann. Dabei besteht Baudelaires einzigartige Novität in der Etablierung eines zwar menschlichen Grundempfindens, einer Basisemotion, die jedoch lange als Gegenstand der Künste negiert wird und erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer Erneuerung des ästhetischen Empfindens, ja gar zu seiner Revolutionierung führt. Es ist dies der Ekel, der in Baudelaires Lyrik nicht mehr nur in Opposition zum Schönen steht, sondern darüber hinaus für sich selbst ästhetische Qualitäten zu beanspruchen weiß und somit eine paradigmatische Wende bezeugt.507 Denn Baudelaire ist einer der ersten Schriftsteller,
507 Forschungen zum Ekel sind jedoch noch heute in sehr geringem Umfang vorhanden. Es liegen insgesamt nur vier größere Studien vor. Aurel Kolnai: Der Ekel, in: Ed-
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der es – wie Rilke ausführt – vermag „in diesem Schrecklichen, scheinbar nur Widerwärtigen das Seiende zu sehen, das unter allem Seienden gilt“508. Zwar sieht schon Friedrich Schlegel das vermehrte Auftreten des Ekelhaften in der Kunst als Eigenheit des modernen Geschmacks, er vermag zunächst aber nicht die Dichotomie von Schön versus Ekelhaft aufzulösen. Befangen in der Tradition, versteht er das Aufkommen der Ästhetik des Ekelhaften in der romantischen Literatur als „Krise“, die gar in Opposition zum antiken Verständnis einer „Naturgeschichte des Geschmacks“ steht und die die aktuellen Darstellungen des Ekelhaften als „die letzte Konvulsion des sterbenden Geschmacks“509 markiert. Doch findet sich in Schlegels poetologischen Überlegungen an anderer Stelle auch eine Novität: „Mit der großen Ausnahme des 124. Athenäumsfragments, in dem ‚ekelhaft‘ als rein deskriptive Kategorie figuriert und nicht sogleich der wertenden Verwerfung untersteht, die sie bezeichnet, leidet die explizite Thematisierung des Ekelhaften von 1795 bis etwa 1860 an einem normativen von Treue zum Klassisch-Ästhetischen geprägten Widerwillen gegen das Verhandelte. […] Die neue Ästhetik des Ekelhaften bleibt weithin in einem Ekel 510
am Ekel befangen und erkennt nur wider Willen die Macht des Verworfenen an.“
mund Husserl (Hrsg.): Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung. Bd. 10, Halle a. d. Saale, 1929 (Reprint 1974), S. 515-569. – Paul Rozin: Disgust, in: Michael Lewis und Jeanette M. Haviland (Hrsg.): Handbook of Emotions. New York 1993, S. 575-594. – William Ian Miller: The Anatomy of Disgust. Cambridge, London 1996. – Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, 3. Auflage, Frankfurt a. M. 2011. 508 Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in: ders.: Sämtliche Werke. hrsg. vom Rilke Archiv, in Verbindung mit R. Sieber-Rilke, besorgt durch E. Zinn, Bd. 6, Frankfurt a. M. 1955-1966, S. 775. In Paraphrase betont Rilke auch in an einem Brief an seine Frau, dass im Widerwärtigen das Seiende zu erkennen sei,. Hier merkt er an, dass Cezanne noch im hohen Alter das Gedicht Baudelaires Wort für Wort aufzusagen wusste und betont damit Baudelaires Einfluss in anderen Kunstgattungen. Vgl. hierzu: Rainer Maria Rilke: Briefe über Cezanne. Hrsg. von Clara Rilke, Frankfurt a. M. 1983, S. 51. 509 Friedrich Schlegel: Über das Studium der griechischen Poesie. 1795, in: Ernst Behler (Hrsg.) unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe Bd. 1, Paderborn, München, Wien, Zürich, Darmstadt 1958, S. 254. Zitiert nach Menninghaus: Ekel. S. 193. 510 Menninghaus: Ekel. S. 203.
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Ekelhaft bleibt somit zunächst das nicht Schöne, das nicht Ästhetische, das nicht Darzustellende. Doch die Macht des Verworfenen bildet einen eigen- und wirkmächtigen Diskurs aus und was sich bereits gegen Ende der romantischen Periode erkennen lässt, wird sich im weiteren Verlauf in den Künsten verbreiten und schließlich etablieren: die eigenständige Ästhetik des Ekelhaften. Die literaturhistorische Periode, die wir heute als schwarze Romantik511 fassen, bildet dabei den Ausgangspunkt einer sich erweiternden Ästhetik, deren Einfluss bis in die Texte Jelineks hinein nachzuweisen ist. Denn ist bereits in der antiken Literatur an verschiedenen Stellen das Ekelhafte zu erkennen – Sophokles Text „Philoktet“ bildet hier ein besonderes explizites Beispiel –, erlangt diese menschliche Affektregung in der Kunst doch zunächst keine ästhetische Autonomie. Ekel bleibt vorerst gebunden an eine göttliche Prüfung, die einer „moralisch-religiösen Hermeneutik“512 entspricht. Auch die Literatur des Mittelalters weist wenige ästhetisierte Ekelmomente auf, im Vergleich zu antiken Texten ist deren Anteil sogar rückläufig. Ihr Vorkommen ist allein „der moralischen und sozialen Ökonomie von Scham und Ehre untergeordnet“513. Nur allmählich bildet sich eine autarke Ästhetik des Ekels aus, die stark mit der aufkommenden Autonomie der Künste verbunden ist. Doch verbleibt der Ekel meist in der Opposition zum Primat des (Kunst-)Schönen, der zudem auch soziale Hierarchien stützt. So steht dem vermeintlich vulgären Bürgertum ein elitäres Geschmacksempfinden des gebildeten Adels und Großbürgertums gegenüber.514 Dabei kommt dem Ekel in der Ausschließung aus einer ästhetischen Tradition eine besondere Rolle zu. Während andere „negative“ Affekte, wie sie etwa in der Tragödie zur Anwendung kommen, als positive Reizverstärkung in ästhetische Überlegungen eingebunden und positiv subsumiert werden, bleibt das Ekelhafte bis in das 18. Jahrhunderts hinein als eine Disparität bestehen. Doch bereits die Frühromantik bricht zusehends mit den alten Regelpoetiken. Dem genialen, also dem auf neue Weise schöpferischen Werk wird von nun an ebenso hohe Bedeutung zugemessen wie der Erfahrung eines Anders-SeinSollens. Ironie als Stilmittel und das innovative Moment des Grotesken verkehren zudem zunehmend das Ideal-Schöne:
511 Mario Praz: Liebe, Tod und Teufel. Die Schwarze Romantik, München 1960. 512 Menninghaus: Ekel. S. 10. 513 William Ian Miller: The Anatomy of Disgust. Cambridge, London 1996, S. 154, Übersetzung folgt W. Menninghaus: Ekel. S. 10. 514 Vgl. hierzu: Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, in: ders.: Werkausgabe, Bd. X, hrsg. von Wilhelm Weischedel, 18. Auflage, Frankfurt a. M. 2006, S. 223 und 293, sowie Bourdieu: Die feinen Unterschiede. S. 761-765.
216 | D IE Z ERSTÖRUNG DES I CHS „Die Grenzen des Ästhetischen und Ekelhaften werden also vielfach verflüssigt und umdefiniert. Die Unterscheidungskraft der Kategorie wird ins innerästhetische System verlegt: statt der einen und transzendentalen Grenze des Ästhetischen überhaupt markiert das Ekelhafte nunmehr eine Fülle verschiedener regionaler Phänomene, Effekte und Funktionen im Feld ‚romantischer‘ Literatur und ‚idealistischer‘ Ästhetik.“
515
Frühere Versuche wie etwa von Karl Rosenkranz, der den Primat des Kunstschönen um eine Kategorie des ästhetischen Ekels erweitern möchte, verharren in letzter Instanz doch in den alten Dualismen. Auch Jean Pauls516, Kants oder Schoppenhauers apodiktische Einschätzungen der Ästhetik im Bezug auf den Ekel bleiben einer nicht mehr geltenden Regelpoetik verhaftet. So führt Schoppenhauer in „Die Welt als Wille und Vorstellung“ aus: „Es giebt auch ein Negativ-Reizendes, welches noch verwerflicher, als das eben erörterte Positiv-Reizende ist: und dieses ist das Ekelhafte. […] Daher hat man von je erkannt, daß es in der Kunst durchaus unzulässig sei, wo doch selbst das Häßliche, solange es nicht ekelhaft ist, an der rechten Stelle gelitten werden kann.“
517
Wird von Schoppenhauer also das Ekelhafte als das ultimativ zu vermeidende Moment innerhalb der Künste beschrieben und steht es im Rang damit noch niedriger als das Hässliche, so gewinnen die Künste zu seiner Zeit schon längst dem Ekelhaften nicht nur einen eigenen ästhetischen Wert ab, sondern erweitern es sogar um eine psychohistorische Dimension. Denn selbst jene Exegeten, die wie etwa Rosenkranz dem Ekel keine Autonomie zugestehen, wollen ihn als Zeichen einer dekadenten Menschheit verstehen, kommen aber nicht umhin, ihn sowohl als „adäquate Chiffre für den aktuellen Stand der menschlichen Leidenschaften“518 zu betrachten, als auch ein historisches Moment des Ekels zu konstatieren, welches „die Angst vor der Möglichkeit einer wirklichen Geschichte hat“519. Es ist dies zugleich eine ästhetische Rebellion gegen die vorherrschende Ständegesellschaft. Dem hohen Geschmack des Adels und des reichen Bürger-
515 Menninghaus: Ekel. S. 192. 516 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, in: ders.: Werke, hrsg. von Norbert Miller, München 1963, S. 427. 517 Arthur Schoppenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band, Wiesbaden 1949, S. 246. 518 Menninghaus: Ekel. S. 199. 519 Karl Rosenkranz: Ästhetik des Hässlichen, hrsg. und mit einem Nachwort von Dieter Kliche, Stuttgart 2007, S. 381.
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tums steht der niedere Geschmack des gemeinen Volkes entgegen. In der Überwindung der festgelegten Schönheitsideale durch das Ekelhafte ist somit auch eine politische Dimension inkludiert. Drei Jahre nach der Abhandlung von Rosenkranz kommt Baudelaire in seinem Einleitungstext zu den „Fleurs du Mal“ zu eben jener Einschätzung eines nun zu befriedigenden Zeitgeistes.520 Die „aimables remords“ (liebenswürdige Gewissensbisse) gilt es von nun an zu befriedigen. Und auch wenn „sottise, i´erreur, le péché“ und „la lésine“ (Dummheit, Irrtum, Sünde und Geiz) sowohl im Verfasser des Textes, als auch seinen Zuhörern wohnen, so empfangen sie doch die neue Ästhetik „sans horreur“ (ohne Grauen)521. Denn das bis zu diesem Zeitpunkt „le viol, le poison, le poignard, líncendie, / N’ont pas encor brodé de leurs plaisants dessins/ Le canevas banal de nos piteux destins, / C’est que notre âme, hélas! N’est pas assez hardie. (Notzucht, Gift, Dolch, Brand noch nicht mit ihren hübschen Mustern den banalen Stickgrund unserer jämmerlichen Geschicke zierten, so nur, weil es unsere Seele, leider! dazu an Kühnheit fehlt!)“
522
Aber jetzt, so Baudelaire, ist es nicht mehr der Ekel, der sich als das großes Feindbild zeigt, sondern die vielzitierte Baudelairesche ennui. Kunst kann somit alles sein, vermag sich sogar aus einem bisher verbotenen, weil ekelhaften Repertoire zu speisen. Nur darf sie nicht in Langeweile verfallen. Geschickt leitet Baudelaire seine Leser in die neue Ästhetik, in dem er sie zunächst zwar als „Hypocrite“ (scheinheilig) bezeichnet, aber als „mon semblable“ (Meinesgleichen) anzuerkennen. Der Leser, der doch die gleichen dunklen Sinnesfreuden teilen will, wird schließlich als „mon frére“ (mein Bruder) in dieser neuen Schönheitslehre willkommen geheißen. Die Ästhetik des Ekels ist dadurch nichts mehr, für das sich der Leser schämen muss, vielmehr dient sie dazu, eine neue, familiäre Allianz eines subversiven Geschmacksempfindens zu etablieren. Durch diese Einleitung lassen sich die „Fleurs du Mal“ in ihrer Ganzheit als ein Text
520 Zu den Parallelitäten bei Rosenkranz und Baudelaire siehe: Wolfgang Fietkau: Schwanengesang auf 1848. Ein Rendezvous im Louvre: Baudelaire, Marx, Proudhon und Victor Hugo, Reinbek 1978, S. 93-106. 521 Charles Baudelaire: Au lecteur. An den Leser, in: ders.: Die Blumen des Bösen/ Les Fleurs du Mal. Vollständige zweisprachige Ausgabe, übers., hrsg. und kommentiert von Friedhelm Kemp, München 1997, S. 8-11, hier: S. 8/9. Die hier angegebenen Übersetzungen folgen dieser Ausgabe. 522 Ebd.
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lesen, der den Rezipienten zu einer oppositionellen Ästhetik einlädt. In Oppositionen changiert dann auch eines der bekanntesten Gedichte der Sammlung: Une charonge (Ein Aas).523 Im widerstreitenden Analogon steht das undefinierte tote Tier der strahlenden Geliebten gegenüber und das Gegenwärtige des Tieres vermag auf die Zukunft der Geliebten zu verweisen. Lyrischer Raum ist die Natur, was angesichts der vielen Stadtbilder, namentlich dem gesamten Großkapitel „Tableaux Parisiens“, schon allein bemerkenswert scheint:524 „Zum ersten Mal wird bei Baudelaire Paris zum Gegenstand der lyrischen Dichtung. Diese Dichtung ist keine Heimatkunst, vielmehr ist der Blick des Allegorikers, der die Stadt 525
trifft, der Blick des Entfremdeten.“
Die Entfremdung des lyrischen Ichs erfolgt bei Baudelaire jedoch nicht nur im Kulturraum, sondern auch im Naturraum. Denn die vermeintliche Idylle der Natur(-betrachtungen) wird gleich zu Beginn gebrochen. Was die beiden Liebenden an einem „beau matin d´été si doux“526 (Sommermorgen, der so lieblich war) an „au détour d´un sentier“ (eines Weges Biegung) zu sehen bekommen, sind keine erbaulichen Naturphänomene, sondern das titelgebende „charogne infâme“ (schändliches Aas)527. Generell ist die Abwendung von der Natur und Natürlichkeit innerhalb der „Fleurs du Mal“ offensichtlich. Baudelaires berühmte Aussage „La nature est laide et je prefère les monstres de ma fantaisie à la trivialité positive“528 (Die Natur ist hässlich und ich ziehe die Monster meiner Fantasie diesen
523 Charles Baudelaire: XXIX Une charogne. Ein Aas, in: ders.: Die Blumen des Bösen/ Les Fleurs du Mal. Vollständige zweisprachige Ausgabe, übers., hrsg. und kommentiert von Friedhelm Kemp, München 1997, S. 64-67. 524 Auch Rosenkranz sieht insbesondere in der Stadt ein paradigmatisches Bild der neuen Lust am Ekelhaften. Vgl.: Rosenkranz: Ästhetik. S. 314. 525 Walter Benjamin: Paris, die Hauptstadt des XIX Jahrhunderts, in: ders.: Illuminationen. 3. Auflage, Frankfurt a. M. 1984, S. 170-184, hier: S. 179. 526 Baudelaire: Charogne. S. 64/65. Wobei diese Beschreibung natürlich auch schon als Anspielung Baudelaires auf gängige Motive der Romantik gelesen werden kann und somit nicht mehr nur als Kontrast zum Aas. Es ist dies ein Ekelbild des zu Süßen. Dies zeigt, dass auch das Schöne immer Gefahr läuft, in ein Ekelhaftes zu verfallen, wenn es „nur“ schön ist. Vgl. hierzu: Menninghaus. Ekel. S. 15 u. 209. 527 Baudelaire: Charogne. S. 64/65. 528 Charles Baudelaire: Salon de 1859, in: ders.: Œuvre complètes. Bd. 2, hrsg. von Claude Pichois, Paris 1976, 608-682, hier: S. 620.
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positiven Trivialitäten vor.) unterstreicht noch seine artifizielle Poetik wie auch die generelle Negation von Naturbildern und dem Glauben an eine Erhöhung und Inspiration durch die Natur. In Jelineks Text „Die Kinder der Toten“ steht die Sensation des Ekelhaften nicht mehr in Opposition zur Natur, weil diese bereits selbst vom Ekelhaften infiziert ist. Nicht nur die „Fleischlandschaften“529, die sich zu einer „Faserschmeichlermasse“530 entwickeln, legen hiervon Zeugnis ab. Denn der Boden ist in dieser radikalisierten Form nicht mehr nur der Ort der Toten(Un-)Ruhe, sondern er besteht aus den Toten: „Ein Teppich aus streng wie nach Geschlachtetem, das sich verzehrt, riechender Klebrigkeit breitet sich unter seinen Händen aus, er greift hinein und wühlt in seinem Saft herum, verschmiert sich die Handteller, grapscht sich ganze Fäuste aus seinem Produkt, wie zur Qualitätskontrolle, und wischt es dann in noch unberührte Grasnoppen, die aber seine 531
Empfindungsfähigkeit nicht weiter steigern können. Ein Teppich aus Humanmus!“
Das Unheimliche breitet sich aus, verbindet sich mit der Natur und bekommt dadurch einen epidemischen Charakter. Der fruchtbare Humusboden kehrt sich um und wird zu einem bedrohlichen Humanmus. Beschreibt Jelineks Text bereits eine Masse an undefinierten Toten, ist es bei Baudelaire noch allein das titelgebende Aas, das in Unbestimmtheit verharrt. Ob es sich etwa um einen Hund, ein Reh oder eine Katze handelt, ist nicht zu beantworten und birgt auch keine besondere Bedeutung, wird das Natürliche doch nunmehr nur als Material verstanden, das es künstlerisch aufzuladen gilt und das in letzter Instanz immer auf den Menschen und die Kultur als neuen Primat der Kunst zu verweisen hat. Doch nicht nur die belebte Natur wird von einer Ästhetik des Ekelhaften erfasst: „Auch die unorganische Natur kann relativ ekelhaft werden, aber nur relativ, nämlich in Analogie oder in Verbindung mit der organischen. An sich selbst aber läßt sich der Begriff der Verwesung auf sie nicht anwenden und aus diesem Grunde kann man Steine, Metalle, 532
Erden, Salze, Wasser, Wollen, Gase, Farben durchaus nicht ekelhaft nennen.“
529 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 270. 530 Ebd. 531 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 191. 532 Rosenkranz: Ästhetik. S. 313.
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Diese Verbindung von organischer und unorganischer oder gar lebensfeindlichen Stoffen findet sich auch in Jelineks Text. Der unheimliche Charakter der Natur offenbart sich dort gerade in der Unbelebtheit und im Untot-Sein. Während an anderen Textstellen noch der bewegungslose Boden zu einer amorphen Masse und also in Bewegung gesetzt wird, erstarrt gleichzeitig die belebte Natur in „Die Kinder der Toten“ in einer artifiziellen und kristallinen Pose: „Die Bäume spiegeln sich nicht im dunklen Metall des Wassers, auch Karins Gesicht gibt keinen brauchbaren Abdruck, es verliert sich sofort in der schimmernden Undurchdringlichkeit, die alles auflöst, was sich ihr nähert, als wäre dieses Becken mit Säure oder einer anderen zerstörerischen Substanz gefüllt. Die Blätter liegen ganz unbeweglich auf dem Wasserbildschirm, und sie müßten doch wenigstens ein bißchen kreisen oder herumpaddeln, schließlich herrschen ja Durchfluß und Zugfluß im Becken. Bleiern ist dieser Richtblock aus Wasser in den rissigen Beton eingepaßt, nichts glitzert, nichts glänzt, wo das 533
doch das liebste Hobby des Wassers ist.“
Metall, Säure und Blei als lebensfeindliche Stoffe dienen hier, um die Naturszenerie zu beschreiben. Dabei entlarvt die Beschreibung die vermeintliche Natur ohnehin als Menschengemachtes, ist der See doch in ein Betonbecken eingelassen. Wie in Kafkas „Sorge des Hausvaters“ erfährt der Leser mehr über den See durch verneinende Aussagen als durch positive Zuschreibungen: Das Wasser spiegelt nicht, glitzert nicht, glänzt nicht und auch die Blätter sind unbeweglich. Durch ablehnende Wörter wie nicht, keinen, auflöst und verliert verstärkt sich diese ohnehin schon negative Szenerie und dominiert den Text, der den See als einen schwarzen und undurchdringlichen Ort der Hinrichtung und der Destruktion beschreibt. Das Tote wird somit nicht mehr wie noch in Baudelaires Gedicht als besonderes Objekt und in seiner Beziehung zur Natur betrachtet, sondern ist selbst der dominierende Teil der Landschaft geworden und gestaltet sie unheimlich aus. Entlarvte die Schwarze Romantik das Naturschöne als eine gesetzte Größe, gibt in Jelineks Text auch das Subjekt Karin „keinen brauchbaren Abdruck“ mehr her und zeugt somit von der den Text dominierenden Demontage des Individuums, deren Folge sich als neu gesetzte Unbestimmtheit der Subjekte in beiden Texten wieder finden lässt. Dabei wird der Kadaver in der baudelaireschen Unbestimmtheit allein über seine ekelhaften Verwesungsvorgänge und in Teilen seines Körpers beschrieben. Ein Kunstgriff, den beispielsweise auch Gottfried Benn in seinem Gedicht „Nachtcafé“ aufgreifen und fortsetzen wird. In der absoluten Reduktion sind es
533 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 85.
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bei ihm nur noch äußerliche Ekelhaftigkeiten, die eine Person kennzeichnen. „Grüne Zähne, Pickel im Gesicht / winkt einer Lidrandentzündung. […] Bartflechte kauft Nelken / Doppelkinn zu erweichen.“534 Die ins Ekelhafte übertragenden Annährungsversuche im Bennschen Nachtcafe sind in Baudelaires Gedicht allerdings mit ungleich heftigerer Wucht gestaltet. Denn schon in der zweiten Strophe erlangt das Bild des Aases eine klar sexuelle Komponente: „Les jambes en l'air, comme une femme lubrique, / Brûlante et suant les poisons, / Ouvrait d'une façon nonchalante et cynique / Son ventre plein d'exhalaisons. (Die Beine abgespreizt, gleich einem geilen Weib, heiß seine Gifte schwitzend, bot es schamlos lässig den offenen Bauch voll übler Dünste an.)“
535
In der obszön aufreizenden Pose wird die sexuelle Haltung des Aases zugleich als vergiftet dargestellt. Vergiftet wird im Verlauf des Gedichtes auch die eingangs etablierte Szenerie. Denn die vermeintlich liebliche Sonne verstärkt nun den Effekt der Fäulnis, beschleunigt ihn noch und evoziert in der Folge gleich mehrere Ekelbilder. Das hier anklingende Bild eines weiblichen Bauchs, in dem sich Leben bildet, der also auf eine Schwangerschaft verweist, wird im Verlauf des Gedichtes noch unterstützt. Doch ist es nicht ein Lebewesen derselben Art, dem das Aas Leben schenkt – der tote Leib gebärt stattdessen eine Vielheit des Ekels. Gleich „centuple“ (hundertfach) wirft der tote Körper ekelhaftes Leben aus und die „mouches bourdonnaient sur ce ventre putride“ (Fliegen summten über diesem fauligen Bauch), aus dem „noirs bataillons / De larves“ (schwarze Bataillone von Larven)536 quellen. Dies ist nicht als Besonderheit von „Une charogne“ zu sehen, vielmehr stellt „das Bild der Multiplikation durch dämonisches Gewürm und Zersetzung eine zentrale Metapher im Werk Baudelaires dar“537. Dient das Aas bei Baudelaire noch als Opposition zum Leben und als ein Gegenüber zur Frau, auch wenn im weiteren Verlauf auf deren gemeinschaftlichen Verfall verwiesen wird, ist es bei Jelinek von je her die Frau, die gar als Erzeuger des Aases diffamiert wird:
534 Gottfried Benn: Nachtcafé, in: ders.: Gedichte in der Fassung der Erstdrucke. Mit einer Einführung und herausgegeben von Bruno Hillebrand, Frankfurt a. M. 2006, S. 94-98, hier: S. 94. 535 Baudelaire: Charogne. S. 64/65. 536 Ebd. 537 Kurt Weinberg: Baudelaires „Une Charogne“. Paradigma einer Ästhetik des Unbehagens in der Natur, in: POETICA 12, 1989, S. 83-118, hier: S. 110.
222 | D IE Z ERSTÖRUNG DES I CHS „Aas, das von weiblichen Krankheiten erzeugt wurde und seinen Unterleibsgeruch, mit dem es, still in die Sargeinlage tropfend, begraben wurde (haben gewusst, daß die Gebärmutter am längsten, bis zu eineinhalb Jahren, der Verwesung sich widersetzen kann?) 538
[…].“
Die Frau wird gleich zweifach als Ursprung des Aases ausgewiesen. Denn es sind sowohl ihre Krankheiten als auch der Verweis auf die Gebärmutter, die als Ursprung der Verwesung denunziert werden und die Frau selbst – und nicht allein das Aas – als tropfende, amorphe Masse beschreiben. Was bei Baudelaire also noch als böses Omen und Analogie gefasst wurde, wird in „Die Kinder der Toten“ zur unheimlichen Realität. In der Andeutung, dass die Gebärmutter sich der Verwesung noch weit über den Tod hinaus verwehrt, erlangt der weibliche Körper ein untotes Weiterleben und existiert somit noch über die Grenzen des Todes hinaus. Die hier schon angedeutete Vertierung des Menschen wird sich im weiteren Verlauf noch steigern. Denn es zeigt sich im Vergleich zu früheren Texten, etwa zu „Krankheit oder Moderne Frauen“, dass nicht allein die Frau von der Jelinekschen Ekelästhetik erfasst wird. Dient in Baudelaires Text noch ein Tier dazu, die Endlichkeit des Lebens zu veranschaulichen, so erfasst der Jelineksche Text mittels der Pseudowissenschaftlichkeit, derer er sich bedient, den Menschen im generellen Sinne: „In Wahrheit umschließt stinkendes Fleisch (die campylobacter coli-Verteilung ist ungefähr so: Tonsillen: 24,66%, Gallenflüssigkeit: 2,66%, Kot: 61,33%, und das alles haben 539
wir gegessen!) den Menschen wie eine zweite Haut […].“
Der Mensch in Jelineks Text hat seine menschlichen Eigenschaften eingebüßt. Denn ganz wie in Foucaults Begriff der Biopolitik konstituieren keine Werte oder gar religiöse Zuschreibungen den Körper, sondern es findet eine zunehmende Reduktion auf den puren Leib statt, der das Individuum in Diagrammen und Tabellen erfassbar macht. Bereits in der vorangegangenen Periode der Disziplinarmacht zeigt sich nach Foucault „ein in ein Überwachungssystem eingegliederter, den Normalisierungsverfahren sich fügender, ein unterworfener Körper“540. Als Erweiterung der Disziplinargesellschaft des 19. Jahrhunderts ist es die Biopolitik
538 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 271f. 539 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 273. 540 Michel Foucault: Die Macht der Psychiatrie. Vorlesung am Collège de France 19731974, übers. von Claudia Brede-Konersmann und Jürgen Schröder, Frankfurt a. M. 2005, S. 93.
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einer „administrativen Inquisition, die unsere Identität festlegt“541 und die es ermöglicht, nicht vom Individuum aus, sondern in Bezug auf eine ganze Bevölkerung zu denken und einzuteilen in „eine Geburtenrate, eine Alterskurve, eine Alterspyramide, eine Sterblichkeitsrate und einen Gesundheitszustand“542. Diese Steigerung von einem einzelnen Schockbild bei Baudelaire hin zu der Jelinekschen Entindividualisierung in Tabellen einer ganzen Bevölkerungsgruppe ist im Sinne Foucaults in der die Disziplinargesellschaft erweiternden Biopolitik zu verstehen. Die Biopolitik offenbart somit einen „zweiten Zugriff der Macht, nicht individualisierend diesmal, sondern massenkonstituierend, wenn sie so wollen, der sich nicht an den Körper-Menschen, sondern an den Gattungsmenschen richtet.“
543
Der menschliche Körper wird somit nicht als Entität verstanden, sondern im Sinne von Segmenten, die in evaluierbaren Größen aufschlüsselbar werden. In diesem Prozess, der einhergeht mit einer Entindividualisierung des Subjekts, steht insbesondere die Sterblichkeit des Einzelnen im Fokus: „Kurz, Krankheit als Bevölkerungsphänomen: nicht mehr als Tod, der sich brutal auf das Leben legt – das ist die Epidemie –, sondern als permanenter Tod, der in das Leben hin544
einschlüpft, es unentwegt zerfrißt, es mindert und schwächt.“
Diese permanente Bedrohung der nutzbaren Arbeitskräfte durch einen kontinuierlichen Zerfallsprozess macht aus dem Menschen eine Masse – in Foucaults Begrifflichkeit eine Biomasse – in der das Individuum zu dem von Jelinek angemahnten, von stinkendem Fleisch umfassten Wesen wird. Freilich wird in Je-
541 Michel Foucault: Subjekt und Macht, übers. von Michael Bischoff, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. IV, 1980-1988, hrsg. von Daniel Defert und François Ewald, übers. von Michael Bischoff, Hans-Dieter Gondek, Hermann Kocyba und Jürgen Schröder, Frankfurt am Main 2005, S. 269-294, hier: S. 275. 542 Michel Foucault: Die Maschen der Macht, übers. von Michael Bischoff, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. IV, 1980-1988, hrsg. von Daniel Defert und François Ewald, übers. von Michael Bischoff, Hans-Dieter Gondek, Hermann Kocyba und Jürgen Schröder, Frankfurt a. M. 2005, S. 224-244, hier: S. 235. 543 Michel Foucault: Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-76), übers. von Michaela Ott, erweiterte Ausgabe, Frankfurt a. M. 2001, S. 286. 544 Ebd.
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lineks Text nicht nur die Macht einer Foucaultschen Biopolitik aufgezeigt, denn die „Wahrheit“ über den Körper beschreibt der Text nicht allein als eine katalogisierbare Einheit, sondern zugleich auch als eine Zusammensetzung ekelhafter Elemente. Wie etwa die in der Klammer angeführten Campylobacter coli. Dabei handelt es sich um Bakterien, die zu Durchfallerkrankungen beim Menschen führen und über die Nahrung aufgenommen werden. Sowohl Galle als auch Kot sind dabei (Schad-)Stoffe, die der menschliche Körper auszuscheiden versucht und sich somit fortwährend von ihnen abtrennt.545 Doch während in Baudelaires Gedicht noch Maden und der besondere Gebrauch des Wortes fett dazu dienten, den Ekel der Verwesung zu beschreiben, erweitert der Jelineksche Text den Blick auf den Schrecken des Zerfalls bis auf die mikroskopische Ebene. Schon während der Mensch isst und somit sein Leben erhalten möchte, nimmt er zersetzende Bakterien in sich auf.546 Auch die mit einem Viertel angegebenen Tonsillen, lymphatische Organe im menschlichen Rachenraum, deren Aufgabe eine Art Frühwarnsystem bakterieller und schädlicher Befallserscheinungen ist, versagen den Dienst. Der Jelineksche Röntgenblick unter die Haut des Menschen, der im foucaultschen Sinne als biopolitisch gelten kann, erweist sich als ein Blick auf den Verfall. Über einen der Frauenkörper heißt es: „Ihr Leib ist im Werden, aber es ist nicht der Leib des Herrn.“547 Analog zu Baudelaire wird auch in „Die Kinder der Toten“ keine Hoffnung auf eine (christliche) Heilsgeschichte gegeben, in der die Auferstehung Christi noch einen Prozess des Werdens und der Vollendung einer Versprechung meint. Nach Foucault lässt sich hier das Verschwinden der Pastoralmacht ausmachen, die der Biomacht weichen muss. Das Werden des Leibes in Jelineks Text ist somit kein mythisch aufgeladener Akt, sondern ein Zerfall und eine Auslöschung von Biomasse. Eine Destruktion, die bereits Baudelaire in der zehnten Strophe seines Gedichts andeutet. Eingeleitet durch einen Gedankenstrich, der den Umbruch des Erzählens noch optisch orthographisch stärkt, wendet sich das lyrische Ich direkt
545 Die Mechanismen dieser Abtrennung und die Bedeutung toter Materialien, werden im weiteren Verlauf noch von Bedeutung sein. 546 Das Bild von verseuchter Nahrung findet sich mehrfach im Text wieder, etwa wenn von einer Listerien monocytogenes Suppe oder von mit Zoonose durchseuchtem Fleisch die Rede ist. Vgl. hierzu: Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 117 und 273. 547 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 173.
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an seine ebenfalls anonyme Gefährtin (und den Leser) und spricht sein Memento Mori. „– Et pourtant vous serez semblable à cette ordure, / A cette horrible infection, / Etoile de mes yeux, soleil de ma nature, / Vous, mon ange et ma passion! (Und dennoch wirst du diesem Unrat gleichen, diesem ganz durchseuchten Gräuel, Stern meiner Augen, Sonne 548
meines ganzen Wesens, mein Engel du und meine Leidenschaft!)“
Mögen diese Darstellungen auch noch an die Gedichte anderer Dekaden – etwa die des Barock – erinnern, so enthält Baudelaires Gedicht ein Novum: Es entbehrt jeder Trauer. Das barocke Moment bleibt Zitat, wie auch jeglicher Glaube an ein Leben nach dem Tod oder gar an eine alles überdauernde und den Tod überwindende Liebe. Der Mensch wird auf seine Leiblichkeit herabgestuft, was sich in den rein körperlichen Beschreibungen anzeigt. Dabei kommt dem Ekelwort des „grasses“ (fetten) besondere Bedeutung zu und lässt die Verwesung gar als das eigentliche Kernthema von „Une charogne“ erscheinen.549 Denn nicht nur der Körper der Geliebten wird dem Aas gleich verwesen, auch die Liebe wird in der Verwesung zerfallen. Das „vermine / Qui vous mangera de baisers” (Gewürm, das küssend dich verspeisen wird)550 zehrt die Liebe in letzter Instanz auf. Statt mit Verbitterung oder Klage endet Baudelaires Gedicht mit der kühlen Feststellung, dass dieser der prädestinierte Weg sei: „De mes amours décomposés!” (Meine Liebe, die in Dir zerfällt!)551. Dient also das Aas als eine Brutstätte für Würmer und Fliegen, so potenziert sich dieses Bild bei Jelinek nicht nur durch den Angriff von Bakterien auf den menschlichen Körper: „Das blutige, herausgefetzte Geschlechtstrumm ist säuberlich neben den toten Körper gelegt worden. Tiere schauen hinein und nehmen, was sie nicht extra abbeißen müssen, zuerst. Der Rest ist auch geliefert. Im zugebluteten Schamhaar wittern und weiden die Fliegen, die eigentlich schon schlafen gehen hätten sollen. Ein Licht muß sie angelockt haben. Auf der angebissenen und dann stehengelassenen Kehle ruhen runde starre Augen, ohne zu blinzeln. Den Kehlknorpel kann man abessen bis zum Butzen. Die Bergdohlen und die
548 Baudelaire: Charogne. S. 66/67. 549 Cynthia Grant-Tucker: Pétrarchisant sur l’horrible. A Renaissance Tradition and Baudelaires Grotesque, in: The FrenchReview 48, 1975, S.887-896 und Leo Bersani: Baudelaire and Freud. Berkley, Los Angeles, London 1977, insbesondere: S. 71. 550 Baudelaire: Charogne. 66/67. 551 Ebd.
226 | D IE Z ERSTÖRUNG DES I CHS Saatkrähen, die kürzlich, unter Einschluß der Öffentlichkeit in das Walten der Natur, Lämmerherden von ihren Augen befreit und die kahlen Strünke zurückgelassen haben, die warten noch ein wenig zu, ob sich jemand nähert. Dann werden auch sie auffliegen, den Menschensamen aufnehmen und letztlich nichts daraus machen, das ist immer noch mehr, als wir gemacht haben.“
552
Zwar bedient sich der Text in seiner Darstellung des Todes einer klassischen Tiersymbolik, indem er Fliegen und Krähen zeigt, die den toten Leib an- und auffressen, doch wird zugleich eine Absage an einen zyklischen Naturkreislauf erteilt. Ist es bei Baudelaire also zunächst nur eine ewige Liebe, die negiert wird, so ist es im Jelinekschen Text der Menschensamen, verstanden als das Menschengeschlecht, das letztlich ins Nichts führt und das in letzter Konsequenz von jedem natürlichen Kreislauf der Natur ausgeschlossen scheint. Dieses Bild einer selbstzerstörerischen Denaturalisierung des Menschen wird nochmals übersteigert in den immer wiederkehrenden Kannibalismusszenen des Textes, die eine Destruktion der menschlichen Kultur darstellen.553 War das Aas noch als Sinnbild für die Vergänglichkeit allen Seins zu verstehen und bestand seine Radikalität darin, das Tierische im Menschen zu beschreiben und sich gegen eine vorherrschende Pastoralmacht aufzulehnen, so ist der Mensch in Jelineks Text längst Teil einer monströsen Biopolitik geworden und selbst ins Tierische hinabgesunken.554 In einem ewig andauernden Dasein überschreiten diese untoten Tiermenschen gleich mehrere Tabugrenzen einer humanen und humanistischen Gemeinschaft. Denn wie bereits Freud definiert, sind in Tabus die kulturellen Leistungen zu erkennen, „in denen sich unser Leben von dem unserer tierischen Ahnen entfernt“555. Dieser Rückfall in eine Vertierung des Menschen
552 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 280. 553 Hirsch erweitert Freuds Thesen des sexuellen Ekels um die Komponenten eines Ekels vor körperlichen Absonderungen und Kannibalismus. Vgl. hierzu: Julian Hirsch: Ekel und Abscheu, in: Zeitschrift für angewandte Psychologie Nr. 34. 1930 , S. 472-484, insbesondere: S. 486. 554 Siehe hierzu: Karl Heinz Bohrer: Menschen-Schlachtung als politische Parabel, in: ders.: Imaginationen des Bösen. Zur Begründung einer ästhetischen Kategorie, 1. Auflage, München 2004, 131-137. 555 Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur, in: ders.: Studienausgabe, Fragen der Gesellschaft, Ursprünge der Religion, Bd. IX, hrsg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey, Mitherausgeber des Ergänzungsbandes Ilse Grubrich-Simitis, Frankfurt a. M. 2000, S. 191-270, hier: S. 217.
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zeigt sich in Jelineks Text immer wieder, etwa wenn von „hungrigen Mäulern“556 die Rede ist. Doch bleibt es nicht allein bei äußerlichen Analogien. „Zwischen den beiden Frauen, die, mit gekrümmten Rücken, zähnefletschend wie wütende Hunde über ihrer Beute stehen, existiert eine gewisse Spannung, die vielleicht noch von den vielen Volten und Amperen Strom im Bettgestell herrührt. […] Dann beginnen sie zu stopfen und zu schlingen. In kurzen hustenden jaulenden Stößen, wenn sie sich verschlu557
cken, reihern sie das Fleisch wieder aus, nur um es sofort wieder hinunterzuwürgen.“
Wie Hunde zerfleischen die beiden anonymen Frauen ihr ebenfalls entpersonalisiertes Opfer. Dabei wird nur ein vager Erläuterungsversuch unternommen, um zu erklären, wie es zu der Vertierung der beiden Frauen kam. Klar ist hingegen, dass ihre wölfische Gier nichts mehr mit einem normalen Hungergefühl zu tun hat. Über die Grenzen einer stabilen Nahrungsbefriedigung hinaus schlingen sie selbst Erbrochenes wieder in sich hinein, womit ein weiters Ekeltabu überschritten wird. Eine Fressgier über die Schranken des Hungers und der Sättigung hinaus, die auch Walter Benjamin beschreibt: „Und dann kam die Passhöhe des Geschmacks, auf der, wenn Überdruß und Ekel, die letzten Kehren, bezwungen sind, der Ausblick in eine ungeahnte Gaumenlandschaft sich öffnet: eine fade, schwellenlose, grünliche Flut der Gier, […] die restlose Verwandlung von Genuß in Gewohnheit, von Gewohnheit in Laster. Haß gegen diese Feigen stieg in mir auf, ich hatte es eilig aufzuräumen, frei zu werden, all dies Strotzende, Platzende von mir abzutun, ich aß, um es zu vernichten. Der Biß hatte seinen ältesten Willen wiedergefunden.
“558
In der Fressgier ist ein Hass auf das Lebendige zu erkennen, das vernichtet werden soll. Die Überwindung der natürlichen Ekelschranken birgt zudem die Gefahr, in ein tierisches Verhalten zu verfallen, welches das Essen zu seinem ältesten Willen, also seinem tierischen Ursprung führt. Einer Esskultur steht hier der tierische Biss, der tötet, zerreißt und den Gegner in sich aufnimmt, entgegen.559
556 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 169. 557 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 361. 558 Walter Benjamin: Denkbilder, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. IV, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1983, S. 305-438, hier: S. 375. 559 Der hier dargestellte Kannibalismus steigert sich noch in einen Autokannibalismus. Vgl. etwa: Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 206.
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Die schöne Leiche, die eine endlose Liebe personifiziert und poetologisch das künstlerische Schaffen widerspiegelt, wird der neuen Poetologie geopfert, einer Poetik, die das Ekelhafte als ästhetische Kategorie bestimmt und den Körper wie auch die Liebe als Produkte des Zerfalls erfasst. Die Agonie der Liebe ist an den körperlichen Verfall gekoppelt. Der Frauenkörper stirbt nicht mehr jungendlich schön (und jungfräulich), sondern dem Lebendigen ist Auflösung und eine sexuelle Gier immanent, die eine Poetik des Ekels begründen. „Vielmehr richtet sich das Begehren aus eigenem und von Beginn an in kaum verhüllter Form eben auf die Imagination des verwesenden Körpers als eines sexuell überlebendigen 560
wenn nicht als die Chiffre der Sexualität selbst.“
Weil die neue Poetik des Ekels also den Verfall alles Seienden bei gleichzeitiger Negation einer künstlerischen Überhöhung propagiert, gewinnt das sexuelle Verlangen an Bedeutung. Nicht Liebe und Gefühle überdauern fortan den Tod, sondern die Gier einer Lüsternheit, die sich auch in dem dargestellten Kannibalismus der Figuren zeigt und die als ein Rückfall in präödipale Strukturen begreifbar wird: „In den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie von 1904/05 wird es in den Kontext der prägenitalen Sexualorganisation gesetzt, deren erste die orale oder kannibalische ist. Die Sexualität ist von der Nahrungsaufnahme noch nicht gesondert, Gegensätze innerhalb derselben nicht differenziert. Das Objekt der einen Tätigkeit ist auch das der anderen, das Sexualziel besteht in der Einverleibung des Objekts, dem Vorbild dessen, was späterhin als 561
Identifizierung eine Rolle spielt.“
Soziale Paradigmen verletzt nicht nur der beschriebene Kannibalismus, sondern bereits die von Wegener bezeichnete sexuelle Komponente desselben. In Jelineks Text zeigt sich diese als Überschreitung des Inzestverbots, wodurch ein weiterer Tabubruch beschrieben wird. Schildert die Literatur des 18. Jahrhunderts noch klar den Untergang aller am Inzest Beteiligten und ihre (moralische) Bestrafung mit dem Tod562, so verlagert
559 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 93. 560 Menninghaus: Ekel. S. 213. 561 Bernhard Wegener: Kannibalismus. S. 2. Über: http://www.psychoforum.de/wege ner%202007%20kannibalismus.pdf 562 Michael Titzmann: Literarische Strukturen und kulturelles Wissen: Das Beispiel inzestuöser Situationen in der Erzählliteratur der Goethezeit und ihrer Funktionen im
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sich der Text Jelineks in das Reich der Untoten, um somit den Tabubruch um eine dritte Grenzverletzung zu erweitern: die Nekrophilie. Es handelt sich hierbei jedoch nur um eine konsequente Fortsetzung bestehender Paradigmen. Wie von Hoff in ihrer Studie zeigt, ist die Überschreitung des Inzesttabus auch klar an eine tradierte Topographie gebunden: „Topographisch wird die Inzestthematik an mythische Orte der Verwerfung und an die Vorstellung der Grenzverletzung gebunden. Die Bildwelten sind gezeichnet von Dunkelheit, Verwesung und Tod.“
563
Jelineks Figuren bewegen sich demnach nicht mehr nur durch einen apokalyptischen Raum, der den moralischen Verfall seiner Protagonisten wiedergibt, sondern sie werden entindividualisiert und selbst Teil der destruktiven Topographie. Die Grenzen von Leben und Tod überschreitend, brechen in dieser Zwischenwelt alle moralischen Kodizes in sich zusammen. In einem „Sprühnebel des Verwesungsregens“564 beschreibt Jelineks Text einen nekrophilen, homosexuellen Inzest zwischen zwei Brüdern, der auch kannibalische Züge in sich trägt: „Das ist ja zum Anbeißen, bis Blut herauskommt! Dann dreht der ältere Bruder, dessen Schwanz erwartungsvoll aufgewacht ist, den jüngeren um […]. So, und jetzt versucht der ältere Bruder, sich mit seiner harmlos glänzenden Tellerfleisch-Miene in den Jüngeren hineinzuquetschen, obwohls dort schon reichlich voll ist. Dann noch ein gehockter dreifacher Saltomortale ins Unbegrenzte, die Grenzen des eigenen Bruders sind schließlich ein565
gerissen worden, das muß gefeiert werden und auf gehts!“
Der untote Inzest an dem jüngeren Bruder mündet im Auseinandersprengen desselben. Doch dieser Vorgang löst keine Trauer aus, sondern vielmehr Euphorie. Auch dieser monströse Akt endet schließlich nicht nur in der Auflösung des Bruders, sondern in der Auflösung eines nicht definierten Raums, der als das Unbegrenzte bezeichnet wird. Unbegrenzt und unauflöslich ist es dieser unheim-
Denksystem der Epoche, in: Jörg Schönert, Konstantin Imm, Joachim Linder (Hrsg.): Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920, Tübingen 1991 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur), S. 229-281. 563 Dagmar von Hoff: Familiengeheimnisse. Inzest in Literatur und Film der Gegenwart, Köln/Weimar/Wien 2003, S. 173. 564 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 297. 565 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 298.
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liche Raum, der ein Raum im Realen ist, aus dem sich die Handlung in Permutationen fortsetzt. Somit reiht sich ein monströser Reigen durch den Jelinekschen Text, in dem es keinen Endpunkt und keine Erlösung zu geben scheint. Bildet Baudelaires Ästhetik, die eine Ästhetik des Ekels ist, eine Zäsur im abendländischen Schönheitsideal, so schreibt Jelineks Text diese in ungleicher drastischerer Form weiter. Als Text des Tabubruchs, reihen sich hier Szenerien des Inzest, der Nekrophilie und des Kannibalismus aneinander. Die Topographie hierfür bildet ein Endzeitszenario, das in seiner zyklischen Struktur ein Gefühl der Undurchdringlichkeit und Unendlichkeit vermittelt.566 Es sind dies Figuren eines „Nachspiels“567 der Menschheit, die eine Unabschließbarkeit des Geschehens beschwören. Eine Erkenntnis der ewigen Wiederholung, die sich mehrfach wieder findet, etwa in dem Urteil „Zeit ist hier nichts als Sperrmüll“568 und dem Empfinden einer „Zeitschleife“569 oder gar einer „Zeitwurst“570. Gefangen in einem Raum zwischen Vergangenheit und Gegenwart werden die Individuen zu Personifikationen des Unheimlichen. In diesem apokalyptischen Raum zerbrechen die moralischen Instanzen und werden ersatzlos zerstört. Der Verwesung als Teil der Natur setzt „Die Kinder der Toten“ eine unheimliche und untote Natur entgegen, die immer schon den Eingriff des Menschen erahnen lässt. Die Verwesung ist jetzt nicht mehr die Attraktion und das außerordentliche Ereignis, sondern immer schon Teil des menschlichen Daseins. Mit mikroskopischem Blick entwirft der Text das Bild einer Biopolitik, in der das Subjekt zur Biomasse degradiert wird. Dem Lebendigen wird nicht mehr das Tote und der Ekel vor dem Verwesenden entgegengestellt, sondern vielmehr wird dieses als immanen-
566 Hierauf verweist auch der dargestellt Autokannibalismus. Als bekannteste Ikonographie dieser Tabugrenze gilt das Ouroboros-Symbol, jene mythische Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt und dadurch einen in sich geschlossenen Kreislauf bildet. Sie wird auch in Verbindung mit Nietzsches bekanntem Aphorismus gebracht: „Allem Zukünftigen beißt das Vergangene in den Schwanz.“ In dieser Subsumierung seiner These von der ewigen Wiederkunft, die ein selbstreferenzielles System ohne Anfang oder Ende beschreibt, finden sich auch die Figuren aus Jelineks Text wieder. Vgl. hierzu auch: Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 10. Nachgelassene Fragmente 1882-1884, hrsg. von Giorgio Colli, Mazzino Montinari, München 1999, S. 139. 566 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 93. 567 Ebd. 568 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 161. 569 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 160. 570 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 316.
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ter Teil des Daseins ausgewiesen. Zerbrach Baudelaire die Idee der schönen Leiche, indem er den Endpunkt seiner Ekelästhetik in der verwesenden Leiche setzte, so beschreibt Jelinek hingegen eben jenes unheimliche Nachleben der Leiche in der Figur des Untoten. Bereits das Baudelairesche Aas ist in seiner Auflösung und Zersetzung nicht einfach nur als eine amorphe Masse zu begreifen, sondern erfährt in der untoten Bewegung noch eine Steigerung: „Tout cela descendait, montait comme une vague, / Où s'élançait en pétillant; / On eût dit que le corps, enflé d'un souffle vague, / Vivait en se multipliant. (Das alles senkte sich und hob sich einer Woge gleich, stob schillernd auf; es schien, als ob der Leib, von ungewis571
sem Hauch gebläht, vielfältig sich vermehrend lebte.)“
In der negativen Analogie eines göttlichen Atems, der nach christlicher Heilslehre dem unbelebten Ding das Leben einhaucht, beginnt auch die vermeintliche Leiche durch einen „souffle vague“ (ungewissen Hauch) wieder zu leben. Zunächst nur durch eine Woge ausgelöst, die auch nur eine kurze Kontraktion des Körpers sein könnte, erweckt das Ungeziefer den Leib. Der tote Körper gewinnt damit wieder an Leben und die aufgerissene Bauchdecke erscheint nunmehr wie „vivants haillons“ (lebende Fetzen). Die einsetzende Verwesung, die sich aus einer dämonischen Dreifaltigkeit aus Aas, Ungeziefer und Sonne entwickelt, markiert eine (Weiter-)Entwicklung des bereits Toten in ein wieder Lebendiges. In der Verwesung aber zeigt sich sowohl ein besonderes Moment des Ekels als auch des Todes. „Für den Begriff des Ekelhaften im engeren Sinn aber müssen wir die Bestimmung des Verwesens hinzufügen, weil dasselbe dasjenige Werden des Todes enthält, das nicht sowohl ein Welken und Sterben, als vielmehr das Entwerden des schon Todten ist. Der 572
Schein des Lebens im an sich Todten ist das unendlich Widrige im Ekelhaften.“
Rosenkranz Entwerden des schon Todten rührt an die Idee eines Untoten, in dem das Leben eine Scheinexistenz im Toten führt und eine dritte Daseinsstufe eröffnet. Denn die Leiche ist nicht einfach das Zeichen für den Tod, der per se nur eine Endlichkeit des Lebens bezeugen würde. Die Leiche geht über dieses Stadium hinaus, indem der Körper nach dem Tod ein Eigen-Leben beginnt und verwest. Der geöffnete Verwesungskörper negiert dabei die vermeintliche Geschlossen-
571 Baudelaire: Charogne. S. 64/65. 572 Rosenkranz: Ästhetik. S. 312f.
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heit des Körpers, der durch die Umformung oder Deformation, also durch eine Verflüssigung und Zersetzung des Körpers, noch gesteigert wird. Als „das unendliche Widrige im Ekelhaften“, der Quintessenz des Geschmacklosen zeugt die Verwesung vom Nachleben der Leiche. Diese von Rosenkranz festgestellte Sonderposition der Verwesung im reichhaltigen Inventar der Ekelfigurationen unterstützt auch Menninghaus: „Im Ekel scheint nie weniger als alles auf dem Spiel zu stehen. Er ist ein Alarm- und Ausnahmezustand, eine akute Krise der Selbstbehauptung gegen eine unassimilierbare Andersheit, ein Krampf und Kampf, in dem es buchstäblich um Sein oder Nicht-Sein geht. Das macht, selbst bei harmlosen Anlässen, den eigentümlichen Ernst der im Ekel getroffenen Unterscheidung von ‚Wohlbekommen‘ und Ungenießbarkeit, von Einnehmen und Verwerfen (Erbrechen, Aus-der-Nähe-Entfernen) aus. Der verwesende Leichnam ist deshalb nicht nur eines unter vielen anderen übelriechenden und defigurierten Ekelobjekten. Er ist vielmehr die Chiffre der Bedrohung, die im Ekel auf eine so entschiedene Abwehr mit extremem Ausschlag auf der Skala der Unlust-Affekte stößt. Jedes Buch über den Ekel ist nicht zuletzt ein Buch über den verwesenden Leichnam.“
573
Die hier angesprochene Andersheit ist das oft verleugnete Körperliche des Menschen. In der Betrachtung der Leiche, die schlimmstenfalls sogar bereits im Stadium der Verwesung ist, erkennt der Mensch aufs Dringlichste diese seine eigene Körperlichkeit sowie – und dies mag noch schockierender sein – seine Endlichkeit. So werden Frau und Aas nicht allein durch Weiblichkeit in Analogie gesetzt, sondern vielmehr durch den sie bedrohenden Zerfall. Heißt es schon kurz vor der Zuwendung zu der Liebsten, dass gar „Les formes s´effaçaient“ (Die Formen schwanden hin), sind dies nur erste Vorboten des Zerfalls der Geliebten, die ein „Moisir parmi les ossements“ (Schimmeln zwischen dem Gebein) erwartet. Und auch die Hoffnung, dass das lyrische Ich „gardé la forme“ (die Form bewahre) ist vergebens. Baudelaire erschafft so einen Primat des Zerfalls, der die ganze Kultur und Natur erfasst hat und der zudem stark an die Figur der Leiche angebunden wird. Das Schöne und das Hässliche aber sind nicht mehr klare Oppositionen, denn die Leiche/ das Aas kann für sich nun auch ästhetische Reize beanspruchen. Die schöne Frau hingegen wird durch ein Moment des Zerfalls beschrieben. Ob Leiche oder Frau ist schlussendlich also von geringer Bedeutung,
573 Menninghaus: Ekel. S. 7.
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steuern doch beide Figuren in letzter Konsequenz auf das schicksalhafte Bild einer verflüssigten Masse zu.574 Die Verwesung, bei Baudelaire als generelles Konzept nur angedeutet, ist in Jelineks Text allgegenwärtig und wird sexuell aufgeladen noch gesteigert: „[…] die Verwesung ist wie eine Traumfigur, die man sich wünscht, die aber schon weg ist, bevor man sie noch gehabt hat. Das Fleisch an der Basis schmilzt dahin, die Erektion des Kleinen steigt aber, im Gegenteil, wie ein Schirmstock entlangrasend in die Höhe, allerdings bröckelt ihr unten bald der Griff weg. Das aufgerichtete Geschlecht des Kleinen scheint einen Augenblick auf der Handfläche des Großen zu schweben, zu glühen wie ein 575
Lampendocht, und dann rinnt es dem Größeren durch die Finger und tropft zu Boden.“
In endlosen Permutationen durchleben die Jelinekschen Untoten eine sexuelle Agonie, in der sich das Individuum immer wieder neu auflöst und konstituiert. Es ist eben jene Auflösung des Subjekts, die Lacan als den zerstückelten Körper, das Partialobjekt, beschreibt, das in der weiteren Analyse von Bedeutung ist. Offenbarte sich der Riss in der Realität schon als der Ebene des Realen zugehörig und figurierte in phantastischen Gestalten wie dem Vampir bzw. der Vampirin, so ist das Erleben einer Realität im Raum des Phantastischen als eine Totalität zu fassen. Und so ist es der Boden selbst, der in Jelineks Texten rissig wird und den Grund, auf dem das Subjekt steht, in seiner Gemachtheit entlarvt. Als Bildner einer nationalen Einheit verliert der Boden im Raum des Realen seine sinnstiftende Funktion und zieht den auf dem ihm beheimateten Subjekten sprichwörtlich den Boden unter den Füßen weg. Wie zuvor der Bergbach und die Felswand kehrt sich auch der heimatliche Boden um, wird im wortwörtlichen Sinne doppelbödig und eröffnet darüber hinaus ein Vexierspiel der intertextuellen Verweise. Ein literarischer Topos, den Jelinek nicht erst in „Die Kinder der Toten“ benutzt und der sich zudem auf einen literarischen Vorläufer bezieht.
574 Zu denken ist hier natürlich auch an Theweleits These, dass der männliche Körper, der als hart und trocken wahrgenommen wurde, durch das vermeintlich Weiche und Feuchte der Frau bedroht wird. Vgl.: Klaus Theweleit: Männerphantasien 1. Frauen, Fluten, Körper, Geschichte, Hamburg 1990, insbesondere: 2. Kapitel: Fluten Körper Geschichte, S. 235-400. 575 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 537f.
Unheim(at)licher Boden
Als eine Bezugsquelle für „Die Kinder der Toten“ auf literarischer Ebene gilt der heute nahezu vergessene Roman „Die Wolfshaut“576 des österreichischen Schriftstellers Hans Lebert. In seinem Text, der mit der Performanz des Wortes Oberfläche arbeitet, entwirft Lebert ein pessimistisches Bild der österreichischen Nachkriegszeit. In dem alpinen Dorf mit dem sprechenden Namen „Schweigen“ ereignet sich eine Serie an Morden. Gleichzeitig scheint sich die Natur gegen die Dorfgemeinschaft verschworen zu haben, straft sie dessen Bewohner doch über die 99 Tage der Handlung hinweg mit 99 Tagen nicht enden wollendem Regen. Als strafender Vergelter tritt in dem Text, der sich an Versatzstücken der Kriminalliteratur und des Schauerromans bedient, auch ein Mann in Erscheinung, der auf den Titel verweisend, mehr Wolf als Mensch, Rache an den Tätern der faschistischen Vergangenheit nimmt. Am Ende des Textes bricht die unterdrückte und von der Dorfgemeinschaft verschwiegene Vergangenheit wortwörtlich hervor, wenn der morastige und vom Dauerregen aufgeweichte Boden die ermordeten Zwangsarbeiter wieder hervorbringt und die unter der Oberfläche verborgene Schuld sich unleugbar zurück ins Bewusstsein schwemmt. Nicht nur eine von Jelinek geschriebene euphorische Rezension zur 1991 erschienenen Neuauflage von Leberts Roman legt Zeugnis von ihrer Verbundenheit mit „Die Wolfshaut“ ab577, sondern auch die in „Die Kinder der Toten“ analog verwendeten Motive wie etwa die Mure am Ende beider Texte. Bereits 1988, drei Jahre vor der Wiederentdeckung von Leberts Roman, findet sich in dem kurzen Jelinekschen Drama „Wolken.Heim.“ eine metaphorische
576 Hans Lebert: Die Wolfshaut. Wien 1991. 577 Elfriede Jelinek: Das Hundefell. Über die Wiederentdeckung Hans Leberts und seines Romans „Die Wolfshaut“, in: Gerhard Fuchs und Günther A. Höfler (Hrsg.): Hans Lebert. Graz 1998, S. 266-269 (erstmals in: Profil. Wien, 16.09.1991).
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Verwendung der Bodenmotivik. Später von Bedeutung für „Die Kinder der Toten“ wird hier bereits der Konnex zwischen Boden, Heimat und den Toten nachvollzogen, der direkt auf Leonhard Schmeisers Thesen578 rekurriert.579 Schmeisers Analyse zeigt auf, wie sich der Topos des Bodens seit dem 18. Jahrhundert entwickelte und als vaterländische Identifikation figurierte, bevor er seine unrühmliche (Über-)Steigerung in der Blut-und-Boden-Ideologie der Nationalsozialisten fand.580 Verbindendes Agens zwischen Nation und Boden bilden laut Schmeiser unter anderem die Toten, die in heimischer Erde begraben werden.581 In der Bewahrung der Ahnen bietet der Boden eine Form der Erinnerung, die „Möglichkeit zur Identität, nämlich das, was aus einer gedächtnislosen Masse ein Volk, eine Nation macht“582. Bereits Leberts Text funktioniert nach dieser von Schmeiser analysierten triadischen Formel aus Nährboden, Heimat und Vergangenheit. Und auch in „Wolken.Heim.“ verweisen die drei Instanzen aufeinander und stehen in einem unheimlichen Wirkverhältnis zueinander, das in der Figur des Untoten seine Personifizierung erfährt. Bot zuvor schon Leberts Text in der Darstellung einer Art Wolfsmensch einen Hybriden zwischen Mensch und Tier als unheimliche Figur an, die das zerbrochene Verhältnis der Dorfbewohner zu ihrem Boden anzeigte, so nutzt Jelineks Text den Untoten, um das Unheimliche im vermeintlich Heimischen zu zeigen. Lebert aber gestaltet seinen Wolfsmann als ein die Kerngesellschaft bedrohendes Monstrum, ein von außen Kommender, der in seiner Phantastik die unheimliche Ausnahme personifiziert, während Jelinek den Untoten ungleich prominenter in Szene setzt. Waren es in „Krankheit oder Moderne Frauen“ noch allein zwei Frauen, die eine Metamorphose in die phantastische Figur des Vam-
578 Leonhard Schmeiser: Das Gedächtnis des Bodens, in: Tumult. (1987), S. 38-56. 579 Jelinek verweist direkt auf Autor und Werk, in der „Wolken.Heim.“ vorangestellten Danksagung. Vgl.: Jelinek: Wolken.Heim. Nachwort von Evelyne Polt-Heinzl, Stuttgart 2000, S. 5. 580 Sander sieht das kollektive „Wir“ in Jelineks Text gar dieser Ideologie verbunden. Vgl.: Margarete Sander: Textherstellungsverfahren bei Elfriede Jelinek. Das Beispiel „Totenauberg“, Würzburg 1996 (= Epistemata, Würzburger wissenschaftliche Schriften, Reihe Literaturwissenschaft 179) Zugl. Univ. Freiburg (Breisgau) Diss., 1996, S. 51. 581 Fremde wurden oft als nicht würdig erachtet, um in deutschem Boden begraben zu werden. Während der deutschen Befreiungskriege wurden deshalb Franzosen unbeerdigt auf dem Schlachtfeld zurückgelassen. Vgl.: Schmeiser: Das Gedächtnis des Bodens. S. 53. 582 Schmeiser: Das Gedächtnis des Bodens. S. 38.
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pirs vollzogen, werden es nunmehr Horden aus Zombies, die das Drama untot bevölkern. Allerdings handelte es sich bei Lebert, wie auch in Jelineks Krankheit-Text noch um vereinzelte Personen, die dadurch auch ein Moment der phantastischen Sensation trugen, wohingegen es ab „Wolken.Heim.“ untote Massen sind, die sich aus dem heimatlichen Boden erheben. Aus einer vereinzelten Attraktion des Phantastischen wird ein hordenartiges Auftreten der unheimlichen Untoten. Dem Unheimlichen wird dabei nichts gegenübergestellt, in dem es sich spiegelt. War dem Vampir im Krankheit-Text noch ein infektiöses und somit bedrohliches Moment zu eigen, so sind ab „Wolken.Heim“ alle Figuren bereits untot. In Jelineks Drama spiegelt sich somit das Unheimliche in sich selbst und produziert sich gar aus sich selbst heraus, bleibt also selbstreferenziell. Als „erdentrückt“583 bezeichnet, wird der Untote eine Kollektivfigur, die dem Boden entsteigt und sich auch in der Folge als sehr stark an diesen Topos angebunden zeigen wird. Durch die unklare Aufteilung der Sprechanteile eines chorischen „Wir“ wird die Kollektivierung und gleichzeitige Entindividualisierung in der Figur des Untoten noch verstärkt. Der heimische Boden wird analog zu Leberts Text ein Raum der kollektiven Stimme. Doch evoziert das Gemeinschaftliche nunmehr keine positive Gruppenzugehörigkeit mehr, sondern zeigt eine kollektive Schuld an, wodurch sich die Heimat und der heimatliche Boden in eine Nährstätte des Unheimlichen wenden. Nicht nur die Heimat verkehrt sich in „Wolken.Heim.“ ins Verneinende, sondern auch die aus Schmeisers Thesen subsumierbare zweite Instanz einer verbindenden Vergangenheit ist in Jelineks Drama negativ konnotiert. Denn die Vergangenheit ist längst zu einem nicht erinnerungswürdigen, weil beschämenden Fleck geworden.584 Erlebtes und begangene Taten haften als Fluch an den Untoten, den die Gemeinschaft nur all zu gerne begraben hätte. Der Boden ist nicht mehr als identifikatorische Heimat oder als Instanz einer gemeinsamen Geschichte zu erfassen und auch die dritte Instanz des Nährbodens wird in „Wolken.Heim.“ folgerichtig nicht mehr als
583 Jelinek: Wolken.Heim. S. 18. 584 Jelinek greift das Bild der befleckten und besudelten Vergangenheit mehrfach auf. „Tod-Krank.Doc“ etwa zeigte in seiner Uraufführung in Bochum Engel mit befleckten Gewändern, aber auch der Engel der Geschichte schwebt nicht mehr im Benjaminschen Sinne durch die Zeiten davon. Aus dem Angelus Novus wird in „Die Kinder der Toten“ der Engel Ariel, der nicht nur an die Waschmittelmarke Ariel Ultra und an den weißen Arier assoziativ anbindet, sondern auch nicht mehr durch die Geschichte fliegt. Stattdessen kämpft er sich am Boden durch die Blutseen der Getöteten und besudelt sein Gewand mit der historischen Schuld. Vgl.: Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 643.
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fruchtbarer Lebensspender verstanden. Als von der Geschichte besudeltes Element ist er von seinen Bewohnern krank gemacht worden. Der Boden gehorcht in Jelineks Text den Gesetzen der Phantastik, wenn er kein Leben mehr spendet, sondern Untote ausspuckt.585 Kollektiv klagen die Untoten über die ehemals so heimische Erde: „Schon längst ist uns der Boden entzündet, der uns aufnimmt und wieder hergibt. Uns ist gegeben, an keiner Stätte zu ruhn. Der Boden hält uns nicht, er gibt uns wieder her. […] Vor uns liegen wir, Untote, im Staub. Und kommen wieder hervor aus dem Boden, ewig sitzende Kinder auf Stühlen und Bänken, übertönt von unsren eigenen Lauten, die wir stammeln. Der Boden faßt uns nicht. Wir suchen das Weite und fassen es. Wir fassen es, und es gehört uns für immer.“
586
Der Boden wird weder zur letzten Ruhestätte für die Toten, noch ist er ein fruchtbarer Boden. Auch die gemeinschaftliche, positiv konnotierte Geschichte, die auf einem Konsens beruht, löst sich auf zu einem polyphonen Gewirr. Aus einer erwachsenen Geschichte wird ein Dissens, ein sich gegenseitig übertönender Wirrwarr aus gestammelten Positionen und somit ist das bindende Moment einer Nation zerstört. Doch auch die Zerstörung des Bodens als Nährboden wird in dieser kurzen Passage gezeigt. Wurde der Boden in Leberts Text noch zu einer Schlammlawine, ist es hier der „Staub“, der die Unfruchtbarkeit des Bodens anzeigt. Die von Schmeiser entlehnte Idee des Bodens als sinnstiftende, ernährende und Einheit bildende Instanz einer Nation kehrt der Jelineksche Text also, wie zuvor schon Lebert, ins Negative. „Wolken.Heim“ wirkt in seiner rächenden Volte wie die Textualisierung des biblischen Zitats aus den Briefen des Paulus an die Galater: „Irrt euch nicht! Gott läßt sich nicht spotten. Denn was der Mensch sät, das wird er ernten. Wer auf sein Fleisch sät, der wird von dem Fleisch das Verderben ernten; wer aber auf den 587
Geist sät, der wird von dem Geist das ewige Leben ernten.“
585 Auch in Jelineks „Winterreise“ wird mit dem Bild des porösen Bodens gespielt. Hier ist es jedoch ein Boden aus Eis in dem die Figuren einbrechen. Und auch hier ist die Brüchigkeit des Bodens verbunden mit dem Verlust des Subjektstatus, wenn die Leierfrau vom „Eis ins Nichts getreten“ ist. Vgl. hierzu: Elfriede Jelinek: Winterreise. Ein Theaterstück, 1. Auflage, Hamburg 2011, S. 124. 586 Jelinek: Wolken.Heim. S. 17. 587 Der Brief des Paulus an die Galater. 6, 7.
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Gleich einer göttlichen Strafe kann der Boden die begangenen Vergehen nicht verzeihen und verwehrt die Ruhe. Das auf dem Boden vergossene Blut hat den Boden verseucht und eine Ödnis hinterlassen. Das ewige Leben, im Sinne einer christlichen Erlösung, bleibt verwehrt. Doch führt diese multiple Negation von Tot in Untot, von Fruchtbar in Unfruchtbar, von Heimelig in Unheimlich nicht zu einer Umkehr seiner Bewohner. Ruhelos und untot treiben die Stimmfiguren des Jelinekschen Dramas in die Ferne, in der die Wesen ihre sträflichen Taten fortsetzen und sich gierig alles greifen, was sie zu fassen kriegen.588 Die Thematisierung des untoten Weiterlebens nationalsozialistischen Gedankenguts in diesen Bildern, ist fraglos das intendierte Moment in „Wolken.Heim.“, auch wenn es allerlei Deutungsansätze gibt, die weit über diesen interpretatorischen Rahmen hinauszielen.589 Noch im kleinsten Detail ist „Wolken.Heim.“ immer wieder von Kriegsmetaphorik durchtränkt. Doch gleitet die Sprache dabei nicht ins Plakative ab, sondern schafft es, mittels einer Ambivalenz der Bedeutungsträger das infizierte Moment der Sprache selbst anzuzeigen. In der doppelten Bedeutung des Wortes „entzündet“ etwa verweist der Text auf die kriegerische Taktik der so genannten verbrannten Erde, also der totalen Vernichtung aller lebensnotwendigen Strukturen eines Ortes. Doch möglich ist auch die medizinische Lesart im Sinne einer Entzündungsinfektion. Der durch die Taten seiner Bewohner krank gewordene, entzündete Boden kann seine Funktion als Bildner einer einheitlichen Nation nicht mehr erfüllen und spuckt die ihm anvertrauten Toten wieder aus. Durch diese Störung der Bodenfunktion, die auf die Kriegsverbrechen der Toten zurückzuführen ist, ist die Geschichte gezwungen, sich stetig zu wiederholen. Diese geschichtliche Wiederholung zeigt sich auch in der gestörten Wiederholung von Sprache, beispielsweise in der exzessiven Verwendung von Zitaten, die ja bereits per se eine Technik des Wiederholens ist.
588 An anderen Stellen wird eindeutig klar, dass Jelineks Text etwa auf den Überfall in Polen und andere Kriegsverbrechen anspielt. Vgl. etwa: Jelinek: Wolken.Heim. S. 14. 589 Polt-Heinzl etwa setzt ohne Relativierung die Trümmerhaufen des Benjaminschen Engels der Geschichte, der bei Jelinek verwendet wird, mit den Leichenbergen der Shoah in Eins. Vgl.: Polt-Heinzl: Nachwort. S. 48. Aber auch Marlies Janz schlägt eine nicht nachvollziehbare Volte, wenn sie in der Figur des Untoten aus der Erde gar Analogien zu Hitler und der wieder erstarkten Kyffhäuser-Mystik während des Nationalsozialismus sieht. Textbelege für diese These bleibt sie indes schuldig. Vgl.: Marlies Janz: Jelinek. S 124.
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Doch nicht allein in einem exzessiven Umgang mit Zitaten nimmt „Wolken.Heim.“ eine Sonderstellung im Jelinekschen Œuvre ein. War das Jelineksche Schreiben schon immer ein Schreiben in intertextuellen Bezügen, so geht das hier verwendete Verfahren eines Fremdsprechens einher mit einer Fremdwerdung des Subjekts. Denn „Wolken.Heim.“ ist nicht nur einer der am stärksten von Zitaten durchzogenen Texte, es ist auch der Text, in dem Jelinek das erste Mal auf die dramatis personæ zu Gunsten eines kollektiv sprechenden „Wir“ verzichtet. Zudem weicht die klassische Einteilung in Akte einer Einteilung in Abschnitte, die den Text gliedert.590 Jelineks Drama entbehrt scheinbar jeder klassisch ordnenden Instanz des Dramas, was sich auch in der hordenartigen Figur des Untoten zeigt. Dieser Entindividualisierung des sprechenden Subjekts, dem keine originäre Stimme mehr zugestanden wird, ist die Polyphonie der nicht mehr voneinander trennbaren Wir-Stimmen gegenübergestellt. Mit dem Mittel der ineinandergreifenden Zitationen591 von (untoten) Autoreninstanzen wie RAFBriefen aus der Isolationshaft, Hegels rassistischen Passagen aus „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“, Heideggers Rektoratsrede, Kleist etc. erreicht Jelinek eine mehrstimmige Klangcollage, die bereits Gegenstand mehrerer Analysen war.592 Zeigten Jelineks frühere Dramen schon eine Dezentralisierung
590 Beide Entwicklungen erlangen in den folgenden Dramentexten Systemcharakter. „Wolken.Heim.“ ist somit als wegweisend für kommende Texte zu erfassen und wird in punkto Figurenkonstellation auch auf die folgenden Romane Einfluss ausüben. 591 Schon der Titel „Wolken. Heim“ ist ein doppeltes Zitat und verweist auf die zwei Komödien „Die Wolken“ und „Die Vögel“ von Aristophanes. Vgl. hierzu und zu der besonderen Orthografie des Titels: Evelyne Polt-Heinzl: Nachwort, in: Elfriede Jelinek: Wolken.Heim. Stuttgart 2000, S. 40-63, hier: S. 45f. Pflügers Theorien sehen zudem auch Texte von Heinrich Heine, Paul Celan und Hanna Arendt als intertextuelle Bezugspunkte. Vgl. hierzu: Maja Sibylle Pflüger: Vom Dialog zur Dialogizität. Die Theaterästhetik von Elfriede Jelinek, Tübingen, Basel 1996 (Mainzer Forschungen zu Drama und Theater, 15) [zugleich Tübingen, Univ., Diss. 1995], S. 204-208. 592 Am Ende des Dramas listet Jelinek verschieden Quellen auf. Anhand dieser (unvollständigen Liste) entwirft Kohlenbach ihre kritische Analyse von „Wolken.Heim.“. In selbiger wirft sie Jelinek eine narzisstische Zitationspraxis vor. Siehe hierzu: Margarete Kohlenbach: Montage und Mimikry. Zu Elfriede Jelineks „Wolken.Heim.“, in: Kurt Bartsch und Günther Höfler (Hrsg.): Dossier 2: Elfriede Jelinek. Graz 1991, S. 121-153.
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der Personen, die sich in Mitteln der gegeneinander gerichteten Monologe anzeigte, in Dopplungsfiguren und adaptierten Figuren der Kunst, die ihre eigene Künstlichkeit zur Schau trugen, so ist „Wolken.Heim.“ in dieser Entwicklung ein radikaler Höhepunkt. Statt sie zu erschaffen und sie möglichst lebensecht agieren zu lassen, destruiert Jelinek in ihren postmodernen Dramen die Figuren. Aus den sprechenden Figuren werden Sprachfiguren, das vermeintliche Subjekt der Bühne löst sich auf: „sie werden zu Sprache“593. „Wolken.Heim.“ wird zu einem Text, der sich klassischen Fragen der Literaturwissenschaft, etwa nach dem sprechenden Subjekt, verschließt, indem er das Subjekt als untot und nunmehr in einer polyphonen Zitation zeigt. Die daraus resultierenden untoten Sprachflächen, die sich einem originären Sprechen verweigern, werden geschickt verwoben, etwa mit dem performativen Bild des Bodens. Ein Beispiel für die Verwobenheit von Zitat und unterschiedlichsten Bildern des Bodens ist das Naturphänomen des Erdbebens. In dem Zitat „Der Boden, in dem wir liegen, schwankt, ein furchtbarer Schlag durchdröhnt ihn. Wir kommen heraus!“594, wie auch im folgenden Abschnitt, handelt es sich nicht nur um eine Steigerung der Unruhe, sondern auch um wörtliche Übernahmen aus Heinrich von Kleists Text „Das Erdbeben in Chili“.595 Dient aber in Kleists Drama das Erdbeben noch seinen beiden Hauptfiguren Josephe und Jeronimo aus einem Gefängnis zu entfliehen und somit für eine kurze Zeit ihre Liebe frei auszuleben, so wird die Kleistsche Hoffnung auf Befreiung des Individuums bei Jelinek zur kol-
Eine speziell auf die verwendeten Hölderlin Zitate fokussierte Analyse findet sich bei Annuß, Burdorf, Stanizek und Kaplan. Besonders erwähnenswert ist an dieser Stelle, dass Jelineks Drama fast 50 Gedichte Hölderlins miteinander und ineinander verbindet. Untergeordnet, sprich umgeschrieben, werden diese Texte immer wieder im Sinne eines kollektiven „Wir“. Siehe hierzu: Evelyn Annuß: Elfriede Jelinek – Theater des Nachlebens, München 2005, S. 145-167. – Dieter Burdorf: „Wohl gehen wir täglich, doch wir bleiben hier.“ Zur Funktion von Hölderlin-Zitaten in Texten Elfriede Jelineks, in: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 21 (1990), H. 66, S. 29-36. – Georg Stanitzek: Kuckuck, in: Dirk Baecker, Rembert Hüser und Georg Stanitzek (Hrsg.): Gelegenheit. Diebe. 3 x deutsche Motive. Bielefeld 1991, S. 11-80. – Stefanie Kaplan: Jelineks schöpferischer Verrat an Hölderlin in Wolken.Heim, in: Sprache im technischen Zeitalter 45 (2007), H. 184, S. 531-540 593 Lücke: Jelinek. S. 126. 594 Jelinek: Wolken.Heim. S. 20. 595 Vgl.: Evelyn Annuß: Elfriede Jelinek – Theater des Nachlebens. S. 155.
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lektiven Totenerweckung.596 Der Konnex des Zitats in neuen Sinnzusammenhängen und mit leichten Verschiebungen erzeugt also nicht einfach eine Wiederholung von bereits Gesagtem, sondern eröffnet auch immer eine neue Beutungsebene. Jelineks Drama erlangt einen besonderen Reiz genau in diesem Wechselspiel von Bezeichnetem und zu Bezeichnendem. Analog zur Brüchigkeit des Bodens wird das Zeichen selbst, als Boden der vermeintlichen Realitätsbildung in seiner „Doppelbödigkeit“, also Brüchigkeit und Arbitrarität vorgeführt. Eine Fragilität, die sich besonders im phantastischen Raum zeigt und analog in Leberts Text zu finden ist. Hier heißt es: „Er rannte in ein Meer von Blut hinein (durch den Schnee, der auf einmal die Farbe von Erdbeerschaum hatte). Ströme von Blut ergossen sich über die Gegend – aus Adern, die 597
sich am Himmel wie Schriftzeichen wanden.“
Das untote Nachwirken der Zeichen wird hier noch als Omen in Form eines Naturphänomens beschrieben. In Jelineks Drama wird es innerhalb des Textes durch ein exzessives Zitieren bei gleichzeitiger Verschiebung der Bedeutungsträger realisiert. Doch nicht nur im textuellen Verfahren und seinen untoten Protagonisten lässt sich ein Bruch der Dichotomien erkennen, sondern auch in der besonderen Konzeption von Zeit. Der Boden als „Übergang, hinüber ans Ende der Zeiten“598, christlich verstanden als die letzte Ruhestätte, bis zur Erweckung der Toten am Tag des jüngsten Gerichts, verweigert sich. Die christliche Heilsikonographie eines Weltendes, dem Ende der Zeiten, entpuppt sich als untote Zeitenschleife. Durch die Schuld seiner Bewohner nimmt der heimatliche Boden die Toten nicht mehr an, durch die gestörte Totenruhe wird ein untotes Dasein beschworen. Ihre eigene Schuldigkeit erkennend, konstatieren denn dann auch die Untoten: „Das Ende der Geschichte ist uns mißlungen“599. Doch auch die Wendung vom Ende der Geschichte ist nicht allein als christliches Armageddon zu begreifen und unterstreicht zudem einmal mehr die Vielschichtigkeit Jelinekscher Textcollage, ver-
596 Vgl.: Volker Schmidt: Die Entwicklung der Sprachkritik im Werk von Peter Handke und Elfriede Jelinek: eine Untersuchung anhand ausgewählter Prosatexte und Theaterstücke. S. 179. Über: http://archiv.ub.uniheidelberg.de/volltextserver/8511/1/Ver oeffentlichung.pdf 597 Lebert: Die Wolfshaut. S. 357. 598 Jelinek: Wolken.Heim. S. 18. 599 Jelinek: Wolken.Heim. S. 18.
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weist das Ende der Geschichte doch auch auf die Idee einer Posthistoire600, die sich ebenso in den Untoten aus „Wolken.Heim.“ wiederfinden lässt. Dass es sich nicht nur um eine gestörte Totenruhe oder eine gestörte Identifikation der Heimat handelt, sondern dass eine generelle Störung des Zeiten- und Zeichenverständnisses vorliegt, wird gleich darauf im Text unterstützt: „Und doch zur Ruhe kommen wir nicht im Boden. Unsre Geschichte ist die der Toten, bis der Boden endgültig verstummt.“
601
Hoffnung auf eine Erlösung aus der Zeitenschleife der Posthistoire kann erst gegeben sein, wenn „der Boden endgültig verstummt“. Oftmals wird diese Textstelle voreilig allein auf die auch thematisierte historische Schuld Deutschlands und Österreichs übertragen, ohne die Doppeldeutigkeit Jelinekschen Schreibens zu bedenken. Denn es sind auch die untoten Zeichen, ein Nachleben des Signifikanten, die frei flottierend in den Zeitebenen „herumgeistern“ und in immer wieder neue Sinnzusammenhänge hineinwirken und nicht endgültig verstummen wollen. Bezogen auf die ungewöhnliche Zeitkonzeption einer Posthistoire in „Wolken.Heim.“, die seine untoten Protagonisten nicht zur Ruhe kommen lässt, son-
600 Die Jelineksche Wendung vom „Ende der Geschichte“ kann als Zitat auf Francis Fukuyamas gleichnamigen Text verstanden werden. Dessen Thesen gehen auf die Gedanken Alexandre Kojèves zurück und beschreiben eine Welt nach dem Ende der Geschichte, die ohne größere (historische) Weiterentwicklungen existiert. Wenn auch im Jelinekschen Zitat das Ende der Geschichte als misslungen beschrieben wird, so ist in den untoten Figuren eine Figuration der Posthistoire zu erkennen. Das Ende kann somit nicht als gescheitert, sondern nur als in seinem Endergebnis unbefriedigend bestimmt werden. Maßgeblich ist hierfür der Zustand als Untote zu werten. Dieser ist den Thesen der Posthistoire entsprechend. Denn dem historischen Stillstand ist im Sinne Kojèves auch ein Verschwinden des Subjekts zu eigen. Er beschreibt in einer Fußnote: „Der Mensch bleibt als Tier am Leben, das im Einklang mit der Natur oder dem Seienden existiert. Was verschwindet, ist der Mensch im eigentlichen Sinne, d. h. das das Gegebene nichtende Handeln und der Irrtum, oder – allgemeiner – der Gegensatz von Subjekt und Objekt.“ Zitiert nach Jacob Taubes. Vgl. hierzu: Jacob Taubes: Ästhetisierung der Wahrheit im Posthistoire, in: Alexandre Kojève: Überlebensformen, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Andreas Hiepko, Berlin 2007, S. 39-57, hier: S. 41. Zur besonderen Übersetzungslage des Zitats siehe S. 4 der zitierten Ausgabe. 601 Jelinek: Wolken.Heim. S. 18.
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dern sie in einem Raum des untoten Daseins verharren lässt, fragen die WirStimmen des Textes: „Warum stirbt sie nicht? Was haben wir getan? Warum wächst ihr die Hand aus dem Grab? Und zeigt auf uns? Wir wollen vergessen werden.“
602
Will das untote Wir-Kollektiv in „Wolken.Heim.“ endlich zu einer alten, linearen Zeitordnung gelangen und seine (ewige) Ruhe im Boden finden, so ist es die Geschichte einer Posthistoire und das Nachleben der Zeichen, die diesen Wunsch verhindern. Mahnend erhebt sich die Geschichte und mit ihr die untoten Zeichen als Hand aus der Erde und deutet auf die Schuldigen. Es ist dies das Bild der untoten Hand und des kranken Bodens der Heimat, das Jelinek erneut in „Die Kinder der Toten“ aufgreifen wird.
602 Jelinek: Wolken.Heim. S. 18.
Hand-lung
Stellen wir uns kurz folgendes Szenario vor: Eine Frau rennt, getrieben von einem unguten Gefühl, einer bösen Vorahnung über einen verlassenen, nächtlichen Friedhof. Sie fühlt sich verfolgt und plötzlich greift eine Hand aus einem der Gräber nach ihr; die Frau schreit auf. Die schnappende Hand aus dem Grab, aus Wänden und Gewässern, untot nach seinem Opfer greifend, sie erscheint uns als klarer Topos des Horrorfilms. Und wirklich hat sich die autonome Hand, tot, gierig und ohne bestimmten Träger, als eine der prägnantesten Bildikonen des Kinos etabliert. Dabei ist die Hand des Horrorfilms nur das bekannteste Beispiel einer generellen Ästhetik, die sich dessen bedient, was Lacan als den zerstückelten Körper bezeichnet. Ein einzelnes Auge in Großaufnahme, prominent in Hitchcocks „Psycho“ sowie Luis Buñuels und Salvador Dalís „Un Chien Andalou“ eingesetzt, ein schattenhafter Körper, der über die Leinwand huscht oder eben die Hand, die sich aus dem Grab erhebt, sie alle deuten nur an, lassen erahnen, welcher Träger zu dem vereinzelten Objekt eines zerstückelt dargestellten Körpers gehören mag. Diese Darstellungsweise lässt sich vermehrt im Horrorfilm beobachten. Statt den Unheimlichen in High Key und Großaufnahme zu zeigen, wählt der Horror einen Low Key Stil603 mit oft verkanteten Bildern von lebenden und dinglichen Einzelobjekten. „Radikaler ist nirgends das Wesen und die Erscheinung gleichgesetzt als im Horror-Genre.“604 Der moderne Horrorfilm bedient sich einer mittlerweile iko-
603 Dies wird noch durch im Bild motivierte die Sicht hemmende Witterungen unterstützt, wie Blitz, Nebel oder strömendem Regen. 604 Georg Seeßlen und Claudius Weil: Kino des Phantastischen. Geschichte und Mythologie des Horror-Films, Mit einer Filmografie von Peter Horn und einer Bibliografie von Jürgen Berger, Hamburg 1980, S. 128.
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nographischen Erzählweise des fragmentierten Gesichts.605 Denn der Antiheld des Films, das Monster, das Biest, der Unhold, aber auch das Opfer, die den Horrorstreifen ausmachen, müssen zunächst vom Zuschauer in der Imagination erschaffen werden und deshalb vorerst ein Schemen bleiben, den man nur von hinten sieht, partiell und im Dunklen agierend. Meist erst gegen Ende des Films, wenn überhaupt, ist das Monströse in seiner Totalität zu betrachten. Damit profitiert der Horrorfilm von der Darstellung eines Gebrochenen und bezieht einen seiner Reize aus dem nicht Dargestellten und Verborgenen. Keine körperliche Entität bildend, bleibt der Angreifer also zunächst zerstückelt in seiner Darstellung und wird dadurch zur Negation der realen Welt: „Durch eine Herztransplantation etwa wird ein Organ ersetzt, damit das Ganze, der Mensch, weiterleben kann. Im Horror-Film stirbt das Ganze, der Mensch, damit das Teil, das Gehirn, die Hände, die Augen etc., weiterleben kann. Allemal triumphiert das Teil 606
über das Ganze.“
In seiner Umkehrung der Lebensrealität ist der Horrorfilm einer Ästhetik der Vereinzelung, des Partiellen verbunden. Die partielle Darstellung einer untoten Hand, die sich aus dem Boden, zumeist einem Grab, erhebt und nach den Lebenden schnappt, erscheint uns also in die genrespezifischen Bedingungen des Horrorfilms fest eingebunden zu sein. Umso mehr mögen Textstellen auffallen, die sich vermehrt in Jelineks „Die Kinder der Toten“ wiederfinden lassen:
605 Was Filme anderer Genres zeigen, wie etwa der Fantasy- oder Science-Fictionfilm, der einen seiner Schlüsselreize aus der offenen Zurschaustellung des Besonderen und Ungewohnten erlangt und dies neben exotischen Orten zumeist aus seinen exzentrischen Figuren bezieht. Diese Gratwanderung der Genregrenzen durch die Darstellung des Außergewöhnlichen, lässt sich wohl am besten im Vergleich der Filme Alien und Alien II verstehen. Denn wenn auch alle Teile der Quadrologie dem Science-Fiction-Genre zuzurechnen sind, bedienen sich die jeweiligen Teile doch einer unterschiedlichen Subgenre-Ästhetik. Der Zuschauer sieht das Alien in Ridley Scotts Film kaum. Nur schemenhaft aufgenommen, bleibt das Alien kaum vorstellbar, wozu das Design H.R. Gigers noch verstärkend beiträgt. Unter James Camerons Regie, im zweiten Teil der Quadrologie, ist das Alien vermehrt und in einer weitaus mehr geöffneten Cadrage zu sehen. Scotts Film nimmt somit eine Ästhetik des Horrorfilms für sich in Anspruch, während Camerons Versuch sich dem Alien zu nähern klar dem Actionfilm zugeneigt ist. 606 Seeßlen und Weil: Kino des Phantastischen. S. 126.
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„Schon zerren und grapschen die Hände aus den Wänden nach der Studentin, schlagen sie auf, blättern sie durch, zerren an ihr, wo die Seele verborgen ist, die könnte man selber gut brauchen, doch woher nehmen und nicht stehlen. So: Gudrun rennt. Hände tasten nach ihr, und sie weiß nur: laufen! Es greift aus den Mauern nach ihr, sie spürt einen Lufthauch an der Wange […].“
607
Diese Zeilen wirken wie die Textualisierung einer Szene aus Polanskis Horrorfilm „Repulsion“ oder Klassikern des Zombiegenres. Es scheint in ihnen alles enthalten zu sein, was an genrespezifischen Inventar nicht fehlen darf: die gierige Lust Menschen zu töten, die flüchtende Frau, ein geheimnisvoller Lufthauch und natürlich die untote Hand. Die Idee eines autonomen Armes jedoch, der dem Grab entfährt und nach den Lebenden zu greifen versucht, ist motivgeschichtlich mitnichten filmischen Ursprungs.608 Bereits in einem Meisterlied von Hans Sachs aus dem Jahr 1552 findet das Motiv Verwendung.609 Ein toter Jüngling aus Ingolstadt greift darin aus dem Grab hinaus nach seiner Mutter, die er zu Lebzeiten stets misshandelt hatte. Erst nachdem die Mutter den Rat der beiden Autoritäten der Gemeinde, dem Arzt als der wissenschaftlichen und dem Pfarrer als der geistlichen Instanz, befolgt und die Hand des verstorbenen Kindes mittels einer Rute blutig geschlagen hat, verschwindet diese wieder. Analog hierzu findet sich in den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm das Märchen „Das eigensinnige Kind“. Der kürzeste Text der gesamten Textsammlung berichtet, ebenso wie Sachs Text, von einem ungehorsamen Kind, dessen Hand aus dem Grab auffährt und die erst durch eine posthume Züchtigung seitens der Mutter zu bändigen ist. „Es war einmal ein Kind eigensinnig und tat nicht, was seine Mutter haben wollte. Darum hatte der liebe Gott kein Wohlgefallen an ihm und ließ es krank werden, und kein Arzt konnte ihm helfen, und in kurzem lag es auf dem Totenbettchen. Als es nun ins Grab ver-
607 Jelinek: Kinder der Toten. S. 159. 608 Besonders hingewiesen sei hierbei auf Elisabeth Webers Aufsatz, der prägnant die wichtigsten Stationen der literarischen Motivgeschichte zusammenfasst. Siehe hierzu: Elisabeth Weber: Eigensinn, in: Rudolf Heinz, Dietmar Kamper, Ulrich Sonnemann (Hrsg.): Wahnwelten im Zusammenstoß. Die Psychose als Spiegel der Zeit, Berlin 1993, S. 105-113. 609 Vgl.: Johannes Bolte und Georg Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Bd. 2, Leipzig 1913-1932, Nachdruck Hildesheim 1963, S. 550.
248 | D IE Z ERSTÖRUNG DES I CHS senkt und die Erde über es hingedeckt war, so kam auf einmal sein Ärmchen wieder hervor und reichte in die Höhe, und wenn sie es hineinlegten und frische Erde darüber taten, so half das nicht, und das Ärmchen kam immer wieder heraus. Da mußte die Mutter selbst zum Grabe gehen und mit der Rute aufs Ärmchen schlagen, und wie sie das getan hatte, 610
zog es sich hinein, und das Kind hatte nun erst Ruhe unter der Erde.“
Auch wenn die Autoritäten der früheren Erzählungen ersatzlos verschwinden, bleibt doch das Narrationskonstrukt aus Schuld, Grabeshand, verwandtschaftlicher Beziehungen und Züchtigung erhalten. Die Grimms und Sachs sind denn dann auch nur zwei prominente Beispiele, die Teil einer massenhaften Verbreitung dieser Erzählung sind, die in immer wieder leichten Abwandlungen vorkommt. „(B)esonders im 17./18. Jahrhundert als Exempel über ungeratene Kinder in protestantischen und katholischen Predigtsammlungen“611 taucht das Bild der untoten Hand inflationär oft auf.612 Schon in der ersten Gesamtausgabe ihrer Märchen 1822 weisen die Brüder Grimm selbst darauf hin, dass es sich bei der Grabeshand eigentlich um eine gewandelte Figur eines anderen Topos handelt: „Das Herauswachsen der Hand aus dem Grabe ist ein weit verbreiteter Aberglaube und gilt nicht blos von Dieben, sondern von Frevlem an gebannten Bäumen, von Vatermördern. [...] Es ist nur eine bloße Veränderung der nämlichen Idee, wenn aus dem Hügel und Mund Begrabener Blumen oder beschriebene Zettel, ihre Schuld oder Unschuld anzuzeigen, wachsen. Es ist auch Sage und Glauben, daß dem, welcher seine Eltern schlägt, die Hand aus der Erde wächst [...].“
613
610 Brüder Grimm: Das eigensinnige Kind, in: dies.: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm, Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen herausgegeben von Heinz Rölleke, Bd. 2, Märchen Nr. 87-200, Kinderlegenden Nr. 1-10, Anhang Nr. 1-28, Stuttgart 2002, S. 156. 611 Hans-Jörg Uther: Handbuch zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. Entstehung – Wirkung – Interpretation, Berlin, New York 2010, S. 261f. 612 Siehe hierzu auch: Ernst H. Rehermann: Das Predigtexempel bei protestantischen Predigern des 16. und 17. Jahrhunderts. Göttingen 1977, S. 155. 613 Brüder Grimm: Anmerkungen 117, in: dies.: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm, Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen herausgegeben von Heinz Rölleke, Bd. 3, Originalanmerkungen, Herkunftsnachweise, Nachwort, Stuttgart 2002, S. 209.
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Die aufgereckte Hand, die eine Blumensymbolik verdrängt614, wird zum doppelten Symbol. Nicht nur bezeichnet sie eine begangene Schuld zu Lebzeiten, sondern auch die Unmöglichkeit Frieden im Jenseits zu finden. Mahnend ragt sie aus dem Grab und kann dabei Schuldhaftigkeit ebenso wie eine verwehrte Totenruhe anzeigen, die damit auch das christliche Heilsversprechen aufhebt. Der moralische Kontext findet folgerichtig oft in Predigten Anwendung. Aber auch in Märchen ist die untote Hand ein Symbol mit mahnender Funktion. Begangenes Unrecht, so die Lehre, wird noch über den Tod hinaus bestraft. Drohend wirken dementsprechend auch Schillers Worte im „Wilhelm Tell“, die zudem die von den Grimms angemerkte Verbindung mit gebannten Bäumen aufnehmen: „... die bäume seien / gebannt, sagt er, und wer die schädige, / dem wachse seine hand heraus zum grabe.“615 Aus ihrem narrativen Ursprung ebenso gelöst wie auch aus dem moralischen Kontext, erlangt die autonome Hand selbst Autonomiestatus und wird im Kino zur Bildikone. Doch ist die aufragende Grabeshand nicht einfach ein künstlerisch grausames Bild, das keine Verankerung in der Wirklichkeit hat. Wissenschaftlich lässt sich die aufsteigende Grabeshand, die sich prominent in einen popkulturellen Diskurs einschreiben wird, leicht erklären: „Das öfters im Zombie-Film verwendete Bild von Händen, die aus der Erde kommen, hängt auch damit zusammen: Die ‚schwarze Hand‘, die Hand eines Toten, die aus der Erde ragt, lässt sich dadurch erklären, dass man Leichen früher nicht immer in einem Sarg beerdigen konnte, das war eher etwas für wohlhabende Leute. Und wenn die Leiche nicht tief genug verscharrt war, dann konnte es geschehen, dass sie von einem Fuchs, Hund oder Wildschwein ein Stück ausgegraben wurde. Er bekam eine Hand zu fassen und zerrte daran. Doch durch die bereits fortgeschrittenen Verwesungsprozesse ließ er wieder davon ab, aber der Arm stach weiter aus der Erde heraus. Man deutete das dann als Zeichen dafür, dass die betreffende Person bei Lebzeiten ihre Hand gegen eine Autoritätsperson, beispielsweise ihre Eltern, erhoben habe.“
616
614 Auch wenn sie gelegentlich noch in modernen (phantastischen) Texten ihre Verwendung findet, etwa in J.R.R. Tolkiens „Lord of the Ring“. 615 Friedrich Schiller: Wilhelm Tell. Akt 3, Szene 3. Zitiert nach: Brüder Grimm: Anmerkungen 117. S. 209. 616 Interview mit Mark Benecke von Thomas Knieper und Florian Krautkrämer, in: Michael Fürst, Florian Krautkrämer, Serjoscha Wiemer (Hrsg.): Untot. Zombie Film Theorie, München 2011, S. 275-286, hier: S. 278.
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Auch wegen zu flach ausgehobener Gräber reicherten sich die selten in einem Sarg bestatteten Toten leichter mit Gasen an. Durch die Aufblähung des Körpers ragten dann Extremitäten aus den Gräbern hervor. Doch wurde die Hand aus dem Grab durch den von den Grimms erwähnten Aberglauben mit dem Verstoß gegen moralische Gesetzmäßigkeiten und dem Entzug einer seelischen Ruhe gleichgesetzt. Allerdings verliert sich somit auch die Symbolebene einer positiven Auslegung, wie es sie noch in der vorangegangenen Blumensymbolik gab. Konnten die Grabblumen auch Unschuld oder eine selige Totenruhe anzeigen, so ist die Grabeshand ein eindeutig negatives und beunruhigendes Zeichen. Auch Jelineks Text „Die Kinder der Toten“ weist eine Fülle an untoten Händen auf.617 Hände, die sich aus Gräbern, Teichen, Erdmassen und Wänden erheben und nach Menschen oder einfach nur zurück ins Leben greifen. Schon in der Schlusspassage des Prologs heißt es: „etwas faßt uns am Genick“618. Dieser lebensbedrohliche Griff an das Genick, dieses etwas, das nach dem unbestimmten uns greift, wird sich im weiteren Verlauf des Textes ganz unterschiedlich figurieren, denn Jelinek variiert das Thema der Grabeshand in verschiedenen Ausprägungen über den gesamten Text hinweg. So fragt etwa die Erzählerstimme: „Wächst ihr die Hand aus dem Gab (wie dem Kinde), daß man wenigstens weiß, wo sie bestattet ist?“619 Ist diese Textstelle sicherlich schon als Referenz auf das Grimmsche Märchen zu fassen, so bildet die prägnanteste Stelle hierfür allerdings jene Passage, die eine Paraphrasierung des Grimmschen Textes vornimmt: „Jetzt müssen sie aber Obacht geben, daß ihnen nicht auch noch die Hände oder Glieder aus den Gräbern wachsen. Keine Sorge: Da kommet dann wieder die Mama und schlägt mit der Gerte drauf. Es wird zwar frische Erde drübergeschüttet, aber die Hände, die Glieder kommen auch immer wieder aufs neue heraus. So drehen die jungen Burschen die alte Geschichte wie einen Spieß um und hauen ihre Mütter (das sind Frauen, die ihren Kindern den Weg in den Tod mit ihren eigenen Körpern zu verwehren suchen, aber die Kinder wollen den Tod, ach ja, köstlich, kühl, Firn! Wie ein Eukalyptusbonbon wollen sie der
617 Jelinek verweist in einem Interview direkt auf das Motiv der untoten Hand und das Grimmsche Märchen. Vgl. hierzu: Elfriede Jelinek im Gespräch mit Stefanie Carp: „Ich bin im Grunde immer tobsüchtig über die Verharmlosung“, in: Theater der Zeit, Mai/Juni 1996. Über: http://www.a_e_m_gmbh.com/wessely/fstab.htm. 618 Jelinek: Kinder der Toten. S. 13. 619 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 258.
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Mutter die Fut auslutschen, aus der sie schon einmal herausgeschmissen worden 620
sind!).“
Zitat und intertextuelle Bezüge sind – wie bereits gesehen – für Jelinek bereits in frühesten Texten von Bedeutung und Teil ihrer Schreibtechnik. Diese führen in letzter Konsequenz gar zur Entwicklung eigener künstlerischer Verfahren, wie dem Parasitär- und Sekundärdrama. Und auch wenn Jelinek damit kokettiert, dass ihre Texte an die Erinnerung des parasitär besetzten Textes gebunden sei621, so ist doch etwa bei der hier verhandelten Szene davon auszugehen, dass die wenigsten Leser den intertextuellen Bezug bemerken oder kennen. Doch Jelinek ergeht sich nicht einfach in selbstgenügsamer Zitation, die ihren Sinngehalt ohne den Prätext entbehren würde, sondern reichert ihre Texte mit Neukonnotationen an. Denn Jelineks Zitate sind keine Wiederholungen, sondern shifts. „Die Kontexte verschieben sich ständig und mit ihnen zugleich, was jeweils als „Text“ zu begreifen wäre.“622 In kleinen Veränderungen wird aus der reinen Wiederholung des Gesagten eine Weiterentwicklung des Zitierten. Dem historischen Auslöser untoter Horden, die sich aus ihren Gräbern erheben, wird etwa auch immer wieder ironisch im Text begegnet.623 Dem ältlich klingenden „Da kommet dann wieder die Mama“ des Prätextes erteilt sie eine klare Absage. Denn es passiert eben nicht „wieder“ das Gleiche und Altbekannte, auch wenn das Aufschütten der Erde zunächst im Textgefüge der Grimmschen Vorlage verbleibt. Heißt es bei den Grimms aber „immer wieder“ für das Erscheinen der Kindshand, erweitert Jelinek um ein „immer wieder aufs neue“. Dieses Neue, die Erweiterung, findet sich auch im weiteren Verlauf des Textes. Denn es ist nicht mehr nur ein ungehorsames Kind, es sind gleich mehrere junge Burschen, die ihre Hände aus dem Grab erheben. Auch zeigt sich in der Grimmschen Paraphrasierung, dass diese erweckte Meute nicht mehr einfach zu züchti-
620 Jelinek: Kinder der Toten. S. 286f. 621 Elfriede Jelinek: Das Parasitärdrama. Über: http://www.elfriedejelinek.com/ 622 Auch wenn Stanitzeks Aussagen sich auf „Wolken.Heim.“ beziehen, lassen sich seine These an dieser Stelle umso besser verwenden, zitiert Jelinek sich an dieser Stelle durch die Wiederholung des gleichen Motivs in „Die Kinder der Toten“ doch auch selbst. Georg Stanitzek: Kuckuck. S. 63. 623 Zur implizierten Ironie dieser Szene siehe: Andrea Albrecht: „So lustig ists später nie mehr geworden“. Anmerkungen zum Verhältnis von Erinnerung, Groteske und Ironie in Elfriede Jelineks „Die Kinder der Toten“, in: Claus Zittel und Marian Holona (Hrsg.): Positionen der Jelinek-Forschung. Beiträge zur Polnisch-Deutschen Jelinek-Konferenz, Olsztyn 2005, Bern 2008, S. 87-104, S. 94f.
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gen ist und sich keineswegs zurück in das Grab schicken lässt, um dort einen ewigen Frieden zu finden. Stattdessen kehrt sich das Bild um, dreht sich „die alte Geschichte“ wie ein „Spieß“, denn die Gewalt geht nicht mehr als mahnender – und im Kern liebevoller – Akt seitens der Mutter aus. Die Grimmsche Sensation eines Einzelnen wird bei Jelinek massenhafte Regelmäßigkeit, die im Weiteren wiederholt und noch gesteigert wird und außerdem einen gewalttätigen Impetus trägt: „Wütend zerren derweil ein paar Millionen Tote an ihrem Deckel, dem Rauch. […] Tote Bergsteiger, begraben im unbekannten Land der Spalten, Trümmer des Lebens blicken durch die Seitenfenster auf das blühende Leben selbst […]. Man könnte dann glatt die Erde aufreißen wie die Wolken, wenn der Blitz sie spaltet. Einmal auf der Rasenfläche ins Helle fahren!“
624
Jelineks Bilder evozieren hier sowohl den Untoten einer filmischen als auch literarischen Tradition, doch erweitert sie diesen noch. Der „Rauch“ als Zeichen der verbrannten KZ-Opfer sowie als literarische Figur, etwa in Celans „Todesfuge“625, überführt das Bild des Aufsteigens des Untoten endgültig zu einem apokalyptischen, weil totalen Bild. Die ganze Szenerie der heimeligen österreichischen Alpenlandschaft wird mit untoten Blicken in ein Unheimliches überführt, in dem auch die Untoten nicht mehr nur der Erde, sondern auch dem Himmel entsteigen. Es ist dies ein wiederkehrendes Bild, in dem realitätskonstituierende Hierarchien außer Kraft gesetzt werden: „unten, das jetzt durch eine Laune der Schwerkraft ein Oben ist“626. Auch sind es nicht mehr nur Hände, die sich aus den Gräbern, der Erde und dem Wasser erheben. Sie sind nur die dunklen Vorboten einer allumfassenden Totenerweckung:
624 Jelinek: Kinder der Toten. S. 132f. 625 Zitate auf und von Celan erfolgen an gleich mehren Stellen und dies nicht nur in „Die Kinder der Toten“. Mit dem Zitieren von Celan in Jelinektexten haben sich bereits mehrere wissenschaftliche Arbeiten beschäftigt. i.A.: Marlies Janz: Das Verschwinden des Autors. Die Celan-Zitate in Elfriede Jelineks Stück Stecken, Stab und Stangl, in: Hans-Michael Speier (Hrsg.): Celan-Jahrbuch 7, Heidelberg 1999, S. 279-292. – Nancy C. Erickson: Echoes of Celan and Heidegger in Jelinek’s „In den Alpen“, in: Margarete Lamb-Faffelberger und Matthias P. Konzett (Hrsg.): Elfriede Jelinek. Writing Woman, Nation, and Identity. A Critical Anthology, Madison, NJ 2007, S. 174-188. 626 Jelinek: Kinder der Toten. S. 89.
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„Doch da sind Gesichter, die unter Edgars Fußbreite aufwachen, immer mehr Gesichter, die aus dem Gras hervorwachsen wie modrige Pilze, die sich aufgeblasen haben schon fährt Edgar über ihre Engelssamen. Gerade hat er einem Frauengesicht die rechte Wange zerrissen, und es verwandelt sich unter Druck in das eines Mannes. […] Doch da entsteht schon ein neues Gesicht, mit schmerzlich gerunzelter Stirn, als zöge jemand es an den Haaren aus dem Boden heraus, um es mit den Gliedern wiederzuvereinigen. […] Die Glieder kommen zu den Gliedern, zur Einigung. Im Boden will kein Gesicht zurückbleiben, aber dermaßen schmerzhaft haben sie sich ihre Liftfahrt nicht vorgestellt, die Gesichter sind ja bis zur Unkenntlichkeit verzerrt! Den eigenen Bruder würde man nicht erkennen, und der ist doch auch da! Auch er ein Stück vom meilenweit rotgefärbten Himmel. Endlos ist die Masse der Menschen, die den Boden verlassen wollen. Und alle sehen sie äußerst gequält aus.“
627
Die Hofmansthalschen modrigen Pilze zitierend, verweisen diese nicht nur auf einen Zusammenbruch der Dichotomie von Signifikat und Signifikant im Ausbruch des Untoten, sondern in einer Volte auch auf den allumfassenden Befall. Doch der Befall wird zum Verfall. Denn wie schon dem Verfasser des ChandosBriefes die Wörter wie modrige Pilze im Mund zerfallen und damit das vermeintlich feste Sprachinventar, so zerfällt in der Auferstehung der Toten die Dichotomie der Geschlechtergrenzen. Das binäre System von männlich/weiblich wird verlassen und geht über in eine „Unkenntlichkeit“ der Verzerrung, in der man nicht mal mehr „(d)en eigenen Bruder“ erkennen könnte. Gekoppelt ist dies immer wieder an gewalttätige Bilder, etwa an das Zerreißen der weiblichen Wange und den „Druck“. Dass die Untoten im weiteren Verlauf den Elementen Wasser, Erde und Luft entsteigen und das beschriebene Szenario als „Endlos“ und als eine Bewegung der „Masse“ beschrieben wird, potenziert die Wucht des Einbrechens einer untoten Macht. Die jungen Männer sind die Gewaltausübenden. Ihre Motivation ist in Jelineks Text stark sexuell konnotiert, die Anspielung auf den Ödipuskomplex und den Todestrieb sind klar erkennbar. Dabei sind die psychologisierenden Momente keine Eigenart von „Die Kinder der Toten“. Bereits die Prätexte enthielten klar moralische Botschaften. Doch eröffnet sich fernab rein deskriptiv genealogischer Betrachtungen durch eine psychoanalytische Lesart ein bis dahin verborgener Aspekt, der sich in der untoten Hand zu sammeln vermag. In seinen Überlegungen zu autonomen Körperteilen verbindet Žižek die Deleuzeianischen organlosen Körper mit Lacans Idee des zerstückelten Körpers
627 Jelinek: Kinder der Toten. S. 198f.
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und eröffnet damit ein interessantes und fruchtbares Spannungsfeld zwischen den beiden scheinbar unvereinbaren Denkern: „Die selbstständig handelnde Hand ist der Trieb, der die Dialektik des Begehrens des Subjekts ignoriert. Der Trieb ist im Grunde das Insistieren eines untoten Organs ohne einen Körper, das wie Lacans Lamelle für das steht, was das Subjekt verlieren mußte, um sich 628
selbst im symbolischen Raum der sexuellen Differenz zu subjektivieren.“
Schon in dieser kurzen Passage wird die enge Verbundenheit zu Lacans bekanntestem Text über das Spiegelstadium klar. In der Subjektivierungsphase des Individuums, das durch diese Umbildung erst zum Subjekt wird, ist ein Moment des Betrugs ebenso enthalten wie eine Relativierung des Subjekts im symbolisch-zeichenhaften Raum. Durch den Übergang in einen zeichenhaften Kontext verliert das Subjekt nach Lacan Anteile des eigenen Selbst, weil der Zeichenkosmos nie dazu in der Lage ist, das zu Beschreibende in Gänze zu erfassen und notwendigerweise relativiert und simplifiziert. Das im Spiegelbild gewonnene Ideal-Ich, das sich das Individuum ausbildet, wird zur narzisstischen Folie. Sich in der Realität bewegend kann sich das Subjekt, außer in spiegelnden Flächen, nie in seiner Totalität sehen, wodurch jeder Blick in den Spiegel für Lacan eine Vergewisserung des eigenen Ichs symbolisiert, dem aber auch immer ein Moment des Mangels anhaftet, bleibt das Bild doch pure Imago. Das nur fragmentarische Erleben des eigenen Körpers und das trügerische (Selbst-)Bild des Ichs führen zu Lacans These des zerstückelten Körpers. Auch diese These ist sehr stark an eine frühkindliche Phase des Menschen gebunden, ist der Mensch in der ersten Periode seines Lebens doch nicht in der Lage, die ihn umgebenden Menschen als Einheiten zu verstehen.629 Vielmehr unterteilt sich die Umwelt noch in Partialobjekte. Auch Žižek verwendet den von der Kleinschen Schule geprägten Begriff des Partialobjekts, der in sich schwierig ist und der Erklärung bedarf. Zunächst übernimmt Karl Abraham den Freudschen Begriff des Partialtriebes der schließlich von Melanie Klein als Partialobjekt umgedeutet und in seiner diskursiven Bedeutung geprägt wird. Die Schule nach Klein sieht in Fortsetzung Freuds das Partialobjekt immer als ein dem Körper entstammendes Triebobjekt an. Somit
628 Žižek: Körperlose Organe. S. 238. 629 Und sich natürlich auch nicht, da sich das Ich erst noch im Spiegelstadium ausbilden muss. Ohne ein Ich kann es folglich kein Du geben. Vgl.: R. D. Hinshelwood: A Dictionary of Kleinian Thought. London 1991, 2. überarbeitete Auflage, London 1991, S. 378-380.
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führt der Penis zu einer Kastrationsangst oder die mütterliche Brust, teilt sich in eine gute und eine böse Seite auf. Lacan sieht in Abgrenzung zu diesen Studien das Partialobjekt, als ein in jeder Objektbeziehung wirksames. Die Abgrenzung zu Kleins Thesen erkennend, verifiziert Žižek in einer Fußnote: „Das Organ ohne Körper als Partialobjekt ist nicht das Kleinsche Partialobjekt, sondern das, was Lacan in seinem Seminar XI als das Triebobjekt beschreibt: der erotisierte (libidinös besetzte) Teil des Körpers, der nicht mit dem Körperganzen vereinbar ist, sondern 630
der aus ihm herausragt und sich seiner Integration in das Körperganze widersetzt.“
Während Klein von einer Entität des Körpers aus denkt und jede Loslösung von dieser Einheit als Partialobjekt bestimmt, sieht Lacan das Moment des partiellen in der Funktion des Partialobjekts begründet. Partiell „nicht weil sie ein Teil eines ganzen Objekts (der Körper) sind, sondern weil sie nur partiell die Funktion darstellen, die sie produziert.“631 Das hier angesprochene produzierende Moment ist natürlich der Trieb. Dies führt zu der Festlegung, dass jeder Trieb mangelhaft funktioniert und somit Partialtrieb ist, weil das begehrte Objekt nie das angestrebte Objekt darstellt632 und folglich ein Partialobjekt ist. Das heißt, dass jedes Objekt in der Objektbeziehungstheorie nach Lacan ein Partialobjekt werden kann. Lacan distanziert sich insofern von Kleins Thesen, als dass er weniger einen biologischen Ansatz vertritt, als vielmehr einen linguistischen, was sich durch die Bedeutung der Sprache in seiner Triebtheorie ergibt und besonders für eine geisteswissenschaftliche Analyse von Bedeutung ist. In seiner Erweiterung der Partialobjekte, die keinen biologischen Ansatz haben wie der Laut, die Stimme oder der Blick, erkennt Lacan das nicht spiegelbare Moment der Zeichenwelt, das sich deshalb auch nicht zu den narzisstisch gebildeten heilen Idealkörper des Spiegelstadiums subsumieren lässt und somit einen Überhang im Raum des Realen schafft.633 Bezog Freud sich in seiner Konzeption des
630 Žižek: Körperlose Organe. S. 239. 631 Lacan zitiert nach Evans: Wörterbuch S. 216. 632 In seiner Beschäftigung mit dem Objekt klein a, wird Lacan das Modell des Partialobjekts stärker eingrenzen, wodurch dieses jedoch auch an subversiver Stärke einbüsst. Vgl. hierzu: Jacques Lacan: Seminar 11, S. 96. 633 Das Partialobjekt bildet eine der schwierigsten und undurchdringlichsten Stellen im psychoanalytischen Apparat. Zunächst von Freud als Partialtriebe verstanden, braucht er fünf Kapitel, bis er das erste Mal von ihnen in „Jenseits des Lustprinzips“ spricht. So ist für Freud etwa der Penis ein Partialobjekt, weil dieser als vom ganzen Körper abtrennbares Objekt fungieren kann. Schon zu Lebzeiten für Diskussionen
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Es bereits stark auf Schopenhauers Ding-an-sich, das dieser von Kant übernahm634, kann Lacan in dieser Traditionslinie verstanden werden, die er mit seiner Idee des Realen aufgreift und strukturalistisch ausformt.635 In der Auflösung des Körpers, der nicht mehr einer Entität entspricht, sondern als organloser Körper, als Partialobjekt funktioniert, schafft es Jelineks Text sich aus dem Topos der schönen Leiche zu befreien. Versuchten die Frauen in „Krankheit oder Moderne Frauen“ einem patriachalen Machtgefüge zu entkommen und eine Spieglung auch auf einer zeichenhaften Ebene mit Hilfe des Schweigens zu umgehen, so blieben sie, obwohl bereits im phantastischen Raum angesiedelt, Einheit. Denn obwohl die Frauen des Dramas eine Werdung vollziehen, ist es doch ein Einheitlich-Bleiben. Die untote Hand aus dem Grab hingegen zeigt eine Konzeption des Werdens, die auch ein unheimliches Uneinheitlich-Werden anzeigt. Es ist die Verweigerung eines Einheitlich-Seins, die sich auch auf einer poetologischen Ebene ausmachen lässt und die den zu beschreibenden Riss in der Realität literarisiert. Verweist die autonome Hand als losgelöste Extremität immer auch auf den fehlenden Körper, so sind es die in Jelineks Text vorkommenden Haarberge, die eine zweite prominente Darstellung des zerstückelten Körpers darstellen. Nicht nur tauchen selbige am Ende des Textes als der phantasmatische Kern von „Die Kinder der Toten“ auf, sie figurieren zudem als Chiffre von Auschwitz.
sorgend, wurden die hier erwähnten Stellen jedoch nie von Freud verändert, was rezeptionsgeschichtlich für sein Werk durchaus erwähnenswert ist. Doch trotz vielerlei Diskussion und mangelnder Akzeptanz leitete der Terminus doch eine höchst fruchtbare Debatte ein. Von Melanie Klein wird in Relektüre Freuds erstmals der Begriff des Partialobjektes geprägt. Lacan bestimmt den Kleinschen Begriff in seiner Neuinterpretation der vier Grundbegriffe schließlich um, als das „Organ, das der Libido einen Körper verleiht“, als Lamelle. Analog zu der eben beschriebenen Debatte um den Partialtrieb und das Partialobjekt verläuft auch die Debatte um die Lacansche Lamelle. Für einen kurzen Überblick siehe: Slavoj Žižek: Lacan. S. 86f. – Jean Laplanche und Jean-Bertrand Pontalis: The Language of PsychoAnalysis, übers. von Donals Nicholson-Smith, London 1973, S. 244f. 634 Günter Gödde: Traditionslinien des „Unbewußten“. Schopenhauer – Nietzsche – Freud. Tübingen 1999. 635 Vgl.: Benjamin Jörissen: Beobachtungen der Realität. Die Frage nach der Wirklichkeit im Zeitalter der Neuen Medien, Bielefeld 2007, S. 77.
Die Chiffre der Haare And I feel I´m being eaten by a thousand million shivering furry holes. THE CURE „LULLABY“
In „Die Kinder der Toten“ wird aus dem fest konnotierten Objekt Haarberg, als Sinnbild der Konzentrationslager, ein unheimliches Objekt636, das sich in der weiteren Analyse als das Kristevasche Abjekt erweisen wird. Dabei zeigt sich das menschliche Haar, analog zu der autonomen Hand, zunächst als ein vom Individuum befreites Objekt: „Sie dreht sich um: auf ihrem Stuhl wächst ja Haar! Es wächst an dem auf rustikal zurechtgeschusterten Massenfabrikat eines Gasthauses ein Fleck, ein Büschel kurzen, weichen schwarzen Haares. […] man sieht nicht […], ob Tier oder Mensch dieses Weichteil hinterlassen hat – ist ja bloß ein kleiner formloser Fleck –, eindeutig ein Haarteil. Dieser weiche Klecks, der einmal auf Lebendigem gewachsen ist, er ist wesenhaft mehrdeutig, er zielt nicht auf ein bestimmtes Leben hin, er könnte ja jedem Leben gehört haben. Und wie keinem Leben wendet Karin sich dieser Mini-Perücke zu. Sie ist sich sicher, daß das nur 637
ein Stück haariges Holz ist, und davon geht keine Gefahr aus.“
Durch die verloren gegangene Anbindung an einen lebendigen Träger, überträgt der Text das Haar in den Bereich des Unheimlichen. Die Haare rücken in den Bereich des Unbestimmbaren und korrespondieren/verschmelzen dabei mit dem leblosen Träger, dem massenhaft produzierten Stuhl, auf dem es erscheint. Indifferent zwischen Mensch und Tier changierend wird das Haar wesenhaft mehr-
636 Haar als Teil einer unheimlichen Komposition fand sich bereits in „Wolken.Heim“. Vgl. hierzu: Jelinek: Wolken. Heim. S. 22. 637 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 221.
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deutig. In der Wendung wie keinem Leben ist bereits klar, dass das Haar wie bereits der untoten Hand untotes Leben zu eigen ist. Die Gefahr des Haares negierend, betrachtet Karin das unheimliche Haar jedoch wie ein surreales Objekt. Und wirklich erinnert das haarige Holz an Werke, wie das „Déjeuner en fourrure“, von Meret Oppenheimer oder das „Téléphone-homard ou Téléphone aphrodisiaque“ von Salvador Dalí, das seine besondere Wirkkraft durch den Neokonnex zweier entgegengesetzter Materialen erreicht, also die Enttextualisierung seiner früheren Bedeutungsträger. Wollten die Surrealisten mit ihren Werken aber ein Spiel des Traums und der zweckfreien Assoziationen wecken, so verweisen die Haare in „Die Kinder der Toten“ zwar auch auf eine Über-Realität, diese verbindet sich jedoch in ihrer Bedrohlichkeit mit dem Raum des Unheimlichen. Denn Karins Hoffnung, dass von den Haaren keinerlei Gefahr ausgehe, wird sich im weiteren Verlauf des Textes nicht bestätigen. Dabei ist eine Wandlung der Bedrängnis, die von dem autonomen Haar ausgeht, zu erkennen: Eine seidenhafte Landmasse von Haar verspinnt sofort alle Türen, versperrt die Ausschlupfe. Diese Frau scheint beinahe wieder ihre Naturhaarfarbe zu besitzen, Donnerwetter. Es ist Honigblond Nr. 3 von l`Oréal, etwas das eine Firma zu äußerster Helligkeit 638
und ein für allemal geklärt hat.
Mit der ironischen Anspielung auf eine Färbung, wird der Schrecken zunächst gebrochen, die Unnatürlichkeit des Haares jedoch bestätigt.639 Schon an dieser Textpassage ist zu erkennen, dass dem Haar ein eigener Wille zugesprochen wird, der die Protagonisten einspinnt und an einer Flucht hindert. Das Haar der Toten und Haar als generell totes Material erscheinen in ein untotes und destruktives Wesen verwandelt. Besonderen Schrecken erlangt das Haar durch diese Beseeltheit und dadurch, dass seine enorme Verbreitung es gar zu einer Landmasse werden lässt. In der Folge wird sich die Chiffre der Haare immer mehr emanzipieren:
638 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 269. 639 Eine Anspielung auf die Attraktivität des Haares, die sich aber auf eine künstliche Färbung zurückführen lässt, findet sich bereits in „Die Liebhaberinnen“. In dem Kapitel „was ist das, was da so leuchtet“, entpuppt sich das bewunderte Haar von Brigitte als Kunstprodukt. Das gefärbte Haar soll ihren Warenwert gegenüber dem Mann steigern und die Schönheit der Natur übertreffen. Vgl.: Jelinek: Die Liebhaberinnen. S. 21.
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Und dann dieses Gespinst!, das hauptsächlich verantwortlich ist für unsere Schönheit, weshalb wir das richtige Shampoo samt Spülung wählen sollten: Ist das nicht Haar? Dort kommen Blut und Haar aus der Zimmerdecke herabgeschossen, Tentakeln einer grundlegend andren Existenz. Oh je, menschliche Masse, die gleichzeitig jedes menschl. Maß sprengt, ist in dieses Fernsehzimmer eingeleitet worden und tritt langsam aber sicher über die Ufer. Wer hätte gedacht, daß das, was auf dem Bildschirm dem Höchsten unserer Brüder geschieht, auch uns geschehen und das Gesehene sogar an Unterhaltungswert noch schlagen könnte?
640
War das Haar zunächst nur ein unheimlicher Befall, das gleich den anderen Objekten weder nützen noch schaden würde, entwickelt sich nun die Macht des untoten Haares. Das Haar als Gespinst, phonetisch nahe am Gespenst, verliert seine Funktion als Symbol der Schönheit. Es verbindet sich im unheimlichen Raum mit Blut. In dieser Verbindung, der Wucht seines Auftretens und seiner Tierhaftigkeit bestätigt sich seine grundlegend andre(n) Existenz. Das untote Haar, das auch ohne den menschlichen Träger existieren kann, erreicht untote Autonomie und Intelligenz, die ihm ironisch zugeschrieben wird, da es „dicht am Gehirn gewohnt und sicher etliche Geheimnisse aufgeschnappt“641 hat. Im weiteren Verlauf „fällt das Haar überall aus der Decke“642 und bemächtigt sich der Räume. Kurz vor dem Ende erscheint die unheimliche Chiffre erneut: Wir graben weiter, die stählernen Schaufeln wühlen sich voran und stoßen auf ein Zei643
chen: Haar.
In einer Paraphrasierung von Celans „Todesfuge“644 quillt das Haar nun aus dem Boden hervor.645 Diente das goldene und das aschene Haar bei Celan aber noch
640 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 404. 641 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 405. 642 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 404. 643 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 665. 644 Zu Celans Bedeutung für das Schreiben Elfriede Jelineks vgl. in Auswahl: Janz: Verschwinden des Autors – Mario Lechner: Sich erinnern bedeutet sich erkennen! Canetti und Celan in Jelineks „Stecken, Stab und Stangl“ in: József Tóth (Hrsg.): Sprache(n) und Literatur(en) im Kontakt. Beiträge der internationalen Konferenz 6.7. November 2003, Wien 2005, S. 239-246, (Acta Germanistica Savariensia, 9) – Nancy C. Erickson: Echoes of Celan and Heidegger in Jelinek`s “In den Alpen”, in: Margarete Lamb-Faffelberger/Matthias P. Konzett (Hrsg.): Elfriede Jelinek. Writing Woman, Nation and Identity. A Critical Anthology, Madison, NJ 2007, S. 174-188.
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der Gegenüberstellung der biblischen Sulamith mit dem literarischen Gretchen646 oder der allegorischen Gegenüberstellung der Synagoga und der Ecclesia647, so ist das untote Haar in Jelineks Text längst zu einer autonomen Masse geworden. Darin liegt die Möglichkeit, wieder Zeichen zu werden und sich zwar kultureller Konnotationen bewusst zu sein, jedoch auch neue Bedeutungen zu erschließen. Das Graben, wörtlich verstanden als der Foucaultsche Akt einer Archäologie der Bedeutungen, birgt die Zuversicht, auf tatsächliche Zeichenträger zu stoßen. Und so ist es auch das Haar, das am Ende von „Die Kinder der Toten“ einen Hoffnungsraum eröffnet: „Haar. Haar. Und dort auch alles: Haar! Gelegentlich drückt mans flüchtig wie eine Hand, läßt es durch die Finger laufen wie ein Seil: Führt es uns vielleicht in die Ewigkeit, die wir 648
schon lange einmal besichtigen wollen?“
Zwar umweben die untoten Haare am Ende des Textes den gesamten Raum und quellen in Unmengen aus dem Boden hervor, doch geben sie auch eine Hoffnung auf Ewigkeit. So dient das Haar am Ende von „Die Kinder der Toten“ wie der Ariadnefaden als Wegweiser aus dem Labyrinth, aus einem Labyrinth der Sprache, die ihre wahre Bedeutung schon längst eingebüßt hat. Obwohl diese Überlegungen am Ende des Jelinekschen Textes stehen, erlebt der Leser doch zunächst den Irrgarten eines phantasmagorischen Raums. In ihm wirken untot die autonomen Körperteile. Wurde dieser Raum bereits als dem Realen zugehörig definiert sind es doch die einzigen Entitäten, die unheimlichen Untoten, die sich scheinbar jeder Kategorisierung entziehen. Als Figuren die „zwischen zwei Toden“ angesiedelt sind, verweisen auch sie auf eine Restrukturierung des Ichs, die bereits Heidegger als ein Erkennen in Angst definierte. Im Begriff des Abjekts, wie ihn Kristeva definiert, lassen sich die gewonnenen Erkenntnisse zur Angst, dem Unheimlichen und den zerstückelten, autonomen Körperteilen bündeln. Der Untote erscheint somit als ein Abjekt, das sich im
645 Neben Celan findet sich die Chiffre der Haare, als Bild der Vernichtung der Juden, auch in Ingeborg Bachmanns Gedicht „Curriculum Vitae“ wieder. 646 Auch die Antipoden von Lebendig und Tot oder Hell und Dunkel kommen zum Ausdruck. 647 Das antisemitische Bild der beiden Frauenfiguren, die um den wahren Glauben miteinander kämpfen, findet sich oft als Figuren an christlichen Kirchen. Auch Jelineks Text nimmt an anderer Stelle den Kampf der konkurrierenden Frauen auf. Vgl. hierzu: Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 365 und S. 585f. 648 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 665.
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Raum des Phantasmas bildet und sich jeglicher Kategorisierung zu entziehen versucht.
Das Abjekt verstanden als Moment der Selbstbewusstlosigkeit If I had a world of my own, everything would be nonsense. Nothing would be what it is, because everything would be what it isn’t. And contrary wise, what is, it wouldn’t be. And what it wouldn´t be, it would. You see? LEWIS CARROLL „ALICE’S ADVENTURES IN WONDERLAND”
Julia Kristeva führte durch ihren 1980 publizierten Text „Pouvoirs de l'horreur. Essai sur l'abjection“ den schon im Titel angelegten Begriff der Abjektion ein in den wissenschaftlichen Diskurs. Ins Englische übersetzt und als „Powers of Horror“ veröffentlicht, entwickelte sich der Kristevasche Text zu einem der weltweit meistzitierten Forschungstexte der letzten Dekaden.649 In der französischen wie auch der englischen Sprache gehört das Adjektiv abject bereits zum allgemeinen Sprachgebrauch und bedeutet soviel wie niedrig, verworfen oder gemein. In deutscher Sprache zählen das Abjekt, abjektiv oder die Abjektion nicht zum allgemeinen Wortschatz. Die Wortbedeutung lässt sich neben dem Französischen oder Englischen auch aus dem Lateinischen erklären. Mit den Wörtern abicere/wegwerfen und abiectum/weggeworfen eröffnet sich der Sinngehalt. In Deutschland bleibt indes eine Beschäftigung mit der These des Abjekts bisher weitestgehend Desiderat:650 649 Einen sehr guten Überblick über jene Texte, die allein schon den Begriff des Abjekts im Titel tragen, gewährt Menninghaus im Zuge seiner Ekelabhandlung. Vgl. hierzu: Winfried Menninghaus: Ekel. S. 516f. 650 In der Jelinekforschung liegen nur vereinzelt Texte vor, die den Begriff des Abjekts fruchtbar machen. Siehe hierzu: Susanne Böhmisch: Le sujet de l’abjection. Etude
264 | D IE Z ERSTÖRUNG DES I CHS „In Deutschland, wo es bis heute keine Übersetzung von Kristevas einflußreichen Buch gibt, ist das ‚Paradigma‘ der Abjektion nicht anders angekommen als manche andere theoretische Entwicklung der zurückliegenden Dekaden: als der verspätete Reflex einer US651
amerikanischen Rezeption einer französischen Intellektuellen.“
Dabei vermag es der Begriff der Abjektion, eine wissenschaftliche Lücke zu schließen. Nah an den Thesen Lacans gelingt es Kristeva das Modell des triadischen Systems aus Realem, Imaginärem und Symbolischem zu erweitern, insbesondere gilt das für die Kategorie des Realen. Bereits im ersten Kapitel mit dem Untertitel „Neither Subject nor Object“ unternimmt Kristeva eine bedeutungsschwere Definition des Begriffs: „The abject has only one quality of the object – that of being opposed to I.“652 Die von Kristeva betonte Objektlosigkeit des Abjekts hat freilich auch mit dessen Vorkommen im Raum des Realen zu tun. An dieser Stelle sind Kristevas theoriehistorische Verbindungslinien in die psychoanalytische Schule gut erkennbar, denn bereits Freud bemerkt in seinen Ausführungen zur Angst: „Der Angstaffekt zeigt einige Züge, deren Untersuchung weitere Aufklärung verspricht. Die Angst hat eine unverkennbare Beziehung zur Erwartung; sie ist Angst vor etwas. Es haftet ihr ein Charakter von Unbestimmtheit und Objektlosigkeit an; der korrekte Sprachgebrauch ändert selbst ihren Namen, wenn sie ein Objekt gefunden hat, und ersetzt ihn 653
dann durch Furcht.“
Ist also die Furcht eine Affektreaktion auf ein Objekt, so ist die Angst durch Objektlosigkeit gekennzeichnet. Der Freudschen Unbestimmtheit setzt Kristeva den Begriff des Abjekts entgegen. Ihr gelingt es, damit eine logische Lücke im Ver-
narrative sur l’instance narrative dans Die Klavierspielerin d’ Elfriede Jelinek, in: Cahiers D’Etudes Germaniques 38 (2000), Nr.2, S. 135-145. – Susanne Böhmisch: Jelinek’sche Spiele mit dem Abjekten, in: Francoise Rétif und Johann Sonnleitner (Hrsg.): Elfriede Jelinek. Sprache, Geschlecht und Herrschaft, Würzburg 2008, S. 33-45. 651 Menninghaus: Ekel. S. 518. 652 Julia Kristeva: Powers of Horror. An Essay on Abjection, übers. von Leon S. Roudiez, New York 1982, S. 2. 653 Sigmund Freud: Hemmung, Symptom und Angst, in: ders.: Studienausgabe. Sexualleben, Bd. VI, hrsg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey, Mitherausgeber des Ergänzungsbandes Ilse Grubrich-Simitis, Frankfurt a. M. 2000, S. 227-294, hier: 228.
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ständnis Freuds zu schließen. Bereits Lacan bemängelte in seinem Seminar zur Angst, „dass diese Charakteristik, objektlos zu sein, unhaltbar ist.“654 Lacan wie auch Kristeva sehen in der Angst das Erscheinen eines Objekts, das vom Subjekt nicht als Objekt definiert werden kann, das im Raum des Nichtsymbolisierten/Nichtsymbolisierbarem verortet werden muss.655 Denn erst die Übertragung des Dings in eine Signifikantenrealität lässt das Objekt als Objekt erscheinen. Doch in der Übertragung geht auch immer ein Teil des Objekts verloren. Die (vermeintliche) Bestimmtheit des Objekts löst sich folglich im Realen, also dem Raum des Untoten, auf. Diesem wohnt aber auch immer die Gefahr inne, auf die Signifikantenwelt rückzuwirken. „Dieses Reale (der Teil der Realität, der unsymbolisiert bleibt) kehrt in Gestalt der spukhaften Erscheinungen wieder.“656 Entzieht sich das zu beschreibende Objekt oder erweist sich als nicht symbolisiert bzw. nicht symbolisierbar, ist es der Bereich der Angst und des Ekels, der das Auftauchen des Nicht-Objekts oder im Kristevaschen Sinne des Abjekts im Raum des Realen ermöglicht. Diese Gegenüberstellung der Signifikantenrealität als Raum des Objekts mit dem Raum des Realen betont bereits Lacan: „Allein der Grundbegriff Reales in der opaken Funktion, über die ich spreche, um ihr die des Signifikanten gegenüberzustellen, gestattet uns eine Orientierung. Wir können bereits sagen, dass dieses etwas, wovor die Angst als Signal tätig wird, zur Ordnung des Irreduziblen des Realen gehört. In diesem Sinne habe ich vor Ihnen zu formulieren gewagt, dass die Angst von allen Signalen dasjenige ist, welches nicht täuscht. Reales also, ein irreduzibler Modus, unter welchem dieses Reale sich in der Erfahrung darstellt, solcher Art ist das, wovon die Angst das Signal ist.“
657
Lacan insistiert an dieser Stelle erneut auf der Opposition der realen Ebene gegenüber der symbolisierten und imaginären Ebene des menschlichen Erlebens. Während sich die Furcht immer auf ein Objekt bezieht, markiert die Angst den Affekt auf ein irreduzibles Nicht-Objekt, das Lacan noch unbestimmt als ein „etwas“ bezeichnet und Kristeva nicht mehr als das Freudsche Objektlose betrachtet, sondern ihm den Namen Abjekt verleiht.
654 Jacques Lacan: Die Angst. Das Seminar, Buch X, 1962-1963, übers. von HansDieter Gondek, Wien 2011, S. 198. 655 Auch Meyer-Sickendiek sieht in seiner Affektpoetik die Trias aus Freud, Lacan und Kristeva im Ekel walten. Vgl.: Meyer-Sickendiek: Affektpoetik. S. 459. 656 Žižek: Die Metastasen des Genießens. 181. 657 Lacan: Angst. S. 201.
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Wie das Objekt kann das Abjekt zunächst also in seiner Opposition oder Verhältnismäßigkeit zum Ich verstanden werden, das selbiges in der Angst erfährt, die im Ekelgefühl noch gesteigert wird. Die Grenze zwischen dem Ich und seinem Außen ist dabei von ganz besonderer Bedeutung, leitet sie doch zu einer triadischen Unterscheidung von Subjekt, Objekt und Abjekt hin. Denn während dem Objekt ein Moment des Sinns innewohnt, das immer in Dialektik zum Subjekt steht, ist das Abjekt weder der symbolischen Ebene noch der symbolisierten Realität zugehörig, also nicht objekthaft und verweigert sich demgemäß nicht nur der Symbolisierung, sondern auch einer Interaktion mit dem Subjekt. Der Entzug der Bedeutungsebene ist derselbe, der er in Jelineks Text immer wieder dargestellt wird: „Es ist alles in Ordnung, versichere ich Ihnen, beide, Mann, Frau, sind gleichermaßen an der Sache beteiligt, unterstellen Sie mir nichts, sonst nehm ich Ihnen Ihr Dach weg! Tusch! Mit dem Mund blasen! Tuscheschwarz das Drahthaar, in dem der Mann seine Lippen vergräbt, dann sein Gesicht, ein unbotmäßiges Spielzeugauto, es scheint soeben gestartet zu sein, in Gudruns Doppelgängerin hinein, und diese Zweitgudrun trommelt und strampelt was ihr Zeug hält. Dieses Spiel ist nicht verfehlt, da hat sich keine Irrgängerin einer Kugel aus dem Flipper heraus und in die Schläfe, den Rachen, das Genick heinein658
geschleudert: Es geht eine Träne auf reisen, tralala.“
In rasch aufeinanderfolgenden Perspektivwechseln, die nicht selten auch einen Wechsel der Erzählerinstanz mit sich ziehen, verweigert sich der Text permanent einer eindeutigen Sinnzuschreibung. In losen Assoziationsketten und onomatopoetischen Brüchen überträgt sich das Spiel der sich verweigernden Signifikantenketten aber nicht nur auf Objekte, sondern im Sinne Lacans auch auf Subjekte. Wird aus der anonymen Frau zunächst die personalisierte Gudrun, ist gleich darauf ihre mittels eines Namens erlangte Identität in Zweifel gesetzt – durch das Auftreten einer Zweitgudrun – und somit auch die Bedeutung des Signifikanten in seiner Funktion als Sinnträger. Die hier implizierte Gefahr eines Identitätsverlusts steigert sich bis zur akuten Lebensgefahr. Aus dem angemahnten „Spiel“ wird plötzlich ernst, wenn eine Kugel zunächst als Irrgänger bezeichnet wird, sich zur Flipperkugel wandelt und schließlich doch das anonymisierte Subjekt trifft. Diese Passage offenbart jedoch nicht allein die Praxis eines assoziativen Schreibens, sondern ein generelles Problem von „Die Kinder der Toten“, auf das auch Rainer Just verweist. Indem sich der Text immer wieder einer eindeutigen
658 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 121.
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Sinnebene, mittels einer Überdeterminierung, entzieht, gelangt er in den Bereich der „Unlesbarkeit“: „Jeder Leser, der liest, wird auf die Unlesbarkeit von Jelineks Text stoßen, und ein Leser – so postulieren wir hier provokant –, der an Jelineks Text nicht scheitert, der ihn genießt und ihn versteht, liest nicht den Text, sondern liest über ihn hinweg, steigt über seine Zeichenleichen, als wären sie nicht da, als wäre der Weg frei zur Sprache und zum Sinn. Ein Text wie ‚Die Kinder der Toten‘ – zweifellos Jelineks opus magnum – ist ungenießbar. Man kann ihn nur in kleinen Dosen zu sich nehmen, wie eine hochgiftige Medizin, die Heilung verspricht, aber nur um den Preis des Todes. Jelineks Text ver-sagt sich dem Verstehen, widersteht jeder Erzählung, aus der eine Moral von der Geschicht zu destillieren wäre (doch, doch: es gibt auch hier – wir werden auf diese Unterscheidung noch zurückkommen – eine Ethik der Lektüre). Die Unlesbarkeit, mit der sich Jelineks Leser konfrontiert sehen, übersteigt das dekonstruktive Konzept Paul de Mans und auch den Intertextualitätsbegriff von Julia Kristeva, oder – wenn man so will –: sie ist deren buchstäbliche Exekution. Unaufhörlich überschlägt sich bei Jelinek der Verweisungszusammenhang der Wörter – man hat von Assoziationswut und ähnlichem gesprochen –, so dass es schließlich zu einer völligen Dezentrierung der textuellen Identität (des Autors, des Werks, aber auch des Lesers) kommt und das uneigentliche Sprechen tatsächlich auf nichts verweist, 659
auf nichts anderes mehr als den Leerlauf der Sprache selbst.“
Einfachen Sinnzuschreibungen versagt sich der Jelineksche Text. Dabei zeichnet sich „Die Kinder der Toten“ eben nicht durch eine Leere aus, sondern, wie Just ganz richtig anmerkt, durch eine Leere der Sprache. Die Ödnis des Signifikanten wird aber nicht mittels einer reduzierten Sprache angezeigt, sondern ganz im Gegenteil durch eine ausufernde, eine sich selbst überbietende und überbordende Sprache. Die von Just angesprochene „Ethik der Lektüre“ findet sich also schließlich im Signifikant selbst. Somit fordert der Text nicht allein eine aufmerksame Lektüre, sondern auch eine beständige Interpretationsarbeit. Eine Lehre aus der Leere des vermeintlich unlesbaren Textes, auf die auch Žižek in Bezug auf Joyce verweist: „[…] um dem Faden des Textes zu folgen, benötigt man eine Menge Kommentare, die uns das unerschöpfliche Netz der verschlüsselten Anspielungen erklären müssen – nun diese „Unlesbarkeit“ funktioniert exakt als Aufruf zu einer unendlichen Lektüre, sie drängt uns zu einer unaufhörlichen Deutungsarbeit (man kennt die Bemerkung von Joyce, daß er hof-
659 Just: Zeichenleichen.
268 | D IE Z ERSTÖRUNG DES I CHS fe, mit Finnegans Wake die Kommentatoren für die nächsten 400 Jahre zu beschäftigen).“
660
Žižek wählt zu seiner Unterscheidung von moderner zu postmoderner Kunst das Objekt als Referenzpunkt aus. War das moderne Kunstwerk noch gekennzeichnet durch den sprichwörtlichen roten Faden, wird die Postmoderne eine Kunst des labyrinthischen Entwerfens.661 Nach Žižek ermöglichen Kafkas Texte dem Rezipienten zwar ein lineares Lesen, aber nur um ihn in die Leere des Zentrums zu führen. Die Texte Kafkas, in klarer, knapper Sprache gehalten, enthüllen ihren Reiz gerade in dieser Verknappung, dem scheinbar Realistischem, in dem aber am Ende das zum literaturwissenschaftlichen Begriff avancierte Kafkaeske aufleuchtet. Die von Deleuze bezeichnete „kleine Literatur“ Kafkas, zeichnet sich schließlich durch eine Uninterpretierbarkeit des vermeintlich klaren Signifikanten aus. Denn wenn auch der Text als „lesbar“ wahrgenommen wird, so bleibt doch seine zentrale Aussage – die unzähligen Interpretationen legen hiervon Zeugnis ab – verborgen. Gegenüber dieser Verhüllung der modernen Literatur sieht Žižek im Übergang zur Postmoderne eine Zäsur: „Die ‚postmoderne‘ Vorgangsweise ist das genaue Gegenteil davon. Ihr geht es nicht darum, das auch ohne Objekt funktionierende und durch eine zentrale Leere in Bewegung gesetzte Spiel zu zeigen; ihr geht es darum, das Objekt selbst zu zeigen und an ihm selbst seinen indifferenten und arbiträren Charakter sichtbar werden zu lassen. Ein und dasselbe Objekt kann einmal ekelerregend und abstoßend wirken, gleich darauf wird es zu einer erhabenen, charismatischen Erscheinung: der Unterschied ist ein ausschließlich struktureller, er hat nichts mit den ‚Eigenschaften‘ des Objekts zu tun, sondern ausschließlich mit 662
seinem Platz innerhalb der symbolischen Ordnung.“
660 Žižek: Symptom. S. 95. 661 Mit seiner Verwendung des Begriffes Faden erinnert Žižek an den Ariadne-Faden. Den Faden als Sinnstruktur eines Textes begreifend, verwendet er ein Bild, das sich bereits bei Foucault findet. Analog zu Žižek sieht auch Foucault den Faden nicht mehr im Sinne eines zu folgenden Leitfadens, sondern in der Postmoderne gar als gerissen, so dass alleinig das Labyrinth als Sinnstruktur erhalten bleibt. Vgl. hierzu: Michel Foucault: Der Ariadnefaden ist gerissen, in: Gilles Deleuze und Michel Foucault: Der Faden ist gerissen, übers. von Walter Seitter und Ulrich Raulf, Berlin 1977, S. 7-12. 662 Žižek: Symptom. S. 97.
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Das einzelne Objekt – und hierunter ist immer auch ein Subjekt zu verstehen663 – erscheint als nicht mehr klar bestimmt. Es entfaltet sich664, verweist auf seine verschiedenen Seiten, seine Arbitrarität, wodurch die postmoderne Literatur in einem Modus des Erzählens funktioniert, den Foucault als „Wörter im Werden der Sprache“665 bezeichnet. Dieses changierende Verhältnis der vermeintlichen Realität überträgt sich auch auf die Einheit des Raums, der entsprechend an Konsistenz verliert, wenn in der zitierten Passage etwa die Kugel unbestimmten Ursprungs zugleich an Schläfe, Rachen und Genick zu treffen vermag. Doch sind die beschriebenen Vorgänge nur Möglichkeiten, da sich auch hier der Text einer genauen Bestimmung durch die anhaltende Verwendung der relativierenden und verneinenden Wörter nichts, scheint, nicht entzieht. War das Objekt der Zeichenrealität noch klar im Erfahrungsraum positioniert und als Bedeutungsträger zu verstehen, so ist das Objektlose bzw. Abjekt im Raum des Realen das genaue Gegenteil. Indifferent lösen sich Raum und Objekt in immer neuen Möglichkeiten auf und mahnen die Fragilität der Realität an:
663 Lacan, auf dessen Thesen Žižeks Theorien basieren, kann aber keinesfalls zur Schule der „Objektbeziehungs-Theorie“ gerechnet werden. Den Befürwortern dieser psychologischen Theorie, vertreten etwa durch Michael Balint oder Roland Fairbairn, wirft Lacan eine zu starke Fokussierung auf das Objekt vor. In seiner eigenen Analyse der Intersubjektivität versucht Lacan das Objekt zwar zu berücksichtigen, es aber immer auch in seiner Wirkweise und Beziehung zum Subjekt zu verstehen. In seiner Argumentation, dass ein Objekt immer ein Objekt des Begehrens sei, kann das Objekt also nicht nur auch ein Subjekt sein, sondern ein erwünschtes Objekt verweist immer auch auf das Begehren des Anderen und also auf ein anderes Subjekt. Die Substitution eines Subjekts in ein Objekt bezeichnet Lacan in seinem bekannten „Schema L“, in dem das begehrte Objekt mit dem algebraischen Zeichen a markiert wird. In Lacans erstem Seminar nimmt die Positionierung gegenüber einer kritisierten Objektbeziehungs-Theorie einen bedeutsamen Raum ein. Vgl. hierzu: Jacques Lacan: Das Seminar. Buch I (1954-1955), Freuds technische Schriften, übers. von Werner Hamacher nach dem von Jacques-Alain Miller hergestellten französischen Text, 1. Auflage, Olten 1978, 2. unveränderte Auflage Weinheim u. a. 1990. – Jacques Lacan: Das Seminar. Buch IV, Die Objektbeziehung, 1956-1957, übers. von Hans-Dieter Gondek nach dem von Jacques-Alain Miller hergestellten französischen Text. 1. Auflage, Wien 2003. 664 Zur auch hier intendierten Idee der Faltung nach Leibniz und Deleuze vgl. Fußnote 355. 665 Foucault: Die Ordnung der Dinge. S. 414.
270 | D IE Z ERSTÖRUNG DES I CHS „If the object, however, through its opposition, settles me within the fragile texture of a desire for meaning, which, as a matter of fact, makes me ceaselessly and infinitely homologous to it, what is abject, on the contrary, the jettisoned object, is radically excluded and draws me toward the place where meaning collapses. A certain ‚ego‘ that merged with its master, a superego, has flatly driven it away. It lies outside, beyond the set, and does 666
not seem to agree to the latter's rules of the game.“
Dem Objekt, verstanden als materialisierter Fetisch der menschlichen Wunscherfüllung, das eine immerwährende Suche des nie zu erreichenden Objekts klein a als Sinnstruktur aufweist, steht das Abjekt außerhalb dieser Begehrensstruktur gegenüber. Als the jettisoned object, das verworfene Objekt, konstituiert sich das Abjekt also als das Nicht-Objekt. Weder dem Raum des Symbolischen zugehörig noch der Ebene des Imaginären, nimmt das Abjekt den Status eines excluded ein. Diese Abkopplung vom Signifikantennetz versetzt das Abjekt zunächst in einen Zustand ohne Verweischarakter.667 Exkludiert aus der Ebene des Symbolischen und dem Imaginären ist das Abjekt als Teil der Ebene des Realen zu verstehen, d. h. als Teil eines Ortes, an dem die Sinnstrukturen kollabieren und sich verkehren. Ist nach Lacan dem Imaginären das Objekt zugeordnet, das zeichenhaft verstanden im Raum des Imaginären für das Subjekt erst zum Objekt wird, bleibt der Raum des Realen wenig definiert. Von Kristeva nur als the place bezeichnet, ist es der Raum des Realen, in dem die zeichenhaften Wahrheiten zerbrechen und sich Bedeutungsträger in ihrer Gemachtheit entlarven und also auflösen. Bereits von Lacan als (Bewusstseins-)Raum verstanden, der außerhalb der bestehenden Zeichnordnung angesiedelt ist, vermag das Kristevasche Abjekt als materialisierter Teil des Realen sich den geltenden Regeln der Repräsentation zu entziehen. Vermittels der Repräsentationstechniken führt Kristeva deren Prinzipien auf den Ursprung des Abjekts selbst zurück. Wie bereits Lacan ist auch sie von den frühkindlichen Erfahrungen und Entwicklungen fasziniert und bezieht diese in ihre Überlegungen mit ein. Dementsprechend sieht Kristeva den Ursprung des Abjekts, das weder Subjekt noch Objekt ist und sich der symbolischen Ordnung
666 Kristeva: Horror. S. 2f. 667 Eine Bedeutungsleere, die das Subjekt auch in Konfrontation mit dem Lacanschen Sinthom macht. Der von Lacan erst spät eingeführte Terminus des Sinthom bezeichnet analog zum Abjekt ein Objekt ohne Verweischarakter. In seiner Einbettung im Raum des Realen symbolisiert es den Irreduziblen Anteil des Dings, der in der Übertragung auf eine Signifikantenrealität verloren geht. Vgl. hierzu: Jacques Lacan: Le Séminaire XXIII. Le sinthome (1975-76), Paris 2005. – Žižek: Symptom. S. 63.
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entzieht, im mütterlichen Körper. Dabei gilt das Interesse Kristevas nicht dem realen, greifbaren Körper und ist hier analog zu Lacans Begriff des symbolischen Vaters zu verstehen: „Dieser mütterliche Körper wird auch ‚semiotisch‘ genannt, um seine eminente Funktion als ‚Vorbedingung von Sprache‘, als das Feld des Übergangs vom Nicht-Sinn im Sinn hervorzuheben und zugleich seine Differenz zur symbolischen Ordnung der diskreten linguistischen Zeichen zu markieren.“
668
Wie Lacan den Spiegel als Bildner der Ich-Funktion erkennt, so erkennt Kristeva den mütterlichen Körper als ein weiteres und bisher kaum beachtetes Zentrum der Konstituierung von symbolischen Ordnungen. In ihrem Ansatz einer Objektbeziehungstheorie, die eine Mutter-Kind-Beziehung zum zentralen Ausgangspunkt ihrer Überlegungen wählt, verweisen Kristevas Thesen nicht nur auf die Tradition Lacans, sondern nehmen auch Bezug auf jene von Melanie Klein669, während Lacan gegenüber der Objektbeziehungstheorie und dualen Systemen eine eher kritische Haltung einnimmt.670 Kristeva vermutet hinter der zeichenhaft konstituierten Welt nicht allein eine Bildung von Realitäten oder gar ein rein
668 Menninghaus: Ekel. S. 522. 669 Vgl. hierzu: Melanie Klein: Some theoretical conclusions regarding the emotional life of the infant, in: dies., P. Heimann, S. Isaacs, and J. Riviere (Hrsg.): Developments in psycho-analysis. London 1952, S. 198-236. – dies.: On observing the behaviour of young infants, in: M. Klein, P. Heimann, S. Isaacs and J. Riviere (Hrsg.): Developments in psycho-analysis. London 1952, S. 237-270. 670 Die Verschiebung der Psychoanalyse vom ödipalen Dreieck zu einer dualen MutterKind-Beziehung sieht Lacan durchaus kritisch. Seiner Ansicht nach ist jedes Objekt immer schon geprägt durch eine Übertragung und dadurch mit einem Gefühl des Mangels versehen. Wirkliche Lust ist somit im Objekt nicht erreichbar. In der Erweiterung der Objekttheorie ist unter Objekt nicht allein ein Ding zu verstehen. Das Objekt kann auch ein anderes Subjekt sein oder ein nicht dingliches Verlangen, etwa nach Ruhm oder Macht beschreiben. Die empfundene Lust ist allein Ersatz (jouir) und vermag niemals, dass wirklich angestrebte Lustempfinden (jouissance) zu erfüllen. Die ewige Suche nach diesem nicht zu erreichenden Objekt, dem Objekt a, löst Lacan in der ihm eigenen Algebra mit dem Begriff des a’ auf. Doch geht es im Verstehen um das Objekt klein a immer um den Mangel der menschlichen Wunschorganisation, ist hingegen im Abjekt, als dem Nicht-Objekt, der Mangel der Übertragung von Zeichen in Realitäten zu verstehen. Vgl. etwa: Lacan: Das Seminar. Buch I, S. 18.
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kommunikatives Konstrukt, sondern die Abnabelung von einer dominierenden Mutter. Diese Mutter ist eine Figur des vorsprachlichen Stadiums, für das Kristeva den Begriff der chora wählt671 und das von anderen Denkern, wie z. B. Derrida, aufgegriffen wird.672 Chora lässt sich aus dem Griechischen als Raum oder Unterleib übersetzen und wird bereits bei Platon als das Unnennbare, Unerfahrbare und Flüssige definiert, das zudem der Erfahrung des Subjekts mit dem Vater und dem väterlichen Gesetz vorangestellt ist:673 „In der Geschichte der Philosophie war es kein anderer als Platon selbst, der sich als erster an diese unheimliche präontologische, noch nicht symbolisierte Textur von Beziehungen herangewagt hat. In seinem späten Dialog Timaios fühlte er sich gezwungen, eine Art Matrix-Behälter (chora) aller bestimmten Formen vorauszusetzen, der von seinen eigenen kontingenten Regeln bestimmt wurde. Dabei ist es entscheidend, diese chora nicht vorschnell mit der aristotelischen Substanz (hýle) zu identifizieren.“
674
In der chora ist das Subjekt, das noch kein Subjekt ist, überflutet und überfordert von Bedürfnissen und Perzeptionen. Ich, Umwelt, der Andere oder das Objekt befinden sich noch in einem nicht voneinander trennbaren, chaotischen Gefüge, das erst durch die Einteilung in eine symbolische Ordnung einen Sinn offeriert. Erst durch die Verdrängung und Überwindung der chora entsteht das Subjekt. Den Wunsch hingegen sieht Kristeva allein als ein Überbleibsel dieser chaotischen, frühkindlichen Phase: „The vision of the ab-ject is, by definition, the sign of an impossible ob-ject, a boundary and a limit. A fantasy, if you wish, but one that brings to the wellknown Freudian primal fantasies, his Urfantasien, a drive overload of hatred or death, which prevents images from crystallizing as images of desire and/or nightmare and causes them to break out into sensation (suffering) and denial (horror), into blasting of sight and sound (fire, uproar). Apocalyptic vision could thus be the shattering or the impossibility not only of narrative
671 Kristeva: Horror. S. 13-15. 672 Jacques Derrida: Chora, in: ders.: Über den Namen. Drei Essays, Wien 2000, 123170. 673 Kristevas Begriff leitet sich aber wahrscheinlich von Lacans Begriff „lalangue“ ab, auf den sie Bezug nimmt. Julia Kristeva: La Révolution du langage poétique: l’avant-garde à la fin du XIXe siècle. Lautréamont et Mallarmé, Paris 1974. 674 Žižek: Tücke. S. 79.
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but also of Urfantasien under the pressure of a drive unleashed by a doubtless very ‚primal‘ narcissistic wound.“
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Analog zu Lacan sieht Kristeva also eine Unvollkommenheit im Subjekt walten, das diese mittels der Wünsche zu überwinden sucht. Dabei übernimmt sie von Lacan die Idee des Objekts klein a für ihre Definition des Abjekts. So betont sie an der eben zitierten Stelle auch noch einmal das narzisstische Moment der Wunschorganisation und verweist auf die zu verwaltenden und zu negierenden Urfantasien. Ist bei Lacan ein Erleben des Objekt klein a nie möglich und verharrt in einem illusionistischen Spiel der zahllosen a´, so wirkt Kristevas Beschreibung des Abjekts als einem impossible object wie eine Paraphrasierung nämlicher Theorie. Beiden Denkansätzen ist zudem gemein, dass der Wunsch als regressives Moment immer auf das wünschende Subjekt selbst verweist. Ist bei Kristeva von doubtless very „primal“ narcissistic wound(s) die Rede, so beschreibt Lacan das Verhältnis zum Objekt klein a, das auch der Andere sein, kann so: „(D)er andere, der überhaupt kein anderer ist, da er wesentlich mit dem Ich verbunden ist, 676
in einer Beziehung, die immer reflexiv und austauschbar ist.“
Lacan verweist hier auf eine Selbstreflektion, die durch den Anderen ausgelöst wird und den Anderen im Ich bestimmt. Dieses immer auf das eigene Ich bezogene Modell des Anderen wird in „Die Kinder der Toten“ als eine individuelle Sinnsuche inszeniert. „In dieser Anderen Frau, die sie auch ist, will Karin das Andere doch überwinden und endlich sie selbst werden.“677 Den Willen des Individuums unterstreichend, wird der Prozess der Individuation als ein Kampf mit dem eigenen Ich gezeigt. Um den Kreislauf von immer neuen Individuationen zu unterbrechen, muss der Andere besiegt werden. Auffällig ist, dass Andere und Anderen aufgrund der Schreibweise als Nominative zu verstehen sind. Im Sinne Lacans ist dieser Andere der Große Andere und somit Karin selbst. Im Zuge ihrer Ich-Werdung muss der (Große) Andere überwunden werden.
675 Kristeva: Horror. S. 154f. 676 Jacques Lacan: Le Séminaire. Livre II. Le moi dans la théorie de Freud et dans la technique de la psychanalyse, 1954-55, Jacques-Alain Miller (Hrsg.), Paris 1978, S. 370. Zitiert nach: Dylan Evans: Wörterbuch. S. 205. 677 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 103.
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Doch wird dieser Individuationskampf nicht allein durch die Zersplitterung einzelner Figuren in unendlich erscheinende Ich-Dissoziationen dargestellt, sondern auch durch die Suche nach einer Sprache, denn der Große Andere repräsentiert eben das Symbolische und somit die Sprache. Die Suche nach einer neuen Sprache, einem reinen Signifikanten, der Bedeutung schafft, ohne die Einflussnahme des Großen Anderen und einer Restrukturierung des Ichs sind ineinander verbunden. Selbstreflexiv diesen Kreislauf der sprachlichen Repräsentation anprangernd, wird der Individuationsprozess in „Die Kinder der Toten“ gekoppelt an die Sinnsuche nach einer neuen Sprache, zur Jagd nach einem „ersten und gleichzeitig letzten Buchstaben, der dennoch zu einer Schrift werden soll, einer Schrift des Unartikulierten, keine Bilder, nein, die Bilder würden immer nur sich selbst bedeuten und immer nur sich verkünden (das Unartikulierte: der Ton eines bis heute 678
anhaltenden Schreis?). Sie muß erst erlernt werden, diese Schrift […].“
Analog zu den frühen Ideen des Jelinekschen Schreibens, das sich von Anfang an um eine Auflösung der Suprematie von Zeichen bemühte – etwa in der konsequenten Kleinschreibung – ist auch in „Die Kinder der Toten“ die Suche nach einer neuen Sprache zu erkennen. Da im Sinne Lacans die Sprache immer schon außerhalb des Bewusstseins liegt, muss sich die Restrukturierung und Erneuerung der Sprache in den Raum des Realen verlagern. Dieser idealisierte Ort des Schreibens, von Jelinek als Abseits beschrieben, der sich den Regeln der Zeichen zu entziehen vermag, findet in „Die Kinder der Toten“ im phantastischen Raum, in dem die Apokalypse der Untoten aufgeführt wird, seine Entsprechung. Denn ist der Zeichenkosmos als eine notwendige Segmentierung von Realität zu erfassen, so ist das Erleben mit dem Abjekt eine Konfrontation mit der mütterlichen Macht der chora: „The abject confronts us, on the other hand, and this time within our personal archeology, with our earliest attempts to release the hold of maternal entity even before ex-isting outside of her, thanks to the autonomy of language. It is a violent, clumsy breaking away, with the constant risk of falling back under the sway of a power as securing as it is stifling.“
679
678 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 388. 679 Kristeva: Horror. S. 13.
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Die erste Abgrenzung des Ichs erfolgt zunächst gegenüber dem mütterlichen Körper. Zwar vermag es nach Kristeva erst die Sprache einem Ich die Möglichkeit zu geben, sich autonom und als Subjekt wahrzunehmen, doch entlarvt das Erleben des Subjekts gegenüber einem Abjektiven zugleich die Gemachtheit des vermeintlich rettenden Zeichenkosmos und also die eigene Fragilität. Die IchKonstituierung und der Spracherwerb sind mit dem Abnabelungsprozess von der semiotischen Mutter verbunden. Der zunächst notwendige Schutz durch die mütterliche Instanz wird für das frühkindliche Leben zunehmend eine bedrohende Macht. Für eine gelungene und vollzogene Individuation gilt es also für das noch präontologische Sein, sich von dieser Instanz zu emanzipieren. Die neu gewonnene Macht wird allein durch das Abjekt in Frage gestellt, das auf ein vorsprachliches Dasein verweist. Im Abjekt, das im Subjekt existentielle Angst auslöst und körperlichen Ekel hervorruft, ist folglich die präödipale Angst des Subjekts vor dem Verlust der erkämpften Autonomie zu erkennen. Der Rückfall des Subjekts im Erkennen des Abjekts ist die Entlarvung der eigenen Subjektwerdung bzw. der Zeichenrealität. Das Abjekt stürzt das Subjekt in einen Abgrund, der als Selbstbewusstlosigkeit zu fassen ist. Durch den Schock im Erkennen des Abjekts gerät das Subjekt in die Gefahr, in jenen Daseinsraum zu verfallen, den Žižek das Präontologische nennt und der von Menninghaus als Akt der Selbstabjektion begriffen wird: „Diese Erinnerung schließt letztlich eine ‚Selbstabjektion‘ ein. Denn das Subjekt verwirft nicht anderes als seinen Ursprung und sein eigenes (Nicht-)Sein im mütterlichen Körper.“
680
In der Konfrontation des Subjekts mit dem Abjekt fällt das Ich durch das Netz der Signifikantenrealität und wird auf seinen Ursprung zurück geworfen. Das Ich ist sich also nicht mehr seiner selbst bewusst, sondern wird der eigenen Konstituiertheit und Konstruiertheit ausgesetzt. Dabei steht das Abjekt nicht einfach für das Verdrängte, sondern es offenbart vielmehr den Akt der Selbstverdrängung in der Ich-Ausbildung: „The abject shatters the wall of repression and its judgments. It takes the ego back to its source on the abominable limits from which, in order to be, the ego has broken away—it assigns it a source in the non-ego, drive, and death. Abjection is a resurrection that has
680 Menninghaus: Ekel. S. 529.
276 | D IE Z ERSTÖRUNG DES I CHS gone through death (of the ego). It is an alchemy that transforms death drive into a start of 681
life, of new signifiance.“
Die abominable limits (abscheulichen Ränder) einer noch nicht zeichenhaft verstandenen Realität werden im Erkennen mit dem Abjekt ins Bewusstsein gerufen. Bilden die Interaktion mit Objekten, das Erkennen im Spiegel sowie die Loslösung vom mütterlichen Körper das Subjekt als solches erst aus, so ist das Erkennen im Realen als dem Raum des Abjektiven ein Sein im non-ego (NichtIch), in dem der Trieb und der Tod beheimatet sind. Diesen Raum des Nicht-Ichs bevölkern die unterschiedlichen Simulakren in „Die Kinder der Toten“, die doch aber nie den Anspruch auf einen Subjektstatus erheben können. Sie mahnen aber die Möglichkeiten des Ichs an. Es ist dies eine gnostische Sicht auf das eigene Ich, die die eigene Unvollkommenheit oder gar die Künstlichkeit des eigenen Ichs in einem Möglichkeitsraum hinterfragt.682 Denn bereits in Lacans Spiegelstadium haftet dem Ich eine Künstlichkeit und eine Vielheit an. Der Blick in den Spiegel ist immer schon ein externalisierter Blick auf ein Außen, das sich auch in der Bildung des Ichs, die immer einer Ich-Dissoziation entspricht, niederschlägt. Denn der Blick in den Spiegel richtet sich auf ein Außen fernab des eigenen Körpers und verweist bereits auf das generell waltende Prinzip, dass das Subjekt sich immer in anderen Objekten spiegeln wird, was zu Lacans bekannter Formel führt: „Denn ich ist ein anderer.“683 Das Ich bildet über das Bild im Spiegel ein Abbild von sich selbst aus, das nicht mehr zerstückelt ist, sondern eine Entität. Dieses so gewonnene Ich formt sich zu einem sozialen Ich aus. Zugleich
681 Kristeva: Horror. S. 15. 682 Bereits Foucaults Thesen der Biopolitik beschreiben, wie die darauf aufbauenden Ideen Donna Haraways einer Cyborggesellschaft, einen Lebensraum, in dem das Individuum mehr und mehr verschwindet und sich zunehmend als unfrei und fremdbestimmt empfindet und somit immer auch nach den Möglichkeiten des eigenen Ichs fragt. Vgl. hierzu: Donna Haraway: Die Biopolitik postmoderner Körper. Konstitution des Selbst im Diskurs des Immunsystems, in: dies.: Die Neuerfindung der Natur. Primaten Cyborgs und Frauen, hrsg. und eingeleitet von Carmen Hammer und Immanuel Stieß, Frankfurt a. M. / New York 1995, S. 123-159. 683 Auch hier bezieht sich Lacan auf einen Dichter, um seine Thesen zu entwickeln. Vgl. hierzu: Arthur Rimbaud: 2. Seherbrief, in: ders.: Gedichte. Französisch und Deutsch, hrsg. von Karlheinz Barck, Leipzig 1989. Vertiefend zur Idee einer Ich-Dissoziation siehe: Gerda Pagel: Im Banne des Spiegels – „Ich ist ein anderer“, in: dies.: Jacques Lacan zur Einführung. Hamburg 2007, S. 21-56.
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ist das im Spiegelbild aber auch immer eine Verklärung der Eigenwahrnehmung, die eine idealisierte Imago evoziert: das Ideal-Ich. Diese Ich-Spaltung in ein Ideal-Ich und ein soziales Ich findet auch in Jelineks Text ihre Entsprechung. Den hier beschriebenen Zerfall des Subjekts nach Lacan, bei einem gleichzeitigen Rückfall auf die mächtige mütterliche Instanz im Sinne Kristevas, zeigt Jelineks Text besonders in der Figur Karin Frenzel. Denn Karin wird innerhalb des Textes in gleich mehreren Figurationen gezeigt. Mal ist sie an die Untote Gudrun gebunden, mal an ihren Mann684, dann an ihre Mutter, doch nie ist sie autonom. Das Erkennen dieses Umstandes setzt jedoch erst im Bereich des Untoten, losgelöst von ordnenden Instanzen der Wirklichkeit, ein: „Was ist mit Karin geschehn? Sie erfahren in der nächsten Folge, daß es das Entsetzen darüber gewesen ist, mit allem vermengt, mit allem vermischt zu sein, reine unreinliche Natur, von der sie sich nicht mehr abzugrenzen vermag: DIE STEHENDE, kurz: DIE 685
UNGEWORDENE. Karin F. ist eine Unfertige und ist es ihr Leben lang gewesen.“
Die mediale Sprache früher Texte aufgreifend, wird Karin zunächst als Stehende definiert. Dies ist als Stillstand zu begreifen, der sie hindert sich zu einem vollwertigen Subjekt zu entwickeln. Erst im Raum des Realen erkennt sie, dass sie keine Werdung vollzogen hat, wie noch die Frauen des Krankheit-Textes. Sie wird vielmehr – typographisch noch durch die Verwendung der Versalschrift gesteigert – als die Ungewordene deklariert.
684 Das im Text aufgeworfene Rätsel um ihren verstorbenen Mann Herrn Frenzel, entlarvt sie als die antisemitische Germanistin Elisabeth Frenzel, die nicht allein durch ihre umstrittene Doktorarbeit, sondern vor allem durch zwei Nachschlagewerke, die bis heute verwendet werden, bekannt wurde. Die kommentarlose Weiterverwendung der mangelhaften und rassistisch geprägten Texte bemängelt der Jelineksche Text und klagt damit nicht allein die Geschichtsvergessenheit der Germanistik, sondern auch das untote Weiterleben rassistischer Gedanken an. Erst 2009, also Jahre nach der Veröffentlichung von „Die Kinder der Toten“, nahm der Deutsche Taschenbuchverlag, unter anderem durch den öffentlichen Druck der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, das Werk „Daten deutscher Dichtung“ nach der 35. Auflage aus seinem Programm. Siehe hierzu: Elisabeth Frenzel: Die Gestalt des Juden auf der neueren deutschen Bühne. Berlin 1940. – dies. und Herbert A. Frenzel: Daten deutscher Dichtung. Chronologischer Abriß der deutschen Literaturgeschichte, Köln 1953. 685 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 349f.
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Besonders deutlich wird diese textualisierte Zerrissenheit und Unfertigkeit des Subjekts im Mariazell-Kapitel. Karin und ihre Mutter verbinden sich und wirken wie eine Einheit: „Wie die beiden sich einander ergeben, Mutter und Kind, das muß man gesehen haben! Einmalig! Karin F. hat sich an ihre Mutter ausgehändigt, das ist für sie der Naturzustand, 686
der von ihnen beiden absolut anerkannt wird.“
Zunächst weckt diese Paarkonstellation einer alternden Jungfer und ihrer dominierenden Mutter Assoziationen an Jelineks Klavierspielerin Erika Kohut. Doch nicht nur die gängelnde Mutter und die soziale Instanz Kirche zeigen die Anbindung und Unfreiheit des Ichs: Eine Dopplung dieser Sinnstruktur ergibt sich auch durch das in der Kapelle ausgestellte Nationalheiligtum und Gnadenbild der Magna Mater Austriae. Diese kann im psychoanalytischen Sinn sowohl als die kirchlich soziale Instanz im Sinne Lacans als auch als eine ins irreal und ungreifbar überhöhte mütterliche, ordnende Instanz im Sinne Kristevas gelesen werden. Doch Karin kann nicht als Einzelschicksal verstanden werden. Das im Jelinekschen Text dargestellte System einer ordnenden Macht, als deren Beispiel jenes der kirchlich-ordnenden Instanzen dient, wirkt auf breite Bevölkerungsschichten als Disziplinarmacht ein: „Die hier zu Gott und der Mutter singen und sich beherzigen und bekreuzigen, die gehen 687
bald wieder nach Hause, und dort spielen sie dann eine hervorragende Rolle […].“
Somit kann die hier dargestellte kirchliche Macht als Individualisierungsprozedur enttarnt werden, die im Sinne einer Foucaultschen Disziplinarmacht eine „Gehorsamkeit durch Willensverzicht“688 betreibt. Doch bezieht sich, den Thesen Foucaults folgend, die Macht nicht mehr nur auf eine Instanz. Kirche, Staat und Medien bilden eine Machttextur, die sich über das Individuum legt, es einbindet und so seine Unfreiheit erzeugt: „Von den Familien Jesus und Habsburg lernen sie, was die Kleidung bzw. die Nacktheit aus dem Menschen macht. Ähnlich der Religion dient sie zur Verunsicherung und Unterscheidung. Alle unsere Außenminister applaudieren fest, der Ort zwischen ihren Handflä-
686 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 371. 687 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 372. 688 Ruoff: Foucault. S. 154.
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chen ist inzwischen der einzige, der ihnen freisteht, leider! Man muß Druck machen, schwarz auf weiß können die Leute dann lesen, wer auch bei uns unerwünscht ist und ab689
gestempelt werden muß, damit er wieder nach Hause zurückkehre.“
Traditionen, Kirche und Politik wirken auf die Entscheidungen und moralischen Kodizes der Gesellschaft ein. Der vorhandene Hass innerhalb einer Gesellschaft wird durch die beiden übergeordneten Instanzen Staat und Kirche reglementiert bzw. kanalisiert und offenbart die Unfreiheit selbst der politischen Klasse. Dabei unterstreicht die irreale Vielheit der Außenminister noch die Wirkmächtigkeit eines Außen auf das Subjekt. Doch wird in dieser Zurschaustellung der Machtdispositive im Untoten zugleich deren Untergang offensichtlich. Denn eine resurrection kann nur durch eine Subjektkonstituierung erfolgen that has gone through death (of the ego). Den hier von Kristeva thematisierten Tod des Ichs situiert Jelinek in ihrem Text im Raum des Realen. Und so ziehen die Untoten die „Wirklichkeit“ immer mehr, wie einen „blutigen Kadaver, von dem die Eingeweide herabhängen“690, hinter sich her und setzen so die voranschreitende Auflösung der Macht und des Subjekts in drastische Bilder um. Jelineks Text präsentiert demnach einen apokalyptischen Raum des Erkennens. Demgegenüber wird die vermeintliche Realität oppositionell als „eine andere Dimension des Existierens ohne Bewusstsein seiner selbst“691 beschrieben. Doch nicht nur die Körpergrenzen, auch die Lexeme und mit ihnen die gesamte Signifikantenrealität ist in Auflösung. Die Verwobenheit von Subjekt in Sprache wird besonders durch die Destruktion der Namen ersichtlich. Wurde diese Auflösung des Ichs bereits in „wir sind lockvögel baby!“ mittels des Palindroms Otto betrieben, so zeigt sich die Auflösung der Entitäten im Gedenken an die großen Toten des Landes gleich zu Beginn von „Die Kinder der Toten“. Denn die Namen „Karl Schubert, Franz Mozart, Otto Hayden, Fritz Eugen Letzter Hauch, Zita Zitter, Maria Theresiana“692 verweisen mit der Änderung der Vornamen schon hier auf eine einsetzende Auflösung von Identitäten und Vorbildern. Wie in der präödipalen Phase des zerstückelten Körpers scheinen sich die Untoten im Verlauf des Textes zunehmend auf „unerklärliche Weise in ihre Umgebung hinein aufzulösen“.693 Im Sinne Kristevas wird dieser Rückfall auf die chora als Flüssigwerdung dargestellt, wenn „die drei jungen Leute, als wären
689 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 372. 690 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 57. 691 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 57. 692 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 7. 693 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 600.
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sie eben erst lebendig geworden und noch ganz weich, ineinander und durcheinander hindurch“694 fließen. Dabei ist klar, dass es sich nicht um Neugeborene handelt, sondern dass die Untoten das Auslöschen ihrer subjektivierenden Körpergrenzen als Rückfall erleiden müssen. Der ehemals feste Körper, gewonnen aus dem Blick in den Spiegel, löst sich wieder in Partialobjekte auf. In diesen abjekten Permutationen der Subjektdestruktion „rinnt eine Auferweckte, eine junge Ermordete, in diese Körperform, die ihr gereicht wur695
de, und sie werden eins und ein Drittes, ein Unwesen dritter Ordnung […].“
Aus dem ehemals festen wird ein flüssiger Körper, der sich unheimlich immer neu verbindet und dem festen Wirklichkeitsraum einen fluktuierenden und unheimlichen Möglichkeitsraum entgegenstellt. Subjekt und Objekt lösen sich darin auf und fließen undefiniert ineinander über. Im Raum des Unheimlichen wird aus der Opposition von Objekt und Subjekt das Abjekt. Dieser dritten Ordnung des Realen, in der die Erkenntnis über die eigene Künstlichkeit sich als Angst äußert, versuchen die Untoten zu entkommen: „Die Toten wollen befreit sein, aber um ihr Leben wieder zurückzubekommen, müssen sie die Lebenden töten. Das wird eine Enttäuschung geben, wenn sie erst merken: Ihre beiden Befreier […] leben ja auch nicht mehr! Zornig wie auf Wasser, das hochspritzt, schlagen die Gefangenen ihres Todes auf diese beiden Figuren ein, die ihnen da in die Höhle gekippt worden sind. Wer in den Bannkreis dieses Ortes gerät, kommt darin um, und die Gefahr ist jeder selber. Wir implodieren in unsre Schuld hinein und können nicht mehr getö696
tet werden, weil wir längst schon tot sind.“
In der Angst des realen Raums versuchen sich die Untoten zurück zu beißen in eine gewohnte Realität. Doch der Raum des Realen erweist sich als Totalität, aus der es scheinbar kein Entkommen gibt – alles ist bereits (un)tot. Alte Dichotomien haben sich verflüssigt, wodurch der Schlag auf das Gegenüber ein Hieb wie auf Wasser ist. Der Zusammenbruch der geordneten Welt in ein verflüssigtes, amorphes Szenario, in dem die ordnenden Instanzen versagen, wird von Žižek als Fallen in das Präontologische bezeichnet:
694 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 322. 695 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 245. 696 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 456.
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„Das Präontologische ist der Bereich der ‚Nacht der Welt‘, in dem die Leere der Subjektivität der gespenstischen Protorealität der ‚Partialobjekte‘ begegnet, mit diesen Erscheinungen des corps morcelé bombardiert wird. Wir betreten hier den Raum der puren, radi697
kalen Phantasie als vorzeitliche Verräumlichung.“
Der Wiederkehr einer präontologischen Welt, wie sie dem Leser im postapokalyptischen Raum auch in Jelineks Text präsentiert wird, ist durch das Zertrümmern des Subjekts geprägt. Bildete sich im Spiegelstadium eine Entität aus, so ist in Analogie zu Kristeva ein Rückfall hinter jene frühkindliche Phase zu erkennen. Der Körper, der immer eng mit einer Subjektkonstituierung verbunden ist, löst sich auf und entlarvt die Künstlichkeit des Spiegelbildes als Leere der Subjektivität. Wie eine Neuordnung der Spiegelphase lesen sich jene Passagen, in denen sich die untoten Hände, Haare und anderen Partialobjekte aus dem Boden befreien und sich zu neuen Entitäten formen. „Die Glieder kommen zu den Gliedern, zur Einigung.“698 In seiner Radikalität beschreibt der Jelineksche Text einen Raum des Zerfalls und der Neuordnungen. Die Destruktion von Sprache, Kultur, Macht, Tabus und den Grenzen des menschlichen Körpers in einem phantastischen Raum des Untoten und Abjekten machen aus „Die Kinder der Toten“ einen Text, der sich einer symbolischen und imaginären Ebene verweigert und in der Folge die Grenzen des Realen auslotet. Dem geordneten und ordnenden System einer Signifikantenrealität steht hier die Hegelsche „Nacht der Welt“ entgegen: „In phantasmagorischen Vorstellungen ist es ringsum Nacht; hier schießt dann ein blutig(er) Kopf, dort ein(e) andere weiße Gestalt plötzlich hervor und verschwindet ebenso.“
699
Der Raum des Realen wird als Bedrohung, ja als existentielle Grenzerfahrung wahrgenommen. Denn im Raum des Realen, der zuvor schon als Raum der Phantasmagorien beschrieben wurde, versinkt die fest etablierte Sinnstruktur. Diese Auflösung von Sinn geht in Žižeks Lesart zu Hegel mit der Auflösung der Entität des Subjektes einher. Die Offenbarung der Leere der Realität erfolgt ge-
697 Žižek: Tücke des Subjekts. S. 91. 698 Jelinek: Die Kinder der Toten. S 199. 699 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Jenaer Realphilosophie. Vorlesungsmanuskripte zur Philosophie der Natur und des Geistes von 1805-1806, hrsg. von Johannes Hoffmeister, Hamburg 1969, S. 180.
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rade durch die Überfrachtung aus sinnlosen Signifikantenketten. Diese haben den Sturz in die Bedeutungslosigkeit zur Folge: „Denn wenn die Wirklichkeit überladen wird, wenn wir komplett sind, fallen wir alle mitsamt dem Boden des Lifts hinunter in einen endlosen dunklen Schacht, und der hat dann 700
keinen Boden. Wir fallen immer noch.“
Wiederum zeigt der Text ein Hinabstürzen des Subjekts in einen Abgrund, der bodenlos zu sein scheint. Dabei ist der Sturz in einen Bewusstseinszustand der puren, radikalen Phantasie nicht allein als präontologisch oder vorzeitlich zu erfassen, sondern auch als präödipal und somit dem lacanschen Spiegelstadium vorangestellt. Žižek wirft hier die Grundfrage der Ontologie auf, welche nach dem Subjekt selbst fragt. In einem scheinbar chaotischen Raum wird der Sinn der bestehenden Ordnung hinterfragt. Schon in Jelineks Text „Wolken.Heim.“, der als Prätext zu „Die Kinder der Toten“ gelesen werden kann, ist dieses Konzept zu erkennen, wenn auch hier die Frage nach der Sinnhaftigkeit einer untoten Welt aufgeworfen wird: „Was suchen wir bei den Toten? Das Leben!“701 Diese wie ein Oxymoron wirkende Lösung findet sich analog in „Die Kinder der Toten“ wieder. Denn bei aller Destruktion bleibt dennoch die Hoffnung auf Veränderung. In einer kurzen Passage erscheint Edgar, eine der Hauptfiguren des Textes, die Lösung zum Greifen nahe: „Und auf einmal weiß Edgar: Er ist ein Zwischenlager für etwas, das da noch kommen 702
wird, um endgültig den Tod in die Welt einzuführen.“
Denn der Tod ist nicht mehr, wie noch bei Baudelaire, der Abschluss des Lebens. In der Figur des Untoten bzw. des abjekten Körpers verweist er auf eine dritte Ordnung, die sich auf der Ebene des Realen ansiedelt. Auf die besondere Positionierung einer untoten Existenz, die die Grenzen zwischen Tod und Leben um eine dritte Möglichkeit erweitert, verweist auch Žižek: „In den Texten der Populär-Kultur werden die unheimlichen Kreaturen, die weder lebendig noch tot sind, die ‚lebendigen Toten‘ (Vampire usw.) als ‚Untote‘ bezeichnet – obwohl sie nicht tot sind, sind sie eindeutig nicht lebendig wie wir, die gewöhnlichen Sterblichen.
700 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 153. 701 Jelinek: Wolken.Heim. S. 23. 702 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 205.
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Das Urteil: ‚Er ist untot‘ ist deshalb ein unendlich-eingrenzendes Urteil im präzisen Sinne einer rein negativen Geste, indem es Vampire aus dem Reich der Toten ausschließt, ohne sie deshalb im Bereich der Lebenden anzusiedeln (wie es in der einfachen Negation: ‚Er ist nicht tot‘ der Fall wäre). Die Tatsache, daß Vampire und andere ‚lebendige Tote‘ üblicherweise als ‚Dinge‘ bezeichnet werden, muß in ihrer vollen kantschen Bedeutung wiedergegeben werden: Ein Vampir ist ein Ding, das aussieht und handelt wie wir, und dennoch keiner von uns ist … Kurz: der Unterschied zwischen einem Vampir und einer lebendigen Person ist der zwischen einem unendlichen und einem negativen Urteil: Eine tote Person verliert das Prädikat eines lebendigen Wesens, sie verbleibt jedoch dieselbe Person; ein Untoter behält alle Prädikate eines lebendigen Wesens, ohne doch eines zu sein – wie im oben zitierten Witz von Marx: Wir haben mit dem Vampir dieselbe ‚gewöhnliche 703
Art zu reden und zu denken, ohne das Individuum‘.“
Auch Žižek betont die besondere Konzeption des Untoten zwischen zwei Toden704 zu existieren und erkennt darin die Auflösung des Ichs. Während der Tod
703 Žižek: Metastasen. S. 39. 704 Jacques Lacan: Das Seminar, Buch VII (1959-1960). Die Ethik der Psychoanalyse, übers. von Norbert Haas nach dem von Jacques-Alain Miller hergestellten französischen Text, 1. Auflage, Weinheim 1996, S. 369. Zwischen-zwei-Toden, ist ein Terminus, der ursprünglich von einem Studenten Lacans etabliert wurde und meint noch immer lebendig, jedoch von allen symbolischen Bindungen des Subjekts befreit. Da sich das Subjekt als solches nur auf der symbolischen Ebene konstituieren kann und somit ein symbolischer Vertrag zwischen der Subjektmachung und der symbolischen Ebene besteht, sind nur kurze Fluchtmöglichkeiten gegeben. Da die Bindung des Subjekts an die symbolische Ebene hervorgerufen wird durch den Mangel, den es seit der Trennung von seiner Mutter und seinen Erfahrungen im Spiegelstadium wahrnimmt, muss das Subjekt als gebrochen verstanden werden: $. Die rissige Symbolebene aber, die im Lacanschen Algorithmus durch eine Barre angezeigt wird, ist jene Ebene, in der sich das Individuum konstituiert und muss deshalb erhalten bleiben. Um die innere Mangelsituation der Symbolebene auszugleichen, verfolgt das Subjekt ein nicht zu erreichendes Ziel, was Lacan mit dem Objekt klein a bezeichnet. Das Objekt, bzw. die Objektliebe soll den Mangel des Individuums bereinigen. Dieses Objekt klein a, dass das Subjekt vermeintlich immer wieder in seiner Existenz zu finden glaubt – hierbei ist an dingliche, wie auch an lebendige Objekte zu denken – ist wiederum stark an die Gesetze des großen Anderen, verstanden als eine moralische Instanz, gebunden. Doch durch diese repressive, artifizielle Instanz des väterlichen Gesetzes vermag das Individuum niemals das wirkliche Objekt klein a zu er-
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als finaler Punkt verstanden werden kann, ist das untote Dasein einen Suspendierung der Abschließbarkeit und somit ein Verharren in unendlicher Eingrenzung. Weder tot noch lebendig ist der Untote einer doppelten Verneinung ausgesetzt und bleibt in beiden Ebenen des Daseins ein Ausgestoßener. Aus dieser Konzeption heraus schildert „Die Kinder der Toten“ den Kampf um eine ReIndividualisierung und um die Restrukturierung der verlorenen Zeichenhoheiten. Denn die angemahnte Restrukturierung der Realität ist auch auf die Ebene der Signifikanten zu beziehen. In der Tradition Lacans stehend, der den Menschen als einen homo symbolicus erfasst, muss der Verfall in eine präontologische Seins-Stufe zunächst zwangsläufig mit dem Verfall der Sprache einhergehen, da die grundlegenden Gefüge der Zeichenrealität mit der evozierten Struktur der Wirklichkeit, dem Fundamentalphantasma, verbunden sind. Dieser Zusammenfall der Sprache mahnt sich in der Sprachlosigkeit des Untoten an: „Dieser Schrei scheint keinen Ort zu haben, für den er bestimmt war, und niemanden zu 705
finden, der ihn ausgetoßen haben könnte.“
Das gesamte Sender-Empfänger-Verhältnis wird als zerstört dargestellt. Einzig tierische Laute stoßen die Untoten aus, während sie durch das Endzeitszenario bewegen. Nicht einmal mehr die einfachsten Töne einer menschlichen Regung sind mehr möglich. So dass „[…] die Frau lacht, ihr Mund ist jetzt weit aufgerissen, aber kein Ton ist zu vernehmen […]“ 706 und sich die „beiden Menschenöffnungen, aus denen stimmlose Worte fallen“ 707 in wortloser NichtKommunikation verlieren. Dabei wird in „Die Kinder der Toten“ ein bemer-
reichen. In seiner Gebundenheit und unter der hemmenden Macht des großen Anderen bildet das Subjekt somit immer wieder vermeintliche Ziele, Träume, Lustobjekte aus, die jedoch der Jagd nach einer Chimäre gleichen und nur flüchtige Befriedigungen verschaffen können. Diese Ersatzobjekte bezeichnet Lacan mit der ihm eigenen Algebra als a´. Diese (nicht beendbare) Suche der vollkommenen Subjektwerdung muss indes differenziert werden zu der schon zuvor beschriebenen Verwirklichung des Subjekts im sexuellen Raum. Dieser Raum ist in der Lehre Lacans stark an das Genießen, die jouissance, gebunden. Die jouissance ist jedoch auch kurzzeitig erfahrbar. Lacan sieht in ihr aber eher eine kurze Tiermachung des Subjekts, als Ausweichreaktion vor der empfundenen existentiellen Mangelsituation des symbolischen Raums. 705 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 154. 706 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 121. 707 Ebd.
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kenswerter Konnex zwischen der abjektiven Fleischlichkeit des Untoten und dem zerfallenden Signifikanten gestiftet, wenn das Zeichen selbst als fleischlich beschrieben wird: „Und das Wort ist wie das Fleisch geworden, leicht verderblich, eine weitgereiste Konser708
ve, deren einziger Konsens mit der Wirklichkeit der Tod zu sein scheint.“
In der minimalen Variation von Johannes 1,1. klagt der Text eine Kultur im Zerfall an. Denn das Wort wird nicht wie in der Bibelstelle zu Fleisch, Prophezeiungen werden demnach keine Realität und materialisieren sich auch nicht im Sohn Gottes, sondern das Wort ist wie das Fleisch. Wodurch anstelle der Schöpfungskraft, die Verderblichkeit und die Begrenztheit des Zeichens hervorgekehrt werden. Seine Weltläufigkeit verweist zudem auf die verwobenen Strukturen des Signifikantennetzes. Das vermeintliche Signifikat aber, die abzubildende Realität, wird schon lange nicht mehr wiedergegeben. Überfrachtung und Ungenießbarkeit der Bedeutungsträger resultieren zwangsweise in einer Entleerung, die ihre Entsprechung in der Sprachunfähigkeit der Untoten findet. In einer Weiterführung der Hofmannsthalschen Pilze zerfallen in Jelineks Text nicht nur mehr der Untote, sondern auch die einzelnen Worte wie modriges Fleisch auf der Zunge. Die hier verwendeten Bilder von Zerfall und Tod verweisen bereits auf die Auslöser für eine Erfahrung im Realen. Denn die Figurationen des Abjekts sind klar mit der Empfindung des Ekels verbunden. Darunter ist freilich nicht der Ekel vor einem Objekt zu verstehen, sondern das Verhältnis, in dem das Ich zu diesem Objekt steht. Ratten sind somit keine Abjekte, aber der Ekel vor ihnen ist abjektiv. Analog zu Kristeva, die eine Angstreaktion auf das Abjekte beschreibt, die nicht im Objekt des Ekels selbst gründet, sondern in der Reaktion auf ein Objekt, führt bereits Lacan am Beispiel des Goetheschen Fausts aus: „Er kennt nicht die Gestalt, in welcher der Teufel sich ihm nähert. Nicht vor einem Objekt, nicht vor einem Hund, der da ist, hat er Furcht, es ist etwas anderes, etwas hinter dem Hund.“
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Gestaltlos ist es nicht der Pudel, vor dem sich der Faust graut, sondern das, was er hinter dem Hund befürchtet. Eben jenes Hinter-dem-Objekt-stehende, das nicht Symbolisierbare, interessiert auch Kristeva. Denn jedem Objekt kann im-
708 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 119. 709 Lacan: Angst. S. 200.
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mer auch ein Abjekt innewohnen, das nicht auf der rationalen Ebene einem Objekt anhaftet. Neben Beispielen der Nahrung und dem Erbrechen als starke Abwehrhaltung auf Essen und wie sie sich auch in Jelineks Text wieder finden, zielt Kristevas weitere Analyse insbesondere auf das Verhältnis des Ichs zur Leiche. In der Betrachtung der Leiche die eigene Vergänglichkeit und (unzulängliche) Leiblichkeit erfahrend, verweist Kristeva auf die Verwandtschaft des lateinischen Worts cadaver (Leiche) zu cadere (fallen) hin. Im Anblick der Leiche, verstanden als ein Abjekt, zerbricht das zeichenhafte Realitätskonstrukt und lässt das Ich in eine nicht symbolisierte Seinsstufe der Selbstbewusstlosigkeit fallen: „There, I am at the border of my condition as a living being. My body extricates itself, as being alive, from that border. Such wastes drop so that I might live, until, from loss to loss, nothing remains in me and my entire body falls beyond the limit – cadere, cadaver.“
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Dieser Fall im Anblick der Leblosigkeit wird im Jelinekschen Text als das Hineinfallen in eine untote Existenz gezeigt. Die von Kristeva beschriebenen border of my condition as a living being (Grenzlinien meiner Bedingungen als Lebewesen) lösen sich im Leichnam auf. Denn das Ich versucht nach Kristeva nicht nur sich von seiner Mutter, sondern auch von der sie symbolisierenden eigenen Sterblichkeit abzugrenzen. Tote Materie wird ausgeschieden und trennt das Lebendige von dem Toten. In der Betrachtung des Toten aber wird sich das Ich seiner künstlichen Separation bewusst. Im Lacanschen Terminus sieht das Subjekt also nicht auf die Leiche, sondern auf das, was hinter der Leiche ist. Es sind nicht die Ausscheidungen, die den Ekel zu einem Abjekt steigern, denn: „die Leiche ist nicht abjekt, weil sie stinkt oder weil die Verwesung ein übermäßiges Leben am falschen Ort hervorbringt (Rosenkranz), sondern weil sie ‚unrettbar‘ aus der symbolischen Ordnung ‚gefallen‘ ist.“
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In der Betrachtung der Leiche wird das Gefühl des Ekels nicht allein durch körperliche Säfte ausgelöst, sondern durch ein existentielles Unwohlsein, dass durch den Blick hinter die Leiche evoziert wird. Mit Blick auf die Leiche eröffnet sich das Wissen um die eigene Sterblichkeit, die das Subjekt permanent von sich abjeziert und die ihm seine eigene Nichtigkeit vor Augen führt. Nicht die Verwe-
710 Kristeva: Horror. S. 3. 711 Menninghaus: Ekel. S. 528.
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sung als solche, mit all ihren unappetitlichen Begleiterscheinungen ist also das Ekelhafte, jenes Widrige, sondern das Durchbrechen der Dichotomie von Leben und Tod. Bereits Freud bemerkt, dass die Leiche eine besondere Faszination auf das Subjekt ausübt: „Im allerhöchsten Grade unheimlich erscheint vielen Menschen, was mit dem Tod, mit Leichen und mit der Wiederkehr der Toten, mit Geistern und Gespenstern zusammenhängt.“
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Und so wirkt die Aussage Kristevas über die menschliche Leiche, wie eine Paraphrasierung der Freudschen These: „The corpse, seen without God and outside of science, is the utmost of abjection. It is death infecting life. Abject. It is something rejected from which one does not part, from which one does not protect oneself as from an object. Imaginary uncanniness and real threat, it beckons to us and ends up engulfing us.“713
Wie bereits Freud in seiner Definition des Unheimlichen, auf die an dieser Stelle referiert wird, erkennt auch Kristeva, dass bei gleichzeitiger Negierung der Erklärungsmodelle Wissenschaft und Glauben die Leiche zum Abjekt par excellence wird. Als Figuration des Todes infiziert die Leiche das Leben. Die empfundene Hilflosigkeit des Ichs vor der Leiche ist in dem (Irr-)Glauben des Lebenden zu finden, der unbewusst meist die Unsterblichkeit des eigenen Daseins unterstellt. Doch entsteht im Anblick der Leiche mehr als ein pures memento mori. Es ist ein Zerbrechen der Realität selbst. Diese existentielle Erfahrung des Ichs in Konfrontation zum Abjekten wird noch einmal in Kristevas Unterscheidung zum Freudschen Unheimlichen offensichtlich: „Essentially different from ,uncanniness‘, more violent, too, abjection is elaborated through a failure to recognize its kin; nothing is familiar, not even the shadow of a memory.“714
Gab es im Unheimlichen noch eine Anbindung an Realitätskonstrukte und ergab sich der unheimliche Effekt oft auch einfach aus einer Übersteigerung von Altbekanntem, ist das Abjekte bestimmt durch seine Unbestimmtheit. Im Unbe-
712 Freud: Unheimlich. S. 264. 713 Kristeva: Horror. S. 4. 714 Kristeva: Horror. S. 5.
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stimmten, das sich dem Zeichenkosmos verweigert, wird das Ich in seinem Ewigkeitsanspruch in Frage gestellt. Analog zu Kristeva bemerkt bereits Foucault den Unendlichkeits- und Unsterblichkeits-Anspruch der Lebenden. Denn neben der Utopie, den Körper in eine unsterbliche Form zu übertragen und ihn zu konservieren, dient der Totenkult der entgegengesetzten Richtung: „Es gibt jedoch auch eine Utopie, die den Körper zum Verschwinden bringen soll. Diese Utopie ist das Land der Toten. Es sind die großen utopischen Städte, die uns die ägyptische Kultur hinterlassen hat. […] Und heutzutage gibt es diese einfachen Marmorquader, in Stein geometrisierte Körper, regelmäßige weiße Figuren auf der großen schwarzen Tafel der Friedhöfe. In dieser utopischen Totenstadt erhält mein Körper die Festigkeit von Dingen und die ewige Dauer eines Gottes.“715
Dient der Unsterblichkeitsmythos dem Erhalt des menschlichen Daseins, so ist im Totenritual eine Tendenz der Abgrenzung zu erkennen. Der Verstorbene soll in ein zeichenhaftes System übertragen werden. Das ehemalige Leben wird somit ins Dinghafte überführt und fortan als erneuertes Zeichen gelesen; mit all der Unumstößlichkeit, die dem Zeichenkosmos zukommt. Die ägyptische Pyramide wird ebenso wie der Friedhof zum Ort dieser Übertragung, die als Transformation des Zeichens Mensch auf ein festes, haltbares Material vollzogen wird. Der geometrisierte Körper des Grabsteins ist aus dieser Perspektive ein Vertrag, der zwischen dem Leben und dem Tod unterscheidet, den Tod jedoch auch nicht zu stark in eine Gesellschaft eindringen lässt und ihn örtlich bannt. Als Nekropolen bilden die Friedhöfe den Ort des Vertrages, der einen materiell vorhandenen Menschen in eine neue, doch immer noch haptische Ordnung überführt. Es handelt sich um einen Vertrag, der zwischen dem Leben und dem Tod unterscheidet. Das Nachleben der Leiche jedoch bezeugt einen Bruch dieses Vertrages. Bietet der Grabstein eine feste Form an, auf die der tote Körper übertragen wird – die Pyramide steigert diesen Anspruch noch, indem er für die Ewigkeit konserviert werden soll –, so ist im Verwesen der Leiche eine Verflüssigung des Festen und das Nachleben des bereits Toten zu verstehen. Der aus der Gesellschaft verbannte, tote und in ein Zeichensystem überführte Körper schreibt sich dann unheimlich in die Gesellschaft der Lebenden ein, wenn das Grab aufbricht. Verweist die dem Grab enthobene Hand auf den zerstückelten Körper, so erfüllt dies die Bedingungen eines abjektiven Körpers. Der Zombie,
715 Michel Foucault: Utopische Körper. S. 27.
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als der verwesende, untote Leichnam, ist dessen pure Ausformung. Den Thesen Kristevas folgend, dient er dazu, bestehende Dichotomien zu zerbrechen: „Literatur, so Kristeva, verwirft die Verwerfung, sie antwortet auf die ‚ursprüngliche‘ Abjektion mit einem ‚rejet‘ zweiter Ordnung – nicht indem sie die symbolische Ordnung ins ‚Semiotische‘ verläßt, sondern indem sie die Bewegung der abjektiven Körper und Triebe ‚pervertierend‘ und ‚subversiv‘ ins Symbolische einschreibt.“
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Der Zombie, wie er uns auch in Jelineks Text begegnet, kehrt die bestehende Ordnung in einen Ausnahmezustand. Die Apokalypse korrespondiert mit der untergegangenen Welt, indem sie die aggressivste und totale Ausformung des Zusammenbruchs beschreibt. Der bereits im Prolog beschriebene Sturz des Busses setzt sich kompositorisch als eine Mise en abyme fort, die schließlich am Ende des Textes, im Verschlingen der gesamten Szenerie in einer Mure, ihren dramatischen Höhepunkt findet. Selbstreflexiv heißt es hierzu kurz vor dem Ende des Textes: „Sie überhören, daß etwas anderes zu Ende geht. Es war schon von Anfang an zu Ende.“717 „Die Kinder der Toten“ präsentiert sich somit als ein Text, in dem die Zerstörung der Signifikantenrealität dargestellt wird. Doch auch die kulturellen Errungenschaften werden in einer Welt des Untoten zertrümmert. Triebe, die durch das Gesetz des Tabus einer Reglementierung unterworfen wurden, wie Nekrophilie, Kannibalismus oder Inzest, bestimmen die Handlung: „One might thus say that with such a literature there takes place a crossing over of the dichotomous categories of Pure and Impure, Prohibition and Sin, Morality and Immorality.“
718
Die Moralgesetze werden in einer wertebefreiten Apokalypse in ihrer Gemachtheit entlarvt. Im Realen wird das Erleben der reinen jouissance erst ermöglicht, das sich in einem Bacchanal aus Sex und Essen äußert. Kristevas Analysen zu Céline lassen sich somit in ihrem Modellcharakter auch auf den Jelinekschen Text übertragen:
716 Menninghaus: Ekel. S. 535. 717 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 656. 718 Kristeva: Horror. S. 16.
290 | D IE Z ERSTÖRUNG DES I CHS „A laughing apocalypse is an apocalypse without god. Black mysticism of transcendental collapse. The resulting scription is perhaps the ultimate form of a secular attitude without 719
morality, without judgment, without hope.“
In einer von allen moralischen Instanzen befreiten Welt ist wirklicher Genuss zwar erst erfahrbar, doch die hier zitierte lachende Apokalypse ist nicht vorschnell mit einer befreiten, säkularen Gesellschaft gleichzusetzen. In letzter Konsequenz, folgert Kristeva, führe dies zu einer von Moral, Werten und Hoffnung beraubten Welt. Und auch in „Die Kinder der Toten“ wird das vermeintlich entfesselte Subjekt im Raum des Realen in all seiner Kläglichkeit vorgeführt. Das anonyme Kollektiv weiß nur noch zu erkennen: „wir befinden uns ja, wie Gott, außerhalb der Zeit.“720 Durch eine unverarbeitete Vergangenheit und eine durch mediale Diskurse bestimmte Gegenwart werden die Individuen im der Zeit enthobenen Raum aufgelöst und zwingen das entindividualisierte Subjekt in einen Strudel der Wiederholungen. Jelineks Text nutzt die Personen und Narrationen des Horrorfilms, um die untergründigen Mechanismen unserer Zeichenrealität aufzuzeigen und zu enthüllen. Die übergesteigerten Darstellungen von Tabubrüchen und Ekelfigurationen folgen den Regeln einer abjektiven Kunst, die einen Zugang auf die Ebene des Realen eröffnet: „Im 20. Jahrhundert indiziert Ekel nicht länger nur eine Wahrheit, sondern er schickt sich an, die Position der Wahrheit selbst einzunehmen. Ein kritischer Beobachter des aktuellen Abjektionsdiskurses erfaßte daher sehr treffend den vorläufig äußersten Zipfel eines größeren Zusammenhangs als er feststellte: ‚Eine besondere Wahrheit scheint in […] abjektiven Zuständen, in kranken oder beschädigten Körpern zu wohnen.‘ Diese Wahrheit ist nicht die Wahrheit von Aussagen. Sie besteht auch nicht in der Repräsentation eines besonderen Wirklichkeitsausschnitts im Spannungsfeld von Repulsion und Attraktion. Sie impliziert vielmehr einen weitergehenden Anspruch: nämlich im Bruch der Wirklichkeitskonstruktionen das ‚Reale‘ selbst durchschlagen zu lassen.“
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Die Regeln einer zeichenhaften Realität werden weitestgehend negiert. Der Raum der Apokalypse und des Untoten ermöglicht die Darstellung einer den Gesetzen der Phantastik folgenden Welt. In der Negation der vermeintlichen Reali-
719 Kristeva: Horror. S. 206. 720 Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 644. 721 Menninghaus: Ekel. S. 546.
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tät wird somit im Abjekt, als einem Objekt des Ekels, die Wahrheit über die Zeichen, die Realität und somit über das Subjekt selbst gesucht: „(D)ie (analsadistische) Destruktion der schönen Form und die lachende Transzendenz der symbolischen Ordnung avanciert das Ekelhafte in die verwaisten Positionen des unverfügbaren „Realen“ und der quasi-metaphysischen Wahrheit. Das Wahre ist das Ekelhafte, das Ekelhafte ist das Wahre, ja das ‚Ding an sich‘: auf diesen Satz läuft von Nietzsche über Freud, Kafka, Batailles und Sartre bis Kristeva unversehens eine gewichtige und weithin übersehene Bewegung modernen Denkens hinaus. Fast durchweg führt dieser Satz auf einen zweiten: die Kunst ist die Praxis, die zu allererst dieser abjektiven Wahrheit einen Ort und eine alles Symbolische sprengende ‚Realität‘ gibt. Sie gewinnt das Verworfene mittels komplexer Entekelungsweisen als emphatische Lust zurück. Kunst ist – dafür bieten alle genannten Autoren je unterschiedliche Denkmodelle – das Abjektive als ‚absolute‘ Lust, der Ekel als Form exkrementell-destruktiven und zugleich unschuldigen Genießens, 722
das Ekelhafte als intermittierendes Sein des ‚Wahren‘.“
Jelineks Text also vorschnell in nur einer Thematik zu erfassen oder ihn gar aufgrund seiner ekelhaften Figurationen abzulehnen, verhindert den Blick auf eine virtuose Komposition. „Die Kinder der Toten“ findet einen postmodernen Zugang zur Frage des Subjekts, die bereits im Titel angelegt erscheint.
722 Menninghaus: Ekel. S. 21.
Wer sind die Kinder der Toten?
Immer wieder wurde über die Bedeutung des Titels spekuliert. Namentlich treten die Kinder der Toten nur an einer Stelle des Textes auf723 und verweisen eher auf einen, dem gesamten Text verpflichteten, interpretatorischen Ansatz. Dieser lässt zunächst zwei Herangehensweisen zu. Die erste Lesart wird vornehmlich von jenen Forschern vertreten, die Jelineks Text mit Blick auf die Schrecken der Shoa deuten. Danach sind die hier angesprochenen Kinder Hinterbliebene. Waisen, nicht nur verstorbener Eltern, sondern einer gerade noch dem Vergessen entrissenen, aber dennoch entwurzelten und schwer verletzten Kultur.724 Die zweite Interpretation nimmt den Titel wörtlicher. Demnach sind die im Text vorhandenen Zombies als Kinder von Toten anzusehen. Das Tote erzeugt noch über die Grenzen des Daseins hinaus Lebewesen. Auch hier werden oft Analogien zu dem vermeintlich untoten Gehalt nationalsozialistischer Gedanken gezogen. Befeuert wurde diese Lesart einer gespenstischen Geschichte, die ihrerseits Gespenster gebiert, auch durch Aussagen Jelineks.725 Doch verkennen beide Ansätze das Oxymoron von Kindern der Toten in seinem utopischen Sinngehalt. Einer Utopie, der sich der gesamte Text als unheimliches, der Signifikantenrealität enthobenes Projekt verpflichtet. Der Logik des
723 Vgl.: Jelinek: Die Kinder der Toten. S. 606. 724 Mertens sieht in ihrer Analyse des Titels eine generell zeitgebundene Reaktion auf die damaligen Debatten über die Schuldfrage Österreichs und im speziellen in Bezug auf die Rede im Österreichischen Nationalrat von Franz Vranitzky. In dieser wurde 1991 zum ersten Mal die Mitschuld Österreichs an den nationalsozialistischen Verbrechen kommuniziert. In der Ansprache ist von den „Nachkommen der Toten“ die Rede. Siehe hierzu: Mertens: Ästhetik. S. 12. 725 Vgl. etwa: Habe gebetet, dass ich ihn nicht bekomme. Interview von profil mit E. Jelinek, vom 9.5.2004. Über: http://www.profil.at/articles/0441/560/95050_s1/habe _ Jelinek: „Ich bin im Grunde ständig tobsüchtig“.
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Romans folgend, erscheint es somit sinnvoller, weniger den explizit angeführten Kindern in einer Entschlüsselung des Titels zu folgen, als vielmehr den implizierten, toten Eltern, die freilich nicht als biologische Eltern zu verstehen sind. Aufgebaut als ein Text, der die Subjektwerdung im Verbund mit einer Signifikantenrealität als narratives Grundgerüst aufzeigt, verweisen die hier im Verborgenen eingeschriebenen Eltern vielmehr auf ein psychologisches Programm. Die ersten Zugänge zur mütterlichen Instanz sind maßgeblich in den Denkansätzen von Melanie Klein und deren Weiterführung durch Julia Kristeva zu finden. Die rein patriachal geprägte Psychologie, wie sie noch von Freud vertreten wurde, wird somit um eine (starke) weibliche Instanz erweitert. Ebenso wie zuvor der männlichen Figuration der Macht ist aber auch die psychologische Mutter bestimmt in ihrer Ambivalenz zwischen Schutz und Verbot. Klein wie auch Kristeva betonen die pflegende, wärmende und nährende Komponente der mütterlichen Zuwendung. Diese positiven Eigenschaften sind aber auch immer abhängig vom Subjekt. Um eine vollkommene Individuation zu vollziehen, muss sich das Subjekt vom Mutterkörper lösen. Eine andauernde Abhängigkeit zur Mutter verhindert eine vollzogene Persönlichkeitsreifung. Analog zur väterlichen Instanz muss also auch die mütterliche Instanz überwunden werden. Lacan erweitert – auch als Reaktion auf das von ihm abgelehnte duale Beziehungsmodell einer Mutter-Kind-Dyade, wie sie von Klein vertreten wird – die Instanz des Vaters. Er sieht den Vater in Ausweitung der Freudschen Thesen nun nicht mehr nur als Auslöser des Kastrationskomplexes und der ödipalen Strukturen, sondern auch in Funktion einer sozialen Instanz, die er in dem Begriff vom Namen-des-Vaters zu benennen versucht. Doch gerade in dem Lacanschen Wortspiel des Nom du père zu einem Non du père ist immer auch die Verbotsstruktur des väterlichen Gesetzes angelegt. Zwar garantiert die väterliche Instanz eine regulierte und strukturierte Ebene des Symbolischen, doch engt sie die Begehrensstruktur immer auch ein. Dem väterlichen Gesetz ist immer ein moralsadistisches Moment zu eigen. Eng mit der symbolisch väterlichen Ebene verwoben ist die mütterlich imaginär besetzte Daseinsstufe. Das Imaginäre ist der Ort der Ich-Ausbildung, des Imagos. In Lacans Theorie eng mit dem Spiegelstadium verbunden, erweitert Kristeva das bestehende System um einen Individuationsprozess, in dessen Rahmen die Ablösung von der dominierenden Mutter vollzogen wird. Weil dieser Flucht immer auch eine Verkennung des eigenen Ursprungs innewohnt, ist auch das im Spiegel gewonnene Selbstbildnis eine (bildhafte) Täuschung. Sowohl die imaginäre als auch die symbolische Ebene sind eng mit dem Begehren verwoben und lassen doch zugleich keinen wahren Genuss zu. Ist das Spiegelbild immer nur ein Ab-bild und somit mangelhaft, ist doch auch die sym-
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bolische Ebene durch einen mangelhaften Prozess der Übertragung geprägt. Bild und Zeichen konstituieren somit zwar eine vermeintliche Realität, wahrer Genuss bleibt in dieser psychischen Bewusstseinsebene jedoch verwehrt. Die vermeintliche Liebesstruktur zu den beiden (psychologischen) Eltern entlarvt sich somit immer wieder in ihrer Ambivalenz. Wurden somit beide psychologischen Elternteile identifiziert, deutet sich bereits deren notwendiger Tod in der Dialektik der Subjektwerdung an. Denn die Autonomie des Subjekts hält im Wechselspiel dieser beiden dominanten Pole einer genaueren Betrachtung nicht stand. Begehrt die imaginäre Ebene des Subjekts, droht das strafende Gesetz des Vaters. Der imaginären Ebene des Individuums ist zudem immer die Gefahr eines Rückfalls in die Abhängigkeit der mütterlich erstickenden Fürsorge inhärent. All dies verweist auf jene dritte psychische Seinsstufe des Realen hin, in der die Macht des väterlichen und mütterlichen Gesetzes außer Kraft gesetzt wird. Befreit sowohl von einem maternalen als auch einem patriachalen Machtgefüge fällt das Subjekt zunächst durch das Netz der Bilder und Signifikantenrealitäten in einen Raum der Angst. Die Angst als Raum der Erkenntnis des menschlichen Seins, wie ihn Kierkegaard und Heidegger bestimmen, ist ein Erkennen der Verwobenheit des Ichs in einer Signifikantenrealität wie auch seine Einbindung in einen psychologischen Apparat. Diese Selbsterkenntnis, die das Heimelige der Zeichenrealität für einen unheimlichen Raum der Unordnung tauscht, erinnert nicht nur zufällig an eines der bekanntesten Nietzsche-Zitate: „(M)an muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.“726 Nietzsche, der das Chaos in seiner griechischen Bedeutung einer Leere verwendet, deutet bereits eine implizierte Schaffenskraft an. Die Leere, das nicht zeichenhafte, das Abjekt entziehen sich einer objektivierten Welt der elterlichen Instanzen. Im untoten Raum des Unheimlichen wird schließlich eine Ebene des Realen eröffnet, in dem das Abjekte waltet und die Dichotomien einer geordneten Welt zerbrechen. Dieses Erleben einer Selbstbewusstlosigkeit kann rein negativ betrachtet werden, es bietet jedoch auch Hoffnung. Befreit sowohl von einem maternalen (imaginären), als auch einem patriarchalen (symbolischen) Machtgefüge, figurieren die befreiten Subjekte im Raum des Realen als die Kinder der Toten.
726 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen, in: Giorgio Colli und Mazzino Montinari (Hrsg.): Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Bd. 4, 2. durchgesehene Auflage, München 1999, S. 19.
Resümee Diese Fülle hat mich arm gemacht. OVID
Das Jelineksche Œuvre ist geprägt von der Suche nach einer Autonomie des Subjekts. Einsetzend mit den Ideen der Wiener Gruppe, die die ersten Texte bestimmen, erlangt die Erkenntnis über die Verwobenheit von Sprache, Macht und Subjekt paradigmatischen Charakter für das Jelineksche Werk. Demnach bildet Sprache Realitäten aus, konstituiert den Subjektstatus und verlangt einen besonderen Umgang in der Literatur als dem Medium der Sprache. Ausgehend von diesen Einsichten, die in den frühen Schriften noch stark mit den Thesen Roland Barthes` über die Mythen des Alltags verbunden werden, entstehen die ersten, medienkritischen Texte, wie etwa „wir sind lockvögel baby!“. Das Fernsehen als Massenmedium wird darin als Ich-Bildner der Massen erfasst. Doch die Figuren und Werbeslogans des Fernsehens bilden keine Individuen aus, sondern nur mehr Simulakren, die in einer Volte ihre Realitäten nun nach den Vorgaben der Fernsehikonen anpassen. Diese verlorene Individuation wird durch die den Text bevölkernden Otto-Figuren gezeigt. Doch mit der Vielheit an immer neuen Otto-Figuren, wie sie bereits in Goethes „Die Wahlverwandtschaften“ zu erkennen ist, entlarvt sich die Ödnis der vermeintlich reichen Konsumgesellschaft. Sich am Inventar der Populärkultur bedienend werden zugleich waltende narrative Muster der Unterhaltungsindustrie aufgedeckt. Somit ist hierin keine bloße Kritik am Diskurs der Populärkultur, im Sinne der Frankfurter Schule, zu erkennen, sondern eine kritische Perspektive auf den Pop, der poststrukturalistisch in einen subversiven Kontext rück-überführt wird. Die Kritik an einer medial vermittelten Wahrheit verdeutlicht sich in Werbeikonen und Comichelden, die in der Aufdeckung ihrer Tradiertheit die Mechanismen eines kapitalistischen Machtdiskurses in all ihrer Monstrosität enthüllen. Denn die Utopien etwa vermeintlicher Superhelden werden als Trivialmythen
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demaskiert und die putative Vielfältigkeit als mediales Gefängnis erkannt. In ihm wird das Subjekt in einem Zustand der Echolalie medialer Slogans gezeigt. Allein der Spiegel als Lacansche Instanz einer Ich-Ausbildung wird zum Mythenzertrümmerer, in dem sich das Subjekt bereinigt von Masken, Zuschreibungen und Images sehen kann, auch wenn der Spiegel in seiner Funktion letzten Endes folgenlos bleibt. Mittels rhetorischer Stilmittel, wie Homophonie, Antonymie, Synonymie, Anakoluth etc. werden schon seit diesen frühesten Texten des Jelinekschen Schreibens die Zeichenträger einer Enthierachisierung unterzogen. Bildeten die frühen Pop-Romane allgemeingültige und auf eine Masse hin verstandene Machtdiskurse ab, wird in „Die Klavierspielerin“ ein Einzelschicksal nachgezeichnet. Mit stärkerer Ausrichtung auf das einzelne Subjekt thematisiert Jelineks bekanntester Roman den Versuch einer Egalisierung von Geschlechterdifferenzen, ein Themenfeld, das von nun an das ganze Œuvre der Nobelpreisträgerin durchziehen wird. Literaturhistorisch lässt sich „Die Klavierspielerin“ in eine Tradition masochistischer Texte, beginnend mit SacherMasoch, einordnen. Dabei ist der Jelineksche Tabubruch der Findung eines explizit weiblichen Masochismus verpflichtet. Als Möglichkeit einer frei bestimmten Sexualität, steht diese Lesart des Masochismus also auch in der Tradition feministischer Schriftstellerinnen und lässt sich im Zuge der PorNo-Bewegung zudem zeitgeschichtlich einordnen. Rekurrierend auf damalige Debatten wird in „Die Klavierspielerin“ die Möglichkeit einer weiblichen Autonomie im Feld der Sexualität erprobt. Dabei ist der im verhandelten Masochismus-Thema inkludierte Tabubruch in Jelineks Text nie Selbstzweck, sondern dient vielmehr dazu, geltende gesellschaftliche Dichotomien aufzuzeigen. Der oftmals kompositorische Gebrauch der beiden sexuellen Positionen von Masochismus und Sadismus auf dem Feld der Literatur erweist sich auch im Umgang mit dem Jelinekschen Text als wenig hilfreich. In einer klar auf den weiblichen Masochismus als Machtposition verstandenen Lesart erweist sich der Brief der Klavierlehrerin Erika als zentrale Textstelle für einen solchen Interpretationszugang. In ihm ist die Konstituierung eines Vertrags, der das masochistische System bestimmt, zu erkennen. Mittels der juridischen Ebene erweist sich die Masochistin Erika als ein vor-schreibendens Individuum, was der masochistischen Spielart ein oft verkanntes Machtpotential zuspricht und zudem die Verbundenheit von Masochismus und einer Reflektion auf die Signifikantenrealität aufzeigt. Als aktiv devotes Subjekt soll die männlich dominierte Realität im sexuellen Genießen der weiblichen Masochistin suspendiert werden.
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Doch ist die Suche nach einer autonom weiblich bestimmten Sexualität bereits hier gebunden an die Problematik der Objektwerdung, die etwa in den „Prinzessinnen-Dramen“ noch an Relevanz gewinnen wird. Versucht das weibliche Subjekt in einem machtvollen Masochismus einen Individuationsprozess zu vollziehen, verharrt sie doch, indem sie den Mann zum Erfüllungsobjekt bestimmt, in der angeprangerten Dialektik eines sexuellen Machtgefüges, also ihrem Objektstatus. Die Suspendierung der vorherrschenden symbolischen Ordnung bleibt ein nur temporär erlangbares Ziel. Der Masochismus offeriert somit zwar eine ungewöhnliche Machtstruktur, die aber höchstens in einem Spiel des „als ob“ verbleibt und keine wirklichen oder gar dauerhaften Veränderungen begünstigt. In der Erkenntnis dieser binären Gesetzmäßigkeit und in Rekurs auf Ideen der Phantastik, wird die Möglichkeit der Metamorphose, oder im Sinne Deleuzes ein Werden, als Option für einen Individuationsprozess in den folgenden Texten erkannt. Dabei ist die Werdung immer als Reaktion auf eine Gemeinschaft zu verstehen. Der Werdungsgruppe selbst ist keine eigene Schaffenskraft zu eigen, wodurch sie immer nur auf die Kerngruppe selbst verweist. Das Unbehagen gegenüber der phantastischen Werdungsfigur erweist sich somit als ein Unbehagen an den Zeichen selbst. Dieser Zweifel an der Realität hinter den Zeichen ist bereits in den Texten Kafkas zu erkennen. So stört das Odradek das virtuelle Netz der Signifikantenrealität und führt zugleich dessen artifiziellen Charakter vor. Der geltenden Verweispraxis des Signifikanten wird durch den Gebrauch von Signifikantenketten eine Intensitätsdifferenz im Sinne Deleuzes entgegengesetzt. Sie offenbart das artifizielle Moment der Signifikantenrealität, das sich in der Werdungsfigur bricht. Erst geschaffen durch die Ausschließung von einer Kerngruppe verweisen die Werdungen doch immer auf sie selbst und offenbaren zugleich sprachliche Machtdispositive. Der Text „Krankheit oder Moderne Frauen“, in dem sich zwei Frauen als Vampirinnen gegen eine patriarchale Machtstruktur auflehnen, weist somit nicht nur die systemimmanente Struktur einer Werdung und dessen Anbindung auch auf sprachlicher Ebene auf, sondern muss zudem im Jelinekschen Gesamtwerk als paradigmatische Wende verstanden werden. Denn wenn auch die angezeigten Probleme zunächst als genuin feministisch motiviert betrachtet werden können, so erlangen die hier erstmals erprobten Ideen einer Werdung doch in der Folge Systemcharakter, ebenso wie die damit verbundene Überführung des Subjekts in den Raum einer untoten Phantastik. Das Unbehagen der Geschlechter soll nicht mehr in einer vermeintlichen Anbindung oder gar Spiegelung der männlichen Blicke erfolgen. Vielmehr soll jegliche Form der Spiegelung versagt bleiben. Dies erfolgt sowohl durch die
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spiegelbildlose Figur der Vampirin als auch durch eine aktiv gewählte Verweigerung des Sprechens. Denn gerade im Schweigen kann die vorherrschende patriarchale Macht im Sinne Lacans als eine gespiegelte, eine inverse Sprechweise bestimmt werden. Versuchten die Frauen in „Die Liebhaberinnen“, aber auch Erika Kohut noch innerhalb eines binären Gefüges Macht für sich abzuringen, verlassen die Vampirinnen das sie umgebende System durch Schweigen und die Flucht in eine andere, den Gesetzen der Phantastik gehorchenden, Daseinsebene. Die angemahnten Autoritäten der Sprache werden somit nicht mehr nur als patriarchale Machtstruktur betrachtet, sondern zudem in der Dualität von imaginärer und symbolischer Ebene auf einer linguistischen Ebene erkannt und erweitert. Ein Durchbrechen kann im Sinne Lacans folglich nur im Raum der Phantastik, als dem Raum des Realen, geschehen. Im Realen wird das Netz der Signifikantenrealität in seiner Wirkmächtigkeit suspendiert. Doch scheitern die Vampirinnen des Krankheit-Textes. Die Ursachen hierfür werden in der literarischen Figur der Schönen Leichen ersichtlich. Trotz aller Abgrenzungs- und Emanzipationsversuche bleibt die Frau gefangen in einer dominierenden, heterosexuell männlichen Matrix. Eine Flucht in den Tod, oder den Zustand des Untoten, bricht nicht die Macht des männlichen Blicks, denn noch im Tod bleibt die Frau ein begehrenswertes Objekt, ja steigert gar noch ihren Objektcharakter und offenbart die vorhandenen Machtstrukturen als noch über den Tod hinaus wirksam. Am Beispiel des Grimmschen Schneewittchens lässt sich dieser literarische Topos nachzeichnen. Aufgebahrt in einem Glassarg, auf einem Berg positioniert und mit Goldlettern beschriftet, wird aus Schneewittchen das scheintote Objekt der schönen Leiche. In der Aussetzung einer Verwesung eröffnet sich für den Prinzen die Möglichkeit einer Suspendierung von Vergänglichkeit und Veränderung bei gleichzeitiger Objektwerdung der Frau. In diesen Konstanten verharrend wirkt denn auch zunächst die Schneewittchen-Variation Jelineks. In der Verbindung der Märchenfigur und tradierter Rollenmuster offenbart der Jelineksche Text die vorherrschenden Kategorien der Schönheit, als einem ordnenden, männlichen Blick unterworfen, doch nicht ohne auch die seitens der Frauen begangenen Fehler aufzuzeigen. Als Teil der „Prinzessinnen-Dramen“ zeigt sich somit die scheinbar unüberwindbare Wiederholung eines nicht enden wollenden Geschlechterkampfs. Eine Befreiung des Subjekts, losgelöst aus dem binären Geschlechterkrieg und in Befreiung aus einer Signifikantenrealität zeigt sich erst in Jelineks Opus Magnum „Die Kinder der Toten“. Mit einem überbordenden Verweischarakter wurde der Roman, dessen untote Figuren eine Alpenlandschaft heimsuchen, bisher als hauptsächlich auf die in ihm mitverhandelte Shoa-Thematik hin rezipiert.
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Dabei erweist sich Jelineks Text schon bei einer flüchtigen Betrachtung als sowohl dem im Sinne Freuds definierten Begriff des Unheimlichen als auch der Phantastik verbunden. Doch während sich der nicht klar definierte Phantastikbegriff als wenig nutzbar offenbart, erweist sich eine wissenschaftliche Analyse des Jelinekschen Textes unter der Perspektivierung des Unheimlichen als lohnend. Freud unterteilt zunächst die Ursprünge des Unheimlichen, um dann die unterschiedlichen Kategorien des Unheimlichen zu beschreiben. Jelineks Text zeigt sich in der Analyse als diesen Kategorien verpflichtet. Animismus, Doppelgängertum und die Suspendierung des Alltäglichen finden ihre Entsprechung in „Die Kinder der Toten“. Den Thesen Freuds gemäß erlangt Jelineks Roman dabei einen besonders hohen Grad an Unheimlichkeit, weil die Figuren immer auf einen psychologischen Impetus des Verdrängten fußen. In der Restrukturierung dieser verdrängten Momente entsteht Angst. Die Jelinekschen Untoten werden zu Figurationen dieser verbannten Ängste. Doch dienen Angst und Untote nicht allein dem Schrecken oder einem wohligen Schauer für den Rezipienten, sondern hinterfragen zugleich Mechanismen der Realität. Das wovor der Angst, verweist auf den vermeintlich gefestigten Subjektstatus. Der Logik Kierkegaards und Heideggers folgend, ist dem Erleben von Angst, auch in Jelineks Texten, ein Moment des Erkennens zu Eigen. In der Angst löst sich das Subjekt aus der als negativ definierten Macht des man (der imaginären und symbolischen Ebene) und erlangt Autonomie im Raum des Realen. Das wovor der Angst offenbart die eigene Verbundenheit in das realitätsausbildende Signifikantennetz. Aber auch die Aufgabe, einem etablierten Inventar der Shoa zu entgehen, wird in „Die Kinder der Toten“ auf der Ebene des Realen begegnet. Dabei sollen keine vermeintlichen Realitäten abgebildet werden. Vielmehr versucht der Text auf den traumatischen Gehalt der Katastrophe zu gelangen, indem das bekannte Inventar der Shoa auf eine Ebene des Unheimlichen und dem Erkennen in Angst übertragen wird. Dadurch wird der Roman als ein Durchschreiten des Phantasmas lesbar, das den Rezipienten zum traumatischen Kern der Shoa führen soll. Die vorgenommene Zertrümmerung der Realität in einen phantastischen/phantasmatischen Raum wählt Jelinek auch zum Thema ihrer Nobelpreisrede „Im Abseits“. Das bereits im Titel angegebene Abseits lässt sich dabei als der Raum der Phantastik identifizieren. Dieser wird aufgesucht, um, in Abstand zur vermeintlichen Realität, diese Realität zu reflektieren. Denn nur in der Distanz, so die Lehre, ist eine Flucht aus den Konstrukten der Realität zu vollziehen. Dabei wird die Realität als unbändig und in letzter Instanz undarstellbar erkannt. Erkennbar bleiben jedoch die realitätsbildenden Mechanismen, die es folglich
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darzustellen gilt. Dies geschieht aber nicht allein auf einer deskriptiven Ebene, sondern weitet sich auch auf das verwendete sprachliche Material aus. In stetem Bewusstsein des Inventarcharakters von Zeichen stellen Jelineksche Texte das zum Spektakel herabgesunkene Zeichen dar, wobei die offenbarte Referenzlosigkeit die Inszenierung von Wirklichkeit anzeigt. Somit lässt sich ein Roman wie „Die Kinder der Toten“ nicht allein auf das Thema der Shoa reduzieren. Als apokalyptischer Text, der in einer Traditionslinie österreichischer Literatur eingeordnet werden kann, wird analog zu dem beschriebenen Untergang auch ein Zusammenbruch der Zeichenrealität beschrieben, der in letzter Instanz die Konstruiertheit der Realität enthüllt. Die vermeintlichen Wahrheiten werden in ihrer Künstlichkeit etwa mittels Metalepsen und mäandernder Signifikantenketten angezeigt, die dem Jelinekschen Text zudem einen überbordenden Verweischarakter verleihen. Der dadurch erreichten Verweigerung einer endgültigen Interpretation ist Jelineks Opus Magnum auch auf ästhetischer Ebene verpflichtet. In der Tradition von Autoren wie Baudelaire bedient sie sich einer Ästhetik des Ekelhaften. In der Auflösung binärer Schönheitsideale wird das Ekelhafte nicht mehr als singuläre Attraktion, wie in Baudelaires „Une charogne“, begriffen, sondern hat bereits alle Lebensräume erfasst. Als Text eines kolportierenden Tabubruchs werden in „Die Kinder der Toten“ Themen wie Kannibalismus, Inzest und Nekrophilie in einem Raum des Unheimlichen beschrieben. In einer vom Widerlichen und Toten durchdrungenen Natur ist es jedoch maßgeblich der Mensch, der in den Fokus Jelinekscher Ekelästhetik gerückt wird. Der sich auflösende Körper dient dabei als radikales Bild einer um sich greifenden Biopolitik. Diente Baudelaire das tierische Aas zur Etablierung seiner neuen Ästhetik, bevölkern den Jelinekschen Text Horden von verwesenden Untoten, die das Bild vom Nachleben der Leiche noch zu steigern wissen. In diesem Raum der allumfassenden Apokalypse verlieren die in ihm wandelnden Figuren den Halt des Bodens, wenn eine scheinbar geordnete Welt sich auflöst. Diente der Boden kulturgeschichtlich als identifikatorisches Agens für eine Gemeinschaft, zeigt sich die Heimat bereits in „Wolken. Heim“ als verseucht. Anthropomorphisiert spuckt der unheimatliche/unheimliche Boden seine Toten aus, die nunmehr rastlos durch eine unwirkliche Welt irren. In diesem Tableau des Verfalls ist zudem die lineare Zeitordnung suspendiert, was zu einem Moment der ewigen Wiederholung führt. Der These des zerstückelten Körpers folgend, wie sie Lacan definiert, ist im Fall des Subjekts in den ungeordneten Raum des Realen auch eine Auflösung der Körpergrenzen zu sehen. Zurückgeworfen auf eine präödipale Seinsstufe erfährt das Ich sich nicht länger als Entität. In der Darstellung von autonomen
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Händen und trägerlosen Haaren zeigen sich sowohl die Verwobenheit des Jelinekschen Textes in ein psychologisches Konzept als auch klare Anleihen an ikonographische Bilder des Horrorfilms und die Einbindung in eine literarische Tradition. Unter die bedeutende, aber auf das Werk Jelineks bisher kaum angewendete Kristevasche These des Abjekts, lassen sich die archäologischen Teilaspekte der dargestellten Ästhetik subsumieren. Um einer Objektwerdung, aber auch jeglicher Zuschreibung durch die Gesellschaft zu entkommen, flüchten die Subjekte in den phantastischen Raum des Realen. Als Figuration des Realen Raums ist das Abjekt zu verstehen. Befreit von der symbolischen und der imaginären Ebene wirkt das Abjekt ohne Verweischarakter. Eine Undefinierbarkeit, die sich im Jelinekschen Text ausdrückt durch die überbordenden Assoziationsketten, schnelle Perspektivwechsel und eine unbestimmte Erzählerperspektive. Die vermeintliche „Unlesbarkeit“ entsteht somit nicht durch ein leeres Zentrum des Erzählten, sondern durch die Leere der verwendeten Zeichen und deren Entbindung von einem Verweischarakter. Diese Destruktionen haben eine Auflösung von Raum, Zeit und Objekten zur Folge. Die geltenden Ordnungen einer Wunschökonomie, wie auch der damit verbundene Andere verlieren im abjektiven Erleben ihr Machtpotenzial und lassen ein vereinzeltes, verängstigtes, aber auch ein Subjekt der Möglichkeiten entstehen. Dies wird sowohl durch die unterschiedlichen Simulakren der Protagonisten, als auch durch eine Flüssigwerdung erreicht. Figuren und Worte fließen ineinander, Erzählebenen lösen sich gegenseitig auf und erschaffen somit einen Raum des Unbestimmten. In ihm walten keine vorgegebenen Instanzen mehr, wie Körpergrenzen. Alte Dichotomien – am sinnbildlichsten die von Leben und Tod – werden zertrümmert. Denn erst in der Auflösung aller ordnenden Konstanten der Realität ist eine wirkliche Freiheit des Subjekts erreichbar. Somit kann der Raum des Freudschen Es bzw. des Lacanschen Realen um eine weitere Komponente sinnvoll erweitert werden. Nicht nur, dass der Ursprung der Angst im abjektiven Erleben bestimmt werden kann, sondern dass auch dieser Ursprung im mütterlichen Körper zu finden ist, ist insofern bemerkenswert, als dass einem maternalen Machtgefüge innerhalb des psychologischen Diskurses bisher kaum Raum gegeben wurde. Jelineks Text „Die Kinder der Toten“ offeriert einen phantastischen Raum, der sowohl von einer väterlichen als auch von einer mütterlich ordnenden und Realitäten ausbildenden Instanz befreit ist. Nur in der Suspendierung dieser beiden Ich-Bildner, im Raum des Realen mit den in ihm waltenden Abjekten, kann ein freiheitliches Ich, können jene Kinder der Toten vorkommen.
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Bleibt dieser Raum auch eine der Literatur vorbehaltene Utopie, gilt es doch weiterhin das Werk einer Ausnahmeschriftstellerin zu entdecken, die den Menschen in das zutiefst humanistische Zentrum ihres Schaffens gestellt hat und ihre Leser an diesen Ort mitnimmt.
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Lettre Carsten Gansel, Werner Nell (Hg.) Vom kritischen Denker zur Medienprominenz? Zur Rolle von Intellektuellen in Literatur und Gesellschaft vor und nach 1989 November 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3078-7
Susanne Hochreiter, Ursula Klingenböck (Hg.) Bild ist Text ist Bild Narration und Ästhetik in der Graphic Novel 2014, 286 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2636-0
Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin 2014, 430 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-1760-3
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Lettre Tanja Pröbstl Zerstörte Sprache – gebrochenes Schweigen Über die (Un-)Möglichkeit, von Folter zu erzählen August 2015, 298 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3179-1
Heinz Sieburg (Hg.) ›Geschlecht‹ in Literatur und Geschichte Bilder – Identitäten – Konstruktionen 2014, 262 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2502-8
Hans Stauffacher, Marie-Christin Wilm (Hg.) Wahnsinn und Methode Zur Funktion von Geniefiguren in Literatur und Philosophie Dezember 2015, ca. 320 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2339-0
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Lettre Thomas Assheuer Tragik der Freiheit Von Remscheid nach Ithaka. Radikalisierte Sprachkritik bei Botho Strauß 2014, 274 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2759-6
Reinhard Babel Translationsfiktionen Zur Hermeneutik, Poetik und Ethik des Übersetzens September 2015, ca. 350 Seiten, kart., ca. 44,99 €, ISBN 978-3-8376-3220-0
Clemens Peck, Florian Sedlmeier (Hg.) Kriminalliteratur und Wissensgeschichte Genres – Medien – Techniken April 2015, 248 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2887-6
Johanna Richter Literatur in Serie Transformationen des Romans im Zeitalter der Presse, 1836-1881 September 2015, ca. 240 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3166-1
Julia Catherine Sander Zuschauer des Lebens Subjektivitätsentwürfe in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Juni 2015, 344 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3127-2
Armin Schäfer, Karin Kröger (Hg.) Null, Nichts und Negation Becketts No-Thing November 2015, ca. 290 Seiten, kart., ca. 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2704-6
Erik Schilling Dialog der Dichter Poetische Beziehungen in der Lyrik des 20. Jahrhunderts Oktober 2015, ca. 154 Seiten, kart., 23,99 €, ISBN 978-3-8376-3246-0
Sebastian Schmitt Poetik des chinesischen Logogramms Ostasiatische Schrift in der deutschsprachigen Literatur um 1900 September 2015, ca. 292 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3247-7
Gregor Schuhen (Hg.) Der verfasste Mann Männlichkeiten in der Literatur und Kultur um 1900 2014, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2793-0
Toni Tholen Männlichkeiten in der Literatur Konzepte und Praktiken zwischen Wandel und Beharrung Mai 2015, 224 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3072-5
Lars Wilhelmer Transit-Orte in der Literatur Eisenbahn – Hotel – Hafen – Flughafen März 2015, 344 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2999-6
Sophie Witt Henry James’ andere Szene Zum Dramatismus des modernen Romans Oktober 2015, ca. 380 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2931-6
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Siegfried Mattl, Christian Schulte (Hg.)
Vorstellungskraft Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2014
Dezember 2014, 136 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2869-2 E-Book: 12,99 € ISBN 978-3-8394-2869-6 Vorstellungs- oder Einbildungskraft bezeichnet die Fähigkeit zur Erzeugung innerer Bilder, die entweder Wahrnehmungen erinnernd reproduzieren oder produktiv Gegebenheiten überschreiten. Vorstellungen konstruieren imaginativ zukünftige Szenarien oder erzeugen – wie in der Kunst – ästhetische Alterität. Die interdisziplinären Beiträge dieser Ausgabe der ZfK untersuchen Figurationen und Agenturen des Imaginären: von den Todes- und Jenseitsimaginationen der christlichen Kunst, den Denk- und Sehräumen in Kunst und Medizin über Rauminszenierungen der Moderne, dem frühen Amateurfilmdiskurs bis hin zur Techno Security und Big Data. Der Debattenteil befasst sich unter dem Titel »Transparenz und Geheimnis« mit medien- und kulturwissenschaftlichen Zugängen zu Dispositiven der Überwachung.
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Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Ernest W.B. Hess-Lüttich, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 5. Jahrgang, 2014, Heft 2
Dezember 2014, 208 Seiten, kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-2871-5 E-Book: 12,80 €, ISBN 978-3-8394-2871-9 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht. Lust auf mehr? Die ZiG erscheint zweimal jährlich. Bisher liegen 10 Ausgaben vor. Die ZiG kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 22,00 € (international 28,00 €) bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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