Drama als Störung: Elfriede Jelineks Konzept des Sekundärdramas 9783839435625

The aesthetic of disturbance: Jelenek's secondary drama as a recourse to the classics and the uncertainty of theatr

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German Pages 314 Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung – Nach dem Drama?
Dramen- und Theatertraditionen bei Jelinek
Drama als Formzitat
Jenseits der Parodie
Forschungsstand und Methode
I. STÖRUNG
Theoretische Grundlagen
Störung, Noise, Rauschen
Die Figur des Dritten: Störung als Parasit
Zwischen den Kategorien
Wucherung und Expansion
Schnittpunkte und Kreuzungen
Störung als analytischer Begriff in Literatur- und Theaterwissenschaft
Ein Forschungsüberblick
Definitionsversuche
Störung als ästhetisches Prinzip
Fragmentierung und Unterbrechung
Umkehrung und Non-Hierarchie
Ambivalenz, Dialogizität, Polyphonie
Selbstreflexivität
II. SEKUNDÄRDRAMA ALS STÖRUNG
Sekundärdrama als Störung
Textstörungen
(Post-)Dramatische Einlagerungen
(Auf-)Gebrochene Texte
(Aus-)Gebrochene Figuren
Zeitschichtungen
Parasitäre Wucherungen
pater familias und bürgerliche Familie
Freiheit und Toleranz
Gold und Geld
Störungen des Literatur- und Theaterbetriebs
Der literarische Kanon, das Drama und das weibliche Verdrängte
Bedingungen des Theaterbetriebs
Inszenierungsformen
Programmankündigung und -gestaltung
Ökonomie und Hierarchie
Theater und Gender-Gap
Conclusio – Kein neues Drama
ANHANG
Siglenverzeichnis
Literaturnachweise
Abbildungsnachweise
Danksagung
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Drama als Störung: Elfriede Jelineks Konzept des Sekundärdramas
 9783839435625

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Teresa Kovacs Drama als Störung

Theater | Band 88

Teresa Kovacs (Dr. phil.) ist Wissenschaftlerin an der »Forschungsplattform Elfriede Jelinek« der Universität Wien. In der Verbindung von Literatur-, Theaterund Kulturwissenschaft forscht sie zu gegenwärtigen Dramenformen, zum Verhältnis von Text und Bühne, zur Ästhetik des Gegenwartstheaters und zum Politischen Schreiben.

Teresa Kovacs

Drama als Störung Elfriede Jelineks Konzept des Sekundärdramas

Gedruckt mit Unterstützung der Österreichischen Forschungsgemeinschaft (ÖFG). Gefördertes Sonderprojekt der Österreichischen Hochschüler_innenschaft.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Johann Wolfgang von Goethe / Elfriede Jelinek: Faust 1-3. Schauspielhaus Zürich, Inszenierung: Dušan David Parˇízek, 2012. Foto: Toni Suter / T+T Fotografie. Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3562-1 PDF-ISBN 978-3-8394-3562-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Es war nur ein Geräusch, und doch eine Botschaft – wie eine Nachricht, die Panik sät. Letztlich ein Bruch, eine Unterbrechung, eine Störung der Kommunikation. Aber war dieses Geräusch wirklich eine Botschaft? War es nicht vielmehr ein Rauschen, ein Parasit? Wer hat hier am Ende das letzte Wort? Wer sät Unordnung, wer stiftet eine neue, andere Ordnung? MICHEL SERRES: DER PARASIT

Inhalt

Einleitung – Nach dem Drama? | 9

Dramen- und Theatertraditionen bei Jelinek | 12 Drama als Formzitat | 18 Jenseits der Parodie | 20 Forschungsstand und Methode | 23

I STÖRUNG Theoretische Grundlagen | 31

Störung, Noise, Rauschen | 31 Die Figur des Dritten: Störung als Parasit | 42 Zwischen den Kategorien | 44 Wucherung und Expansion | 48 Schnittpunkte und Kreuzungen | 51 Störung als analytischer Begriff in Literatur- und Theaterwissenschaft | 57 Ein Forschungsüberblick | 57 Definitionsversuche | 62 Störung als ästhetisches Prinzip | 73

Fragmentierung und Unterbrechung | 77 Umkehrung und Non-Hierarchie | 87 Ambivalenz, Dialogizität, Polyphonie | 97 Selbstreflexivität | 108

II SEKUNDÄRDRAMA ALS STÖRUNG Sekundärdrama als Störung | 119 Textstörungen | 127

(Post-)Dramatische Einlagerungen | 127 (Auf-)Gebrochene Texte | 130 (Aus-)Gebrochene Figuren | 142 Zeitschichtungen | 154 Parasitäre Wucherungen | 165

pater familias und bürgerliche Familie | 174 (Hausvater – Inzestuöse Familienbeziehungen) Freiheit und Toleranz | 195 (Mündige Bürger – Erbauer und Zerstörer) Gold und Geld | 211 (Körperwert und Geldwert – Göttliches Geld) Störungen des Literatur- und Theaterbetriebs | 223

Der literarische Kanon, das Drama und das weibliche Verdrängte | 223 Bedingungen des Theaterbetriebs | 234 Inszenierungsformen | 240 Programmankündigung und -gestaltung | 248 Ökonomie und Hierarchie | 251 Theater und Gender-Gap | 260 Conclusio – Kein neues Drama | 271

ANHANG Siglenverzeichnis | 279 Literaturnachweise | 281 Abbildungsnachweise | 309 Danksagung | 311

Einleitung – Nach dem Drama?

Die beiden im Titel der Studie angeführten Begriffe „Drama“ und „Störung“ eröffnen im Kontext von Elfriede Jelineks dramatischem Schaffen einen weitreichenden Assoziationsraum und benennen gleichzeitig zwei zentrale Aspekte ihrer Theatertextarbeit, die durch das Konzept des „Sekundärdramas“ auf besondere Weise enggeführt werden. Mit dem Drama nämlich ist jene historische Kategorie angesprochen, an der sich Jelinek seit Beginn ihres Schreibens für das Theater abarbeitet, die Störung wiederum ruft ein Prinzip in Erinnerung, das seit ihrem ersten Theatertext Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften (1979) charakteristisch für ihr Schreiben ist. „Wie ist es möglich, Theater ausschließlich mit Texten aufzustören?“1 Diese Frage stellt die Theaterwissenschaftlerin Ulrike Haß in Bezug auf Jelineks dramatisches Gesamtwerk und fokussiert damit bereits das spezifische Verhältnis von Text und Theater. In der Forschung herrscht breiter Konsens hinsichtlich des Widerstandspotentials von Jelineks Theatertexten gegenüber dem Theaterbetrieb, hinsichtlich der kritischen Reflexion des bürgerlichen Dramas sowie des Repräsentationstheaters und damit verbunden der Forderung eines „anderen“ Theaters jenseits herkömmlicher Dramaturgien. So wurde der Titel eines 1989 mit der Autorin geführten Interviews Ich will kein Theater. Ich will ein anderes Theater, in dem sie dem psychologischen Theater eine Absage erteilt, zu einem zentralen Schlagwort der Jelinek-Forschung.2 Dieses „andere Theater“ ist jedoch keineswegs als „neues Theater“ in dem Sinn zu beschreiben, als es sich völlig

1

Haß, Ulrike: Textformen. In: Janke, Pia (Hg.): Jelinek-Handbuch. Stuttgart: Metzler 2013, S. 62-68, S. 62.

2

Vgl.: Roeder, Anke: Ich will kein Theater. Ich will ein anderes Theater. In: Roeder, Anke (Hg.): Herausforderungen an das Theater. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 143-161.

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lösen will von allem Vorhandenen, sondern Jelineks Theatertexte befragen das Theater aufbauend auf eine intensive Arbeit mit und an der Dramen- und Theatertradition. Die Reflexion vorwiegend europäischer Dramen- und Theatertraditionen, die die Theatertexte leisten, wird in der Forschungsliteratur häufig mit Begriffen der Störung in Verbindung gebracht. Es ist vom Auf-, Ver- und sogar Zerstören vorhandener Konventionen und Strukturen die Rede. Die Frage nach dem Störpotential stellt sich bei der Auseinandersetzung mit Jelineks Konzept des Sekundärdramas in besonderer Weise, da die Texte quasi als Störgeräusch konzipiert sind. Diesem Potential wird im Rahmen dieser Publikation auf verschiedenen Ebenen nachgegangen. Der Titel der Studie lenkt den Fokus auf die beiden zentralen Aspekte, die die vorliegende Analyse leiten: Auf die historische Kategorie Drama und auf eine Theorie der Störung. Der Begriff des „Sekundärdramas“ enthält selbst bereits beide Elemente und stellt sie zueinander in Bezug: er greift die Gattungsbezeichnung „Drama“ auf, verbindet diese jedoch mit dem „Sekundären“, das dem neuzeitlichen Drama laut Szondi unvereinbar entgegensteht,3 und schreibt so die Störung als konstitutives, untilgbares Element in das Konzept ein. Mit der Formulierung „Drama als Störung“ soll jedoch auch eine Verunsicherung entstehen, die auf die Ambivalenzen verweist und auf ein nie vollständig greifbares Verhältnis von Drama bzw. Sekundärdrama und Störung. Im Sinne des der Studie vorangestellten Mottos, das die Frage aufwirft, „Wer hat hier am Ende das letzte Wort? Wer sät Unordnung, wer stiftet eine neue, andere Ordnung?“4, soll betont werden, dass Drama, Sekundärdrama und Störung in ihren Positionen beweglich sind, sich der Fassbarkeit entziehen und damit nie eindeutig und unveränderlich festgelegt werden können. Wenn das Drama als Störung bezeichnet wird, stellt sich unweigerlich die Frage, wer stört und wer gestört wird. Es sind Jelineks jenseits der historischen Kategorie Drama operierenden Theatertexte, die als Störung des Dramas begriffen werden können, es ist aber auch das „Drama“, das durch die Bezeichnung „Sekundärdrama“ mit Jelineks Theatertexten in Bezug gesetzt wird und so eine Störung erzeugt. Nicht zuletzt bestimmt jede Inszenierung am Theater selbst darüber, wie sich die Störung äußert, ob Jelineks Theatertexte das System vorgeben, das vom Drama gestört wird oder umgekehrt bzw. liegt es an den RezipientInnen selbst, deren Wahrnehmungsgewohnheiten mitbestimmend sind für das

3

Vgl.: Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas (1880-1950). Frankfurt am Main:

4

Serres, Michel: Der Parasit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987 (= suhrkamp ta-

Suhrkamp 1963, S. 16-17. schenbuch wissenschaft 677), S. 11.

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Funktionieren der Störung. So beschreibt „Drama als Störung“ zuallererst ein offenes, unbestimmtes und wandelbares Verhältnis zwischen Texten, dramatischen Formen, Schreibweisen und Zeiten. Die Bezeichnung Sekundärdrama stammt von Jelinek selbst. Sie bringt den Begriff erstmals 2009 in dem in der Zeitschrift Theater heute abgedruckten Statement Reichhaltiger Angebotskatalog als Antwort auf die Frage „Was heißt hier Kunst?“ ein. In diesem kurzen Text stellt sie ironisch ihre neue „Geschäftsidee“ für den Theaterbetrieb vor, nämlich sogenannte „Sekundärdramen“, die zu vorhandenen Dramentexten verfasst werden und die „kläffend neben den Klassikern herlaufen sollen“ (REI). Durch die Betonung des sekundären Charakters und der Vergänglichkeit dieser Texte, die im besten Fall an der Dauerhaftigkeit und Ewig-Gültigkeit der „Klassiker“ partizipieren, wie es in diesem kurzen Statement formuliert wird, stellt das Sekundärdrama den Dramen ein alternatives Denken von AutorInnenschaft und Werk gegenüber, das sich nicht über Originalität und Authentizität definiert. Jelinek verfasste bislang zwei Theatertexte, die sie selbst als Sekundärdrama ausweist: Abraumhalde (2009) zu Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise und FaustIn and out (2011) zu Johann Wolfgang von Goethes Urfaust. Den Anstoß zur Entwicklung des Sekundärdramas gab Nicolas Stemanns Neuinszenierung von Lessings Nathan der Weise. Stemann beauftragte Jelinek mit einem Zusatztext, der Lessings Stück konterkarieren sollte. Der für diese Inszenierung entstandene Theatertext Abraumhalde wurde von der Autorin später als erstes Sekundärdrama bezeichnet. Die von Stemann hergestellte Verbindung von Nathan der Weise und Abraumhalde inspirierte Jelinek dazu, mit dem Sekundärdrama ein Konzept einzuführen, das abhängig ist von der Kombination zweier Texte im Moment der Inszenierung (vgl. VO). Im Jahr 2010 erweiterte sie ihren Kommentar Reichhaltiger Angebotskatalog zum Essay Anmerkung zum Sekundärdrama, der als ein poetologischer Grundlagentext bezeichnet werden kann. In diesem Essay stellt die Autorin das Spezifische des Konzepts vor, beschreibt es ausführlich und gibt Anregungen für mögliche Realisierungen der Texte auf der Bühne. Jelinek formuliert darin die zentrale Forderung, dass die Sekundärdramen ausschließlich gemeinsam mit den Dramen, die sie als Bezugstexte heranziehen, umgesetzt werden dürfen. So heißt es: „Das Sekundärdrama darf niemals als das Hauptstück und alleine, sozusagen solo, gespielt werden. Eins bedingt das andre, das Sekundärdrama geht aus dem Hauptdrama hervor und begleitet es, auf unterschiedliche Weise, aber es ist stets: Begleitung. Das Sekundärdrama ist Begleitdrama.“ (AN) Formal dahingehend mit ihren anderen Theatertexten vergleichbar, als die Sekundärdramen ebenso wie andere Stücke Jelineks (verfremdete) Zitate aus den

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herangezogenen dramatischen Texten zitieren und mit Versatzstücken aus wissenschaftlichen, philosophischen, religiösen Werken und Trivialem anreichern, gehen sie über diese hinaus, indem sie im Moment der Inszenierung eine nochmalige Kombination und gegenseitige Einschreibung der Texte fordern. Jelineks Sekundärdramen stellen dadurch in doppelter Hinsicht Bezug zu den Primärdramen her: sie greifen Zitate daraus auf und sind an die Vorlagen gebunden. Diese spezifische Form unterscheidet die Sekundärdramen deutlich von anderen Theatertexten Jelineks bzw. von Bearbeitungen anderer AutorInnen. Das Denken der Kombination und des gleichzeitigen Präsent-Seins zweier Theatertexte, das beim Konzept des Sekundärdramas zentral gesetzt wird, muss daher auch bei der Analyse immer reflektiert werden. Der Begriff des Sekundärdramas wird mittlerweile interessanterweise nicht nur an den Theatern und in Kritiken, sondern auch in der Forschungsliteratur auf andere Texte Jelineks übertragen. Er scheint ein ähnliches „Eigenleben“ zu entwickeln wie der Begriff der „Textfläche“, der, von Jelinek selbst eingebracht, heute in der Germanistik und Theaterwissenschaft eine zentrale Kategorie für die Beschreibung zeitgenössischer Theatertexte darstellt. Auch das macht es notwendig, das Konzept des Sekundärdramas einer umfangreichen wissenschaftlichen Analyse zu unterziehen.

D RAMEN -

UND

T HEATERTRADITIONEN

BEI

J ELINEK

Elfriede Jelineks Schreiben für das Theater ist seit ihrem ersten Theatertext 1979 deutlich geprägt durch den Bezug auf die Dramentradition und die Arbeit mit und an dramatischen Strukturen. Wie konstitutiv der Rückgriff auf bestehende Theatertexte für Jelineks Schreiben ist, zeigt sich daran, dass kaum einer ihrer Texte ohne das Heranziehen eines bereits vorhandenen Stückes auskommt. Das Spektrum der zitierten Theatertexte ist breit, es reicht von antiken griechischen Tragödien bis zu Theatertexten des späten 19. Jhdts. Dabei sind einige Schwerpunkte auszumachen, nämlich beziehen sich die Texte besonders häufig auf griechische Tragödien und auf Stücke, die dem Wiener Volkstheater zuzurechnen sind. Darüber hinaus gibt es in Jelineks Werk eine intensive Beschäftigung mit Komödientraditionen des französischsprachigen und englischsprachigen Raums, wie es die Übertragungen von Eugène Labiche, Georges Feydeau und Oscar Wilde belegen, die im Auftrag von Jelineks Verlag als Übersetzungen entstanden sind, wie es aber auch die zahlreichen Bezüge zu Shakespeare zeigen. Einen weiteren Schwerpunkt bilden Stücke, die formal dem bürgerlichen Drama zuzurechnen sind – auch wenn sie diese Dramenform selbst

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bereits kritisch reflektieren und aufbrechen, wie es etwa bei Ibsen der Fall ist. Nicht unerwähnt darf bleiben, dass Jelinek neben Dramentexten auch Musiktheatervorlagen und Libretti verarbeitet, in ihrer Auseinandersetzung mit Theater also deutlich über das Sprechtheater hinausgeht. Trotz der vielfältigen Bezüge sind es sehr spezifische Traditionen, die Jelineks Texte in Erinnerung rufen, und es kann konstatiert werden, dass es sich um ein komplexes Verhältnis zwischen Selbst-Einschreibung in und subversivem Unterlaufen von dieser Dramen- und Theatergeschichte handelt. Grundsätzlich muss betont werden, dass es nicht nur Stoffe vorhandener Theatertexte sind, die Jelineks Texte aufgreifen, fort- und neuschreiben, sondern dass es v.a. auch dramatische Formen sind, derer sie sich bedienen. Wie die Theaterwissenschaftlerin Monika Meister dargelegt hat, sind Jelineks neuere Stücke bestimmt durch formale Grundstrukturen der antiken griechischen Tragödie, die in den Texten neu kontextualisiert werden und damit eine neuartige Wirkungsweise entfalten.5 Besonders deutlich wird die Arbeit mit diesen Formelementen etwa im Theatertext Rechnitz (Der Würgeengel) (2008), der den Botenbericht aufgreift, in Ein Sportstück (1998), Das Werk (2003) und Die Schutzbefohlenen (2013), die den Chor der griechischen Tragödie heranziehen, oder in Die Kontrakte des Kaufmanns (2009) und im Epilog? (2012) zum Theatertext Kein Licht. (2011), die die Form der antiken Klage neu interpretieren. Inhaltliche Bezüge etwa werden in Bambiland (2003) zu Aischylos’ Die Perser hergestellt, in Das Werk zu Euripides’ Die Troerinnen, in Rechnitz (Der Würgeengel) zu Euripides’ Die Bakchen und ganz aktuell in Die Schutzbefohlenen zu Aischylos’ Die Schutzflehenden, in Das schweigende Mädchen (2014) zu Euripides’ Elektra und in Wut (2016) zu Euripides’ Der rasende Herakles. Kaum ein neuerer Theatertext kommt ohne ein offensichtliches Andocken an die griechische Tragödie aus, auch Abraumhalde zitiert trotz Bindung an Lessings Nathan der Weise dominant Sophokles’ Antigone. Zwar streichen einige Theatertexte das Chorische deutlicher hervor, dennoch ist das Formprinzip des Chors für alle neueren Theatertexte Jelineks konstitutiv. Auch der Botenbericht ist als eine Form des uneigentlichen Sprechens grundlegend für ihre Theatertexte sowie das tragische Pathos, das Jelinek zitiert und vielfältig bricht. Die Arbeit mit diesen Strukturen lässt vielstimmige Texte entstehen, die sich der Zuordnung zu bestimmten Spre-

5

Vgl.: Meister, Monika: Bezüge zur Theatertradition. In: Janke, Pia (Hg.): JelinekHandbuch. Stuttgart: Metzler 2013, S. 68-73, S. 69.

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cherInnen und Individuen entziehen und die prinzipiell offen lassen, wer in diesen Texten spricht.6 Auf die Tradition des Wiener Volkstheaters rekurrieren v.a. Jelineks frühere Theatertexte. Auch hier sind es nicht nur Themen und Stoffe, sondern formale Grundstrukturen, die die Stücke reflektieren. Burgtheater (1982) etwa greift die Posse, das Zauberspiel und das Allegorisches Zwischenspiel auf. „In der Art eines Altwiener Zauberspiels (Raimund, schau oba)“7, heißt es beispielsweise in der kursiv abgesetzten Passage zu Beginn des vom übrigen Text unterschiedenen Zwischenspiels. Mehrere frühe Theatertexte orientieren sich deutlich an bestimmten Stücken von Nestroy und Raimund, Präsident Abendwind (1987) nutzt etwa Nestroys Häuptling Abendwind als Folie bzw. bezieht sich Burgtheater auf Ferdinand Raimunds Der Alpenkönig und der Menschenfeind. Auch in diesem Bereich lassen sich wiederum für Jelineks Theatertexte konstitutive Verfahren benennen wie etwa Wort- und Sprachspiele (v.a. Kalauer, Alliterationen, Neologismen). Für das Sekundärdrama relevant ist die von dieser Tradition herrührende (komische) Fort- und Neuschreibung von Dramentexten. Die Sekundärdramen sind ohne den Bezug auf die parodistische Tradition des Wiener Volkstheaters sicherlich nicht zu denken. Neben der komischen Tradition des Wiener Volkstheaters ist für die Analyse der Sekundärdramen jedoch v.a. das Aufgreifen der bürgerlichen Dramentradition wesentlich. Bereits der erste Theatertext Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften bezieht sich dezidiert auf zwei Stücke von Ibsen, nämlich Nora oder ein Puppenheim und Stützen der Gesellschaft. Ibsens Nora wird dabei gleich zu Beginn eindeutig als Vorlage markiert, wenn sich die mit dem Namen „Nora“ ausgewiesene Sprechinstanz des Jelinek-Textes mit den Worten vorstellt: „Ich bin keine Frau, die von ihrem Mann verlassen wurde, sondern eine, die selbsttätig verließ, was seltener ist. Ich bin

6

Zur Frage „Wer spricht?“ vgl. aktuell: Hochholdinger-Reiterer, Beate: Spricht wer? Zwischenbilanz textanalytischer Annäherungen. In: Janke, Pia / Kovacs, Teresa (Hg.): „Postdramatik“. Reflexion und Revision. Wien: Praesens Verlag 2015 (= DISKURSE. KONTEXTE.IMPULSE. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums 11), S. 98-111.

7

Jelinek, Elfriede: Burgtheater. Posse mit Gesang. In: Jelinek, Elfriede: Theaterstücke. Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften. Clara S. musikalische Tragödie. Burgtheater. Krankheit oder Moderne Frauen. Reinbek: Rowohlt 1992, S. 129-189, S. 143.

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Nora aus dem gleichnamigen Stück von Ibsen.“8 Szondi folgend macht zwar bereits Ibsen selbst das bürgerliche Dramenschema des 18. Jhdts. brüchig,9 dennoch dient er Jelinek als beispielhaft für jenes Dramenmodell, das auf Identifikation, Handlung und Repräsentation aufbaut. Besonders eindringlich zeigt sich die Arbeit am klassischen Dramenschema beim Theatertext Ulrike Maria Stuart (2006), der Schillers Maria Stuart als formale und inhaltliche Grundlage wählt. Auch im Bereich dieser Tradition lässt sich ein Grundprinzip benennen, das für alle Theatertexte Jelineks von Bedeutung ist, nämlich das klassische Pathos des Sprechens bzw. das beständige Sprechen, das ex negativo auf die Stille verweist, das die Autorin vornehmlich mit Schillers Dramen in Verbindung bringt.10 Was den Rückgriff und die Arbeit an der dramatischen Tradition betrifft, können zwei grundlegende Tendenzen innerhalb Jelineks Theater-Œuvre bestimmt werden: nämlich produktive Aufnahme und Fortschreibung der Tradition sowie kritische, dekonstruktive Relektüre, wobei in allen Fällen der Bezugnahme auf Traditionen beide Tendenzen wirksam sind, da die Grenze zwischen Kritik und produktiver Fortschreibung bei Jelineks Texten immer fließend ist. Dennoch zeigt sich, dass das Aufgreifen von Texten, bei denen man die Geste der Dekonstruktion bereits vorfindet, wie etwa bei Stücken des Wiener Volkstheaters, weniger durch eine dekonstruktive Lektüre befördert wird als eher durch ein daran Weiterarbeiten und einer Fortsetzung der Tradition. Anders verhält es sich hingegen mit dramatischen Texten der Klassik bzw. des bürgerlichen Theaters, deren Modell dominant einer kritischen, dekonstruktiven Relektüre unterzogen wird. Jelinek übt in ihren ästhetischen Reflexionen seit Beginn ihres dramatischen Schreibens Kritik am Repräsentationstheater. Dies äußert sich etwa im frühen Essay Ich schlage sozusagen mit der Axt drein, wo sie dem bürgerlichen Drama eine Absage erteilt und sich mit Bezug auf Brecht gegen die Erzeugung individueller Figuren am Theater ausspricht.11 Auch in Ich möchte seicht sein wird das

8

Jelinek, Elfriede: Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften. In: Jelinek, Elfriede: Theaterstücke. Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften. Clara S. musikalische Tragödie. Burgtheater. Krank8heit oder Moderne Frauen. Reinbek: Rowohlt 1992, S. 7-78, S. 9.

9

Vgl.: Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas (1880-1950), S. 22-31.

10 Vgl.: Jelinek, Elfriede: Sprech-Wut (ein Vorhaben). In: Literaturen special 1-2/2005, S. 12-15, S. 12. 11 Vgl.: Jelinek, Elfriede: Ich schlage sozusagen mit der Axt drein. In: TheaterZeitSchrift 7 (1984), S. 14-16.

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identifikatorische Prinzip vehement abgelehnt, dies setzt sich fort in den Texten Sinn egal. Körper zwecklos. sowie in den neueren Essays Es ist Sprechen und aus und Textflächen.12 In diesem Ansatz, für das bürgerliche Drama konstitutive Elemente wie Figur, Dialog und Handlung aufzulösen, wäre Jelineks Schreiben für das Theater in der Nähe Bertolt Brechts und Heiner Müllers zu verorten, worauf Monika Meister unter dem Schlagwort des „Politischen Schreibens“ hinweist.13 Diese Tradition ist für das Konzept des Sekundärdramas nicht unwesentlich, da sich der kritische Umgang mit der historischen Kategorie Drama auch bei Brecht und Müller im Aufgreifen und Bearbeiten bestehender Stücke äußert. Brechts und Müllers Klassikerbearbeitungen ähneln Jelineks Konzept des Sekundärdramas. So etwa erinnert die Behandlung vorhandener Dramen als Material an Brechts frühe Beschreibungen seiner Arbeit mit klassischen Texten. Besonders interessant scheinen Brechts Reflexionen hinsichtlich seiner Faust-Rezeption am Theater, da er dort betont, der falschen Harmonisierungstendenz der klassischen Fassung entgegenarbeiten zu wollen.14 Auch Jelineks FaustIn and out könnte als eine solche Zurücknahme des Klassischen gelesen werden, nennt sie doch im Untertitel dezidiert Goethes frühe Sturm-und-Drang-Fassung, den so genannten Urfaust, als zugrundeliegendes Primärdrama. Der Eintrag in Brechts Arbeitsjournal vom 10.12.1940 lässt sich sogar wie eine direkte Vorstufe von Jelineks Anmerkung zum Sekundärdrama lesen, in dem Brecht andenkt, neue Stücke zu Klassikern (konkret zu Goethes Faust-Komplex) zu verfassen, die nach der Klassiker-Inszenierung gespielt werden könnten:

12 Vgl.: Jelinek, Elfriede: Ich möchte seicht sein. In: Schreiben 29/30 (1986), S. 74; Jelinek, Elfriede: Sinn egal. Körper zwecklos. 1996 (auf der Rückseite des Plakats zu Symposium (17.-20.10.1996) und Ausstellung (17.10.-10.11.1996 Echos und Masken); Jelinek, Elfriede: Es ist Sprechen und aus. http://204.200.212.100/ej/fachtung. htm (30.11.2015), datiert mit 15.11.2013 (= Elfriede Jelineks Website, Rubriken: Aktuelles 2013, zum Theater); Jelinek, Elfriede: Textflächen. http://a-e-m-gmbh.com/ wessely/ftextf.htm (15.7.2014), datiert mit 17.2.2013 (= Elfriede Jelineks Website, Rubriken: Aktuelles 2013, zum Theater). 13 Vgl.: Meister, Monika: Bezüge zur Theatertradition, S. 68. 14 Zu Brechts Klassikerbearbeitungen vgl.: Hinck, Walter: Kritisch-produktive Aneignung des „Erbes“. Bertolt Brechts Goethe-Rezeption („Urfaust“-Inszenierung). In: Hinck, Walter: Literatur als Gegenspiel. Essays zur deutschen Literatur von Luther bis Böll. Tübingen: Klöpfer & Meyer 2001 (= Promenade), S. 179-213, S. 183-184.

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[…] zb könnte der staat übersetzungen klassischer werke bezahlen. – solche aufträge gehörten zum kulturaufbau jedes staates. es gäbe noch andere. so könnte man die alten werke ohne viel kommentar aufführen, die neuen ohne viel zensur, wenn man zeitgenössische dichter kleine stücke dichten ließe, komische oder tragische, die man nach den betreffenden werken aufführen kann. keine faust-aufführung ohne nachfolgende satire.15

Zwar dominiert bei Brecht noch das Nach dem Drama, dennoch weist der Gedanke einer Satire, die dem Klassiker in der Gegenwart zu einer neuen Kenntlichkeit verhilft, eine deutliche Nähe zum Konzept des Sekundärdramas auf. Noch offensichtlicher ist die Ähnlichkeit zu Müllers Arbeit mit Dramentexten, die ebenfalls nicht mehr ausschließlich – wie noch bei Brecht – das Nacheinander von zwei Stücken betont, sondern bereits eine gemeinsame Inszenierung andenkt und das tatsächliche ineinander Eindringen von Texten fordert. Ein Beispiel für diesen Versuch des Ineinander-Schichtens von Texten wäre Müllers eigene Inszenierung seiner Hamletmaschine, die er gemeinsam mit Shakespeares Hamlet umsetzte.16 Müller, der griechische Tragödien ebenso wie Texte von Shakespeare bearbeitete bzw. „übermalte“, verfasste Kommentare zu diesen Stücken, die sich wiederum in die bereits bestehenden Texte hineindrängen und diese unterbrechen sollten. Das Ineinanderschieben wurde für Müller schließlich immer bedeutender und so integrierte er die späteren Kommentare direkt in die Texte, auf die sie sich beziehen, sodass sie tatsächlich auch gemeinsam inszeniert und die Kommentare nicht nur in Programmheften etc. abgedruckt werden.17 In diesem Denken des gleichzeitigen Präsent-Werdens verschiedener Texte im Moment der Inszenierung ähnelt Müllers Verfahren Jelineks Konzept des Sekundärdramas, es unterscheidet sich jedoch auch in zentralen Punkten von diesem. So geht mit dem Begriff des Kommentars im Sinne Walter Benjamins ein „souveräner Gestus“ einher,18 während Jelinek mit der Betonung des Sekundären sehr bewusst eine „untergeordnete“ Position einnimmt. Zwar den politischen Anspruch und den Wunsch nach Auflösung einer zeitlichen Aufeinanderfolge, der Eindeutigkeit und -stimmigkeit teilend, ist Jelineks SekundärdramaKonzept doch anders ausgerichtet und verfolgt eine andere Strategie als Müllers Bearbeitungen. Bei ihrem Konzept nämlich geht es um die Infragestellung der Kategorie Drama und den damit verbundenen Konventionen, Müller hingegen

15 Brecht, Bertolt: Arbeitsjournal 1938-1955. Berlin: Aufbau-Verlag 1977, S. 134. 16 Premiere: 24.3.1990, Deutsches Theater Berlin. 17 Vgl.: Primavesi, Patrick: Theater des Kommentars. In: Lehmann, Hans-Thies / Primavesi, Patrick (Hg.): Müller-Handbuch. Stuttgart: Metzler 2003, S. 45-52, S. 50-51. 18 Vgl.: Ebd., S. 46-47.

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bearbeitet auf diese spezifische Weise Texte, die nicht der historischen Kategorie Drama zuzuordnen sind wie etwa griechische Tragödien und Texte von Shakespeare.

D RAMA

ALS

F ORMZITAT

Jelineks Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften und Ulrike Maria Stuart sind am deutlichsten mit dem Konzept des Sekundärdramas verwandt. Wie Ulrike Haß herausgearbeitet hat, handelt es sich bei der Verwendung des neuzeitlichen Dramenschemas bei Jelinek immer bereits um ein Formzitat, was sie exemplarisch am Beispiel von Jelineks Nora nachweist.19 Haß konstatiert, dass gerade durch die scheinbare Verwendung des Dramenschemas, dessen Konventionen jedoch nicht mehr erfüllt werden, ein Widerspruch entsteht, der das Modell des Dramas selbst problematisch werden lässt. Eben in diesem Kontext sind auch Jelineks Sekundärdramen zu betrachten, jedoch als Fortführung bzw. Steigerung dieses Ansatzes. Eine erste deutliche Auseinandersetzung mit dem idealistischen Theaterentwurf der Weimarer Klassik findet mit dem 2006 uraufgeführten Theatertext Ulrike Maria Stuart statt, über den Jelinek in ihrem Essay Sprech-Wut (ein Vorhaben) festhält: Ich möchte mich so gern in Schillers „Maria Stuart“ hineindrängen, nicht um sie zu etwas anderem aufzublasen wie einen armen Frosch, der dann platzt, sondern um mein eigenes Sprechen in diese ohnehin schon bis zum Bersten vollen Textkörper der beiden Großen Frauen, dieser Protagonistinnen, auch noch hineinzulegen.20

Vergleicht man dies mit der von Jelinek in Bezug auf FaustIn and out formulierten Intention, sich mit dem Sekundärdrama in Goethes Text „hineinquetschen“ (BÜ) zu wollen, fällt auf, dass es hier Parallelen gibt, also mit Ulrike Maria Stuart bereits Ansätze entwickelt werden, die später mit dem Sekundärdrama aufgegriffen und potenziert werden. Ulrike Maria Stuart verwendet die metrisch gebundene Sprache von Schillers Drama und schreibt diese als Grundstruktur in den Text ein. Indem das Metrum Schillers auf Jelineks „Textflächen“ trifft, wird die dramatische Struktur jedoch brüchig. Schillers Dialogstruktur wird durch Jelineks Textblöcke überlagert, an manchen Stellen sogar gänzlich aufgegeben und

19 Vgl.: Haß, Ulrike: Textformen, S. 62. 20 Jelinek, Elfriede: Sprech-Wut (ein Vorhaben), S. 12.

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durch andere Strukturelemente ersetzt, wie beispielsweise das chorische Sprechen. In der dem Text vorangestellten kursiv abgehobenen Passage wird für mögliche Realisierungen des Textes auf der Bühne ausgeführt, dass die Regie die „Höhe“ von Schillers Dramensprache unbedingt „konterkarieren“ muss, indem sie eine Differenz erzeugt, die die Figuren „quasi neben sich selber herlaufen“21 lässt. Da der Text einen Weg sucht, um die Form von Schillers Drama bewusst zu machen und eben diese Form als Transporteur von Ideologien zu markieren, kann Ulrike Maria Stuart als Vorstufe des späteren Sekundärdramas bezeichnet werden. Das Sekundärdrama steigert dieses Anliegen, versucht nicht, die Form des Dramas in den eigenen Text zu integrieren, um dadurch Formschichtungen zu erzeugen, sondern will das Drama mittels der Kombination zunächst als Ganzes präsent werden lassen und damit das Eindringen und Aufbrechen noch deutlicher nachvollziehen. Monika Meister spricht in Bezug auf Ulrike Maria Stuart von einer „emphatischen Intervention“22, die den idealistischen Theaterentwurf der Weimarer Klassik dekonstruiert, „die verdrängten Traumata der Machtpolitik“ zum Vorschein bringt und somit das „Modell des aufgeklärten Humanismus gänzlich infrage“23 stellt. Es handelt sich bei Jelinek um die Demontage einer positiven Sinnsetzung, wie sie etwa die Klassik verkörpert. Mit dem Sekundärdrama wird dieses Eingreifen in einen vorhandenen Text gesteigert, nämlich geht es nicht mehr bloß um das Dazwischentreten und die Unterbrechung, sondern um ein Denken des Zugleich und der Koexistenz zweier Texte und Dramenmodelle. In dieser Gleichzeitigkeit entsteht ein offensichtlicherer Bruch und eine stärkere Reibung und Differenz zur historischen Kategorie Drama als dies bei Ulrike Maria Stuart der Fall ist. Dadurch wird dominanter als bei anderen Theatertexten Jelineks die Gattung Drama als Gattung mit all ihren Konventionen und den patriarchalen Macht- und Herrschaftsdiskursen, an denen sie partizipiert, sichtbar gemacht.

21 Jelinek, Elfriede: Ulrike Maria Stuart. In: Jelinek, Elfriede: Das schweigende Mädchen. Ulrike Maria Stuart. Zwei Theaterstücke. Reinbek: Rowohlt 2015, S. 7-149, S. 9. 22 Meister, Monika: Bezüge zur Theatertradition, S. 70. 23 Ebd., S. 70.

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J ENSEITS

DER

P ARODIE

Wie die Bezüge zur Dramen- und Theatertradition zeigen, ist Jelineks Schreiben für das Theater von Beginn an durch ein intertextuelles Verfahren geprägt. Dieses Verfahren wird in der Forschung seit den 1980er Jahren intensiv diskutiert und es wird danach gefragt, welche Funktion der Intertextualität in Jelineks Schreiben zukommt. Für die Theatertexte wurde festgestellt, dass durch die Arbeit mit öffentlicher und veröffentlichter Sprache Diskurse hörbar gemacht werden, die jedes authentische Sprechen und damit die Aussprache eines souveränen Subjekts unmöglich machen. Die Forschungsarbeiten unterstreichen die politische Funktion des Zitats bei Jelinek und betonen die Negation des Denkens von UrheberInnenschaft und Original. Sie verweisen aber auch darauf, dass Jelineks intertextuelle Schreibpraxis darauf abzielt, die Tiefenschichten der Sprache und deren ideologischen Gehalt freizulegen.24 Konkret bezogen auf jene Theatertexte, die sehr offensichtlich mit dramatischen Vorlagen arbeiten, gibt es in der Forschung verschiedene Vorschläge der Kategorisierung. So etwa wird Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften als Paraphrase (Perthold), Fortsetzung (Perthold, Surowska, Jezierska), Aktualisierung (Saletta), Neubearbeitung (Jezierska, Caduff) und Palimpsest (Jezierska) ausgewiesen.25 Präsident Abendwind

24 Vgl. bspw.: Pflüger, Maja Sibylle: Vom Dialog zur Dialogizität. Die Theaterstücke von Elfriede Jelinek. Tübingen: Francke 1996; Caduff, Corinna: Ich gedeihe inmitten von Seuchen. Elfriede Jelinek – Theatertexte. Bern: Peter Lang 1991 (= Zürcher germanistische Studien 25); Kecht, Maria-Regina: Elfriede Jelinek in absentia oder die Sprache zur Sprache bringen. In: Seminar. A Journal of Germanic Studies 3/2007, S. 351-365; Meister, Monika: „Theater müßte eine Art Verweigerung sein“. Zur Dramaturgie Elfriede Jelineks. In: Meister, Monika: Theater denken. Ästhetische Strategien in den szenischen Künsten. Wien: Sonderzahl 2009, S. 275-290. 25 Vgl.: Perthold, Sabine: Elfriede Jelineks dramatisches Werk. Theater jenseits konventioneller Gattungsbegriffe. Analyse des dramatischen Werks der Schriftstellerin Elfriede Jelinek unter Einbeziehung einiger Hörspiele und Prosatexte, sofern diese mit dem dramatischen Werk thematisch oder formal in Verbindung stehen. Wien, Diss. 1991; Surowska, Barbara: Ist das noch die Nora? Bemerkungen zu Elfriede Jelineks Theaterstück Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften! In: Zittel, Claus / Holona, Marian (Hg.): Positionen der Jelinek-Forschung. Beiträge zur Polnisch-Deutschen Elfriede Jelinek-Konferenz Olsztyn 2005. Bern: Peter Lang 2008 (= Jahrbuch für Internationale Germanistik Reihe A, Kongressberichte 74), S. 257-278; Jezierska, Agnieszka: Das ambivalente Wort

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und Burgtheater werden als Paraphrase und Fortschreibung beschrieben (Helfer, Haß),26 Ulrike Maria Stuart wird von Evelyn Annuß mit dem Begriff der Relektüre in Verbindung gebracht.27 Parodie und Palimpsest scheinen am ehesten auch auf die Sekundärdramen zuzutreffen, denn immerhin entstand die Parodie als Zwischenspiel und transportiert somit, wenigstens von ihrer Herkunft her, den Gedanken des Zusammenspannens zweier Texte auf der Bühne. Mit dem Palimpsest wird die Schichtung von Texten und Texturen hervorgehoben, auch das betrifft ein wesentliches Charakteristikum des Sekundärdramas. Dennoch erlauben sie nicht, die tatsächliche Koexistenz von Texten im Moment der Inszenierung adäquat zu beschreiben. Lässt sich Jelineks erster Theatertext eventuell noch nach Ibsen verorten, sind die in der Forschungsliteratur präsenten Begrifflichkeiten seit Ulrike Maria Stuart nicht mehr geeignet, um den komplexen Text-Text-Bezug zu fassen. Um das Mit und die Kopräsenz von dramatischen Strukturen und Formationen zu fassen, müssen neue Begrifflichkeiten gefunden werden. Karen Jürs-Munby wählt, um die Besonderheit des Sekundärdramas zu betonen und die doppelte Bezugnahme der Texte auf den Prätext begrifflich zu mar-

in Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften von Elfriede Jelinek. In: Zittel, Claus / Holona, Marian (Hg.): Positionen der Jelinek-Forschung. Beiträge zur Polnisch-Deutschen Elfriede Jelinek-Konferenz Olsztyn 2005. Bern: Peter Lang 2008 (= Jahrbuch für Internationale Germanistik Reihe A, Kongressberichte 74), S. 279-301; Saletta, Ester: Die Rezeption Ibsens in Jelineks Theaterstück Was geschah nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften. In: Arteel, Inge / Müller, Heidy Margit (Hg.): Elfriede Jelinek – Stücke für oder gegen das Theater? Brüssel: Koninklijke Vlaamse Academie van België 2008, S. 233-240; Caduff, Corinna: Ich gedeihe inmitten von Seuchen. Elfriede Jelinek – Theatertexte. 26 Vgl.: Helfer, Viktoria: (Dis-)Kontinuität zur österreichischen Tradition bei Elfriede Jelinek in Burgtheater und Präsident Abendwind. In: Zittel, Claus / Holona, Marian (Hg.): Positionen der Jelinek-Forschung. Beiträge zur Polnisch-Deutschen Elfriede Jelinek-Konferenz Olsztyn 2005. Bern: Peter Lang 2008 (= Jahrbuch für Internationale Germanistik Reihe A, Kongressberichte 74), S. 315-330; Haß, Ulrike: Textformen. 27 Vgl.: Annuß, Evelyn: Schiller offshore: über den Gebrauch von gebundener Sprache und Chor in Elfriede Jelineks Ulrike Maria Stuart. In: Arteel, Inge / Müller, Heidy Margit (Hg.): Elfriede Jelinek – Stücke für oder gegen das Theater? Brüssel: Koninklijke Vlaamse Academie van België 2008, S. 29-42.

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kieren, den Begriff der „Parallel-(Inter)Textualität“28, führt jedoch nicht weiter aus, wie diese zu definieren wäre. Die vorliegende Studie will darüber hinausgehen und das Prinzip der Störung fruchtbar machen, um das Konzept des Sekundärdramas zu beschreiben. Der Begriff der Störung, der in der Literaturwissenschaft erst seit einigen Jahren produktiv aufgegriffen wird, ermöglicht es, das Verhältnis von Drama und Sekundärdrama zu fokussieren und die wechselseitigen Eingriffe zu beschreiben, ohne dabei wiederum den Begriff der Intertextualität ins Zentrum zu stellen. Als ein Begriff, der unterschiedliche theoretische Bezugsrahmen eröffnet und der es erlaubt, teils sehr divergierende Ansätze miteinander zu verbinden, scheint er der Komplexität des Konzepts bzw. der einzelnen Texte gerecht zu werden. Er verspricht, die Texte damit nicht vorschnell auf eine Ebene zu reduzieren, sondern den vielschichtigen möglichen Eingängen des Textes nachzuspüren. Der allgemeinsprachlich stark technisch konnotierte Begriff eignet sich darüber hinaus für die Auseinandersetzung mit Jelineks Theatertexten allein deshalb, weil die Autorin selbst immer wieder technische Störungen im Rahmen der Inszenierung ihrer Texte anregt und technische Begrifflichkeit für die Beschreibung ihres ästhetischen Verfahrens einbringt. Außerdem ist mit der Störung eine sehr intensive und nachhaltige Irritation gemeint, die über andere Formen des Aufmerksam-Machens – wie etwa den Schock – hinausgeht und die ein langfristiges Einwirken auf bestehende Systeme und Modelle meint. Dass der Begriff der Störung geeignet ist, um Jelineks Konzept zu beschreiben, bestärkte schließlich ein Kommentar von Jan Assmann zur Uraufführung von Abraumhalde, dem ich im Laufe der Erarbeitung dieser Studie begegnet bin. Ausgehend von der Behauptung, dass Lessings Text ein polyphones Kunstwerk sei, merkte er zur Kombination mit dem Jelinek-Text an: „Da empfinde ich den Jelinek-Text und die ganze ‚Amstetten-Affäre‘ als eine zu schrille Beigabe, als eine destruktive Schicht. An diesem Punkt wird nicht mehr Polyphonie erzeugt, sondern – informationstheoretisch gesprochen – eher ein störendes Rauschen.“29

28 Jürs-Munby, Karen: Abraumhalde; FaustIn and out. In: Janke, Pia (Hg.): JelinekHandbuch. Stuttgart: Metzler 2013, S. 203-207, S. 203. 29 Jan Assmann in: Blomberg, Benjamin von: „...wir müssen die ‚Pseudospeziation‘ überwinden“. Diskussion mit Jan Assmann, Ortrud Gutjahr und Alexander Honold, moderiert von Benjamin von Blomberg. In: Gutjahr, Ortrud (Hg.): „Nathan der Weise“ von Gotthold Ephraim Lessing. Texterprobungen mit „Abraumhalde“ von Elfriede Jelinek in Nicolas Stemanns Inszenierung am Thalia Theater Hamburg. Würzburg: Könighausen & Neumann 2010 (= Theater und Universität im Gespräch 11), S. 117124, S. 121.

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Der Eindruck eines störenden Rauschens entstand auch bei mir, als ich die Sekundärdramen gemeinsam mit den Primärdramen umgesetzt sah. Die Reduktion der Sekundärdramen auf ein destruktives Element, wie sie bei Assmann vorgenommen wird, soll in der vorliegenden Studie jedoch rückgängig gemacht werden: das Sekundärdrama ist Rauschen bzw. Störung, gerade dadurch ist es jedoch nicht auf den Begriff der Destruktion zu reduzieren, sondern darin äußern sich gleichsam, so eine zentrale These, das konstruktive Potential und der politische Anspruch des Konzepts. Darüber hinaus will die Arbeit hervorheben, dass umgekehrt die Primärdramen als Störung der Sekundärdramen begriffen werden könnten, auch, wenn diesem Einwirken in der vorliegenden Studie nur am Rande nachgegangen wird.

F ORSCHUNGSSTAND

UND

M ETHODE

Zu den beiden Sekundärdramen Abraumhalde und FaustIn and out wurden bereits einzelne Aufsätze publiziert, die spezifische inhaltliche Analysen vornehmen bzw. einzelne Umsetzungen am Theater besprechen und die in diesem Rahmen auch auf die Besonderheit des Konzepts verweisen. Noch fehlt jedoch eine umfassende wissenschaftliche Analyse der spezifischen Form und eine Kontextualisierung des Konzepts innerhalb von Jelineks Œuvre, darüber hinaus gibt es bislang kaum Aufsätze, die beide Sekundärdramen miteinander in Bezug setzen. Die grundlegendsten Beiträge zu Jelineks Sekundärdrama, die tatsächlich beide Stücke berücksichtigen, stammen von Karen Jürs-Munby, nämlich ein zu den beiden Texten verfasster Überblicksartikel für das im Metzler Verlag erschienene Jelinek-Handbuch sowie ein englischsprachiger Artikel, der sich jedoch eher mit den Uraufführungsinszenierungen als mit den Texten selbst auseinandersetzt.30 Zu Abraumhalde gibt es darüber hinaus einen fundierten wissenschaftlichen Beitrag von Bärbel Lücke, der die Verschränkung von Religion und Ökonomie im Text untersucht und Jelineks Sekundärdrama mit Hermann Brochs 1918.

30 Vgl.: Jürs-Munby, Karen: Abraumhalde; FaustIn and out; Jürs-Munby, Karen: Parasitic Politics: Elfriede Jelinek’s „Secondary Dramas“ „Abraumhalde“ and „FaustIn and out“. In: Carroll, Jerome / Giles, Steve / Jürs-Munby, Karen (Hg.): Postdramatic Theatre and the Political. International Perspectives on Contemporary Performance. London: Bloomsbury 2013, S. 209-231.

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Huguenau oder die Sachlichkeit (Die Schlafwandler) vergleicht.31 Eine zweite Publikation, die sich mit Jelineks Abraumhalde beschäftigt, ist der von Ortrud Gutjahr veröffentlichte Sammelband „Nathan der Weise“ von Gotthold Ephraim Lessing. Texterprobungen mit „Abraumhalde“ von Elfriede Jelinek in Nicolas Stemanns Inszenierung am Thalia-Theater Hamburg.32 Dieser Band entstand aus Anlass der Inszenierung von Nathan der Weise durch Nicolas Stemann am Thalia Theater Hamburg, für die Jelinek das Sekundärdrama Abraumhalde verfasste. Die Publikation legt den Fokus auf Lessings Drama, auf dessen Rezeptionsgeschichte und aktuelle Forschungsansätze. Jelineks Sekundärdrama wird nur am Rande im Kontext der Inszenierung von Stemann behandelt, daher lassen sich daraus kaum allgemeinere Ansätze zum Sekundärdrama ableiten. Darüber hinaus diskutiert Christian Schenkermayr Abraumhalde im Kontext von Jelineks Theatertexten, die sich mit dem Islam, Märtyrertum und islamistischem Terror auseinandersetzen und vergleicht es mit den beiden Monologen Irm sagt: und Margit sagt:, die gemeinsam mit Peter sagt: das Stück Babel bilden.33 Das Sekundärdrama FaustIn and out wurde bislang – neben den beiden Beiträgen von Jürs-Munby – in drei wissenschaftlichen Aufsätzen und zwei kurzen essayistischen Textbeiträgen beschrieben. Die ausführlichste Analyse legt auch hier Bärbel Lücke mit ihrem dekonstruktivistischen Beitrag Faust und Margarethe als Untote. Zu Elfriede Jelineks „FaustIn and out. Sekundärdrama zu Urfaust“ – offene/verdrängte Wahrheiten in freiheitlichen Zeiten34 vor. Lücke

31 Vgl.: Lücke, Bärbel: Hermann Brochs „1918. Huguenau oder die Sachlichkeit“ („Die Schlafwandler“) und Elfriede Jelineks „Abraumhalde“. Zwischen Zerfall und Restituierung religiöser und ökonomischer Paradigmen – eine Engführung. In: Weimarer Beiträge 4/2010, S. 485-500. 32 Vgl.: Gutjahr, Ortrud (Hg.): „Nathan der Weise“ von Gotthold Ephraim Lessing. Texterprobungen mit „Abraumhalde“ von Elfriede Jelinek in Nicolas Stemanns Inszenierung am Thalia-Theater Hamburg. Würzburg: Königshausen & Neumann 2010 (= Theater und Universität im Gespräch 11). 33 Vgl.: Schenkermayr, Christian: Vom Inzesttabu zum „Märtyrertod“. Interreligiöse Störungen als Tabubrüche in Elfriede Jelineks Theatertexten „Babel“ und „Abraumhalde“. https://jelinektabu.univie.ac.at/religion/interreligioese-stoerungen/christiansch enkermayr/ (15.7.2014) (= TABU: Bruch. Überschreitungen von Künstlerinnen. Interkulturelles Wissenschaftsportal der Forschungsplattform Elfriede Jelinek). 34 Vgl.: Lücke, Bärbel: Faust und Margarethe als Untote. Zu Elfriede Jelineks „FaustIn and out. Sekundärdrama zu Urfaust“ – offene/verdrängte Wahrheiten in freiheitlichen Zeiten. In: JELINEK[JAHR]BUCH. Elfriede Jelinek-Forschungszentrum 2012, S. 2362.

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geht darin auf Jelineks Montage- und Collagetechnik ein und gibt einen sehr aufschlussreichen Überblick über die aktuellere Faust-Rezeption in Österreich (Jandl, Turrini, Schwab, Bauer). Ein zweiter Beitrag von Lücke beschäftigt sich ausgehend von der Frage nach Tabubrüchen bei Jelinek mit den Krankheits- und Untoten-Metaphern in Jelineks Gesamtwerk und verweist dabei auch auf FaustIn and out.35 Dieser Beitrag zeigt, dass Jelineks FaustIn and out thematisch deutlich an frühe Theatertexte wie Clara S. und Krankheit oder Moderne Frauen, aber auch Romane wie Lust anknüpft und damit nicht ausschließlich im Kontext jener Stücke Jelineks zu diskutieren ist, die dezidiert dramatische Werke bearbeiten. Delphine Klein konzentriert sich in ihrem Aufsatz Polarité et métamorphoses dans „FaustIn and out“ d’Elfriede Jelinek36 auf die Verschränkung der Gretchenfigur mit Elisabeth Fritzl. Ein weiterer Artikel von ihr stellt den Text kurz vor und bespricht die Uraufführungsinszenierung von Dušan David Pařízek.37 Neben diesen wissenschaftlichen Beiträgen veröffentlichte Roland Koberg, der Dramaturg der Uraufführungsinszenierung von FaustIn and out, einen längeren essayistischen Text, der einen Überblick über die besonderen Anforderungen gibt, die Jelinek mit FaustIn and out an das Theater stellt und der das Stück eindeutig als literarische Bearbeitung des sogenannten „Inzestfalls von Amstetten“ festlegt.38 Der Beitrag des Dramaturgen Harald Wolf hingegen lenkt den Fokus auf die Thematik der Kinderschändung und unterstreicht, dass Jelineks Sekundärdrama auf die sexuelle Gewalt aufmerksam macht, die in Klassikern wie Goethes Faust oder Heinrich von Kleists Käthchen von Heilbronn unter dem Schlagwort „Liebe“ rezipiert und damit verdeckt wird.39

35 Vgl.: Lücke, Bärbel: TABU:BRUCH. Krankheits- und Untoten-Metaphern in Bezug auf „die“ Frau als Tabubruch bei Elfriede Jelinek. https://jelinektabu.univie.ac. at/moral/koerper-und-frau/baerbelluecke/ (15.7.2014) (= TABU: Bruch. Überschreitungen von Künstlerinnen. Interkulturelles Wissenschaftsportal der Forschungsplattform Elfriede Jelinek). 36 Vgl.: Klein, Delphine: Polarité et métamorphoses dans „FaustIn and out“ d’Elfriede Jelinek. In: Studia UBB Dramatica 2/2012, S. 85-100. 37 Vgl.: Klein, Delphine: „FaustIn and out“ dans les caves du Deutsches Theater. http:// jelinek.hypotheses.org/68 (15.7.2014), datiert mit 23.11.2012. 38 Vgl.: Koberg, Roland: Gretchenpalimpsest aus dem Keller. In: Theater heute. Jahrbuch 2011, S. 157-158. 39 Vgl.: Wolf, Harald: Goethe und der Kinderschänder. In: Programmheft des Theater Aachen zu FaustIn and out. Zu und mit Goethes Urfaust von Elfriede Jelinek, 2014.

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In nahezu allen Beiträgen zu den Sekundärdramen wird der feministische Aspekt der Texte betont, die Sekundärdramen werden als „weibliche Gegenschreibung“ zu Lessing und Goethe charakterisiert. Die vorliegende Studie greift diese in der Forschungsliteratur eingenommene Perspektive auf, setzt sich selbst jedoch zum Ziel, das Sekundärdrama in einem breiteren Kontext zu diskutieren und über eine feministische Lesart hinauszugehen. So stehen hier das Verhältnis von Drama und Jelineks „Textflächen“ bzw. Text und Theater im Mittelpunkt, von dem ausgehend wiederum auch auf Gender-Aspekte verwiesen wird.40 Schließlich ist zu fragen, ob die Kategorien „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ durch das Sekundärdrama nicht ebenso brüchig werden wie die Kategorie „Drama“. Die Studie setzt sich daher zum Ziel, das Konzept des Sekundärdramas im Kontext einer Ästhetik der Störung zu untersuchen und mittels einer Analyse beider Sekundärdramen die Stücke miteinander in Beziehung zu setzen, um auf diese Weise konstitutive Merkmale herauszuarbeiten, die auf die Funktionsweise des Konzepts schließen lassen. Neben den beiden Theatertexten Abraumhalde und FaustIn and out sollen auch die essayistischen Texte Reichhaltiger Angebotskatalog und Anmerkung zum Sekundärdrama sowie das E-Mail-Interview Die Bühne ist ein klaustrophobischer Raum und das Interview Vorspiel: Die Autorin Elfriede Jelinek in die Analyse miteinbezogen werden, da gerade in diesen Texten auf prägnante Art die Funktionsweise des Konzepts zum Ausdruck gebracht wird und da sie als Paratexte wichtige Zusatzinformationen liefern. Für die Studie sollen die Begriffe Sekundärdrama und Primärdrama – auch dieser Begriff wurde von Jelinek selbst eingebracht (vgl. VO) – übernommen werden, wobei es nicht darum geht, sie als neue Kategorien zu etablieren und damit Termini wie Prätext, Hypo- und Hypertext etc. zu ersetzen. Sekundär- und Primärdrama werden aufgegriffen, um bewusst nicht mit jenen Kategorien zu arbeiten, die durch das Konzept kritisch unterlaufen werden. Die Begriffe in der Analyse zu verwenden bietet sich aber auch deshalb an, weil dadurch auf die Sonderform des Konzepts verwiesen und so das Zusammenschalten und gemeinsame Präsent-Werden beider Texte permanent mittransportiert wird, sodass das Ins-Verhältnis-Setzen auch für die LeserInnen dieser Studie stets bewusst bleibt. Sowohl der Begriff Sekundärdrama als auch Primärdrama werden dabei nicht

40 Vgl. erste Ansätze dazu bei: Kovacs, Teresa: Unterbrechung, Übermalung, Dialog. Elfriede Jelineks „Sekundärdrama“ im Dialog mit Lessing / Goethe. In: Janke, Pia / Kovacs, Teresa (Hg.): „Postdramatik“. Reflexion und Revision. Wien: Praesens Verlag 2015 (= DISKURSE.KONTEXTE.IMPULSE. Publikationen des Elfriede JelinekForschungszentrums 11), S. 226-241.

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unreflektiert übernommen, sondern als strategische Begriffe und Teil des Konzepts diskutiert. Die Studie gliedert sich in zwei große Bereiche: im ersten Teil werden Störungstheorien aus dem Bereich der Kommunikations- und Informationswissenschaft, der Kybernetik, der Systemtheorie, aber auch medienwissenschaftliche und kulturwissenschaftliche Studien vorgestellt, um daran anschließend nach Störungsansätzen im Bereich der Literatur- und Theaterwissenschaft zu fragen und aus dieser Perspektive eine Definition der Störung vorzunehmen. Dabei verzichtet die Arbeit aber nicht darauf, bereits bei der Vorstellung einzelner Ansätze konkret auf Jelineks Werk bzw. die Sekundärdramen zu verweisen und so die Theorien direkt mit dem Konzept in Verbindung zu bringen sowie Fragen zu formulieren, die dann im zweiten Teil der Studie aufgegriffen werden. Miteinbezogen in die Überlegungen zu einer Ästhetik der Störung werden darüber hinaus Arbeiten zur Intertextualität und zur Dramentheorie sowie Konzepte aus dem Bereich der Postcolonial Studies und Gendertheorie. Ausgehend von den besprochenen Störungstheorien leitet die Studie zentrale ästhetische Kategorien ab, die im künstlerischen Bereich zur Erzeugung von Störungen beitragen und die für die Analyse des Konzepts fruchtbar gemacht werden können. Der zweite Teil der Studie fokussiert das Konzept des Sekundärdramas und die beiden so benannten Theatertexte, fragt dabei zunächst nach den Störungen auf Textebene, um danach auf Störungen im Bereich des Literatur- und Theaterbetriebs einzugehen. Für die Auseinandersetzung mit dem Eingriff des Sekundärdramas in den Theaterbetrieb ist es unumgänglich, Materialien zu den einzelnen Inszenierungen heranzuziehen, um auf diese Weise Tendenzen sichtbar zu machen und so auf Störmomente hinzuweisen. Da Jelineks Konzept in unterschiedlichste Bereiche eingreift und keine Analyse der Fülle an Störimpulsen gerecht werden kann, nimmt die vorliegende Studie einzelne, ausgewählte Bereiche in den Blick, immer in dem Wissen, dass vieles ausgespart bleiben muss und die Analyse fortgeschrieben werden könnte. Dem Motto der Arbeit entsprechend, gehen Fragen, die die Studie leiten, immer vom Ins-Verhältnis-Setzen von Primärdrama und Sekundärdrama aus. Es soll in der Folge nicht nur diskutiert werden, inwiefern durch die Betonung des sekundären Charakters und den Bezug auf kanonisierte Literatur die Verbindung der Primärdramen zu patriarchalen Macht- und Herrschaftsdiskursen sichtbar gemacht wird, sondern es wird auch gefragt werden, inwieweit durch die Kombination zweier Texte Grenzziehungen zwischen Texten, Schreibweisen und Zeiten tangiert und eventuell sogar aufgelöst werden. Die Forderung der Kombination lädt aber auch dazu ein, danach zu fragen, was passiert, wenn zwei unterschiedliche Theatertextmodelle kombiniert werden. Das bürgerliche Drama und

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dessen Konventionen symbolisieren innerhalb des Konzepts den aufklärerischen Gedanken eines selbstbestimmten Individuums. Wenn Jelineks vielstimmige Sekundärdramen in diese eindringen, wird jenes Denken nachhaltig gestört. Wie diese Störung funktioniert und was sie bewirkt, dem soll in dieser Studie nachgegangen werden.

I Störung

Theoretische Grundlagen

S TÖRUNG , N OISE , R AUSCHEN Der Begriff der Störung wurde erstmals von der Kommunikations- und Informationswissenschaft in den wissenschaftlichen Diskurs eingebracht und nutzbar gemacht. Da jede Definition der Störung, einschließlich im geisteswissenschaftlichen Bereich, von diesen Vorarbeiten ausgeht, kommt auch die vorliegende Studie nicht ohne eine kurze Einführung in zentrale Definitionsvorschläge aus, die von diesen Disziplinen geleistet wurden. Vor der Einführung des Begriffs in den wissenschaftlichen Diskurs durch die mathematische Kommunikationstheorie in den 1940er Jahren lag keine präzise Definition der Störung vor, auf die wissenschaftliche Studien hätten aufbauen können, jedoch war der Begriff im allgemeinen Sprachgebrauch fest verankert. Der Medienwissenschaftler Albert Kümmel betont daher die Relevanz der allgemeinen Begriffsgeschichte der Störung in Hinblick auf die Nutzbarmachung des Begriffs als analytische Kategorie in den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen und schlägt vor, diese für die Definition der Störung nicht außer Acht zu lassen.1 Ein Blick auf die Begriffsgeschichte erscheint besonders aufschlussreich, will man „Störung“ mit ästhetischen Verfahren in Verbindung bringen, da bereits daran deutlich wird, wie eine Ästhetik der Störung gedacht werden könnte bzw. welche Textformen und Formen der Textproduktion besonders hohes „Störpotential“ aufweisen. Die Miteinbeziehung der Begriffsgeschichte ist für eine Studie, die den Begriff der Störung auf die Form des Sekundärdramas anwenden will, somit unerlässlich und verspricht wichtige Grundlagen für die literatur- und theaterwissenschaftliche Kontextualisierung.

1

Vgl.: Kümmel, Albert: Störung. In: Roesler, Alexander / Stiegler, Bernd (Hg.): Grundbegriffe der Medientheorie. Paderborn: Fink 2005, S. 229-235, S. 229.

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Wie Kümmel herausarbeitet, wird im deutschsprachigen Raum „Störung“ synonym zum englischen Begriff „noise“ verwendet, wobei „noise“ im Deutschen auch mit „Rauschen“ übersetzt werden kann. Obwohl sich im allgemeinen Sprachgebrauch der Begriff „Störung“ durchgesetzt hat, regt Kümmel dazu an, die Wortbedeutung des „Rauschens“ und dessen Begriffsgeschichte auch im deutschsprachigen Raum mitzureflektieren, da ansonsten zentrale Aspekte, die der Begriff „noise“ beinhaltet, verloren gehen würden. Er führt aus, dass sich „Rauschen“ etymologisch vom mhdt. Verb „ruschen, rusken“ (onomatopoetisch für „krachen, sausen, schwirren“) bzw. vom mhdt. Substantiv „rusch“ („Ungestüm“) ableitet, wobei das Wort ab dem 16. Jhdt. synonym für „Trunkenheit“ bzw. „Rausch“ verwendet wird. Interessant scheinen darüber hinaus die von Kümmel zitierte, in der Encyclopedia Britannica angeführte Definition des englischen Begriffs „noise“ als „word of a doubtful origin“ sowie die etymologische Herleitung des Begriffs „Störung“ als Übersetzung der lat. Begriffe „turbatio“, „perturbatio“ und „interpellatio“, wobei „turbatio“ neben „Störung“ auch „Verwirrung“ und „Unordnung“ bedeuten kann.2 Das zeigt, dass der Begriff der Störung zentrale Aspekte wie Um- und Verkehrung bzw. Negation von Bedeutung und Sinnstiftung, aber auch eine Absage an die Möglichkeit von Originalität und somit von jeder Form der UrheberInnen- und AutorInnenschaft impliziert. Dies lässt Kunstwerke, die einer Ästhetik der Störung folgen, in die Nähe der Parodie, der Travestie und der Ironie rücken und an Bachtins Untersuchung Literatur und Karneval anschließen, die das Potential zur karnevalesken Umkehrung, die Polyphonie und die Überwindung dichotomischer Gegensatzpaare in der Literatur unter den Aspekten des Rausches und des Orgiastischen ins Blickfeld rückt.3 Somit scheint eine Ästhetik der Störung unweigerlich verbunden zu sein mit sekundären Textformen und sekundären Formen der Textproduktion, sie verweist aber immer auch auf subversive Schreibpraktiken, die auf das Unterlaufen vorhandener Normen und Ordnungen abzielen. Der Begriff „Rauschen“ wird auch von Andreas Hiepko und Katja Stopka herangezogen, die mit ihrem gleichnamigen Sammelband eine sehr frühe Studie zu Störungsphänomenen in der Literatur vorlegen.4 Interessant scheinen dabei die charakteristischen Eigenschaften, die sie allgemein für das Rauschen herausarbeiten, nämlich Unbestimmtheit, Gegenstandslosigkeit, Diffusion und Unkon-

2

Vgl.: Ebd., S. 229.

3

Vgl.: Bachtin, Michail: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur.

4

Vgl.: Hiepko, Andreas / Stopka, Katja (Hg.): Rauschen. Seine Phänomenologie und

Frankfurt am Main: Fischer 1990. Semantik zwischen Sinn und Störung. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001.

T HEORETISCHE G RUNDLAGEN

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kretheit.5 Dass diese Eigenschaften fruchtbar gemacht werden können für die Beschreibung des Sekundärdramas bzw. dass sich somit von der Wortbedeutung des Rauschens Aspekte einer Ästhetik der Störung bei Jelinek ableiten lassen, scheint nicht zu verwundern, bedenkt man, dass Jelineks Theatertexte in der Forschungsliteratur oftmals der Kategorie des Postdramatischen bzw. den nichtmehr-dramatischen Theatertexten zugeordnet werden, also künstlerischen Formen, die zentral mit den eben genannten Aspekten in Verbindung gebracht werden. Die erste grundlegende wissenschaftliche Definition des Begriffs „Störung“ stammt von Claude E. Shannon und Warren Weaver, die das kommunikationstheoretische Modell von Sender-Empfänger um die Kategorie der Störung („noise“) erweiterten und die somit erstmals auch das Rauschen als Teil der Kommunikation berücksichtigten.6

Abb. 1: Claude E. Shannon, Warren Weaver: Communication System Kommunikationstheoretische Ansätze wie dieser betrachten Störungen als intentional oder nicht-intentional auftretende „Differenz zum Signal“7 und fokussieren in der Betrachtung der Störung die Frage nach den Möglichkeiten der „Entstörung“ und damit der Wiederherstellung einer ungestörten Übertragung bzw. 5

Vgl.: Hiepko, Andreas / Stopka, Katja: Einleitung. In: Hiepko, Andreas / Stopka, Katja (Hg.): Rauschen. Seine Phänomenologie und Semantik zwischen Sinn und Störung. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, S. 9-18, S. 9.

6

Vgl.: Shannon, Claude E. / Weaver, Warren: The mathematical theory of communication. Urbana: University of Illinois Press 1963.

7

Kümmel, Albert: Störung, S. 230.

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der Ermöglichung einer geglückten Kommunikation mit möglichst geringem Informationsverlust. Kommunikations- und informationstheoretische Ansätze heben so auch hervor, dass das Verschwinden des Mediums selbst konstitutiv für das Gelingen einer Informationsübertragung ist, da nämlich „der Kanal und die Codierung einer Kommunikation im Gelingen der Kommunikation aufgehen [müssen], nicht zuletzt, weil die Aufmerksamkeit auf sie das Gelingen stören würde.“8 Anschließend an die These der „Unsichtbarkeit“ von Medien 9 wurde in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen herausgearbeitet, dass Störungen somit als jener Faktor begriffen werden können, der die Medialität und Materialität der Medien sichtbar macht.10 So etwa definiert Ludwig Jäger Störung aus medienwissenschaftlicher Sicht als jeden „Zustand im Verlauf einer Kommunikation [...], der bewirkt, dass ein Medium (operativ) seine Transparenz verliert und in seiner Materialität wahrgenommen wird [...].“11 Diese Definition bildet eine wichtige Grundlage für die Anwendung des Begriffs im Bereich der Literaturwissenschaft und somit auch für die Beschreibung von Jelineks Konzept des Sekundärdramas. Darüber hinaus darf Marshall McLuhans Grundthese nicht außer Acht gelassen werden, die kurzgefasst lautet „The medium is the message“12. Diese These besagt, dass die Form der Medien prägender ist als die vermittelten Inhalte und regt daher an, wissenschaftlich eher die Form zu befragen und zu beschreiben als rein die Inhalte zu fokussieren. Übertragen auf den Bereich der Literaturwissenschaft würde dies bedeuten, v.a. die Gattungskonventionen und die ästhetischen Verfahren von Kunstwerken zu analysieren und in weiterer Folge zu fragen, welche Macht- und Herrschaftsdiskurse gerade dadurch verhandelt werden.

8

Sprenger, Florian: Was wissen Medien darüber, dass es sie gar nicht gibt? Vortrag im Rahmen der Jahrestagung der Gesellschaft für Medienwissenschaft „Was wissen Medien?“ 2.-4.10.2008, Institut für Medienwissenschaft, Ruhr-Universität Bochum. http://www.gfmedienwissenschaft.de/gfm/webcontent/files/2008-abstracts/Sprenger_ WasWissenMedienDarueber_GfM2008.pdf (4.11.2014).

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Zentral sind hier etwa Marshall McLuhans Studien, besonders: McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle. Düsseldorf: ECON 1968.

10 Vgl. beispielsweise Studien von Sybille Krämer, Gabriel Tarde und Bruno Latours Actor-Network-Theory. 11 Jäger, Ludwig: Störung und Transparenz. Skizze zur performativen Logik des Medialen. In: Krämer, Sybille (Hg.): Performativität und Medialität. München: Fink 2004, S. 35-73, S. 62. 12 Vgl.: McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle.

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Die Annahme, dass das Medium bzw. die Materialität des Mediums erst in dem Moment sichtbar wird, in dem Störungen auftreten, wurde zentral von der Sprechakttheorie rezipiert und weiterentwickelt. So etwa konstatiert John L. Austin in seiner zentralen Studie How to do things with words, dass „das Abnormale Licht auf das Normale [wirft]“13 und nähert sich selbst der Frage, wie Sprache richtig zu verwenden sei, über die Aufzählung missglückter Sprechakte. Damit beweist er, dass Störungen entscheidend zum Erkenntnisgewinn beitragen können. Störungen ausschließlich als negative Einflüsse bzw. in ihrer destruktiven Funktion zu begreifen, wie es kommunikations- und informationstheoretische Studien nahelegen, denen es zentral um die Frage geht, ob eine Information ohne Verlust bei ihrer/ihrem adressierten EmpfängerIn ankommt, wurde durch zahlreiche neuere Ansätze widerlegt und infrage gestellt. Dabei ist jedoch festzuhalten, dass auch Shannon und Weaver in ihrer Arbeit nicht einfach davon ausgehen, dass Störungen eindeutig negativ zu bewerten sind. So konstatiert Weaver für das Auftreten der Störung innerhalb eines Kommunikationsvorgangs: If noise is introduced, then the received message contains certain distortions, certain errors, certain extraneous material, that would certainly lead one to say that the received message exhibits, because of the effects of the noise, an increased uncertainty. But if uncertainty is increased, the information is increased, and this sounds as though the noise were beneficial! It is generally true that when there is noise, the received signal exhibits greater information [...].14

Weaver formuliert hier ein der Störung inhärentes Paradoxon, wenn er betont, dass Störung nicht bedeutet, dass die Information verloren geht bzw. durch das Rauschen zerstört wird, sondern dass es durch sie zu einem Zugewinn an Information kommt, die Störung die Nachricht also quasi bereichert. Auf Shannons und Weavers Modell aufbauende Studien haben ebenfalls betont, wie komplex Störung innerhalb der Kommunikation zu denken ist und haben darauf hinge-

13 Austin, John L.: Zur Theorie der Sprechakte. (How to do things with words). Stuttgart: Reclam 1986, S. 235. 14 Shannon, Claude E. / Weaver, Warren: The mathematical theory of communication, S. 19.

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wiesen, dass ihr eine „Doppeldeutigkeit zwischen Beschädigung und Bereicherung“15 innewohnt, die nicht auflösbar zu sein scheint. Neben den angeführten informationstheoretischen Studien lieferte die von Norbert Wiener begründete Kybernetik wichtige Impulse für weiterführende Untersuchungen zum Phänomen der Störung. Im Gegensatz zur Kommunikationswissenschaft arbeitet die Kybernetik nicht mit linearen, sondern mit zirkulären Kommunikationsmodellen, wodurch das wechselseitige Verhältnis von Sender, Nachricht, Empfänger sichtbar wird. Damit rückt die Erkenntnis, dass die Nachricht nicht nur auf den Empfänger wirkt, sondern gleichsam auf den Sender zurückwirkt, in den Fokus der wissenschaftlichen Betrachtung. Störung wird in diesen Studien als akzidentelles, nicht-intentionales Hindernis aufgefasst, das in seinem Auftreten zur Entstehung neuer Ordnungen bzw. zur Stabilisierung eines Systems beitragen kann.16 Auf diese durch die Kybernetik geleistete positive Umwertung der Störung bauen zentrale Studien wie Niklas Luhmanns soziologische Systemtheorie, die Chaostheorie, aber auch Michel Serres’ Untersuchung Der Parasit (1980) auf, die in der Folge sowohl von der Kultur- als auch Literatur- und Theaterwissenschaft aufgegriffen wurden, um den Begriff der Störung auch in diesen Disziplinen einzuführen. Niklas Luhmanns Systemtheorie ist maßgeblich daran beteiligt, dass Störung nicht mehr ausschließlich als destruktive, sondern auch als konstruktive Größe wahrgenommen wird. Wie er in Die Gesellschaft der Gesellschaft nachweist, nehmen bestehende Systeme alle von außen kommenden Reize als Irritationen wahr, diese Irritationen werden in der Folge jedoch in Informationen umgewandelt und können damit zur Erneuerung und Stabilisierung des Systems beitragen. Irritationen kommt in diesem Sinne die Funktion zu, Systeme zur Selbstbeobachtung und -beschreibung zu zwingen, was gleichzeitig bedeutet, dass Irritationen immer innerhalb des Systems bearbeitet und diskutiert werden müssen.17

15 Schüttpelz, Erhard: Frage nach der Frage, auf die das Medium eine Antwort ist. In: Kümmel, Albert / Schüttpelz, Erhard (Hg.): Signale der Störung. München: Wilhelm Fink 2003, S. 15-29, S. 16. 16 Wie Erhard Schüttpelz nachweist, versuchen besonders Ansätze, die ab den 1970er Jahren entwickelt werden, die Produktivität der Störung nachzuweisen. (Vgl.: Schüttpelz, Erhard: Eine Ikonographie der Störung. Shannons Flußdiagramm der Kommunikation in ihrem kybernetischen Verlauf. In: Jäger, Ludwig / Stanitzek, Georg (Hg.): Transkribieren. Medien / Lektüre. München: Wilhelm Fink 2002, S. 233-280, S. 269270.) 17 Vgl.: Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 118-119.

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Wie Carsten Gansel und Norman Ächtler in ihrer Einführung zum Band Das Prinzip „Störung“ in den Geistes- und Sozialwissenschaften konstatieren, weist Luhmanns These großes Potential für die Nutzbarmachung des Begriffs der Störung in den Geistes- und Sozialwissenschaften auf.18 So bauen etwa semiologische und epistemologische Studien auf diese Ansätze auf und definieren Störung als „ein zentrales Verfahren der sprachlichen Sinnproduktion“19. Sie behandeln somit Störung nicht mehr als eine Normabweichung, die es zu korrigieren gilt, sondern als „konstitutives Moment der Redeentfaltung“20, da sie zur Selbstreflexion anregt. Markus Rautzenberg greift eben jene Ansätze auf, die das Potential der Störung zur Sinnstiftung betonen, und stellt ausgehend von frühen informationstheoretischen Definitionen die Frage, inwieweit Störung nun als „getarnter Sinn, der nur auf Entschlüsselung wartet“21, verstanden werden kann, wie es darüber hinaus auch die Medientheorie Friedrich Kittlers und die philosophischen Studien Martin Seels nahelegen. Rautzenberg, der in seiner Studie Die Gegenwendigkeit der Störung für eine Beibehaltung der frühen informationstheoretischen Definition plädiert, schlägt vor, das Verhältnis von Störung und gelungener Kommunikation als „Interdependenz in der Differenz“ zu beschreiben. Eine Definition der Störung als verschlüsselter Sinn würde „das Moment radikaler Alterität aus dem Begriff der Störung und des Rauschens“22 tilgen und so das Widerstandspotential der Störung begrifflich nicht mehr abbilden. Aufbauend auf Martin Heideggers Zeuganalysen in Sein und Zeit, Heideggers Studie Der Ursprung des Kunstwerkes und auf Jacques Derridas Dekonstruktion der Präsenzkategorie leistet Rautzenberg eine Definition der Störung, die den ambivalenten Charakter und damit das subversive Potential dieses Phänomens fokussiert: Störung ist eben eine solche gegenwendige Dynamik, die als konstitutive Paradoxie medialer Vollzüge begriffen werden muss. Am Störungsbegriff zeigt sich eine Materialität der

18 Vgl.: Gansel, Carsten / Ächtler, Norman: Das „Prinzip Störung“ in den Geistes- und Sozialwissenschaften – Einleitung. In: Gansel, Carsten / Ächtler, Norman (Hg.): Das „Prinzip Störung“ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Berlin: De Gruyter 2013 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 133), S. 7-13, S. 10. 19 Jäger, Ludwig: Störung und Transparenz. Skizze zur performativen Logik des Medialen, S. 41. 20 Ebd., S. 41. 21 Rautzenberg, Markus: Die Gegenwendigkeit der Störung. Aspekte einer postmetaphysischen Präsenztheorie. Zürich: diaphanes 2009, S. 13. 22 Ebd., S. 14.

38 | D RAMA ALS S TÖRUNG Kommunikation, die Präsenz eines Mediums, die allerdings nicht mit Stoff und Substanz verwechselt werden kann, da sie nicht in dinghafter Anwesenheit aufgeht. Ihr Modus ist vielmehr die paradoxe Anwesenheit in der Abwesenheit, Vollzug im Entzug.23

Rautzenberg betont anschließend an diese Feststellung, dass bei Störungen in besonderer Weise zu Tage tritt, was grundsätzlich konstitutiv ist für Medialität, nämlich, dass sie immer ein Zwischen gerieren und daher als Schwellenphänomene bzw. liminale Räume zu begreifen sind. Die Betonung dieser der Störung innewohnenden Ambivalenz und der Erzeugung eines Zwischen ist auch für Überlegungen zu einer Ästhetik der Störung von großem Mehrwert. Damit wird beschreibbar, dass es bei künstlerischen Störungen immer auch um die Erzeugung von Uneindeutigkeiten und Unsicherheiten sowie um das Changieren zwischen verschiedenen Möglichkeiten geht, was die Entstehung eines eindeutig festlegbaren Sinns verunmöglicht. Störung als liminales Phänomen zu begreifen scheint in Hinblick auf die Sekundärdramen v.a. dann zentral, wenn es um die Beschreibung des Verhältnisses zwischen Primär- und Sekundärdrama geht, da auch hier davon ausgegangen werden kann, dass in der Kombination beider Texte ein Zwischenraum entsteht, in dem Themen und Diskurse neu verhandelt werden können. Jelinek selbst begründet ihre Forderung, dass die Sekundärdramen ausschließlich gemeinsam mit den Primärdramen inszeniert werden sollen, mit dem dadurch entstehenden Zwischen und lenkt den Fokus damit ebenfalls auf Schwellenräume und Übergänge von Texten (vgl. BÜ). Luhmanns These, dass Störungen Systeme zur Selbstreflexion anregen, wird auch in kulturwissenschaftlichen Arbeiten vermehrt aufgegriffen. In diesem Bereich sind es besonders jene Arbeiten, die sich mit der Funktionsweise des kollektiven Gedächtnisses auseinandersetzen, Luhmann wird aber auch in diskursanalytischen Studien zur Störung herangezogen.24 In Hinblick auf die Verknüpfung von Gedächtnisforschung und Literaturwissenschaft scheint der von Artur Pełka eingebrachte Ansatz relevant, der ausgehend von Foucaults Begriff des Gegen-Gedächtnisses (contre-mémoire) das Potential von Störungen in der Literatur zur Hinterfragung und Delegitimierung des offiziellen, staatlich sanktionierten, hegemonialen Gedächtnisses und zur Sichtbarmachung der damit ver-

23 Ebd., S. 18. 24 Vgl.: Jäger, Ludwig: Störung und Transparenz. Skizze zur performativen Logik des Medialen, S. 41.

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bundenen Ausschlussstrategien herausarbeitet.25 Foucaults Begriff des GegenGedächtnisses eröffnet interessante Perspektiven für literaturwissenschaftliche Analysen. Meint Foucaults Gegen-Gedächtnis eine Geschichtsschreibung, die das Verdrängte, Ausgeschlossene und Verschwiegene berücksichtigt, könnte das besonders für sekundäre Textformen wie die Parodie, die eine Gegen-Stimme zum Prätext bilden, ein bereichernder Analyseansatz sein, um nach dem NichtRepräsentierten in den jeweiligen Bezugstexten zu fragen. Die Betonung der durch Störung hervorgerufenen Selbstreflexion ist auch in der Literaturwissenschaft von großer Relevanz und lässt Formen, die einer Ästhetik der Störung folgen, und Formen des Metadramas bzw. -theaters miteinander in Bezug setzen. Gerda Poschmann etwa hält hinsichtlich der kritischen Nutzung der dramatischen Form fest, der sie auch die Kategorie des Metadramas bzw. -theaters zuordnet, dass damit eine Störung der theatralen Fiktionsdarstellung erreicht werden kann. Konkret konstatiert sie für die Thematisierung der dramatischen Form im Metadrama, dass dadurch die Kritik an eben dieser Form und an den damit verbundenen Konventionen, besonders dem Prinzip der Repräsentation, zum eigentlichen Inhalt des Metadramas wird.26 Auf das Sekundärdrama bezogen lässt sich so etwa herausarbeiten, dass durch das Gattungszitat „Drama“ eine Reflexion der Gattung und den damit verbundenen Konventionen ermöglicht, aber auch der Theaterbetrieb selbst einer Reflexion unterzogen wird. Darüber hinaus eröffnet eine solche Perspektive vielseitige Fragen hinsichtlich dieser speziellen Form, wie etwa, ob das Sekundärdrama somit immer innerhalb des Systems „Drama“ wirkt und produktiv wird, aber auch, ob es daher innerhalb des vorherrschenden (Theater-)Systems wirksam werden muss bzw. erst und nur an staatlichen, etablierten Theatern seine besondere Wirkung entfalten kann. Für die Anwendung des Begriffs der Störung in neueren kultur- und medienwissenschaftlichen Arbeiten kann festgehalten werden, dass Konsens darüber herrscht, dass Störung nicht ausschließlich als destruktives Moment begriffen werden kann. Der Fokus der Untersuchungen liegt daher auch darauf, Störung als konstitutives Element für die Entstehung neuer Ordnungen zu begreifen, wo-

25 Vgl.: Pełka, Artur: Schwule als ‚Figuren der Störung‘: Heterotopien in Michał Witkowskis „Lubiewo“. In: Gansel, Carsten / Zimniak, Paweł (Hg.): Störungen im Raum – Raum der Störung. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2012 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 294), S. 387-406, S. 405. 26 Vgl.: Poschmann, Gerda: Der nicht mehr dramatische Theatertext. Tübingen: Niemeyer 1997, S. 88 und 107.

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bei vermehrt Ansätze von Bruno Latour und Hans-Jörg Rheinberger herangezogen werden, die das epistemologische Potential der Störung betonen.27 Zentral für die Verwendung des Begriffs der Störung für die Beschreibung des Sekundärdramas scheint der Zugang von Stephan Habscheid und Lars Koch. Anschließend an Luhmanns Systemtheorie verstehen sie Störung als epistemisches Ereignis zweiter Ordnung, das „Auskunft darüber geben kann, wie die kulturelle Produktion von Normalität funktioniert und wie das Verhältnis von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont symbolisch-sprachlich ausgehandelt wird“28. Somit können Störungen Konstitutionsbedingungen von Ordnungsmustern und gesellschaftlichen Normen sichtbar machen, nämlich in dem Moment, in dem diese als bedroht empfunden werden: Die Störung […] problematisiert und produziert Norm-Erwartungen und ist – als Befragung des Status quo – ein wichtiger Motor von Veränderungen und (technischer, politischer, kultureller) Innovation: Indem in der Beobachtung von Störungen Erfahrung und Erwartung auseinanderfallen und Diskontinuitäten sichtbar werden, ermöglichen Störungsdiskurse einen reflexiven Blick auf kulturelle Verarbeitungsroutinen und basale gesellschaftliche Muster. Aus diesem Grund ist die Störung, verstanden als heuristischer, zwischen Kontingenzbewusstein und Latenzschutz oszillierender Ernstfall, nicht mehr bloß als eine heterogene Unterbrechung im gelingenden Prozessieren unserer technischen, symbolischen oder sozialen Systeme und Apparaturen zu begreifen. Vielmehr eröffnet sie qua ihrer Fähigkeit zur Irritation genau jene Spielräume, in denen sich Weltbezüge erneuern und gesellschaftliche Selbstbeschreibungen kritisieren und reformulieren lassen.29

Diese Konzeptualisierung von Störung erweist sich als grundlegend für die Anwendung des Begriffs auf künstlerische Arbeiten. Konkret für das Sekundärdrama ist die Feststellung essentiell, dass Störungen immer auf aktuell geltende Normen verweisen, diese sichtbar machen und die RezipientInnen dadurch dazu anregen können, sie zu überdenken und schließlich auch aufzugeben. Damit wird es möglich, eine der zentralen Thesen der Studie zu belegen und analytisch nachzuvollziehen, dass die Sekundärdramen auf eine Reflexion und Infragestel-

27 Vgl.: Kümmel, Albert / Schüttpelz, Erhard: Medientheorie der Störung/Störungstheorie der Medien. Eine Fibel. In: Kümmel, Albert / Schüttpelz, Erhard (Hg.): Signale der Störung. München: Fink 2003, S. 9-13, S. 9-10. 28 Habscheid, Stephan / Koch, Lars: Einleitung: Katastrophen, Krisen, Störungen. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 173 (2014), S. 5-12, S. 7. 29 Ebd., S. 9.

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lung der historischen Kategorie Drama sowie des gegenwärtigen Literatur- und Theaterbetriebs abzielen. Das mit der Störung verbundene Changieren, das von Habscheid und Koch in der eben zitierten Textstelle zwar erwähnt, jedoch nicht weiter erläutert wird, wird von Michel Serres in seiner Studie Der Parasit intensiv beleuchtet. Über bisherige kommunikations- und informationstheoretische sowie kybernetische Modelle hinausgehend, entwickelt Serres ein dreipoliges Schema der Kommunikation, das jeder/jedem KommunikationsteilnehmerIn gleichermaßen die Funktion Sender, Empfänger und Störer zuteilt und das die Positionen dabei bewusst offen lässt.

Abb. 2: Michel Serres: Schema der Kommunikation Dieses neuartige Modell liefert für die Anwendung des Begriffs der Störung in Hinblick auf eine mit dem Sekundärdrama erzeugte Ästhetik der Störung wichtige Reflexionspunkte. Von Serres wird dieses Schema wie folgt beschrieben: Gegeben seien also zwei Stationen und ein Kanal, der beide verbindet. Der Parasit, der sich dem Fluß der Relation aufpfropft, ist in der Position des Dritten. Bislang reichte dieses Schema aus; es war das Grundelement des Systems. Doch nun wechseln die Positionen. Wer zuvor Gast war, wird nun zum Unterbrecher; was Rauschen war, wird Gesprächspartner; was zum Kanal gehörte, wird zum Hindernis, und umgekehrt. Die Antworten auf die Fragen: Wer ist nun der Dritte? Und wo ist der Dritte? fluktuieren in Abhängigkeit vom Rauschen, von der Zeit und auch von den neuen Beziehungen der Gleich-

42 | D RAMA ALS S TÖRUNG heit oder Ähnlichkeit zwischen den Ausdrücken. [...] Wir benötigen ein Diagramm mit unbestimmten Zweigen, in dem die Abschnitte nicht spezifiziert sind.30

Die Verunsicherung, das Fluktuieren und Changieren zwischen den Kategorien und die Unmöglichkeit der Festlegung und Benennung der Positionen, wie es Serres hier formuliert, sind von großer Relevanz für die Betrachtung einer Ästhetik der Störung. Serres spricht damit eben jene charakteristischen Eigenschaften der Störung an, die für Jelineks Konzept des Sekundärdramas von zentraler Bedeutung sind: das Spiel mit Kategorien, das Zitieren und scheinbare Reproduzieren von Ordnungen, um diese gleichzeitig umzukehren, zu verdrehen, zu kippen und schließlich zu unterlaufen, aber auch das Spiel mit Grenzen und Leerstellen der Wahrnehmung, Fragmentierung und synästhetischer Verunsicherung. Serres Modell lässt grundsätzlich offen, welches der Elemente als Störung empfunden wird, was es erlaubt, dies auch auf das Konzept des Sekundärdramas zu übertragen und die prinzipielle Offenheit bzw. Veränderbarkeit hervorzuheben. Je nach Perspektive kann das Sekundärdrama als Störung des Primärdramas fungieren, aber auch umgekehrt kann das Primärdrama als Störung des Sekundärdramas gelesen werden.

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Der Begriff der Störung eröffnet eine weitere interessante Perspektive für die Auseinandersetzung mit Jelineks dramatischem Werk allgemein und im Besonderen mit dem Sekundärdrama, folgt man Albert Kümmels These, dass die Theoriegeschichte der Störung untrennbar mit der Figur des Trickster verbunden ist. Kümmel folgend sind Trickster Figuren „des (gezielten) Mißverständnisses, der trickreichen Umwege und erfindungsreichen Neudeutungen von Botschaften. Jeder Trickstermythos muß als implizite Störungstheorie gelesen werden. Trickster, ihre Verwandten und Nachfahren stellen deshalb die Grundlage jedes Denkens der Störung dar.“31 Kümmel verwendet den Begriff „Trickster“ synonym zur Figur des Dritten und schließt damit in seine Überlegungen unter-

30 Serres, Michel: Der Parasit, S. 84-85. Ähnlich formuliert es Serres im Kapitel Abnehmende Erträge Dunkles und Wirres: „Die drei Positionen [Wirt, Gast, Parasit] sind austauschbar, besser geeignet ist daher das folgende Schema, das eine Verzweigung darstellt: [Abb.] Hier sind die drei Plätze äquivalent. Jeder ist in Linie mit dem anderen, und jeder kann in die Position des Dritten gelangen.“ (Ebd., S. 37.) 31 Kümmel, Albert: Störung, S. 229.

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schiedliche Ausformungen mit ein.32 So sind etwa der Parasit, auf den Serres’ Studie in Anlehnung an die französische Wortherkunft des Rauschens („bruit parasite“) aufbaut, und der Bote, wie ihn Sybille Krämer in ihrer medienwissenschaftlichen Studie Medium, Bote, Übertragung (2008)33 für ihre theoretischen Überlegungen heranzieht, diesen Tricksterfiguren zuzurechnen und verdienen einer genaueren Betrachtung in ihrer Funktion als Figuren der Störung. Neben dem Parasiten und dem Boten muss an dieser Stelle als weitere Ausformung der Figur des Dritten auch das Virus angeführt werden, das, als „parasitärer Nutznießer“34 definiert, besonders häufig in dekonstruktivistisch angeleiteten Lektüren herangezogen wird. Stärker als dem Parasiten wohnt dem Virus die Bedeutung von Krankheit, Ansteckung und Epidemie inne und lässt das Parasitäre etwa mit dem Dionysischen und mit einer Ästhetik der Entgrenzung in Verbindung bringen. Aber auch allgemeine Studien zur Figur des Trickster bzw. des Dritten, wie sie die Sammelbände Mythical Trickster Figures (1993)35 und Die Figur des Dritten (2010)36 versammeln, erlauben wichtige Einsichten in Hinblick auf die Bestimmung einer Ästhetik der Störung. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass Studien, die von Figuren des Dritten ausgehen, diese nicht vornehmlich im personalen Sinn verstehen, sondern damit Schwellenphänomene und eine Dynamik der Indirektheit zu beschreiben versuchen, somit also immer auch „Figuration“ gemeint ist, wenn von „Figur“ gesprochen wird.37 Albrecht Koschorke konsta-

32 Zu den unterschiedlichen Ausformungen der Figuren des Dritten und deren theoretischer Nutzbarmachung in unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen vgl.: Eßlinger, Eva u.a. (Hg.): Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2010 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1971). Als Figuren des Dritten werden in diesem Band angeführt: Der Bote, Der Cyborg, Der Parasit, Der lachende Dritte, Der Trickster und Der Rivale. 33 Vgl.: Krämer, Sybille: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008. 34 Weingart, Brigitte: Parasitäre Praktiken. Zur Topik des Viralen. In: Benthien, Claudia / Krüger-Fürhoff, Irmela Marei (Hg.): Über Grenzen. Limination und Transgression in Literatur und Ästhetik. Stuttgart: Metzler 1999, S. 207-230, S. 208. 35 Vgl.: Hynes, William J. / Doty, William G. (Hg.): Mythical trickster figures. Contours, contexts, and criticisms. Tuscaloosa: University of Alabama Press 1993. 36 Vgl.: Eßlinger, Eva u.a. (Hg.): Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. 37 Vgl.: Koschorke, Albrecht: Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften. In: Eßlinger, Eva u.a. (Hg.): Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma.

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tiert daran anschließend, dass dieser Figuration „immer auch ein defigurierendes, feste Bedeutungsbehauptungen auflösendes Element“38 innewohnt, wodurch einmal mehr das künstlerische Potential dieser „Figurationen der Störung“ deutlich wird. Zwischen den Kategorien Wie Michel Serres in seiner Studie nachweist, ist der Parasit der bzw. das Dritte, der / das die Beziehung zwischen zwei KommunikationsteilnehmerInnen stört und die Vermittlung unterbricht, indem er / es sich an den Kanälen andockt und an diesen „schmarotzt“. Der Parasit ist Störung, ist Bruch, ist Unterbrechung der Kommunikation. Als störendes Element trachten die KommunikationsteilnehmerInnen danach, ihn wieder auszuschließen bzw. zu eliminieren, d.h. der Parasit zwingt sie in jedem Fall, auf ihn zu reagieren.39 Brigitte Weingart betont, dass es nie eine willkürliche, zufällige Stelle ist, an der sich der Parasit festsetzt, sondern dass er immer an (System-)Grenzen von Literatur / Theorie, Natur / Kultur, Mensch / Maschine, Privatheit / Öffentlichkeit etc. auftaucht, somit als „Schauplatz von Grenzverhandlungen“40 fungiert. Liest man das Sekundärdrama als Störung, als das Dritte, das sich zwischen zwei KommunikationsteilnehmerInnen schiebt, beispielsweise zwischen dramatischem Text und RezipientIn bzw. Bühne und Theaterpublikum, wird das Potential dieser speziellen Form offenbar, Unruhe zu stiften, bestehende Ordnungen umzukehren und aufzustören, Relationen zu verwischen und Uneindeutigkeiten zu erzeugen. Anschließend daran scheint relevant, was Albrecht Koschorke allgemein für die Figur des Dritten festhält. Er nämlich geht davon aus, dass Figuren des Dritten ihr Potential zur Störung nicht bloß durch Unterbrechung und Umkehrung gegebener Ordnungen gewinnen, sondern durch die Fokussierung der Beziehung bzw. des Verhältnisses selbst, das zwischen den einzelnen Kategorien ensteht, die es zu stören gilt. So geht Koschorke davon aus, dass immer dann von „Effekten des Dritten“ gesprochen werden kann, „wenn intellektuelle Operationen nicht mehr bloß zwischen den beiden Seiten einer Unterscheidung oszillieren, sondern die Unterscheidung als solche zum Gegenstand und Problem wird.“41

Frankfurt am Main: Suhrkamp 2010 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1971), S. 9-31, S. 18-19. 38 Ebd., S. 19. 39 Vgl.: Serres, Michel: Der Parasit, S. 11. 40 Weingart, Brigitte: Parasitäre Praktiken. Zur Topik des Viralen, S. 214. 41 Koschorke, Albrecht: Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften, S. 11.

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Diese Fokussierung und Reflexion der Differenz selbst und damit der bestehenden, binär organisierten klassischen abendländischen Episteme scheint zentral für die Auseinandersetzung mit der Störung als ästhetischer Kategorie, da damit ihr Potential zutage tritt, binäre Strukturen zuallererst sichtbar zu machen, um diese schließlich zu problematisieren und aufzubrechen. Claudia Berger und Tobias Döring halten daher zu Recht fest, dass Figuren des Dritten nicht zu denken sind ohne die binäre Strukturierung westlicher Denkmodelle: „Das ‚Dritte‘ gewinnt seine Konturen erst aus den historischen Konstellationen der Dichotomien zwischen dem ‚Einen‘ und dem ‚Anderen‘.“42 Auch sie lenken den Fokus auf das Verhältnis bzw. den Raum zwischen diesen Kategorien, in dem sich das subversive Potential des Dritten entfaltet. Darüber hinaus halten Berger und Döring fest, dass sich die Figur des Dritten jeder Zuordnung entzieht, da in ihr Gegensätze unlösbar aufeinandertreffen und ineinanderwirken.43 Aufbauend auf diese Feststellung widmen sie sich unterschiedlichen Figuren des Dritten in Derridas philosophischen Texten, die bei ihm u.a. mit den Begriffen pharmakon, hymen und chōra gefasst werden.44 Von den genannten Begriffen weist v.a. die chōra viele zentrale Aspekte des Dritten auf und eignet sich so als Reflexionspunkt. Derrida beschreibt sie in Anlehnung an Platons Timaios als Herausforderung binärer Strukturen: „Die chōra, die weder ‚sinnlich‘ noch ‚intelligibel‘ ist, gehört einer ‚dritten Gattung‘/einem ‚dritten Geschlecht‘ (triton genos, 48e, 52a) an. Man kann von ihr nicht einmal sagen, daß sie weder dieses noch jenes oder daß sie zugleich dieses und jenes sei.“45 Konkret auf das Sekundärdrama bezogen wird im zweiten großen Bereich der Studie, der die verschiedenen Ebenen der Störung analysiert, die durch das Sekundärdrama erzeugt werden, der Frage nachgegangen, wie das Konzept eben diese Charakteristiken auslotet und gezielt einsetzt. Das Potential zur Sichtbarmachung von Binaritäten und damit auch der Konstruiertheit von Systemen, seien sie gesellschaftlicher, politischer, kultureller Art etc., wird auch von Hynes explizit betont. Er stellt fest, dass die Figur des Trickster immer auch eine Veränderung bestehender Systeme evozieren kann, indem sie darauf hinweist, dass jedes Konstrukt unsichere Stellen aufweist, in

42 Berger, Claudia / Döring, Tobias: Einleitung: Figuren der/des Dritten. In: Berger, Claudia / Döring, Tobias (Hg.): Figuren der/des Dritten. Erkundungen kultureller Zwischenräume. Amsterdam: Rodopi 1998, S. 1-18, S. 1. 43 Vgl.: Ebd., S. 1. 44 Vgl.: Ebd., S. 8. 45 Derrida, Jacques: Chōra. Wien: Passagen-Verlag 1990 (= Edition Passagen 32), S. 11-12.

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die der Trickster eindringen kann, um sie neu zu besetzen.46 Dieses Denken des Eindringens in unsichere Stellen vorhandener, vermeintlich geschlossener Systeme lotet das Konzept des Sekundärdramas aus, indem es exiplizit macht, Öffnungen in den Primärdramen erzeugen bzw. ausfindig machen zu wollen, um dort einzudringen und sich darin festzusetzen (vgl. BÜ). Auf das Aufbrechen binärer Strukturen kommt auch Barbara Babcock-Abrahams in ihrer frühen Studie The Revesible World: Symbolic Inversion in Art and Society aus dem Jahr 1978 zu sprechen, in der sie festhält: […] „creative negations“ remind us of the need to reinvest the clean with the filthy, the rational with the animalistic, the ceremonial with the carnevalesque in order to maintain cultural vitality. And they confirm the endless potentiality of dirt and the pure possibility of liminality. The mundus inversus does more than simply mock our desire to live according to our usual orders and norms; it reinvests life with a vigor and a Spielraum attainable (it would seem) in no other way.47

Babcock-Abrahams rückt an dieser Stelle die Umkehrung geltender Ordnungen in den Fokus, wie sie für literarische Formen wie die Parodie charakteristisch ist. Das zeigt, dass auch das kulturwissenschaftliche Paradigma der Figur des Dritten eine wichtige und spezifische Perspektive für die Auseinandersetzung mit sekundären Textformen und sekundärer Textproduktion einbringen kann. An die von Babcock-Abrahams hervorgehobene Umkehrung anschließend hält Hynes für die Figur des Trickster fest: „The logic of order and convergence, that is, logos-centrism, or logocentrism, is challanged by another path, the random and divergent trail taken by that profane metaplayer, the trickster.“48 Damit führt er Aspekte an, die allgemein auf Jelineks Œvre zutreffen und die Anknüpfungspunkte zu der in der Jelinek-Forschung zentral von Bärbel Lücke formulierten These der logos-Kritik entstehen lassen.49

46 Vgl.: Hynes, William J.: Inconclusive conclusions: Tricksters – metaplayers an revealers. In: Hynes, William J. / Doty, William G. (Hg.): Mythical trickster figures. Contours, contexts, and criticisms. Tuscaloosa: University of Alabama Press 1993, S. 202-217, S. 212. 47 Babcock-Abrahams, Barbara: The Revesible World: Symbolic Inversion in Art and Society. Ithaca: Cornell University Press 1978, S. 32. 48 Hynes, William J.: Inconclusive conclusions: Tricksters – metaplayers an revealers, S. 216. 49 Vgl. bspw.: Lücke, Bärbel: Elfriede Jelinek. München: Fink 2008 (= UTB); Lücke, Bärbel: Elfriede Jelineks ästhetische Verfahren und das Theater der Dekonstruktion.

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Koschorke betont für die Thematisierung binärer Kategorien des Weiteren, dass die Figur des Dritten „die Position auf beiden Seiten der Unterscheidung ins Verhältnis setzt, indem sie sie zugleich verbindet und trennt.“50 Damit verweist er auf ein Prinzip, das jenseits jeder möglichen Fixierung operiert, da es Dichotomien als Getrennte, zugleich aber auch als unmöglich zu Trennende vorführt. Ähnlich formuliert es Krämer, die im Botenmodell die Chance sieht, „beide Seiten in ein Verhältnis zueinander zu bringen“51 und so jenseits vorhandener Binarisierungen zu operieren und das Entweder-Oder durch ein Sowohl-als-auch zu ersetzen bzw. auch darüber hinauszugehen und ein neues Prinzip denkbar zu machen, das sich auch im Sowohl-als-auch nicht erschöpft. Diese Ansätze sind für die konkrete Anwendung des Begriffs der Störung auf das Konzept des Sekundärdramas von großer Relevanz, bedenkt man, dass damit auf unterschiedlichen Ebenen zentral Verhältnisse verhandelt werden, sei es zwischen zwei Texten, zwei Modellen von Theatertexten, zwischen Text und Theater, zwischen Bühne und RezipientInnen, aber auch zwischen zwei symbolischen Ordnungen etc. Dies zeigt, dass in Bezug auf das Sekundärdrama nicht einfach von einer Auflösung der Unterscheidungen, der Zeit-, Form- und Textgrenzen gesprochen werden kann, aber auch nicht von der Ersetzung und Überwindung eines (Dramen-)Modells durch ein anderes, wie es wissenschaftliche Arbeiten nahelegen, die Jelineks Theatertexte dem postdramatischen Paradigma zuordnen. Vielmehr rückt mit dem Konzept des Sekundärdramas die Koexistenz verschiedener Modelle und Zeitebenen ins Blickfeld, deren Verhältnis als eben dieses komplexe Zwischen von Trennung und Untrennbar-aufeinander-BezogenSein zu beschreiben wäre. Koschorke führt ein weiteres zentrales Charakteristikum für die Figur des Dritten an, wenn er hervorhebt, dass das Dritte in offenen und in „Hinblick auf totalisierende Systemansprüche skeptischen Gedankenmilieus“ auftaucht, also in „unabgeschlossen-unabschließbaren Denkformen“52. Dies legt nahe, dass sich eine Ästhetik der Störung immer auch im Fragmentarischen eines Kunstwerks

Von „Bambiland“/„Babel“ über „Parsifal (Laß o Welt o Schreck laß nach)“ (für Christoph Schlingensiefs „Area 7“) zum Königinnendrama „Ulrike Maria Stuart“. In: Janke, Pia (Hg.): Elfriede Jelinek: „ICH WILL KEIN THEATER“. Mediale Überschreitungen. Wien: Praesens Verlag 2007 (= DISKURSE.KONTEXTE.IMPULSE. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums 3), S. 61-85. 50 Koschorke, Albrecht: Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften, S. 11. 51 Krämer, Sybille: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, S. 346. 52 Koschorke, Albrecht: Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften, S. 14.

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und in der Betonung des prozessualen, flüchtigen Charakters sowie der Möglichkeit der Fortschreibung und Fortsetzung zeigt. Wucherung und Expansion Nicht nur stellt die Figur des Dritten Bezüge zwischen Kategorien her und verunsichert diese, sondern sie selbst ist in dieser Eigenschaft eine ambivalente, nicht festlegbare Figur, die immer uneindeutig bleibt. Darauf verweisen v.a. Hynes und Krämer, die hinsichtlich des Trickster bzw. des Boten konstatieren, dass sich jene Figuren durch Ambiguität, Anomalie und Polyvalenz auszeichnen.53 Der Dritte ist also eine Figur, die sich nicht einordnen und zuordnen lässt, die aber auch nie Eindeutigkeit produziert, sondern immer Mehrdeutigkeiten und Komplexität: „[...] the trickster is indefinable. In fact, to define (de-finis) is to draw borders around phenomena, and tricksters seem amazingly resistant to such capture; they are notorious border breakers.“54 Mit Bezug auf Claude LéviStrauss hält Hynes fest, dass sich in der Figur des Trickster binäre Oppositionen vereinen wie etwa Heiliges und Profanes, Leben und Tod, Kultur und Natur, Ordnung und Chaos etc., dass er zwischen tierischer und menschlicher Gestalt changiert, aber auch geschlechtlich nicht festzulegen ist.55 In Anwendung auf das Sekundärdrama sind so die Grenzüberschreitungen mit den für das Konzept konstitutiven Vervielfältigungen in Verbindung zu bringen und die unterschiedlichen Formen der Anreicherung und Pluralisierung von Sinn begrifflich zu fassen. Darüber hinaus lässt sich herausarbeiten, dass sowohl das intertextuelle Schreibverfahren, die Betonung des Sekundären und die Forderung der Kombination von Primär- und Sekundärdrama im Moment der Inszenierung einer Ästhetik der Störung folgen. Der Zusammenhang von Störung und dem Denken der Vielheit und Vielschichtigkeit wird auch am Ende von Serres’ Studie deutlich, wo er über den Parasiten festhält: „[...] er hört nicht auf, tausenderlei Geräusche zu machen und den Raum mit seinem Wuchern und seinem Getöse zu erfüllen. Der Parasit ist

53 Vgl.: Hynes, William J.: Mapping the characteristics of mythic tricksters: a heuristic guide. In: Hynes, William J. / Doty, William G. (Hg.): Mythical trickster figures. Contours, contexts, and criticisms. Tuscaloosa: University of Alabama Press 1993, S. 33-45, S. 34; sowie: Krämer, Sybille: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität., S. 343 und 346. 54 Hynes, William J.: Mapping the characteristics of mythic tricksters: a heuristic guide, S. 33. 55 Vgl.: Ebd., S. 34-37.

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Expansion, er läuft, er wächst. Er dringt ein und besetzt.“56 Der Begriff der Wucherung bzw. der Expansion, den Serres aus Perspektive der Störung und des Parasitären an dieser Stelle einbringt, scheint allgemein neue Perspektiven für die Beschreibung von Jelineks Gesamtwerk zu eröffnen. So etwa für die Auseinandersetzung mit Jelineks eigener Betonung ihres „parasitären Schreibens“,57 aber auch für die in der Forschungsliteratur aktuell intensiv diskutierte rhizomatische Struktur ihrer Texte,58 wobei das Rhizom in der Definition von Deleuze und Guattari59 von der Autorin selbst als Metapher für die Struktur ihrer Texte herange-

56 Serres, Michel: Der Parasit, S. 389. 57 Deutlich wird dies etwa in den essayistischen Texten Der faule Denkweg (2004), Lesen kann vernichten (2005) und in ihrer Nobelpreisrede Im Abseits (2004), mit denen sich Maria-Regina Kecht in Hinblick auf die Frage nach dem parasitären Schreiben Jelineks näher auseinandersetzt (Vgl.: Kecht, Maria-Regina: Elfriede Jelinek in absentia oder die Sprache zur Sprache bringen.) Explizit vergleicht Jelinek ihr dramatisches Schreiben im Essay Das Parasitärdrama (2011) mit der Figur des Parasiten, wobei sie darin v.a. das Aufnehmen der „Realität“ / „Wirklichkeit“ in ihre Texte als das Parasitäre festmacht: „Das Parasitärdrama ist tatsächlich nicht ohne seinen Wirt, das Ereignis, den Zustand, die Katastrophe [...]. Ich tackere mich an der Wirklichkeit fest, so wie sie mir dargeboten wird, amalgamiert, gereinigt, durch fremde Meinungen gefiltert [...]. Ich bin ja schon ein Parasit der Wirklichkeit [...].“ (Jelinek, Elfriede: Das Parasitärdrama. http://a-e-m-gmbh.com/wessely/fparasitaer.htm (20.6.2013), datiert mit 12.5.2011 (= Elfriede Jelineks Homepage, Rubriken: Archiv 2011, zum Theater).) 58 Vgl. bspw.: Treude, Sabine: Elfriede Jelinek, das Wurzeldenken und der Heimatbegriff. In: Modern Austrian Literature 39 (2006), S. 105-110; Millner, Alexandra: Prae – Post – Next? Über Polyphonie, Partitur und Kontingenz in Theatertexten von und nach Elfriede Jelinek. In: Janke, Pia / Kovacs, Teresa (Hg.): „Postdramatik“. Reflexion und Revision. Wien: Praesens Verlag 2015 (= DISKURSE.KONTEXTE.IMPULSE. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums 11), S. 167-184; Deutsch-Schreiner, Evelyn / Millner, Alexandra: Wann ist ein Text Theatertext? Über Flächen, Rhizome und die Grenzen wissenschaftlicher Beschreibungskategorien. Gespräch zwischen Evelyn Deutsch-Schreiner und Alexandra Millner. In: Janke, Pia / Kovacs, Teresa (Hg.): „Postdramatik“. Reflexion und Revision. Wien: Praesens Verlag 2015 (= DISKURSE.KONTEXTE.IMPULSE. Publikationen des Elfriede JelinekForschungszentrums 11), S. 77-86. 59 Vgl.: Deleuze, Gilles / Guattari, Felix: Rhizom. Berlin: Merve-Verlag 1977 (= Internationale marxistische Diskussion 67).

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zogen wird.60 In Hinblick auf das Sekundärdrama scheinen die Begriffe Wucherung und Expansion dahingehend relevant, als sie nochmals verdeutlichen, was grundsätzlich für jede Tricksterfigur gilt und somit für jede Störungstheorie maßgeblich ist, nämlich Polyvalenz und Vielstimmigkeit. Durch den Begriff der Wucherung wird das Additionsverfahren beschreibbar, das für Jelineks Sekundärdrama konstitutiv ist und das verdeutlicht, dass es bei dieser Form nicht um die Durchstreichung, Ersetzung und Auslöschung des Primärdramas geht, sondern um die Anreicherung, die Pluralisierung und das Sichtbarmachen der unendlichen Fortschreibungen von Texten und Texturen. Der Begriff der Expansion bzw. die Charakterisierung des Parasiten als Eindringling eröffnet wichtige Perspektiven nicht nur allgemein für Jelineks intertextuelles Schreibverfahren, sondern auch für die spezielle Inszenierungssituation, die für das Sekundärdrama konstitutiv ist, bei der das gegenseitige Eindringen zweier Texte noch deutlicher zum Vorschein kommt. Hinsichtlich dieses Eindringens scheint darüber hinaus von Interesse, was Weingart für das Virus festhält: „Wegen ihres simplen Baus können sich Viren nur innerhalb der kontaminierten Zelle reproduzieren, indem sie deren Ausstattung für ihre eigene Replikation verwenden. Voraussetzung dieses Prozesses ist, daß der Gast die Sprache des Wirtes spricht [...].“61 Übertragen auf das Sekundärdrama würden sich daran Fragen nach dem „Fortleben“ dramatischer Strukturen in den Sekundärdramen anschließen bzw. rückt damit wiederum das Verhältnis verschiedener Schreibweisen, spezifisch zwischen Drama und Jelineks „Textflächen“, in den Blick. Auch Koschorke, der ähnlich wie Serres von einem dreipoligen Schema ausgeht, bei dem jedes Element die Position von Wirt, Gast und Störung einnehmen kann, konstatiert, dass Polyvalenz ein zentrales Merkmal der Figur des Dritten ist. Er arbeitet jedoch darüber hinausgehend heraus, dass „solche Strukturen […] nicht allein in sich unruhig sind, sondern auch auf Seiten des Beobachters wandernde Blickpunkte erzwingen und insofern auf unumgängliche Weise mehrdeutig bleiben.“62 Diese Feststellung erlaubt es, nach der Aktivität der RezipientInnen zu fragen und nachzuweisen, dass das Konzept des Sekundärdramas zentral

60 So ganz deutlich in ihrem Essay Grußwort nach Japan, in dem sie ihre Texte mit den rhizomartigen Wurzeln der Bambuspflanze vergleicht, die endlos wuchern und die nicht zu zähmen sind. (Vgl.: Jelinek, Elfriede: Grußwort nach Japan. http://www.a-em-gmbh.com/wessely/fjapanfestival.htm (15.7.2014), datiert mit 9.6.2012 / 9.7.2014 (= Elfriede Jelineks Website, Rubrik: Zum Theater).) 61 Weingart, Brigitte: Parasitäre Praktiken. Zur Topik des Viralen, S. 212-213. 62 Koschorke, Albrecht: Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften, S. 18.

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darauf abzielt, die LeserInnen bzw. das Theaterpublikum selbst durch die Störung gewohnter Wahrnehmungsmuster zu aktivieren und deren bzw. dessen Aufmerksamkeit auf die Konstruiertheit vorhandener Normen und Konventionen zu lenken und infrage zu stellen. Schnittpunkte und Kreuzungen Ein weiterer wichtiger Aspekt des Dritten, der für die Anwendung des Begriffs der Störung auf das Sekundärdrama fruchtbar gemacht werden kann, ist, dass sich der Parasit an Kreuzungen bzw. im Schnittpunkt der Beziehung niederlässt, worauf Serres deutlich verweist. Er betont, dass dadurch alle Nachrichten zwangsläufig durch den Parasiten hindurchgehen, diese dabei jedoch nicht rein und unverändert bleiben, sondern beladen werden und (neu) beladen zur/m EmpfängerIn gelangen.63 Diese Betonung des neu Aufladens, also der Veränderung von Inhalten bzw. auch von Formen, ist grundlegend für das Sekundärdrama, das sich zur Aufgabe macht, vorhandene Inhalte entweder falsch zu verstehen bzw. das die Primärdramen „aufnorden, blondieren oder ihnen eine Dauerwelle verpassen“ (AN) will und somit deutlich auf die Transformation des Vorhandenen abzielt. Ähnlich wie Serres konstatiert Krämer für die Figur des Boten, dass in dieser „von Anbeginn auch die Fragilität der Boteninstitution [nistet], die ihn zur Kippfigur prädestiniert“ und ihn verdächtig macht, die Anforderungen an die Botenfigur, neutraler Überbringer von Nachrichten zu sein, nicht zu erfüllen, sondern als „Souverän und Manipulator ‚seiner‘ Nachrichten“64 zu agieren. Die Figur des Boten steht somit immer unter Verdacht, Informationen wegzulassen, zu verzerren oder neu zu erfinden.65 Diese von Krämer vorgenommene Charakterisierung der Botenfigur wurde in der Forschungsliteratur zu Elfriede Jelineks Theatertext Rechnitz (Der Würgeengel) zahlreich aufgegriffen, in dem Jelinek selbst die Sprechinstanzen des Textes als Boten markiert.66 Richtigerweise wurde in diesen Arbeiten darauf hingewiesen, dass das Botenmodell auch allgemein für die Aus-

63 Vgl.: Serres, Michel: Der Parasit, S. 70-72. 64 Krämer, Sybille: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, S. 115. 65 Vgl.: Ebd., S. 116. 66 Vgl. bspw.: Lücke, Bärbel: Elfriede Jelineks „Rechnitz (Der Würgeengel)“ – Boten der (untoten) Geschichte. In: JELINEK[JAHR]BUCH. Elfriede Jelinek-Forschungszentrum 2010, S. 33-98; Pewny, Katharina: Die Ethik des Botenberichts. In: Forum Modernes Theater 2/2009, S. 151-165.

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einandersetzung mit Jelineks Theatertexten von großer Relevanz ist, um sich der Frage zu nähern, wer in diesen Theatertexten spricht bzw. wie Sprechen und Aussprache in diesen Texten, die ohne Figuren und klare SprecherInnenangaben auskommen, überhaupt zu denken ist. In Hinblick auf das Sekundärdrama scheint das Botenmodell von Krämer auf einer weiteren Ebene ein wichtiger Reflexionspunkt zu sein, nämlich wenn es um das spezifische Verständnis von Werk und AutorInnenschaft geht, da Krämer abschließend bezüglich der Intention ihrer Studie festhält: Wir zielen damit auf eine längst überfällige Korrektur vieler Spielarten des nach wie vor wirksamen demiurgischen Selbstverständnisses. Diese Korrektur wirft aber die Frage auf, was es für unsere Auffassung von „Produktivität“, „Gemeinschaft“ und „Kultur“ bedeutet, wenn die Zirkulation gegenüber der Produktion, die Mediation gegenüber der Erzeugung, die Dissemination gegenüber dem Dialog, die Unidirektionalität gegenüber der Interaktivität aufgewertet werden.67

Der Verweis auf Zirkulation und Mediation ist für die Reflexion des sekundären, zitierenden Charakters des Sekundärdramas aufschlussreich, da er eine Verschiebung eines Denkens der Originalität hin zum Zitat und zum Uneigentlichen markiert. Die Ersetzung des Dialogs durch Dissemination scheint grundsätzlich relevant für die Beschreibung zeitgenössischer Theatertexte, die dem im neuzeitlichen Drama absolut gesetzten Dialog eine Absage erteilen, lässt aber auch an Derridas dissémination anschließen, die, verstanden als ein textuelles Prinzip, binäre Oppositionsmuster unterläuft und verschiebt und somit ebenfalls für die Beschreibung der Funktionsweise des Sekundärdramas herangezogen werden könnte. Im Kontext der Schnittpunkte und Kreuzungen fällt auf, und darauf verweist Michel Serres’ in seiner Studie, dass beim Begriff des Parasiten bereits die Vorsilbe „para-“ auf die Position des Parasiten im „Daneben“ hindeutet.68 Somit lässt sich auch diese spezielle Ausformung der Figur des Dritten eindeutig in der Nähe der literarischen Praxis der Parodie verorten. Gérard Genette definiert diese etymologisch als „Daneben Singen“, als „falscher Gesang“ bzw. als „Gegenstimme im Kontrapunkt“69, womit jenes subversive Potential benannt ist, das

67 Krämer, Sybille: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, S. 345. 68 Vgl.: Serres, Michel: Der Parasit, S. 84-85. 69 Vgl.: Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993 (= Neue Folge 638), S. 21-22.

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auch die Störung betrifft. Was den Parasiten jedoch darüber hinaus auszeichnet ist, dass in der Parasitologie, also in jener Wissenschaft, der Serres den Begriff entlehnt, jene Lebewesen als solcher bezeichnet werden, die in einem permanenten oder quasi-permanenten Austausch zu ihrem Wirt stehen, d.h., die nicht nur von ihrem Wirt leben, „sondern auch in ihm leben, durch ihn, mit ihm und auf ihm.“70 Übertragen auf die Störung im ästhetischen Kontext lassen sich so Überlegungen anstellen, wie eine dramatische Struktur, die als Störung fungiert, zu denken ist bzw. wie das Verhältnis eines solchen Textes zu seinen Prätexten beschrieben werden kann. Dadurch könnte herausgearbeitet werden, auf welche Art und Weise diese Form über die literarische Parodie und andere Formen der Bearbeitung hinausgeht. Ebenso wie der Parasit erschöpft sich das Sekundärdrama nicht darin, auf bestehende Texte Bezug zu nehmen, sondern es ist untrennbar mit einem anderen Text, einer anderen Schreibweise verbunden, existiert quasi nur in Kombination mit dem Bezugstext und ist eigenständig nicht mehr zu denken, da es immer bereits ein Anderes impliziert. Das Sekundärdrama macht diese unbedingte Abhängigkeit und Gebundenheit an ein Anderes durch die Forderung der gemeinsamen Inszenierung von Primär- und Sekundärdrama präsent, wobei durchaus auch andere Formen dieser Beziehung zu denken wären, in der sich der permanente Austausch äußern könnte. Die Figur des Dritten als Phänomen der Schwelle, des Übergangs und der Grenzüberschreitung und ihr Potential zur Auf-, Ver- und Zerstörung hegemonialer Machtstrukturen fand Eingang in verschiedene Wissenschaftsdisziplinen und -theorien wie etwa die Psychoanalyse, die Soziologie, die Gender Studies und die Postcolonial Studies. Hinsichtlich der Anwendung des Begriffs der Störung auf Jelineks Sekundärdrama stellen v.a. Ansätze aus den Gender Studies, den Kulturwissenschaften und Postcolonial Studies wichtige Reflexionsmodelle dar, so etwa jene, die das Weibliche als „störendes“ Drittes identifizieren oder auch das Konzept des third space. Claudia Berger fragt in Hinblick auf die Figur des Dritten in den Gender Studies, „ob das Dritte eine strukturelle Affinität mit dem Weiblichen unterhält, insoweit es als das Andere dualer Ordnung – und dabei insbesondere als identitätsstörende Macht – konzipiert worden ist“71. Im Anschluss daran verweist sie auf Derridas chōra und Beauvoirs These von der Frau als das zweite / andere

70 Serres, Michel: Der Parasit, S. 16. 71 Berger, Claudia: Gender Studies. In: Eßlinger, Eva u.a. (Hg.): Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2010 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1971), S. 35-48, S. 35.

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Geschlecht und beschreibt das Dritte als Herausforderung binärer Strukturen. Das Weibliche werde insofern damit identifiziert, als im westlichen Denken der Position des („männlichen“) Einen, also der Identität, die Position des („weiblichen“) Anderen gegenübersteht, also der Nicht-Identität.72 Berger, die problematisiert, dass die Kategorie des Dritten nicht nur zur Subversion binärer Ordnungen beitragen kann, sondern immer auch Gefahr läuft, binäre Ordnungen am Ende doch wieder zu konservieren, hält fest: Figuren des Dritten bleiben grundsätzlich bezogen auf die Macht der zwei; sie bilden das Andere einer binären Ordnung nicht in dem Sinne, dass sie ihr entkämen, sondern lediglich insofern, als sie diese – noch einmal mit Derrida gesprochen – supplementieren, also „durchkreuzend“ ergänzen und zugleich in vieler Hinsicht erst konstruieren. Ihr kritischer Einsatz ist daher nicht als Versprechen mehr oder minder utopischer Lösung, sondern nur als lokale Strategie der Reaktion auf die (an spezifischen soziosymbolischen Orten diagnostizierte) Macht binärer Ordnungen sichtbar.73

Eben in dieser Funktion scheint die Figur des Dritten für die Beschreibung des Sekundärdramas relevant, da damit das Störpotential dieser Figuration innerhalb binärer Strukturen benannt wird. Durch die Perspektive der Gender Studies können jene Aspekte, die bereits anhand des Parasiten, des Boten und des Trickster erarbeitet wurden, theoretisch breiter reflektiert werden. Darüber hinaus bestätigt dies eine zentrale Annahme der vorliegenden Studie, die davon ausgeht, dass das Sekundärdrama Grenzen nicht einfach auflöst, sondern diese zitiert und somit zentral darauf abzielt, die binäre Strukturierung kultureller, gesellschaftlicher etc. Systeme sichtbar zu machen, um in einem zweiten Schritt an deren Verschiebung zu arbeiten. Ansätze aus der Kulturwissenschaft und den Postcolonial Studies eigenen sich besonders für die Reflexion der Inklusions- und Exklusionsverfahren, die in den Sekundärdramen durchgespielt und thematisiert werden. Hartmut Böhme hält allgemein fest, dass sich Kultur immer über Grenzen definiert, die „Eigenes und Fremdes, Hier und Dort, befriedete und feindliche Sphären trennen.“74 Dass es dem Sekundärdrama um die Sichtbarmachung dieser Grenzziehungen und den damit verbundenen Einschluss- und Ausschlussmechanismen geht, wird auf un-

72 Vgl.: Ebd., S. 36-37. 73 Ebd., S. 39. 74 Böhme, Hartmut: Vom Cultus zur Kultur(wissenschaft). Zur historischen Semantik des Kulturbegriffs. In: Glaser, Renate / Luserke, Matthias (Hg.): Literaturwissenschaft – Kulturwissenschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 48-68, S. 54.

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terschiedlichen Ebenen deutlich. Bereits die Wahl der Primärdramen, die aufgrund ihres unhinterfragten Status für den westlichen und besonders deutschsprachigen kulturellen Raum identitätsstiftend sind, lässt die Texte im Kontext der Offenlegung hegemonialer Macht- und Gewaltdiskurse diskutieren, die mit jeder Form von (Hoch-)Kultur verbunden sind. Postkoloniale Ansätze wie etwa der von Homi K. Bhabha, die Kultur als einen Dritten Raum beschreiben, schließen unmittelbar an jenes Denken des Dritten an. Bhabha definiert den third space als einen Zwischenraum, in dem bewusst Störungen produziert werden können, um binäre Kategorisierungen zu unterlaufen und modellhaft vorgegebene Grenzen zu überschreiten und symbolisch auszuhandeln.75 Mit Bhabha lässt sich das Zwischen, das in der Kombination von Primär- und Sekundärdrama entsteht, präziser beschreiben, nämlich eröffnet dieser Raum die Möglichkeit zur Neuverhandlung bestehender Normen. Auch der Begriff der Übersetzung, den Bhabha von Walter Benjamins Übersetzungstheorie übernimmt, in der Benjamin eine Problematisierung der Autorität des Originals vornimmt, ist für das Konzept des Sekundärdramas von Interesse. Gudrun Rath hält für die Anwendung des Begriffs bei Bhabha fest: Als Vorgang, der das sogenannte „Original“ zwar reproduziert, die Autorität desselben jedoch gleichzeitig aushöhlt und verhöhnt, geht dieses Verständnis von Übersetzung über die traditionelle Zweipoligkeit von „Original“ versus Kopie hinaus. Übersetzung steht folglich der Totalisierung eines kulturellen „Originals“ entgegen. Durch Selbstdistanzierung und Entfremdung innerhalb von Kulturen stellt sie damit eines der Grundmotive ständiger Veränderung dar.76

Die Infragestellung von Original und Kopie und damit einhergehend das Aufbrechen dieser Differenzierung ist grundlegend für sekundäre Textformen und sekundäre Textproduktionen. So kann Bhabhas kulturwissenschaftlicher Ansatz vorhandene literaturwissenschaftliche Arbeiten zur Intertextualität erweitern und

75 Vgl.: Gansel, Carsten: Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie „Störung“ – Möglichkeiten der Anwendung für Analysen des Handlungs- und Symbolsystems Literatur. In: Gansel, Carsten / Ächtler, Norman (Hg.): Das „Prinzip Störung“ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Berlin: De Gruyter 2013 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 133), S. 31-56, S. 35-36. 76 Rath, Gudrun: „Hybridität“ und „Dritter Raum“. Displacements postkolonialer Modelle. In: Eßlinger, Eva u.a. (Hg.): Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2010 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1971), S. 137-149, S. 141.

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ergänzen bzw. dahingehend öffnen, als das Unterlaufen scheinbar fixierter Kategorien nicht nur auf die Ebene der Texte beschränkt bleiben muss, sondern auch die gesellschaftliche Wirkung intertextueller Verfahren hervorgehoben werden kann. Doris Bachmann-Medick widmet sich dem Begriff der Übersetzung bei Bhabha ausführlicher und konstatiert, dass damit nicht nur die Unterscheidung von Original und Kopie problematisch wird, sondern dass konkret die „in sich geschlossene, einheitliche Identität eines vorgängigen ‚Originals‘“ negiert wird und stattdessen „Übersetzungsprozesse im Sinne fruchtbarer Verfremdungen und Überlagerungen von Bedeutungen in den Blick“77 kommen. Für die Auseinandersetzung mit dem Sekundärdrama scheinen diese Überlegungen in zweifacher Hinsicht entscheidend. Einerseits kann die kritische Befragung von Original und Kopie Impulse geben für die Analyse von Jelineks intertextuellem Verfahren, da durch das Zitat der Gattung „Drama“ als auch durch bestimmte Einzeltextreferenzen eben jene Kategorien aufgerufen und problematisiert werden. Andererseits kann an Bachmann-Medicks Feststellung angeschlossen werden, wenn es darum geht, nach den Eingriffen des Sekundärdramas in das Primärdrama zu fragen bzw. um nachzuweisen, dass die Sekundärdramen die in der Rezeption negierte prinzipielle Offenheit der Primärdramen sichtbar machen können. Darüber hinaus scheint relevant, was Berger und Döring in Hinblick auf Bhabhas Theorie des third space festhalten. Sie konstatieren, dass damit auch die Forderung eines Neu-Denkens von Geschichte einhergeht, da Bhabha auf Benjamins Begriff einer Geschichte rekurriert, in den die Tradition der Unterdrückten eingeschrieben ist. Dieser Ansatz kann als Versuch einer Etablierung eines alternativen Geschichtsmodells aufgefasst werden, das dem vorherrschenden teleologischen Denken entgegensteht und das auf die Produktion einer unkontrollierten und ungesicherten Prozessualität hinausläuft, was schließlich mit jenem Störpotential vergleichbar ist, das die Übersetzer-Figur zu erzeugen vermag, indem sie vorhandene Ordnungen irritiert.78 Damit ist das Potential der Störung benannt, alternative Geschichtsmodelle zu entwickeln bzw. ein neues Denken von Zeitlichkeit und Geschichte zu ermöglichen, was für die Anwendung des Begriffs auf das Sekundärdrama von großer Relevanz ist und was an neueste Ansätze in der Forschung zu Jelineks Theatertexten anschließen lässt. So konstatiert Ulrike Haß in Anlehnung an den

77 Bachmann-Medick, Doris: Dritter Raum. Annäherung an ein Medium kultureller Übersetzung und Kartierung. In: Berger, Claudia / Döring, Tobias (Hg.): Figuren der/des Dritten. Erkundungen kultureller Zwischenräume. Amsterdam: Rodopi 1998, S. 19-36, S. 19. 78 Vgl.: Berger, Claudia / Döring, Tobias: Einleitung: Figuren der/des Dritten, S. 14.

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von Deleuze und Guattari für die Zeit der Philosophie eingebrachten Begriff der Koexistenz, dass Jelineks Theatertexte eben diesem Denken der Gleichzeitigkeit folgen, was sie anhand der unterschiedlichen Schichtungsverfahren belegt, die in den Texten sichtbar werden.79 Dieser zentrale Ansatz soll für die Beschreibung des Sekundärdramas aus Perspektive einer Ästhetik der Störung aufgegriffen und fortgeführt werden.

S TÖRUNG ALS ANALYTISCHER B EGRIFF UND T HEATERWISSENSCHAFT

IN

L ITERATUR -

Ein Forschungsüberblick Ein Blick auf die bestehende Forschungsliteratur zeigt, dass der Begriff der Störung in literatur- und theaterwissenschaftlichen Arbeiten häufig aufgegriffen und mit subversiven künstlerischen Praktiken bzw. mit künstlerischen Arbeiten der Avantgarde, der Moderne und Postmoderne in Verbindung gebracht wird. Allerdings verzichten bisherige Auseinandersetzungen auf eine definitorische Festlegung des Begriffs und berücksichtigen auch jene Definitionen und Ansätze nicht, die in anderen Wissenschaftsdisziplinen geleistet wurden, sondern bringen ihn eher allgemeinsprachlich in die Diskussion ein. Dies führt dazu, dass der Begriff an Genauigkeit verliert und kaum als terminus technicus für die literaturoder theaterwissenschaftliche Analyse herangezogen werden kann. Andreas Kotte etwa subsumiert in seiner Einführung in die Theatergeschichte alle Formen des politischen- und postdramatischen Theaters unter dem Begriff der Störung, wobei er das politische Theater in der Tradition der historischen Avantgarden und des Volkstheaters verortet, ohne jedoch den Begriff der Störung zu definieren bzw. zu problematisieren.80 Für die vorliegende Studie besonders relevant ist, dass Studien, die sich postdramatischen Theaterformen widmen, in Anlehnung an Hans-Thies Lehmann wiederholt den Begriff der Störung verwenden, wenn es um die Beschreibung des Aufbrechens gewohnter Wahrnehmungsmuster durch neuartige künstlerische Formen geht und um die

79 Vgl.: Haß, Ulrike / Meister, Monika: „Wie ist es möglich, Theater ausschließlich mit Texten aufzustören?“ E-Mailwechsel zwischen Ulrike Haß und Monika Meister. In: Janke, Pia / Kovacs, Teresa (Hg.): „Postdramatik“. Reflexion und Revision. Wien: Praesens Verlag 2015 (= DISKURSE.KONTEXTE.IMPULSE. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums 11), S. 112-118, S. 115-116. 80 Vgl.: Kotte, Andreas: Theatergeschichte. Köln: Böhlau 2013 (= UTB), S. 382-386.

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Auseinandersetzung mit der Dramen- und Theatertradition.81 Lehmann selbst führt in seinem Buch Postdramatisches Theater (1999) die Kategorie der Poetik der Störung ein, mit der er das Verhältnis von Text und Bühne im Theater der Moderne zu beschreiben versucht. Dabei definiert er den Text als jene Größe am Theater, die die Bildproduktion unterbricht, die sich den theatralen Mitteln widersetzt und die so das Theater nachhaltig stört.82 Jedoch leistet auch Lehmann in seiner Studie keine Definition der Störung, weshalb der Begriff für die wissenschaftliche Anwendung undeutlich bleibt und weiterführende Studien kaum an Lehmanns Kategorie anschließen können. Nichts desto trotz scheinen Lehmanns Postdramatisches Theater und sein Band Das Politische Schreiben (2002)83, in dem sich ein Kapitel dezidiert dem Politischen im postdramatischen Theater widmet, relevant für eine Definition der Ästhetik der Störung. Nämlich lässt sich der von ihm eingebrachte Begriff der Unterbrechung produktiv machen, wie Lars Koch und Tobias Nanz nachweisen, worauf in diesem und im folgenden Kapitel, das sich den Aspekten einer Ästhetik der Störung widmet, noch ausführlicher eingegangen werden soll.84 Darüber hinaus belegt die Tendenz, dass der Begriff v.a. in Zusammenhang mit subversiven Kunstformen verwendet wird, dass Störungen immer zu denken sind im Kontext politischer Kunst. Die Studien zu postdramatischen Theaterformen benennen, auch wenn Störung nur im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs verwendet wird, bereits wichtige Aspekte, die sich durch eine konkrete Definition der Störung im Rückgriff auf bisherige wissenschaftliche Ansätze präziser darstellen lassen. Diese an der bestehenden Forschungsliteratur ablesbare Tendenz, Störung in literatur- und theaterwissenschaftlichen Arbeiten als Begriff zwar anzuwenden, jedoch nicht zu definieren, wird von Stephan Habscheid und Lars Koch in ihrem zentralen Beitrag zur Anwendung des Begriffs der Störung in der Literaturwis-

81 Vgl. bspw.: Metzger, Stephanie: Spielräume des Fiktiven in Inszenierungen der Gegenwart. Bielefeld: transcript 2010; Tigges, Stefan (Hg.): Dramatische Transformationen. Bielefeld: transcript 2008; Primavesi, Patrick / Schmitt, Olaf A.: AufBrüche. Theaterarbeit zwischen Text und Situation. Berlin: Theater der Zeit 2004 (= Recherchen 20). 82 Vgl.: Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. Berlin: Verlag der Autoren 1999, S. 264. 83 Vgl.: Lehmann, Hans-Thies: Das Politische Schreiben. Essays zu Theatertexten. Berlin: Theater der Zeit 2002 (= Recherchen 12). 84 Vgl.: Koch, Lars / Nanz, Tobias: Ästhetische Experimente. Zur Ereignishaftigkeit und Funktion von Störungen in den Künsten. In: Katastrophen, Krisen, Störungen. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 173 (2014), S. 94-115, S. 110-113.

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senschaft bestätigt. Sie weisen nach, dass die Störung als analytischer Begriff bislang wenig Beachtung gefunden hat und meist nur in ihrer Bedeutung als „Irritation“ und „Fehlentwicklung“ innerhalb technischer Systeme rezipiert wird.85 Dem stehen jedoch aktuelle Tendenzen gegenüber, die verstärkt nach einer Ästhetik der Störung in den Künsten und der Anwendung des Begriffs im Bereich der Literatur- und Theaterwissenschaft fragen. So etwa das von Lars Koch geleitete Forschungsprojekt The principle of disruption, das sich der Erforschung der Wissensgeschichte der Störung, der Imaginationen und Inszenierungen von Störungen in Literatur, Film und Fernsehen und der „Praktiken der Verstörung“, also künstlerischer Formen und Verfahren, die zunächst als Störung wahrgenommen werden, widmet.86 Darüber hinaus sind in den letzten Jahren mehrere Sammelbände erschienen, die ausgehend von kulturwissenschaftlichen Ansätzen versuchen, die Kategorie der Störung v.a. auch in der Literaturwissenschaft zu etablieren. Eine frühe zentrale Publikation, die den Begriff der Störung im Bereich der Literaturwissenschaft einzuführen sucht, ist der von Andreas Hiepko und Katja Stopka herausgegebene Sammelband Rauschen. Seine Phänomenologie und Semantik zwischen Sinn und Störung (2001)87, in dem die Beiträge von Ruth Sonderegger88 und Susanne Scharnowski89 explizit auf Störung als ästhetische Kategorie eingehen. Im Gegensatz zu späteren Studien, die eine Ästhetik der Störung zentral mit Formen des postdramatischen- und politischen Theaters in Zusammenhang bringen, zeigen Hiepko und Stopka eine etwas andere Traditionslinie der Störung auf. Sie weisen nach, dass „Rauschen“ in künstlerischen Arbeiten seit dem 18. Jhdt. verstärkt aufgegriffen und verhandelt wird, wobei sie

85 Vgl.: Habscheid, Stephan / Koch, Lars: Einleitung: Katastrophen, Krisen, Störungen, S. 9. 86 Ausführliche Informationen zum Forschungsprojekt werden auf folgender Website zur Verfügung gestellt: http://principleofdisruption.eu/#projekt (18.11.2014). 87 Vgl.: Hiepko, Andreas / Stopka, Katja (Hg.): Rauschen. Seine Phänomenologie und Semantik zwischen Sinn und Störung. 88 Vgl.: Sonderegger, Ruth: Ist Kunst, was rauscht? Zum Rauschen als poetologischer und ästhetischer Kategorie. In: Hiepko, Andreas / Stopka, Katja (Hg.): Rauschen. Seine Phänomenologie und Semantik zwischen Sinn und Störung. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, S. 29-41. 89 Vgl.: Scharnowski, Susanne: „Es spricht nicht, es rauscht und toset nur!“ Eine kurze Geschichte der Ästhetik des Erhabenen und des Rauschens. In: Hiepko, Andreas / Stopka, Katja (Hg.): Rauschen. Seine Phänomenologie und Semantik zwischen Sinn und Störung. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, S. 43-55.

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konstatieren, dass es als Numinoses Eingang in die Kunst gefunden hat, also als Ausdruck des Metaphysischen und Geheimnisvollen. Ausgehend davon zeichnen sie eine Entwicklung von der Romantik über den Dadaismus und Impressionismus bis hin zu gegenwärtigen künstlerischen Formen nach.90 Eine weitere zentrale Publikation ist der von Norman Ächtler und Carsten Gansel herausgegebene Sammelband Das „Prinzip Störung“ in den Geistes- und Sozialwissenschaften (2013)91, der zentrale Ansätze zur Kategorie der Störung aus interdisziplinärer Perspektive versammelt. Für die vorliegende Studie sind besonders die Beiträge von Carsten Gansel92, Norman Ächtler93 und HansChristian Stillmark94 relevant, auf die in der Folge immer wieder verwiesen werden wird. Ein weiterer, 2012 von Carsten Gansel und Paweł Zimniak herausgegebener Band mit dem Titel Störungen im Raum – Raum der Störung95 betrachtet die Kategorie Störung aus Perspektive aktueller Ansätze zur Raumforschung und erweitert damit allgemeinere Studien um konkrete Analysen einzelner literarischer Texte und Filme unter dem Aspekt der Hybridisierung und Liminalität. Damit wird der Fokus auf das Potential der Störung zur Erzeugung eines Zwischen und zur Markierung eines Schwellenraums gelegt.

90 Vgl.: Hiepko, Andreas / Stopka, Katja: Einleitung, S. 10-11. 91 Vgl.: Gansel, Carsten / Ächtler, Norman (Hg.): Das „Prinzip Störung“ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Berlin: De Gruyter 2013 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 133). 92 Vgl.: Gansel, Carsten: Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie „Störung“ – Möglichkeiten der Anwendung für Analysen des Handlungs- und Symbolsystems Literatur. 93 Vgl.: Ächtler, Norman: „Entstörung“ und Dispositiv – Diskursanalytische Überlegungen zum Darstellungstabu von Kriegsverbrechen im Literatursystem der frühen Bundesrepublik. In: Gansel, Carsten / Ächtler, Norman (Hg.): Das „Prinzip Störung“ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Berlin: De Gruyter 2013 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 133), S. 57-81. 94 Vgl.: Stillmark, Hans-Christian: Notbremsen, Skandale und Gespenster: Dramaturgien der Störung bei Bertolt Brecht und Heiner Müller. In: Ächtler, Norman / Gansel, Carsten (Hg.): Das „Prinzip Störung“ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Berlin: De Gruyter 2013 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 133), S. 151-168. 95 Vgl.: Gansel, Carsten / Zimniak, Paweł (Hg.): Störungen im Raum – Raum der Störung. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2012 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 294).

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Neben den genannten Sammelbänden sind bislang zwei ZeitschriftenNummern erschienen, die den Begriff der Störung als analytische Kategorie in die Literatur- und Theaterwissenschaft einführen wollen. Das von Lars Koch, Christer Petersen und Joseph Vogl herausgegebene Themenheft Störfälle (2011)96 und das von Stephan Habscheid und Lars Koch herausgegebene Heft Katastrophen, Krisen, Störungen (2014)97. In dem eben angeführten Heft ist der für diese Studie grundlegende Beitrag von Lars Koch und Tobias Nanz erschienen,98 der versucht, allgemeine Aspekte einer Ästhetik der Störung in den Künsten herauszuarbeiten. Darüber hinaus widmen sich zwei Beiträge in dem 2011 veröffentlichten Sammelband Systemtheoretische Literaturwissenschaft99 den Begriffen „Irritation“ und „Rauschen“, die beide für die Überlegungen zu Jelineks Sekundärdrama von zentraler Relevanz sind, da sie ausgehend von Luhmanns Systemtheorie am Beispiel konkreter Literaturanalysen die Anwendbarkeit eben dieser Begriffe in der Literaturwissenschaft nachweisen. Zusätzlich bietet die phänomenologische Studie Ästhetik des Erscheinens (2000)100 von Martin Seel wichtige Anknüpfungspunkte für die Anwendung des Begriffs der Störung im Bereich der Literaturwissenschaft. Seel widmet dem Rauschen in der Kunst ein gesamtes Kapitel seiner Monografie und arbeitet darin verschiedene Formen des Rauschens in der Literatur heraus. Dass er selbst u.a. Elfriede Jelinek heranzieht, um seine Ansätze zu exemplifizieren, zeigt die Nähe von Jelineks Schreiben zur Kategorie der Störung. Seels Thesen werden von Ruth Sonderegger in ihrem bereits erwähnten Beitrag Ist Kunst, was rauscht? Zum Rauschen als poetologischer und ästhetischer Kategorie näher beleuchtet und problematisiert, die ihm schließlich mit Bettine Menkes in ihrem Buch Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka (2000)101 erarbeiteten Ansätzen zum Rauschen eine zentrale Gegenposition ge-

96 Vgl.: Störfälle. Zeitschrift für Kulturwissenschaften. Themenheft 1/2011. 97 Vgl.: Katastrophen, Krisen, Störungen. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 173 (2014). 98 Vgl.: Koch, Lars / Nanz, Tobias: Ästhetische Experimente. Zur Ereignishaftigkeit und Funktion von Störungen in den Künsten. 99 Vgl.: Werber, Niels (Hg.): Systemtheoretische Literaturwissenschaft. Begriffe – Methoden – Anwendungen. Berlin: De Gruyter 2011. 100 Vgl.: Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens. München: Hanser 2000. 101 Vgl.: Menke, Bettine: Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka. München: Fink 2000.

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genüberstellt,102 worauf in diesem Kapitel ebenfalls nochmals kurz verwiesen werden soll. Zwar werden in den genannten Arbeiten die Begriffe „Rauschen“ und „Irritation“ nicht synonym zu „Störung“ verwendet, dennoch widmen sich alle BeiträgerInnen der Störung insofern, als sie Störung als eine mögliche Erscheinungsform der Irritation und des Rauschens begreifen. Definitionsversuche Allen Bemühungen um die Präzisierung des Begriffs der Störung für seine Anwendung in der Literatur- und Theaterwissenschaft ist gemein, dass sie auf die ersten kommunikations- und informationstheoretischen sowie kybernetischen Definitionen aufbauen und Ansätze aus der Systemtheorie und aus den Kulturwissenschaften aufgreifen. In den vorliegenden Studien zur Störung herrscht darüber hinaus Konsens, dass es sich für die Anwendung des Begriffs in der Literaturwissenschaft als besonders produktiv erweist, von Niklas Luhmanns erweitertem Literaturbegriff auszugehen, der Literatur als Handlungs- und Symbolsystem begreift, aber auch an seinen Gedanken von Kunst und Literatur als Medium der Beobachtung zweiter Ordnung anzuschließen, im Sinne des „Sichtbarmachen[s] des Unsichtbaren“103 durch die Literatur. Für die Beschreibung des Sekundärdramas scheinen besonders jene Forschungsansätze relevant, die Störung als ästhetisches Verfahren zur Problematisierung der vermeintlichen Evidenz dominanter Wirklichkeitsmodelle begreifen,104 die somit die zentrale These der Unsichtbarkeit von Medien aufgreifen und erweitern und an medienwissenschaftliche Definitionen der Störung als ein Geräusch, das das Medium selbst erst sichtbar macht, anschließen. Liest man die Sekundärdramen nun als Störung, rückt ihr Potential zur Sichtbarmachung der historischen Kategorie Drama in den Fokus, denn erst das Sekundärdrama führt dazu, dass die Ebene der Materialität, d.h. die Form des Dramas selbst, für die RezipientInnen sichtbar wird und gegenüber der Bedeutungs- und Sinnebene an Dominanz gewinnt. Gansel und Ächtler konkretisieren diese Definition in Hinblick auf eine Ästhetik der Störung dahingehend, als sie konstatieren, dass Störung immer dann ein Mittel der Ästhetik wird, wenn sie in ihrer Bedeutungsträchtigkeit sichtbar

102 Vgl.: Sonderegger, Ruth: Ist Kunst, was rauscht? Zum Rauschen als poetologischer und ästhetischer Kategorie. 103 Luhmann, Niklas: Schriften zur Kunst und Literatur. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, S. 201. 104 Vgl. bspw. Ansätze von Norman Ächtler, Carsten Gansel und Lars Koch.

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wird und wenn sie bewusst inszeniert wird, um „die Gemachtheit wie die Opazität des Artefakts zu explizieren.“105 Sie plädieren somit für einen engen Begriff einer Ästhetik der Störung und unterscheiden zwischen nicht-intentionalen, akzidentellen und intentionalen Störungen, wobei sie davon ausgehen, dass jedem Kunstwerk nicht-intentionale Störungen per se innewohnen, dass aber „von künstlerischen Texten bzw. Artefakten seit jeher auch intentionale Störimpulse aus[gehen], etwa in Form von aufstörenden Themen, Gestalten oder Darstellungsweisen.“106 Dieser enge Begriff einer Ästhetik der Störung erinnert an die Kategorie der Unterbrechung, wie sie von Lehmann eingebracht wird, betont somit das subversive Potential und den politischen Anspruch von Kunstwerken, die dieser Ästhetik folgen. Dass sich der Begriff der Unterbrechung eignet, um das Verfahren der Sekundärdramen auf Textebene zu beschreiben, konstatiert bereits Karen Jürs-Munby, die nachweist, dass Jelineks Konzept auf eine Unterbrechung des Dramatischen abzielt und durch das Eindringen in den dramatischen Text ein Dazwischen geriert.107 Auch Koch und Nanz betonten die politische Dimension ästhetischer Störungen. In Anlehnung an Jacques Rancière begreifen sie die Schaffung einer neuen Aufteilung sinnlicher Erfahrungen mittels Irritation und Unterbrechung gewohnter Wahrnehmungsmuster, die Erzeugung von Dissens, von Brüchen und Differenzen als das politische Potential der Störung.108 Formexperimente erweisen sich so nicht als spielerische l’art pour l’art, sondern werden in ihrer politischen Dimension wahrnehmbar, weshalb die vorliegende Studie für die Beschreibung des Sekundärdramas u.a. auf jene Definition einer Ästhetik der Störung aufbaut. Interessant ist darüber hinaus, was Koch und Nanz hinsichtlich der Störung in den Künsten festhalten. Sie attestieren Störungen kulturanalytisches Potential, da diese nie als autonome Größen existieren, sondern immer abhängig sind von der Wahrnehmung der RezipientInnen, wodurch gesellschaftliche Konstruktio-

105 Gansel, Carsten / Ächtler, Norman: Das „Prinzip Störung“ in den Geistes- und Sozialwissenschaften – Einleitung, S. 8. 106 Ebd., S. 11. 107 Vgl.: Jürs-Munby, Karen: Parasitic Politics: Elfriede Jelinek’s „Secondary Dramas“ „Abraumhalde“ and „FaustIn and out“, S. 211. 108 Vgl.: Koch, Lars / Nanz, Tobias: Ästhetische Experimente. Zur Ereignishaftigkeit und Funktion von Störungen in den Künsten, S. 110; sowie: Ruda, Frank: Gespräch mit Jacques Rancière. In: Rancière, Jacques: Ist Kunst widerständig? Berlin: Merve 2008, S. 37-90.

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nen und Normen sichtbar werden, die gewöhnlich verdeckt bleiben.109 Ähnlich formuliert es auch Samuel Weber, der in seinen Ausführungen zu Walter Benjamins Medientheorie anmerkt, dass jede Störung ein System bzw. eine Ordnung voraussetzt, die RezipientInnen also von einer bestimmten Norm ausgehen müssen, um etwas als Störung zu empfinden.110 Darauf aufbauend halten Koch und Nanz fest: „Genau hier setzen ästhetische Funktionalisierungen von Störungen ein, indem sie in ihren Experimentalanordnungen auf der Inhalts- und/oder Formseite Irritationsmomente und Unterbrechungen implementieren und damit Erwartungshaltungen, Aufmerksamkeitskonventionen und Verhaltensroutinen reflexiv ausstellen.“111 Koch und Nanz machen dezidiert auf die Verbindung von Ästhetik und Epistemologie aufmerksam und betonen das Potential ästhetischen Handelns, für Wahrnehmungsprozesse zu sensibilisieren und auf „Sollbruchstellen und blinde Flecken von Alltagsnormalität“112 aufmerksam zu machen. Künstlerische Arbeiten mit der Versuchsanordnung im Labor vergleichend, führen sie für eine Ästhetik der Störung an: In der Kunst wird es – ähnlich der epistemologischen Situation des Labors – möglich, für Wirklichkeit gehaltene, d.h. als selbstverständlich akzeptierte Selbstbeschreibungen der Gesellschaft in Form von (fiktionalen) Szenarien und (partizipativen) Experimentalanordnungen auf latente Alternativen, Reaktionsverhalten und/oder zugrundeliegende Verlaufszusammenhänge hin zu testen. Ästhetische Störverfahren sind demnach, so könnte man pointiert formulieren, experimentelle Bohrungen in den diskursiven Untergrund der Wirklichkeit.113

Anschließend an die von Koch und Nanz formulierte These scheint für eine Untersuchung der Ästhetik der Störung in Hinblick auf das Sekundärdrama begründet, danach zu fragen, welche verdeckten Diskurse und Konstruktionen durch das Sekundärdrama sichtbar gemacht werden. Dies betrifft nicht nur den Bereich der Literatur und des Theaters, sondern die Sekundärdramen verweisen darauf,

109 Vgl.: Koch, Lars / Nanz, Tobias: Ästhetische Experimente. Zur Ereignishaftigkeit und Funktion von Störungen in den Künsten, S. 96. 110 Vgl.: Weber, Samuel: Walter Benjamin: Medium als Störung. In: Kümmel, Albert / Schüttpelz, Erhard (Hg.): Signale der Störung. München: Fink 2003, S. 31-41, S. 38. 111 Koch, Lars / Nanz, Tobias: Ästhetische Experimente. Zur Ereignishaftigkeit und Funktion von Störungen in den Künsten, S. 97. 112 Ebd., S. 97. 113 Ebd., S. 97-98.

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dass Literatur, Theater und Gesellschaft in wechselseitiger Beziehung zueinander stehen, dass ein bestimmtes Denken der Kategorie Drama auf die Gesellschaft wirkt, wie auch gesellschaftliche und politische Entwicklungen nachhaltig auf künstlerische Werke Einfluss nehmen.114 So kombinieren die Sekundärdramen Zitate und Motive der Hoch- und Populärkultur, literarische mit philosophischen, geschichtswissenschaftlichen etc. Texten und Texten des Alltagsgebrauchs und verknüpfen einzelne literarische Werke bzw. Gattungen mit geschichtlichen Ereignissen und Tagesaktualitäten, um auf diese Weise verborgene Verbindungslinien zwischen scheinbar weit auseinander liegenden Gegenständen sichtbar zu machen. Die Formulierung der „Bohrung“ aufgreifend, lässt sich das Schichtungsverfahren der Texte besser nachvollziehen, das textuelle Verfahren des Aufdeckens der Tiefenstrukturen, die unter der Textoberfläche der Primärdramen liegen, was bei Jelineks Texten immer auch gesellschaftliche Abgründe zu Tage treten lässt. Dies verweist darauf, dass kein Text als abgeschlossenes Kunstwerk zu begreifen ist, sondern jeder Text einer permanenten Neuinterpretation und Relektüre unterliegt. Jelinek selbst spielt auf dieses Verfahren an, wenn sie in einem Interview betont, mit ihren Sekundärdramen die „Tiefenschichten des Originals freizulegen“ (VO). Darüber hinaus wird in den zitierten Passagen ein weiterer, für die analytische Anwendung des Begriffs Störung zentraler Aspekt erwähnt, der besagt, dass Störungen in künstlerischen Werken auf unterschiedlichen Ebenen ausgemacht werden können, nämlich sowohl auf inhaltlicher und / oder formaler Ebene. Koch und Nanz nennen auf inhaltlicher Ebene beispielhaft die narrative Evokation fiktionaler Störungsereignisse wie sie für Novellen und Romane seit dem 19. Jhdt., aber auch für gegenwärtige narrative Medien-, Film- und Fernsehformate typisch ist. Auf formaler Ebene verweisen sie zentral auf das postdramatische Theater und die Performance-Kunst, wo sie Störungen im „auf die Spitze getriebene[n] Bruch mit den klassischen idealistischen Ästhetiken des 19. Jahrhunderts“115 ausmachen. Die beiden Germanisten zeichnen dabei eine Traditionslinie der Ästhetik der Störung nach und stellen eine Beziehung her zwischen gegenwärtigen Formen und Brechts epischem Theater sowie den theatralen Arbeiten der frühen Avantgarden, die ebenfalls über den Einsatz gezielter Störun-

114 Vgl.: Ächtler, Norman: „Entstörung“ und Dispositiv – Diskursanalytische Überlegungen zum Darstellungstabu von Kriegsverbrechen im Literatursystem der frühen Bundesrepublik, S. 58-59. 115 Koch, Lars / Nanz, Tobias: Ästhetische Experimente. Zur Ereignishaftigkeit und Funktion von Störungen in den Künsten, S. 99.

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gen Unterbrechungen gewohnter Abläufe und Verfahren erzeugten.116 Gansel und Ächtler präzisieren diese These nochmals und arbeiten heraus, dass sich Störungen auf Ebene der Texte („Ästhetik / Poetologien der Störung“), als auch auf der Ebene der Interaktion zwischen LiteraturproduzentInnen, den Organen und Medien der Literaturvermittlung und den RezipientInnen (Provokationen, Skandale etc.) ermitteln lassen.117 Der Begriff der Störung ist somit geeignet, um der Komplexität und Vielschichtigkeit des Sekundärdramas gerecht zu werden und die verschiedenen Ebenen, auf denen Störungen ausgemacht werden können, näher zu betrachten. Wie Karen Jürs-Munby in ihrem einführenden Beitrag zu Jelineks Sekundärdramen anmerkt, kann nämlich das Sekundärdrama nicht ausschließlich als literarische Innovation verstanden werden, sondern es geht dabei auch zentral um den Eingriff in gegenwärtige Programmgestaltungs-, Produktions- und Inszenierungsformen am Theater.118 Indem der Begriff der Störung immer bereits auf unterschiedliche Ebenen abzielt, kann so den verschiedenen Störmomenten auf Ebene des Textes als auch auf Ebene des Literatur- und Theaterbetriebs nachgespürt werden, wobei die Sekundärdramen sowohl formal als auch inhaltlich darauf abzielen, Störungen zu evozieren. Susanne Scharnowski stellt in ihrem Beitrag „Es spricht nicht, es rauscht und toset nur!“ Eine kurze Geschichte der Ästhetik des Erhabenen und des Rauschens wichtige postmoderne Ansätze vor, die „Rauschen“ als eine Kategorie begreifen, die sich gegen Rationalität und Eindeutigkeit wendet.119 Scharnowski arbeitet im Gesamtwerk Roland Barthes Ansätze einer Ästhetik des Rauschens heraus, die Barthes anhand seiner Erfahrungen mit ihm unbekannten Sprachen entwickelt hat, die sich ihm als reines Rauschen jenseits jeder erschließbaren Bedeutung offenbarten. Barthes besetzt dieses Rauschen der Sprache positiv, als es für ihn einen schützenden Zwischenraum darstellt, in dem jede Form von Sinn und Bedeutung suspendiert wird. Darüber hinaus verweist Scharnowski auf Gilles Deleuzes Arbeiten zum Kino, in denen er am Beispiel des Wassers Rauschen als das Chaotische fasst, aber auch auf Michel Serres Die fünf Sinne, in dem er Rauschen als positiv konnotierte Vorstellung von Chaos und als grundle-

116 Vgl.: Ebd., S. 107. 117 Vgl.: Gansel, Carsten / Ächtler, Norman: Das „Prinzip Störung“ in den Geistesund Sozialwissenschaften – Einleitung, S. 11. 118 Vgl.: Jürs-Munby, Karen: Abraumhalde; FaustIn and out, S. 203. 119 Vgl.: Scharnowski, Susanne: „Es spricht nicht, es rauscht und toset nur!“ Eine kurze Geschichte der Ästhetik des Erhabenen und des Rauschens, S. 51.

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gende Bedingung für die Entstehung von Kunst beschreibt.120 Eine Ästhetik der Störung als Problematisierung bzw. Ablehnung von Sinnstiftung und Bedeutungskonstitution zu begreifen, wie es Scharnowski anhand ausgewählter postmoderner Ansätze skizziert, scheint elementar für die Auseinandersetzung mit dem Konzept des Sekundärdramas. Die Funktion einer Ästhetik der Störung, Sinn zu suspendieren, wird auch von Markus Rautzenberg herausgearbeitet, der ausgehend von Heideggers Zeuganalysen nachweist, dass durch die Sichtbarmachung der Materialität im Moment der Störung „die Sphäre der Repräsentation zutiefst beunruhigt“121 wird. Jelinek selbst beschreibt das Sekundärdrama als ein Modell, das bewusst vielstimmig angelegt ist und unauflösbare Widersprüche bzw. Brüche erzeugt, um sich auf diese Weise der Deutbarkeit und Sinnstiftung zu verweigern und sich gegen die Reduktion der Komplexität zugunsten eines bestimmten Sinns zu stellen, wie Jelinek es bei Lessing und Goethe vorzufinden meint. (Vgl. BÜ) Simultaneität und damit einhergehend Überfülle und „Ohnmacht des Erfassens“122 auf Seiten der RezipientInnen führt auch Martin Seel als konstitutive Merkmale des künstlerischen Rauschens an, wobei Ruth Sonderegger kritisch anmerkt, dass das Rauschen in Seels Definition eine mystische Aufladung erfährt und so schließlich als Ausdruck einer Fülle von Möglichkeiten interpretiert wird, die von ihm jedoch nicht weiter präzisiert wird.123 Darüber hinaus hält Sonderegger in Hinblick auf die metaphysische Verklärung des Rauschens fest, dass jene theoretischen Ansätze Rauschen als Leere und / oder Fülle interpretieren, wobei sie diese Festlegung auf einen Doppelcharakter des Rauschens problematisiert, wie sie beispielsweise durch Seels Ansatz nahegelegt wird. Alternativ bringt sie Menkes Konzeption einer Ästhetik des Rauschens ein, die diesem dualen Modell eine dritte Art hinzufügt, nämlich das alberne Rauschen.124 Sonderegger konstatiert für Menkes Bestimmung des Rauschens als das Abgründige und Alberne eine Nähe zur Dekonstruktion,125 hält jedoch fest, dass sie darüber hinausgeht, indem sie das Rauschen nicht allein als Paradox der Darstellung des Undarstellbaren begreift, sondern indem sie das Denken der Leere und / oder

120 Vgl.: Ebd., S. 52-53. 121 Rautzenberg, Markus: Die Gegenwendigkeit der Störung. Aspekte einer postmetaphysischen Präsenztheorie, S. 161. 122 Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, S. 230. 123 Vgl.: Sonderegger, Ruth: Ist Kunst, was rauscht? Zum Rauschen als poetologischer und ästhetischer Kategorie, S. 32 und 37. 124 Vgl.: Ebd., S. 36-41. 125 Vgl.: Ebd., S. 36.

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Fülle kontaminiert und ihm eine alberne Oberflächlichkeit entgegenstellt, die sich als Plappern, Tuscheln und Tratschen offenbart: „Menkes Konzept eines albernen Rauschens […] beruht auf ‚kombinatorischen und ludistischen Verfahren‘, die sich an der Reinheit des Rauschens abarbeiten und es vor einer beliebig deutbaren und aufladbaren Absolutheit bewahren, indem sie es in die Nähe des veralberten Sinns und der formalen Organisation halten.“126 Für Sonderegger ist damit ein Rauschen beschrieben, das nicht mehr in seiner pathetischen Aufladung als ausschließlich ohnmächtig machende Größe verstanden wird, sondern das als distanziertes Rauschen konkret in einzelnen Texten und Kunstwerken ausgemacht werden kann.127 Dieser Ansatz ist als Reflexionsmoment für die Beschreibung des Sekundärdramas relevant, um Störung auch in diesem Fall nicht als metaphysische Größe wahrzunehmen, sondern sie als konkretes ästhetisches Prinzip zu beschreiben, das bestimmte Dinge bewirken kann wie etwa die Infragestellung geltender dramatischer Konventionen. Für die Beschreibung des Sekundärdramas weitere wesentliche Zugänge in Hinblick auf eine Ästhetik der Störung sind jene, die deren Potential zur Unterbrechung bzw. Auflösung von Kontinuitäten und traditionellen Sinnzusammenhängen unterstreichen.128 Zentral arbeitet Hans-Christian Stillmark am Beispiel der Dramaturgien Bertolt Brechts und Heiner Müllers eben diese Funktionsweise der Störung heraus. Er weist nach, dass beide Autoren durch intentionale Störmomente die Funktion von Kunst allgemein, besonders jedoch die klassischen Ideale und den bürgerlichen Theaterbetrieb infrage stellen. Stillmark stellt am Beispiel von Bertolt Brechts ästhetischen Überlegungen ausführlich dar, dass eine Erneuerung der Formen und Darstellungsweisen als bewusst gesetzter Störimpuls gewertet werden kann, um „das dominierende bürgerliche Theater in seinen alten Funktionen zu zerstören und neu auszurichten.“129 Allgemeiner konstatieren Lars Koch und Christer Petersen, dass Störungen, indem sie Wahrnehmungsgewohnheiten gerade nicht erfüllen, zunächst Diskontinuitäten erzeugen, die so wiederum Kontinuitäten und Wahrnehmungsroutinen ins Blickfeld rücken.130 Wertvoll in diesem Zusammenhang sind auch die Überlegungen von

126 Ebd., S. 40. 127 Vgl.: Ebd., S. 40. 128 Vgl. bspw.: Scharnowski, Susanne: „Es spricht nicht, es rauscht und toset nur!“ Eine kurze Geschichte der Ästhetik des Erhabenen und des Rauschens, S. 43. 129 Stillmark, Hans-Christian: Notbremsen, Skandale und Gespenster: Dramaturgien der Störung bei Bertolt Brecht und Heiner Müller, S. 155. 130 Vgl.: Koch, Lars / Petersen, Christer: Störfall – Fluchtlinien einer Wissensfigur. In: Störfälle. Zeitschrift für Kulturwissenschaften Themenheft 1/2011, S. 7-11, S. 10.

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Linda Simonis, die in ihrem Beitrag zum Begriff der „Irritation“ eine Bestimmung einer Ästhetik der Irritation vornimmt und die künstlerische Intention zur Erneuerung vorhandener Formen als zentrales Element jener Ästhetik bestimmt. Am Beispiel der Avantgarden weist sie für Kunstformen nach, denen es vornehmlich um die Irritation und Infragestellung der Kunst selbst geht, dass „Irritation auf diese Weise nicht als Bruch [wirkt], sondern vielmehr als ein Moment, über das Kunst auf vorangehende Kunstwerke und ästhetische Kommunikationen Bezug nimmt und an diese anschließt.“131 Damit rückt in den Fokus, dass Störungen nicht auf die Überwindung des Vorhandenen abzielen, sondern immer eine spezifische Beziehung zu diesem aufbauen. Wenn Simonis schließlich konkludiert, dass die Irritation nicht nur auf Vergangenes zurückgreift, sondern auch auf Zukünftiges einwirkt,132 macht sie einmal mehr deutlich, dass Störungen aus einem teleologischen Denken von Zeit ausbrechen zugunsten einer Schichtung von Zeitebenen. Dieser Ansatz bietet wichtige Anknüpfungspunkte für die Beschreibung des Verhältnisses von Primär- und Sekundärdrama, da diese Form nicht auf Überwindung des Alten abzielt, sondern die Schichtung präferiert und dies auch eindeutig markiert, indem das Sekundärdrama nicht nach dem Primärdrama, sondern mit diesem präsent wird. Dass Störungen nur gemeinsam mit dem System, das sie stören, zu denken sind, somit eine Ästhetik der Störung zwar verändert, aber nie überwindet, lässt sich auch mit Serres belegen, der für den Parasiten festhält: Weit davon entfernt, ein System in seiner Natur, seiner Form, seinen Elementen, Relationen und Wegen zu verwandeln […], bringt er es dazu, seinen Zustand in kleinen Schritten zu verändern. Er bringt ein Gefälle hinein. Er bringt das Gleichgewicht oder die Energieverteilung des Systems zum Fluktuieren. Er dopt es. Er irritiert es. […] Er verändert den Zustand des Systems, seinen energetischen Zustand, seine Verschiebungen, seine Verdichtungen.133

Für die Beschreibung von Jelineks Sekundärdrama sind neben den bereits erwähnten Ansätzen jene Herangehensweisen von Bedeutung, die im Anschluss an die positive Umwertung des Begriffs in den Medien-, Sozial- und Kulturwissen-

131 Simonis, Linda: Irritation – Jean de la Fontaine und Jean Crotti. In: Werber, Niels (Hg.): Systemtheoretische Literaturwissenschaft. Begriffe – Methoden – Anwendungen. Berlin: De Gruyter 2011, S. 195-204, S. 200. 132 Vgl.: Ebd., S. 200. 133 Serres, Michel: Der Parasit, S. 293-294.

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schaften das konstruktive Potential der Störung herausarbeiten.134 Diese Neubewertung der Störung erlaubt es, das Sekundärdrama nicht ausschließlich als eine destruktive Form zu begreifen, sondern auch auf das konstruktive Potential des Sekundärdramas aufmerksam zu machen, neue dramatische Praktiken und Inszenierungsformen hervorzubringen und so die Konzeption und Beschaffenheit von Drama und Theater nachhaltig zu prägen. Dezidiert betonen Koch und Petersen sowie Koch und Nanz das konstruktive Potential von Störungen. Sie beschreiben Störungen als mögliche Impulse, die Gesellschaften zur Selbstbeobachtung anregen und so zur Wandlung bestehender Muster und Formen beitragen können,135 wobei Koch und Petersen dezidiert auf die durch Störungen ausgelöste Neuverhandlung binärer Kategorien wie Ordnung und Unordnung, Ein- und Ausschluss, Faktischem und Kontrafaktischem verweisen.136 Ähnlich beschreibt Carsten Gansel aufbauend auf sprachtheoretische Untersuchungen von Ludwig Jäger Störungen als konstruktive Elemente, wobei er zentral die Rolle der RezipientInnen hervorhebt und deutlich zeigt, dass Störungen eine aktive Haltung herausfordern und die RezipientInnen angehalten sind, sich zu ihnen zu verhalten bzw. Stellung zu beziehen. Er geht davon aus, dass Störungen grundsätzlich als Abweichungen wahrgenommen werden, auf die reagiert werden muss bzw. die man beseitigen will, um so den „Normalzustand“ wiederherzustellen. Dennoch hinterlassen Störungen auch nach ihrer eventuell geglückten Beseitigung „Spuren in Form von nicht kaschierbaren Brüchen, Rissen oder irreversiblen Folgen“137 , die so dazu führen können, langfristig Verschiebungen und Veränderungen von Normen herbeizuführen:

134 Vgl. bspw.: Gansel, Carsten / Ächtler, Norman: Das „Prinzip Störung“ in den Geistes- und Sozialwissenschaften – Einleitung, S. 13; Habscheid, Stephan / Koch, Lars: Einleitung: Katastrophen, Krisen, Störungen, S. 7; Koch, Lars / Petersen, Christer: Störfall – Fluchtlinien einer Wissensfigur, S. 9-10; Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, S. 61. 135 Vgl.: Koch, Lars / Petersen, Christer: Störfall – Fluchtlinien einer Wissensfigur, S. 10; Koch, Lars / Nanz, Tobias: Ästhetische Experimente. Zur Ereignishaftigkeit und Funktion von Störungen in den Künsten, S. 114. 136 Vgl.: Koch, Lars / Petersen, Christer: Störfall – Fluchtlinien einer Wissensfigur, S. 10. 137 Gansel, Carsten: Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie „Störung“ – Möglichkeiten der Anwendung für Analysen des Handlungs- und Symbolsystems Literatur, S. 31.

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In Abhängigkeit von ihrer wahrgenommenen oder wirklichen Intensität bleiben Störungen im individuellen oder kommunikativen Gedächtnis und können über ihr Auftreten hinausgehend zur Auseinandersetzung motivieren, Aufmerksamkeitsschwellen heben und der Selbstvergewisserung etwa über individuelle Maßstäbe, gesellschaftliche Normen oder kulturelle Muster dienen, die gegebenenfalls neu vermessen, ersetzt und überwunden werden.138

Gansel arbeitet darüber hinaus unterschiedliche Stufen und Formen der Störung heraus, die ihm für die positive Neubesetzung des Begriffs für unumgänglich erscheinen. Er konstatiert, dass sich Störungen aufgrund ihrer Intensität, des Raums, in dem sie vorkommen, und der zeitlichen Dimension, in der sie sich vollziehen, unterscheiden. In Hinblick auf die Intensität von Störungen stellt er fest, dass zwischen Auf-, Ver- und Zerstörung differenziert werden kann. Unter „Aufstörung“ fasst er jene Phänomene zusammen, die zwar Aufmerksamkeit erregen, jedoch in ein System integrierbar sind, „Verstörung“ betrifft tiefgreifendere Irritationen, die jedoch reparierbar sind, „Zerstörung“ schließlich meint alle Phänomene, die so weit in ein bestehendes System eingreifen, dass sie irreversible Veränderungen nach sich ziehen. Bezüglich des Ortes der Störung hält Gansel fest, dass Störungen vorwiegend an Grenzen zwischen verschiedenen Systemen auftreten und ein Aufeinanderprallen dieser Systeme verursachen, womit er an die These der Störung als Schwellenphänomen anschließt, diese jedoch weiter präzisiert. Die Berücksichtigung der zeitlichen Dimension erlaubt Fragen nach dem zeitlichen Auftreten und dem Verlauf von Störungen, aber auch nach Brüchen in bzw. der Überwindung von linearen Zeitkonzepten in künstlerischen Arbeiten.139 Relevant erscheint an dieser differenzierten Betrachtung der Störung darüber hinaus, dass – wie Gansel konstatiert – die Intensität der Störung Rückschlüsse über das Systems selbst zulässt. Gansel führt diesbezüglich fünf zentrale Fragen an, die sich davon ausgehend formulieren lassen: – Welche Spielräume hat das jeweilige System für Störungen, ab welcher Intensität von Störung reagiert das System? – Gibt es Teilbereiche, die in besonderer Weise „störempfindlich“ und solche, die relativ resistent sind? Was sind die (innersystemischen) Gründe dafür? – Welche Faktoren von Störungen wirken besonders intensiv? – Was führt dazu, dass Störungen in einem Teilbereich auf weitere Teilbereiche des Systems übergreifen und auf welche Weise geschieht dies?

138 Ebd., S. 31-32. 139 Vgl.: Ebd., S. 35-37.

72 | D RAMA ALS S TÖRUNG – Unter welchen Bedingungen führen Störungen zu einem Zusammenbruch des Systems?140

Für die Anwendung des Begriffs auf das Sekundärdrama ist außerdem der Ansatz von Ächtler zentral, der in der Verbindung von Diskurs- und Systemtheorie das konstruktive Potential von Störungen näher zu bestimmen versucht. Ausgehend von der systemtheoretischen Annahme, dass Literatur als Symbol- und Handlungssystem begriffen werden muss, ergänzt Ächtler die bei Luhmann nur peripher mitbedachte Frage nach den diese Systeme bestimmenden Hierarchien und Machtstrukturen um Foucaults Kategorie des Dispositivs.141 Ächtler hält ausgehend von Foucaults These von Literatur als Gegendiskurs und Jürgen Links Kategorisierung der Literatur als elaborierten Interdiskurs für den konstruktiven Charakter von Störungen aus diskursanalytischer Perspektive fest, dass Literatur „gerade deshalb zu einem Medium gesellschaftlicher Selbstverständigung [wird], weil Autoren stets aufs Neue das subversive Unterlaufen von normativ gesetzten Kommunikationscodes gestalten und verhandeln und diskursive Randphänomene auf irritierende Weise ins Zentrum der Aufmerksamkeit einer größeren Öffentlichkeit rücken.“142 Ächtler benennt damit abermals die, im Sinne Rancières, politische Dimension der Störung und macht auf ihr Potential aufmerksam, das von herrschenden Systemen nicht Repräsentierte ins Zentrum zu rücken. Dass dieser Ansatz für die Auseinandersetzung mit Jelineks Sekundärdrama einen wichtigen Reflexionspunkt darstellt, wird nicht nur daran deutlich, dass die Texte Fälle von ökonomischer, psychischer und physischer Gewalt gegen Frauen umkreisen, sondern auch daran, dass sie Sagbarkeitsgrenzen überschreiten und ihnen scheinbar Unsagbares wie Inzest und Massenvernichtung eingeschrieben ist, wodurch langfristig ein Sprechen über gesellschaftlich Verdrängtes ermöglicht werden kann.

140 Ebd., S. 35. 141 Vgl.: Ächtler, Norman: „Entstörung“ und Dispositiv – Diskursanalytische Überlegungen zum Darstellungstabu von Kriegsverbrechen im Literatursystem der frühen Bundesrepublik, S. 62-64. 142 Ebd., S. 67.

Störung als ästhetisches Prinzip

Aufbauend auf die erläuterten Ansätze zur Verwendung des Begriffs der Störung als analytischen Terminus in der Literatur- und Theaterwissenschaft definiert die vorliegende Studie Störung als intentionales ästhetisches Verfahren zur Sichtbarmachung bzw. Problematisierung scheinbar evidenter Wirklichkeitsmodelle sowie zur Verhandlung von Opazität und Transparenz künstlerischer Werke. Wobei speziell mit Blick auf Jelineks Sekundärdramen davon ausgegangen wird, dass Störungen sowohl auf Ebene der Texte als auch auf Ebene des Literaturbetriebs bzw. des Theatersystems auszumachen sind. Störung wird dabei nicht nur als destruktive Größe begriffen, sondern auch als konstruktives Prinzip, das längerfristig auf bestehende Ordnungen und Systeme einwirken und so zu Veränderungen bzw. Verschiebungen führen kann. Ausgehend von dieser Definition der Störung, die zentral Ansätze von Gansel, Ächtler, Koch und Nanz berücksichtigt und die das politische bzw. subversive Potential dieses Phänomens hervorhebt, muss in dieser Studie jener weite Begriff der Störung unberücksichtigt bleiben, der Störung als grundlegende, per se in allen Systemen und somit auch in jedem Kunstwerk auftretende Größe begreift, aber auch jener Ansatz, der Störung als Ausdruck des Metaphysischen in die Nähe eines romantischen Rauschens rückt. Da die hier geleistete Definition der Störung das Potential zur Sichtbarmachung und Problematisierung scheinbar unsichtbarer bzw. verdeckter (Macht-) Strukturen von Kunstwerken, -systemen und Gesellschaften betont, stellt sich für künstlerische Arbeiten, die einer Ästhetik der Störung folgen, unwillkürlich die Frage, gegen welches Denken von Kunst, Kunstwerk und KünstlerInnentum mit dieser Sichtbarmachung opponiert bzw. in welches bestehende (Kunst-)System eingedrungen wird und welche gesellschaftlichen Komponenten dadurch tangiert werden. Konkret für Störungen im Bereich des Dramatischen rückt somit, und das bestätigt auch der auszumachende Fokus in der bestehenden Sekundärliteratur, das Verhältnis von Drama und Avantgarde bzw. postdramatischen Theater-

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formen in den Fokus, da intendierte Störimpulse oftmals an den Schnittstellen dieser Kategorien operieren, indem sie auf bestimmte konstitutive Merkmale der historischen Kategorie Drama abzielen, diese in Bruchstücken zitieren, jedoch in divergierende Kontexte einbetten und somit bewusst irritieren. Da Einheit, Geschlossenheit und Sinnstiftung konstitutive Merkmale des Dramas sind, folgt man Szondis Definition der historischen Kategorie Drama,1 scheint es naheliegend, dass das Phänomen Störung, das immer bereits Pluralisierung, Offenheit und Chaos meint, als ästhetisches Prinzip zentral in jenen künstlerischen Arbeiten auszumachen ist, die sich an dieser Form kritisch abarbeiten bzw. die jenseits dieser Form operieren. Die intensive Auseinandersetzung mit der bestehenden Forschungsliteratur zur Störung in Theatertexten bzw. am Theater zeigt, dass formale Verfahren, die für die historische Avantgarde und für postdramatische Theaterformen herausgearbeitet wurden, auch als Aspekte einer Ästhetik der Störung bestimmt werden können. Vorausgesetzt, man geht davon aus, dass Störungen nicht ausschließlich über die inhaltliche Ebene, sondern besonders auch über die Form von Kunstwerken erzeugt werden. Dadurch wird es möglich, jene Verfahren jenseits eines Denkens der Überwindung des Dramas bzw. des Dramatischen zu betrachten, wie es die Kategorien der Avantgarde und des Postdramatischen nahelegen, und stattdessen das Verhältnis verschiedener Schreibweisen und Formationen in den Mittelpunkt zu rücken. Dies würde auch bedeuten, bestimmte Verfahren nicht mehr ausschließlich ex negativo zu beschreiben, also in ihrer Abgrenzung zum Dramatischen und in ihrem „Nicht-mehr-Erfüllen“ dramatischer Konventionen, sondern viel eher ihr Potential zur Etablierung eines differenzierten Denkens von Kategorien wie Zeit, Subjekt, Handlung etc. hervorzuheben. Wichtige Ansätze für die Beschreibung einer Ästhetik der Störung präsentieren Koch und Nanz in ihrem Beitrag Ästhetische Experimente, in dem sie verschiedene künstlerische Verfahren der Störung zu bestimmen versuchen. Sie betonen, dass Störimpulse in postdramatischen Theaterformen großteils über die Formebene erzeugt werden und sehen hier eine deutliche Veränderung zu Störungen im Regietheater der 1970er Jahre, wo auf inhaltliche Aspekte abgezielt wurde.2 Aus diesem Grund gehen sie in weiterer Folge dezidiert auf postdramatische Inszenierungsformen ein, um davon künstlerische Störverfahren abzuleiten. Koch und Nanz orientieren sich in ihrer Konzeption einer Ästhetik der Störung vorwiegend an Hans-Thies Lehmanns Studie Postdramatisches Theater

1 2

Vgl.: Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas (1880-1950), S. 14-19. Vgl.: Koch, Lars / Nanz, Tobias: Ästhetische Experimente. Zur Ereignishaftigkeit und Funktion von Störungen in den Künsten, S. 107.

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und führen daran anschließend drei zentrale Verfahren an, denen sie Störpotential zuschreiben: 1) die Aufhebung der vierten Wand, 2) Serialität und Simultaneität sowie 3) Unterbrechung der zeitlichen Kontinuität bzw. diskontinuierliche Darstellungsweisen.3 Über die Form hinausgehend verweisen sie dennoch darauf, dass Störimpulse auch von inhaltlicher Ebene ausgehen können, ohne jedoch konkreter darauf einzugehen. Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass eine allgemeine Auseinandersetzung mit Störungen auf inhaltlicher Ebene bislang aussteht, die fundiert herausarbeitet, welche Inhalte in welchen Kulturen und Gesellschaften als „störend“ empfunden werden und inwieweit inhaltliche Störungen mit Normierungsdiskursen etc. in Zusammenhang gebracht werden können. Trotz dieses Forschungsdesiderats fokussieren Beiträge, die Einzelanalysen von literarischen Werken oder Inszenierungsarbeiten leisten, meist die inhaltliche Ebene, sodass die vorliegende Studie ausgehend von diesen Einzelstudien eine Tendenz ausmachen kann, was als inhaltliche Störung gewertet werden kann. Es zeigt sich, dass inhaltliche Störungen zentral mit der Thematisierung von gesellschaftlich Ausgeschlossenem bzw. Verdrängtem in Verbindung gebracht werden können, also mit tabuisierten Themen, über die in einzelnen Kulturen und Gesellschaften allgemein akzeptiertes Redeverbot herrscht, dessen Nichteinhaltung „mit Ausschluss aus der Gemeinschaft bedroht ist.“4 Somit können gesellschaftliche Sanktionen, die sich im Bereich der Kunst durch Skandalisierungen, Boykotts, Zensur und andere Formen des Ausschlusses äußern, als Signal für inhaltliche Störungen gewertet werden. Bisherige Einzelanalysen inhaltlicher Störungen fokussieren zentral die Thematisierung von Kriegen, Krisen und (Natur-)Katastrophen,5 aber auch Figuren, die als Figuren des Dritten gelesen werden können, also als das Marginalisierte, das Andere / Abnorme der Gesellschaft.6 Da diese Studie davon aus-

3 4

Vgl.: Ebd., S. 106. Kraft, Hartmut: TABU – Magie und soziale Wirklichkeit. Düsseldorf: Walter 2004, S. 10.

5

Vgl. bspw. den Beitrag von Arndt Niebisch: Kleists Turbulenzen oder „lernen von der Natur“. In: Katastrophen, Krisen, Störungen. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 173 (2014), S. 37-51; sowie: Gansel, Carsten: Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie „Störung“ – Möglichkeiten der Anwendung für Analysen des Handlungs- und Symbolsystems Literatur; sowie: Ächtler, Norman: „Entstörung“ und Dispositiv – Diskursanalytische Überlegungen zum Darstellungstabu von Kriegsverbrechen im Literatursystem der frühen Bundesrepublik.

6

Vgl. bspw. den Beitrag von Verena Ronge: Gender trouble in der Zwischenwelt – Weiblicher Vampirismus als Störung der Geschlechterordnung. In: Gansel, Carsten /

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geht, dass Jelineks Sekundärdramen sowohl auf formaler als auch auf inhaltlicher Ebene Störungen erzeugen, muss auch dieser Aspekt berücksichtigt werden. Neben den von Koch und Nanz anhand postdramatischer Theaterformen erarbeiteten Verfahren einer Ästhetik der Störung leitet Koch konkret am Beispiel des Œuvres Christoph Schlingensiefs drei weitere Aspekte der Störung ab: 1) die Arbeit mit Techniken kognitiver Dissonanz, 2) die Thematisierung der Kopräsenz von AkteurInnen und ZuschauerInnen und 3) der Einsatz von LaiendarstellerInnen.7 Verfahren zur Erzeugung kognitiver Dissonanz sieht Koch beispielsweise in den von Schlingensief bewusst erzeugten Tonüberlagerungen realisiert, die dazu führen, dass der auf der Bühne gesprochene Text nicht mehr verstanden werden kann, aber auch in der Erzeugung permanenter Überforderung bei den ZuschauerInnen durch eine Überfülle an Zeichen, Referenzen und Handlungselementen. Diese Überfülle wird laut Koch zentral durch Intertextualität bzw. Intermedialität erzeugt, wobei durch die Kombination unterschiedlichster Texte aus Hoch- und Populärkultur Öffnungen bzw. Leerstellen entstehen, die neuen Rezeptionshaltungen Raum geben.8 Für die Auseinandersetzung mit Jelineks Sekundärdrama scheint dieser erste von Koch angeführte Aspekt substanziell zu sein, da er auch auf das Textverfahren bzw. das Konzept anwendbar ist, wohingegen die anderen beiden Punkte im Kontext dieser Studie weniger relevant erscheinen. Für die Analyse von Jelineks Sekundärdrama sind neben den von Koch genannten Verfahren auch Störelemente miteinzubeziehen, die Hans-Christian Stillmark für die Dramaturgien Bertolt Brechts, Heiner Müllers und Volker Brauns herausarbeitet. Stillmark nennt vier Ebenen, auf denen Störungen in Erscheinung treten, nämlich: 1) die Fragmentierung von Sinn und Handlung durch Montage- und Collagetechniken bis hin zu deren gänzlichem Verlust, 2) der Verzicht auf ein handelndes Subjekt, 3) das Geschichtsdrama als sich in der Krise befindendes Genre, das einen Übergangsraum darstellt, der von Störungen durchzogen ist und 4) das Publikum als strategisch-konzeptioneller Ort, auf das

Ächtler, Norman (Hg.): Das „Prinzip Störung“ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Berlin: De Gruyter 2013 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 133), S. 113-130. 7

Vgl.: Koch, Lars: Christoph Schlingensiefs Bildstörungsmaschine. In: Katastrophen, Krisen, Störungen. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 173 (2014), S. 116-134, S. 119-121.

8

Vgl.: Ebd., S. 119-120.

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die Störimpulse gerichtet sind.9 Die beiden ersten von Stillmark angeführten Aspekte, Fragmentierung und Verabschiedung des Subjekts, müssen bei der Betrachtung von Jelineks Sekundärdrama zentral mitreflektiert werden, da sie auf eine Infragestellung der Kategorie Drama abzielen. Der vierte Aspekt scheint dahingehend relevant, als Stillmark dabei, an Brechts Die Große und die Kleine Pädagogik anschließend, von einer Miteinbeziehung der ZuschauerInnen ausgeht, wodurch einmal mehr die Bedeutung der RezipientInnen im Kontext einer Ästhetik der Störung betont wird und wodurch nachgewiesen wird, dass Störungen eine aktive Haltung der RezipientInnen herausfordern. Darüber hinaus belegt Stillmark damit auch, dass Störungen wirkungsästhetisch sowohl den Raum des Theaters als auch die gesellschaftliche Öffentlichkeit betreffen, was ebenfalls für die vorliegende Studie relevant ist. Der dritte Aspekt hingegen kann bei der Analyse von Jelineks Sekundärdrama nicht berücksichtigt werden, da er auf ein bestimmtes Genre beschränkt bleibt. Ausgehend von den am Beispiel konkreter DramatikerInnen bzw. TheatermacherInnen erarbeiteten Verfahren einer Ästhetik der Störung sowie von allgemeinen Charakteristika der Störung, wie sie im ersten Kapitel vorgestellt wurden, fokussiert die vorliegende Studie vier Aspekte der Störung, die die einzelnen Ansätze und Teilaspekte zusammenzuführen sollen: 1) Fragmentierung und Unterbrechung, 2) Umkehrung und Non-Hierarchie, 3) Ambivalenz, Dialogizität und Polyphonie sowie 4) Selbstreflexivität. Diese Aspekte sollen zunächst im Kontext einer Ästhetik der Störung näher bestimmt werden, um in weiterer Folge als Analysekategorien für die Beschreibung der Sekundärdramen herangezogen zu werden. Anzumerken ist, dass diese vier Aspekte kaum getrennt voneinander betrachtet werden können, da sie eng miteinander verknüpft sind und sich gegenseitig bedingen. Daher ist es unvermeidlich, auf einen dieser Aspekte näher einzugehen, ohne auch auf die anderen zu verweisen.

F RAGMENTIERUNG

UND

U NTERBRECHUNG

Die Literaturwissenschaft unterscheidet zwischen drei Arten des Fragments. Erstens wird der Begriff auf Texte angewendet, die unvollständig überliefert sind, also ursprünglich „geschlossene“, „vollendete“ Texte, die nur noch in Teilen vorhanden sind. Zweitens meint er Texte, die nicht vollendet wurden, z.B. weil die/der AutorIn das Thema verworfen hat etc. Neben diesen ersten beiden Arten,

9

Vgl.: Stillmark, Hans-Christian: Notbremsen, Skandale und Gespenster: Dramaturgien der Störung bei Bertolt Brecht und Heiner Müller, S. 153.

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die immer von einem ursprünglichen Ganzen ausgehen bzw. dieses mitmeinen und die so das Fragment als defizitäre Form begreifen, werden jedoch auch jene Texte als Fragment bezeichnet, die bewusst den Charakter des Unvollständigen bzw. Unvollendeten annehmen, um so „die generelle Prozessualität, Unvollständigkeit, Zerrissenheit und Zeitlichkeit von Wahrnehmung und Erfahrung“10 ästhetisch umzusetzen. Verstanden als ein Konzept, das sich gegen Ganzheit und Totalität richtet sowie gegen eine „umfassende Systematisierung des Denkens“11, rücken mit dem Fragment nicht nur Fragen des Verhältnisses zur Ganzheit, sondern auch zum Antisystemischen und Chaotischen in den Fokus, was im Kontext einer Ästhetik der Störung von zentraler Relevanz ist. Entscheidend scheint in Hinblick auf die Analyse des Sekundärdramas jedoch, dass auch dieser Typus des Fragments, wie Eberhard Ostermann oder auch Justus Fetscher konstatieren, ex negativo eine Verbindung zum Denken der Ganzheit erhält, weshalb auch hier nicht von einer tatsächlichen Überwindung ausgegangen werden kann.12 Für das Fragment gilt somit, ähnlich wie für die Figur des Dritten, dass vorherrschende Strukturen und Systeme nicht überwunden, sondern eine Beziehung zu diesen aufrechterhalten wird. Erst dadurch werden die konstitutiven Elemente dieser Systeme und Strukturen sichtbar, was in weiterer Folge zu Verschiebungen und zu einer gänzlichen Auflösung führen kann. So wie das Dritte binäre Strukturen zitiert und auf diese immer noch angewiesen bleibt, um als Drittes in Erscheinung treten zu können, bleibt das Fragment immer in irgendeiner Form an das Denken der Vollständigkeit bzw. Ganzheit gebunden. Durch diese Bindung können jedoch eben diese Strukturen transparent gemacht werden, die zur Frage anregen, inwieweit Werk und Ganzheit einander bedingen, inwieweit Ganzheit als ästhetische Wertungskategorie funktioniert etc.

10 Mackrodt, Cori: Fragment. In: Burdorf, Dieter / Fasbender, Christoph / Moennighoff, Burkhard (Hg.): Metzler Lexikon Literatur. Stuttgart: Metzler 2007, S. 250-251, S. 250. 11 Ebd., S. 251. 12 Vgl.: Ostermann, Eberhard: Der Begriff des Fragments als Leitmetapher der ästhetischen Moderne. In: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 1 (1991), S. 189-205, S. 189; sowie: Fetscher, Justus: Tendenz. Zerrissenheit, Zerfall. Stationen der Fragmentästhetik zwischen Friedrich Schlegel und Thomas Bernhard. In: Sorg, Reto / Würffel, Bodo (Hg.): Totalität und Zerfall im Kunstwerk der Moderne. München: Fink 2006, S. 1131, S. 12.

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Patrick Primavesi hält für jene dritte Form des Fragments fest, dass diese als „Manifestation eines Widerstands gegen das Prinzip des Werkes selbst“13 gelesen werden kann: „Das Fragment entzieht sich jedenfalls der Repräsentationsfunktion ganzer, vollendeter Werke, und es stört das Idealbild einer im schönen Schein versöhnten Welt.“14 Indem Primavesi selbst den Begriff des „Störens“ einbringt, tritt einmal mehr zu Tage, dass jene dritte Form des Fragments im Kontext einer Ästhetik der Störung von Bedeutung ist und immer bereits konkret in eine Richtung zielt, nämlich auf die Problematisierung und Infragestellung des seit der Renaissance vorherrschenden Werk- und AutorInnenschaftsbegriffs. Interessant scheint in diesem Zusammenhang darüber hinaus, worauf Fetscher aufmerksam macht, wenn er festhält, „dass jeder Text signalisiert, ob er sich als Teil oder als Ganzes versteht, wie seine Partialität oder Integrität zu denken und was seiner impliziten Poetik zufolge unter Werk und Fragment zu verstehen sei“, um schließlich festzustellen: „Werk heißt zunächst Nicht-Fragment, Fragment Nicht-Werk“15. Noch radikaler formuliert Eberhard Ostermann für das Verhältnis von Ganzheit und Fragment: „Solange sich mit dem Begriff der Struktur die Vorstellung einer wie immer auch begründeten Totalität und Interdependenz verbindet, wird das Fragmentarische als Unvollständigkeit der Struktur thematisiert und bleibt in Hinsicht auf die Idee einer strukturellen Vollständigkeit, Gesamtheit oder Ganzheit ein sekundäres ästhetisches Phänomen.“16 Für das Sekundärdrama stellt sich anschließend an diese Überlegung die Frage, ob die Bestimmung der Sekundärdramen als Begleitdramen durch die Autorin und ihr insistieren auf deren Abhängigkeit und Uneigenständigkeit, wodurch die Texte bewusst als Teil eines Ganzen begriffen werden, darauf abzielen, das Denken der Ganzheit offenzulegen und dominante Werk- und AutorInnenschaftsbegriffe, die diesem Denken verhaftet sind, zu diskutieren und zu problematisieren. Wenn Gerald Siegmund in seinem Vorwort zum Sammelband Theater des Fragments zusammenfassend festhält: „Einen Vorgang fragmentieren heißt, ihn zu öffnen, ihn wiederzueröffnen, um ihn fortzuschreiben, zu verändern, heißt,

13 Primavesi, Patrick: Tragödie, Fragment, Theater. In: Bierl, Anton u.a. (Hg.): Theater des Fragments. Performative Strategien im Theater zwischen Antike und Postmoderne. Bielefeld: transcript 2009, S. 147-164, S. 147. 14 Ebd., S. 147. 15 Fetscher, Justus: Tendenz. Zerrissenheit, Zerfall. Stationen der Fragmentästhetik zwischen Friedrich Schlegel und Thomas Bernhard, S. 12. 16 Ostermann, Eberhard: Das Fragment. Geschichte einer ästhetischen Idee. München: Fink 1991, S. 193.

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über das gemeinsame Produzieren ungeahnte Beziehungen herzustellen zwischen Darstellern, dem Publikum und deren Ideen, Bildern, Worten“17, dann ist damit ein wichtiger Kern benannt, der auch auf das Sekundärdrama zutrifft. Siegmunds Definition des Fragments baut auf Jean-Luc Nancys Beitrag Die Kunst – ein Fragment auf, in dem Nancy zwischen zwei Typen des Fragments unterscheidet,18 wobei Siegmund sich am zweiten Typus orientiert. Anders als der erste Typus, der das Fragmentarische zum eigenständigen, geschlossenen Kunstwerk erklärt, hält Nancy für den zweiten Typus fest, dass dieser seinen Prozess- und Ereignischarakter ausstellt, was schließlich dazu führt, dass sich „weder ‚Welt‘ noch ‚Sinn‘, noch ‚Subjekt‘ einer gegebenen, vollendeten, ‚abgeschlossenen‘ Präsenz zuordnen [lassen].“19 Nancys Unterscheidung zielt allgemein auf die Exemplifikation zweier konträrer Kunstauffassungen ab. Wie Siegmund festhält, kann dem ersten Typus das bürgerliche bzw. klassische Drama zugerechnet werden, da Kunst hier mit Schöpfung und Absolutheit gleichgesetzt wird. Drama, auch wenn es nur einen Ausschnitt präsentiert, steht doch immer für das Ganze, wohingegen prädramatische als auch postdramatische Formen, wie sie Lehmann beschreibt,20 auf ein Aufbrechen dieser Geschlossenheit der Repräsentation abzielen und somit unter dem zweiten Typus subsumiert werden können.21 Auch Primavesi greift Nancys Unterscheidung der zwei Fragmenttypen auf und betont anschließend an den ersten Typus den verdeckten Zusammenhang von Vollendung und Gewalt, der für die Analyse des Sekundärdramas einen wichtigen Reflexionspunkt darstellt. Denn, wie Primavesi aufbauend auf Benjamins These, das Werk sei die „Totenmaske der Konzeption“22, ausführt, sind die so klassifizierten geschlossenen und vollendeten Dramentexte dahingehend als

17 Siegmund, Gerald: Diskurs und Fragment. Für ein Theater der Auseinandersetzung. In: Bierl, Anton u.a. (Hg.): Theater des Fragments. Performative Strategien im Theater zwischen Antike und Postmoderne. Bielefeld: transcript 2009, S. 11-17, S. 11. 18 Vgl.: Nancy, Jean-Luc: Die Kunst – ein Fragment. In: Dubost, Jean-Pierre (Hg.): Bildstörung. Gedanken zu einer Ethik der Wahrnehmung. Leipzig: Reclam 1994, S. 170-184, S. 171-172. 19 Ebd., S. 171. 20 Vgl.: Lehmann, Hans-Thies: Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie. Stuttgart: Metzler 1991, S. 2. 21 Vgl.: Siegmund, Gerald: Diskurs und Fragment. Für ein Theater der Auseinandersetzung, S. 12. 22 Benjamin, Walter: Einbahnstraße. zit. n.: Primavesi, Patrick: Tragödie, Fragment, Theater, S. 152.

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Fragmente zu begreifen, als sie aufgrund des Bestrebens nach Erfüllung eben dieses Kunstverständnisses der Geschlossenheit dazu angehalten sind, wegzustreichen, zu verkürzen und auszulassen: „[…] gerade die Funktion des Autors ist geprägt von einer Gewalt des Abhackens und Weglassens, kurz: einer Fragmentierung, die das Werk seiner anfänglichen Entfaltung und disparaten Möglichkeiten berauben muss, um es ‚rund‘ zu machen.“23 Anschließend an diese These lassen sich in Hinblick auf das Sekundärdrama Fragen formulieren, die das Sichtbarmachen dieser den Texten inhärenten Gewalt, des gewaltsamen Ausschlusses (der Frau) und damit der Durchsetzung patriarchaler Machtstrukturen betreffen, es lässt sich aber auch fragen, wie diese Öffnung im Kontext des Sekundärdramas auf formaler Ebene zu denken ist und mit welchen ästhetischen Mitteln die (Wieder-)Einschreibung weggelassener Textteile, Themen und Motive erreicht wird. Die Öffnung steht somit im Zentrum der Wirkungsweise des Fragmentarischen, das nicht nur eine Alternative zu einem Kunstverständnis formuliert, das auf Originalität, starker AutorInnenschaft und Authentizität aufbaut, und dieses infrage stellt, sondern das auch zur Markierung des dadurch Ausgesparten und Verdrängten beitragen kann. Das Aufbrechen und Öffnen der Systeme durch das Fragment ermöglicht es, Leerstellen sichtbar zu machen bzw. zu erzeugen, in die neue Inhalte eindringen können, die neu besetzt werden können und wodurch bestehende Systeme befragt oder schließlich gänzlich neu aufgeladen werden können. Dieses Potential zur Innovation wird auch von Primavesi betont, der hinsichtlich des Fragmentarischen festhält, dass es immer auch darauf abzielt, „andere Formen von Theater zu erfinden.“24 Eine weitere zentrale Ebene der Wirkungsweise des Fragments, die untrennbar mit der Öffnung verbunden zu sein scheint, ist die Ausstellung des sich vollziehenden Bruchs bzw. der Bruchstelle. „Fragment“, das sich vom lateinischen Wort „frangere“ (= „brechen“) ableitet, also ursprünglich für Bruchstück bzw. „abgebrochener Splitter“ steht, verweist immer bereits auf Reste und Überreste, die sichtbar bleiben und die sich nicht zu einem Ganzen fügen wollen. Siegmund bemerkt diesbezüglich, dass dem Fragment, indem es nie gänzlich im Diskurs aufgehen kann, das Potential innewohnt, „etablierte Diskurszusammenhänge zu stören“25 und so längerfristig Irritationen zu erzeugen. In diesem Sinne beschreibt er das Fragment als etwas, „das wir nicht zu Ende wissen können, weil

23 Primavesi, Patrick: Tragödie, Fragment, Theater, S. 152. 24 Ebd., S. 151. 25 Siegmund, Gerald: Diskurs und Fragment. Für ein Theater der Auseinandersetzung, S. 12.

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es nicht vollständig ist, etwas das bleibt, obwohl oder gerade weil es nicht aufgehen will im Diskurs, das hartnäckig stört.“26 Interessant scheint in diesem Kontext auch ein Verweis auf Sigmund Freud. Wie Samuel Weber herausarbeitet, beschreibt Freud als das Störendste, was „ursprünglich zusammengehört hat“ und „auseinandergerissen wurde“27. Freud meint damit jedoch nicht, dass durch das Auseinanderreißen einer ursprünglichen Einheit Störung entsteht, sondern er sieht im ursprünglich Zusammengehörenden jene Störung angelegt. Das Zusammengehörende ist immer bereits ambivalent, ist „zugleich Einheit und Trennung“28. Die Störung entstehe in der möglichen Wiederkehr dieser Einheit, des Zugleich. Wenn das Sekundärdrama die Kombination mit dem Primärdrama fordert, stellt es eben jene Frage nach Zusammengehörigkeit aus. Einerseits eine neue Einheit stiftend bzw. in der Begriffswahl suggerierend, dass beide Texte eigentlich ein Zusammengehörendes bilden, reißt es gleichsam auseinander, fragmentiert das Primärdrama und bricht hier wiederum die „ursprüngliche“ Einheit auf. Damit lässt es die von Freud beschriebene Ambivalenz deutlich hervortreten, macht sichtbar, dass jede vermeintliche Einheit zugleich auch Trennung ist. Brechung bzw. Unterbrechung ist auch im Kontext des postdramatischen Paradigmas zentral, von dem Koch und Nanz in ihrer Beschreibung einer Ästhetik der Störung ausgehen. Lehmann versteht unter Unterbrechung in Anlehnung an Derrida ein „Auseinanderbrechen der Gegenwart“29, das ein Hörbarmachen anderer, fremder Stimmen im Theater ermöglicht, „die kein Gehör und in der politischen Ordnung keine Repräsentation finden.“30 Mit Derrida hält Lehmann fest, dass sich ein solches Theater nicht der Repräsentation verpflichten darf, sondern „die Form, die Zeit und den Raum des theatralischen Ereignisses veränder[n]“31 muss. Diese Betonung der Veränderung – die als solches keinen radikalen Bruch meint, sondern die sich in langsamen und dauerhaften Verschiebungen vollziehen kann – trifft sich mit dem, was für die Störung anhand der erwähnten Ansätze zur Figur des Dritten herausgearbeitet werden konnte und verweist auf das konstruktive Potential der Störung. Lehmann geht mit Julia Kristeva von einem Begriff des Politischen aus, der bereits in der Antike zu finden ist, und zwar gilt

26 Ebd., S. 11. 27 Freud, Sigmund zit. n.: Weber, Samuel: Medium als Störung: Theater und Sprache bei Kierkegard und Benjamin. In: MLN 3/2005, S. 590-603, S. 592. 28 Ebd., S. 592. 29 Derrida, Jacques zit. n.: Lehmann, Hans-Thies: Das Politische Schreiben, S. 14. 30 Lehmann, Hans-Thies: Das Politische Schreiben, S. 14. 31 Derrida, Jacques zit. n.: Ebd., S. 14.

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laut seiner Definition das als politisch, was „ein gemeinsames Maß gibt, eine Regel, die Gemeinsamkeit konstituiert, ein Regelfeld für potentiellen Konsens.“32 Daran anschließend hält er fest, dass politisches Theater somit nur die Unterbrechung dieser Regelhaftigkeit bedeuten kann: „Nur die Ausnahme, die Unterbrechung des Regelhaften gibt die Regel zu sehen und verleiht ihr wieder, wenn auch indirekt, den in der fortdauernden Pragmatik ihrer Anwendung vergessenen Charakter radikaler Fragwürdigkeit [...].“33 Auch hier wird konkret für das Fragmentarische bzw. die Unterbrechung konstatiert, was allgemein für Störungen festgehalten wurde, nämlich das Potential zur Sichtbarmachung des Mediums selbst bzw. der unsichtbaren Materialität, Struktur und Regel. Lehmann betont – wie Stillmark für die Ästhetik der Störung – die besondere Rolle der ZuschauerInnen, da Unterbrechungen auf eine Veränderung der Wahrnehmungsgewohnheiten ihrer RezipientInnen abzielen: „Insofern nimmt nur ein solches Theater eine genuine Beziehung zum Politischen auf, das nicht irgendeine Regel erschüttert, sondern die eigene, nur ein Theater, das das Theater als Schaustellung unterbricht. Indem Theater Situationen herstellt, in denen die trügerische Unschuld des Zuschauens gestört, gebrochen, fraglich gemacht wird.“34 Diese Veränderung, die Lehmann ausschließlich durch die Selbstreflexivität des Theaters bzw. Dramas erfüllt sieht, soll bewirken, dass „das, was in aller Regel die Ausnahme bleibt“, also „das Liegengelassene, das Unaufgehobene, das, was nicht aufgeht und darum einen Anspruch darstellt“35, von den Rändern ins Zentrum rückt. Koch und Nanz sehen ausgehend von Lehmanns Ansatz in der Unterbrechung der zeitlichen Kontinuität eine Spielart der Ästhetik der Störung.36 Diese Form des Anders-Denkens eines zeitlichen Kontinuums, die sich einer linearen Darstellung widersetzt, trifft sich mit Walter Benjamins Denken des Fragments als ein alternatives Geschichtsmodell.37 Dieses Aufbrechen einer Kontinuität wird von Lehmann besonders in seiner Studie Postdramatisches Theater betont, in der er das Fragmentarische in die Nähe des Traums rückt und damit die Erzeugung einer non-hierarchischen Struktur und das Präferieren eines antilinearen

32 Lehmann, Hans-Thies: Das Politische Schreiben, S. 17. 33 Ebd., S. 17. 34 Ebd., S. 19. 35 Ebd., S. 19. 36 Vgl.: Koch, Lars / Nanz, Tobias: Ästhetische Experimente. Zur Ereignishaftigkeit und Funktion von Störungen in den Künsten, S. 106. 37 Vgl.: Siegmund, Gerald: Diskurs und Fragment. Für ein Theater der Auseinandersetzung, S. 13.

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Ablaufs mit jener Ästhetik in Zusammenhang bringt.38 Bezogen auf Jelineks Theatertexte kann festgehalten werden, dass das Ausstellen des Fragmentarischen eine besondere Funktion einnimmt und eng verbunden ist mit der Problematisierung eines Denkens der teleologischen Abfolge von Zeit: In Jelineks Theatertexten werden Stimmen des Erinnerns, des kulturellen Gedächtnisses hörbar. Diese Stimmen geben jedoch keine geschlossenen, linearen Erzählungen wieder, sondern es sind Fragmente von Erinnerungen, die abbrechen, ins Leere führen, nicht vom Fleck kommen, um eine Leerstelle kreisen. Damit wird deutlich, dass das, was war, nicht erinnert werden kann, sich entzieht. Es ist die Brüchigkeit des Erinnerns, es sind die Lücken bzw. Leerstellen subjektiver und kollektiver Narrative, die in Jelineks Texten ausgestellt werden.39

Wenn dieses Nicht-Erinnern-Können bzw. das Falsch-Erinnern auf das Verdrängte und Nicht-Repräsentierte des gesellschaftlichen Gedächtnisses verweist, dient das Fragmentarische in Jelineks Texten der Sichtbarmachung und Problematisierung dieses Ausschlusses. Das Fragmentarische ist somit in Jelineks Theatertexten ein Mittel, um die Leere sichtbar zu machen und um im Sinne Foucaults ein Gegen-Gedächtnis möglich zu machen.40 Franziska Schößler, die die Unterbrechung als eine liminale Strategie in die Nähe der filmischen Montage rückt, unterstreicht ebenfalls, dass dadurch ein Ausbrechen aus einer linearen Kausalität erfolgt, was schließlich bei den RezipientInnen einen Schock erzeugt und damit Möglichkeiten zur Veränderung eröffnet.41 Der hier verwendete Begriff des Schocks ist dahingehend für diese Studie interessant, als er durch das Potential zum Überdenken unhinterfragter Normen und zur Veränderungen des Systems in die Nähe der Störung rückt, eventuell als Sonderform der Störung betrachtet werden kann. Da der Schock jedoch auf eine

38 Vgl.: Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, S. 142-143. 39 Kovacs, Teresa / Meister, Monika: Fläche und Tiefenstruktur. Die leere Mitte von Geschichte in Jelineks Rechnitz (Der Würgeengel) und Winterreise. In: Janke, Pia / Kovacs, Teresa (Hg.): „Postdramatik“. Reflexion und Revision. Wien: Praesens Verlag 2015 (= DISKURSE.KONTEXTE.IMPULSE. Publikationen des Elfriede JelinekForschungszentrums 11), S. 119-129, S. 121. 40 Vgl.: Ebd., S. 122. 41 Vgl.: Schößler, Franziska: Rekombination und Unterbrechung. Überlegungen zu einer Theorie theatraler Liminalität. In: Geisenhanslüke, Achim / Mein, Georg (Hg.): Schriftkultur und Schwellenkunde. Bielefeld: transcript 2008 (= Literalität und Liminalität 1), S. 163-183, S. 177-178.

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kurzfristige Erschütterung abzielt,42 nicht aber die längerfristigen und andauernden (minimalen) Verschiebungen, wie es für die Störung konstitutiv ist, begrifflich abbilden kann, muss er dennoch in weiterer Folge unberücksichtigt bleiben. Nichtsdestotrotz scheint relevant, dass Schößler in Anlehnung an Brecht und Benjamin v.a. im Durchbrechen einer linearen Zeitlichkeit das Potential zur Schockerzeugung erfüllt sieht. Diese Alinearität kann, Schößler folgend, entweder durch extreme Verlangsamung oder durch Beschleunigung erzeugt werden, die sich im extremsten Fall durch Simultaneität äußert, in der das Kriterium der Verständlichkeit unerfüllt bleibt.43 Schößler hält für die Unterbrechung am Theater fest: „Der Schock, die Unterbrechung suspendiert Kontinuität, die die Alltagspraktiken beglaubigt und der Erkennbarkeit entzieht, sie zudem der Unumkehrbarkeit ausliefert. Die Unterbrechung zerlegt das gestische Kontinuum in erkennbare Haltungen, generiert distinkte Zeichen, die in ihren gesellschaftlichen Kontexten untersucht werden können.“44 Durch die Rekombination dieses „zerlegten“ Kontinuums bzw. der unterbrochenen Systeme – die auf intertextuelle Verfahren und auf den Aspekt der Ambivalenz, Dialogizität und Polyphonie verweisen – entsteht ein liminaler Raum, in dem als natürlich empfundene Einheiten neu sichtbar und verhandelbar werden. Wie im Kontext der Figur der Dritten bereits ausgeführt, können in diesem Schwellenraum, wie Schößler konstatiert, „die geläufigen, Wirklichkeit generierenden binären Oppositionen von Subjekt und Objekt, Phantasie und Wirklichkeit, Ich und Nicht-Ich sowie die Einheit von Körper und Sprache“45 aufgehoben werden bzw. nicht aufgehoben, sondern thematisiert und problematisiert werden, indem sie in Resten immer vorhanden bleiben (müssen). Auf dieses Potential der Unterbrechung, zur (Neu-)Verhandlung binärer Strukturen anzuregen, verweist bereits Walter Benjamin, der in seinem Passagen-Werk ausführt: Zum Denken gehört ebenso die Bewegung wie das Stillstellen der Gedanken. Wo das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation zum Stillstand kommt, da erscheint das dialektische Bild. Es ist die Zäsur in der Denkbewegung. Ihre Stelle ist natür-

42 Vgl. bezüglich einer Definition des „Schocks“: Ervedosa, Clara: „Vor den Kopf stoßen“. Das Komische als Schock im Werk Thomas Bernhards. Bielefeld: Aisthesis 2008. 43 Vgl.: Schößler, Franziska: Rekombination und Unterbrechung. Überlegungen zu einer Theorie theatraler Liminalität, S. 179-180. 44 Ebd., S. 180. 45 Ebd., S. 180.

86 | D RAMA ALS S TÖRUNG lich keine beliebige. Sie ist, mit einem Wort, da zu suchen, wo die Spannung zwischen den dialektischen Gegensätzen am größten ist.46

Das erinnert wiederum an jenes Charakteristikum, das Serres als grundlegend für den Parasiten beschreibt: das Festsetzen an bestimmten Schnittpunkten, um dort eine Unterbrechung zu erzeugen und schließlich das Vorhandene neu aufzuladen. Serres verbindet den Parasiten anschließend daran mit Expansion, mit Wucherung und auch hier, folgt man Nancy, trifft sich die Theorie der Störung mit der Fragmentierung und Unterbrechung. Nancy, der die Unterbrechung durch das Fragment und die damit entstehenden Möglichkeiten des Sagens als Lustempfindung beschreibt, hält fest: Lustempfindungen haben keine andere Zielrichtung und bahnen keinen anderen Weg als die Suspendierung signifikanter Ordnungen und symbolischer Strukturen. Die Unterbrechung, die diese Ordnungen suspendiert und überrascht, hat keine Sinnentleerung zur Folge, sondern ein Zuviel und ein Zuwenig an Sinn – also einen „abwesenden Sinn“ oder den Einbruch des Sinnes, der ursprünglicher und verborgener ist als jede Bedeutung.47

Dieses Zuviel und Zuwenig an Sinn, das Nancy hier hervorhebt, ist bedeutend für die Reflexion der Funktion einer Ästhetik der Störung und korreliert mit allgemeineren Ansätzen zu einer Theorie der Störung, die dieses Paradox als grundlegend für jede Störung begreifen. Die eindeutige Nähe des Fragmentarischen zur Krise und schließlich zur Störung belegt etwa Primavesi mit Maurice Blanchot, der in seinem Werk Die Schrift des Desasters die Katastrophe untrennbar mit dem Denken des Fragmentarischen verbindet: „Von diesem Extrem her wäre das Potential des Fragmentarischen zu bestimmen als das einer Störung, die sich jeder ästhetischen oder auch moralischen Totalität verweigert.“48 Dieser Konnex von Fragmentarischem und Störung, der in der Verweigerung von Ganzheit, Geschlossenheit bzw. der Totalität besteht, wird von Koch am Beispiel von Schlingensiefs Theaterarbeiten exemplifiziert. Er hält fest, dass durch die Erzeugung sowohl semantischer, narrativer als auch ästhetischer Brüche bewusst Störungen produziert werden, was zur Etablierung eines neuen Denkens von Kunst führt, nämlich einer Kunst, „die sich nicht mit geglätteten Bedeutungen zufrieden gibt, die alle Formen der

46 Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. Bd. 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983 (= Edition Suhrkamp 1200), S. 595. 47 Nancy, Jean-Luc: Die Kunst – Ein Fragment, S. 180. 48 Primavesi, Patrick: Tragödie, Fragment, Theater, S. 148.

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Schließung – der Welt, des Subjekts, des Sinns – angreift und demgegenüber den Charakter der Vorläufigkeit und Offenheit der Kunst und des Lebens betont.“49 Da Störung immer auch Unterbrechung bzw. ein Dazwischen-Treten bedeutet, das auf Seiten der RezipientInnen ein „Stolpern“ der Wahrnehmung evoziert bzw. Brüche und Zäsuren in geschlossene Systeme einbaut, scheint das Fragmentarische bzw. die Fragmentierung ein zentraler Aspekt jeder Ästhetik der Störung zu sein. Relevant in Hinblick auf das Sekundärdrama ist, dass das Fragmentarische, verstanden als Bruchstück bzw. Rest, auf intertextuelle Formen verweist und so wichtige Reflexionspunkte allgemein für die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Tradition und Gegenwart bietet. Konkret für diese Studie erlaubt das Fragmentarische, nach den Resten des Dramatischen in nicht-mehr-dramatischen Theatertexten bzw. nach den vorhandenen Splittern des Nicht-mehr-Dramatischen im Dramatischen zu fragen, die durch die spezielle Form der Kombination von Primär- und Sekundärdrama sichtbar werden. Drüber hinaus ist zu reflektieren, wie das fragmentarische Dazwischen-Treten durch das Konzept zu einem unauflösbaren Miteinander wird und damit Unterbrechung und Herstellung von Zusammengehörendem ein unauflösbares Verhältnis eingehen. Das Fragmentarische bietet darüber hinaus wichtige Anknüpfungspunkte, um das grundsätzliche Verhältnis von Primär- und Sekundärdrama näher zu bestimmen, das sich so eventuell als eines der gegenseitigen Öffnung und Fragmentierung beschreiben lässt, um schließlich die Leerstellen der Texte genauer zu betrachten sowie nachzuvollziehen, gegen welches Kunstverständnis die Sekundärdramen opponieren.

U MKEHRUNG

UND

N ON -H IERARCHIE

Ein zweiter zentraler Aspekt der Ästhetik der Störung ist die Umkehrung gegebener Ordnungen bzw. die Auflösung fixierter Kategorien und die Erzeugung einer non-hierarchischen Struktur. Ansätze dazu finden sich für die literaturwissenschaftliche Analyse v.a. bei Michail Bachtin und seiner Theorie einer karnevalesken Literatur. Im theaterwissenschaftlichen Diskurs wird die Umkehrung vornehmlich im Kontext des Dionysoskultes und dem damit verbundenen Denken des Orgiastischen bzw. mit Verweis auf das Dionysische-Prinzip bei Nietzsche diskutiert.

49 Koch, Lars: Christoph Schlingensiefs Bildstörungsmaschine, S. 116.

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Bachtin schreibt in seiner Romantheorie, die er an Dostoevskijs erzählender Dichtung entwickelt, dem Karnevalesken die Möglichkeit der Umkehrung bzw. Aufhebung binärer Oppositionen zu. Der Karneval markiert bei ihm dabei eine zeitlich begrenzte Phase, in der die Welt „umgestülpt“ werden kann, Oben und Unten die Plätze tauschen: „Das karnevalistische Leben ist ein Leben, das aus seinem gewöhnlichen Gleis geraten ist, in gewisser Weise ein ‚verkehrtes Leben‘, ‚eine auf den Kopf gestellte Welt‘ (‚monde à l’envers‘).“50 Für die Zeit des Karnevals wird es somit möglich, hierarchische Ordnungen außer Kraft zu setzen und vorhandene Gegebenheiten, Strukturen, Systeme etc. neu zu verhandeln: „[…] im Spiel der karnevalesken Verkehrung der offiziellen die Ahnung einer anderen Welt, in welcher Antihierarchie, Relativität der Werte, Infragestellung der Autoritäten, Offenheit, fröhliche Anarchie, Verspottung aller Dogmen Geltung haben, wo der Synkretismus, die Vielzahl der Perspektiven zugelassen sind.“51 Eng mit der karnevalesken Umkehrung verbunden ist somit das Prinzip der Subversion, das den „Umsturz“ bestehender Ordnungen meint und auf die Infragestellung von Herrschaft abzielt, wobei konkret im poststrukturalistischen Diskurs Subversion als Dekonstruktion zentraler, abendländischer Kategorien der Geistesgeschichte verstanden wird, wie etwa der Kategorien „Geschichte“, „Identität“ und „Wahrheit“.52 Die von Bachtin eingeführte Kategorie des Karnevals lässt sich gut mit allgemeinen Theorien der Störung verbinden. Zentral betrifft sie eine bestimmte Eigenschaft, die im Kontext der Figur des Dritten angesprochen wurde, nämlich das Changieren zwischen binären Oppositionen und die damit verbundene Erzeugung eines Zwischenraums, in dem diese Oppositionen infrage gestellt werden können, da ein neuer Blick darauf möglich wird. Anders als beim Karneval tritt diese Infragestellung im Kontext der Störung jedoch nicht zeitlich begrenzt auf, da das Dritte nicht als klar abgegrenzter Ausnahmezustand zu verstehen ist, der den „Normalzustand“ lediglich unterbricht. Im Kontext der Störung kommt es daher weniger zu einer punktuellen Entladung, auf die die sofortige Wiederherstellung der Ordnung folgt, wie es beim Karneval der Fall ist, sondern das Funktionsprinzip der Umkehrung ist hier als ein länger andauerndes, teilweise nahezu unbemerktes Einwirken auf ein System zu verstehen, das dazu führt, dass

50 Bachtin, Michail: Probleme der Poetik Dostoevskijs. München: Hanser 1971, S. 137. 51 Lachmann, Renate: Gedächtnis und Literatur. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 225. 52 Vgl.: Ernst, Thomas: Subversion – Eine kleine Diskursanalyse eines vielfältigen Begriffs. In: Psychologie & Gesellschaftskritik 4/2008, S. 9-34, S. 19 und S. 27.

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sich mit der Störung verbundene neue Ordnungen langsam in das gegebene System einschreiben und so langfristig Veränderungen hervorrufen. Neben der Anti-Hierarchie und dem Chaotischen ist für die Beschreibung des Sekundärdramas die von Lachmann für Bachtins Karnevalkonzept nachgewiesene Verbindung des Karnevalesken mit dem Synkretismus von Interesse. Lachmann geht in ihrer Studie Literatur und Gedächtnis von der Begriffsopposition Synkretismus und Stil aus, für die sie festhält: [...] Stil [läßt sich] in bezug auf Gattung, Sprache und Kultur als ein Ensemble von Strategien des Ausschlusses und der Homogenisierung, zugleich aber auch als Interpretationsmodell betrachten, das die genannten Bereiche zu totalisieren versucht. Synkretismus hingegen erscheint als detotalisierende, im Betreten der vom Ausschluß betroffenen Gebiete und in der Überschreitung der Homogenisierungsgrenzen sich gegen den Stil richtende Einstellung.53

Lachmann unterstreicht damit – vergleichbar der Gegenüberstellung der zwei Fragmenttypen bei Nancy – den Zusammenhang von geschlossenem Kunstwerk und Totalität, Auslassung und (gewaltsamem) Ausschluss, wohingegen sie dem Synkretismus das Potential zur Öffnung zuschreibt. Weiter hält sie für den Synkretismus fest: „Er wurde zum Terminus für ein Konzept, das Grenzüberschreitungen, kulturelle Mixturen, Heterogenisierung also und Dehierarchisierung meint.“54, wobei Lachmann dezidiert betont, dass damit nie das Gleichmachen des Verschiedenen gemeint sein kann, sondern die Verschiedenheiten erkennbar bleiben müssen. Synkretismus meint somit das bewusste Ausstellen der Differenz und die Durchsetzung von Heterogenität sowie die zur-Schau-Stellung semantischer Ablagerungen und somit die Offenlegung der Text-Schichtungen.55 Folgt man Lachmann, scheinen intertextuelle Verfahren untrennbar mit der Kategorie der Umkehrung verbunden, was es erlaubt, eben jenen Mischverfahren und Grenzüberschreitungen in Jelineks Sekundärdrama, das auf mehreren Ebenen intertextuell arbeitet, nachzugehen und diese als intentional eingesetzte Elemente zur Erzeugung von Störungen auszuweisen. Denn, wie Lachmann selbst betont, weist die Übernahme bestimmter Elemente und damit manifester Strukturen in Texten großes Störpotential auf.56 Darüber hinaus werden damit Verfahren der Pluralisierung und Addition benannt, womit deutlich wird, dass es

53 Lachmann, Renate: Gedächtnis und Literatur, S. 200. 54 Ebd., S. 201. 55 Vgl.: Ebd., S. 201 und S. 207. 56 Vgl.: Ebd., S. 202.

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auch bei der Umkehrung nicht um die Ersetzung und Durchstreichung des Vorhandenen geht, sondern um das Sichtbarbleiben von Resten und Bruchstücken. Die Literaturwissenschaftlerin Clara Ervedosa verweist ebenfalls auf diesen Zusammenhang von Umkehrung und Pluralisierung, sie hält für die Funktion der Umkehrung in literarischen Werken fest: [D]iese Literatur lässt sich nicht auf ein semantisches Zentrum zurückführen oder auf einen Punkt bringen, sondern tendiert dazu, auf Sinnebenen zu verweisen. Der Rückschluss auf einen eindeutigen Inhalt wird verweigert und die Möglichkeit offen gelassen, das Andere in einem kontinuierlichen Prozess zu integrieren. Dies bedeutet, dass das Offizielle permanent umgestülpt wird, ohne das [sic] damit eine andere Wahrheit an ihre Stelle tritt.57

Ervedosa geht an dieser Stelle mit der Betonung der Umkehrung bzw. Verkehrung von Bedeutung und Sinnstiftung auf jene Vervielfältigung ein, die als konstitutiv für eine Ästhetik der Störung erachtet werden kann. Im Changieren zwischen binären Oppositionen und im Aufbrechen, Besetzen und schließlich Verschieben und Verändern vorhandener Muster entstehen unendliche Wucherungen, Verwirrung, Unordnung und Chaos, wie es Serres für den Parasiten beschrieben hat, wie es aber auch im Begriff der Störung selbst in seiner Bedeutung des Rauschens anklingt. Mit Bachtins Karneval-Begriff ist somit nicht nur ein literaturwissenschaftlicher Terminus gefunden, der für die Störung konstitutive Charakteristika wie die Herstellung einer Beziehung bzw. eines Verhältnisses zwischen einzelnen Kategorien und binären Begriffspaaren, das Festsetzen an Schnittstellen und damit die Umdeutung und Veränderung gegebener Diskurse sowie die Ersetzung des Entweder-Oder durch ein Sowohl-als-auch bzw. Weder-Noch zu fassen vermag, sondern der darüber hinaus an die Etymologie der Störung erinnert, indem mit dem Karneval das Ungestüme, die Trunkenheit und der Rausch als konstitutiv für die Funktionsweise jener Literatur begriffen werden. Da Bachtin das Karnevaleske ausschließlich in der erzählenden Dichtung realisiert sieht und andere Gattungen in seinen Überlegungen konsequent ausschließt, scheinen für die Auseinandersetzung mit Jelineks Sekundärdramen Ansätze zur Umkehrung relevant, wie sie im Kontext des Dionysoskults und des mit diesem untrennbar verbundenen Prinzip des Orgiastischen bzw. Dionysischen diskutiert werden, um Bachtins Überlegungen durch einen genuin thea-

57 Ervedosa, Clara: „Vor den Kopf stoßen“. Das Komische als Schock im Werk Thomas Bernhards, S. 110.

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terwissenschaftlichen Diskurs zu ergänzen. Darüber hinaus bietet sich die Miteinbeziehung des Dionysischen im Kontext der Umkehrung auch deshalb an, da Jelineks Theatertexte selbst dominant Bezug zur griechischen Tragödie herstellen und dezidiert auf jenes orgiastische, überschreitende Prinzip verweisen. Am deutlichsten zeigt sich dies am Theatertext Rechnitz (Der Würgeengel), der Euripides’ Die Bakchen als zentralen Intertext heranzieht. Dem mit der Entwicklung der Tragödie eng verbundenen Dionysoskult, dem Mänaden, Satyrn und wilde Tiere zugehören, die Dionysos beim Umzug begleiten, ist – und hier trifft sich der Dionysoskult mit Bachtins Karneval-Begriff – die Aufhebung gesellschaftlicher Unterschiede immanent. So werden, wie Monika Meister präzisiert, für die Dauer des Kultes familiäre und soziale Hierarchien außer Kraft gesetzt bzw. umgekehrt.58 Franziska Schößler unterstreicht explizit die Nähe von Dionysoskult und Karneval. Sie beschreibt den Dionysoskult als liminales Phänomen und bringt mit Verweis auf Victor Turner den Begriff der „Anti-Struktur“ ein, um das Weder-Noch begrifflich zu fassen, das mit der erzeugten Liminalität einhergeht.59 Der Dionysoskult kann als Fest der Lebenden und der Toten verstanden werden, wobei auch hier für die Zeit des Festes die Grenzen durchlässig werden, Lebendes und Totes, d.h. aber auch Gegenwärtiges und Vergangenes, nicht klar voneinander zu unterscheiden sind, sondern die Seiten tauschen und damit Verunsicherungen erzeugen.60 Diese Verunsicherung von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem bildet hinsichtlich Jelineks intertextuellem Schreibverfahren und des spezifischen Verhältnisses des Sekundärdramas zur Dramentradition bzw. in Hinblick auf die Infragestellung von Original und Kopie ein wichtiges Reflexionsmoment, es wer-

58 Vgl.: Meister, Monika: Jelineks Botenbericht und das Orgiastische. Anmerkungen zum Text Rechnitz (Der Würgeengel). In: Janke, Pia / Kovacs, Teresa / Schenkermayr, Christian (Hg.): „Die endlose Unschuldigkeit“. Elfriede Jelineks „Rechnitz (Der Würgeengel)“. Wien: Praesens Verlag 2010 (= DISKURSE.KONTEXTE.IMPULSE. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums 6), S. 278-288, S. 286. 59 Vgl.: Schößler, Franziska: Rekombination und Unterbrechung. Überlegungen zu einer Theorie theatraler Liminalität, S. 164-169. 60 Vgl.: Kovacs, Teresa: „Nimm hin und iß mein Fleisch“. Zum Kannibalismusmotiv im Epilog von Elfriede Jelineks Rechnitz (Der Würgeengel). In: Janke, Pia / Kovacs, Teresa / Schenkermayr, Christian (Hg.): „Die endlose Unschuldigkeit“. Elfriede Jelineks „Rechnitz (Der Würgeengel)“. Wien: Praesens Verlag 2010 (= DISKURSE.KONTEXTE.IMPULSE. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums 6), S. 289-309, S. 296.

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den aber auch strukturelle und inhaltliche Strategien der Sekundärdramen dadurch nachvollziehbar. Das Dionysische ist, ebenso wie das Karnevaleske, im Kontext des Festes zu verorten, impliziert somit das Orgiastische, die Trunkenheit, den Rausch, und bietet damit ebenfalls wichtige Anknüpfungspunkte zu Theorien der Störung. Neben der Nähe zum Fest und zum Rausch erscheint im Kontext der Störung jedoch noch ein weiterer Aspekt relevant, nämlich die Figur des Dionysos selbst, die, wie Monika Meister konstatiert, „sich durch die Doppelung von jugendlichfeminin und männlich als auch durch den Wechsel in die Tiergestalt“61 auszeichnet. Dionysos teilt auf diese Weise wesentliche Charakteristika mit dem Trickster, dem Boten, dem Parasiten, die ebenfalls diese Uneindeutigkeit verkörpern, und kann so eventuell sogar selbst als eine Figur des Dritten bezeichnet werden. Die Ambivalenz der Dionysos-Figur wird in der Forschung immer wieder betont. Anton Bierl etwa weist in Bezug auf Dionysos auf das Changieren zwischen binären Oppositionen wie Mann / Frau, Leben / Tod, Jugend / Alter, Licht / Dunkel, Chaos / Ordnung, Krieg / Frieden, Wahrheit / Trug, Ernst / Lächerlichkeit hin, „deren Pole in seinem Umfeld dazu neigen, von einem Extrem zum anderen umzuschlagen“62. Ein weiterer spannender Aspekt ist die dem Dionysoskult immanente Gewalt, wie sie etwa in den Bakchen des Euripides künstlerisch verarbeitet wird, wo die rasende Agaue am Ende der Tragödie ihren eigenen Sohn Pentheus zerreißt. Die Zerreißung ist grundsätzlich mit dem Dionysischen verbunden, Dionysos selbst nämlich gilt in der Mythologie auch als „zerrissener Gott“, da ihn Hera zerstückeln ließ, um ihn anschließend zu verspeisen. Jene Zerreißung wird im Dionysoskult als Höhepunkt des Festes wiederholt.63 Die Zerstückelung bzw. Zerreißung stellt eine Verbindung her zum vorher beschriebenen Fragmentarischen, zum Bruchstückhaften. Im Dionysischen scheinen somit drei zentrale Aspekte der Störung – Vervielfältigung / Pluralisierung, Umkehrung und Fragmentierung – auf eigentümlich Weise miteinander verbunden zu sein. Des Weiteren ist im Kontext einer Ästhetik der Störung auch die politische Dimension von großer Relevanz, die dem Dionysoskult innewohnt, die Bierl mit der Ambivalenz von positivem Kultus und subversivem Mythos zusammen-

61 Meister, Monika: Jelineks Botenbericht und das Orgiastische. Anmerkungen zum Text Rechnitz (Der Würgeengel), S. 286. 62 Bierl, Anton F. Harald: Dionysos und die griechische Tragödie. Tübingen: Narr 1991 (= Classica Monacensia 1), S. 15. 63 Vgl.: Kovacs, Teresa: „Nimm hin und iß mein Fleisch“. Zum Kannibalismusmotiv im Epilog von Elfriede Jelineks Rechnitz (Der Würgeengel), S. 295.

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fasst,64 da sie das subversive Potential der Störung bestätigt. Darüber hinaus scheinen Lesarten interessant, die Dionysos als epidemischen Gott begreifen und die das Dionysische als Epidemie beschreiben, also vergleichbar einer Ansteckung, die die Menschen befällt,65 da damit der virale Diskurs anklingt, der mit dem Parasitären und dem Denken des Dritten in Zusammenhang steht. Marcel Detienne, der die Übertragung des griechischen epidemíai auf eine medizinische Epidemie als Fehlinterpretation zu belegen versucht, verweist darauf, dass der griechische Begriff auch das Kommen und Gehen der Götter meint, also der Theophanie zuzurechnen ist. Detienne geht davon aus, dass im Kontext von Dionysos mit epidemíai seine exponierte Stellung als „kommender Gott“ betont werden sollte, der überall ist, jedoch nirgends wirklich zugehört und daher ziellos umherschweift.66 Auch hier lässt sich wieder an das Changieren, den Status des Dazwischen denken, diesmal jedoch nicht zwingend geknüpft an binäre Strukturen. Eng verbunden mit der Wanderschaft ist darüber hinaus der Status der Fremdheit, der Dionysos zugeschrieben wird, was laut Detienne nicht nur an seiner Beziehung zu anderen, sondern auch an seiner Eigenschaft, maskiert aufzutreten, deutlich wird: „In seinen denkwürdigen Epiphanien erscheint Dionysos sowohl befremdlich wie auch fremd. Er ist dann der Fremde, der befremdet. Doch verbreitet sich diese Befremdlichkeit durch ein Verkennen oder, besser noch, Nicht-Wiedererkennen.“67 In Hinblick auf Jelineks Schreibverfahren können daran anschließend Überlegungen zur Verbindung von Maskerade bzw. Fremdsein und Intertextualität und somit zu Ambivalenz, Dialogizität und Polyphonie angestellt werden. Intertextualität bzw. das Zitieren fremder Stimmen betrifft deutlich die Betonung des Nicht-Authentischen und verweist somit auf unendliche Sprach-Masken, die nie ein dahinterliegendes Wahres preisgeben, sondern hinter denen sich immer eine neue Maske verbirgt. Die Maske spielt so auf die unzähligen Schichten und Schichtungen an, die (unsichtbar) jedem einzelnen Wort / Text zugehören, wodurch die Behauptung eines authentischen Sinns / einer authentischen Bedeutung negiert wird. Das Nicht-Wiedererkennen und die Befremdlichkeit eröffnen Assoziationen zum bewussten Falsch-Zitieren und zur Verstellung von Vorhandenem, zum „falschen Doppelgänger“, wie ihn Lachmann in Anlehnung an Quintilians „visio

64 Vgl.: Bierl, Anton F. Harald: Dionysos und die griechische Tragödie, S. 45. 65 Vgl.: Detienne, Marcel: Dionysos. Göttliche Wildheit. München: dtv 1995, S. 10-12 und S. 17. Detienne spricht auf S. 17 in Hinblick auf Dionysos sogar vom „Virus der Trance“. 66 Vgl.: Ebd., S. 12-16. 67 Ebd., S. 29.

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insana“ beschreibt: „Als Trugbild ist das Simulakrum entstellende Nachstellung: das gleiche entpuppt sich als das andere, als (falscher) Doppelgänger.“68 In Nietzsches früher Studie Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) wird das apollinische dem dionysischen Prinzip gegenübergestellt. Steht das apollinische Prinzip für die Begrenzung, Ordnung, Ausgewogenheit und das Maßhalten, verkörpert Dionysos die Ekstase, das rauschhaft Exzessive, das Chaos: „Das dionysische Prinzip zerbricht jede Form und überschreitet sämtliche Grenzen. Der dionysische Rausch eröffnet so einen Ausblick auf den Grund der Welt [...].“69 Diese Überlegungen Nietzsches bieten sich an, um in Hinblick auf das Verhältnis von Primär- und Sekundärdrama von einem Aufeinandertreffen von apollinischem und dionysischem Prinzip zu sprechen oder besser, davon auszugehen, dass durch das Sekundärdrama das Verhältnis zwischen diesen beiden Polen selbst zum Thema wird. Da das Apollinische in der Kunst für das Klare, das „Klassische im Sinne Goethes“70 steht und, wie Christian Schüle herausarbeitet, für Nietzsche selbst verbunden ist mit dem „Drang zum vollkommeneren Für-Sich-Sein, zur Individualität, zu Allem, was vereinfacht, heraushebt, stark, deutlich, unzweideutig, typisch macht“71, lässt sich dabei gleichsam an den gewaltsamen Akt des Streichens und Weglassens denken, wie ihn Primavesi mit Benjamin für das geschlossene Kunstwerk, verstanden als das Fragmentarische schlechthin, beschreibt und wogegen sich Kunstwerke richten, die das Prozessuale, Unabgeschlossene betonen. Ein Ansatz, der darüber hinaus für diese Studie relevant ist, da er Bachtins Karnevalsprinzip und Nietzsches Gegenüberstellung von apollinisch / dionysisch verbindet, ist jener von Peter Fuß.72 Fuß widmet sich dem Begriff der Groteske und arbeitet ausgehend vom Prinzip der Umkehrung deren Potential zur Destabilisierung bestehender symbolischer Ordnungen heraus. Angelehnt an Nietzsche ordnet er die Groteske dem Dionysischen zu und konstatiert, dass es dem klassisch-apollinischen Prinzip, dem er Stabilisierung, Ordnung, Linearität, Kanonisierung etc. zuschreibt, entgegensteht. Groteske bedeutet für ihn Chaos, Unordnung, Alinearität, ist also eng mit jenem Begriff der Störung verbunden. Fußʼ

68 Lachmann, Renate: Gedächtnis und Literatur, S. 29. 69 Kuba, Alexander: Apollinisch/dionysisch. In: Fischer-Lichte, Erika / Kolesch, Doris / Warstat, Matthias (Hg.): Theatertheorie. Stuttgart: Metzler 2005, S. 4-6, S. 5. 70 Schüle, Christian: Apollinisch-dionysisch. In: Ottmann, Henning (Hg.): NietzscheHandbuch. Stuttgart: Metzler 2011, S. 187-190, S. 187. 71 Ebd., S. 187-188. 72 Vgl.: Fuß, Peter: Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels. Köln: Böhlau 2001 (= Kölner Germanistische Studien, Neue Folge 1).

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Ansätze zur Groteske sind im Kontext dieser Studie auch deshalb relevant, weil sie von Inge Arteel in ihren aktuellen Beiträgen zur Texttheatralität aufgegriffen und auf Jelineks Theatertexte angewendet werden. Arteel hält für die „groteske Theatralität“ bei Jelinek fest, dass sie „Normen und Gesetze, seien es Normen des guten Geschmacks oder des moralisch Akzeptablen, seien es linguistische Gesetze, Gattungserwartungen oder Kategorien dessen, was als ‚menschlich‘ gilt“73, überschreitet, woran meine Lesart der Sekundärdramen als Störung gut anschließen kann. Speziell für Jelineks Theatertexte sieht Arteel groteske Strategien u.a. in den schwankenden Subjektpositionen der Sprechstimmen, der Suggestion von Kontextualisierung und Referenzialität bei deren gleichzeitiger Aufhebung und im Zitieren eigener und fremder Texte und damit einem nicht fixierbaren Begriff von AutorInnenschaft realisiert74 – Strategien, die auch im Kontext einer Ästhetik der Störung berücksichtigt werden müssen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das Prinzip der Umkehrung immer mit der Verkehrung von gegebenen Ordnungen und Hierarchien in Verbindung steht bzw. nicht nur das Vertauschen binärer Ordnungen meint, sondern die Auflösung der Ordnung, das Chaos und die Non-Hierarchie. Damit ist abermals ein Prinzip benannt, das Lehmann als konstitutives Strukturprinzip für Spielformen des postdramatischen Theaters beschreibt und das er in Opposition zu traditionellen Theater- bzw. Dramenformen stellt: „Diese non-hierarchische Struktur widerspricht eklatant der Tradition, die zur Vermeidung von Verwirrung und zur Herstellung von Harmonie und Verständlichkeit eine hypotaktische, die Über- und Unterordnung der Elemente regelnde Verknüpfungsweise bevorzugte.“75 Lehmann erkennt in dieser non-hierarchischen Struktur v.a. ein Mittel zum „Wechsel der Einstellung auf Seiten des Zuschauers“, der dazu gezwungen wird, „nicht sofort zu verstehen“, sondern seine „Wahrnehmung [muss] dafür offen bleiben, an völlig unerwarteten Stellen Verbindungen, Korrespondenzen und Aufschlüsse zu erwarten, die das früher Gesagte in ganz anderem Licht erscheinen lassen. So bleibt die Bedeutung prinzipiell – aufgeschoben.“76 Somit zielen Umkehrung und Non-Hierarchie ebenfalls auf eine veränderte Wahrnehmung der RezipientInnen ab, leisten also etwas, was grundsätzlich kon-

73 Arteel, Inge: Groteske Texttheatralität. Zur Jelinek-Rezeption im niederländischen Theater. In: Janke, Pia / Kovacs, Teresa (Hg.): „Postdramatik“. Reflexion und Revision. Wien: Praesens Verlag 2015 (= DISKURSE.KONTEXTE.IMPULSE. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums 11), S. 448-463, S. 456. 74 Vgl.: Ebd., S. 456. 75 Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, S. 146-147. 76 Ebd., S. 148-149.

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stitutiv für das Funktionieren des Prinzips Störung ist. Interessant scheint die Erzeugung einer Non-Hierarchie neben ihrem Potential zur Veränderung der Wahrnehmung im Kontext des Sekundärdramas auch deshalb, weil damit die Textform in eindeutigem Gegensatz zu der behaupteten hierarchisch getroffenen Unterscheidung zwischen Sekundär- und Primärdrama, Begleit- und Hauptdrama steht, was die Verwendung dieser Kategorien als ein ironisches Spiel mit eben jenen Unterscheidungen erscheinen lässt. Ähnlich wie für das Fragment gilt sowohl in Hinblick auf das Dionysische als auch auf das Karnevaleske, dass Ordnungen damit nicht nur subversiv unterlaufen werden, sondern dass auch sie zur Bildung neuer Ordnungen beitragen können. Sønke Gau und Katharina Schlieben etwa führen für das Karnevaleske an, dass es nicht nur geeignet ist, eine Gegen-Welt bzw. eine Gegen-Kultur zu ermöglichen, sondern im Gegenteil auch Ordnungen stabilisieren kann,77 um auf das systemerhaltende Moment zu verweisen, das bereits im Kontext der Figur des Dritten diskutiert wurde. Ebenso, wie mit Luhmanns Systemtheorie für die Einwirkung der Störung auf bestehende Systeme nachgewiesen werden konnte, dass Störungen komplexe Reaktionen hervorrufen, die von völliger Neuorientierung bis zu Stabilisierung reichen, konstatiert Fuß in seiner Studie, dass die Groteske nicht nur destruiert, sondern deren zentrale Funktion in der Einwirkung auf und Neubildung von Kulturformen besteht.78 Damit unterstreicht er, dass Groteske nicht ausschließlich als destruktives Element wahrgenommen werden darf, sondern dass diese konstruktiv auf das vorhandene System einwirken kann, was mit jener Umwertung der Störung vergleichbar ist, wie sie auch in dieser Studie angestrebt wird.

77 Vgl.: Gau, Sønke / Schlieben, Katharina: Spektakel, Lustprinzip oder das Karnevaleske? Über Möglichkeiten, Differenzerfahrungen und Strategien des Karnevalesken. In: Gau, Sønke / Schlieben, Katharina (Hg.): Spektakel, Lustprinzip oder das Karnevaleske? Ein Reader über Möglichkeiten, Differenzerfahrungen und Strategien des Karnevalesken in kultureller / politischer Praxis. Berlin: b_books 2008, S. 9-19, S. 10. 78 Vgl.: Fuß, Peter: Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels, S. 14-15.

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A MBIVALENZ , D IALOGIZITÄT , P OLYPHONIE Als weiterer Aspekt der Störung können die von Michail Bachtin geprägten Begriffe der Ambivalenz, Dialogizität und Polyphonie angeführt werden, die im Kontext des Fragmentarischen und der Umkehrung immer wieder angesprochen wurden. Der Begriff der Ambivalenz zielt in Bachtins Karneval-Theorie auf die Markierung der Unfixierbarkeit ab, auf die Zweistimmigkeit, auf das Andere der Bedeutung, das immer vorhanden ist. Der Begriff der Dialogizität, den Bachtin erstmals 1929 im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit den Romanen Dostoevskijs verwendet, ist eng damit verbunden und soll die grundsätzliche Bezogenheit jeder einzelnen Äußerung auf etwas Vorangegangenes und Zukünftiges betonen, die sich laut Bachtin im Hörbarwerden verschiedener Stimmen äußert. Dialogizität ist dabei nicht zu verwechseln mit Dialog, da das Konzept der Dialogizität eine Vielstimmigkeit meint, die bereits in einem Wort selbst enthalten sein kann, im „zweistimmigen Wort“, das in seinem „Inneren dialogisiert“79 ist. Maja Sibylle Pflüger betont einen wichtigen Aspekt hinsichtlich dieses mehrstimmigen Wortes, wenn sie hervorhebt, dass es „eine andere, durchbrochene Beziehung zu seinem Redegegenstand“80 hat, wie sie es am Beispiel einer Textstelle aus Bachtins Das Wort im Roman belegt: Doch das lebendige Wort steht seinem Gegenstand keineswegs identisch gegenüber: zwischen Wort und Gegenstand, zwischen Wort und sprechender Person liegt die elastische, meist schwer zu durchdringende Sphäre der anderen, fremden Wörter zu demselben Gegenstand, zum gleichen Thema. […] So findet jedes konkrete Wort (die Äußerung) jenen Gegenstand, auf den es gerichtet ist, immer schon sozusagen besprochen, umstritten, bewertet vor und von einem ihn verschleiernden Dunst umgeben oder umgekehrt vom Licht über ihn bereits gesagter, fremder Wörter erhellt. Der Gegenstand ist umgeben und durchdrungen von allgemeinen Gedanken, Standpunkten, fremden Wertungen und Akzenten. Das auf seinen Gegenstand gerichtete Wort geht in die dialogisch erregte und gespannte Sphäre der fremden Wörter, Wertungen und Akzente ein, verflicht sich in ihre komplexen Wechselbeziehungen, verschmilzt mit den einen, stößt sich von den anderen ab, überschneidet sich mit dritten; und all das kann das Wort wesentlich formen, sich in allen sei-

79 Bachtin, Michail: Die Ästhetik des Wortes. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, S. 209. 80 Pflüger, Maja Sibylle: Vom Dialog zur Dialogizität. Die Theaterstücke von Elfriede Jelinek, S. 52.

98 | D RAMA ALS S TÖRUNG nen Bedeutungsschichten ablagern, seine Expression komplizieren, auf das gesamte stilistische Erscheinungsbild einwirken.81

Pflüger verweist damit wiederum auf das Fragmentarische und macht die gegenseitige Bedingtheit von Vielstimmigkeit und Brüchigkeit deutlich. Die Auffassung vom Wort als Knotenpunkt, in dem unterschiedlichste Stimmen zusammenlaufen, wurde in der Forschung zum intertextuellen Schreibverfahren Jelineks bereits intensiv bearbeitet. Der Begriff der Schichtung bzw. der Ablagerung, wie er bei Bachtin verwendet wird, trifft sich hingegen mit neuesten Ansätzen in der Jelinek-Forschung, die das Denken einer Zeit der Koexistenz und das Verfahren der Schichtung von Texturen und Zeiten beschreiben,82 und scheint zentral zu sein für die Auseinandersetzung mit dem Sekundärdrama und dessen Bindung an das jeweilige Primärdrama. Hinsichtlich der Funktionsweise des „zweistimmigen Wortes“ bei Bachtin fasst Renate Lachmann weitere bedeutende Aspekte zusammen, die auf das Störpotential der Dialogizität hinweisen: Gegen das vereindeutigende, identifizierende Wort, das auf der Basis eines binären Zeichenprozesses (signifiant/signifié) funktioniert, das heißt gegen das monologische Wort, das nicht auch „Antwort“ ist, gegen eine Setzung, die nicht auch „Übersetzung“ ist, stellt Bachtin das dialogische, durch die Berührung mit dem „fremden“ entstehende Wort, das den Zeichenbinarismus stört, indem es die jeweilige Abschließbarkeit des Zeichenprozesses, die Endgültigkeit der bestätigten Beziehung zwischen signifiant und signifié durch die Unabschließbarkeit eines dialogischen Zeichenprozesses dementiert.83

81 Bachtin, Michail zit. n.: Ebd., S. 52. 82 Vgl.: Haß, Ulrike / Meister, Monika: „Wie ist es möglich, Theater ausschließlich mit Texten aufzustören?“ E-Mailwechsel zwischen Ulrike Haß und Monika Meister, S. 112-118; sowie: Kovacs, Teresa / Meister, Monika: Fläche und Tiefenstruktur. Die leere Mitte von Geschichte in Jelineks Rechnitz (Der Würgeengel) und Winterreise, S. 119-129; Kovacs, Teresa: Unterbrechung, Übermalung, Dialog. Elfriede Jelineks „Sekundärdrama“ im Dialog mit Lessing / Goethe, S. 226-241; Janke, Pia u.a.: „Für jeden Text das Theater neu erfinden“. Videokonferenz mit Pia Janke, Karen JürsMunby, Hans-Thies Lehmann, Monika Meister, Artur Pełka. In: Janke, Pia / Kovacs, Teresa (Hg.): „Postdramatik“. Reflexion und Revision. Wien: Praesens Verlag 2015 (= DISKURSE.KONTEXTE.IMPULSE. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums 11), S. 33-45. 83 Lachmann, Renate: Gedächtnis und Literatur, S. 171-172.

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Dies verdeutlicht, dass es beim „zweistimmigen Wort“ nicht bloß um das Hörbarmachen einer anderen, zweiten Stimme geht, also um ein dialektisches Verhältnis, sondern dass das Andere immer die Vielheit impliziert, die unendliche Fülle von Stimmen und das Öffnen des Textes, der beständig fortgeschrieben werden kann. Lachmann widmet sich in ihrer Studie Gedächtnis und Literatur neben dem Prinzip der Dialogizität auch sehr ausführlich dem Begriff der Ambivalenz bei Bachtin, für den sie festhält: Ihm geht es nicht um die semantischen Möglichkeiten der Sprache, sondern um die Gestaltung dessen, was in der Sprache „abgelagert“ ist. Nicht die Innovation (Destruktion), sondern die Heterogenisierung, das Zerstäuben und Auseinandertreiben des sich konsolidierenden Sinns, der diese Ablagerung verleugnet, schafft für Bachtin den Freiraum der Ambi- und Polyvalenz. [...] die Fähigkeit des Wortes, andere Bedeutungskontexte als Dementierung des einen Sinns aufzurufen, garantiert in Bachtins Konzeption Ambivalenz.84

Das (Ab-)Arbeiten an den „Ablagerungen“ der Sprache und die Heterogenisierung treffen sich mit den von Pflüger für die Dialogizität benannten Eigenschaften. Noch deutlicher als Pflüger unterstreicht Lachmann jedoch das Verfahren der Addition und Pluralisierung und den damit einhergehenden Aspekt, dass Ambivalenz nicht nur Innovation, Destruktion bzw. Zerstörung meinen kann, sondern dass sie gerade das Hinzufügen weiterer Schichten bei Beibehaltung der bereits Vorhandenen betrifft. Ähnlich dem Fragmentarischen, das darauf abzielt, das (verdrängte) Unvollständige hinter dem vermeintlich Ganzen bzw. Vollendeten aufzuzeigen, dient auch das zum Klingen bringen der verschiedenen Schichten und Wortebenen diesem Aufdecken des Verdrängten und Negierten zugunsten der Produktion einer Bedeutung / eines Sinns. Lachmann verweist außerdem auf das Denken der Koexistenz und der Schichtung von Zeitebenen, literarischen Formen etc.85 und führt damit wichtige Charakteristika an, die für die von den Sekundärdramen verfolgte Ästhetik der Störung relevant sind. Pflüger betont ebenfalls die durch Bachtin maßgeblich angestoßene Etablierung von Konzepten der Koexistenz, die zentral die „Koexistenz verschiedener Stimmen und Standpunkte in literarischen Texten“ betreffen, und die „die erstarrte Sprache in Be-

84 Ebd., S. 179. 85 Vgl.: Ebd., S. 186.

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wegung bringen, indem sie den offiziellen Diskurs mit inoffiziellen Reden konfrontieren“86. Darüber hinaus betrifft das Prinzip der Dialogizität, der Ambivalenz und der Polyphonie auch die Bewegung des Eindringens in die vorhandene Sprache bzw. in vorhandene Formen, wodurch ebenfalls die Konfrontation des Einen mit dem Vielen bzw. die Möglichkeit, geschlossene Kunstwerke zugunsten der Vielstimmigkeit aufzubrechen, betont wird. Dieses Eindringen entspricht der Funktionsweise der Figur des Dritten, wobei besonders die folgende Passage aus Lachmanns Literatur und Gedächtnis auch an das endlose Wuchern denken lässt, wie es von Serres für das Parasitäre beschrieben wird: Das Wort, das die Kontexte erinnert, durch die es gegangen ist, zeichnet die Spuren des Sinns auf, der in ihm intoniert wurde. Jeder neue Sinn, der in es eindringt, findet die Spuren vor: die Spaltung geschieht in der Akkumulation, die Akkumulation durch Spaltung. Das Bild des Wucherns [...] faßt die Sinnexplosion, das Aufwirbeln des Sinn(staub)s. Es ist das Foucaultsche Wuchern des inoffiziellen gegen den offiziellen Diskurs.87

Bachtins Dialogizitätskonzept wohnt gesellschaftskritisches Potential inne, er selbst betont, dass das Prinzip der Dialogizität auch auf die Gesellschaft übertragbar sei. Der Gedanke, dass künstlerische Ästhetiken auf die Gesellschaft wirken können, ist dem Begriff der Störung, so wie er in dieser Studie definiert wird, immanent. Daher wird auch hier angenommen, dass die durch das Sekundärdrama erzeugten Störungen allgemein auf die Gesellschaft wirken können. Aufbauend auf den Dialogizitätsbegriff entwickelt Bachtin seine Theorie des „polyphonen Romans“, die die Grundlage für Intertextualitätskonzepte von Julia Kristeva, Renate Lachmann, Gérard Genette, Manfred Pfister u.a. bildet. Für eine Ästhetik der Störung scheinen dabei sowohl der von Kristeva geprägte, weite Intertextualitätsbegriff von Relevanz als auch jene Konzepte, die von einem engeren Intertextualitätsbegriff ausgehen. Hier erweisen sich Gérard Genettes Studien Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe und Paratexte sowie Renate Lachmanns Literatur und Gedächtnis als besonders anschlussfähig. Der Begriff der Polyphonie, der bei Bachtin meist synonym zu Dialogizität verwendet wird, wurde in der Jelinek-Forschung häufig aufgegriffen. Allerdings wird, wie Alexandra Millner festhält, Polyphonie im Kontext dieser literaturwissenschaftlichen Analysen anders verstanden als bei Bachtin. Denn bei Bachtin

86 Pflüger, Maja Sibylle: Vom Dialog zur Dialogizität. Die Theaterstücke von Elfriede Jelinek, S. 51. 87 Lachmann, Renate: Gedächtnis und Literatur, S. 192.

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meine Polyphonie die Vielfalt „selbständiger und unvermischter Stimmen und Bewußtseine“88, wobei es sich bei Jelinek um Stimmen handle, „die aus diversen Diskursen und Texten gespeist werden und weitere Bedeutungsebenen im Theatertext eröffnen. Diese Stimmen entstammen weder einem individuellen (fiktiven) Bewusstsein, noch sprechen sie individuelle Sprachen“89. Diese Bedeutungsverschiebung gilt es in der Auseinandersetzung mit Jelinek mitzudenken, wobei damit bereits auf ein wichtiges Charakteristikum von Störungen verwiesen wird, die immer eine „ungesicherte Herkunft“ implizieren. Nichts desto trotz sind die von Bachtin geprägten Begrifflichkeiten Ambivalenz, Dialogizität und Polyphonie und die daran anschließenden Intertextualitätskonzepte für die Auseinandersetzung mit Jelineks Sekundärdrama von Bedeutung, da sie auf literaturwissenschaftlicher Ebene Aspekte betreffen, die allgemein für Störungen gelten: Pluralisierung, Addition, Vervielfältigung sowie Diffusion, Unkonkretheit und Unbestimmtheit. Die bereits erwähnte Nähe der Störung bzw. des Rauschens zum Krachen, Sausen, Schwirren, das ebenfalls auf die Aufhebung der zentralen Fixierung auf einen Sinn abzielt, korreliert mit Bachtins Konzept der Vielstimmigkeit. Dies wird auch an Martin Seels Bestimmung der vier unterschiedlichen Erscheinungsformen des Rauschens in der Literatur deutlich. Nach Seel impliziert Rauschen, ebenso wie Bachtins Polyphonie-Begriff, immer auch die Verunmöglichung eines Sinns: 1. Phonetisches Rauschen: Der Klang der Rede übertönt ihren Sinn (wie z.B. oft in C. Brentanos oder R.D. Brinkmanns Gedichten). 2. Rhythmisches Rauschen: Die Verlaufsform der Sätze überrollt jedes eindeutige Sagen (wie z.B. in Th. Bernhard, Korrektur). 3. Logisches Rauschen: Die logische Konstruktion der Sätze unterminiert ihren folgerichtigen Sinn (wie am Beginn von Hölderlins Brot und Wein). 4. Referentielles Rauschen: Die Komplexität der semantischen Bezüge eines Textes läßt undurchsichtig werden, wovon er spricht (wie bei H. M. Enzensberger, Der Untergang der Titantic).90

Beispielhaft für eine Form des Textrauschens geht Seel in einem Folgekapitel auf Jelineks Roman Die Kinder der Toten ein und konstatiert, dass Jelineks intertextuelle Schreibweise und ihr spezifischer Umgang mit Intertexten ein Rauschen entstehen lassen:

88 Bachtin, Michail: Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 10. 89 Millner, Alexandra: Prae – Post – Next? Über Polyphonie, Partitur und Kontingenz in Theatertexten von und nach Elfriede Jelinek, S. 169-170. 90 Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, S. 241.

102 | D RAMA ALS S TÖRUNG Durch ihren [Elfriede Jelineks] permanenten Stillagenwechsel dementiert sie nicht allein die Autorität ihres eigenen, sondern aller Arten des Sprechens, mit der sich ihr durch und durch taktloses Sprechen berührt. Und es berührt sich mit allen. Daher geht dieser Text, obwohl er in jedem Satz Wort für Wort etwas Bestimmtes sagt, im Lesen immer wieder in ein Rauschen über [...].91

Seel unterstreicht damit die enge Verbindung von Intertextualität und Störung und weist nach, dass intertextuelle Formen, bewusst oder unbewusst, Störungen der Sinnerzeugung bewirken. Obwohl Seel das Textrauschen an einem Roman von Jelinek nachweist, kann auch für die stark intertextuell arbeitenden Theatertexte davon ausgegangen werden, dass dadurch Störungen erzeugt werden. Begreift man Intertextualität grundsätzlich als Verfahren der Störungserzeugung, kann für das Sekundärdrama, indem es die Ebenen der intertextuellen Bezugnahme vervielfacht, konstatiert werden, dass damit die Intensität der Störung erhöht wird bzw. die Störung selbst bei dieser Form stärker ins Zentrum rückt. Ausgehend von der Annahme, dass Intertextualität Störpotential innewohnt, soll an dieser Stelle auf einige Intertextualitätsansätze genauer eingegangen werden, die in Hinblick auf Jelineks Theatertexte und ihr Verfahren der Störung wichtige Reflexionsmomente bilden. Julia Kristeva schließt in ihrer Bestimmung von Intertextualität an das gesellschafts- und kulturkritische Potential von Bachtins Prinzip der Dialogizität an, ersetzt den Begriff der Dialogizität jedoch durch den Begriff der Intertextualität und erweitert den Textbegriff allgemein auf semiotische Systeme. Sie begreift Kultur als Text, wobei sie nicht den diachronen Bezug von Texten, sondern ihren synchronen Bezug fokussiert. Kristevas breiter Intertextualitätsbegriff scheint für Überlegungen zur Funktionsweise von Jelineks Sekundärdrama dahingehend interessant, als sich damit Texte in ihrer räumlichen Dimension, in ihrer gleichzeitigen Präsenz und ihren Überlagerungen mit anderen Texten begreifen lassen, nicht in der bloßen Aufeinanderfolge einzelner Texte. Damit wird ein Denken von Zeitlichkeit bzw. eine spezifische Geschichtskonzeption berührt, wie sie für Jelineks Schreiben grundsätzlich konstitutiv ist, was am Beispiel des Sekundärdramas jedoch noch deutlicher zum Ausdruck kommt, da damit die Schichtung von Texten, Texturen und Formationen stärker betont wird. Darüber hinaus werden in Kristevas Konzept Texte als grundsätzlich offene, unabschließbare strukturelle semantische Einheiten aufgefasst, somit Fortschreibung, Aktualisierung etc. als jedem Text inhärente Vorgänge begriffen. Diese Betonung der Prozesshaftigkeit steht dominierenden Werk- und AutorInnenschafts-

91 Ebd., S. 251-252.

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begriffen entgegen und lässt sich gut mit dem Jelineks Texten zugrundeliegenden Denken der permanenten Fortschreibung und Überschreibung von bestehenden Texten zusammenführen. Hinsichtlich des AutorInnenschaftsbegriffs bei Kristeva ist im Kontext einer Ästhetik der Störung von Interesse, dass die/der Schreibende für sie einem Knotenpunkt vergleichbar ist, da sie/er nichts Neues schaffen kann, sondern das Vorhandene durch sie/ihn hindurchfließt und dadurch Transformationen erfahren kann.92 Den Schreibenden selbst also wird in Kristevas Konzept eine Funktion zugeschrieben, wie sie für den Parasiten bzw. Boten konstitutiv ist. Ausgehend von Kristevas Intertextualitätskonzept könnte die/der AutorIn selbst also immer schon als eine Figuration der Störung gelesen werden. Neben Kristevas weitem Intertextualitätsbegriff, der sicherlich mit Jelineks offenem Textverständnis korreliert, sind für die Auseinandersetzung mit den konkreten Bezügen jedoch auch Ansätze einzubeziehen, die von einem engeren Intertextualitätsbegriff ausgehen, da die Sekundärdramen in ihrer Form nicht nur darauf hinweisen, dass jeder Text als ein „Mosaik aus Zitaten“ (Kristeva) zu verstehen ist, sondern die Texte sehr bewusst bestimmte Intertexte heranziehen und miteinander kombinieren und damit über eine Intertextualität, die per se jeden Text betrifft, hinausgehen. Renate Lachmann verweist in ihrer Studie auf den Zusammenhang von intertextuellem Schreibverfahren und kulturellem Gedächtnis. Sie konstatiert, dass über die Analyse des zwischen Texten entstehenden (Gedächtnis-)Raums Rückschlüsse über Literatur und Gedächtnis bzw. Gedächtnis in der Literatur möglich sind, wobei sie die Diskussion des Gedächtnisses als die zentrale kulturelle Funktion jedes Intertextualitätskonzeptes begreift.93 Dieser Ansatz ist für die Beschäftigung mit den Sekundärdramen deshalb interessant, weil er Intertextualität die Funktion zuschreibt, das kulturelle Gedächtnis kritisch zu hinterfragen, was auf Ebene des Literatur- und Theaterbetriebs Aspekte der Kanonbildung und der Bestimmung von „Klassikern“ betrifft. Darüber hinaus betont Lachmann die Ambivalenz intertextueller Verfahren, was wiederum mit dem Charakter der Störung korreliert:

92 Vgl.: Kristeva, Julia: Probleme der Textstrukturation. In: Blumensath, Heinz (Hg.): Strukturalismus in der Literaturwissenschaft. Köln: Kiepenheuer und Witsch 1972, S. 243-262; sowie: Kristeva, Julia: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. In: Ihwe, Jens (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik III: Zur linguistischen Basis der Litertaturwissenschaft. Frankfurt am Main: Fischer 1972, S. 345-375. 93 Vgl.: Lachmann, Renate: Gedächtnis und Literatur, S. 10-11.

104 | D RAMA ALS S TÖRUNG Die Intertexte bewahren auf, verbergen, verdrängen in die Latenz; sie heben die Zeit auf, indem sie die manifeste Zeit des Textes und die Zeiten der Prätexte verschränken, sie suspendieren die „Originalbedeutung“, indem sie neue Prozesse der Sinngebung in Bewegung setzen oder eine Semantik des Verschwindens (von Sinn) entwickeln. Ihre [...] komplexere Struktur resultiert aus ihrer Polyfunktionalität: Verbergen, Verstellen, Verschieben und Bewahren von Sinn (oder dessen Tilgung).94

Zentral scheint auch hier, dass Intertextualität nicht als Verfahren der Sinnentleerung verstanden werden kann, sondern gleichsam der Sinnvervielfachung und der Anreicherung zugunsten der Erzeugung von Komplexität. Ebenso wie die Störung zielt Intertextualität also nicht unbedingt auf die Erzeugung von NonSense ab, wie es postmoderne Diskurse nahelegen, sondern die Arbeit mit Sinnentleerung und Sinnvervielfachung zielt paradoxerweise immer auch auf die Entstehung von Sinn ab, jedoch an der Schnittstelle bzw. im Zwischen der zitierten Texte. Eine wichtige Grundlage für die Auseinandersetzung mit Jelineks Konzept des Sekundärdramas bildet darüber hinaus Gérard Genettes Systematisierung der Text-Text-Beziehung. In seiner Studie Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe unterscheidet er zwischen fünf Typen transtextueller Beziehungen, die parallel auftreten können: Intertextualität, Paratextualität, Metatextualität, Architextualität und Hypertextualität. Interessant scheint dabei bereits der gewählte Buchtitel, da mit „Palimpsest“ ein Begriff gefunden ist, dessen Semantik auf das Schichtungsverfahren von Texten, das Präsent-Sein und Präsent-Bleiben von Texturen verweist. Das Palimpsest als eine Schrift, deren zugrundeliegender Text überschrieben und ersetzt wurde, der aber nicht gänzlich verschwunden ist, sondern der unter dem neuen Text bestehen bleibt und immer wieder zum Vorschein kommt, liefert aus literaturwissenschaftlicher Perspektive ein geeignetes Bild, um das Verfahren des Sekundärdramas zu reflektieren, das Jelinek selbst mit den Bildübermalungen Arnulf Rainers vergleicht. (vgl. BÜ) Im Gegensatz zu Kristeva definiert Genette Intertextualität als die effektive Kopräsenz zweier oder mehrerer Texte in einem Text (z.B. Zitat, Plagiat, Anspielung). Als Paratexte sind jene Texte zu klassifizieren, die eine weniger explizite und enge Beziehung zum gesamten Werk herstellen, dieses jedoch näher bestimmen bzw. kommentieren (z.B. Vor- oder Nachwort, Einleitung, Fußnote, Illustrationen). Metatextualität betrifft Texte, die Beziehung zu einem Text aufnehmen, ohne ihn unbedingt zu zitieren, ihn anzuführen oder zu erwähnen (z.B. Kommentar, Textkritik), Architextualität meint die unausgesprochene Beziehung zwischen

94 Ebd., S. 37.

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Texten, die bestenfalls in paratextuellem Hinweis auf taxonomische Zugehörigkeit des Textes zum Ausdruck kommt (z.B. „Gedicht“, „Roman“, Untertitel). Mit „Hypertextualität“ fasst Genette jede Beziehung zwischen einem Text B (= Hypertext) und einem Text A (= Hypotext) zusammen, wobei Text B von Text A abgeleitet ist, auf ihn bezogen ist und ihn auf unterschiedliche Arten und Weisen überlagert.95 Auf diese Klassifizierung aufbauend, wendet sich Genette in seiner Studie der Form der Parodie zu, die als Zwischenspiel entstand und zur Aufheiterung des Publikums in den Vortrag der Epen eingefügt wurde.96 Genettes Verweis auf die etymologische Herleitung der Parodie als Gegenstimme und die von ihm beschriebene Lektürebedingung, dass die Funktion des parodierenden Textes nur wahrnehmbar sei, wenn man den Bezugstext kenne, lässt sich in den Kontext einer Ästhetik der Störung integrieren, da damit die für die Störung konstitutiven Charakteristika wie Unstimmigkeit, Vervielfachung von Stimmen bzw. das Gegeneinander dieser unterschiedlichen Stimmen begrifflich gefasst werden können. Relevant ist auch die von Genette betonte Abhängigkeit der Parodie vom parodierten Text. Zwar setzt diese nicht voraus, dass beide Texte gemeinsam rezipiert werden, sondern betrifft allgemein die Kenntnis des parodierten Textes, dennoch wird hier eine Abhängigkeit beschrieben, die als grundlegend für das Sekundärdrama gelten kann und die mit der spezifischen Form reflektiert, intensiviert, aber auch ironisiert wird. Den Paratexten hat Genette eine ausführliche Studie gewidmet. Bewusst die Vorsilbe „para-“ verwendend, geht es auch hier um die Betonung des Daneben. Paratexte sind jene Texte, deren Funktion darin besteht, einen vorhandenen Text zu umgeben und zu verlängern. Konkret beschreibt Genette Paratexte mit Philippe Lejeune als „Anhängsel des gedruckten Textes, die in Wirklichkeit jede Lektüre steuern.“97 Genette definiert somit Paratexte als liminale Phänomene, als Schwelle, als „‚unbestimmte Zone‘ zwischen innen und außen, die selbst wieder keine feste Grenze nach innen (zum Text) und nach außen (dem Diskurs der Welt über den Text) aufweist.“98 Anders als der Text, der nach Genette in dem Sinne fixiert und unveränderbar ist, als er sich den Veränderungen seiner RezipientInnen nicht anpassen kann, ist der Paratext flexibler, wendiger und kann sogar überleitende Funktion besitzen. In dieser Funktion kann er auch als Instrument der Anpassung aufgefasst werden und an der Modifikation der Präsen-

95 Vgl.: Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, S. 9-18. 96 Vgl.: Ebd., S. 21-22. 97 Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1510), S. 10. 98 Ebd., S. 10.

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tation des Textes teilhaben.99 Darüber hinaus schreibt Genette dem Paratext die Tendenz zu, „über seine Funktion hinauszugehen, abschirmend zu wirken und somit sein eigenes Spiel auf dem Rücken des Textes zu spielen“100, also eigennützig und verstellend auf den Text einzuwirken. In diesen Funktionen ähnelt der Paratext der Figur des Dritten und scheint auf Textebene jene konstitutiven Charakeristika wie das Changieren zwischen Positionen, Formen und Strukturen und die Unsicherheit um den möglichen Eingriff in den Text umzusetzen. Mit dem Paratext werden – als „Nebenprodukt“ eines Textes – Hierarchiebildungen von Texten und Formen von Textrelationen angesprochen, die stark an das Denken des Verhältnisses von Primär- und Sekundärdrama erinnern. Der Paratext ist bei Genette Beiwerk, er ist nicht zu denken ohne den anderen Text, weshalb Genette resümiert: „Und wenn der Text ohne seinen Paratext mitunter wie ein Elefant ohne seinen Treiber ist, ein behinderter Riese, so ist der Paratext ohne seinen Text ein Elefantentreiber ohne Elefant, eine alberne Parade.“101 Wenn jedoch Genette seine Studie mit dem Satz abschließt: „Schwellen sind zum Überschreiten da“102 , wird damit eine wichtige Möglichkeit der Umkehrung, der Auflösung und ganz allgemein der Verhandlung von Textrelationen angesprochen, die es ebenso für das Sekundärdrama zu bedenken gilt. Relevant für die Analyse der Sekundärdramen scheint darüber hinaus, was Hans-Thies Lehmann am Beispiel von Heiner Müller für intertextuelle Verfahren nachweist. Er geht davon aus, dass durch die Polyphonie der Texte nicht nur Sinn vervielfacht wird, sondern dass es dabei auch um eine Wucherung der Formen und formalen Strukturen eines Textes geht. Anschließend an Bachtin hält er für Müllers Theatertexte fest, dass hier verdeutlicht wird, dass es „nicht eine Struktur des literarischen Textes geben“ kann, „sondern stets eine Überlagerung mehrerer Strukturen“103 . Lehmann verweist damit einerseits auf das Vorhandenbleiben unterschiedlicher Schreibweisen, bestätigt also, dass Intertextualität nicht auf eine Negation bzw. auf ein gänzliches Verschwinden und Ineinanderfließen abzielt, sondern viel eher diese Grenzen bewusst zu machen sucht und diese sichtbar ausstellt. Andererseits überträgt er Bachtins Konzept der Polyphonie auf Theatertexte und arbeitet heraus, dass Polyphonie als Strukturelement

99 Vgl.: Ebd., S. 389. 100 Ebd., S. 390. 101 Ebd., S. 391. 102 Ebd., S. 391. 103 Lehmann, Hans-Thies: Müller/Hamlet/Grüber/Faust: Intertextualität als Problem der Inszenierung. In: Thomsen, Christian W. (Hg.): Studien zur Ästhetik des Gegenwartstheaters. Heidelberg: Winter 1985 (= Reihe Siegen 58), S. 33-45, S. 34.

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des Textes aufgefasst werden kann und damit deutlich die Frage des Verhältnisses zur dramatischen Tradition betrifft. Intertextualität ist nach Lehmann also immer als liminales Phänomen zu begreifen, das Werk-, Form-, Zeitgrenzen etc. sichtbar, diskutierbar und verschiebbar macht. Die Extremform der Vielstimmigkeit ist die Simultaneität (der Stimmen), die Koch und Nanz als eines der zentralen Verfahren zur Störungserzeugung anführen.104 Hinsichtlich der näheren Bestimmung der Funktion von Simultaneität kann Manfred Brauneck herangezogen werden, der festhält: „Als Zeitstruktur negiert das Prinzip Simultaneität die Geschichte, den Verlauf der Zeit; konstituiert im Kunstwerk einen ‚zeitfreien‘ Ort, in dem das Subjekt in radikalster Weise auf sich selbst zurückgeworfen ist.“105 Darauf aufbauend lässt sich in Bezug auf Jelinek konkretisieren, dass bei ihr damit ein teleologisches Verständnis von Geschichte negiert wird, die Texte jedoch keinen „zeitfreien“ Ort erzeugen, sondern gerade die Zeiten kulminieren lassen, indem durch ihr spezielles Schreibverfahren die Gleichzeitigkeit im Sinne der Koexistenz heterogener Zeitebenen transparent gemacht wird. So dient beispielsweise in Rechnitz (Der Würgeengel) die Form des Botenberichts dazu, unterschiedliche Zeiten aufeinandertreffen zu lassen und die Zeitebenen auf komplexe Art und Weise miteinander zu verschränken.106 Der Bote als Figur des Dritten verbindet somit jenes Denken von Zeit, die Überlagerungen und Schichtungen von Zeitebenen, mit einer Ästhetik der Störung. Der Begriff der Simultaneität spricht darüber hinaus ein Prinzip an, das Lehmann als konstitutiv für postdramatische Inszenierungsformen ansieht und womit er dramatisches und postdramatisches Theater voneinander abzugrenzen versucht: Während das dramatische Theater eine Anordnung dergestalt vornimmt, daß von einer Vielzahl der in jedem Moment einer Aufführung übermittelten Signale jeweils nur bestimmte herausgehoben sind und im Zentrum stehen, führt die parataktische Wertigkeit und Anordnung zur Erfahrung des Simultanen, das dem Wahrnehmungsapparat häufig – und wie man hinzufügen muß: oft mit systematischer Absicht – überfordert.107

104 Vgl.: Koch, Lars / Nanz, Tobias: Ästhetische Experimente. Zur Ereignishaftigkeit und Funktion von Störungen in den Künsten, S. 106. 105 Brauneck, Manfred: Theater im 20. Jahrhundert. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1986, S. 179. 106 Vgl.: Kovacs, Teresa / Meister, Monika: Fläche und Tiefenstruktur. Die leere Mitte von Geschichte in Jelineks Rechnitz (Der Würgeengel) und Winterreise. 107 Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, S. 149.

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Interessant für Überlegungen zum Sekundärdrama scheint, dass bereits im Text bzw. beim Denken des Konzepts „Sekundärdrama“ durch die Forderung der Gleichzeitigkeit von Primär- und Sekundärdrama eine Inszenierungsform umgesetzt bzw. vorweggenommen wird, die Texte also intensiv das Theater und dessen Bedingungen reflektieren. Die Überforderung, die mit der Simultaneität einhergeht, hängt eng zusammen mit der Verweigerung von Sinnstiftung. Auffällig an Lehmanns Ausführung ist, dass er Simultaneität als Mittel der Sichtbarmachung der grundsätzlichen Ausschnitthaftigkeit der Wahrnehmung beschreibt, was er anschließend an Benjamins Unterscheidung zwischen allegorischer und organischer symbolischer Ästhetik mit dem Fragmentarischen engführt: In diesem Sinne tritt an die Stelle der organischen überschaubaren Ganzheit der unvermeidliche und gemeinhin „vergessene“ Fragmentcharakter der Wahrnehmung [...]. Entscheidend wird, daß der Ausfall der Totalen nicht als Defizit, sondern als befreiende Möglichkeit der Fort-Schreibung, Phantasie und Rekombination zu denken ist, die sich der „Wut des Verstehens“ (Jochen Hörisch) verweigert.108

Die von Lehmann für die Funktion bzw. Wirkungsweise von Simultaneität in Hinblick auf postdramatische Theaterformen angeführten Aspekte sind den für die Prinzipien Ambivalenz, Dialogizität und Polyphonie erwähnten Eigenschaften vergleichbar. Intertextualität und Simultaneität können somit als künstlerische Verfahren begriffen werden, die auf das Ausgesparte verweisen, die dem Prinzip der einheitlichen Sinnstiftung und der damit einhergehenden gewaltsamen Tilgung der Vielheit zuwider arbeiten und somit neue Formen der Wahrnehmung erfordern. Damit wird jedoch gleichsam das Potential dieser Strategien deutlich, nicht ausschließlich zu destruieren, sondern auch positiv auf Wahrnehmungsgewohnheiten einzuwirken und neue Wahrnehmungsformen jenseits einer sinnerfassenden Lesart zu erproben.

S ELBSTREFLEXIVITÄT Die enge Verbindung von Störung und der Reflexion eigener Strukturen zeigt sich bereits an jener Eigenschaft der Störung, ausschließlich innerhalb des Systems wirksam werden zu können. Dies impliziert, dass Störungen in bestehende Systeme eindringen und deren Voraussetzungen teilweise annehmen müssen, um

108 Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, S. 150-151.

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so von innen heraus zu agieren und von dort aus längerfristig auf diese einwirken zu können bzw. diese zu verändern. Konkret bezogen auf Theatertexte rücken damit metadramatische Formen und deren Störpotential in den Fokus. Der Begriff des Metadramas findet erstmals 1963 in der von Lionel Abel veröffentlichten Monografie Metatheatre: A New View of Dramatic Form in Bezug auf Shakespeares und Calderóns Dramen Erwähnung.109 Für diese Studie relevant allerdings sind jene Begriffsbestimmungen, die die Selbstreflexivität bzw. Selbst-Bewusstheit als zentrales Kriterium des Metadramas begreifen. So etwa die Definition von Viewing-Marks, die sich für einen eng gefassten Begriff des Metadramas stark macht: Metadrama ist immer – zumindest potentiell – Drama über das Drama, d.h. in der Kunstform Drama werden Eigenarten eben dieser Kunstform thematisiert, bloßgelegt oder implizit angesprochen. Innerhalb der denkbaren Bandbreite von Merkmalen des Dramas, auf die Metadramatik verweisen kann, wird dabei eines immer problematisiert werden: der fiktive Charakter des Dramas. Denn Drama, das sich durch Selbst-Bewußtheit seiner selbst als Kunstform auszeichnet, muß konsequenterweise auch immer seine Künstlichkeit, seinen ontologischen Status als Schein reflektieren. Das bedeutet, daß umgekehrt auch alle jene dramatischen Mittel, die den Illusionscharakter des Dramas verdeutlichen, – zumindest potentiell – zu den metadramatischen Formen gezählt werden.110

Viewing-Marks beschränkt sich in ihrer Studie auf Metadramen, die vom Text selbst abgeleitet werden können, daher berücksichtigt sie metadramatische Aspekte nicht, die im Rahmen einer Inszenierung realisiert werden. Neben Viewing-Marks kann besonders deutlich mit Gerda Poschmanns Studie Der nicht mehr dramatische Theatertext nachgewiesen werden, dass selbstreflexive Formen eng mit der Kategorie der Störung verwandt sind. Poschmann betont, dass die kritische Nutzung der dramatischen Form voraussetzt, „sich ihrer als einer heute fragwürdigen (‚ungleichzeitigen‘) Vereinbarung zwar zu bedienen, sie dabei jedoch als solche zugleich bewußt zu machen, von innen heraus zu hinterfragen, zu demontieren.“111 D.h. auch Poschmann geht davon aus, dass nur durch das Eindringen und das Wirken innerhalb des Systems dessen kritische Hinterfragung möglich wird. Indem die Texte die von ihnen problema-

109 Vgl.: Abel, Lionel: Metatheatre: A New View of Dramatic Form. New York: Hill and Wang 1963. 110 Viewing-Marks, Karin: Metadrama und englisches Gegenwartsdrama. Frankfurt am Main: Peter Lang 1989, S. 14. 111 Poschmann, Gerda: Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 88.

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tisierten Konventionen aufgreifen und zitieren, werden die „Prozesse theatraler Fiktionsdarstellung […] in einem Akt der Dekonstruktion thematisiert, in Frage gestellt oder gestört, die referentielle Illusion wird dabei zum Werkzeug gegen sich selbst.“112 Die Forschung unterscheidet zwischen verschiedenen Formen des Metadramas, wobei die Einzelstudien durchwegs unterschiedliche Kategorisierungen vorschlagen. Viewing-Marks etwa zählt sechs Ausformungen des Metadramas auf: thematisches Metadrama, fiktionales Metadrama, episierendes Metadrama, diskursives Metadrama, figurales Metadrama und adaptives Metadrama. Allgemein konstatiert Viewing-Marks, dass all diese Erscheinungsformen gemein haben, dass sie das Drama bzw. die Theatermittel selbst sichtbar machen, während die Inhaltsseite in den Hintergrund rückt. Sie betont darüber hinaus, dass jede Klassifizierung davon ausgehen muss, dass, bezogen auf konkrete Dramen, nie nur eine Form bedient wird, sondern dass sich meist unterschiedliche Formen metadramatischer Bezugnahme in den Texten herausarbeiten lassen.113 Birgit Brüster reduziert diese von Viewing-Marks vorgelegte Systematisierung und unterscheidet in ihrer Studie, die sich mit deutschsprachigen Theatertexten der 1980er Jahre auseinandersetzt, zwischen drei Typen der Selbstreferenz: figurales Metadrama (= Thematisierung des soziologischen oder ästhetischen Rollenspiels), fiktionales Metadrama (= Thematisierung der Fiktion durch Variationen des „Spiels im Spiel“) und adaptives Metadrama (= Thematisierung des dramatischen Textes durch intertextuelle Bezugnahmen).114 Wegen der sehr divergierenden Vorschläge zur Systematisierung wird in der Forschungsliteratur betont, dass jede Systematisierung und Kategorisierung immer nur eine Vorläufige sein kann und Analysen, ausgehend von den zugrundeliegenden Einzeltexten, eigene Zugänge entwickeln müssen. Im Kontext der Störung ist entscheidend, dass das Metadrama, ebenso wie die Störung, zentral auf die Sichtbarmachung des Mediums selbst abzielt und die Funktionsweisen und Konventionen von Drama und Theater zum Thema hat. Die kritische Selbstreflexion zeigt sich Viewing-Marks zufolge sowohl in einem oftmals desillusionierenden Blick auf das Drama / Theater und in einer bewussten Störung der Fiktion bzw. Potenzierung der Fiktionalität. Viewing-Marks

112 Ebd., S. 88. 113 Vgl.: Viewing-Marks, Karin: Metadrama und englisches Gegenwartsdrama, S. 1842. 114 Vgl.: Brüster, Birgit: Das Finale der Agonie: Funktionen des „Metadramas“ im deutschsprachigen Drama der 80er Jahre. Frankfurt am Main: Peter Lang 1993 (= Europäische Hochschulschriften, Deutsche Sprache und Literatur 1419), S. 12.

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Thesen lassen sich damit gut an Gerda Poschmann anschließen, die das Potential zur Störung der Fiktion ebenfalls in der Reflexion der eigenen Strukturen und Bedingungen sieht. Wie Viewing-Marks geht auch Poschmann darauf ein, dass bei metareflexiven Formen die Inhaltsebene zugunsten der Materialebene in den Hintergrund rückt. Dies sieht sie besonders dadurch erreicht, dass die Texte eine eindeutige Sinnzuweisung verunmöglichen, indem sie bewusst sinnvervielfältigend oder -entleerend verfahren.115 Somit betrifft das zentrale Paradoxon jeder Störung, zugleich sinnentleerend und -vervielfältigend zu wirken, auch die Selbstreflexivität, was sie mit den anderen drei Aspekten der Störung verbindet. Poschmann streicht das kritische Potential des Metadramatischen hervor und sieht es vornehmlich in postdramatischen Formen realisiert. Anders Brüster, die weniger den politischen Aspekt betont, sondern die eher die Nähe von Metadrama und postmodernem Denken fokussiert. Sie beschreibt das Metadrama als „authentisches Stilmittel eines Welterlebens [...], in dem Entwirklichung des Wirklichen, Auflösung von Subjekt und Identität sowie ein generelles Inauthentischwerden von Erfahrung entscheidende Charakteristika darstellen.“116 Trotz der in der Forschungsliteratur dominanten Diskussion des Metadramas im Kontext der Moderne und Postmoderne wird in den meisten Arbeiten zumindest erwähnt, dass metadramatische Elemente auch in früheren Epochen von zentraler Bedeutung waren. Brigitte Schultze etwa führt in ihrem einführenden Artikel an, dass in den Epochen Barock, Romantik, Klassische Moderne, Historische Avantgarde und Postmoderne metadramatische Elemente häufig zum Einsatz kommen und weiterentwickelt werden. Demgegenüber weist sie nach, dass in anderen Epochen wie etwa der Aufklärung, dem Realismus und dem Naturalismus dem Metadrama kaum eine Bedeutung zukommt.117 Durch die Miteinbeziehung früherer Epochen kann nach dramatischen Traditionslinien gefragt werden, was wiederum erlaubt, Jelineks Verfahren der Störung nicht nur im Kontext des postmodernen Paradigmas bzw. des postdramatischen Theaters zu beschreiben. Eine Untersuchung, die Jelineks Schreiben für das Theater in solch einer Traditionslinie verorten würde, hätte die Möglichkeit, neben der bereits hinlänglich besprochenen Nähe zum Volkstheater bislang in der Jelinek-Forschung wenig beachtete Theatertraditionen und -formen miteinzubeziehen.

115 Vgl.: Poschmann, Gerda: Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 89. 116 Brüster, Birgit: Das Finale der Agonie: Funktionen des „Metadramas“ im deutschsprachigen Drama der 80er Jahre, S. 11. 117 Vgl.: Schultze, Brigitte: Meta-Theater. In: Fischer-Lichte, Erika / Kolesch, Doris / Warstat, Matthias (Hg.): Theatertheorie. Stuttgart: Metzler 2005, S. 199-201, S. 200.

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Zentral für die Beschreibung der Sekundärdramen scheint die besondere Funktion von Intertextualität im Kontext selbstreflexiver Formen, wie sie Viewing-Marks im Bereich des „adaptiven Metadramas“ erläutert. Sie sieht in der Erzeugung von Selbstreflexivität mittels intertextueller Bezugnahmen zu bestehenden Dramen eine Sonderform realisiert: Adaptives Metadrama ist dabei eine zugleich intertextuelle wie auch reflexive Erscheinung: intertextuell durch die implizierten Bezüge zu einem Prätext und reflexiv durch die Tatsache, daß es eben durch diese Bezüge – mit unterschiedlicher Intensität – nicht unmittelbar auf die Realität, sondern auf ein historisches Produkt der eigenen Gattung verweist.118

Brüster betont ausgehend von Viewing-Marks, dass Selbstreflexion mittels intertextueller Bezüge eine zentrale Technik deutschsprachiger Stücke der 1980er Jahre ist.119 Sie verweist in diesem Kontext dezidiert auf die Theatertexte Elfriede Jelineks und streicht hervor, dass „die Auseinandersetzung mit dem historischen Drama stets auch eine Auseinandersetzung mit den ästhetischen Bedingungen und poetologischen Gegebenheiten der jeweiligen Epoche beinhaltet“120, was die Texte nicht nur dem adaptiven Metadrama zuordnen lässt, sondern sie auch in die Nähe der Dekonstruktion rückt. Abgeleitet von Derridas Begriff der Dekonstruktion, verstanden als Auflösung von Totalitäten, beschreibt Brüster Dekonstruktion bezogen auf Inszenierungspraktiken als ein Verfahren, das verborgene Werte- und Normensysteme aufdeckt und das den zugunsten der Etablierung eines Diskurses ausgegrenzten Teilbereichen nachspürt. Hinsichtlich metadramatischer Texte meint Dekonstruktion laut Brüster das Aufdecken „sprachlicher Herrschaftsdiskurse oder geistesgeschichtlicher Traditionen, die ein bestimmtes Normensystem beinhalten.“121 Damit wird abermals Kritik am Ausschluss und am Aussparen bestimmter Elemente zugunsten der Erzeugung eines einheitlichen, geschlossenen Kunstwerks geübt und auf den gewaltsamen Prozess des Verdrängens und Vereinheitlichens verwiesen.

118 Viewing-Marks, Karin: Metadrama und englisches Gegenwartsdrama, S. 39. 119 Vgl.: Brüster, Birgit: Das Finale der Agonie: Funktionen des „Metadramas“ im deutschsprachigen Drama der 80er Jahre, S. 29. 120 Ebd., S. 31-32. 121 Ebd., S. 35.

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Schultze betont in ihrem Beitrag ebenfalls die enge Verbindung von MetaTheater122 und Intertextualität und konstatiert, dass damit sowohl Bezüge auf Ebene der Systemreferenz (Epochencodes, Dramenkonventionen, Inszenierungsformen etc.) als auch der Einzeltextreferenz hergestellt werden können. Auf diese Beobachtungen aufbauend, definiert sie das Meta-Theater als „Schnittstelle“, nicht nur von System- und Einzeltextreferenz, sondern auch von Drama und Theater. Die Funktion der Schnittstelle bzw. der Verhandlung von Grenzziehungen wird von Schultze auch an anderer Stelle hervorgehoben, wenn sie dezidiert auf die Erzeugung eines Dazwischen durch das Meta-Theater verweist: Auf Drama und Theater als Literatur, Fiktion bzw. theatrales Spiel verweisend, markiert Meta-Theater die Grenze zwischen Lebenswelt und Wirklichkeit einerseits und Fiktion, Illusion andererseits. Die Grenze wird definiert, erkundet, verhandelt, gelockert, gelöst usw.; neben Illusionsbruch, Desillusionierung, Antiillusionierung bis zu ‚Antifiktion‘ stehen dabei unterschiedliche Formen der Potenzierung von Fiktionalität.123

Die Fokussierung der Grenzen durch metadramatische Verfahren bildet einen zentralen Anknüpfungspunkt im Kontext einer Ästhetik der Störung, da das Operieren an der Grenze für jede Form der Störung konstitutiv ist. Der Begriff des Metadramatischen bringt im Kontext allgemeiner Theorien zur Störung eine spezifische Perspektive ein und erlaubt es, den Fokus auf die Grenze von Text und Theater zu lenken, deren Verhältnis und gegenseitiges Einwirken zu beleuchten. Das Behandeln des Theaters im Text wird bei Viewing-Marks als „thematisches Metadrama“ bezeichnet. Sie versteht darunter ein Drama, „das das Theater selbst zum Gegenstand macht, so daß sich durch die Themenwahl und den Inhalt, der zugleich Form ist, die Metaebene der dramatischen Selbstreflexion konstituiert.“124 Zusammenfassend hält sie fest, dass jene Form „einen desillusionierenden Blick hinter die Kulissen [wirft], indem es ein Theater zu seinem Schauplatz macht, sein Personal aus Schauspielern, Regisseuren, Kritikern, Zuschauern etc. rekurriert und Produktions- und Rezeptionsbedingungen beleuchtet.“125

122 Die Begriffe Metadrama, Metatheater und Meta-Theater werden in der Forschungsliteratur meist synonym verwendet, sodass im Kapitel auch Beiträge, die diese Varianten verwenden, herangezogen werden. 123 Schultze, Brigitte: Meta-Theater, S. 199-200. 124 Viewing-Marks, Karin: Metadrama und englisches Gegenwartsdrama, S. 19. 125 Ebd., S. 19.

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Wie im Kontext der Störung bereits betont wurde, kann davon ausgegangen werden, dass diese nie nur auf der Ebene der Texte wirksam wird, sondern immer auch größere Systeme tangiert und so auch den Literatur- und Theaterbetrieb betrifft. Konkret bezogen auf das Sekundärdrama bedeutet das, dass damit nicht nur das zugrundeliegende Primärdrama, sondern auch Theaterkonventionen, Inszenierungsformen, Spielplangestaltung etc. reflektiert und infrage gestellt werden. Bedenkt man, dass Metadramen sowohl das Drama als auch das Theater auf Ebene des Textes reflektieren können, wird auch im Kontext der Störung möglich, diese Reflexion des Theaterbetriebs und in einem weiteren Schritt das Eingreifen in den Theaterbetrieb auf Ebene der Texte adäquat zu beschreiben. Diese Reflexion wird in Jelineks Texten jedoch nicht einfach dadurch erreicht, dass das Theater zum Schauplatz des Geschehens wird, also durch Spiel-im-Spiel-Formen wie sie bei Viewing-Marks analysiert werden, sondern bei ihr entsteht die Reflexion auf komplexere Weise. Wenn Schultze in Hinblick auf das Metadrama die Erzeugung von Schnittstellen und das Changieren zwischen den Kategorien hervorhebt, wird ein weiterer zentraler Aspekt jeder Störung angesprochen, der hervorhebt, dass es weniger um die Negation vorhandener Kategorien geht als um das spezifische Verhältnis zwischen den Kategorien. Ebenso wie die Störung in ihrer Funktion des Dritten auf binäre Strukturen angewiesen bleibt, bleibt das Metadrama auf Dramenkonventionen bezogen, kann aber gerade durch dieses Erhalten der Beziehung zum Dramatischen ihr subversives Potential entfalten. In der Forschungsliteratur wird betont, dass metadramatische Formen durch das bewusste Zitieren bestimmter Dramentexte und das Aufgreifen bestimmter Konventionen besonderes Potential zur Problematisierung tradierter Dramen- und Theaterformen aufweisen. Kristina Jensen unterstreicht für das Metadrama, dass dieses stark auf die jeweils vorherrschenden Dramentraditionen und -formen bezogen ist,126 d.h. dadurch Rückschlüsse auf jeweils dominierende Dramen- und Theaterkonventionen möglich sind. Anschließend an diese These ließe sich schlussfolgern, dass die Sekundärdramen das bürgerliche Drama als immer noch vorherrschende Form ausweisen, auch wenn in der Forschungsliteratur mittlerweile nachgewiesen wird, dass an staatlichen Theaterhäusern im deutschsprachigen Raum postdramatische Formen dominieren.127

126 Vgl.: Jensen, Kristina: Formen des episierenden Metadramas. Ausgewählte Dramentexte José Sanchis Sinisterras und anderer spanischer Gegenwartsdramatiker. Frankfurt am Main: Vervuert 2007, S. 13. 127 Vgl. bspw.: Kovacs, Teresa: „Postdramatik“ als Label? Gespräch mit Carl Hegemann, Katja Jung, Patrick Primavesi, Stefan Tigges, moderiert von Teresa Kovacs.

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Wie Jensen, aber auch Poschmann hinsichtlich des Metadramas herausarbeiten, kann es als Entwurf einer neuen Ästhetik gelesen werden.128 Das Potential zur Etablierung neuer Ästhetiken, wie es bereits im Kontext des Fragmentarischen, der Umkehrung und der Polyphonie betont wurde, ist somit auch für selbstreflexive Verfahren nachweisbar. Hinsichtlich einer Ästhetik der Störung scheint ein weiterer Aspekt von Bedeutung, den Viewing-Marks dem „episierenden Metadrama“ zuordnet. Sie weist nach, dass Formen wie Prolog, Epilog und Chor die dramatische Illusion kenntlich machen, indem sie die vierte Wand aufbrechen und direkten Kontakt zum Publikum aufnehmen. Gleichzeitig verweist sie darauf, dass jene Formen der Selbstreflexion und der dramatischen Selbstbewusstheit die ältesten und dauerhaftesten darstellen, da sie seit der Antike nachzuweisen sind.129 Somit können Jelineks Theatertexte, die jene Formen bewusst aufgreifen und weiterführen, auch auf dieser Ebene in eine Linie mit anderen, kritischen, selbst-bewussten Schreibweisen gestellt werden. Besonders über das Chorische, aber auch über die Form des Botenberichts, der bei Viewing-Marks zwar nicht explizit genannt wird, aber dennoch in diesem Kontext zu berücksichtigen wäre, die als strukturbildende Elemente der Theatertexte von Jelinek fungieren, kann wiederum an allgemeine Ansätze zur Störung angeknüpft werden bzw. speziell an Ansätze von Koch und Stillmark, die in der Ansprache und Miteinbeziehung des Publikums einen zentralen Aspekt der Störungserzeugung verwirklicht sehen.130 Verwiesen sei darüber hinaus auf Birgit Brüster, die sich in ihrer Studie Das Finale der Agonie ausgehend von der Annahme, Literatur und sozio-kulturelle Gegebenheiten seien unmittelbar aufeinander bezogen, der Funktionsweise des Metadramas im Kontext der Postmoderne widmet. Sie konstatiert, dass mit dem Metadrama geltende Herrschaftsstrukturen aufgedeckt und zerstört, theatrale Vorgänge transparent und Kunst als Konstruktion evident gemacht werden kön-

In: Janke, Pia / Kovacs, Teresa (Hg.): „Postdramatik“. Reflexion und Revision. Wien: Praesens Verlag 2015 (= DISKURSE.KONTEXTE.IMPULSE. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums 11), S. 61-73. 128 Vgl.: Jensen, Kristina: Formen des episierenden Metadramas. Ausgewählte Dramentexte José Sanchis Sinisterras und anderer spanischer Gegenwartsdramatiker, S. 13; sowie: Poschmann, Gerda: Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 108. 129 Vgl.: Viewing-Marks, Karin: Metadrama und englisches Gegenwartsdrama, S. 2526. 130 Vgl.: Koch, Lars: Christoph Schlingensiefs Bildstörungsmaschine, S. 119-121; sowie: Stillmark, Hans-Christian: Notbremsen, Skandale und Gespenster: Dramaturgien der Störung bei Bertolt Brecht und Heiner Müller, S. 153.

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nen.131 Zwar kann für die Analyse der Sekundärdramen auf diese These aufgebaut werden, allerdings wurde mit der Störung ein Begriff gefunden, der dieser eindeutigen Funktionszuschreibung entgegensteht, da die Störung nie eine tatsächliche Zerstörung bewirkt, sondern immer zur Erzeugung eines komplexeren Verhältnisses beiträgt, ohne dem Gedanken der gänzlichen Negation und Überwindung zu folgen. Auch Lehmann rekurriert in seiner Studie Postdramatisches Theater auf metadramatische Formen. Er beschreibt diese als grundlegend für politisches Theater und für die Erzeugung von Brüchen und damit der Veränderung der Wahrnehmungsgewohnheiten der RezipientInnen. Erinnert sei an dieser Stelle an jene Passage, die bereits im Kontext des Fragmentarischen zitiert wurde: „Insofern nimmt nur ein solches Theater eine genuine Beziehung zum Politischen auf, das nicht irgendeine Regel erschüttert, sondern die eigene, nur ein Theater, das das Theater als Schaustellung unterbricht. Indem Theater Situationen herstellt, in denen die trügerische Unschuld des Zuschauens gestört, gebrochen, fraglich gemacht wird.“132 Dass abermals jenes Lehmann-Zitat aufgegriffen wird, zeigt einmal mehr, dass die in diesem Kapitel besprochenen Aspekte untrennbar miteinander verbunden sind, sich gegenseitig bedingen, nie losgelöst voneinander auftreten und somit auch nicht losgelöst voneinander beschrieben werden können. So trifft auf das Metadramatische ebenso zu, was hinsichtlich des Fragmentarischen mit Siegmund bereits ausgeführt wurde: die Veränderung der Haltung der RezipientInnen, die Lehmann ausschließlich durch die Selbstreflexivität des Theaters bzw. Dramas erfüllt sieht, kann bewirken, dass „das, was in aller Regel die Ausnahme bleibt“, also „das Liegengelassene, das Unaufgehobene, das, was nicht aufgeht und darum einen Anspruch darstellt“133 von den Rändern ins Zentrum rückt, oder besser gesagt, eine Unterscheidung zwischen Rändern und Zentrum permanent unterlaufen, infrage gestellt und verunsichert wird.

131 Vgl.: Brüster, Birgit: Das Finale der Agonie: Funktionen des „Metadramas“ im deutschsprachigen Drama der 80er Jahre, S. 16. 132 Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, S. 19. 133 Ebd., S. 19.

II Sekundärdrama als Störung

Sekundärdrama als Störung

Die von Jelinek selbst gewählte Bezeichnung „Sekundärdrama“ erzeugt in ihrer Begriffsbildung auf unterschiedlichen Ebenen Störungen. Als Komposita verbindet sie „Sekundäres“, und damit alle Assoziationen, die mit dem Sekundären in Zusammenhang stehen, mit der historischen Kategorie „Drama“, die Szondis zentraler Bestimmung des neuzeitlichen Dramas folgend in absolutem Widerspruch zu sekundären, zitierenden Textformen steht: Das Drama ist primär. Es ist nicht die (sekundäre) Darstellung von etwas (Primärem), sondern stellt sich selber dar, ist es selbst. [...] Das Drama kennt das Zitat sowenig wie die Variation. Das Zitat würde das Drama aufs Zitierte beziehen, die Variation seine Eigenschaft, primär, das heißt „wahr“ zu sein, in Frage stellen und (als Variation von etwas und unter anderen Variationen) sich zugleich sekundär geben. Zudem würde ein Zitierender oder Variierender vorausgesetzt und das Drama auf ihn bezogen.1

Die Bezeichnung „Sekundärdrama“ markiert somit zuallererst die Unmöglichkeit einer Bestimmung und Kategorisierung der Texte, lenkt aber gleichzeitig den Fokus auf diese sich scheinbar unvereinbar gegenüberstehenden Kategorien und evoziert bei den RezipientInnen unweigerlich die Frage, was unter „Drama“ und „Sekundärem“ überhaupt zu verstehen sei und wie deren Verhältnis zu denken wäre. Der Begriff des „Dramas“ irritiert als Bezeichnung bereits dahingehend, als Jelineks neuere Theatertexte in der Forschungsliteratur zentral dem postdramatischen Theater zugerechnet werden bzw. mit Gerda Poschmann als nicht-mehrdramatische Theatertexte beschrieben werden. Wenn Jelinek den Begriff des Dramas aufgreift, steht sie somit aktuellen Forschungsdiskussionen entgegen

1

Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas (1880-1950), S. 16-17.

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und rekurriert auf jene historische Kategorie, deren Überwindung die Begriffe des „Postdramatischen“ und „Nicht-Mehr-Dramatischen“ eigentlich suggerieren. Die Gattungsbezeichnung „Drama“ ist mit einer spezifischen Form und einem konkreten Aufbau verbunden, sie erweckt bei den RezipientInnen somit bestimmte Erwartungshaltungen, die von den Sekundärdramen jedoch gerade nicht erfüllt werden. Wie es für Jelineks Theatertexte seit Wolken.Heim. (1988) charakteristisch ist, weichen auch die Sekundärdramen deutlich vom Dramenschema ab und gleichen formal eher erzählender Literatur, was in der Forschung mit den alternativ eingeführten Begriffen der „Textfläche“ bzw. der „rhizomatischen Textstruktur“ markiert wird.2 Der Begriff „Drama“ stellt jedoch nicht nur in Hinblick auf die Form von Jelineks Theatertexten eine Irritation dar, sondern bereits die Verbindung mit dem „Sekundären“ verweist, ohne die Textform der Sekundärdramen zu kennen, auf einen scheinbar unauflösbaren Widerspruch. Mit dem Sekundären sind im literarischen Kontext zunächst sekundäre, zitierende Textformen wie Parodie, Pastiche, Kontrafaktur etc. angesprochen sowie sekundäre, zitierende Formen der Textproduktion. Des Weiteren weckt das Sekundärdrama in seiner Analogie zu „Sekundärliteratur“ Assoziationen zur Paratextualität und zur Metatextualität, könnte somit als kommentierender, kritischer Text gelesen werden. Interessant scheint im Kontext des Sekundärdramas auch die Assoziation zur Sekundärfarbe. Anders als Primärfarben kommen Sekundärfarben im Farbmischsystem nicht als reine Farbe vor, sondern sie entstehen ausschließlich durch die Mischung von Primärfarben. Dies verdeutlicht, dass das Sekundäre nie eigenständig gedacht werden kann, sondern immer in einem Verhältnis zum Vorhandenen steht und von diesem abhängig ist, da es erst aus diesem hervorgeht. Mit dieser deutlichen

2

Der Begriff der Textfläche wurde von Jelinek selbst eingebracht, die ihre Texte zunächst als Sprachflächen, später als Textflächen bezeichnet (Vgl.: Vogl, Walter: Ich wollte diesen weißen Faschismus. Interview mit Elfriede Jelinek. In: Basler Zeitung, 16.10.1990; sowie: Jelinek, Elfriede: Textflächen.) Der Begriff des Rhizoms, der ebenfalls von Jelinek selbst zur Beschreibung ihrer Texte vorgeschlagen wird (Vgl.: Jelinek, Elfriede: Grußwort nach Japan.), wird in der aktuellen Forschungsliteratur aufgegriffen, um auf die Tiefendimension der Texte zu verweisen. Vgl. etwa folgende Forschungsliteratur: Treude, Sabine: Elfriede Jelinek, das Wurzeldenken und der Heimatbegriff; Millner, Alexandra: Prae – Post – Next? Über Polyphonie, Partitur und Kontingenz in Theatertexten von und nach Elfriede Jelinek; Deutsch-Schreiner, Evelyn / Millner, Alexandra: Wann ist ein Text Theatertext? Über Flächen, Rhizome und die Grenzen wissenschaftlicher Beschreibungskategorien. Gespräch zwischen Evelyn Deutsch-Schreiner und Alexandra Millner.

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Markierung des Zitats und des intertextuellen Schreibverfahrens negiert das Sekundärdrama seine Eigenschaft, primär zu sein. Das Sekundärdrama ist das Uneigentliche, das Unauthentische, und erfüllt damit die mit dem Drama verbundenen Forderungen nach Originalität, Authentizität und starker AutorInnenschaft gerade nicht. Mit dem Begriff des „Sekundären“ werden aber auch auf anderer Ebene Störungen erzeugt: Das Sekundäre verweist in seiner Wortherkunft (frz.: „secondaire“ = der/die/das zweite, der/die/das darauf folgende) immer auch auf Wertungskategorien und Hierarchiebildungen bzw. werden damit Selektionsund Ausschlussmechanismen thematisiert. So assoziiert das Sekundäre im Kontext der Genderforschung die Frau als das andere Geschlecht (Simone de Beauvoir) bzw. verweist auf die biblischen Ursprünge der patriarchalen Ordnung, die die Frau als Sekundärwesen, das aus der Rippe des Mannes geschaffen wurde, dem Mann unterordnet.3 Die Bezeichnung „Sekundärdrama“ impliziert somit, dass es sich um eine dem Drama untergeordnete Form handelt, lenkt den Fokus aber auch auf die Frage nach weiblicher AutorInnenschaft. Irritationen erzeugt dies dahingehend, als die Texte – betrachtet man die Angaben zur möglichen Realisierung – den Primärdramen gerade nicht untergeordnet, sondern Primärund Sekundärdramen miteinander präsent werden sollen. Die von Jelinek durch die Begriffswahl vollzogene Unterwerfungsgeste beschreibt Brigitte Jirku so auch als fiktive Demutsformel.4 Vor dem Hintergrund, dass Jelinek als Literaturnobelpreisträgerin eine der meistgespielten DramatikerInnen im deutschsprachigen Raum ist, kann diese Unterordnung als ironische Geste gelesen werden. Gleichzeitig wird dadurch aber auch bewusst, dass zeitgenössische Theatertexte, so auch die von Jelinek, meist auf der Nebenbühne gespielt werden, während die Hauptbühnen der Theater mit kanonisierten Dramen bespielt werden, die auf den Spielplänen der staatlichen Theaterhäuser immer noch vorherrschend sind. Darüber hinaus legt es den nach wie vor männlich dominierten Kanon und Theaterbetrieb offen und markiert das Fehlende, das Andere, das in diesen Systemen nicht repräsentiert ist.

3

Vgl.: Lücke, Bärbel: Faust und Margarethe als Untote. Zu Elfriede Jelineks „FaustIn and out. Sekundärdrama zu Urfaust“ – offene/verdrängte Wahrheiten in freiheitlichen Zeiten, S. 26.

4

Vgl.: Jirku, Brigitte: Materialität und Medialität postdramatischer Theatertexte. In: Janke, Pia / Kovacs, Teresa (Hg.): „Postdramatik“. Reflexion und Revision. Wien: Praesens Verlag 2015 (= DISKURSE.KONTEXTE.IMPULSE. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums 11), S. 308-317, S. 310.

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Die von Jelinek verwendete Bezeichnung „Sekundärdrama“ impliziert somit bereits alle wesentlich konstitutiven Charakteristika des Konzepts: Mit dem Sekundären wird die Arbeit mit vorhandenem Material und der deutliche Bezug bzw. die unbedingte Gebundenheit an einen Prätext betont. Das Zitat der Kategorie Drama macht deutlich, dass diese Bindung nicht einen beliebigen Text betrifft, sondern dass es sich ausschließlich um Dramentexte handelt. Damit wird zugleich eine ganz spezifische Tradition erinnert, deren kritische Reflexion durch den metadramatischen Bezug angedeutet wird. Der Begriff „Sekundärdrama“ eröffnet also ein Spannungsfeld, das sich aus scheinbar nicht vereinbaren Kategorien konstituiert. Durch das Zusammenbringen zweier entfernter Begriffe entstehen Interferenzen, die ein permanentes Störgeräusch bilden, das sowohl die Texte selbst als auch die möglichen Inszenierungen durchzieht. Drama und Sekundäres erscheinen durch die Begriffswahl nicht mehr losgelöst voneinander, sondern können nur gemeinsam betrachtet werden. In eben diesem Zwischenraum entfaltet das Konzept des Sekundärdramas seine Wirkungsweise. Das Sekundärdrama als Störgeräusch zu begreifen, als ein parasitäres Drittes, das an bestehende Kanäle andockt und so die Beziehungen zwischen zwei KommunikationsteilnehmerInnen nachhaltig irritiert, führt unweigerlich zur Frage, zwischen welche Zwei es sich schiebt. Interessant ist dabei, dass dieses Zwischen nicht ausschließlich durch die Kombination von Primärdrama und Sekundärdrama entsteht, sondern binäre Oppositionen für die Struktur der Sekundärdramen selbst entscheidend sind. Binaritäten prägen bereits Anlage und Form der Primärdramen bzw. sind sie charakteristisch für die in Abraumhalde zentral herangezogene Antigone des Sophokles. So etwa ist die Sophokleische Antigone durchzogen von Dichotomien wie Oben / Unten, Innen / Außen, Leben / Tod, Mann / Frau, Staat / Familie, Recht / Unrecht, Glück / Leid etc., was sich wiederum an der Figurenanlage (Bruderpaar, Schwesternpaar, Kreon – Antigone) spiegelt. Goethes Urfaust etwa ist geteilt in Gelehrten- und Gretchentragödie bzw. können Faust und Mephistopheles als zwei Seiten einer menschlichen Existenz interpretiert werden. Auch für diesen Text sind Kategorien wie Innen / Außen (Haus, öffentlicher Bereich etc.) und Oben / Unten (Auerbachs Keller, Kerker etc.) strukturbildend. Ähnliches gilt für Nathan der Weise, wo Zweierkonstellationen (Nathan – Recha, Recha – Daja, Recha – Tempelherr, Nathan – Sultan) bestimmend sind für den Text, die zwar immer wieder durch Dritte in Unruhe gebracht, aber schließlich fixiert werden. Binäre Strukturen bestimmen, angelehnt an die Primärdramen, auch in auffälliger Weise die Sekundärdramen selbst. Orientiert an der sich verstärkenden

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Dichotomisierung der Geschlechter im 18. Jhdt. und den damit einhergehenden stereotypen Rollenzuschreibungen bauen sich die Texte zentral um die Begriffsopposition Mann / Frau auf. Dieses Oppositionspaar verbinden sie mit weiteren Begrifflichkeiten wie Rationalität / Aktivität / Schöpfertum / Gottvater / Hausvater / Künstlichkeit / Geist / Gesundheit / Leben und Stärke auf der einen Seite sowie mit Emotionalität / Passivität / Reproduktion / Dienerin / Natürlichkeit / Krankheit / Tod und Schönheit auf der anderen Seite. Darüber hinaus werden in beiden Texten diesen Kategorien über die Unterscheidung von Innen und Außen sowie Oben und Unten bestimmte Räume zugeordnet bzw. werden sie über die Unterscheidung von Eigenem und Fremdem der Gemeinschaft zugerechnet bzw. als Ausgestoßene markiert. In Abraumhalde wird zunächst die Opposition von Oben und Unten eingeführt, indem das „Haus“ mit Begrifflichkeiten um das im Boden Verborgene und Vergrabene verschränkt wird wie etwa mit Keller, Bunker und Grab (vgl. AB). Diese Kategorien bestimmen schließlich das gesamte Sekundärdrama. Oben und Unten werden darüber hinaus auch als Bewegung im Text präsent: ausgehend von Jesu Grab und Auferstehung sind es die Beschreibungen des Abstiegs und Herabsteigens des (himmlischen) Vaters in den Keller, umgekehrt werden über den Märtyrertod die Himmelfahrt und das Nach-Oben-Streben in den Text eingeschrieben (vgl. AB). Deutlicher als in Abraumhalde bringt FaustIn and out gleich zu Beginn die Geschlechterdichotomie ein, indem „die Weiber“ „dem Arzt“ gegenüber gestellt werden (vgl. FAU), mit der alle weiteren im Text genannten Kategorien verbunden werden. Diese Zweiteilung wird darüber hinaus durch die Anregung der Verdoppelung der Figuren auf der Bühne bei Abraumhalde bzw. durch das gewählte Binnen-I bei den Angaben der Sprechinstanzen und durch deren nochmalige Doppelung (FaustIn / FaustIn2; GeistIn / andere GeistIn) in FaustIn and out herbeigeführt. Neben der Bezeichnung „Sekundärdrama“ werden mittels der Unterscheidung zwischen Original und Kopie bzw. Haupt- und Seitendrama dichotomische Strukturen aufgegriffen und deutlich ausgestellt. In dieser Festlegung auf Oppositionspaare reproduzieren die Texte und das Konzept zunächst jene binären Kategorien, die für die Primärdramen, aber auch für das Verständnis von Drama, AutorInnenschaft und Kunst grundlegend sind. Damit entsteht ein den Texten zugrunde liegendes Gerüst, in das sich die Sekundärdramen parasitär hineinbegeben können, um mit Hilfe von Verfremdungen und semantischen Verschiebungen jene starren Oppositionspaare aufzubrechen, in Bewegung zu setzen und schiefe Bilder dieser Dichotomien enstehen zu lassen, um sie auf diese Weise zu verunsichern. Dass die Unterscheidung uneindeutig bleibt, Kategorien und Binaritäten zwar zitiert, aber unterlaufen werden, wird

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zusätzlich durch die in den Texten selbst angegebenen Möglichkeiten der Inszenierung betont bzw. im programmatischen Text Anmerkung zum Sekundärdrama ausgeführt (vgl. AB, FAU, AN). Die Sekundärdramen machen auf die mit den binären Kategorien verbundenen Grenzziehungen aufmerksam. Sie vollziehen diese nach, treten jedoch dazwischen und eröffnen damit einen Schwellenraum, in dem Vorhandenes verkehrt bzw. umgekehrt wird und in dem Verbindungslinien zwischen normalerweise nicht Zusammengehörigem hergestellt werden. Diese Erzeugung des Zwischens wird zentral betont, wenn Jelinek angibt, dass die Sekundärdramen alles, „was sie transportieren“, an der „Schnittstelle zwischen dem einen Symbolischen und dem anderen“ (BÜ) erzeugen. Die Beschreibung der eigenen Position als die der Schnittstelle erinnert an Kristeva, die jede Form der AutorInnenschaft als Erzeugung eines Knotenpunkts beschreibt,5 lässt aber auch an den Parasiten, in seiner Eigenschaft, sich an Schnittstellen festzusetzen, denken.6 Jelineks Sekundärdrama macht bewusst, dass Schreiben immer bedeutet, an Vorhandenes anzudocken und dieses zu transformieren. Dieses Aufgreifen von Vorhandenem wird auch in Anmerkung zum Sekundärdrama hervorgehoben, wo jedoch auch die Möglichkeit des Falsch-Verstehens bzw. Falsch-Lesens der Primädramen formuliert wird: Es wird aber daran scheitern, daß ich auch diesmal, wie üblich, wieder die Angabe des jeweiligen Klassikers nicht verstehe (oder nicht richtig) und entweder zu einem ganz andren, falschen Stück das richtige Sekundärdrama schreibe oder, wahrscheinlicher, das Originaldrama nicht verstehe und dann was total Falsches dazuschreibe. (AN)

Mit der Betonung des Falsch-Lesens wird abermals auf sekundäre Textformen verwiesen, besonders auf die Parodie in ihrer Bedeutung als „Daneben Singen“, „falscher Gesang“ bzw. als „Gegenstimme im Kontrapunkt“.7 Darüber hinaus kann auch an Lachmann gedacht werden, an den „falschen Doppelgänger“8, der sich immer bereits als falsche Kopie erweist und damit jede Form der Authentizität infrage stellt. Die Betonung des Falsch-Lesens erinnert andererseits an die Entstehungskontexte der Primärdramen und die Herausbildung des Geniediskurses im 18. Jahrhundert. Das Denken der absoluten Individualität des Originalgenies führte dazu, dass der Autor nicht mehr als Finder bzw. Empfänger und Be-

5

Vgl.: Kristeva, Julia: Probleme der Textstrukturation, S. 345-375.

6

Vgl.: Serres, Michel: Der Parasit, S. 11.

7

Vgl.: Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, S. 21-22.

8

Lachmann, Renate: Gedächtnis und Literatur, S. 29.

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arbeiter vorhandener Stoffe galt, sondern als Erfinder völlig neuer Welten. Dies hatte weitreichende Folgen für den Umgang mit der Tradition. Das Originalgenie strebte danach, „die Väter durch ein Falschlesen ihrer Werke zu ‚erschlagen‘, um für sich selbst einen schöpferischen Freiraum zu gewinnen.“9 Demgegenüber bleibt weibliches Schaffen mit imitatio verbunden.10 Vor diesem Hintergrund kann Jelineks Umkehrung jenes Ansatzes als ironische Gegenschreibung gelesen werden, die sichtbar macht, dass jener Begriff des Künstlertums männlichen Schriftstellern vorbehalten ist. Liest man das Konzept des Sekundärdramas als Störung, rückt, viel stärker noch als die kritische Reflexion vorhandener Kategorien, das Verhältnis dieser Kategorien selbst in den Fokus. Das In-Verhältnis-Setzen, das bereits durch die Bezeichnung „Sekundärdrama“ erfolgt, betrifft auch die möglichen Umsetzungen am Theater. Das Denken des gleichzeitigen Präsent-Seins zweier Texte im Moment der Inszenierung, das die Sekundärdramen von anderen Formen der Bearbeitung unterscheidet, folgt dieser Fokussierung des Verhältnisses selbst. Im Gegensatz zu anderen Formen der Bearbeitung ist der Bezug von Sekundärzu Primärdrama niemals als einseitiger zu verstehen, sondern die Texte wirken deutlich aufeinander ein, stehen in permanentem Austausch. Um nochmals auf Genette zurückzukommen, gilt somit umso mehr für das Sekundärdrama, was Genette für den Paratext festhält: „Und wenn der Text ohne seinen Paratext mitunter wie ein Elefant ohne seinen Treiber ist, ein behinderter Riese, so ist der Paratext ohne seinen Text ein Elefantentreiber ohne Elefant, eine alberne Parade.“11 Primär- und Sekundärdrama sind nicht voneinander abzulösen, da das Konzept erst durch die Kombination entsteht und wirksam wird. Durch diese Verbindung zweier Texte intensiviert sich das Störgeräusch, denn im Gegensatz zu anderen Formen der Bearbeitung muss der Bezugstext nicht durch die RezipientInnen selbst ergänzt werden, um so Irritationen zu erzeugen, sondern beide Texte sind im Moment der Inszenierung vorhanden und das Eindringen in den jeweils anderen Text wird tatsächlich vorgeführt.

9

Schabert, Ina / Schaff, Barbara: Einleitung. In: Schabert, Ina / Schaff, Barbara (Hg.): Autorschaft. Genus und Genie in der Zeit um 1800. Berlin: Erich Schmidt 1994 (= Geschlechterdifferenz & Literatur 1), S. 9-19, S. 12.

10 Vgl.: Koschorke, Albrecht: Geschlechterpolitik und Zeichenökonomie. Zur Geschichte der deutschen Klassik vor ihrer Entstehung. In: Heydebrand, Renate von (Hg.): Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildung. Stuttgart: Metzler 1998 (= Germanistische-Symposien-Berichtsbände 19), S. 581-599, S. 596. 11 Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, S. 391.

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Ausgehend von der These, dass die spezielle Wirkungsweise des Sekundärdramas in der Erzeugung eines Zwischen entsteht, rücken im folgenden Teil somit die Verhältnisse selbst in den Fokus: das Verhältnis zwischen Texten, zwischen Zeiten, zwischen binären Kategorien, zwischen Text und Theater, zwischen Bühne und RezipientIn. Der Begriff „Sekundärdrama“, gelesen als „Sekundär–Drama“, bildet so die Grundlage für die folgenden Überlegungen zur Erzeugung von Störungen durch dieses spezielle Konzept und muss permanent mitreflektiert werden. Das besondere Augenmerk liegt dabei auf dem Gedankenstrich, der das Zwischen markieren soll.

Textstörungen

(P OST -)D RAMATISCHE E INLAGERUNGEN Wenn Jelinek mit der Bezeichnung „Sekundärdrama“ die historische Kategorie Drama zitiert, wird der Blick auf die dramatische Form gelenkt und damit auf alle konstitutiven Merkmale des Dramas. Neben der über das Primärdrama hergestellten Einzeltextreferenz arbeitet das Sekundärdrama somit zentral mit Systemreferenzen und kann folglich als Formzitat gelesen werden.1 Andreas Böhn hält in seiner Studie Das Formzitat. Bestimmung einer Textstrategie im Spannungsfeld zwischen Intertextualitätsforschung und Gattungstheorie fest, dass das Formzitat weniger traditionsstiftend, leserlenkend und klassenbildend wirkt, als dass es eben diese Aspekte zum Thema macht und zur Diskussion stellt.2 Vergleichbar mit Böhns Ausführungen betont auch Niklas Luhmann, dass dem Zitieren immer subversives Potential innewohnt. So hält er fest, dass durch das Hereinholen eines Textes in einen anderen „die Verschiedenheit der Werke betont, nicht verschmolzen, erinnert, nicht

1

Die vorliegende Studie bezieht sich auf die von Andreas Böhn formulierte Definition: „Unter ‚Formzitat‘ wird ein reflektierter Rückgriff auf Formen verstanden, und zwar auf solche, die aus einem vergangenen Kontext stammen und nicht mehr in der ursprünglichen Weise Gültigkeit beanspruchen können, oder auf solche, die wegen der kulturellen Distanz ihres üblichen, erwartbaren Kontextes zu dem, in dem sie als Zitate auftreten, im letzteren fremd erscheinen.“ (Böhn, Andreas: Das Formzitat. Bestimmung einer Textstrategie im Spannungsfeld zwischen Intertextualitätsforschung und Gattungstheorie. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2001 (= Philologische Studien und Quellen 170), S. 18.)

2

Vgl.: Ebd., S. 21.

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vergessen“3 werde – das Zitat also gerade nicht gleich mache, sondern unterscheide. Die Betonung der Unterschiedlichkeit und das bewusste Bewahren verschiedener Strukturen werden mit dem Sekundärdrama in besonderer Weise vorgeführt. Nicht nur, dass dramatische Formationen im Text zitiert und in neue Kontexte eingefügt werden, sondern mit dem Denken des Miteinanders von Primär- und Sekundärdrama werden die Dramentexte und damit deren Konventionen auf einer weiteren Ebene präsent. Der Blick wird dadurch noch deutlicher auf die Gattung selbst und ihre konstitutiven Merkmale gelenkt, die so überhaupt erst sichtbar werden, da sie normalerweise hinter den Inhalt zurücktreten. Das Drama ist bei den Sekundärdramen zunächst über sein NichtVorhanden-Sein präsent. Es ist die Leerstelle der Texte, die unsichtbare Struktur, um die Jelineks Sekundärdramen kreisen. Dieses Nicht-Da meint jedoch nicht, dass das Drama überwunden bzw. tatsächlich abgeschafft wurde, sondern dass es als Form transparent geworden ist und dennoch, oder gerade deshalb, immer noch unserem Denken von Theater zugrunde liegt. So bleibt das Drama in Jelineks Sekundärdrama keine unsichtbare Struktur, sondern Jelineks Textflächen werden durch dramatische Formationen und (verfremdete) Zitate aus den Primärdramen unterbrochen. Die Abbrüche, die das Sekundärdrama durch die dramatischen Versatzstücke erfährt, lassen die Sekundärdramen als fragmentarische Texte erscheinen, deren Struktur immer schon unvollständig und unabgeschlossen ist. Umgekehrt werden aber auch die zitierten dramatischen Formationen als Brüchiges präsent, es sind fragmentarische Versatzstücke, die in die Texte eingearbeitet sind. Mit der gemeinsamen Inszenierung von Primär- und Sekundärdrama schließlich dringt auch das Sekundärdrama als Formation in die dramatischen Texte ein, öffnet und fragmentiert sie auf einer weiteren Ebene, sodass diese ihren Charakter der Abgeschlossenheit und Ganzheit verlieren. Im gegenseitigen Hereinholen bzw. Eindringen der Texte in den jeweils anderen entstehen somit offene Texte, die keinen Anspruch auf Ganzheit stellen können und die etablierte Werk- und AutorInnenschaftsbegriffe infrage stellen. Aufbauend auf Karen Jürs-Munby, die konstatiert, dass mit der Kombination von Primär- und Sekundärdrama die binäre Opposition zwischen dem Dramatischen und Postdramatischen unterlaufen wird,4 geht die vorliegende Studie davon aus, dass es zunächst nicht um das Unterlaufen und die Auflösung von Ka-

3

Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S. 484.

4

Vgl.: Jürs-Munby, Karen: Parasitic Politics: Elfriede Jelinek’s „Secondary Dramas“ „Abraumhalde“ and „FaustIn and out“, S. 215.

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tegorien geht, sondern um die Erzeugung von (Form-)Schichtungen und somit um das Präsent-Bleiben verschiedener (post-)dramatischer Strukturen. So kann an dieser Stelle nochmals auf Lehmann rekurriert werden, der intertextuelle Schreibverfahren als ein bewusstes Ausstellen der Überlagerungen mehrerer Strukturen beschreibt, was das Denken an eine Struktur eines literarischen Textes zu negieren scheint.5 Das Sekundärdrama kann somit als ein Konzept gelesen werden, das jede Kategorisierung von Literatur sowie die Findung normativer Begrifflichkeiten problematisch werden lässt. Mit dem Zitieren der historischen Kategorie „Drama“ wird bewusst, dass jede Kategorisierung zur Tilgung der Heterogenität von Schreibformen etc. führt, zugunsten der Eindeutigkeit und Gültigkeit solcher Begrifflichkeiten. Denn wenn Jelinek Lessings Nathan der Weise und Goethes Urfaust als Primärdramen heranzieht, rekurriert sie auf zwei Stücke, deren Zuordnung zum „Drama“ zu der Zeit ihrer Entstehung als problematisch galt. Nicht nur markiert Lessing selbst das innovative Potential seines Textes und die Überschreitung bzw. Auflösung bestehender Gattungsgrenzen und -konventionen, wenn er Nathan der Weise die Gattungsbezeichnung „Ein dramatisches Gedicht“ beifügt, auch Goethes Urfaust, wo einige der Szenen in Prosa verfasst sind, entspricht nicht den dramatischen Konventionen. Das Potential zur Infragestellung der Gattung „Drama“ durch die Primärdramen zeigt sich auch darin, dass sowohl Lessings „Dramatisches Gedicht“ als auch Goethes Faust I-II zunächst als unspielbar galten. Indem das Sekundärdrama die Gattungsbezeichnung „Drama“ vergegenwärtigt und in ihrer Historizität befragt wird jene negierte Heterogenität wieder bewusst gemacht und werden jene Textschichten freigelegt, die zugunsten der Zuordnung zum „Drama“ in der späteren Rezeption getilgt wurden. Für Jelineks Schreiben wurde in der Forschungsliteratur bereits sehr früh auf die Arbeit mit literarischen Bruch- und Versatzstücken hingewiesen, wobei die Forschung der 1980er und 1990er Jahre zentral auf die Verbindung von Fragment, Weiblichkeit und Subversion bzw. weibliche AutorInnenschaft verwies. Corina Caduff etwa konstatierte ausgehend von feministischen Ansätzen, die das Weibliche als das in der vorherrschenden symbolischen Ordnung Verdrängte beschreiben, dass in Jelineks Texten dieses Ausgestoßene, das zerstückelte und absente Weibliche formal umgesetzt sind.6 Neuere Forschungsbeiträge wie jene von Haß / Meister und Kovacs / Meister fokussieren das Fragmentarische ver-

5

Vgl.: Lehmann, Hans-Thies: Müller/Hamlet/Grüber/Faust: Intertextualität als Problem der Inszenierung, S. 34.

6

Vgl.: Caduff, Corinna: Ich gedeihe inmitten von Seuchen. Elfriede Jelinek – Theatertexte, S. 161-230.

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stärkt in Hinblick auf die Arbeit mit dramatischen Strukturen und Formationen und verweisen auf die damit einhergehende Problematisierung einer teleologischen Geschichtsauffassung und die räumliche Dimension der Texte.7 Für die Beschreibung von Jelineks Sekundärdramen bietet sich eine Verschränkung beider Ansätze an: Das Heranziehen zweier Dramen von Lessing und Goethe als Referenztexte, die Rolle der Frauen in den Dramen, die Zurückdrängung Margaretes mit Faust I und II sowie die Rezeptionsgeschichte der Dramen lässt Jelineks Sekundärdramen im Kontext weiblicher AutorInnenschaft lesen. Der Fokus auf weibliche (Opfer-)Geschichten in den Sekundärdramen, wie er besonders in FaustIn and out gewählt wird, macht das Weibliche als Verdrängtes, als das Nicht-Repräsentierte der symbolischen Ordnung präsent. Diese Verdrängung, die Fragmentierung und die Entwertung werden mit dem Sekundärdrama nicht nur auf sprachlicher und textueller Ebene, sondern auch auf der Inszenierungsebene nachvollzogen. Gleichzeitig macht das spezielle Konzept des Sekundärdramas deutlich, dass das Weibliche nicht gänzlich verdrängt werden kann, sondern dass es immer wieder sichtbar wird, sich an den Bruchstellen der symbolischen Ordnung festsetzt, dort zu wuchern beginnt und so die vorherrschende symbolische Ordnung stört. Nicht zuletzt problematisieren die Texte den Opferstatus „der Frau“, machen ihn als ebenso stereotypes Rollenbild kenntlich und verweisen darauf, dass auch die Kategorien „Frau“ und „Mann“ konstruierte sind. Das Schichtungsverfahren, das das teleologische Denken von Zeit und Geschichte negiert bzw. problematisiert, ist im Kontext des Sekundärdramas dahingehend interessant, als damit das Denken einer Aufeinanderfolge von (literarischen) Epochen fragwürdig wird und Verunsicherungen entstehen, die eine Unterscheidung von Original und Kopie, von Drama und postdramatischem Theater bzw. nicht-mehr-dramatischem Theatertext problematisch werden lassen und die damit Kanonisierungsprozesse und Hierarchiebildungen im literarischen Feld unterlaufen. (Auf-)Gebrochene Texte Konstitutive Merkmale des Sekundärdramas sind seine Abhängigkeit, Uneigenständigkeit und Unabgeschlossenheit, die in die Texte selbst eingeschrieben

7

Vgl.: Haß, Ulrike / Meister, Monika: „Wie ist es möglich, Theater ausschließlich mit Texten aufzustören?“ E-Mailwechsel zwischen Ulrike Haß und Monika Meister; Kovacs, Teresa / Meister, Monika: Fläche und Tiefenstruktur. Die leere Mitte von Geschichte in Jelineks Rechnitz (Der Würgeengel) und Winterreise.

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sind, noch stärker jedoch durch paratextuelle Angaben hervorgehoben werden. Wie ausgeführt, rückt bereits der Begriff des „Sekundären“ das Uneigentliche, das Zitat und das Nicht-Authentische in den Vordergrund und markiert damit deutlich die Bezogenheit auf ein Vorhandenes. Diese Bindung an einen anderen Text wird durch weitere paratextuelle Angaben betont: sowohl Titel und Untertitel als auch essayistische Texte und Interviews markieren die Gebundenheit der Texte an das Primärdrama. Bei FaustIn and out stellt bereits der Titel deutlichen Bezug zum Faust-Stoff her, der Untertitel Sekundärdrama zu „Urfaust“ konkretisiert diese Bezugnahme und weist Goethes frühe Sturm-und-Drang-Version als zentralen Referenztext aus. Weniger deutlich als bei FaustIn and out ist die Bindung an ein Primärdrama bei Abraumhalde markiert, hier wird sowohl auf eine Gattungsbezeichnung als auch einen Untertitel verzichtet, lediglich erlaubt der Begriff „Abraumhalde“ Assoziationen zum intertextuellen Schreibverfahren und zur Arbeit mit Textschichtungen, da mit „Abraumhalde“ ein künstlicher Berg bezeichnet wird, der im Tagbau durch Aufschüttung von Schutt und anderem Abfallmaterial entsteht. Weniger spezifisch sind bei Abraumhalde auch die auf der Website der Autorin dem Text beigefügten Abbildungen: wird FaustIn and out durch Lithographien von Eugène Delacroix ergänzt, die 1828 in der französischsprachigen Ausgabe von Goethes Faust I (Übersetzung: Adalbert Stapfer) erschienen sind, sind Abraumhalde zwei Bilder von Gaza Stadt während israelischer Bombenangriffe im Jahr 2009 beigefügt sowie das Gemälde Der LavaterStreit (1856) von Moritz Daniel Oppenheim, das Gotthold Ephraim Lessing und Johann Kaspar Lavater zu Besuch bei Moses Mendelssohn zeigt, womit allgemein auf die Epoche der Aufklärung und die für diese Epoche prägenden Diskussionen um Religionsfreiheit angespielt wird. Das Bild kann als schwache Markierung gelesen werden, das auf jene Dramen Lessings verweist, die sich speziell der Frage nach religiöser Toleranz widmen, nämlich sein frühes Lustspiel Die Juden (1749/54) und sein letztes Drama Nathan der Weise (1779). Deutlich wird durch die Bildwahl in jedem Fall, dass der Text über die Themen Religionskonflikt bzw. Religionsfreiheit heterogene Zeiten und Orte miteinander verbindet. Neben den beigefügten Bildern geben die Verweise am Ende der Sekundärdramen Aufschluss über die zitierte Literatur. Bei FaustIn and out wird an erster Stelle Goethes Urfaust genannt, gefolgt von wissenschaftlicher, philosophischer und religiöser Literatur sowie von Hinweisen auf das eigene Werk. Bei Abraumhalde wird als erstes Lessings Nathan der Weise angeführt, neben religiösen, philosophischen und journalistischen Texten jedoch auch dezidiert auf die Antigone des Sophokles verwiesen und somit ein zweiter Theatertext eingebracht. Mit dem intertextuellen Bezug auf Sophokles wird dem Sekundärdrama eine

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weitere dramatische Schicht hinzugefügt, die mit Lehmann als „prädramatisch“ zu beschreiben wäre.8 Die im Sekundärdrama übernommenen Zitate aus der Antigone stammen, dies wird beim Lesen / Hören des Textes deutlich, meist aus Hölderlins Übertragung der Antigone, die dem Text eine zusätzliche Rezeptionsebene hinzufügt. Da in Abraumhalde weniger Zitate, Themen und Motive aus Nathan der Weise übernommen werden als aus der Antigone, lässt der Text selbst offen, welches Stück als Primärdrama zu behandeln wäre. Auch die kursiv abgehobene Passage zu Beginn von Abraumhalde fördert diese Unsicherheit, ob Nathan oder ein anderer Text als Primärdrama fungiert, wo es heißt: „zu einer Aufführung von ‚Nathan‘ (oder einem ähnlichen Stück)“ (AB). Erst die essayistischen Texte Reichhaltiger Angebotskatalog / Anmerkung zum Sekundärdrama und die Interviews Die Bühne ist ein klaustrophobischer Raum sowie Vorspiel: Die Autorin Elfriede Jelinek legen Nathan der Weise eindeutig als Primärdrama fest (vgl. REI, AN, BÜ, VO). Zwar geht aus der kursiv gesetzten Passage zu Beginn von Abraumhalde nicht hervor, welcher Text als Primärdrama herangezogen werden sollte, dennoch wird mit den dort formulierten Angaben zur möglichen Umsetzung des Textes die Gebundenheit an einen anderen dramatischen Text angedeutet: Der Text könnte vielleicht nichts als Hintergrundmusik, eine Tapete für irgendwelche Popanze sein. Er läuft sozusagen durch als eine Endlosschleife (wenns aus ist, fängt es wieder von vorne an) – ich könnte mir sogar vorstellen, daß er, beinahe unhörbar, wie eine Litanei als Hintergrund zu einer Aufführung von „Nathan“ (oder einem ähnlichen Stück) durchläuft, vielleicht sogar von mir selber gelesen, manchmal etwas lauter, an der Hörgrenze, vielleicht sogar darüber, das müßte jemand vom Pult aus steuern, dann wieder unhörbar, man kann sich von ihm auch beliebige Stücke abschneiden, ungefähr wie von einer langen Wurst. Man kann Sätze auch mittendrinnen durchschneiden. Falls man es inszenieren möchte: Die Figuren, die sprechen, sollen entweder vergrößert werden, vielleicht durch riesige Pappmachéköpfe, die sie tragen, am besten mit dem Gesicht nach hinten, sodaß sie auf der Bühne dauernd zusammenstoßen, umfallen, das Bühnenbild, falls es eins gibt, umreißen, die Bühne auf unterschiedlichste Weise devastieren, etc. etc. Oder die Figuren verdoppeln sich auf andere Weise. Sie tragen Kopf und Glieder, sozusagen ein

8

Vgl.: Lehmann, Hans-Thies: Theater und Mythos, wo er konstatiert, dass sich die griechische Tragödie nicht mit dem Paradigma des „Dramatischen“ beschreiben lässt: „Indem aber das innovative Theater vom Primat der dramatischen Narration Abschied nimmt, berührt es sich in seiner nicht-dramatischen Verfassung eigentümlich mit den (europäischen) Anfängen des Theaters. […] das antike Theater muß als wesentlich prä-dramatisch begriffen werden.“ (Ebd., S. 2.)

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zweites Mal, eben verdoppelt, mit sich herum. Der Kopf soll dann ihre Gesichtszüge tragen, er kann aber auch andre haben. Es soll eine Vermehrung und/oder allgemeine Vergrößerung von allem stattfinden. Vielleicht, wenn sich Gegenstände auf der Bühne befinden, sollen die proportional sehr klein sein, damit die Figuren riesig wirken. Der Text kann aber auch, wie gesagt, als reine Geräuschtapete eingesetzt werden, sehr leise und beinahe unverständlich, wie fernes Gemurmel, und nur manchmal wirklich hörbar und verständlich.) (AB)

Während die erste beschriebene Möglichkeit der Umsetzung, die das Sekundärdrama als „Hintergrundmusik“ denkt, die Bindung an das Primärdrama verlangt, bleibt diese für die mögliche Inszenierung offen, die zwar die Vergrößerung und Verdoppelung der Figuren anregt, jedoch nicht von einer tatsächlichen Engführung von Primär- und Sekundärdrama ausgeht. Dezidiert wird die unbedingte Gebundenheit an das Primärdrama in Anmerkung zum Sekundärdrama gefordert, wo allgemein für die Umsetzung des Sekundärdramas auf der Bühne festgehalten wird: Noch etwas zur jeweiligen Realisierung: Die Möglichkeiten sind unbegrenzt. Das Hauptdrama kann Szenen aus dem Seitendrama integrieren, der Text kann im Hintergrund als Schrift durchlaufen, man kann ihn wie ein Hörspiel hören, aus dem Off oder von Schauspielerinnen und Schauspielern auf der Bühne, neben dem Hauptstück, nur gesprochen oder auch gespielt. Das Hauptstück kann kurz zurücktreten und dem Sekundärstück Platz machen und umgekehrt. Die Zuschauer können den Text auf ihren Laptops oder Handys im Zuschauerraum mitlesen, nachdem sie ihn sich geladen haben. Das Sekundärstück kann über einzelne Strecken das Hauptstück ersetzen, nur eins geht nicht: Das Sekundärdrama darf niemals als das Hauptstück und alleine, sozusagen solo, gespielt werden. Eins bedingt das andre, das Sekundärdrama geht aus dem Hauptdrama hervor und begleitet es, auf unterschiedliche Weise, aber es ist stets: Begleitung. Das Sekundärdrama ist Begleitdrama. (AN)

Diese unbedingte Abhängigkeit wird auch in den beiden zu FaustIn and out geführten Interviews betont, in denen Jelinek die Wechselwirkung, die zwischen Primär- und Sekundärdrama im Moment der Inszenierung entsteht, als zentrales wirkungsästhetisches Element der Sekundärdramen beschreibt (vgl. BÜ, VO). Über das mit Ulrike Maria Stuart entwickelte Verfahren des „Hineindrängens“ in einen vorhandenen Text hinausgehend,9 wo das Eindringen des Textes über die Einschreibung von Schillers Drama vollzogen wird, werden die dramati-

9

Vgl.: Jelinek, Elfriede: Sprech-Wut (ein Vorhaben), S. 12.

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schen Referenztexte nicht nur als brüchig gewordene Struktur von Jelineks Theatertexten präsent, sondern die Sekundärdramen dringen darüber hinaus tatsächlich in die Primärdramen ein und schreiben sich auf diese Weise als Schicht in diese Stücke ein. Durch die gemeinsame Inszenierung wird das Verhältnis zwischen zwei Texten ungleich komplexer: anders als bei anderen Theatertexten Jelineks, wirken beide Texte unmittelbar aufeinander ein, das Primärdrama wird als dem Sekundärdrama zugrundeliegende Struktur präsent, aber auch umgekehrt kann das Sekundärdrama als dem Primärdrama zugrundeliegende Struktur gelesen werden, die das Primärdrama in sich einlagert und fortschreibt. Das Primärdrama wird so auch nicht ausschließlich in der Lesart von Jelineks Text präsent, sondern es wird daneben als unbearbeitetes Textmaterial eingeführt, das erst von der jeweiligen Inszenierung perspektiviert und interpretiert wird. In Abraumhalde entstehen die dramatischen Ablagerungen durch das Aufgreifen von Themen und Motiven aus Lessings Nathan der Weise sowie durch das Einfügen (verfremdeter) Zitate aus dem Primärdrama. Noch dominanter tauchen dramatische Strukturen in FaustIn and out auf, wo nicht nur (verfremdete) Zitate, Themen und Motive von Goethes Urfaust, aber auch Faust I und Faust II aufgegriffen werden, sondern der Text selbst folgt in groben Zügen der Gretchen-Handlung. Er zitiert und transformiert den ersten Nebentext des Urfausts und „borgt“ sich Figuren aus dem Primärdrama, die er verschiebt und vielfältig bricht. Jelinek vergleicht ihr Verfahren mit Arnulf Rainers Bildübermalungen (vgl. BÜ), wobei der Begriff der Übermalung auch an Heiner Müller denken lässt, der seine Bildbeschreibung als „Übermalung der ALKESTIS“ bezeichnet, als „Explosion einer Erinnerung in einer abgestorbenen dramatischen Struktur“10. Lehmann arbeitet heraus, dass Müller mit der Übermalung ein „bewußtes ZumVerschwinden-Bringen“11 der dramatischen Vorlage vollzieht, die einzig als Fragment erkennbar bleibt. Auf textueller Ebene kann auch für die Sekundärdramen von einem „Zum-Verschwinden-Bringen“ der dramatischen Referenztexte ausgegangen werden, da die aus den Primärdramen übernommenen Zitate quasi ausgestrichen und bis zur Unkenntlichkeit entstellt werden. So überlagert die kursiv abgehobene Passage zu Beginn von FaustIn and out den ersten Nebentext von Goethes Urfaust. Beginnt Goethes Stück mit: „In einem hochge-

10 Müller, Heiner: Bildbeschreibung. In: Müller, Heiner: Werke. Bd. 2: Die Prosa. Hg. von Frank Hörnigk. Berlin: Suhrkamp 1999, S. 112-119, S. 112. 11 Lehmann, Hans-Thies: Theater der Blicke. Zu Heiner Müllers „Bildbeschreibung“. In: Profitlich, Ulrich (Hg.): Dramatik der DDR. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, S. 186-202, S. 200.

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wölbten engen gothischen Zimmer. Faust unruhig auf seinem Sessel am Pulten.“ (UF), setzt Jelineks Sekundärdrama ein mit: Zwei Fernsehapparate, in denen vielleicht Szenen aus „Urfaust“ laufen, die zum Teil auch auf der Bühne gespielt, abgefilmt und projiziert werden könnten. Nur ein Vorschlag. Zwei Fernsehsessel, in denen je ein Einpersonenchor sitzt: GeistIn und Faust-In, wer immer das ist. Aber zumindest Faust-In muß eine Frau sein, die sitzen also in ihren Fernsehsesseln vor dem Bildschirm. (FAU)

Jelineks Sekundärdrama aktualisiert und transformiert Goethes Text, indem das Zimmer des Gelehrten durch ein Wohnzimmer und das darin befindliche Pult durch zwei Fernsehgeräte ersetzt wird. Der Text markiert darüber hinaus deutlich, dass er auf Anreicherung und Vervielfachung abzielt: aus einem Pult werden zwei TV-Geräte, das Subjekt Faust muss einem vielfach gebrochenen „Einpersonenchor“ weichen. Dieses Verfahren ist konstitutiv für den weiteren Text, der etwa mit der Frage „Die Weiber führen lehren?“ (FAU) beginnt, was auf Mephistopheles „Besonders lernt die Weiber führen“ (UF) aus der Szene Nacht verweist. Auch in Abraumhalde überlagert das Sekundärdrama das Primärdrama, bringt es immer wieder gänzlich zum Verschwinden, bevor dieses doch wieder als fragmentarische, dem Text zugrunde liegende Struktur sichtbar wird. Der Beginn des Sekundärdramas orientiert sich an den ersten Zeilen von Lessings Stück und greift den Dialog zwischen Nathan und Daja auf, in dem Daja vom Brand des Hauses und von der glücklichen Rettung Rehas erzählt, negiert jedoch den positiven Ausgang, der bei Lessing die Handlung des Textes bestimmt. Heißt es bei Lessing: „Daja: O Nathan, / Wie elend, elend hättet Ihr indes / Hier werden können! Euer Haus... / Nathan: Das brannte. / So hab ich schon vernommen. – Gebe Gott, / Daß ich nur alles schon vernommen habe! / Daja: Und wäre leicht von Grund aus abgebrannt. / Nathan: Dann, Daja, hätten wir ein neues uns / Gebaut; und ein bequemeres.“ (NA), steht bei Jelinek: „Das Haus, das brannte, das brannte, da kann man nichts machen, es hat hier gebrannt, wir bauen uns ein neues, ein bequemeres, ein bequemeres. Verbrannt? Verbrannt? Verbrannt? Nicht auf immer, will ich hoffen? Wiederaufersteht aus Ruinen? Nein. Verbrannt verbrannt.“ (AB) Das brennende Haus aus Nathan der Weise durchzieht leitmotivisch den Text, wird jedoch durch vielfältige Veränderungen und die Einbettung in neue Kontexte quasi durchgestrichen und überschrieben. Besonders deutlich wird das Verfahren der Übermalung an Lessings Ringparabel, die im Sekundärdrama an zwei Stellen in verfremdeter Form aufgegriffen wird:

136 | D RAMA ALS S TÖRUNG Im Haus herrscht die Frau, doch hier unten haben allein wir das Sagen. Gut, daß der Platz dafür schon da ist, sonst hätten wir den auch noch schaffen oder beschaffen müssen. In einem Haus stellt sich der innere Friede von selber ein, denn in einem Haus stellt man sich ein oder stellt man etwas anderes ein. In einem Bunker stellt man jemanden an, der die Arbeit macht, die Arbeit am Körper und die Arbeit am eigenen Körper; vor grausigen Zeiten, ein Mann im Osten, oder war es Westen? Nein, meine Weste finde ich jetzt nicht. Bei diesen Temperaturen brauch ich sie auch nicht und finde ich sie nicht. (AB, Herv. d. Verf.) Vor grauen Jahren lebten Menschen im Osten, lebten Menschen im Osten, lebten Menschen im Osten, die nichts von unschätzbarem Wert aus lieber Hand besaßen. Na und? Jetzt besitzen sie es immer noch nicht. Egal, woran sie glauben, sie kriegen es nicht. Sie kriegen nichts. Sie kriegen Krieg, aber sie kriegen nichts mit. Sie kriegen nicht, daß sie aus dem Feuer gerettet werden. Sie kriegen nicht einen Gewinn, der frisch gewagt wurde. Sie kriegen von mir aus auch keinen Krieg, und sie kriegen immer noch nichts. Sie kriegen nichts mehr. […] Ich will nicht sterben, aber ich muß. So hat meine Mama es zusammengefaßt. Sie hat keine Parabel dafür gebraucht und keine Hyperbel und keine Hypotenuse, sie hat sich nichts ausrechnen müssen, denn das hat sie schon vorher gewußt. Das weiß doch jeder! Es gibt keinen Unterschied, denn es ist nichts mehr zu unterscheiden. Es ist nichts mehr da. Es ist alles da. Wir gehen zum Anwalt und verklagen einander, damit es wieder weniger wird, für meine Wenigkeit leider auch weniger, aber wir klagen, wir klagen auf jeden Fall, damit wenigstens das Wenige dann schön aufgeteilt wird. Hier ist alles echt. Hier irrte der Dichter. (AB, Herv. d. Verf.)

In der ersten Passage, die am Beginn des Textes steht, unterbricht das fragmentierte und transformierte Zitat den Textfluss und verweist dadurch bereits darauf, dass Lessings Toleranzformel brüchig geworden ist und verfälscht im Heute nachklingt. Setzt Nathans Ringparabel-Erzählung mit „Vor grauen Jahren lebtʼ ein Mann in Osten“ (NA) ein, verschiebt das Sekundärdrama „grau“ zu „grausig“ und macht damit die Gewalt bewusst, die in Lessings Ringparabel verschwiegen wird. Darüber hinaus wird „der Mann“ durch „die Menschen“ ersetzt, durch eine anonyme Masse, die sich auch örtlich nicht mehr festlegen lässt, was deulich auf eine grundsätzliche Vielstimmigkeit und Heterogenität verweist und die Möglichkeit des Anderen prinzipiell offen lässt. Wird die Ringparabel damit bereits zu Beginn des Textes in Erinnerung gerufen, verschwindet sie in der Folge hinter dem Sekundärdrama und wird erst wieder im vorletzten Absatz aufgegriffen. Anders als in der ersten Passage bezieht der Text hier den gesamten ersten Satz der Ringparabel ein („Vor grauen Jahren lebtʼ ein Mann in Osten, / Der einen Ring von unschätzbarem Wert / Aus lieber Hand besaß.“, NA), substituiert

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jedoch auch an dieser Stelle das Individuum durch die anonyme Masse der Menschheit und negiert den Wert des Besitzes sowie die Hoffnung auf Rettung und auf einen positiven Ausgang: im Sekundärdrama brennt das Feuer, es vernichtet und zerstört, ohne den Gedanken, aufbauend aus Ruinen Neues und Größeres zu errichten, wie es bei Lessing formuliert wird. Mit dem Verweis auf die Mutter kann der zweite Teil auch als feministische Überschreibung der Ringparabel gelesen werden, die nicht dem Wort des Vaters, sondern einem matriarchalen Prinzip folgt. Dass die Ringparabel zu Beginn und am Ende des Sekundärdramas präsent wird, kann darüber hinaus als Umkehrung bzw. Verkehrung ihrer Stellung interpretiert werden: Ist sie das Herzstück und steht im Zentrum von Lessings Nathan der Weise, wird sie im Sekundärdrama an die Ränder gedrängt, verliert ihre zentrale Stellung und damit auch ihren Wert – als sinnentleerter Rest bildet sie die Klammer des Sekundärdramas, in dessen Mitte die Leere sichtbar wird. Suggeriert der Text ein Zum-Verschwinden-Bringen des Primärdramas, wird mit dem Konzept des Sekundärdramas allerdings deutlich, dass die Vorlage nie gänzlich zum Verschwinden gebracht werden kann, auch wenn der Text diese Übermalung scheinbar vollzieht, da die dramatische Struktur spätestens im Moment der Inszenierung wieder präsent wird. Das Konzept setzt gerade voraus, dass der Bezugstext nicht bloß als ein Rudiment unter der neu aufgetragenen Textschicht durchscheint, sondern dass er in verschiedenen Formationen vorhanden bleibt. Das Primärdrama wird dem Sekundärdrama im Moment der Inszenierung nochmals eingeschrieben und fügt diesem dadurch weitere Schichten hinzu, ohne jedoch andere zu entfernen. Indem die Sekundärdramen von anderen Formen der Bearbeitung abweichen, den Referenztext nicht als unsichtbaren Dialogpartner in die Texte integrieren, sondern tatsächlich mit ihm in Dialog treten, werden die Primärdramen als größere Struktur präsent und das Mit dramatischer und nicht-mehrdramatischer Formen wird deutlicher betont. Die dramatischen Bezugstexte werden als teilweise übermächtige Formation erfahrbar, die Jelineks Sekundärdramen an manchen Stellen verdrängen und unhörbar machen – so wird es in der kursiv abgesetzten Passage zu Beginn von Abraumhalde angedacht (vgl. AB). Allerdings können auch die Sekundärdramen die dramatischen Bezugstexte in den Hintergrund drängen, wie es sich v.a. bei FaustIn and out zeigt, wo für die mögliche Inszenierung angegeben wird, dass das Primärdrama nur noch als Filmprojektion auf einem Bildschirm o.ä. präsent wird (vgl. FAU). Eines wird bei dem Konzept jedoch deutlich: keine Struktur kann gänzlich verdrängt oder abgeschafft werden, sondern alles bleibt vorhanden und steht in Bezug zueinander, wenn auch unhörbar und unsichtbar.

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Mit der Kombination beider Texte im Moment der Inszenierung erreicht das Sekundärdrama darüber hinaus, dass nicht nur dramatische Strukturen, sondern auch Inszenierungspraktiken als Fragmente sichtbar werden, damit verbunden Fragen nach „Klassikerinszenierung“ und „Regietheater“ etc. neu gestellt und die Texte in ihrer Gebundenheit ans Theater bewusst gemacht werden, womit sie weitreichender als andere Texte in den Theaterbetrieb selbst eingreifen. Damit erfüllen sie in noch deutlicherer Weise, was Ulrike Haß allgemein für Jelineks Theatertexte festhält, wenn sie davon spricht, dass Jelineks Verfahren über eine Polemik gegen den Theaterbetrieb hinausgeht, indem die Texte den Betrieb auf seine Bedingungen und seine Geschichte hin befragen.12 Die Einlagerung verschiedener dramatischer Strukturen in die Sekundärdramen und die nochmalige Potenzierung dieses Verfahrens im Moment der Inszenierung lassen fragmentarische Texte entstehen, die nicht mehr als ganzheitliches, geschlossenes Kunstwerk rezipiert werden können und die damit zentral die Frage nach dem Verhältnis von Werk und Ganzheit berühren. Indem die Sekundärdramen als „Begleitdramen“ (AN) beschrieben werden und Jelinek in ihren essayistischen Texten und Interviews deren Abhängigkeit und Uneigenständigkeit dominant betont, wird bewusst gemacht, dass die Sekundärdramen immer nur als Teil eines Ganzen begriffen werden können und sie sich dem Denken einer möglichen Abgeschlossenheit widersetzen. Nicht nur die Bindung an ein Primärdrama, sondern auch die Vorgabe der gemeinsamen Inszenierung von Primär- und Sekundärdrama betonen das Unvollständige der Texte. Da das Konzept im Moment der Inszenierung überhaupt erst entsteht und so seine Wirkungsweise entfaltet, braucht das Sekundärdrama das Theater, um daran weiterzuschreiben. Es ist als Text immer schon unvollständig und macht damit sichtbar, was grundsätzlich für jeden Theatertext gültig ist. Mit dem Aufbrechen des geschlossenen Kunstwerks und der Betonung der Prozesshaftigkeit wird auch der Dauerhaftigkeit von Kunst eine Absage erteilt: Das Konzept entsteht erst mit der Inszenierung und so besteht es auch immer nur für die Dauer der Inszenierung, kann also, ebenso wie die Inszenierung selbst, nicht konserviert werden. Die Negation des Ewig-Gültigen wird besonders in Anmerkung zum Sekundärdrama evident, wo die Sekundärdramen als Gegenentwurf zur Dauerhaftigkeit der „Klassiker“ beschrieben werden (vgl. AN). Aber auch in den Interviews setzt Jelinek die Sekundärdramen deutlich von den Primärdramen ab. Beispielsweise, wenn sie Goethes Werke als „eherne Blöcke“

12 Vgl.: Haß, Ulrike / Meister, Monika: „Wie ist es möglich, Theater ausschließlich mit Texten aufzustören?“ E-Mailwechsel zwischen Ulrike Haß und Monika Meister, S. 113.

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und „Marmorblock“ bezeichnet und damit die „Schwere“ bzw. das „Schwergewicht“ dieser Texte im kulturellen Gedächtnis des deutschsprachigen Raums verdeutlicht, dem sie ihr „federleichtes“ Sekundärdrama gegenüberstellt, das sie noch dazu als „kleines Daunenkissen“ beschreibt (vgl. BÜ). Diese Vergleiche und hierarchischen Reihungen sind als Gesten zu lesen, die die Sekundärdramen bewusst den Primärdramen unterordnen, um damit auf die übermächtige Stellung kanonisierter Dramatiker aufmerksam zu machen. Auch die Betonung der Gebundenheit der Sekundärdramen an die Primärdramen kann als ironisches Spiel gelesen werden. Prinzipiell sind alle sekundären Textformen, indem sie sich auf einen bestehenden Text beziehen, an einen anderen Text gebunden und abhängig davon, dass die RezipientInnen den Referenztext ergänzen können, da sie erst so ihre Wirkungsweise voll entfalten. Grundsätzlich gilt, dass die Bekanntheit des Referenztextes ausschlaggebend dafür ist, wie deutlich der Bezug markiert werden muss, sodass die RezipientInnen in der Lage sind, zu erkennen, dass es sich um eine Bearbeitung handelt. Nathan der Weise und Urfaust sind Texte, die eigentlich keiner starken Markierung bedürfen, da ihre Kenntnis bei den meisten RezipientInnen vorausgesetzt werden kann, dass Jelinek dennoch diese Ergänzungsleistung vorwegnimmt, stellt somit eine Markierung dar, die bewusst ignoriert, dass es sich bei Lessings und Goethes Stücken um zentrale Texte des deutschsprachigen Kanons handelt. Die Forderung der Kombination erweist sich so auch als Irritation, da sie bewusst mit den Konventionen sekundärer Textformen bricht, das gesellschaftlich anerkannte Wissen nicht als gegeben auffasst und damit den deutschsprachigen literarischen Kanon, an dessen Spitze Goethe und Lessing stehen, als Konstruktion entlarvt. Die Rezeption der Texte sowie der Inszenierungen belegt, dass die Betonung der Gebundenheit an Lessings und Goethes Texte bei den RezipientInnen Irritationen erzeugt und dazu führt, dass Fragen nach der Bewertung von Kunst und nach dem Verhältnis von Werk, Ganzheit und Originalität entstehen. So wird in beiden Interviews, die mit der Autorin zum Sekundärdrama geführt wurden, infrage gestellt, ob die Bindung an die Primärdramen wirklich notwendig sei. Der Dramaturg Roland Koberg etwa betont, dass Goethes Text bekannt genug wäre, um die Bezüge auch ohne den Referenztext klar zu erkennen (vgl. BÜ). Noch deutlicher lässt sich anhand der Besprechungen der Inszenierungen von FaustIn and out erkennen, dass die Forderung der Kombination verunsichert und dadurch offenlegt, dass die Bewertung von Kunst immer noch stark an die Kategorien Originalität und Eigenständigkeit gebunden ist, da in den Kritiken dominant die Frage nach der Eigenständigkeit bzw. nach dem primären Status von Je-

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lineks Sekundärdramen gestellt wird.13 Diese Tendenzen belegen, dass die Sekundärdramen mit ihrer Forderung der Gebundenheit eines Textes an einen anderen Störungen erzeugen und die RezipientInnen in ihrer Wahrnehmung von Kunst verunsichern, wodurch schließlich Bewertungsmechanismen sichtbar werden bzw. offenlegt wird, welche Kategorien für die Bestimmung und Beurteilung von Kunst relevant sind. Nicht nur die Sekundärdramen selbst sind als bewusst fragmentarisch gestaltete Texte zu beschreiben, sondern sie versetzen auch umgekehrt die Primärdramen in den Status des Fragments. Denn mit dem Eindringen der Sekundärdramen in Lessings und Goethes Stücke wird das Aufbrechen eines vermeintlich Ganzen performativ umgesetzt. Die als geschlossene Kunstwerke rezipierten Primärdramen werden damit neu lesbar und fortschreibbar. Mit der Öffnung der Texte wird bewusst, was in den Primärdramen ausgespart wird bzw. was zugunsten der Sinnstiftung weggestrichen werden musste. Besonders deutlich wird dies bei FaustIn and out, wo Jelinek auf die nicht-kanonisierte Sturm-undDrang-Fassung zurückgreift und nicht auf den klassischen, kanonisierten Faust I. Mit dem Urfaust wird jene Faust-Bearbeitung als Primärdrama angeführt, die selbst Fragment geblieben ist, die aus späterer Sicht nicht als eigenständiges Kunstwerk, sondern als Vorstufe zum späteren Werk zu bewerten ist und die von Goethe überarbeitet und „geglättet“ wurde (so ist Faust I in Blankversen verfasst, während im Urfaust noch Knittelverse und Prosa abwechseln). Primavesi etwa hält für den Urfaust fest: „Im genaueren Vergleich der Textfassungen wird deutlich, mit welcher Gewalt und welchen Verlusten der spätere Goethe die Version des Urfaust bearbeitet hat“14 und unterstreicht damit den gewaltsamen Akt, der mit der Vollendung eines Werks einhergeht. Mit dem Rückbezug auf den Urfaust markiert das Sekundärdrama jenen gewaltsamen Aspekt, der mit der Überarbeitung des Textes hin zur klassischen, kanonisierten Version einherging, in der alle „Abgründe“ getilgt wurden.

13 Vgl. bspw.: Weinzierl, Ulrich: Männer, in denen immer auch der Teufel steckt. In: Die Welt, 10.3.2012 („‚FaustIn and out‘ ist aber auch ein Sprachkunstwerk der besonderen Art und braucht sich vor Goethes ‚Faust‘ nicht zu verstecken.“); Stadelmaier, Gerhard: Witzeln und fritzeln. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.9.2012 („Abgesehen davon, dass Jelinek eigentlich den rohen ‚Urfaust‘ meint und man in Frankfurt also den falschen, den entwickelteren ‚Faust‘ der Jelinek vorschaltet, demonstrieren wie schon in der Zürcher Uraufführung die Frauenstellen-Darstellerinnen […], dass ‚FaustIn and out‘ ein fabelhaftes Primärdrama ist. Es braucht Goethes ‚Faust‘ nicht.“). 14 Primavesi, Patrick: Tragödie, Fragment, Theater, S. 156.

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Mit Verweis auf Einar Schleef, der sich in Droge Faust Parsifal intensiv mit Goethes Faust-Bearbeitung auseinandersetzt, bezeichnet Jelinek den Urfaust als das bessere Stück, weil es noch nicht dem „Wunsch zum klassischen Ebenmass [sic]“ (BÜ) folgt, womit die Kritik an der Reduktion von Pluralität zugunsten der Einhaltung der dramatischen Form nochmals verdeutlicht wird. Darüber hinaus wird mit dem Urfaust jener Text ausgewählt, der beispielhaft für die Verdrängung der Frau aus der dramatischen Sphäre steht. Die Reduktion der weiblichen Figur Margarete, um deren Schicksal der Urfaust zentral kreist, die mit Faust I und II erfolgt, wo Margarete nur noch eine Station im Leben Fausts darstellt, bildet eine wichtige Grundlage für das Sekundärdrama. Mit der Irritation von Werk und Ganzheit geht auch die Störung dominanter AutorInnenschaftsbegriffe einher. Dieses Spiel mit der Verunsicherung der AutorInnenposition wird v.a. in Anmerkung zum Sekundärdrama betrieben, wo Jelinek sich selbst für die Dauer der Inszenierung als „Sekundärkünstlerin“ bezeichnet, da sie mit den Sekundärdramen uneigenständige Texte produziert (vgl. AN). Die ironische Inszenierung der eigenen Autorinnenposition hat bei Jelinek Methode, wie Monika Meister hervorhebt, und ist als solche immer auf ihre Funktion hin zu befragen.15 Ebenso wie beim „Sekundärdrama“ impliziert der Begriff der „Sekundärkünstlerin“ eine mindere Position, eine der/dem KünstlerIn untergeordnete Stellung. Das „Sekundäre“ als das „Beiwerk“ lässt aber auch an eine Position außerhalb des Zentrums denken, an ein Neben, ist also vergleichbar mit anderen Positionierungen, die die Autorin bislang eingenommen hat – so etwa, wenn sie sich in ihrer Nobelpreisrede „im Abseits“ verortet, aber auch in ihren Theatertexten er nicht als er (zu, mit Robert Walser) und Winterreise, wo sie Schreiben und AußenseiterInnentum deutlich miteinander in Beziehung setzt.16 Im speziellen Fall des Sekundärdramas kann die Positionierung als „Sekundärkünstlerin“ auch als kritischer Kommentar zu aktuellen Theaterund Dramendebatten gelesen werden, die sogenannte nicht-mehr-dramatische Theatertexte als „langweilig“ abwerten und die Rückkehr zur dramatischen Form, zu Dialog, Handlung und Figur fordern.17 Die Bezeichnung „Sekundär-

15 Vgl.: Meister, Monika: „Theater müßte eine Art Verweigerung sein“. Zur Dramaturgie Elfriede Jelineks, S. 288. 16 Vgl.: Jelinek, Elfriede: er nicht als er. (zu, mit Robert Walser). Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998; Jelinek, Elfriede: Winterreise. Reinbek: Rowohlt 2011; Jelinek, Elfriede: Im Abseits. http://nobelprize.org/nobel_prizes/literature/laureates/2004/jeli neklecture-g.html (15.7.2014). 17 Vgl. in diesem Kontext bspw. die Rede von Daniel Kehlmann zur Eröffnung der Salzburger Festspiele 2009: Kehlmann, Daniel: Die Lichtprobe. http://landversand.

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künstlerin“ verweist darüber hinaus abermals darauf, dass die Bewertung von Kunst und damit die Bewertung von Kunstschaffenden eng mit den Kategorien Originalität und Authentizität verbunden ist. Der Begriff der „Sekundärkünstlerin“ eröffnet aber auch Assoziationen zum Ausschluss der Frau aus dem Bereich der Kunst und auf die Frau als Verdrängtes. (Aus-)Gebrochene Figuren Brüche und Abbrüche des (Post-)Dramatischen werden im Sekundärdrama auch dadurch erzeugt, dass Figuren der Primärdramen in die Sekundärdramen eingelagert, verfremdet und mit Stimmen weiterer literarischer Figuren, realer Persönlichkeiten etc. kombiniert werden. Dieses Verfahren entwickelt Jelinek nicht erst mit dem Sekundärdrama, sondern es ist ein grundlegendes Prinzip ihrer Theatertexte. So verweist Karen Jürs-Munby darauf, dass der von Evelyn Annuß geprägte Terminus „Theater des Nachlebens“18 auch auf die Sekundärdramen übertragbar scheint.19 Mit dem Begriff des „Nachlebens“ versucht Annuß, „das entstellte Fortdauern der sprechenden Figuren“ zu fassen, die „als Formzitate personaler Darstellung“20 in Jelineks Theatertexten auftauchen. Damit ist jene Vielstimmigkeit angesprochen, die in der Forschung zu Jelinek bereits intensiv beschrieben wurde. Jelineks Theatertexte sind von Beginn an geprägt durch eine entpersonifizierte Rede, die es nicht erlaubt, das Sprechen auf bestimmte Figuren, Individuen etc. zurückzuführen und die so immer erneut die Frage nach dem „Wer spricht?“ aufkommen lässt.21 Seit dem Theatertext Wolken.Heim. (1988)

salzburg.gv.at/WebRoot/Store/Shops/Landversand/5252/A3F4/B2AD/9DCB/3785/4 DEB/AE3E/249B/kehlmann09.pdf (16.6.2015); oder die Rede von Peter Turrini: Rede zur Verleihung des Nestroy-Preises 2011. http://www.profil.at/home/peter-turrinirede-verleihung-nestroy-preises-2011-345629 (16.6.2015). 18 Vgl.: Annuß, Evelyn: Elfriede Jelinek – Theater des Nachlebens. München: Wilhelm Fink 2005. 19 Vgl.: Jürs-Munby, Karen: Parasitic Politics, S. 213. 20 Annuß, Evelyn: Elfriede Jelinek – Theater des Nachlebens, S. 11. 21 Vgl. neben Annuß bspw. die Sammelbände: Arteel, Inge / Müller, Heidy Margit (Hg.): Elfriede Jelinek – Stücke für oder gegen das Theater? Brüssel: Koninklijke Vlaamse Academie van België 2008; Janke, Pia (Hg.): Elfriede Jelinek: „ICH WILL KEIN THEATER“. Mediale Überschreitungen. Wien: Praesens Verlag 2007 (= DISKURSE.KONTEXTE.IMPULSE. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums 3). Ganz aktuell beschäftigen sich einige Beiträge im Band „Postdramatik“. Reflexion und Revision mit dieser Frage, z.B.: Hochholdinger-Reiterer, Beate: Spricht

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verzichtet Jelinek fast gänzlich auf SprecherInnenangaben, was die Vielstimmigkeit der Texte nochmals betont, und auch wenn bei neueren Texten Angaben zu möglichen SprecherInnen gemacht werden, bleiben diese unkonkret, so etwa bei FaustIn and out.22 Bärbel Lücke verweist in ihrer Analyse von FaustIn and out ebenfalls auf das Prinzip des „Nachlebens“, bedient sich zur Beschreibung der „zombiehafte[n] Wiederkehr“23 der Figuren aus den Primärdramen jedoch des von Derrida geprägten Terminus der Aufpfropfung. Damit wird auf eine Kulturtechnik rekurriert, die das Herauslösen eines Glieds aus einer Kette und ihre Neukontextualisierung meint. Das Interessante daran ist, dass damit weniger das Nacheinander als vielmehr das gleichberechtigte Miteinander der einzelnen Glieder betont und das Fragmentarische bewusst wird. Der Umgang mit Figuren(-bruchstücken) wird damit, anders als es beim Begriff des Nachlebens der Fall ist, als ein Neben- und Ineinanderfügen beschreibbar. Es sind aus ihren Kontexten ausgebrochene Figuren, die gleichzeitig immer schon in sich selbst gebrochene sind. Wenn alles brüchig ist, können die Figuren keinen Anspruch auf Ganzheitlichkeit stellen, ebenso wenig kann der Text, in den sie als Glieder eingefügt werden, ein Ganzes werden, sondern auch er ist immer ein vielfach gebrochenes Flickwerk. Lücke geht davon aus, dass die Figuren der Primärdramen durch ihre Neukontextualisierung andere Möglichkeiten des Funktionierens bzw. Kommunizierens erfahren.24 Eventuell könnte man aber auch davon sprechen, dass damit weniger Möglichkeiten des Funktionierens als vielmehr des Nichtfunktionierens eröffnet werden. Die „abgebrochenen Figuren“ funktionieren in diesem neuen Kontext „Sekundärdrama“ nicht (mehr), sie können nicht (mehr) ungestört kommunizieren, was wiederum bewusst macht, dass jedem Kommunizieren die

wer? Zwischenbilanz textanalytischer Annäherungen; sowie: Jirku, Brigitte: Materialität und Medialität postdramatischer Theatertexte. 22 Weiters wären die Angaben „A“ und „B“ bzw. „erste und zweite Geige“ in Kein Licht. (Vgl.: Jelinek, Elfriede: Kein Licht. In: Theater heute 11/2011 (Beilage)) anzuführen oder „Doppelgeschöpf, weibl.“ und „Doppelgeschöpf, männl.“ in Die Straße. Die Stadt. Der Überfall. (Vgl.: Jelinek, Elfriede: Die Straße. Die Stadt. Der Überfall. http://a-e-m-gmbh.com/wessely/fstrasse.htm (15.12.2015), datiert mit 3.11.2012 (= Elfriede Jelineks Website, Rubriken: Archiv 2012, Theatertexte).) 23 Lücke, Bärbel: Faust und Margarethe als Untote. Zu Elfriede Jelineks „FaustIn and out. Sekundärdrama zu Urfaust“ – offene/verdrängte Wahrheiten in freiheitlichen Zeiten, S. 24. 24 Vgl.: Ebd., S. 24.

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Möglichkeit der Störung innewohnt, auch, wenn sie nicht wahrgenommen wird. Jelinek macht jene ausgeblendeten Störgeräusche hörbar und verweist damit gleichzeitig darauf, dass auch im alten, vermeintlich „natürlichen“ Kontext das Nichtfunktionieren als Möglichkeit immer schon vorhanden war. Sowohl der Begriff des Nachlebens als auch die Untoten-Metaphorik, der sich Lücke bedient, markieren das Fortleben der Figuren durch das Zitat und deren (transformiertes) Weiterleben im Heute. Demnach werden auch auf dieser Ebene Zeitverschiebungen und -schichtungen erzeugt und lineare Zeitkonzepte problematisch gemacht. Lücke rekurriert auf jene Zeitschichtungen, wenn sie festhält, dass Goethes Margarete mit „all den verdrängten Aspekten ihrer Rezeptionsgeschichte und Deutungsmöglichkeiten“25 in Jelineks Sekundärdrama präsent wird. Treffend beschreibt sie in Hinblick auf FaustIn and out die Fülle an Stimmen, die im Text hörbar wird. Stimmen, die sich als weiblich und / oder männlich assoziieren lassen, die aber nie greifbar und nie eindeutig festlegbar sind. Obwohl Vielstimmigkeit ein grundlegend konstitutives Prinzip von Jelineks Theatertexten ist, spricht Lücke in Bezug auf das Weiterleben der Figuren aus den Primärdramen in den Sekundärdramen von einer „poetischen Revolution“26. Sie begründet das damit, dass mit den Sekundärdramen „den inzwischen Vergessenen“ eine Stimme gegeben wird, „über die in den Medien eine Zeitlang laut verhandelt worden ist“27 und die alle in unterschiedlicher Weise auf den Faust-Stoff zurückzuführen sind, in diesem kulminieren. Die „poetische Revolution“, von der Lücke spricht, liegt meines Erachtens nach in der geforderten Kombination von Primär- und Sekundärdrama. Denn die Lessing’schen und Goethe’schen Figuren werden dadurch nicht nur in neue Kontexte eingebettet, sondern sie bleiben auch ihrem alten Kontext verhaftet. Als (verfremdete) Figurenbruchstücke können sie im Sekundärdrama nicht heimisch werden, andererseits wirken sie – ergänzt um die Stimmen des Sekundärdramas – auch in den Primärdramen ungewohnt und fremd. Damit erweisen sie sich als vielfach einund ausgeschlossene Figuren, die nicht zur Ruhe kommen. Zwar arbeiten beide Sekundärdramen mit dem Ausbrechen und neu Einfügen der Figuren aus den Primärdramen, allerdings unterscheiden sie sich im konkreten Umgang mit Figurennamen bzw. bei der Markierung von Sprechinstanzen. In Abraumhalde werden keine Angaben zu möglichen SprecherInnen gemacht und auch im Fließtext sind die Figurennamen konsequent getilgt. So werden im Text einzig über zitierte Textpassagen aus dem Primärdrama Lessings Figuren

25 Ebd., S. 24. 26 Ebd., S. 24. 27 Ebd., S. 24.

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kurzzeitig manifest („Der Mensch ist auf Geld gefaßt, und was bekommt er? Die Wahrheit! Wahrheit! Und will sie so, so bar, so blank, als ob die Wahrheit münze wäre!“, AB), bevor sie wieder aufbrechen und in vielstimmige Sprechmasken zerfallen. Anders in FaustIn and out, wo nicht nur durch (verfremdete) Zitate aus Goethes Urfaust bzw. Faust I und II kurzzeitig einzelne Figuren aus dem Primärdrama hörbar werden („Sagt der also zu mir, hör mal, du mußt mir dieses Mädel herbeischaffen, das da grade vorbeigegangen ist.“, FAU), sondern einzelne Textpassagen den SprecherInnen „FaustIn“, „FaustIn2“, „GeistIn“ und „ein zweiter Geist (andere GeistIn)“ zugeordnet sind. Damit werden die männlichen Hauptcharaktere des Urfaust in Erinnerung gerufen, jedoch in eindeutig transformierter und entindividualisierter Gestalt. Auch bleibt aufgrund der hinzugefügten Endung unklar, ob die männlichen Figuren nun weibliche Stimmen geworden sind, ob sie männlich und weiblich oder ob sie im Zwischen dieser Kategorien zu verorten sind. Im Text selbst hingegen werden weder Faust noch Mephistopheles namentlich erwähnt, allerdings wird der Name „Margarete“ siebenmal genannt. An diesen sieben Stellen ist Margarete nicht nur als die weibliche Protagonistin aus Goethes Urfaust zu identifizieren, sondern die textuelle Markierung (an sechs von diesen sieben Stellen heißt es: „Dein goldenes Haar, Margarete“ (FAU), einmal folgt die Phrase „dein goldenes Haar“ (FAU) erst später im Satz) legt eine andere textuelle Spur, nämlich zu Celans Todesfuge. In dieser siebenmal wiederholten Phrase verdichtet sich der Redefluss. Sind es vielfältige Assoziationsketten, die die Verbindung von Auschwitz, deutscher Kulturnation und patriarchaler Gewalt sichtbar machen, kulminiert in dieser kurzen Phrase alle Gewalt im Namen Margarete. Ein wesentliches Verfahren der Sekundärdramen ist die Verdoppelung bzw. Vervielfachung und Vergrößerung der (aus-)gebrochenen Figuren. Dies wird in beiden Sekundärdramen durch die Angabe zur möglichen Realisierung dezidiert markiert. In der vom Text kursiv abgesetzten Passage zu Beginn von Abraumhalde wird für die Inszenierung angeregt: Die Figuren, die sprechen, sollen entweder vergrößert werden, vielleicht durch riesige Pappmachéköpfe, die sie tragen, am besten mit dem Gesicht nach hinten, sodaß sie auf der Bühne dauernd zusammenstoßen, umfallen, das Bühnenbild, falls es eins gibt, umreißen, die Bühne auf unterschiedlichste Weise devastieren, etc. etc. Oder die Figuren verdoppeln sich auf andere Weise. Sie tragen Kopf und Glieder, sozusagen ein zweites Mal, eben verdoppelt, mit sich herum. Der Kopf soll dann ihre Gesichtszüge tragen, er kann aber auch andre haben. Es soll eine Vermehrung und/oder allgemeine Vergrößerung von allem stattfinden. (AB)

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Deutlich wird damit, dass es in diesem Text zu keiner authentischen Aussprache kommt, dass es kein Individuum gibt, auf die das Sprechen zurückgeführt werden kann. Es sind Masken bzw. leere Hüllen, die nie ein dahinterliegendes Original preisgeben. Mit den angesprochenen Verfahren der Vergrößerung und Verdrehung werden typische Elemente sekundärer Textformen miteinbezogen. Damit ruft das Sekundärdrama gleich zu Beginn die Tradition der Parodie auf, präsentiert sich als (komische) Gegen- bzw. Umschreibung, als verschobene, verzerrte Kopie des Primärdramas. Die Verdrehung lässt aber auch an Benjamins die Geschichte „gegen den Strich zu bürsten“28 denken. In FaustIn and out vollziehen sich diese Vervielfachungen und Vergrößerungen auf komplexere Weise. Vergleichbar mit Abraumhalde wird bereits in der am Beginn stehenden, kursiv gesetzten Passage durch den Begriff des „Einpersonenchors“ (FAU) und den Hinweis auf die Doppelung der Bühnenrequisiten die Vermehrung der Goethe’schen Figuren angedeutet. Indem diese Verdoppelung nicht nur die Goethe’schen Figuren betrifft, sondern im Text selbst die eingeführten SprecherInneninstanzen wiederum gedoppelt werden, also Kopien der Kopien erzeugt werden, entsteht eine weitere Ebene, die das Verfahren von Abraumhalde übersteigt. Viel deutlicher zielt FaustIn and out auf die unendliche Vermehrung der Stimmen ab. So lässt bereits das bei den SprecherInnenangaben verwendete Binnen-I prinzipiell offen, ob es sich um eine (weibliche) singuläre Stimme handelt oder doch um ein chorisches Sprechen. Unauflösbar bleibt auch, welches Plural die Textpassagen spricht. Dass die einzelnen SprecherInneninstanzen eine Vielzahl von Stimmen bündeln, nie nur eine Stimme sind, wird im Text nicht nur durch die vielfältig zitierten Intertexte deutlich, sondern auch dadurch, dass der Kampf zwischen einzelnen Stimmen um die Behauptung des Redeanspruchs ausgestellt wird. So heißt es in einer vom restlichen Text fett abgesetzten Angabe: „Die andere FaustIn, sie wird später noch drankommen und sich auch für einige Zeit durchsetzen, taumelt herbei, versucht zu sprechen, es entsteht ein Gerangel, die andere wird aber von der ursprünglichen FaustIn rüde abgedrängt. Die ursprüngliche sprüngelt weiter: […].“ (FAU)

Dieser Kampf vollzieht jenes verdeckte Ausschlussverfahren nach, das mit dem Sprechen von Figuren am Theater untrennbar verbunden ist. Jeder gesagte Satz

28 Benjamin, Walter: Über den Begriff von Geschichte. In: Benjamin, Walter: Erzählen. Schriften zur Theorie der Narration und zur literarischen Prosa. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, S. 129-140, S. 132.

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bedeutet die Verdrängung aller anderen möglichen Sätze. Die Konstitution eines kohärenten Subjekts schließt die Exklusion anderer, ungewollter Stimmen ein. Interessant scheint, dass die zweite FaustIn „taumelt“ (FAU), also als geschwächte und versehrte Version bzw. Kopie der ersten auftritt. An das gewaltsame Moment, das dem Ausschluss des Anderen innewohnt und das zur brutalen Beseitigung bzw. sogar Auslöschung führen kann, wird durch die verbale Gewalt, mit der die SprecherInneninstanz „FaustIn“ auf ihre Kopie reagiert, erinnert: Im Kampf um die eigene Redepräsenz heißt es: „Blöde Kuh! Ich bin noch nicht fertig! Hau ab! Ich mache weiter […].“ (FAU) Wenige Zeilen später setzt sich die Sprechinstanz „FaustIn2“ dennoch durch, es ist die einzige Passage im Text, die ihr zugeordnet wird. Mit „FaustIn2“ wird dem Sekundärdrama, das als Unterbrechung des Primärdramas fungiert, eine weitere Unterbrechung hinzugefügt, die das Sekundärdrama selbst aufbricht und stört. Die Passage, die mit „FaustIn2“ markiert ist, funktioniert ähnlich einem Zwischenstück, erinnert dabei etwa an das Allegorische Zwischenspiel in Jelineks Theatertext Burgtheater (auch der dort auftretende Alpenkönig ist körperlich beeinträchtigt, bandagiert – es ist die „zombiehafte Wiederkehr“, von der Lücke spricht) oder an die Sprechinstanz des „Ausnahmeboten“ in Rechnitz (Der Würgeengel), dem eine ähnliche Funktion zukommt.29 Die Passage der „FaustIn2“ lässt sich nie gänzlich ins Sekundärdrama integrieren. Deutlich hebt sie sich vom Rest des Textes ab, da nämlich keiner der sonst zentralen Intertexte zitiert wird, so ist auch Goethes Urfaust an dieser Stelle gänzlich getilgt. Die Passage beginnt mit einer Ansprache ans Publikum und bringt damit den bisherigen Textfluss ins Stocken: „Ich trete nur dieses eine Mal auf, falls man mich endlich läßt! Um mein Gesicht zu wahren, das Sie dann aber nicht mehr sehen werden, Sie müssen es sich nicht merken, mein Gesicht, [...].“ (FAU) Auch am Ende der Passage wird die Unterbrechung nochmals betont, wo das Wort wieder an die „übliche FaustIn“ (FAU) gegeben wird: „So, jetzt du wieder!“ (FAU) War der Text bis dahin dadurch gekennzeichnet, dass innerhalb weniger Sätze ein weites Feld an Thematiken eingebracht und miteinander verwoben wurde, reduziert sich in dieser Passage zunächst alles Gesprochene auf eine Thematik: die Stimme berichtet in 1. Person Singular über den Diebstahl von abgelaufenen Puddings durch eine Supermarktangestellte, die daraufhin gekündigt wurde.

29 Vgl.: Janke, Pia: „Herrschsucht, ja, haben wir“. Die Täter in Elfriede Jelineks „Rechnitz (Der Würgeengel)“. In: Janke, Pia / Kovacs, Teresa / Schenkermayr, Christian (Hg.): „Die endlose Unschuldigkeit“. Elfriede Jelineks „Rechnitz (Der Würgeengel)“. Wien: Praesens Verlag 2010 (= DISKURSE.KONTEXTE.IMPULSE. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums 6), S. 239-254, S. 246.

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Einzig durch kurze Zitate öffnet sich der Bericht einem breiteren Kontext: zitiert werden etwa Psalm 103, der Schlagersong Willst du mit mir geh’n (Interpretin: Daliah Lavi) sowie Schillers Ballade Das Lied von der Glocke. Das Ich, das hier das Wort ergreift, erweist sich damit – auch wenn zunächst suggeriert wird, dass erstmals eine „tatsächliche“ Figur auftritt – wiederum als unauthentisch und vielstimmig. Mit der gemeinsamen Inszenierung treffen die vielfach verfremdeten Stimmen, wie sie in den Sekundärdramen hörbar werden, auf ihre dramatische „Vorlage“. Damit entstehen vielfältige Wechselwirkungen und Interferenzen. Die transformierten Figurenbruchstücke der Sekundärdramen dringen direkt in die Primärdramen ein und stören damit nachhaltig die Figurenkonzeption, die diesen zugrunde liegt. Mit dem Drama wird eine Form zitiert, deren Herzstück der Dialog und damit sich aussprechende Subjekte bilden.30 So weist Lehmann nach, dass das kohärente, selbstbestimmt handelnde Subjekt (das Subjekt als Zugrundeliegendes subiectum) seit der Aufklärung bis hinein ins 20. Jhdt. konstitutiv für das Drama ist.31 Nathan der Weise als auch Urfaust bzw. Faust I sind jenem aufklärerischen Subjektbegriff verpflichtet, führen mit Nathan und Faust zwei autonome, ausschließlich aus sich heraus agierende Subjekte vor. Geprägt durch moderne und postmoderne Subjektkonzeptionen (das Subjekt als Unterworfenes subiectus), unterlaufen Jelineks vielstimmige Theatertexte die monologische Subjektkonzeption des Deutschen Idealismus: die vielstimmigen Texte folgen dialogischen Subjektkonstruktionen und betonen die Brüchigkeit, Dezentriertheit und Unabgeschlossenheit des Subjekts. Das Ich ist nicht mehr „Herr im eigenen Haus“32. Dies wird nicht zuletzt auch dadurch betont, dass die Häuser, die die sich aussprechenden Stimmen der Sekundärdramen beschreiben, ruinös sind und keine unversehrten Zufluchts- bzw. Schutzräume darstellen. Wie Lehmann in Theater und Mythos nachweist, unterscheiden sich postdramatische33 Formen von Theaterformen, die mit der historischen Kategorie Drama in Verbindung stehen und das Subjekt zentral setzen, gerade durch ihr abweichendes Denken

30 Vgl.: Lehmann, Hans-Thies: Theater und Mythos, S. 52. 31 Vgl.: Ebd., S. 1-8. 32 Freud, Sigmund: Gesammelte Werke Bd. 12: Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse. Frankfurt am Main: Fischer 1999, S. 11. 33 Lehmann hält dies auch für prädramatische Formen fest und weist damit nach, dass das Theater der griechischen Antike eng verwandt ist mit dem Postdramatischen. Das ist für die Auseinandersetzung mit Jelinek dahingehend relevant, als Jelinek sich in ihren neueren Theatertexten deutlich auf antike Tragödien bezieht. (Vgl.: Lehmann, Hans-Thies: Theater und Mythos, S. 6.)

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der Kategorie Subjekt. Dies wirkt sich deutlich auf die Dramenform aus: mit der Infragestellung des Subjekts wird auch der Dialog brüchig, stattdessen sind es das Chorische, der Bericht etc., die für jene Texte prägend sind.34 Wie Lehmann konstatiert, meint Subjektivität immer auch eine Form der Selbst-Bezüglichkeit und die Abhängigkeit von einem anderen Subjekt.35 Subjekt-Sein bzw. SubjektWerdung betrifft somit unweigerlich die Erzeugung eines Anderen, eines Außen. Jelineks Sekundärdramen können in ihrer Verweigerung der Produktion von kohärenten Subjekten als kritischer Kommentar zu den Primärdramen gelesen werden, der auch auf diese Weise bewusst macht, dass ein zentral gesetztes „Ich“ immer mit (gewaltsamen) Ausschlüssen verbunden ist. Durch die Kombination beider Texte wird deutlich, was in den Primärdramen nicht gesagt wird, wie reduziert das Sprechen der Figuren ist. Darüber hinaus kann das Sekundärdrama als ein Konzept beschrieben werden, das diesen Ausschluss des Anderen nicht erlaubt, indem es sich als das Andere in die Primärdramen hineinbegibt und so das vermeintliche Außen wieder ins Innere bringt. Mit dieser Einschreibung des Ausgesparten werden die in sich geschlossenen Figuren der Primärdramen aufgebrochen und in ein vielstimmiges Reden versetzt. Durch diese Anreicherung wird auch ihr Subjektstatus fragwürdig und schließlich ist auch im Primärdrama kein authentisches „Ich“ mehr auszumachen. Besonders intensiv wird dieses Nichtvorhandensein eines selbstbestimmten Subjekts in FaustIn and out thematisiert, wo mit Rekursen auf Heideggers Sein und Zeit ontologische Fragestellungen berührt werden („Der Mensch ein Subjekt? Ich lach mich krank! (Beginnt zu lachen, kann das folgende kaum noch sprechen, stößt es prustend hervor)“, FAU). Lücke hat in ihrem Beitrag Faust und Margarethe als Untote hinlänglich herausgearbeitet, wie Heideggers Ontologie in Jelineks Sekundärdrama aufgegriffen und fortgeschrieben wird. Sie macht dabei drei Schwerpunkte aus, um die das Sekundärdrama kreist: Heideggers In-Sein, das Sein zum Tode und das Man. Mit dem Heidegger’schen In-Sein, das bereits im Titel des Sekundärdramas anklingt, wird die Frage gestellt, wie eine weibliche Seinsverfasstheit in einer patriarchal bestimmten Ordnung zu denken wäre. Lücke hält fest: Dieses Gretchen, diese Urfaust-Margarethe unserer Zeit, gibt ihrem Weltempfinden Ausdruck, denn sie hat alles verloren, was ihre Welt ausmachte (wie wir noch sehen werden), aber sie tut es bei Jelinek ironisch gebrochen in der Sprache der faustischen Weltvermesser und Weltvernichter und vermeintlichen Welterklärer. Denn sie hat ja keine eigene

34 Vgl.: Ebd., S. 6. 35 Vgl.: Ebd., S. 129.

150 | D RAMA ALS S TÖRUNG Sprache. Wenn also „In-Sein“ bei Heidegger eine „Seinsverfassung“ ist, die FigurenStimme bei Jelinek aber kein Sein hat […], dann ist die „FaustIn“ auch schon wieder „out“, nämlich ausgeschlossen aus dem Sein und einer eigenen Sprache. 36

Diese Negation betrifft auch das Sein zum Tode, das bei Heidegger die Möglichkeit des Daseins ist. Wie Lücke herausarbeitet, bietet dieses Sein zum Tode im Sekundärdrama gerade keine existenziale Möglichkeit zum Dasein: ist nach Heidegger das Dasein wesentlich geprägt durch die Sorge und Angst vor dem Tod, sind die Stimmen der Sekundärdramen als bereits Tote bzw. Untote immer schon ausgeschlossen aus dem Dasein: „Ihr Dasein ist schon Tod“37. Wenn bei Heidegger die Analyse des Daseins dazu dient, den Sinn des Seins zu bestimmen, bedeutet dies, dass für die Stimmen, die im Sekundärdrama hörbar werden, keine Sinnsuche möglich ist – der Faustische Impuls, der den Ausgangspunkt des Primärdramas bildet, negiert wird. Interessant scheint darüber hinaus, was Lücke mit Hannah Arendt herausarbeitet, nämlich die Rückbezüglichkeit von Heideggers Seins-Begriff. Anhand der Passage „Wie kann ich die Frage nach mir selbst also an das zurückverweisen, das ICH war, weil ich so sein mußte? Da verweise ich doch immer nur auf mich, mehr habe ich auch nicht, […].“ (FAU) zeigt sie, dass „die Frau“ keinen Subjektstatus besitzt, sondern gekennzeichnet ist durch „Subjekt- (Selbst-)losigkeit“38. Heideggers Ontologie fungiert als zentraler Referenzpunkt, um die Unmöglichkeit jeder emphatischen Subjektkonzeption sichtbar zu machen. Alles, was in der patriarchal geprägten Ordnung als das Außen definiert wird, bleibt ausgeschlossen, kann sich nur in der negativen Gegenschreibung zu Heideggers Sein zum Tod definieren („Ich bin seelisch krank. Ich bin eine Frau.“, FAU). Ähnlich verhält es sich in Abraumhalde, wo über die Einschreibung von Sophoklesʼ Antigone das Sein als Sein im Tode eingeschrieben ist. Auch hier ist das weibliche Sein einzig über den Status des lebend Toten definiert („Entzückt nahn wir uns dem Tod, […].“, AB). Der dritte Heidegger’sche Begriff, auf den Lücke verweist, ist das Man. Das Man ist jener sprachliche Allgemeinplatz, der den Einzelnen jeder Authentizität enthebt und in die Masse eintauchen lässt, in das Gerede der Mehrheit. Bei Heidegger meint dies die Flucht in die Durchschnittlichkeit und die bewusste Vermeidung von Individualität. Auch, um der Verantwortung zu entgehen. Jelineks

36 Lücke, Bärbel: Faust und Margarethe als Untote. Zu Elfriede Jelineks „FaustIn and out. Sekundärdrama zu Urfaust“ – offene/verdrängte Wahrheiten in freiheitlichen Zeiten, S. 51. 37 Ebd., S. 48. 38 Ebd., S. 51.

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Einpersonenchor kann als eben dieses Sprechen der Mehrheit gelesen werden, in das sich die SprecherInneninstanzen hineinbegeben. Dieser Schutz, den das Annehmen einer fremden Stimme bietet, wie er etwa auch über die Form des Botenberichts zentral in Rechnitz (Der Würgeengel) thematisiert wird, ist somit auch für das Sekundärdrama nicht unwesentlich. Lücke hält fest, dass es die Stimmen „anonym-gesellschaftlichen ‚Geredes‘“ sind, die „an nicht immer klar zäsurierten Übergängen vom Täter zum Opfer, vom Opfer zum Täter“39 kippen. Auch das Man betrifft damit die Uneindeutigkeit und das Changieren zwischen klar definierten Kategorien. Im sprachlichen Allgemeinplatz werden fixierte Oppositionen unscharf, können jederzeit die Rollen tauschen – wie es Serres für das Verhältnis von Wirt, Gast und Parasit beschrieben hat.40 Eine weitere Ebene, über die die Frage nach Subjektivität Eingang findet in die Sekundärdramen, ist über Bezüge zur griechischen Tragödie. Wird in Abraumhalde dezidiert Sophokles’ Antigone als Intertext herangezogen, sind es in FaustIn and out kurze Einwürfe wie „o weh!“ (FAU), die an den für die griechische Tragödie typischen Klagegesang erinnern, und der Begriff des „Einpersonenchors“, der auf die griechische Antike verweist. Wenn Ulrike Haß konstatiert, dass die antike Tragödie „um die Genese des einzelkämpferisch agierenden, egologischen Subjekts“41 kreist, kann Jelineks Sekundärdrama auch in diesem Sinne als Verkehrung oder vielmehr Verdrehung dieser Genese gelesen werden. Jelineks Texte vollziehen jenen Wechsel zwischen Chor und EinzelprotagonistIn nach, der prägend ist für die griechische Tragödie. Beide Texte arbeiten intensiv mit Personalpronomina (in Abraumhalde fällt 197 Mal „Wir“, 147 Mal „Ich“; in FaustIn and out steht 645 Mal „Ich“, 222 Mal „Wir“), die innerhalb weniger Sätze vom „Ich“ zum „Wir“ bzw. vom „Wir“ zum „Ich“ kippen: Die Religion ist eine endlose Aneinanderschichtung von Zahlen. Eine Zahl lügt nicht. Warum bezeichnen wir sie überhaupt als Zahl? Weil man es beweisen kann, daß sie nichts andres ist. Gott kann man nicht beweisen. Man kann aber auch nicht beweisen, daß er etwas andres ist als das, was wir glauben. Vielleicht jemand andrer gefällig? Von mir aus, aber nicht etwas anderes! Darauf bestehe ich. Das Haus, das brannte. Wir bauen uns ein neues. Aber wir können es nicht. Wir haben keinen Platz. Wir haben kein Bargeld. Wir haben auch keinen Baugrund. Ich wüßte den Baugrund auch gar nicht. Wo den Baugrund suchen? Vielleicht ist ja im Garten noch Platz für einen Keller. Dort könnten wir Men-

39 Ebd., S. 27. 40 Serres, Michel: Der Parasit, S. 84-85. 41 Haß, Ulrike: Woher kommt der Chor. In: Maske & Kothurn 1/2012, S. 13-30, S. 13.

152 | D RAMA ALS S TÖRUNG schen auf wilden Wegen schütteln, bis sie unten aus sich herausfallen. (AB, Herv. d. Verf.) Ich bin dein Vater. Ich bin der Vater. Man lobt euch Kinder halb mit Erbarmen, daß uns nichts Besseres als ihr gehört, und etwas Besseres als euch können wir uns immer leisten. Wir können uns immer alles leisten. Wir leisten es uns. Du willst die Hotelfachschule fertigmachen? Das geht nicht. Das Praktikum im Restaurant? Das geht nicht. Daß du in die Öffentlichkeit kommst, das kann ich mir nicht leisten. Es ist furchtbar, deine Ungezogenheiten herauszuspüren, bevor sie vollzogen sind, deine Anschwärzungen und Drohungen zu ertragen. Ich kenne da einen Ort, wo ich mich ausdrücken möchte, und zwar in dir, auf dir, unter dir, über dir, überall, das geht, denn der Ort ist klein, ich habe ihn selber geschaffen, ich habe alles geschaffen, ja, auch dich, und ich kenne da einen Ort, den habe ich auch gemacht, da ist es ruhig, es ist ruhig für zwei, für uns beide, [...]. (FAU, Herv. d. Verf.)

Anders als in der griechischen Tragödie, wo ein Einzelner aus dem Chor heraustritt und der Chor diesem den Platz zum Sprechen einräumt, ist auch das „Ich“, das in den Sekundärdramen hörbar wird, nicht mehr als eine entindividualisierte Stimme, eine entlehnte Identität. Wie Haß nachweist, ist der Chor in der griechischen Tragödie immer „Schon-Da“, ohne ihn gibt es auch keinen Einzelnen.42 Wenn im Sekundärdrama die Stimme des Einzelnen im „Wir“ aufgeht, der Chor dem Einzelnen keinen Platz zum Sprechen einräumt, wird jene theatergeschichtliche Entwicklung rückgängig gemacht, die den Chor zugunsten der handelnden Individuen immer weiter verdrängt hat. Im Sekundärdrama wird der Dialog, der aus dieser Zurückdrängung des Chorischen entstanden ist, radikal getilgt. Haß arbeitet darüber hinaus heraus, dass der Chor in der griechischen Tragödie kein Subjekt ist, es nie sein kann. Es sind viele (widersprüchliche) Stimmen, die er vereint: „Er spricht nicht mit einer Stimme.“43 Nicht nur Vielstimmigkeit zeichnet den antiken Chor aus, sondern auch Ursprungslosigkeit – dies unterscheidet ihn deutlich von der Einzelprotagonistin bzw. vom Einzelprotagonisten, deren/dessen Genealogie für die Texte von großer Bedeutung ist.44 Somit kann auch mit Blick auf die Theatertradition, auf die Jelinek rekurriert, das Sprechen in den Sekundärdramen als ein Sprechen im Zwischen gelesen werden, das sich jeder Kategorisierung widersetzt. Die Stimmen kommen aus dem Ungewissen, sind nicht zu- und einordenbar. Mit dem Chor als überindividuellem Element,

42 Vgl.: Ebd., S. 14. 43 Ebd., S. 19. 44 Vgl.: Ebd., S. 20-22.

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das immer „schon-da“ ist und der Auflösung individueller Figuren wird auch auf dieser Ebene eine Zeitlichkeit bewusst, die jenseits jedes teleologischen Denkens zu verorten ist. Darüber hinaus erinnert diese Ursprungslosigkeit des Chores an Dionysos selbst, beinhaltet damit immer schon das Changieren zwischen vorhandenen Binaritäten und des Nicht-Heimisch-Werden(-Könnens) in gegebenen Epistemen. Hinsichtlich der antiken Tragödie muss an Einar Schleef erinnert werden, auf den Jelinek bei der Beschreibung ihrer Sekundärdramen immer wieder verweist. Er fragt in Droge Faust Parsifal ausgehend vom antiken Chor nach dem Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft und beschreibt die Drogeneinnahme als zentrales gemeinschaftskonstituierendes Element. Er betont, dass Gemeinschaften zugunsten der eigenen Erhaltung das Opfer und den Ausschluss einzelner in Kauf nehmen.45 Schleef, der das christliche Abendmahl als erste chorische Drogeneinnahme des deutschsprachigen Kulturraums beschreibt, sieht dieses Motiv in deutschsprachigen Theatertexten in vielfältiger Weise variiert. So auch in Goethes Faust: Seit dem Abendmahl ist die Blut-Droge Nahrung und entsprechend von Goethe im FAUST-Komplex eingesetzt. Er benutzt nicht nur das Abendmahl, sondern läßt seine Quellen oft eine Mischform bilden, die nur ihm zugehörig erscheint. Faust zelebriert im Schluß des Eröffnungsmonologs FAUST 1 die Drogeneinnahme nach antikem Vorbild, geht auf Platons SYMPOSION ein, das schon Fausts Vater mit Adepten in der „Schwarzen Küche“ sexuell feierte. Der Monolog ab: Ich grüße dich, du einzige Phiole! Beschreibt Drogeneinnahme und Drogenrausch, die Anrufung der ritusfeiernden Gemeinschaft, der Zugehörigkeit des Sohnes zum Vater, dessen Anrufung und Todesfeier durch ein Individuum, das sich eingangs als Hochgebildeter vorstellt und jetzt am Ende ist. Droge und Utopie einer Gemeinschaft sind untrennbar miteinander verbunden.46

Jelineks Sekundärdramen lassen diesen Ausschluss sichtbar werden, sie zeigen die Gewalt, die das autonome Individuum und seine Genealogie, die immer eine paternale ist, mit sich bringt. Die Miteinbeziehung von Formelementen der griechischen Tragödie eröffnet ein weites Reflexionsfeld, zeigt die Schwierigkeiten, die mit einem Drama, das auf das autonome Subjekt fixiert ist, verbunden sind, verweist darüber hinaus aber auch auf die Auswirkungen emphatischer Subjektkonzeptionen im gesamtgesellschaftlichen Bereich.

45 Vgl.: Schleef, Einar: Droge Faust Parsifal. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 7. 46 Ebd., S. 8.

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Die Vergrößerung und Vermehrung, die die Figuren der Primärdramen durch das Sekundärdrama erfahren, führt zu einer Überforderung, zu einem mehr an Sinn, das einer eindeutigen Sinnstiftung entgegensteht. Indem keine eindeutigen Aussagen / Figuren / Subjekte im Text erkennbar sind, bleibt alles vieldeutig und offen für das vermeintlich Andere und nicht Repräsentierte. Mit dem Eindringen der Sekundärdramen in die Primärdramen wird der Prozess der Defiguration und damit einhergehend der Auflösung fester Bedeutungsbehauptungen performativ umgesetzt. Die vielstimmige Rede taucht als Störgeräusch auf, das die Rezeption erschwert, und irritiert damit mit den Primärdramen verbundene Wahrnehmungsmuster nachhaltig. In dieser Störung, die eigentlich sinnzersetzend ist, entsteht jedoch wieder so etwas wie Sinn. So konstatiert Lücke, dass durch die kontextverschobenen und vielfältigen Einpersonenchöre die Primärdramen erstmals ihre eigentliche Bedeutung offenlegen, und zwar in der paradox-bösen Umkehrung, die die harmlos-vertraute „Originalsprache“ in ihrer „Kopie“ erfährt: In die rissig gewordene Humanismus-Haut der altvertrauten Bedeutung reißt das Herauszerren ihrer Stücke eine klaffende Wunde und bringt die Sprache gleichsam zum Bluten: Sie zeigt ihr Leben (Blut ist Lebenssaft), eine neue schmerzliche Lebendigkeit, die unter Mullverbänden perfektibilistischer Faust- (und Gretchen)deutungen weder sicht- noch fühlbar war.47

Was Lücke als Paradox der Sekundärdramen beschreibt, betrifft jene Doppeldeutigkeit der Störung: in der Ver- und Aufstörung lässt sich ein konstruktives Potential erkennen, das langfristig auf Systeme einwirken und so Verschiebungen – wenn auch nur geringfügige – bewirken kann. Zeitschichtungen Indem das Konzept des Sekundärdramas zentral auf die Vermischung verschiedener (post-)dramatischer Formationen aufbaut, lässt es Zeiten kollidieren und Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges jenseits einer linearen zeitlichen Folge in ihrem gleichzeitigen Präsent-Sein sichtbar werden. Neben dem bereits eingebrachten Begriff der Koexistenz scheint für die Auseinandersetzung mit dem den Sekundärdramen zugrundeliegenden Denken von Zeit Walter Benjamins historischer Materialismus von Relevanz. Benjamin

47 Lücke, Bärbel: Faust und Margarethe als Untote. Zu Elfriede Jelineks „FaustIn and out. Sekundärdrama zu Urfaust“ – offene/verdrängte Wahrheiten in freiheitlichen Zeiten, S. 25.

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entwickelte in seinen im Exil entstandenen Studien, u.a. in seinem PassagenWerk, die Konzeption einer „raumgewordenen Vergangenheit“, die sich dem Denken einer linearen Entwicklung und Abfolge von Zeit entzieht. Wie der Medienwissenschaftler Knut Ebeling in Bezug auf Benjamins Geschichtskonzeption festhält, ermöglichen die „Vernetzungen von Raum und Zeit, Schicht und Geschichte […] ein neues Bild des Denkens der Vergangenheit“, da Geschichte „nicht ausgehend von einem abstrakten Zeitstrahl geschrieben [wird], sondern ausgehend von einem historisch und topographisch konkreten Ort“48. Mit Benjamins historischem Materialismus werden konventionelle, teleologische Geschichtskonzepte negiert und das Denken einer Chronologie unmöglich gemacht: „Der historische Materialismus muß das epische Element der Geschichte preisgeben. Er sprengt die Epoche aus der dinghaften ‚Kontinuität der Geschichte‘ ab. Er sprengt aber auch die Homogenität der Epoche auf. Er durchsetzt sie mit Ekrasit, d.i. Gegenwart.“49 Geschichte ist bei Benjamin immer bereits in Trümmern, sie ist gebrochen, fragmentiert, lässt sich nicht mehr zu einer kausalen Narration zusammensetzen. Sie kennt kein Ereignis, keine Ursache und negiert damit jede historische Kausalität.50 Mit Bhabhas Überlegungen zu Benjamins Begriff der Geschichte wird markiert, dass das Verwehren gegen Linearität eine Chance sein kann, um die Unterdrückten sichtbar zu machen. Bhabha, der in diesem Zusammenhang von einer ungesicherten Prozessualität spricht, bringt einen Begriff ein, der grundlegend entscheidend für Jelineks literarisches Schaffen ist, noch deutlicher jedoch beim Konzept des Sekundärdramas in Erscheinung tritt, da das Konzept als ein nie gänzlich abgeschlossener Prozess verstanden werden kann. Das Jelineks Theatertexten zugrundeliegende Zeitkonzept ähnelt Benjamins Denken von Geschichte, auch ihre Stücke verweigern jede Chronologie, Kausalität und jedes Ereignis und negieren damit jenes lineare Modell, das Aristoteles in seiner Poetik festlegt. Ihre Texte eröffnen Tiefenschichten von Zeit und verweisen auf die prinzipielle Unmöglichkeit eines Abschlusses der Vergangenheit. Alles ist immer da und bleibt da, auch wenn es sich der Sichtbarkeit entzieht.51

48 Ebeling, Knut: Historischer Raum: Archiv und Erinnerungsort. In: Günzel, Stephan (Hg.): Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: Metzler 2010, S. 121-133, S. 124. 49 Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. Bd. 1, S. 592-593. 50 Vgl.: Ebeling, Knut: Historischer Raum: Archiv und Erinnerungsort, S. 125. 51 Vgl.: Kovacs, Teresa / Meister, Monika: Fläche und Tiefenstruktur. Die leere Mitte von Geschichte in Jelineks Rechnitz (Der Würgeengel) und Winterreise, S. 120.

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Jelinek selbst spricht in Bezug auf die Struktur ihrer Theatertexte von „Langeweile“52 und betont damit, dass ihre Texte jenseits eines auf Spannung und Entwicklung orientierten Denkens zu verorten sind. Mit „Langeweile“ ist ein Begriff eingebracht, den Lehmann in seinem Postdramatischen Theater anführt, wenn es um die Unterscheidung zwischen prä- bzw. postdramatischen Theaterformen und dem Drama des 18. Jhdt.s geht. Er konstatiert, dass beim Sprechen über Theater(texte) zwischen Spannung (Drama) und Langeweile (prä- und postdramatische Formen) unterschieden wird. Die Kategorie „Spannung“ gelte auch Ende des 20. Jhdts. immer noch als Qualitätsmerkmal, wie Lehmann es in seinem 1999 erschienenen Buch formuliert,53 was aber auch an aktuellen Debatten sichtbar wird und so auch das 21. Jhdt. betrifft. Jelineks Texte sind dahingehend „langweilig“, als sie, entgegen jeder Gerichtetheit, einem alinearen Geschichtskonzept folgen, das die Schichten und Schichtungen von Zeiten offenlegt, indem unterschiedliche dramatische Strukturen in die Texte eingelagert werden (seien es Strukturen der griechischen Tragödie oder des neuzeitlichen Dramas). In ihren Texten trifft kontaminierte Gegenwart „auf ebensolche Vergangenheit, gleichzeitig sind die Formationen des Gewesenen und Seienden präsent.“54 Jenseits jeder Linearität wären ihre neueren Texte als „kreisende Texte“ zu beschreiben, deren Wortschwall das Eigentliche immer als leere Mitte, als das Nicht-Vorhandene markiert.55 In Bezug darauf, dass Jelineks Texte Spannung verweigern, „langweilig“ sind, d.h. keine Handlung stattfindet, kann auch auf Serres verwiesen werden. Er geht in Der Parasit darauf ein, dass Handeln und Ausgrenzung untrennbar miteinander verbunden sind, was er schließlich mit der Theaterhandlung in Verbindung bringt: Es ist nicht erstaunlich, daß der Ausdruck Handlung, Akt, bei uns sehr bald auf dem Theater Verwendung fand. Die bocksfüßige Tragödie vertreibt den Sündenbock, das Opfer im Sinne Girards. Die tragische Handlung ist ein quasi-genügsamer Ausdruck. Aber auch wir wissen es sehr gut: Satire, Fabel und Komödie um den Parasiten sprechen wesentlich vom Ausschluß. Am Anfang ist Handeln, das heißt Verbrechen.56

52 Jelinek, Elfriede: Grußwort nach Japan. 53 Vgl.: Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, S. 49-50. 54 Kovacs, Teresa / Meister, Monika: Fläche und Tiefenstruktur. Die leere Mitte von Geschichte in Jelineks Rechnitz (Der Würgeengel) und Winterreise, S. 121. 55 Vgl.: Ebd., S. 121-122. 56 Serres, Michel: Der Parasit, S. 225.

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Serres folgend, wäre die Verweigerung von Handlung in Jelineks Sekundärdramen auch als Verweigerung der (Re-)Produktion gewaltsamer Ausschlüsse und Reduktionen zu beschreiben, während das Drama, für das Handlung konstitutiv ist, jene Ausschlüsse transportiert und (re-)produziert.57 Neben Benjamin scheinen Überlegungen von Deuleuze bzw. Deleuze und Guattari hilfreich, um sich dem Jelineks Theatertexten zugrundeliegenden Denken von Zeit zu nähern. Deleuze und Guattari beschreiben die Zeit von Koexistenz als eine, „die das Vorher und Nachher nicht ausschließt, sie aber in einer stratigraphischen Ordnung übereinanderschichtet.“58 Deleuzes und Guattaris Begriff der Koexistenz schließt an Zeit-Modelle an, die Deleuze in seinen Überlegungen zum Bewegungs-Bild59 und zum Zeit-Bild60 entwickelt. Aufbauend auf Henri Bergsons Arbeiten zur Dauer (durée) wird hier die Gleichzeitigkeit von Zeiten betont, die über ein bloßes Nebeneinander hinausgeht: „Die Dauer ist kontinuierliches Fortschreiten der Vergangenheit, die an der Zukunft nagt und im Vorrücken anschwillt. Da die Vergangenheit unablässig anwächst, bleibt sie gleichzeitig auch ewig erhalten.“61 Sich von linearen Auffassungen der Zeit distanzierend, die eine horizontale Ausdehnung von Zeit implizieren, begreift Bergsons Modell der Dauer Zeit als eine untrennbare Einheit, die permanenter Veränderung unterliegt. Dauer gleicht bei Bergson einem fließenden Bewusstseinsstrom.62 Jelineks Theatertexte, die in der Forschungsliteratur als nicht enden wollender Sprachfluss beschrieben werden, erinnern an jenes Denken von Zeit. Es ist das unaufhörlich sich Fortsetzende, das in den Texten hörbar wird. Bergson geht davon aus, dass Vergangenheit nicht erst in Erinnerung gerufen werden muss, sondern diese sich von sich aus erhält. Vergangenheit und Gegenwart werden bei ihm nicht mehr als aufeinander folgend gedacht, sondern sie entstehen gleichzeitig: „[...] die Erinnerung bildet sich niemals später als die Perzep-

57 Ausführlicher wird im Kapitel Gold und Geld dieser Studie auf jene Verbindung von Handlung und Verdrängung eingegangen. 58 Deleuze, Gilles / Guattari, Félix: Was ist Philosophie? Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 68. 59 Vgl.: Deleuze, Gilles: Kino 1. Das Bewegungs-Bild. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989. 60 Vgl.: Deleuze, Gilles: Kino 2. Das Zeit-Bild. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991. 61 Bergson, Henri: Philosophie der Dauer. Textauswahl von Gilles Deleuze. Hamburg: Felix Meiner 2013 (= Philosophische Bibliothek 662), S. 59. 62 Vgl.: Bergson, Henri: Die Wahrnehmung der Veränderung. In: Bergson, Henri: Denken und schöpferisches Werden: Aufsätze und Vorträge. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1993, S. 149-179, S. 170.

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tion, sondern gleichzeitig mit ihr.“63 Deleuzes Zeit-Denken geht, wie das von Bergson, ebenfalls über teleologische Geschichtskonzepte hinaus. Deleuze begreift Zeit als netzwerkartige Struktur, als sich verändernde Relationen: „Die Dauer entwickelt sich nicht linear-progressiv, sondern jeder Augenblick teilt sich und entlässt Fluchtlinien in Vergangenheit und Zukunft. Sie differenziert sich aus in vorübergehende Gegenwarten auf der einen und eine sich bewahrende Vergangenheit auf der anderen Seite.“64 Konkret bezogen auf das Sekundärdrama kann festgehalten werden, dass nicht nur Benjamins historischer Materialismus an das Konzept anschließbar scheint, sondern auch das Denken von (Zeit-)Schichtungen, die niemals gänzlich ineinander aufgehen, aber dennoch untrennbar aneinander gebunden sind, kann produktiv mit dem Sekunädrdrama verknüpft werden. Das Konzept arbeitet permanent daran, die Gleichzeitigkeit von Zeiten bewusst zu machen. In den Paratexten wird das Verfahren der Schichtung zusätzlich betont, wenn das additive Verfahren der Sekundärdramen besonders hervorgehoben wird. (vgl. BÜ, VO) Prägnant formuliert Jelinek diesen Gedanken im Interview mit Barbara Behrendt, wo sie das Sekundärdrama als „Klumpen-Zitat“ charakterisiert, das sich ins Primärdrama „einfügt“: Im Idealfall entsteht eine Art dialektischer Wechselwirkung zwischen dem Originalstück und dem Sekundärdrama, ein Oszillieren, bei dem das eine dem anderen nichts nimmt, sondern etwas hinzufügt, das wieder ein andres Licht auf das Originalstück wirft (und vielleicht auch umgekehrt), es aus einem anderen Blickwinkel zeigt. Das Sekundärdrama nistet sich also dort ein und gibt dem ursprünglichen Text einen bestimmten Drall, aktualisiert ihn manchmal und versucht, die Tiefenschichten des Originals freizulegen [...]. (VO)

Haß nennt Jelinek eine „Meisterin des Schichtens“65 und verweist auf die heterogenen Textmaterialien und Themenkomplexe, die die Autorin in ihren Theatertexten an- und ineinanderfügt. Grundsätzlich erinnern auch die Begriffe „Palimpsest“ und „Bildübermalung“ an das Auftragen von Schichten, allerdings suggerieren beide zu sehr ein nacheinander Auftragen von Schichten sowie ein

63 Bergson, Henri: Die seelische Energie. Aufsätze und Vorträge. Jena: Eugen Diederichs 1928, S. 115. 64 Volland, Kerstin: Zeitspieler: Inszenierungen des Temporalen bei Bergson, Deleuze und Lynch. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009, S. 113. 65 Haß, Ulrike / Meister, Monika: „Wie ist es möglich, Theater ausschließlich mit Texten aufzustören?“ E-Mailwechsel zwischen Ulrike Haß und Monika Meister, S. 117.

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Überdecken der alten zugunsten einer neuen Schicht, wohingegen mit der Koexistenz jenes Ausstreichen und Überschreiben des Alten nicht unbedingt mitgemeint wird und somit deutlicher das Vorhandenbleiben alles Dagewesenen und die Gleichzeitigkeit von Zeiten betont. Dieses komplexe Schichtungsverfahren, das Haß allgemein für Jelineks neuere Theatertexte beschreibt, lässt sich auch für die Sekundärdramen nachweisen: Wenn Lessings Nathan der Weise und Goethes Urfaust als Folie dienen, vor der etwa Goethes Erlkönig und der so bezeichnete „Inzestfall von Amstetten“, Celans Todesfuge mit gegenwärtigen Debatten um prekäre Beschäftigungsverhältnisse oder aktuelle Kriege mit Sophokles’ Antigone und der Frage nach Toleranz und Religionsfreiheit zusammengeschaltet werden, verweisen die Sekundärdramen auf vergangene und gegenwärtige Unter- bzw. Abgründe. Sie machen deutlich, dass die Vergangenheit tief in die Gegenwart hineinreicht, aber auch umgekehrt, wie unsere Gegenwart auf die Vergangenheit einwirkt und Fluchtlinien in Vergangenheit und Zukunft entstehen lässt. Haß betont, dass mit dem Begriff der Schichtung ein Terminus gefunden ist, der über herkömmliche Intertextualitätskonzepte hinausgeht, die die horizontale Ausdehnung von Zeit zu einseitig denken würden. Ausgehend vom Konzept der Schichtung leitet sie eine „Beweglichkeit“ von Jelineks Sprache ab, die es erlaubt, innerhalb kürzester Zeit zwischen extrem entfernt liegenden Zeiten zu switchen.66 Dieses Switchen lässt sich sowohl in Abraumhalde als auch in FaustIn and out nachweisen, wo innerhalb weniger Sätze ein Zeitraum eröffnet wird, der sich über mehrere Jahrtausende dehnt. Beispielhaft soll hier eine Textstelle aus Abraumhalde angeführt werden, die mit einem Zitat aus Hölderlins Antigone-Übertragung einsetzt. Mit dem Einbringen des „Verbrennens im Ofen“ werden nicht nur Assoziationen zum Nationalsozialismus hervorgerufen, sondern auch zum im Text ständig präsenten Inzestfall von Amstetten.67 Durch die Erwähnung von „Verwandten“ wird sowohl auf Antigone, die als Tragödie der Verwandtschaftsbeziehung gelesen werden kann, als auch auf den islamischen Märtyrertod verwiesen, der im Text über Hinweise auf aktuelle Selbstmordattentate eingeschrieben ist, um schließlich auf den Ödipus- und Pelops-Mythos zu rekurrieren und die Bergpredigt zu zitieren: Die Grube ist vorhanden, damit nicht süß Mahl den Vögeln, die auf Fraßes Lust stehn, der Tote werde. Also damit die ihn nicht fressen, nicht wahr. Da ist ja noch das Brennen hu-

66 Vgl.: Ebd., S. 117. 67 Josef Fritzl hat eines der Kinder, das er mit seiner Tochter gezeugt hat, im Ofen verbrannt.

160 | D RAMA ALS S TÖRUNG man dagegen, das Brennen ist besser als das Verwesenlassen im Offnen und das Verbrennen in einem Ofen, wo man prinzipiell keine Freunde hat, und hätte man welche, hätte man sie schon lang davor verloren. Mit Millionen Freunden als ausgewählte und vorsortierte Sündenböcke in die Öfen gehen, damit könnte man das Nahrungsproblem der Menschheit lösen. Die eine Hälfte oder wieviel es halt ist, wird von der andren gegessen. Nur des Verscharrens wegen ruft man sie noch an, keine Ahnung, wen, aber man kann sie nicht mehr selber rufen. So, es ist jetzt schon nachher. Die Verwandten kommen unweigerlich, nein, weigern werden sie sich nicht, aber man muß sie dann nicht mehr sehen. Sie kommen nicht des Verharrens wegen, sie gehen wieder weg. Wir aber bleiben. Wir müssen bleiben, wir sind ja verscharrt. Wir sind nicht einmal verscharrt, es hat sich nicht gelohnt, für die paar Millionen Menschen eigens Gruben zu graben. Andrerseits: Wer irgendwen begräbt, der nicht begraben sein darf, der wird wiederum vor Ort gesteinigt. Das können wir aber auch gut mit anderen machen, wenn sie nicht verheiratet sind, jedenfalls nicht miteinander, wenn sie nach selbstverschuldeten Verirrungen dem Vater womöglich das Augenpaar zerstochen, den Fuß schon vorher verbogen, verkrüppelt, verhinkt, verhunken, nein, beide Füße durchstochen, zusammengebunden zum Schlachttier, auf diese Weise transportfähig gemacht. Moment mal, das hat er nun wirklich nicht selber verbrochen, die Schändung des Fußes, nur die Augen hat er sich ausgestochen, das hat schon genügt. Ein Verbrechen ist sowas, auch wenn es an einem selbst gemacht wird. Der andre Vater, auch ein guter Kerl, schändet doch glatt den hübschen Sohn des Königs Pelops mit seinem Trotzmops, mit dem er das Kind herbeigelockt hat, er mißbraucht das Kind anschließend, weg, Mops, unnötiger!, mißbrauchen, das wird man ja wohl noch dürfen, mißdeuten darf man ja auch, was soll man denn sonst mit dem Kind machen?, lasset die Kleinen zu mir kommen, denn ihrer ist das Himmelreich, und vielleicht kommen wir auf diese Weise auch mit hinein, können wir uns auf diese Weise mit hineinschmuggeln, wer weiß, also den Sohn des Pelops, wie gesagt wird, mißbraucht, das war wirklich das letzte, was der gebraucht hat, Pelops’ Sohn am Peloponnes, vor dem Mißbrauch das letzte, was dieser Sohn gebraucht hat. (AB)

Mit dem Schichtungsverfahren, das an beiden Sekundärdramen beobachtet werden kann, bringen die Texte weit unter der Oberfläche liegende hegemoniale Macht- und Gewaltstrukturen ans Licht, die die These bestätigen, dass Auschwitz und Weimar einander nicht ausschließen, sondern im Gegenteil untrennbar miteinander verbunden sind. Es sind „aufeinander bezogene Ortschaften derselben Kulturnation“68, dies wird an den Sekundärdramen ablesbar. Die

68 Pornschlegel, Clemens: Versgehüpfe, Reimgeklingel, Singsang. Heideggers Auseinandersetzung mit Goethe. http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/goethe/pornschle gel_heidegger.pdf (12.12.2013), datiert mit 12.1.2004.

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Texte verweisen aber nicht nur auf deutschsprachige Kontexte, sondern beziehen besonders in Abraumhalde über die Thematisierung aller monotheistischer Religionen globale Fragen ein. Dies weist Karen Jürs-Munby treffend nach, wenn sie ausführt, dass mit dem „es hat hier gebrannt“ (AB) ein vielfältiger und schillernder Ort angesprochen ist, der mehrere Räume und Zeiten eröffnet: The ‘here’ of the house that burnt is connoted in multiple ways, a hybrid time and place that could be referring to Nathan’s Jerusalem during the crusades or to post-war Germany, as well as to the Palestinian territories (Jelinek’s online text contains images of Gaza city being bombed by Israel) or to the Twin Towers of 9/11, yet also to Fritzl’s house in Amstetten [...].69

Geschichte wird in den Sekundärdramen in ihrer räumlichen, netzwerkartigen Ausdehnung wahrnehmbar, Vergangenheit und Gegenwart sind nicht länger in einem Nacheinander zu fassen, sondern sind gleichzeitig und immer unabgeschlossen vorhanden. Das Denken von Zeit in ihrer Tiefendimension lässt auch Text-Text-Bezüge nicht länger als ein Nacheinander begreifen. So werden Kategorien wie Referenztext, Hyper- und Hypotext, Einfluss bzw. Original und Kopie brüchig: das Denken der Gleichzeitigkeit lenkt den Blick auf die Tiefenschichten von Sprache und Text, auf die Kopräsenz von Strukturen und Formen. Das Schichtungsverfahren der Sekundärdramen erweist sich gegenüber den übrigen neueren Theatertexten Jelineks als ungleich komplexer. Denn neben der Erzeugung von Zeitschichtungen auf textueller Ebene wird durch die geforderte gemeinsame Inszenierung eine nochmalige Schicht aufgetragen. Jelineks geschichtete Texte treffen dadruch auf ein weiteres System, das eine wieder andere Perspektive von Zeit eröffnet. Sie treffen auf das Drama, das an Entwicklung, Ursprung und Handlung glaubt und konfrontieren es mit jenem schichtenden Denken bzw. setzten die Dramen dadurch Jelineks Denken ihr teleologisches Konzept entgegen. Zusätzlich zum textuellen Verfahren der Schichtung werden mit dem Zitat der Gattung Drama im Begriff „Sekundärdrama“ teleologische Zeitkonzepte negiert. Denn wie Böhn herausarbeitet, bewirken Formzitate auf dreierlei Weise das Aufbrechen einer Raum-Zeitlichen-Logik: [...] erstens durch die Ausrichtung auf Vergangenes eine Richtungsumkehrung, zweitens durch den Bezug einer älteren Form auf eine neue Situation eine Parallelisierung vergan-

69 Jürs-Munby, Karen: Parasitic Politics, S. 219.

162 | D RAMA ALS S TÖRUNG gener und gegenwärtiger Situationen und damit die partielle Ersetzung einer Zeitenfolge durch Zeitschichtung, und drittens durch die Markierung des Zitierten als Vergangenes im Gegenwärtigen eine spiralförmige Kombination von sequentiellem und tektonischem Zeitmodell. Literatur soll also nicht in Geschichte oder in in ihr auftretende anthropologische Muster eingepaßt werden, sondern als Ort der Thematisierung und Problematisierung von Geschichte (im doppelten Verständnis von Geschehenem und dessen Darstellung) beschrieben werden. Im Zitieren von Formen vergegenständlicht Literatur einen Rückbezug auf frühere Vergegenständlichungen, also auf eine Vorgeschichte ihrer selbst. Das Formzitat schreibt dem Text diese Vorgeschichte ein und dekomponiert sie zugleich, indem es verschiedene Möglichkeiten der Beziehung von Vergangenem und Gegenwärtigem ins Spiel bringt.70

Diese Infragestellung wird durch die Kombination von Primär- und Sekundärdrama im Moment der Inszenierung noch deutlicher markiert. Dass das gesamte Konzept daran arbeitet, die Unterscheidung von Original und Kopie aufzubrechen und die Konstruiertheit solcher Kategorien offenzulegen, wird schließlich anhand der Texte selbst und an deren Paratexten sichtbar. Dem Jelineks Sekundärdramen zugrundeliegenden Denken von Zeit entgegenstehend, halten die Texte zunächst an der Differenzierung zwischen Original und Kopie fest und bedienen sich eben dieser Kategorien, um zwischen Primär- und Sekundärdrama zu unterscheiden. In der kursiv abgehobenen Passage zu Beginn von FaustIn and out etwa wird dem Sekundärdrama der „Original-Faust“ (FAU) gegenübergestellt. Das irritiert dahingehend, als das Sekundärdrama konkret Goethes Urfaust als Primärdrama nennt, der als eine mögliche, von Goethe verworfene Textstufe sowohl aufgrund seiner untergeordneten Stellung gegenüber dem klassischen Faust als auch aufgrund der Tatsache, dass es zahlreiche Bearbeitungen des Faust-Stoffs vor Goethe gibt, nur schwerlich als „Original“ identifiziert wird. Ähnlich wird auch in Abraumhalde bereits zu Beginn des Textes ein Spiel um die Frage nach Original und Kopie eröffnet, wenn in der kursiv abgehobenen Textpassage festgehalten wird, dass der Text mit „einer Aufführung von ‚Nathan‘ (oder einem ähnlichen Stück)“ (AB) inszeniert werden solle, womit jede behauptete Originalität von Lessings Nathan der Weise negiert wird. Mit dieser Infragestellung wird bewusst, dass beide herangezogenen Primärdramen keinen originären Status behaupten können. Nicht nur greift Goethe mit dem Faust einen vor ihm zahlreich bearbeiteten Stoff auf, auch Lessings Nathan der Weise fußt auf einer tradierten Erzählung, nämlich orientiert sich Lessings

70 Böhn, Andreas: Das Formzitat. Bestimmung einer Textstrategie im Spannungsfeld zwischen Intertextualitätsforschung und Gattungstheorie, S. 21-22.

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Ringparabel an Boccaccios Decamerone. Wie Peter Dinzelbacher nachweist, sind die Ursprünge der Parabel bis ins Jahr 780 zurückzuverfolgen, wobei die Parabel im europäisch-christlichen Kontext des Mittelalters zentral aufgegriffen wurde, um – hier unterscheidet sich Lessings Bearbeitung – die Vormachtstellung des Christentums zu untermauern.71 Dass Lessings und Goethes Stücke gegenwärtig mit dem Status des Originals belegt sind, ist auf spätere Rezeptionsund Kanonisierungsprozesse zurückzuführen. Das Sekundärdrama ist Übersetzung im Sinne Bhabhas, es negiert in der Betonung der vielfachen Schichtungen und Überlagerungen von Texten und Texturen jede Originalität und verweigert damit die Totalität des Originals. Die Koppelung zweier Texte und Modelle lenkt den Blick noch stärker auf die Relationen von Zeiten. Sind Jelineks Abraumhalde und FaustIn and out dadurch geprägt, dass sie jedes teleologische Denken von Zeit negieren, wird mit dem Drama ein Modell zitiert, für das die Linearität der Entwicklung als konstitutiv gilt. So führt Lehmann aus, dass die „Krise des Dramas“, wie sie seit der Wende zum 20. Jhdt. nachvollziehbar ist, als „Krise der Zeit“ verstanden werden kann und verweist darauf, dass das dem Drama zugrundeliegende lineare Zeitkonzept der Schaffung eines einheitlichen Subjekts diente, diesem Orientierung verlieh.72 Hinsichtlich des Zusammenhangs von Drama und teleologischer Geschichtsauffassung hält er fest: Historiker haben immer wieder zur Metapher des Dramas, der Tragödie und Komödie gegriffen, um den Sinn und die innere Einheit geschichtlicher Prozesse zu beschreiben. […] Geschichte als Drama zu betrachten, bringt aber fast unweigerlich die Teleologie ins Spiel, die diesem Drama eine endlich sinnerfüllte Perspektive weist – Versöhnung in der idealistischen Ästhetik, geschichtlicher Progress in der marxistischen Geschichtsbetrachtung. Das Drama verspricht Dialektik.73

Die Verbindung von Drama und Geschichtsschreibung lässt abermals auf Benjamin verweisen, der in seinem Aufsatz Über den Begriff von Geschichte darauf aufmerksam macht, dass zugunsten einer Geschichtsschreibung, die den Anspruch stellt, eine lineare Entwicklung nachzuzeichnen, nicht nur ausgewählt

71 Vgl.: Dinzelbacher, Peter: Kritische Bemerkungen zur Geschichte der religiösen Toleranz und zur Tradition der Lessing’schen Ringparabel. In: Numen 55 (2008), S. 1-26, S. 3-9. 72 Vgl.: Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, S. 321-322. 73 Ebd., S. 59.

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und gestrichen werden muss, sondern dass jede Auswahl gleichsam Macht konstituiert bzw. Macht ausbaut und sichert: Die Natur dieser Traurigkeit wird deutlicher, wenn man die Frage aufwirft, in wen sich denn der Geschichtsschreiber des Historismus eigentlich einfühlt. Die Antwort lautet unweigerlich in den Sieger. Die jeweils Herrschenden sind aber die Erben aller, die je gesiegt haben. Die Einfühlung in den Sieger kommt demnach den jeweils Herrschenden allemal zugut. Damit ist dem historischen Materialisten genug gesagt. Wer immer bis zu diesem Tage den Sieg davontrug, der marschiert mit in dem Triumphzug, der die heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen. Die Beute wird, wie das immer so üblich war, im Triumphzug mitgeführt. Man bezeichnet sie als die Kulturgüter. Sie werden im historischen Materialisten mit einem distanzierten Betrachter zu rechnen haben. Denn was er an Kulturgütern überblickt, das ist ihm samt und sonders von einer Abkunft, die er nicht ohne Grauen bedenken kann. Es dankt sein Dasein nicht nur der Mühe der großen Genien, die es geschaffen haben, sondern auch der namenlosen Fron ihrer Zeitgenossen. Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozeß der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den andern gefallen ist. Der historische Materialist rückt daher nach Maßgabe des Möglichen von ihr ab. Er betrachtet es als seine Aufgabe, die Geschichte gegen den Strich zu bürsten.74

Was Benjamin allgemein für die Geschichtsschreibung ausführt, könnte auch speziell auf normative Kategorien wie das „Drama“ angewendet werden, betrifft damit Kanonisierungsprozesse. Lehmann geht davon aus, dass die Gebundenheit des Dramas an Kategorien wie Ursache, Entwicklung, Linearität und Chronologie ausschlaggebend dafür war, dass AutorInnen im 20. Jhdt. die Kategorie Drama deutlich infrage stellten. Beispielhaft nennt er Samuel Beckett und Heiner Müller, die „die dramatische Form nicht zuletzt ihrer geschichtsteleologischen Implikationen wegen“75 mieden. Betrachtet man das Sekundärdrama, fällt auf, dass mit der Kombination von Primär- und Sekundärdrama teleologische Geschichtskonzepte nicht länger gemieden, sondern in die Sekundärdramen hereingeholt und bewusst gemacht werden. Dadurch treffen lineare und „schichtende“ Geschichtskonzepte aufeinander, zwei Denkmöglichkeiten von Zeit, die sich vermeintlich unvereinbar gegenüberstehen. Auf diese Weise geht das Sekundärdrama deutlich über die anderen Theatertexte Jelineks hinaus. Die Kombination der Texte im Moment der In-

74 Benjamin, Walter: Über den Begriff von Geschichte, S. 132. 75 Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, S. 60.

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szenierung unterbricht jedoch jedes lineare Denken von Zeit, fragmentiert die logische Handlungsfolge und lässt sie nicht mehr ungestört wahrnehmen – das ist das Paradox, das dadurch entsteht. In der Kombination der Texte wird bewusst, dass jede Kausalität und Chronologie einer Konstruktion entspricht, so wie jeder Glaube an die Überwindung von Gattungen, Epochen und Schreibformen fragwürdig erscheinen muss. Denn die gegenseitigen Text-Einlagerungen zeigen, dass nicht nur für Jelineks Theatertexte dramatische Strukturen konstitutiv und in diesen präsent sind, sondern auch umgekehrt wirken Jelineks Theatertexte auf bestehende Dramen ein, beeinflussen diese nachhaltig und lassen sie neu lesen. Das Entweder-Oder des Dramas wird durch die Verdichtung verunmöglicht. Nicht zuletzt wird damit auch das postdramatische Paradigma für die Kategorisierung eines solchen Konzepts und dieser Theatertexte fragwürdig. Denn das Präfix „Post-“, auch wenn es von Lehmann anders intendiert war,76 suggeriert immer bereits das Denken eines Nach, der Aufeinanderfolge und Ablösung von Epochen und steht somit dem Denken einer Zeit der Koexistenz entgegen.

P ARASITÄRE W UCHERUNGEN So wie die spezifische Arbeit mit prä-, post- und dramatischen Versatzstücken, führt auch die Arbeit mit Zitatrudimenten und Motivwucherungen dazu, dass mit dem Sekundärdrama keine Ausstreichung und Ersetzung vorgenommen wird, sondern viel eher Anreicherungen und Vervielfältigungen entstehen. Mit Lachmann wären diese Wucherungen als jenes Foucaultsche Gegen-Gedächtnis zu beschreiben, als die Sichtbarmachung des Mehr-an-Sinns, das den inoffiziellen Diskurs in den offiziellen einschreibt.77 Das Wuchern von Texten und Texturen entsteht durch das für Jelinek typische Aufgreifen verschiedenster Versatzstücke aus der Hoch- und Populärkultur.78 Neben den Stücken von Lessing und Goethe schichten die Sekundärdramen nicht nur literarische Texte aller Gattungen an- und ineinander, sondern auch religiöse, politische, philosophische und wissenschaftliche Schriften sowie

76 Vgl.: Ebd., S. 28-30. 77 Vgl.: Lachmann, Renate: Gedächtnis und Literatur, S. 192. 78 Der Mix aus hoch- und populärkulturellen Texten ist seit Beginn von Jelineks literarischem Schaffen typisch für ihr Schreiben. Zahlreiche Studien setzen sich damit auseinander. Vgl. diesbezüglich den einführenden Beitrag: Vogel, Juliane: Intertextualität. In: Janke, Pia (Hg.): Jelinek-Handbuch. Stuttgart: Metzler 2013, S. 47-55.

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Medienberichte, Schlagertexte, Werbeslogans etc. Wie breit das zitierte Spektrum ist, zeigt sich bereits an den am Ende der Sekundärdramen angeführten Intertexten: Lessing: „Nathan der Weise“ Sophokles: Antigone Jochen von Lang: Das Eichmann Protokoll (Tonbandaufzeichnungen der israelischen Verhöre) Herbert Marcuse: Repressive Toleranz Die Bergpredigt (Matthäusevangelium, Kapitel 5-7) (AB) From hell: Goethe: „Urfaust“ Joseph Vogl: „Die voranlaufende Verpfändung der Zeit“ Hl. Theresia von Jesu Martin Heidegger Ich selbst Andere (FAU)

Neben den dezidiert genannten Texten finden sich unzählige Referenzen in den Sekundärdramen selbst, die – oftmals über einzelne Namen, Begrifflichkeiten oder verfremdete Kurzzitate – den Textraum erweitern. Durch die Arbeit mit semantischen Verschiebungen bzw. Umkehrungen switchen die Sekundärdramen innerhalb weniger Sätze zwischen vermeintlich nicht zusammengehörenden Phänomenen und Texturen. FaustIn and out setzt mit solch einer semantischen Verschiebung ein, wenn Mephistophelesʼ: „Besonders lernt die Weiber führen / Es ist ihr ewig Weh und Ach / So tausendfach, Aus Einem Punckte zu kuriren.“ (UF) bei Jelinek zu: „Die Weiber führen lehren? Wir hätten eher jeden Grund, sie unschädlich zu machen. Denn sie führen doch schon längst!“ (FAU) wird, um im Anschluss daran Hinweise auf aktuelle Gender-Debatten einzubringen. Oder etwa, wenn die Halskette aus Goethes Urfaust zur Fußkette wird: „Ein Schmuck! Ein Schmuckstück! Wie sollte ihr die Kette stehn? Am Fußgelenk. Okay. Am Fußgelenk also. Ungefähr zwei Meter lang, die Kette, oder?, das reicht locker, die sitzt nicht locker, aber das reicht locker, daß die Tochter sitzen, liegen, stehen, scheißen und pissen kann.“ (FAU) Auch Abraumhalde stellt über semantische Verschiebungen vielfältige Verbindungen her, so beispielsweise von Tausch und Geld (Ringparabel, Nahost-Konflikt, Gender-Thematiken).

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Ähnlich einem Mosaik, bauen sich die Sekundärdramen aus kleinsten Elementen auf, lassen dabei aber ein Bild entstehen, das immer unscharf bleibt, nie klar und greifbar wird. Unklar deshalb, weil die Begriffe und Sätze vieldeutig bleiben, nie nur auf einen Intertext, sondern beständig auf mehrere Stränge verweisen. So eröffnet das „Brennen“ in Abraumhalde Assoziationen zu Lessings Nathan, aber auch zur Frage nach Bestattung, wie sie in Sophoklesʼ Antigone gestellt wird bzw. zur Shoah und zum aktuellen Nahost-Konflikt. Ebenso vieldeutig bleibt der Begriff des „Kellers“ in FaustIn and out, die Assoziationen reichen von Auerbachs Keller bis zum Inzestfall von Amstetten. Nie ist klar, zu welcher Zeit und zu welchem Raum gerade Bezug hergestellt wird, es sind Kippbilder, die unendliche Überlagerungen erzeugen. In dieser Überfülle entsteht immer wieder so etwas wie Rauschen, das die Materialität des Textes bzw. des Theaters hervortreten lässt. Intensiviert wird dieses Textrauschen dadurch, dass die Texte an manchen Stellen in völlig sinnentleertes Sprechen übergehen. In Abraumhalde wird jene Unmöglichkeit sinnvollen Sprechens bereits angedeutet. Eventuell könnte das „und so weiter“, das den Satz „Vater unser, der in den Himmeln, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel so auch auf Erden“ (AB) beschließt bzw. abbrechen lässt, als Störgeräusch bezeichnet werden. FaustIn and out arbeitet intensiver mit diesem Verfahren: die Sätze werden nicht nur durch ein „undsoweiter“ (FAU) unterbrochen, sondern der Text geht immer wieder in ein „Bla bla bla“ (FAU) über und wird damit abgebrochen bzw. durch sinnentleertes Gemurmel überlagert, denkt man an die gemeinsame Inszenierung. Erstmals steht in der ersten, mit „FaustIn“ überschriebenen Redepassage dieses „Bla bla bla“, einer Passage, die intertextuell zentral auf Heidegger rekurriert: Der eine Gott erlaubt mehr, der andre weniger. Egal welcher, er will sich an mir messen, denn auch er kann seine Welt, die er geschaffen hat, nur aus jemandem wie mir interpretieren, als einem von ihm geschaffenen, ihm begegnenden Seienden. Bla bla bla. Wieso sieht er mich dann nicht? Wieso sieht er dann nur mich? Wieso bin ich dann nicht? Wieso bin ich dann nicht mehr? Dieses Sein scheint für mich vorgesehen zu sein, sonst hätte mein Vater mich doch einfach beendigen und beerdigen können und aus. Noch etwas tiefer graben – darauf wäre es nicht mehr angekommen. Mein Vater war und hat das ausführende Organ. (FAU, Herv. d. Verf.)

Nach dieser ersten Einschreibung taucht das „Bla bla bla“ in den folgenden Passagen vermehrt auf, die der SprecherInneninstanz „FaustIn“ zugeordnet sind. Insgesamt sechzehnmal wird das „Bla bla bla“ im Text wiederholt, ein siebzehn-

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tes Mal steht es leicht verändert als „Bla bla bla bla“ im Text. Nach der fünften Nennung wird das „Bla bla bla“ erstmals variiert und erweitert: Mein Dasein ist irgendwie festgefahren, aber fahren kann ich auch nicht. Ich kann hier unten Formeln studieren und anwenden, okay. Also ich könnte, ich kann aber nicht. Bla bla bla. Das heißt, ich könnte das einmal können, wenn ich es gelernt hätte. Und als Formeln wären sie für mich durch die Abendschule vielleicht verständlich geworden, und trotzdem bliebe dann das, wovon sie sprechen, was sie deuten, das Unverständliche. Derzeit alles unverständlich. Bla bla bla. Rhabarber Rhabarber Rhabarber. Also bin ich schon wieder bei einem Schöpfer gelandet, bei meinem Vater, der mein Schöpfer, Erhalter und Vorenthalter ist, das ist bequem, dafür muß wiederum ich nichts mehr lernen. (FAU, Herv. d. Verf.)

Diese entstellende Wiederholung findet sich später im Text in verschiedenen Ausformungen: „Bla bla bla. Rhabarber“, „Bla bla bla. Rhabarber. Rhabarber“, „egal egal egal, bla bla bla“, „Bla bla bla. Ballerballer. Ballaballa. Bescheuert!“, „bla bla bla, undsoweiter, undsofort, gähn“ (FAU). An einer Stelle wird das „Bla bla bla“ durch ein „bäh bäh bäh“ (FAU) ersetzt. Interessant scheint in diesem Kontext auch das Wort „Rhabarber“, das am Theater herangezogen wird, wenn der Eindruck des Gemurmels einer größeren Menschenmasse entstehen soll. Die Kombination des „bla bla bla“ mit dem Begriff „Rhabarber“ verstärkt die Vielstimmigkeit des sinnentleerten Geredes und nimmt direkt auf die Theaterpraxis Bezug. Deutlich wird, dass nicht der Inhalt, sondern die klangliche Qualität der Sprache im Vordergrund steht. Wenn die „Sinnpausen“ gerade in jene Textpassagen eingebaut werden, die Fausts Seins- und Sinnfrage mit Heideggers Ontologie verknüpfen, ist abermals darauf verwiesen, dass kein emphatisches „Ich“ die Stimme ergreift bzw. ergreifen kann. Alle Rede ist unauthentisch, geborgt und an das Gerede der Mehrheit angepasst. Wie Lücke festhält, kann das „Bla bla bla“ so auch als das Heideggerʼsche Man gelesen werden.79 Das „Bla bla bla“ erinnert aber auch an Heiner Müllers Hamletmaschine („Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung BLABLA […].“80), ist somit im Kontext einer dramatischen Tradition der „Klassikerübermalung“ zu lesen und verweist auf einen bestimmten Zugriff auf die Dramentradition. Mit dem

79 Vgl.: Lücke, Bärbel: Faust und Margarethe als Untote. Zu Elfriede Jelineks „FaustIn and out. Sekundärdrama zu Urfaust“ – offene/verdrängte Wahrheiten in freiheitlichen Zeiten, S. 27. 80 Müller, Heiner: Hamletmaschine. In: Müller, Heiner: Werke. Bd. 4: Die Stücke 2. Hg. von Frank Hörnigk. Berlin: Suhrkamp 2001, S. 543-554, S. 545.

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Bezug auf die Primärdramen können sowohl das „und so weiter“ als auch das „bla bla bla“ als Auslassungen, als Leerstellen gelesen werden, die das Sekundärdrama im Primärdrama erzeugt, die den Fortgang der Handlung, des Dialogs etc. verweigern und in ein Rauschen überführen. Beides respektiert die dramatischen Vorlagen nicht, bricht ironisch den Status der kanonisierten Texte und nimmt den Sätzen der Primärdramen ihre Wichtigkeit und Einmaligkeit. Die Übergänge des Sprechens in ein sinnentleertes Rauschen werden darüber hinaus in der kursiv abgehobenen Passage zu Beginn von Abraumhalde deutlich markiert, wenn hinsichtlich der möglichen Inszenierung vorgeschlagen wird, dass das Sekundärdrama als „Geräuschtapete“ fungiert, die manchmal nahezu unhörbar ist, „wie fernes Gemurmel“ (AB). Mehr noch als durch die Überforderung und das Kippen in sinnentleertes Sprechen geriert sich das Sekundärdrama auf diese Weise als (permanentes) Störgeräusch, das den Primärdramen immanent ist. Ebenso wie jeder Kommunikation Störungen innewohnen (wenn auch unhörbar), keine Kommunikation ohne Störung ist, erweisen sich so auch die Sekundärdramen als „immer schon da“ im Primärdrama, dies wird durch das Konzept nachvollziehbar. Neben den genannten intertextuellen Bezügen werden in beiden Sekundärdramen Fakten realer (Kriminal-)Fälle eingearbeitet. Zentralgesetzt ist dabei der sogenannte Inzestfall von Amstetten, der sowohl Abraumhalde als auch FaustIn and out durchzieht. Der 2008 bekannt gewordene Fall von Josef Fritzl, der seine Tochter 24 Jahre lang in seinem Keller einsperrte, vergewaltigte und sieben Kinder mit ihr zeugte, löste auf globaler Ebene mediale und gesellschaftliche Debatten aus. Jelinek reagierte unmittelbar nach dem Publik werden mit dem Essay Im Verlassenen auf die Vorfälle, den Sekundärdramen geht somit eine intensive Auseinandersetzung mit dem Fall von Amstetten voraus.81 In FaustIn and out verwebt sie darüber hinaus Fakten um den Fall Fritzl mit dem Fall der Natascha Kampusch. Damit bringt sie den zweiten, 2006 öffentlich bekannt gewordenen, international diskutierten österreichischen Kriminalfall um die Entführung der Natascha Kampusch ein, die im Alter von 10 Jahren von Wolfgang Přiklopil entführt und acht Jahre lang von ihm im Keller seines Hauses festgehalten wurde. Auch hier reicht die Auseinandersetzung bereits weiter zurück, nämlich greift sie den Fall bereits im Internetroman Neid (2007/2008) auf, in dem 2010 für Christoph Schlingensief entstandenen Theatertext Tod-krank.Doc, aber auch in ihrem Theatertext Winterreise (2011). In Erinnerung gerufen wer-

81 Vgl.: Jelinek, Elfriede: Im Verlassenen. http://a-e-m-gmbh.com/wessely/famstet.htm (15.7.2014), datiertmit 1.5.2008 (= Elfriede Jelineks Website, Rubriken: Archiv 2008, Notizen, zu Österreich).

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den die zur Zeit der Entstehung der Sekundärdramen aktuellen Fälle mittels der Einarbeitung detaillierter Fakten, die den meisten RezipientInnen (zumindest im deutschsprachigen Raum, aber auch weit darüber hinaus) aus Medienberichten bestens bekannt waren. So etwa, wenn in Abraumhalde vom Keller des Hauses die Rede ist („[…] ach so, der Vater ist schon mit einer vollkommen andren getraut worden, er hat oben eine andre Frau und Mutter, nein, nicht seine Mutter, eine andre Mutter seiner Kinder, kennst dich aus?, hast mich?, und wenn dieser Vater erst wieder auf der Erde ist, von unten heraufkommt, denn unten hat er eine ganz neue Wohnung, eine eigene schöne Wohnung, […]“, AB), vom Vater, der auch Großvater ist („[…], aber er begeht kein Verbrechen, der Papaopa.“, AB) oder von der Tochter, die zugleich Ehefrau ist („Damit er Mutter, Ehefrau zugleich hat, der Vater, aber er will die Tochter auch noch, und er bekommt sie, er bekommt sie.“, AB). Teilweise werden Beschreibungen des Kellers, in dem Fritzl seine Tochter festgehalten hat, sehr detailliert wiedergegeben: Hinter einer Stellage, mit Einsiedegläsern, Dosen und Werkzeug getarnt, befindet er sich, der Eingang. Genau. Er ist getarnt. So viel Nahrung reichen wir ihr hinunter, der Frau und ihren Kindern hinunter, mehr als sich schickt, daß nicht die Supermärkte ringsumher zuschanden gehen ohne Ware, die alle heimlich ich gekauft hab. Die Tochter im Verlies, schön, […]. (AB)

So etwa reagiert diese Stelle auf Details um den versteckten Eingang zum Keller oder auf die medial viel diskutierte Frage, wie Josef Fritzl unbemerkt für die weggesperrte Tochter und deren Kinder einkaufen konnte. Noch diffiziler sind in FaustIn and out Fakten um die Fälle Fritzl und Kampusch eingearbeitet. Beispielsweise über den Verweis auf den VW-Kastenwagen, mit dem Přiklopil das Mädchen entführt hat, über die Angabe des Alters der beiden Mädchen zum Zeitpunkt ihrer Entführung bzw. Gefangennahme („Bin über vierzehn Jahr doch alt. War aber einmal zehn, als ich hier runterkam. Jetzt über vierzehn, die andre Dame dort schon sechzehn. Wir sind auf alles schon vorbereitet worden. Mein schönes Fräulein, darf ichs wagen, meinen VW-Kastenwagen und meine Prügel Ihnen anzutragen?“, FAU), über Details zur Kindheit von Elisabeth Fritzl, der Ausstattung der Kellerräume, die Dauer der Gefangenschaft oder über die konkrete Anzahl der Fluchtversuche Natascha Kampuschs und der Kinder, die Josef Fritzl mit seiner Tochter gezeugt hat. Sowohl Lücke als auch Jürs-Munby halten fest, dass mittels der realen Fälle noch deutlicher auf das Allgemeine verwiesen

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wird, auf die „partikulären Machtzentren“82 des Phallogozentrismus wie Religion, Politik und Ökonomie. Lücke und Jürs-Munby folgend und entgegen populärer Lesarten, die die Sekundärdramen (besonders FaustIn and out) als „Fritzl“Stück verstanden wissen wollen,83 geht die vorliegende Studie davon aus, dass die realen Kriminalfälle dazu dienen, den größeren Gewalt-Kontext sichtbar zu machen, der im phallozentristischen Denken verborgen liegt. Gut lässt sich hier an Emmanuel Béhague anschließen, der allgemein für Jelineks Schreiben festhält, dass es intensiv mit dem „Einbruch“ realer Fakten arbeitet, um Risse im Redefluss zu erzeugen. Durch diesen effet de réel würde die Materialität der Vergangenheit das Kontinuum des Sprechens unterbrechen, so Béhague, und den Einbruch der Vergangenheit in die Gegenwart textuell nachvollziehen.84 Die Sekundärdramen sind dicht durchzogen von solchen Effekten. Neben den Fällen Fritzl und Kampusch sind es verschiedene, eher regional bekannt gewordene Mord- oder Raubfälle. So verarbeitet Jelinek gleich zu Beginn von FaustIn and out Fakten eines Mordfalls, der sich im November 2009 in der Tiefgarage des Wiener Hanusch-Krankenhauses ereignete,85 die aufgrund ihrer Konkretheit als Störelement den Text durchkreuzen: Die Frauen sind Jesus, alle in einer Flasche, alles Flaschen, diese Frauen. Sie haben nichts. Sie haben nicht einmal mehr was zu tragen. Sie haben nichts anzuziehen. Sie haben nichts. Sie haben keine Arbeit mehr. Sie haben sie verloren. Sie haben sich verloren. Sie durchschreiten die Straßen und Wege ihrer Dörfer und Kleinstädte, wie jeden Tag, hinein in ihren rostigen, beim Start schon stotternden Kleinwagen, zur Bahn, im Pendler-

82 Lücke, Bärbel: Hermann Brochs „1918. Huguenau oder die Sachlichkeit“ („Die Schlafwandler“) und Elfriede Jelineks „Abraumhalde“. Zwischen Zerfall und Restituierung religiöser und ökonomischer Paradigmen – eine Engführung, S. 492. 83 Vgl. bspw.: Klaeui, Andreas: Das Gretchen von Amstetten. http://nachtkritik.de/index. php?option=com_content&view=article&id=6675:faust-13-goethe-und-jelinek-inzuerich&catid=38:dienachtkritik&Itemid=40 (15.7.2014); Schulte, Bettina: Gretchen Fritzl. In: Badische Zeitung, 10.3.2012; Surber, Peter: Faust und Fritzl. In: St. Gallener Tagblatt, 10.3.2012. 84 Vgl.: Béhague, Emmanuel: Textur und Spannung. Zum Verhältnis zwischen TextsprecherIn und Text in der zeitgenössischen (Post)dramatik. In: Janke, Pia / Kovacs, Teresa (Hg.): „Postdramatik“. Reflexion und Revision. Wien: Praesens Verlag 2015 (= DISKURSE.KONTEXTE.IMPULSE. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums 11), S. 87-97, S. 91. 85 Vgl.: N.N.: Krankenschwester im Hanusch-Krankenhaus erschossen. In: Die Presse, 15.11.2009.

172 | D RAMA ALS S TÖRUNG zug zur Arbeit. Die Krankenschwester im modernen Franzosenauto, das auf nichts anspricht, was man noch kennt. Ein Kleinwagen, aber er spielt alle Stücke, er spielt ihr das Lied vom Tod. Er würde auf sie ansprechen, aber nicht auf ihren Mörder. Ihr Mörder kann ihn nicht starten, weil er beim Studium des Alkohols nicht bis zum USB-Stick vorgedrungen ist, der moderne Autos seit neuestem anspringen läßt. Auf diese Frau springt einfach keiner an. Aber ihr Auto würde schon ansprechen. Der Mörder hat einen Schlüssel gedreht, doch dieser Wagen springt nur mit Chipkarte an. Der Mörder hat davon noch nie gehört, mordet die Frau aber trotzdem. Er ermordet die Krankenschwester, weil er ihr Auto haben will. Jetzt hat er gar nichts, aber die Frau ist tot. Er hat die Frau angesprochen, und jetzt ist sie tot. Oje. Das Auto geht nicht, kein Schlüssel vorhanden. Es braucht keinen Schlüssel, aber das versteht der Mörder nicht. Mit dem USB-Stick kennt sich der Mörder nicht aus. Er weiß nicht, was das ist und wie der geht. Der Tod der Schwester nützt niemandem etwas, nicht einmal dem Mörder. Er bringt das Auto nicht in Fahrt. Die Krankenschwester ist tot. Der Mörder nimmt jetzt den Bus. Die Krankenschwester ist ab sofort tot. Die Frauen fahren zur Arbeit. Alles haben sie jetzt verloren. Sie haben ihren Stammplatz im Pendlerzug verloren, den beim Fenster, den schönen Platz, den sie seit Jahren mit sich besetzten, dieser Platz hat ihnen gut gefallen, sie konnten hinausschauen, am Fensterplatz. (FAU, Herv. d. Verf.)

Neben Mord- und Kriminalfällen werden in FaustIn and out publik gewordene Fälle von Entlassungen von Frauen in prekären Arbeitssituationen eingearbeitet, so etwa die Kündigungen von Angestellten aufgrund des „Diebstahls“ abgelaufener Puddings, die in Deutschland 2010 medial breit diskutiert wurden: Meine Hand fällt ins Regal, sie fällt auf zwei Becher Pudding. Die sind bereits arretiert für den Wegwurf, denn ihr Datum, das Datum für den Verfall, dem wir alle unterliegen, das Verfallsdatum ist mit diesem Tag überschritten, der Pudding kann nicht mehr verkauft werden, vielleicht aber doch, wer weiß, vielleicht findet sich jemand, der nicht genau hinschaut. Aber nein, doch nicht, dieser Pudding wird für die Öffentlichkeit gesperrt, bleibt jedoch Eigentum des Supermarkts, für den ich arbeite. (FAU)

In Abraumhalde werden neben dem Fall Fritzl zentral Berichte um Selbstmordattentate und den Nahostkonflikt herangezogen, um diesen Einfall des Realen zu erreichen: „[…] hätten wir nur die richtige Religion, doch, ich weiß es, über siebzig Jungfrauen im Stück, alle in einem Stück, was der Märtyrer ja nicht mehr ist, er ist zerstückelt, er ist in seine Einzelteile zerfallen, zersplittert, […].“ (AB) All diese Realien durchziehen die Sekundärdramen, öffnen den fiktiven Textraum und vollziehen die verborgenen Verbindungslinien zwischen Fiktion und

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Wirklichkeit nach. In der Kombination mit den Primärdramen fungieren diese Realien als doppelte Störelemente, erinnern aber auch daran, dass auch Lessing und Goethe mit ihren Dramen auf konkrete Ereignisse reagieren. Die Überfülle an Zeichen, Referenzen und Handlungselementen, die durch dieses Verfahren entsteht, erzeugt kognitive Dissonanzen. In diesen Uneindeutigkeiten, in den vielfach gebrochenen Mixturen und im permanenten Changieren bildet sich jedoch ein Zwischenraum, der neue Perspektiven auf Vorhandenes und scheinbar Fixiertes eröffnet. Die Überfülle erfordert differenzierte Wahrnehmungshaltungen auf Seiten der RezipientInnen und verschiebt gewohnte Wahrnehmungsmuster. Auch hier erfüllt sich das Politische des Konzepts und deutlich wird, dass das Sekundärdrama nicht ausschließlich als destruktive Form zu beschreiben ist, sondern dass es konstruktiv wirken kann. Obwohl die Texte endlos wuchern und sich in dieser Bewegung immer wieder entziehen, lassen sich bei beiden Sekundärdramen Leitmotive bestimmen, um die die Texte kreisen, von denen die Wucherungen ausgehen und zu denen sie immer wieder zurückkehren. In Abraumhalde kann als ein bestimmendes Leitmotiv das „brennende Haus“ ausgemacht werden, das Jelinek Lessings Nathan der Weise entlehnt. So beginnt das Stück mit „Das Haus, das brannte, das brannte, da kann man nichts machen, es hat hier gebrannt, wir bauen uns ein neues, ein bequemeres, ein bequemeres“ (AB), um im Verlauf des Textes weitere zentrale Motive des Nathan bzw. der Nathan-Rezeption wie Humanität, Toleranz und Religion zu umkreisen. FaustIn and out eröffnet ausgehend vom „In and out“ die Frage nach Ein- und Ausschlüssen, befragt Subjekt- und damit verbundene Freiheitsbegriffe, wie sie in Goethes Faust-Komplex verhandelt werden. Mit Bezug auf den Urfaust, in dem es um Selbstbestimmung und das Streben nach Freiheit des männlichen Gelehrten geht (während Margarete im Kerker landet), werden Bilder der Unfreiheit entworfen: es ist das Spannungsfeld von freier Marktwirtschaft und ökonomischer Gefangenschaft, von Emanzipation und bestehender Knechtschaft durch das Patriarchat, von politischen Freiheitsbegriffen und hierarchischen Gesellschaftsordnungen etc., das hier zur Sprache gebracht wird. FaustIn and out zeigt damit die Brüchigkeit von Begriffen wie Selbstverwirklichung und Autonomie. Die Sekundärdramen orientieren sich an dominanten Deutungen der Primärdramen, die prägend für das kulturelle Verständnis sind. Sie reflektieren die Rezeptionsgeschichte der Stücke und verweisen durch das additive Verfahren auf das, was hinter den gängigen Deutungen verborgen liegt und lassen so an Lesarten anschließen, die im Bereich der Gender-Studies, der dekonstruktiven oder psychoanalytischen Literaturwissenschaft vorgeschlagen wurden.

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Trotz der Schwierigkeit, einzelne Motive herauszugreifen, nachzuverfolgen und konkret zu machen, wird die Arbeit im Folgenden ausgewählten Motivkomplexen nachgehen, die sowohl bestimmend sind für die Primär- als auch Sekundärdramen. Dadurch soll exemplarisch nachgezeichnet werden, wie die Motive zu wuchern beginnen und in verschiedene Räume und Zeiten ausgreifen. Dabei ist klar, dass immer nur Bruchstücke präsentiert werden können, dass – greift man einen Strang heraus – das immer zugunsten der Aussparung anderer passieren muss. Darüber hinaus bedingen alle Komplexe einander, sind nie wirklich voneinander zu trennen, weshalb es auch in der Analyse zwangsweise zu Überschneidungen und Überlagerungen kommen muss. pater familias und bürgerliche Familie Wie kippen die Sekundärdramen, wenn von „Familie“, „Vater“, „Tochter“ etc. die Rede ist, immer wieder zur bedrohlichen, gewaltsamen Kehrseite der Familie, die im Inzest, in der Vergewaltigung der Tochter durch den Vater gipfelt? Scheinen die Primärdramen auf den ersten Blick als geglättet – Nathan als fürsorglicher Ziehvater, Faust (zumindest in der Rezeption des Textes) als Inbegriff des nach Vernunft strebenden Mannes –, verweisen die Sekundärdramen auf das Verborgene, das in den Primärdramen Unausgesprochene und Unbeachtete. Lessings Nathan der Weise gilt im deutschsprachigen Raum als das Aufklärungsdrama:86 bestehende Religionskonflikte zwischen den drei monotheistischen Religionen werden aufgelöst, die aufgeklärte Haltung der ProtagonistInnen führt zur gegenseitigen Toleranz. Die Aussöhnung im Text wird jedoch nicht ausschließlich durch das Bauen auf Vernunft herbeigeführt, sondern neu entdeckte Verwandtschaftsbeziehungen ermöglichen den harmonischen Ausgang: die Christin Recha, deren Ziehvater der Jude Nathan ist, ist die Schwester des jungen Tempelherren. Die Geschwister wiederum sind die Kinder von Assad, dem verstorbenen Bruder des Sultans Saladin. Die von Lessing entworfene conditio humana baut somit zentral auf die Familie auf, auch wenn Familie nicht auf Blutsverwandtschaft beschränkt bleibt, sondern – das markiert bereits die

86 Vgl.: Gutjahr, Ortrud: Was heißt hier Aufklärung? Gotthold Ephraim Lessings „Nathan der Weise“ und die Probe aufs Wort mit Elfriede Jelineks „Abraumhalde“ in Nicolas Stemanns Inszenierung. In: Gutjahr, Ortrud (Hg.): „Nathan der Weise“ von Gotthold Ephraim Lessing. Texterprobungen mit „Abraumhalde“ von Elfriede Jelinek in Nicolas Stemanns Inszenierung am Thalia Theater Hamburg. Würzburg: Könighausen & Neumann 2010 (= Theater und Universität im Gespräch 11), S. 43-73, S. 43.

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Ziehvaterschaft Nathans – als ideeller Zusammenschluss verstanden werden kann. Peter Uwe Hohendahl, der die Dialektik von Tugend und Gewalt als wesentlich für die Aufklärung beschreibt, hält für Lessings Nathan der Weise fest, dass darin erfolgreich Gewalt, sowohl auf Seiten des Staates als auch der Familie, überwunden wird: „Am Ende des 5. Aktes darf die Familie als Ort des Friedens in Erscheinung treten, wo Tugend und Glück sich verbinden, während Gewalt auf der anderen Seite an die Peripherie verwiesen wird, wo die Aufklärung sie zu sehen wünscht.“87 Mit dem Begriff der Peripherie deutet Hohendahl bereits an, was er später weiter ausführt, nämlich dass Gewalt nicht tatsächlich abgeschafft, sondern lediglich verdrängt und in die Sphäre des Unsichtbaren verrückt wird: Das Individuum scheint gegen die Macht der älteren Autoritäten einer noch nicht aufgeklärten Ordnung zu kämpfen, in der Herrschaft und Gewalt als unbefragte und legitime Kräfte erscheinen, doch zur gleichen Zeit wird es in die Konstituierung der eigenen Innerlichkeit hineingezogen als eine neue Sphäre, die ihrerseits struktur- und normenbedürftig ist. Eben diese Elemente müssen durch Erziehung internalisiert werden. Insofern erhält der Prozeß der Erziehung selbst ein Moment von gewaltsamer Einschreibung, obgleich es sich selbst als einen gänzlich natürlichen Prozeß versteht. In Lessings Nathan bleibt dieser Aspekt sorgfältig verborgen und ist weder für die Charaktere noch die Zuschauer sichtbar. Beide werden ermutigt, ausschließlich an die heilende Kraft der Erziehung zu glauben, derzufolge bestehende Gewalt innerhalb der Gemeinschaft der Familie und, im Prozeß der logischen Erweiterung, in der Gesellschaft überhaupt eliminiert werden kann.88

Die Sekundärdramen lenken den Fokus auf eben diese Peripherie und machen damit bewusst, dass Gewalt untrennbar mit aufklärerischen Werten verbunden ist, auch wenn sie aus dem sichtbaren Bereich verdrängt wurde. Die gewaltsamen Mechanismen, die der patriarchalen Familienordnung inhärent sind, werden im Text über das Aufspannen eines Zeitraums bewusst, der von vorchristlicher Zeit bis in die Gegenwart reicht. Mit der Einschreibung von Sophoklesʼ Antigone wird in Abraumhalde ein Text herangezogen, dessen Ausgang als das genaue Gegenteil von Nathan bezeichnet werden kann (Gewalt in Staat und Familie wird dort gerade nicht über-

87 Hohendahl, Peter Uwe: Der „Fortschritt“ der Menschheit. Zur Dialektik von Tugend und Gewalt in der deutschen Aufklärung. In: Chloe: Beihefte zum Daphnis 1/2004, S. 253-273, S. 266. 88 Ebd., S. 273.

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wunden, sondern breitet sich sichtbar aus). Darüber hinaus werden darin sanktionierte, inzestuöse Verwandtschaftsbeziehungen thematisiert (Antigone ist die Tochter von Ödipus, Antigones Liebe zu ihrem eigenen Bruder Polyneikes), wie sie auch im Nathan zu finden sind, wo sie jedoch unproblematisiert und unbesprochen bleiben (die Liebe zwischen Recha und ihrem Bruder, dem jungen Tempelherrn, jedoch unwissend über das verwandtschaftliche Verhältnis). Der Inzestfall von Amstetten bringt zusätzlich ein aktuelles Ereignis ein, das auf die Gegenwärtigkeit dieser zwar sanktionierten, aber möglichen Familienbeziehung verweist. In den bürgerlichen Dramen der Aufklärung, denen Lessings Nathan der Weise zugerechnet werden kann, ist die Familie Sinnbild der Gesellschaft selbst, an ihr werden Sozialisationsprozesse ausgehandelt und nachvollzogen.89 Eine besondere Position kommt dabei dem pater familias zu: durch tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen eigentlich Gefahr laufend, an Macht zu verlieren, wird die herausragende Stellung des Vaters im privaten Bereich umso bedeutender: „Ökonomisch und gesellschaftlich gesehen wurde der Bürger zusehends ein kleines Rädchen in einer großen Maschinerie, die er weder befehligte noch kontrollierte. Als Oberhaupt in der Familie erhielt er eine Entschädigung für die reale Einbuße an Bedeutung. Als Herrscher über Frau, Kinder und Gesinde konnte er sich mächtig fühlen.“90 So verwundert es kaum, wenn das Bürgerliche Trauerspiel die Väter fokussiert, während die Mütter marginalisiert werden bzw. eine Leerstelle bilden. Susan E. Gustafson räumt in ihrer Studie Absent Mothers and Orphaned Fathers Lessings Nathan der Weise eine Sonderstellung ein. Sie konstatiert, dass noch dominanter als in anderen bürgerlichen Dramen die Vaterfigur das absolute Zentrum des Textes bildet. Die patriarchale Ordnung steht im Mittelpunkt und wird von allen Figuren des Stücks bestätigt und gestützt, während die maternale Genealogie völlig getilgt ist.91

89 Vgl.: Kittler, Friedrich A.: Erziehung ist Offenbarung. Zur Struktur der Familie in Lessings Dramen. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 21 (1977), S. 111137. 90 Stephan, Inge: „So ist die Tugend ein Gespenst.“ Frauenbild und Tugendbegriff bei Lessing und Schiller. In: Freimark, Peter / Kopitzsch, Franklin / Slessarev, Helga (Hg.): Lessing und die Toleranz. Detroit: Wayne State University Press 1985, S. 357374, S. 362. 91 Vgl.: Gustafson, Susan E.: Absent Mothers and Orphaned Fathers. Narcissism and Abjection in Lessing’s Aesthetic and Dramatic Production. Detroit: Wayne State University Press 1995, S. 217.

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Anders als bei Nathan der Weise scheint in Goethes Urfaust der Vater jene Leerstelle zu sein, so wie überhaupt Familienstrukturen kaum greifbar sind (die Mutter von Margarete ist abwesend, der Bruder als Soldat weg von zu Hause) bzw. im Laufe des Dramas durch die Ermordung der Mutter, des Bruders und des neugeborenen Kindes gänzlich ausgestrichen werden. Dennoch ist das Prinzip des Vaters in das Stück eingeschrieben, jedoch in seiner Verschiebung vom Vater zum Liebhaber. Wie Barbara Mabee konstatiert, geht mit dem Gebot der sittsamen Frau im 18. Jhdt. eine Infantilisierung der Frau einher, die sich deutlich daran zeigt, dass nicht nur die Väter selbst, sondern auch die Liebhaber ihre Frauen als Kind ansprechen und behandeln.92 Diese Verschiebung im Geschlechterverhältnis bildet sich im Urfaust ab, wo Faust Margarete mit „mein Kind“, „liebes Kind“, „liebe Puppe“, „kleiner Engel“ (UF) oder eben mit der verniedlichenden Form „Gretchen“ anspricht. Die Engführung von Vater und Liebhaber lässt sich nicht nur an den von Faust gewählten Bezeichnungen für Margarete ablesen, sondern auch an anderer Stelle, nämlich an Fausts Monolog in der Szene Abend, wo er erstmals Margaretes Zimmer betritt, das er mit den Worten beschreibt: Willkommen, süser Dämmerschein, Der du dies Heiligthum durchwebst! Ergreif mein Herz, du süse Liebespein, Die du vom Thau der Hoffnung schmachtend lebst! Wie athmet rings Gefühl der Stille, Der Ordnung, der Zufriedenheit, In dieser Armuth welche Fülle! In diesen Kercker welche Seeligkeit! er wirft sich auf den ledernen Sessel am Bett. O nimm mich auf, der du die Vorwelt schon In Freud und Schmerz in offnen Arm empfangen! Wie offt, ach! hat an diesem Väter Trohn Schon eine Schaar von Kindern rings gehangen! Vielleicht hat, danckbaar für den heilgen Krist, Mein Liebgen hier mit vollen Kinderwangen Dem Ahnherrn fromm die welcke Hand geküsst. Ich fühl, o Mädgen, deinen Geist

92 Vgl.: Mabee, Barbara: Die Kindesmörderin in den Fesseln der bürgerlichen Moral: Wagners Evchen und Goethes Gretchen. In: Woman in German Yearbook 3 (1986), S. 29-45, S. 34.

178 | D RAMA ALS S TÖRUNG Der Füll und Ordnung um mich säuseln, Der Mütterlich dich täglich unterweist, Den Teppich auf den Tisch dich reinlich breiten heisst, Sogar den Sand zu deinen Füssen kräuseln! O liebe Hand, so Göttergleich Die Hütte wird durch dich ein Himmelreich. (UF)

Achim Würker, der in seinem Beitrag Über die Objektwahl des Faust eine psychoanalytische Interpretation des Faust I vornimmt, weist ausgehend von dieser Passage darauf hin, dass Faust sich hier als Vater positioniert, Margarete aber nicht nur als Kind, sondern auch als Mutter seiner Kinder imaginiert. Würker spricht darüber hinaus von einem ödipalen Wunsch Fausts, da er Margarete nicht nur als seine Frau und Kind, sondern auch als seine Mutter fantasiert, die er gleichzeitig zur Liebhaberin nimmt.93 Liebes- und Familienbeziehung überlagern im Urfaust einander. Wie in Nathan der Weise ist somit auch der Urfaust durch unklare Familienbeziehungen geprägt. Verbietet im Nathan das Wissen um die Verwandtschaft eine Liebesbeziehung, werden im Faust, Würkers Lesart folgend, jene Ebenen ausgelotet. Hausvater Die Gewalt des pater familias war im 18. Jhdt. im deutschsprachigen Raum nicht nur staatlich festgeschrieben (Erbsystem, Sozialordnung etc.), sondern auch religiös begründet, sodass Barbara Becker-Cantarino Gottvater, Landesvater und Hausvater als Ausformungen einer absoluten Zentralsetzung des Vaters beschreibt.94 Barbara Mabee geht ausführlich auf die Entwicklung der bürgerlichen Kleinfamilie im 18. Jhdt. ein und verweist darauf, dass die Empfindsamkeit den Familienvater als Stellvertreter Gottes definierte und somit die patriarchale Gewalt im Haus deutlich religiös fundiert war.95 Für die Frau blieb keine andere

93 Vgl.: Würker, Achim: Über die Objektwahl des Faust. Assoziationen zur Gretchentragödie in Goethes Drama. In: Jaeggi, Eva / Kronberg-Gödde, Hilde (Hg.): Zwischen den Zeilen. Literarische Werke psychologisch betrachtet. Gießen: Psychosozialverlag 2004, S. 209-220, S. 215. 94 Vgl.: Becker-Cantarino, Barbara: Genderforschung und Germanistik. Perspektiven von der frühen Neuzeit bis zur Moderne. Berlin: Weidler 2010 (= Germanistische Lehrbuchsammlung 86), S. 133-134. 95 Vgl.: Mabee, Barbara: Die Kindesmörderin in den Fesseln der bürgerlichen Moral: Wagners Evchen und Goethes Gretchen, S. 33.

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Rolle, als die Stellung des Hausvaters zu unterstützen und zu fördern. Jenseits individueller Entwicklung war von ihr Arbeitsleistung im Haushalt gefordert. Sie garantierte die Freiheit des Mannes, indem sie für die Zeit, in der der Hausvater abwesend war, auch seine Aufgaben übernahm: „Diese Kettung der Frau an die Haushaltsfamilie bedeutete die völlige Abgeschiedenheit der Frau von allen gesellschaftlichen und öffentlichen Belangen.“96 Mit der Propagierung der bürgerlichen Familie im 18. Jhdt. wurde die gewaltsame Unterdrückung der übrigen Familienmitglieder verdeckt, die die alleinige Vormachtstellung des Hausvaters mit sich bringt. Die Familie wurde als Idylle konstruiert und somit musste alles, was diesem Idyll entgegenstand, in den unsichtbaren Bereich verdrängt werden.97 Wenn in der kursiv abgehobenen Textpassage zu Beginn von Abraumhalde angegeben wird, dass der Text mit „‚Nathan‘ (oder einem ähnlichen Stück)“ (AB) inszeniert werden soll, kann das als Verweis auf die größere Tradition des bürgerlichen Dramas gelesen werden. Die Sekundärdramen fokussieren ebenso wie die Primärdramen Familienverhältnisse und fragen, wie eine Gesellschaft funktioniert, die auf das Ideal der patriarchal und hierarchisch strukturierten Familie aufbaut. Jelineks Texte brechen jenes häusliche Idyll der Familie auf, das in den bürgerlichen Dramen inszeniert wird, und machen die gewaltsamen Familien(-unter-)ordnungen bewusst („Ich bin dein Vater. Ich bin der Vater.“, FAU). Vor allem in FaustIn and out, wo über den Bezug auf das Hundemotiv aus dem Urfaust das Bild der bürgerlichen Kleinfamilie mit gegenwärtigen Familienkonzepten überlagert wird, durchzieht jene der Familie innewohnende Gewalt den Text. Erscheint im Urfaust Mephisto als schwarzer Pudel, hat der Hund im Sekundärdrama nichts mehr Teuflisches an sich, sondern findet als Symbol der typischen Kleinfamilie Eingang in den Text. Das Leben der Frau kreist um Mann, Kinder, Hund und Arbeit („Mann, Kinder, Hund, Pakete.“, FAU). Diese Reduktion des weiblichen Seins lässt die Familie als Gefängnis erscheinen, aus dem die Frau nicht entfliehen kann. Der Mann, der die Frau schon längst verlassen hat („Vom Mann seh ich nur noch eine Staubwolke. Der Mann ist nur noch eine Staubwolke.“, FAU), bildet immer noch das Zentrum der Familie, die Frau unterliegt weiterhin dem patriarchalen System, kann sich auch allein nicht emanzipieren. Dem Idyll der bürgerlichen Kleinfamilie werden in FaustIn and out über Fakten um Kündigungen von Frauen in prekären Arbeitsverhältnissen (so etwa der Fließbandarbeiterinnen des Versandhauses Quelle, „Meine Quelle! Meine

96 Becker-Cantarino, Barbara: Genderforschung und Germanistik. Perspektiven von der frühen Neuzeit bis zur Moderne, S. 141. 97 Vgl.: Ebd., S. 144.

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Quelle sind diese Pakete, noch, aber die Quelle ist versiegt.“, FAU) Risse eingefügt, die bewusst machen, dass das Festhalten an der im 18. Jhdt. sich fixierenden Familienkonstellation im 21. Jhdt. auch ökonomisch zum Mord an der Frau führt. Es ist im Text aber auch die Stimme aus dem Verlies, die immer wieder beklagt, dass sie zwar Mann und Kind, aber keinen Hund hat: Wisch dich ab, bitte Papa, ich bitte dich, komm endlich, wisch dich ab, dann wisch ich mich auch ab, und dann können wir alle essen. Wenn du endlich fertig bist, können wir alle, die Kinder, ich, kein Hund, dann können wir alle endlich essen. Was schaust du, Papa? Du wirst übrigbleiben. Du wirst übrigbleiben. Wer sorgte denn für unser Grab, wenn du nicht übrigbliebest? Der Vater wird bleiben. (FAU, Herv. d. Verf.)

Die Szene Kerker aus Goethes Urfaust aufgreifend („Margarete: Nein du sollst überbleiben, überbleiben von allen. Wer sorgte für die Gräber?“, UF), wird der Name Faust im Sekundärdrama mit dem Begriff „Vater“ überblendet. Damit macht das Sekundärdrama einmal mehr bewusst, dass sich die in den Primärdramen verhandelten Geschlechterbeziehungen hierarchisch gestalten, der Vater die einzig bedeutende Instanz ist, der Ewigkeit zugesprochen wird, während die Frau das Vergängliche verkörpert. Die Sekundärdramen führen den pater familias als Kerkermeister vor. Ist der Mann im 18. Jhdt. Herrscher über sein Haus und kompensiert damit den Verlust seiner gesellschaftlichen Bedeutung, zeigen die Sekundärdramen, dass der Mann im neoliberal geprägten 21. Jhdt. auch in seinem Haus das Sagen längst verloren hat. Nur noch im Keller kann er Herrscher sein, dort kann er weiterhin uneingeschränkt über Frau und Kinder bestimmen („Im Haus herrscht die Frau, doch hier unten haben allein wir das Sagen.“, AB). In FaustIn and out wird dezidiert die Emanzipation der Frau angesprochen, die als Bedrohung der Sonderstellung des Mannes beschrieben wird. Nicht nur wird der Text eingeleitet mit „Die Weiber führen lehren? Wir hätten eher jeden Grund, sie unschädlich zu machen. Denn sie führen doch schon längst!“ (FAU), sondern die Konkurrenz um die „Führung“ durchzieht schließlich das gesamte Sekundärdrama – wobei deutlich hervorgeht, dass sich die Frau immer in der schlechteren Position befindet: Die Frau wird fortgebracht, in den häuslichen Anschluß, unter dem die Nummern geschoben werden sollen. Kein Anschluß unter dieser Nummer, auch das macht den Mann böse. Alles macht ihn böse, weil er sich unterdrückt fühlt. Die Frau spricht und herrscht. Die Frau regiert und regelt den Verkehr. Sie hat Verpflichtungen übernommen. Sie hat für den Kredit mit unterschrieben, und jetzt ist sie dafür dran. (FAU)

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Abraumhalde und FaustIn and out erschöpfen sich nicht im Andocken an die Primärdramen, sondern mittels des Aufgreifens unterschiedlicher Intertexte, die ebenfalls Familie und Verwandtschaftsbeziehungen zum Thema haben, reichern sie die Primärdramen an und fügen ihnen weitere Perspektiven hinzu. Die Sekundärdramen reflektieren über die Einbeziehung religiöser Schriften, v.a. die Bergpredigt (Mt 5-7) und die Schriften der Heiligen Theresia von Jesu, bzw. die Assoziationskette Vater – Gott – Gottvater, dass die Zentralsetzung des Vaters innerhalb der Familie religiös fundiert ist. Aber auch die staatliche Zementierung des Gesetzes des Vaters wird in den Texten bewusst, dies v.a. durch die Einschreibung von Fällen von vom Arbeitsmarkt verdrängten, prekär lebenden Frauen, die aus Erbsystem und Sozialordnung herausfallen. Gottvater, Landesvater und Hausvater überlagern in den Sekundärdramen einander, v.a. Gottvater und Hausvater fallen im Text immer wieder in eins: „Andre Jungfrauen für andre, diese für mich allein. Vater! Wir steigen hinunter. Wir steigen jeden Tag hinunter, wenn wir Gott der Herr sind.“ (AB); „Alle gleichberechtigt, die glauben, jeder sei zu seinem eigenen Glauben berechtigt, und dieser Vater glaubt eben, er sei Gott der Herr und schenkte sein Fleisch und sein Blut an der Schank aus, ich meine, jeder ist berechtigt zu glauben, was er will, nein, eben nicht jeder!“ (AB); „Mein Vater ist Gott. Er trifft mich von hinten und von vorn und von allen andren guten Seiten auch noch.“ (FAU); „Das hat er mir gesagt, der Gott. Gott Vater hat es mir gesagt.“ (FAU) Symbol der patriarchalen Familienordnung ist das Haus. Seit Luther ist es im protestantischen Raum „Institution der Schöpfungsordnung“ und „Mikrokosmos einer Ordnung“98, die das gesamtgesellschaftliche System betrifft. So wird das Haus als Symbol auch im religiösen Kontext herangezogen, die Rede ist vom „Haus Gottes“, aber auch für den Staat ist es als Symbol seit der Antike geläufig. Die Metapher des „Hauses“ wird im politischen Kontext häufig angewendet, um Ein- und Ausschlüsse, Eigenes und Fremdes voneinander abzugrenzen – das „Haus“ ist somit immer auch ein Symbol der Grenzverhandlung.99 In Lessings Nathan sind Haus und Vater deutlich miteinander verbunden: das Stück nimmt in der gerade noch verhinderten Vernichtung des Hauses – was auch eine Zerstörung der Familie bedeutet hätte (seine Ziehtochter Recha wäre fast verbrannt) – seinen Ausgangspunkt und präsentiert Nathan als einen Vater, der mächtig genug ist, das Haus wieder zu errichten, sollte es Schaden nehmen.

98 Ebd., S. 131. 99 Vgl.: Kreis, Georg: Das Europäische Haus. In: Boer, Pim den u.a. (Hg.): Europäische Erinnerungsorte 2. Das Haus Europa. München: Oldenbourg 2012, S. 577-584, S. 577.

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Goethes Urfaust zeigt das Haus als Rückzugsort der bürgerlichen Kleinfamilie, lotet den Wechsel zwischen Öffentlichkeit und häuslicher Privatheit aus: Faust erblickt Margarete erstmals im öffentlichen Raum, auf der Straße, dringt dann immer weiter in ihren privaten Bereich ein und besetzt schließlich das ihr zugehörige Zimmer. Jelineks Texte greifen das Haus als Symbol der patriarchalen Ordnung auf. Von Nathan nicht nur das zentrale Motiv des „brennenden Hauses“ übernehmend, sondern auch jene direkt daran anschließende Passage, die Tugend und Besitz als dialektisch aneinander gebunden zeigt, wird im Sekundärdrama jenes Haus als Symbol der intakten Familie und des familiären Zusammenhalts mit Sophoklesʼ Antigone und dem Motiv des Kellers verbunden. Der Hausvater besitzt die Familie und kann damit uneingeschränkt – gottgleich – über sie verfügen: Daja. Eure? Eure Recha? Nathan. Wenn ich mich wieder je entwöhnen müßte, Dies Kind mein Kind zu nennen! Daja. Nennt Ihr alles, Was Ihr besitzt, mit ebensoviel Rechte Das Eure? Nathan. Nichts mit größerm! Alles, was Ich sonst besitze, hat Natur und Glück Mir zugeteilt. Dies Eigentum allein Dank ich der Tugend. (NA) Vielleicht ist ja im Garten noch Platz für einen Keller. Dort könnten wir Menschen auf wilden Wegen schütteln, bis sie unten aus sich herausfallen. Wir brauchen überall mehr Raum. Es muß gegraben werden. Es muß auch begraben werden. Wir nennen alles, was wir besitzen, mit jedem Recht das unsre. Unsere Frauen und Kinder. Kostbarster Besitz, vergraben wie Gold. Nichts mit größerem Recht nennen wir unsren Besitz! Alles, was wir sonst noch haben, hat Natur und Glück uns zugeteilt. Das Eigentum an Kindern, das allein, danken wir der Tugend. (AB, Herv. d. Verf.)

Die positive Vorstellung des unversehrten Hauses negierend, das Nathan seiner Familie garantiert, ist in Abraumhalde von „brennenden Häusern“ die Rede, die nicht mehr aufgebaut werden, sondern die ewig brennen („Das Haus, das brannte, das brannte […].“, AB). Der Vater kann zwar für nichts mehr garantieren,

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dennoch steht ihm die Verfügungsgewalt über seine Familie zu. Vergleichbar mit Abraumhalde ist auch in FaustIn and out das Haus Symbol der patriarchalen Gewaltherrschaft, so bspw. wird der Vater immer wieder als „Hausherr“ bezeichnet bzw. ist vom „Herr sein im eigenen Haus“ (FAU) die Rede. Jene sprachlichen Allgemeinplätze aufgreifend, jedoch in eindeutig gewalttätige Kontexte einbettend und einen Diskurs um Öffentlichkeit, Häuslichkeit und Privatheit eröffnend, wird die Gewalt an der Frau sichtbar, die mit dem patriarchalen System einhergeht. So wird das Haus in beiden Texten weiterassoziiert zu Keller, Bunker, Kerker, Verlies und schließlich zum Grab: So, da kann sie gleich beim Hausbau unter dem eigentlichen Haus mithelfen, beim Ausbau des Seins, im Keller haben wir dann endlich jede Menge Platz. Im Haus herrscht die Frau, doch hier unten haben allein wir das Sagen. Gut, daß der Platz dafür schon da ist, sonst hätten wir den auch noch schaffen oder beschaffen müssen. In einem Haus stellt sich der innere Friede von selber ein, denn in einem Haus stellt man sich ein oder stellt man etwas anderes ein. In einem Bunker stellt man jemanden an, der die Arbeit macht, die Arbeit am Körper und die Arbeit am eigenen Körper; [...]. (AB) Immer nur Schwierigkeiten machen die Frauen, sogar in Gefangenschaft, sogar wenn die Gefangenschaft gar keine ist, sogar im Verlies, und sie haben auch immer welche, ich rede jetzt speziell von der kleinen Margarete, das ist eine andere, das ist ein andres junges Blut, ein andrer junger Engelsschatz, an dessen Ruheplatz eine Führung, für dessen Verlies eine Füllung stattfinden soll, sie selbst soll ihn mit sich befüllen, dein goldenes Haar, liebe M., das fällt so gut, das gefällt mir so gut! Nur ein Problem, nein, ein andres, der Ort ist das Problem, da trampeln mir zu viele herum, da schaffen wir einen andren, einen Ruheplatz im Keller, in aller Ruhe einen Ruheplatz im Keller. Warum müssen die alle runter, das frage ich mich schon. Warum all die Mädels in den Kellern? Warum nur, warum? (FAU)

Lücke beschreibt die Verschiebung vom Haus zum Keller als groteske Pervertierung des Haus Gottes: „[...] es ist vom Himmel in den Keller verlegt worden, denn das Haus des Vaters bzw. das der Wahrheit bzw. das der Vernunft bzw. das des Seins hat diesen Keller, diese ins Symbol gefaßte reale Triebnatur des Menschen, seinen Todestrieb und sein Unbewußtes, diese Unheimlichkeit seines Heims immer verleugnet, verdrängt und verharmlost.“100 Dass die gewaltsamen

100 Lücke, Bärbel: Hermann Brochs „1918. Huguenau oder die Sachlichkeit“ („Die Schlafwandler“) und Elfriede Jelineks „Abraumhalde“. Zwischen Zerfall und Restituierung religiöser und ökonomischer Paradigmen – eine Engführung, S. 493-494.

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Auswüchse des Hauses untrennbar mit dem hierarchisch gegliederten Haus Gottes und der Durchsetzung des Patriarchats durch die monotheistischen Religionen verbunden sind, wird in Abraumhalde über mehrmalige Verweise auf die Bergpredigt (Mt 5-7) verdeutlicht. Nämlich wird im Text jene zentrale Stelle (verfremdet) zitiert, in der Jesus den Glauben mit einem solide gebauten Haus vergleicht. Unterscheidet das Gleichnis zwischen jenen, die auf Jesu Wort hören und es in Taten umsetzen (ein Haus, das auf Fels gebaut ist) und jenen, die nicht nach dem Gebot Christi handeln (ein Haus, das auf Sand gebaut ist), fügt das Sekundärdrama als drittes Fundament den Keller hinzu. Im Sekundärdrama laufen alle Häuser – egal ob auf Fels, Sand oder Keller gebaut – Gefahr, einzustürzen. Einzig der Keller, das im Verborgenen Liegende, bleibt ewig, kann im Untergrund fortbestehen: „[…] und die Ströme kommen, und die Winde wehen und stoßen an jenes Haus, nein, nicht an den Keller, bis dorthin kommen sie nicht, können sie gar nicht, der Keller ist von dem Gott und dessen Wach- und Schließgesellschaft geschützt, der ihn grub. Aber das Haus, das fällt.“ (AB) Scheint an der Oberfläche die Herrschaft des Vaters gebrochen zu sein, wird deutlich, dass das Fundament immer noch bestimmt ist vom Gesetz des Vaters, dort kann seine zentrale Position fortbestehen und weiterwirken. Nicht nur durch die Bergpredigt, auch durch andere Bibelzitate wird die religiöse Fundierung des Hauses des Vaters verdeutlicht („[…] im Hause meines Vaters sind noch viele Wohnungen frei […].“ (AB) nach Johannes 14,2: „Im Haus meines Vaters gibt es viele Wohnungen.“ etc.). Wird in Abraumhalde vorwiegend auf die Bergpredigt des Matthäusevangeliums Bezug genommen, sind es in FaustIn and out Zitate aus Schriften der Heiligen Theresia von Jesu (auch bekannt als Heilige Theresia von Ávila), in denen das Haus als Symbol Gottes bzw. des christlichen Glaubens fungiert. Theresia von Jesu, deren Texte der mystischen Theologie zuzurechnen sind, bildet eine wichtige Folie des Textes. Kreisen Theresia von Jesus Schriften um Gott als himmlischen Bräutigam und die bedingungslose Hingabe zu ihm, wird jene symbolische Ebene in FaustIn and out wörtlich genommen und in den Bereich des Sexuellen verschoben. Gott Vater wird bei Jelinek zum gottgleich agierenden, omnipotenten Vater, dessen Tochter sich ihm willig hingeben muss. Vergleicht Theresia von Jesu in ihrem Buch Wohnungen der Inneren Burg (1577) das eigene Innere mit einer Wohnung, die aus verschiedenen Zimmern besteht, in denen Gott wohnt, ist die Innere Wohnung in FaustIn and out ein Kerker, in den der patriarchale Herrscher eindringt und wo er über seine Familie verfügt. Die Beschreibung der Vereinigung mit Gott erfolgt in den Wohnungen der Inneren Burg über die Allegorie der Seidenraupe: Theresia von Jesu beschreibt darin, dass die Gläubigen eine Verwandlung vom Wurm zum Schmetterling

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durchmachen.101 Der Begriff des Wurms findet Eingang in das Sekundärdrama und wird zur Omnipotenz des Vaters weiterassoziiert: „[…] aber bitte verwandle keinen Wurm. Und dein Wurm soll sich auch bitte selber nicht verwandeln. Er soll bleiben, wie er ist und wo er ist. Laß den Wurm in der Hose, Papa, laß den armen Wurm in Ruh, […].“ (FAU) Neben der Einbeziehung religiöser Texte bringt in Abraumhalde Sophoklesʼ Antigone eine weitere Ebene ein, wenn es um Haus und Familie geht. Antigone wirkt zunächst wie das exakte Gegenstück der weiblichen Figuren des bürgerlichen Dramas: ihre von Kreon als Staatsführer geforderte Passivität nicht akzeptierend, begibt sie sich in den öffentlichen Bereich und stellt sich dem Gesetz des Vaters entgegen. In diesem Aufbegehren wurde sie nicht nur zum Symbol für politisches Engagement und für die Ideale der französischen Revolution, sondern sie wurde im 20. Jhdt. auch zu einem bedeutenden Symbol des Feminismus.102 Antigone verkörpert jedoch auch die andere Seite, steht nicht nur für Emanzipation, sondern ebenso für Dichotomien wie Weiblich / Männlich oder Familie / Staat. Hegels zentraler Lesart der Antigone geschuldet, der sie als Konflikt zwischen Staat und Familie interpretiert, repräsentiert Antigone die Sittsamkeit und das Gesetz der Familie, während Kreon die Sittsamkeit und das Gesetz des Staates verkörpert.103 Hegel knüpft in seiner Phänomenologie Sein bzw. Individualität an den Tod und sieht darin den bedeutendsten Unterschied zwischen Familie und Staat realisiert: Dem Staat gehe es um das Handeln, das Tun des Einzelnen, die Familie hingegen würde allein seinem Sein, also der bloßen Existenz Wert zusprechen. Hegel, der um diesen Konflikt herum die existentiellen Dualitäten von Mensch / Gesellschaft, Leben / Tod, Immanenz / Transzendenz konkretisiert, die seiner Phänomenologie zugrunde liegen, konstatiert, dass im Tod jeder Mensch in den Kreis der Familie zurückkehrt. In seiner Analyse der Antigone sieht er die Beziehung innerhalb der Familie aufgrund ihrer Sittlichkeit und Reinheit privilegiert, v.a. die Beziehung zwischen Bruder und Schwester beschreibt er als interessenlose Reinheit freier menschlicher Wahl.

101 Vgl.: Ávila, Teresa von: Gesammelte Werke. Bd. 4: Wohnungen der Inneren Burg. Freiburg: Herder 2005, S. 187-190. 102 Vgl.: Zimmermann, Christiane: Antigone. In: Boer, Pim den u.a. (Hg.): Europäische Erinnerungsorte 2. Das Haus Europa. München: Oldenbourg 2012, S. 49-55, S. 52; sowie: Rabinowitz, Nancy Sorkin: Woman as Subject and Object of the Gaze in Tragedy. In: Helios 1-2/2013, S. 195-221, S. 212. 103 Diese Interpretation formuliert er in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Religion und den Vorlesungen über die Ästhetik, bevor sie in sein Hauptwerk, die Phänomenologie des Geistes, einfließt.

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Während der Mann (Bruder) die Familiensphäre verlassen muss, bleibt die Frau (Schwester) als Bewahrerin des göttlichen Gesetzes im Haus zurück. Die Rückkehr des Mannes in die Familie mit dem Tod bedeute ein „Wieder-Einschließen“ in die familiäre Erde. Der Bestattung des Bruders durch die Schwester, wie sie in der Antigone vorgeführt wird, schreibt er den höchsten Grad der Heiligkeit zu.104 Antigone verkörpert für Hegel das reinste Symbol des Weiblichen, des weiblichen Herds (so belegt er das familiäre Gesetz, dem Antigone folgt, mit den Begriffen „Familienliebe“, „das Heilige“, „das Innere“ und „der Empfindung Angehörige“105), das dem staatlichen Gesetz, dem männlichen Forum gegenübersteht. Hegels Lesart gliedert Antigone damit in jene Geschlechterdichotomie ein, die sich im 18. Jhdt. zentral herausbildet und die sich auch in den Primärdramen widerspiegelt. Jelineks Abraumhalde greift jenes beharrliche Verlangen Antigones nach rechtmäßiger Bestattung des Bruders auf. Teilweise wird einzig über das Motiv des Grabens und Begrabens an die Antigone des Sophokles erinnert („Es muß gegraben werden. Es muß auch begraben werden.“, AB), teilweise werden nahezu unveränderte Zitate aus dem Text im Sekundärdrama hörbar: Nicht recht ist es, wenn einen kein Grab birgt, weil es verboten wurde. Das Begraben ist neuerdings verboten, was sagen Sie dazu? Weil ja ausdrücklich verlangt wurde, man solle ihn, egal wen, lassen unbeweint und grablos, dabei graben wir ja, wir graben feste druff, ich meine feste runter, wir gruben und wir gruben, und da ist die Grube. Die Grube ist vorhanden, damit nicht süß Mahl den Vögeln, die auf Fraßes Lust stehn, der Tote werde. (AB, Herv. d. Verf.)

Abraumhalde nutzt jene Vieldeutigkeit der Figur, um sowohl an klassische Geschlechterbinaritäten zu erinnern, als auch um Antigone als Widerstandsfigur, als Figur der Störung und Verunsicherung von bestehenden Kategorien im Text aufscheinen zu lassen.

104 Vgl.: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes. Hamburg: Felix Meiner Verlag 1988, S. 294-304. 105 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Georg Wilhelm Friedrich Hegel Werke 17: Vorlesungen über die Philosophie der Religion II: Vorlesungen über die Beweise vom Dasein Gottes. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, S. 133.

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Inzestuöse Familienbeziehungen Die Verschiebung von familiären Strukturen bzw. das In-Eins-Fallen von LiebhaberIn und Familienmitglied wird in den Sekundärdramen auf eindrückliche Weise von den Primärdramen aufgegriffen und um weitere Intertexte ergänzt. In Abraumhalde bilden Sophoklesʼ Antigone und der Inzestfall von Amstetten die Klammer, innerhalb derer Familie, Vaterrecht und Inzest verhandelt werden. FaustIn and out beschränkt sich als zusätzlichen zentralen Intertext auf den Inzestfall von Amstetten, arbeitet jedoch mit zahlreichen kleineren Verweisen und eröffnet damit weitere Ebenen, die die feste Verankerung der patriarchalen Gewalt in vorhandenen Ordnungen sichtbar machen. Ist das Motiv des Inzests in den Sekundärdramen Inbegriff der Gewalt des Mannes an der Frau, bietet es sich darüber hinaus an, mit Judith Butler zu fragen, ob Inzest auch als Möglichkeit zur Verschiebung bestehender Strukturen und Ordnungen in die Texte eingeschrieben ist. Auffallend oft ist in Abraumhalde von „Jungfrauen“ die Rede, was nicht nur an Nathans unverheiratete, immer noch dem väterlichen Haus unterstellte Tochter Recha denken lässt, sondern was auch auf Antigone verweist, die aus Liebe zu ihrem Bruder vorzieht, jungfräulich zu sterben. FaustIn and out zitiert Goethes „junges Blut“, „junger Engelsschatz“ und „über vierzehn Jahr doch alt“ (FAU) und lenkt damit den Fokus ebenfalls auf junge Mädchen, die – noch vor der sexuellen Reife – dem pater familias unterstellt sind. Inge Stephan konstatiert, dass die ideologische Durchsetzung der Unterordnung der Frau unter die Herrschaft des Mannes u.a. durch die in der Literatur vielmals thematisierte Vater-Tochter-Beziehung forciert wurde. Sie hält fest: Die Konzeption der Tochter als Eigentum des Vaters und als Ware in den Beziehungen zwischen Männern läßt sich m. E. nur verstehen als Ausdruck eines patriarchalen Machtanspruchs, der im Rahmen des bürgerlichen Emanzipationskampfes neu formuliert und bekräftigt wurde. [...] Die Töchter waren die einzigen, die nicht dauerhaft eingebunden waren in den Herrschaftsbereich des Vaters. Gerade Sexualität, durch die sie für andere Männer außerhalb der Familie attraktiv wurden, war eine Bedrohung des väterlichen Machtgefüges.106

War in den bürgerlichen Dramen die Loslösung vom Vater durch Hochzeit noch denkbar, wird in beiden Sekundärdramen jedes Fortkommen der Töchter negiert.

106 Stephan, Inge: „So ist die Tugend ein Gespenst.“ Frauenbild und Tugendbegriff bei Lessing und Schiller, S. 370.

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Immer ist der Vater auch der Liebhaber bzw. Ehemann, ihm und seinem Wirkungsbereich kann die Tochter nicht entfliehen: […] aber im Grunde ist sicher nur die Mutter, nein, die ist auch nicht mehr sicher, die ist vor dem eigenen Vater nicht sicher, aber wieso?, der hat sie doch erst zur Mutter gemacht, wie sollte sie ihm dann nicht trauen?, also wenn sie nicht einmal dem Vater mehr trauen kann, der sie zur Mutter machte, nicht zu seiner Angetrauten, aber zur Mutter, das ist das Zweitbeste, wem soll sie dann trauen?, ach so, der Vater ist schon mit einer vollkommen andren getraut worden, er hat oben eine andre Frau und Mutter, nein, nicht seine Mutter, eine andre Mutter seiner Kinder, kennst dich aus?, […].“ (AB) Damit er Mutter, Ehefrau zugleich hat, der Vater, aber er will die Tochter auch noch, und er bekommt sie, er bekommt sie. Es brennt, aber er rettet die Tochter und bekommt sie wohl auch, sie steht ihm zu, wohl bekomms! Wir dürfen gegen Männer nicht streiten, die Männer streiten schon von allein gegeneinander, die brauchen niemanden. (AB) […] der Vater hat mich nicht gewollt, jedenfalls nicht so, er hat mich als eine Andere gewollt, er hat mich gewollt, aber als Tochter, oder nein, er hat mich nicht als Tochter gewollt, er brauchte nur zu wählen, und dann hatte er mich, er hatte mich, die Mutter kam vor mir, jetzt aber komme ich vor ihr. Er hat mich der Mutter vorgezogen. Ich bin dazu in den Keller verzogen. Die Mutter durfte oben bleiben. Die Glückliche! Aber sie ist immerhin meine Mutter. Er hat mich geschaffen, und dann hat er mir sogar einen Ort zum Leben geschaffen, im Keller, im tiefen Keller sitz ich hier, mein Vater! (FAU) Da sind Mann, Kinder, Hund, nein, Hund nicht, das geht hier unten nicht. Hier würde kein Hund leben wollen. Hier würde nicht einmal ein Hund leben können. Meine Kinder: ja, ein Hund: nein. Aber sie erklären mich nicht, meine Lieben erklären mich nicht, mein Mann, der mein Vater ist, meine Kinder, die meine Geschwister sind, sie erklären nur mir den Krieg, immer gegen mich. (FAU)

Damit nimmt Jelinek wörtlich, was in den Primärdramen – besonders im Urfaust – angelegt ist, nämlich die Gleichsetzung von Kind und Frau, die wiederum den Mann in seiner Vaterfunktion festlegt. Die Texte machen deutlich, dass der Mann durch diese Setzung uneingeschränkt über alles und alle verfügen kann, die ihm zu- bzw. untergeordnet sind. Vater, Opa, Liebhaber sind eins und stehen an der Spitze der hierarchischen (Familien-)Ordnung. Viel deutlicher als in Abraumhalde, wo das Inzestmotiv eher durch Antigone als durch Nathan eingeschrieben wird, bleibt FaustIn and out dem Urfaust verhaftet, spürt nahe am Text das Gewaltpotential auf, das in diesem Geschlechter-

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verhältnis verborgen liegt. So greift FaustIn and out jene Kosenamen auf, die Faust für Margarete heranzieht und assoziiert sie weiter zum Verlies: Also sie war schon da, aber das Verlies noch nicht, der Atem war da, aber die Luft noch nicht, sie war noch nicht eingetroffen, die Luft, der Ventilator auch nicht, das Kind mußte mitgraben an seinem eigenen Verlies, wer hätte uns denn sonst geholfen? Sie hat an ihrem Verlies hart mitgearbeitet, die Kleine, meine Puppe, sie mußte für ihr Verlies ganz schön schuften, ackern, die Erde umackern, graben, graben, graben, sie gruben und sie gruben, das Kind und sein Meister, das Kind und sein neuer Herr, […]. (FAU, Herv. d. Verf.) Immer nur Schwierigkeiten machen die Frauen, sogar in Gefangenschaft, sogar wenn die Gefangenschaft gar keine ist, sogar im Verlies, und sie haben auch immer welche, ich rede jetzt speziell von der kleinen Margarete, das ist eine andere, das ist ein andres junges Blut, ein andrer junger Engelsschatz, an dessen Ruheplatz eine Führung, für dessen Verlies eine Füllung stattfinden soll, […]. (FAU, Herv. d. Verf.)

Nicht nur werden im Sekundärdrama jene Kosenamen aufgegriffen, sondern es wird auch auf eben jene Passage rekurriert, auf die Würker sich bezieht, wenn er Faust als sich mit dem Vater gleichsetzende Figur beschreibt. Nämlich übernimmt das Sekundärdrama (und das, obwohl in Goethes Urfaust eine gesamte Szene mit Kerker übertitelt ist) an nur zwei Stellen, relativ zu Beginn des Textes, den Begriff des Kerkers. Aufgrund der Kontexte wird dabei weniger an die letzte Szene des Urfaust erinnert als an den Satz „In diesen Kercker welche Seeligkeit!“ (UF) aus der Szene Abend. Faust und gewaltsam agierender Vater überlagern einander, das zeigt, dass das Haus der bürgerlichen Familie kein Idyll verspricht, sondern immer schon Kerker war: Er sagt mir, er sei der einzige, der Gott ist, aber ich glaube ihm nicht. Bitte, ich weiß zwar, daß ich nicht Gott bin, aber da muß es doch noch andre geben! Er sagt, er ist das, ein Gott. Die totale Berechenbarkeit von meinem Papa kann doch nicht zum alleinigen Zeichen des Seienden werden! Im Kerker gibt es keine Zufälle, die Tür ist ins Schloß gefallen, und bloß, weil mein Papa und ich hier miteinander im Kerker sind, kann das doch kein Zeichen für etwas sein! (FAU, Herv. d. Verf.)

Die zentrale Stelle aus dem Urfaust zitierend, „Faust: Ich weiß nicht, soll ich? / Mephistopheles: [...] / Dann rat ich eurer Lüsternheit, / Die liebe schöne Tageszeit / Und mir die weitre Müh zu sparen“ (UF), steht im Sekundärdrama:

190 | D RAMA ALS S TÖRUNG Ich weiß nicht: Soll ich? Was rätst du meiner Lüsternheit? Die liebe schöne Tageszeit und mir die weitre Müh zu sparen? Ach was, das macht doch keine Mühe! Wir sagen der Tochter einfach, hilf mir, diesen schweren Gegenstand hinunterzutragen, gut, daß du grade vorbeikommst, sonst hätte ich dich gesucht, komm her, dabei kannst du mir helfen, ist ja gleich vorbei, dieser harte Gegenstand muß in den Keller, vorhin erst habe ich mich dazu entschlossen, da liegen aber schon wochenlange Grabungen und sonstige Arbeiten hinter mir, alles für dich, mein Kind, und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt, denn die werde ich brauchen, du bist nicht, wie ein Kind sein soll, du folgst nicht, du hilfst mir jetzt mit dem schweren Gegenstand, ich seh nicht genau, was das ist, aber du hilfst mir jetzt, der Gegenstand, den du hier siehst, muß runter, allein schaff ich das nicht, da mußt du mir helfen, als meine Tochter, mir helfen, ja, da mußt du mir helfen. Hilf mir! Du wirst mir jetzt helfen, oder es setzt was! Ich werde dir gleich helfen! Also komm, hilf mir schon! Dauert ja nur einen Moment! Eine Minute. Aber das ist das letzte Mal, Papa, daß ich dir helfe. Die letzten Male waren nicht so gut, eher mittel, nein, alles war finster, und ich war froh, als du fertig warst, froh, daß du endlich abgespritzt hast. Bei dir dauert das immer so lang. Ich kann mir nicht vorstellen, daß du es so lang in deiner Tochter aushältst, bis du insgesamt abgesamt hast. (FAU, Herv. d. Verf.)

An dieser Passage lässt sich das Verfahren nachvollziehen, das für den gesamten Text konstitutiv ist. Zitate aus Urfaust aufgreifend und transformierend, fügen konkrete Hinweise auf den Inzestfall von Amstetten Risse in das Textgefüge ein und lassen Vergangenes und Gegenwärtiges aufeinandertreffen. Damit wird es unmöglich, die Sekundärdramen einzig als Gegenschreibung der Primärdramen zu lesen oder als Kommentar zu einzelnen, spezifischen Vorfällen. Eröffnet wird ein weiter Zeit- und Textraum, der das Sprechen über sexuelle Unterdrückung, Ausbeutung, Gewalt, patriarchale Herrschaftsstrukturen etc. thematisiert, der Verschiebungen des Sprechens-über nachvollzieht und der auch das normalerweise Ungehörte zur Sprache bringt. Neben Angaben zu realen Fällen brechen literarische Intertexte ein, öffnen den Text und verweisen auf größere Kontexte. In der eben angeführten Stelle etwa Goethes Ballade Erlkönig, die mit „und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt“ (FAU) zitiert wird. Mit dem Erlkönig wird ein Text aufgegriffen, der zwar nicht das Verhältnis von Vater und Tochter thematisiert, der aber den Dialog zwischen Vater und Sohn fokussiert. Allgemein wird für die Ballade in der Forschungsliteratur ein Vater-Sohn-Dualismus behauptet: das Kind, das einen naiven, ungebrochenen Zugang zur Natur hat, bildet die Kehrseite des rationalistischen Vaters.107 Die Gegenüberstellung von

107 Vgl. den Forschungsüberblick in: Freund, Winfried: Die Deutsche Ballade. Theorie, Analysen, Didaktik. Paderborn: Ferdinand Schöningh 1978, S. 28-29.

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Emotion / kindlich auf der einen und Rationalität / männlich auf der anderen Seite lässt sich auch auf den Dualismus von Weiblich / Männlich übertragen, wie er in Goethes Faust-Bearbeitung ausgelotet wird. Ausgehend von dieser Gegenüberstellung deutet etwa Winfried Freund die Ballade als „Appell an die realistische Erkenntnishaltung“108. Er konstatiert, dass der Tod des Kindes zeige, dass nur jene, die sich ihr verpflichteten, zu emanzipierten, freien Bürgern werden könnten, während die anderen zugrunde gehen müssten. Freunds Interpretation beinhaltet also jenen Gedanken des gewaltsamen Ausschlusses des Anderen, der mit der Aufklärung verbunden scheint. Interessant ist in diesem Kontext, dass auch in der Forschungsliteratur von einer Nähe zwischen beiden Texten Goethes ausgegangen wird. Arnd Bohm etwa macht darauf aufmerksam, dass Margaretes letzte Sätze in der Szene Kerker von der Literaturwissenschaft allzu selbstverständlich als Non-Sense / als Rauschen aufgefasst werden, während er dafür plädiert, gerade diese Sätze genauer zu untersuchen. Er nämlich behauptet darin eine relative Nähe bzw. Ähnlichkeit zu Goethes Erlkönig. Margarete formuliere ähnlich angstvoll wie das Kind im Erlkönig und auch Faust handle vergleichbar dem Vater in der Ballade, ist rational und kann auf Margaretes Ausrufe nur mit „Besinne dich doch!“ reagieren.109 In Goethes Ballade lautet der vollständige Satz, der im Sekundärdrama verkürzt zitiert wird: „Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; / Und bist du nicht willig, so brauchʼ ich Gewalt.“110 Diese Passage wird in der Forschungsliteratur sehr kontrovers diskutiert und dient ForscherInnen dazu, die etablierte Lesart des aufgeklärten, rationalen Vaters zu revidieren. So gibt es psychoanalytische Interpretationen der Ballade, die davon ausgehen, dass der angesprochene Vater und Erlkönig symbolisch für eine Person stehen, die in sich gespalten ist. Es sind der „gute Vater“, der beschwichtigt und der dem Kind glauben lassen will, dass der Erlkönig nur ein Fantasiekonstrukt ist und der „böse Vater“ Erlkönig, der sich gewaltsam am Kind vergreift: Der Vater als Vergewaltiger seines Sohnes.111 Jene Lesart ist im Kontext des Sekundärdramas deshalb interessant,

108 Ebd., S. 34. 109 Vgl.: Bohm, Arnd: Margarete’s Innocence and the Guilt of Faust. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 2/2001, S. 216250, S. 229-230. 110 Goethe, Johann Wolfgang von: Erlkönig. In: Goethe, Johann Wolfgang von: „Goethe Werke“. Jubiläumsausgabe in sechs Bänden. Bd. 1: Gedichte. Hg. von Hendrik Birus und Karl Eibl. Frankfurt am Main: Insel 1998, S. 114-115. 111 Vgl. bspw.: Isselstein Arese, Ursula: „Dem Vater grauset’s“. Zur Lektüre von Goethes „Der Fischer“ u. „Erlkönig“. In: Instituto Universitarie Orientale. Annali. Stu-

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da sie auf den Inzest als Inbegriff der Gewaltausübung des Vaters verweist und diesen Inzest als das Verborgene und Abgründige der Familie präsentiert. Damit wird dem Urfaust ein weiterer kanonisierter Text des deutschsprachigen Raums hinzugefügt, an dem sich die Verbindung von (sexueller) Gewalt und Herrschaft ablesen lässt. Mit Antigone wird in Abraumhalde jener Text eingeschrieben, dessen Rezeption von der Frage nach der Beziehung zwischen Bruder und Schwester bestimmt ist. So bauen zentrale Interpretationen der Tragödie wie jene von Hegel oder auch Lacan darauf auf, den Inzest zwischen Bruder und Schwester als Möglichkeit zu negieren,112 während andere jenes Moment betonen und hervorheben, etwa Goethe, besonders aber Judith Butler.113 Herrscht in der Forschung über das Geschwisterverhältnis in der Antigone zwar Unstimmigkeit, haftet der Figur der Antigone unabhängig davon immer bereits der Inzest an. Als Tochter des Ödipus ist sie gleichzeitig dessen Schwester, der Inzest ist in die Familiengenealogie der Labdakiden eingeschrieben. Eben diese Genealogie wird im Sekundärdrama über mehrmalige Verweise auf Ödipus aufgerufen („[…] wenn sie nach selbstverschuldeten Verirrungen dem Vater womöglich das Augenpaar zerstochen, den Fuß schon vorher verbogen, verkrüppelt, verhinkt, verhunken, […].“, AB; „[…] unserem Vater brennen die Augen, die hat er sich selber ausgebrannt oder ausgestochen, der Idiot.“, AB). Geschwisterliebe ist in der Antigone deutlich an den Tod gebunden. Abraumhalde erinnert an Antigone als lebend Tote bzw. tot Lebende und schreibt die Überblendung von Braut- und Totenbett ein, die bei Sophokles formuliert wird: „Antigone: O Grab! o Brautbett! unterirdische / Behausung, immerwach!

di tedeschi 2/1979, S. 7-49; Braungart, Wolfgang: Naturverhältnisse. Zur poetischen Reflexion eines Aufklärungsproblems beim jungen Goethe. In: Jamme, Christoph / Kurz, Gerhard (Hg.): Idealismus und Aufklärung. Kontinuität und Kritik der Aufklärung in Philosophie und Poesie um 1800. Stuttgart: Klett-Cotta 1988, S. 13-34, S. 24-25; Bertelsmann, Richard: Goethes „Erlkönig“ psychoanalytisch. In: Acta germanica 18 (1985), S. 65-97; Calhoon, Kenneth S.: Fatherland – Novalis, Freud, and the discipline of romance. Detroit: Wayne State University Press 1992 (= Kritik: German Literary Theory and Cultural Studies). 112 Vgl.: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, v.a. S. 299300; Lacan, Jacques: Das Seminar VII: Die Ethik der Psychoanalyse. Wien: Turia + Kant 1996, S. 293-434. 113 Vgl.: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe. Wiesbaden: Insel-Verlag 1955, S. 557-562; Butler, Judith: Antigones Verlangen: Verwandtschaft zwischen Leben und Tod. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001 (= edition suhrkamp 2187).

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Da werd ich reisen / Den Meinen zu, von denen zu den Toten, [...].“114 Im Sekundärdrama wird diese Verschiebung der Familienbeziehung vom Bruder zum Liebhaber zum Anlass genommen, um davon ausgehend weitreichende Assoziationen zum familiären Inzest einzubringen. Dies lässt sich beispielsweise an jener Passage veranschaulichen, die folgende Sätze aus Sophokles’ Antigone als Folie nutzt: „[...] doch ihn / Begrab ich. Schön ist es hernach, zu sterben. / Lieb werd ich bei ihm liegen, bei dem Lieben, / Wenn Heiligs ich vollbracht. Und dann ist’s mehr Zeit, / Daß denen drunten ich gefall, als hier. [...].“115 Jene Sätze werden im Sekundärdrama in verfremdeter Form wiedergegeben und mit Verweisen auf den Fall Fritzl, aber auch auf die religiöse Zementierung des Gesetzes des Vaters gekoppelt: Also ich zerbeiß es. Ich begrab ihn, und dann zerbeiß ich ihn. Schön ist es für mich, danach zu sterben. Lieb werd ich bei ihm liegen, einem jeden ein Bruder, die Schwester gibts nicht, einem jeden ein Bruder, der auch Onkel ist, ein Onkel, der auch Bruder ist, ein Vater, der auch Opa ist, der Bruder, der nichts will, das will ich gerne sein, eine Schwester muß ich sein, aber ein Bruder kann ich sein. Es genügt, daß ich nichts will. Gern will ich bei ihm liegen, dem Lieben, dem lieben Bruder, wenn das Heilige ich vollbracht und ihn begraben. Vater unser, der in den Himmeln, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel so auch auf Erden und so weiter. (AB, Herv. d. Verf.)

Die Überlagerung von Tod und Leben, Familiengebot und Inzest, wie sie in der Antigone angelegt ist, wird im Sekundärdrama durch Assoziationen zum Keller, in dem Elisabeth Fritzl festgehalten wurde, ergänzt. Der Keller als Ehebett, in dem der Vater die Tochter zur Frau macht: Vater! Wir steigen hinunter. Wir steigen jeden Tag hinunter, wenn wir Gott der Herr sind. Es ist doch so: Wenn Sie einer von diesen Huris beiwohnen, werden Sie jedes Mal aufs neue feststellen, daß sie eine Jungfrau ist. Ferner wird Ihr Penis, der automatisch der Penis eines Auserwählten ist, wenn man den Opfertod gewählt, nie erschlaffen. Er wird, mit andren Worten, nein, mit denselben Worten, immer können. Seine Erektion währt ewig, und das Gefühl, daß einen Auserwählten wie Sie bei der Vereinigung befällt, ist unendlich süß und nicht von dieser Welt. (AB)

114 Sophokles: Antigone. In der Übertragung von Hölderlin. http://gutenberg.spiegel. de/buch/antigone-6244/2 (16.9.2015) 115 Ebd.

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An dieser Textstelle zeigt sich, dass Abraumhalde Inzest mit Diskursen um Märtyrertum verbindet: es werden Fantasien vom Besitz von Jungfrauen und vom omnipotenten Mann, der über diese verfügt, formuliert, wobei auf alle monotheistischen Religionen angespielt wird („[...] vermutlich sinds insgesamt 72 Jungfrauen (acht mal neun), da gibts unzählige Interpretationen, auch über die Zahl ist man sich nicht einig, es können 40, 70 oder 72 sein, ich glaube, 72 stimmt, welche dort im Keller lagern wie im Paradies. Nur für uns allein.“, AB; „[…] dieser Märtyrer hier im Keller will auch mehr, er wollte mehr, er wollte Töchter und Söhne, die Jungfrau Maria reicht ihm wohl nicht, […].“, AB). Einen Höhepunkt erfährt dies in jener Passage, die die Bergpredigt (Mt 5,32: „Ich aber sage euch: Wer seine Frau entlässt, obwohl kein Fall von Unzucht vorliegt, liefert sie dem Ehebruch aus; und wer eine Frau heiratet, die aus der Ehe entlassen worden ist, begeht Ehebruch.“) mit dem Inzest überblendet: Man kann ja auch ohne Scheidung die Tochter ficken. Ich aber sage euch: Wer seine Frau entlassen wird, um seine Tochter an ihrer statt zu nehmen, macht, daß sie Ehebruch begeht, ich meine die Frau, und wer eine auf diese Weise Entlassene heiratet, mein Gott, wer würde das schon, diese Frau ist bitte über siebzig!, die hat eigene Kinder, welche längst erwachsen sind, können Sie sich das überhaupt vorstellen?, egal, wer sie noch heiraten würde, nachdem ich sie entlassen hätte, würde Ehebruch begehen. (AB)

Durch die Einschreibung dieser heterogenen Textschichten wird deutlich, dass Inzest fest in der westlichen Kultur verankert ist. Inzest ist das Unausgesprochene, das nicht getilgt werden kann und das im Sekundärdrama an die Oberfläche dringt. Butler bezieht sich in ihrer Studie Antigones Verlangen auf eben diese Unmöglichkeit der gänzlichen Tilgung des Inzests. Sie verweist u.a. auf Arbeiten, die aufbauend auf Freuds Inzestverbot zu belegen versuchen, dass der Inzest in heterosexuellen Normfamilien eher eine Erweiterung und Festigung der Vormachtstellung des Vaters bedeutet, als dass er diese brechen könnte.116 Butler hält fest, dass erst das Verbot die Möglichkeit zur Überschreitung enthält, ihn als „mögliches Gespenst“117 kultiviert und in alle sozialen Beziehungen einschreibt. Ein „Verbot, das eben dadurch funktioniert, daß es durch Verschiebung genau jenes Verbrechen vervielfältigt, zu dem es den Weg versperrt.“118 Sie betont,

116 Vgl.: Butler, Judith: Antigones Verlangen: Verwandtschaft zwischen Leben und Tod, S. 115. 117 Ebd., S. 107. 118 Ebd., S. 107.

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dass Antigone als Produkt eines inzestuösen Verhältnisses Potential innewohnt, neue Formen der Verwandtschaft zu denken und bestehende Geschlechter- bzw. Familienordnungen aufzustören und zu verschieben. Mit ihr werden feste Kategorien unscharf, sie markiert das Zwischen, in dem Neues entstehen kann. Familie in der Antigone wäre mit Butler gänzlich anders zu denken als etwa in den Primärdramen: Antigone repräsentiert nicht Verwandtschaft in ihrer idealen Form, sondern deren Deformation und Verschiebung, eine Verwandtschaft, die Herrschaftssysteme der Repräsentation überhaupt in die Krise stürzt und die Frage aufwirft, welches die Bedingungen der Verständlichkeit gewesen sein könnten, die ihr ein Leben hätten ermöglichen können, [...].119

Folgt man der Lesart Butlers, bildet Antigone in Abraumhalde eine Art GegenSchreibung zu Nathan. Es ist ein Text, der bestehende Strukturen nicht bestätigt, sondern verunsichert und der die Möglichkeit des Anderen prinzipiell offen lässt. Antigone fungiert als zusätzliches Störmoment und bringt auf einer weiteren Ebene jene Unsicherheit und vielfältigen Verschiebungen in den Text ein, die allgemein prägend sind für das Sekundärdrama. Freiheit und Toleranz Der sich in der Aufklärung herausbildende Begriff der Toleranz kann als einer der zentralen Grundsätze bezeichnet werden, auf den sich westliche Gesellschaften berufen. Am europäischen Kontinent war mit der Forderung der „Toleranz“ zunächst ganz spezifisch religiöse Toleranz im Sinne der „Duldung“ anderer gemeint. Mit der Aufklärung erfuhr das Verständnis von Toleranz eine Neubewertung bzw. Erweiterung und ist seither eng mit dem Begriff der „Freiheit“ verbunden, schließt Gleichheit, Meinungs- und Religionsfreiheit mit ein. Im 18. Jhdt. erstmals auch juristisch festgeschrieben, gelten diese Freiheiten als angeboren und damit auch als unumstößlich.120 Wie Inge Stephan konstatiert, zählen eben jene Forderungen von Gleichheit und Freiheit jedoch zu den problematischsten der Aufklärung. Was vor dem Gesetz für alle galt, betraf nämlich in der Realität nur einen ausgewählten Teil der Gesellschaft. Ausgeschlossen blieben nicht nur Menschen unterer sozialer Schichten, sondern auch Frauen, die in der

119 Ebd., S. 48. 120 Vgl.: Kaplan, Benjamin: Toleranz. In: Boer, Pim den u.a. (Hg.): Europäische Erinnerungsorte 2. Das Haus Europa. München: Oldenbourg 2012, S. 337-344, S. 343.

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Zeit der Aufklärung nie den Status der freien, mündigen Bürgerinnen erreichen konnten.121 So hält auch Benjamin Kaplan fest, dass Toleranz im 18. Jhdt. zu einem „Zeichen vornehmer Herkunft“ avancierte, unverzichtbar für all jene Bürger der Mittel- und Oberschicht, „die für sich den Anspruch erhoben, aufgeklärt und zivilisiert zu sein.“122 Die Kehrseite der Toleranz ist damit deutlich benannt: bindet das 18. Jhdt. Menschlichkeit an jene unumstößlichen Freiheiten, bedeutet das gleichsam, dass allen anderen, denen jene Freiheiten nicht zustehen, ihre Menschlichkeit abgesprochen wird. Mensch-Sein wird mit dem mündigen Bürger gleichgesetzt, alle anderen, unmündigen Teile der Gesellschaft erfahren damit eine Abwertung zum Tier. Jelineks Sekundärdramen bringen diese Kehrseite der aufklärerischen Ideale ans Licht, zeigen nicht nur, dass die Gemeinschaft „aller“ immer den Ausschluss anderer meint, sondern auch, dass jede Zivilisation, die an die Begriffe von Freiheit und Toleranz gebunden bleibt, immer auch die gewaltsame Zerstörung der davon Ausgeschlossenen meint. Nathan der Weise gilt allgemein als jener Text, der die Idee der Toleranz fest im literarischen Diskurs verankert hat.123 Er ist das Exempel für tolerante Haltung und wird so nicht zufällig gerade in Zeiten, in denen sich die Frage nach Toleranz neu stellt, verstärkt an den Theatern inszeniert.124 Wie Jost Schneider hinsichtlich Nathan der Weise herausarbeitet, liegen dem Text drei Konzepte von Toleranz zugrunde, nämlich die weise, die vernünftige und die mitmenschliche Toleranz. Marginalisierten die beiden letzteren Ungleichheit zugunsten der Propagierung der prinzipiellen Gleichheit aller Menschen, baue die weise Toleranz, die Nathan verkörpert, gerade auf die positive Bewertung von Alterität auf. Mit Herbert Marcuse verweist er darauf, dass Toleranz, die auf den Begriff der Gleichheit poche, letzten Endes immer Gefahr laufe, repressive Züge anzunehmen.125 Indem Marcuses Text Repressive Toleranz (1965) in Abraumhalde

121 Vgl.: Stephan, Inge: „So ist die Tugend ein Gespenst.“ Frauenbild und Tugendbegriff bei Lessing und Schiller, S. 362. 122 Kaplan, Benjamin: Toleranz, S. 343. 123 Vgl.: Zielke, Oxana: Vorwort. In: Zielke, Oxana (Hg.): Nathan und seine Erben. Beiträge zur Geschichte des Toleranzgedankens in der Literatur. Würzburg: Könighausen & Neumann 2005, S. 7-8, S. 7. 124 So wurden die Wiedereröffnungen der deutschen Theater nach 1945 meist mit diesem Stück begangen, seit 9/11 und der Diskussion um islamistischen Terror findet man es wiederum häufiger auf den Spielplänen deutschsprachiger Theater. 125 Vgl.: Schneider, Jost: Toleranz und Alterität in Lessings Nathan der Weise. In: Zielke, Oxana (Hg.): Nathan und seine Erben. Beiträge zur Geschichte des Toleranzge-

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mehrmals aufgegriffen wird, richtet sich der Fokus des Sekundärdramas deutlich auf jene repressiven Mechanismen, die die Forderungen der Toleranz mit sich bringen und konterkariert damit jenes im Nathan proklamierte idealistische Toleranzkonzept. Goethes Faust-Stoff-Bearbeitung reflektiert unterschiedliche Konzepte von Freiheit, Selbstbestimmung und Individualität. Nicht nur wird Fausts beständiges Streben als Individuationsvorgang interpretiert, auch Margaretes letzte Entscheidung, sich nicht von Faust retten zu lassen, sondern sich dem Gericht zu überantworten, wird in diesem Sinne diskutiert. Nicht unwesentlich ist dabei die Verschiebung vom Urfaust zu Faust I, wo Mephistophelesʼ Urteil „Sie ist gerichtet“ (UF) ergänzt wird durch die „Stimme von oben“, die verkündet „Ist gerettet!“126 Relevant scheint im Kontext der Verhandlung von Freiheit in Goethes Faust darüber hinaus eine Lesart, die Karl Eibl vorschlägt. Er sieht in Goethes Faust-Bearbeitung jene von Luhmann für die Moderne formulierte Form der Individualität realisiert, die sich in der Formel „Individualität durch Exklusion“ zusammenfassen lässt. Dieses auf Exklusion aufbauende Subjekt ist eines, das das eigene Ich zentral setzt und weniger an der Gesellschaft interessiert ist als an der Welt als Ganzes.127 Jelinek setzt mit dem Sekundärdrama jener ExklusionsIndividualität ein vielfach gebrochenes Ich entgegen und entlarvt damit jene Freiheitsutopien, die mit dem Urfaust / Faust I und II verhandelt werden. Freiheit und der damit in Zusammenhang stehende Gedanke der Individualität sind grundsätzlich untrennbar verbunden mit dem Theater, bereits die Texte der griechischen Antike sind geprägt durch die Spannung zwischen Schicksal und menschlicher Autonomie. So bildet in Abraumhalde auch Antigone eine wichtige Reflexionsebene, wenn es um die kritische Reflexion von Freiheitskonzepten und -versprechen geht. Mündige Bürger Gerhard Kaiser betont in seinen Ausführungen zu Nathan der Weise, dass bei Lessing nicht der Besitz des Ringes, sondern das richtige menschliche Handeln

dankens in der Literatur. Würzburg: Könighausen & Neumann 2005, S. 25-35, S. 26-28. 126 Goethe, Johann Wolfgang von: Faust: Eine Tragödie. http://gutenberg.spiegel.de/ buch/3664/1 (23.8.2015). 127 Vgl.: Eibl, Karl: Das monumentale Ich. Wege zu Goethes „Faust“. Frankfurt am Main: Insel-Verlag 2000, S. 56-59.

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im Mittelpunkt steht, zu dem der Ring auffordert.128 Die Figuren in Lessings Stück sind somit nicht Objekte einer göttlichen Fügung, sondern Subjekte, die durch ihr eigenes Handeln das glückliche Ende herbeiführen. Jelinek entlarvt mit Abraumhalde den Glauben an Selbstbestimmung und Toleranz als Utopie, indem sie Lessings Drama mit aktuellen Religionskonflikten und der Unterdrückung der Frau in den männlich dominierten monotheistischen Religionen konfrontiert. Mit Marcuse folgt sie dem Gedanken, dass Freiheit in unserem System nicht hergestellt ist, da alle Individuen an Institutionen gebunden sind und so immer bis zu einem gewissen Teil unfrei bleiben. Freiheit und Toleranz sind somit nie mehr als ein Versprechen, das zur Unterdrückung und zur Ausschaltung der Alternativen führt.129 Das Sekundärdrama ist aber auch mit Verweisen auf den Holocaust durchsetzt und erinnert damit an eine der grausamsten Ausformungen der Gewalt, die laut Horkheimer und Adorno untrennbar mit jenen aufgeklärten Idealen in Zusammenhang steht.130 Das Miteinbeziehen des Holocausts ruft zudem die Rezeptionsgeschichte Nathans in Erinnerung. Galt Lessings Drama bis ins 20. Jhdt. hinein als identitätsstiftend für die neue deutsche Nation, erfuhren Lessing und besonders sein Nathan, der ursprünglich als positive, aufgeklärte jüdische Figur gedeutet wurde, vehemente Ablehnung durch die Nationalsozialisten.131 Das Sekundärdrama fokussiert jene Form der Toleranz, die die Gleichheit aller Menschen propagiert. Wie Schneider für Lessings dramatisches Gedicht konstatiert, folgt einzig Nathan einem Toleranzbegriff, der auf Ungleichheit baut, den anderen ProtagonistInnen kann er jedoch ausschließlich jene Formen der Toleranz vermitteln, die auf Gleichheit beruhen. So befördere auch die zentral gesetzte Ringparabel Gleichheit, nicht Vielheit.132 Abraumhalde nimmt diesen Toleranzbegriff der Ringparabel auf, konterkariert ihn jedoch mit Marcuse und macht damit eben jene repressiven Tendenzen bewusst, die der im Nathan am

128 Vgl.: Kaiser, Gerhard: Aufklärung. Empfindsamkeit. Sturm und Drang. Tübingen: A. Francke 2007, S. 133-134. 129 Vgl.: Marcuse, Herbert: Repressive Toleranz. In: Wolff, Robert Paul / Moore, Barrington / Marcuse, Herbert (Hg.): Kritik der reinen Toleranz. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1966, S. 91-127. 130 Vgl.: Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt am Main: Fischer 1988. 131 Vgl. bezüglich der Rezeption des Nathan z.B.: Dessau, Bettina: Nathans Rückkehr. Studien zur Rezeptionsgeschichte seit 1945. Frankfurt am Main: Peter Lang 1986. 132 Vgl.: Schneider, Jost: Toleranz und Alterität in Lessings Nathan der Weise, S. 2631.

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Ende durchgesetzten Toleranz innewohnen. Das Sekundärdrama widmet der Verbindung von Toleranz, Unterdrückung und Gewalt, die mit dem Denken von Gleichheit verbunden ist, einen längeren Absatz, der eingeleitet wird mit: „Haben Sie nicht vorhin etwas von Toleranz gesagt? Also ich persönlich finde Toleranz absolut unmenschlich.“ (AB) Der Absatz, der ziemlich am Ende des Stückes steht, kann als eine Unterbrechung des übrigen Textes bezeichnet werden, da er – vergleichbar der Passage der „FaustIn 2“ in FaustIn and out – nicht aus dem Primärdrama oder der Antigone zitiert, sondern auf Marcuse fokussiert und damit alle bislang eingebrachten Themen auf einen Punkt konzentriert. Marcuse konstatiert in seinem Beitrag Repressive Toleranz, dass der Begriff der Toleranz in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften meist den Interessen der Unterdrückung diene und die Gewalt als notwendige Form propagiere, diese durchzusetzen, sowie die Tyrannei der Mehrheit stütze.133 Diese Überlegungen werden im Text in verfremdeter Form zitiert und variiert, um schließlich zu kulminieren in: „Ich habe somit das Rederecht für Menschen eingeschränkt, die undemokratische Ziele verfolgen, und danke, ich fühle mich sehr gut bei dieser Intoleranz. Ich habe die Toleranz abgeschafft, und zwar um sie zu schaffen, danke, ich fühle mich sehr gut dabei.“ (AB) Der Ausschluss aller, die das Konzept der Toleranz bedrohen könnten, verbindet sich im Sekundärdrama mit Formen der Fremdenfeindlichkeit, wie sie auch aktuell wieder zu beobachten sind („ich möchte, daß die Menschen, die mich stören, dann alle auswandern“, AB; „Sie sollen durch unser Land durchziehen und woandershin ziehen.“, AB), und mit Tendenzen, die in der gegenwärtigen europäischen Asylpolitik immer deutlicher auszumachen sind („Es gibt Gesetze, also wenden wir sie an! Machen wir eine tiefe Kluft, dann müssen ja diejenigen, die auf der andren Seite der Kluft sind, irgendwo anders hin, die Schwierigkeit ist nur, daß genau die Richtigen, alle Richtigen, alle Neune, auf der andren Seite jenseits der Kluft sind, […].“, AB). Schließlich wird mittels des Einbezugs von Langs Das Eichmann Protokoll am Ende dieses Absatzes auf den Holocaust verwiesen und auf die in den Verhandlungen mit Eichmann dominant diskutierte Frage der „Endlösung“. Damit wird auf drastische Weise bewusst, dass jene Propagierung von Toleranz, verstanden als Prinzip der Gleichheit, in der Vernichtung, in der Auslöschung des Anderen gipfeln kann: Ein Kessel, der voll Wasser ist und erhitzt wird und kein Ventil hat, muß irgendwie explodieren. Genausowenig kann man unbegrenzte Mengen an Menschen, auch wenn man sie nicht will, einfach irgendwo hineinstopfen. Das ist doch logisch. Und dieses Ventil

133 Vgl.: Marcuse, Herbert: Repressive Toleranz, S. 93-94.

200 | D RAMA ALS S TÖRUNG möchte ich auf meinem relativ kleinen Posten hier suchen helfen, damit all die Leute, die mich stören, endlich wegkönnen. Und mit diesem Ventil möchte ich vergleichen meine Bemühungen, irgendwo Möglichkeiten zur Unterbringung dieser Menschen zu finden. Ich bitte um neue Lösungsideen auf allen Ebenen! Ich fürchte, wir werden keine finden. Wir haben Ruheräume und Ausweichräume und Abräumhalden für Menschen geschaffen, aber die reichen bei weitem nicht. Also müssen sie weg. Nicht die Halden, die Menschen. Immer noch zuviele Seuchen- und Unruheherde durch zuviele Menschen, und wenn die Herde angedreht sind, wenn die Herde mal so richtig loslegt, dann kochen die Menschen über, und sie zischen durch ihr eigenes Ventil als Dampf in den Himmel hinauf. Man kriegt sie nicht weg, nur als Dampf kriegt man sie weg und gart mit ihm, dem Dampf, das Übriggebliebene schonend und verwertet sogar die Reste noch. (AB)

Verweist der Begriff der Abraumhalde einerseits auf das schichtende Verfahren des Textes, steht er andererseits symbolisch für den „Menschenmüll“ (BÜ), den jene im Primärdrama verhandelten Leitgedanken erzeugen. Die Antigone des Sophokles konterkarierend, lenkt das Sekundärdrama den Blick auf jene unbestattet gebliebenen Toten, auf jene, für die sich niemand zuständig und zu denen sich niemand zugehörig fühlt. Es sind nicht einzelne Tote, sondern es sind Leichenberge, die an den Rändern zum Vorschein kommen. Ebenso wie die Leiche Polyneikes’, die bis zu ihrer Bestattung zwar vor den Toren der Stadt liegt, aber dennoch im Inneren der Stadtmauer für Unruhe sorgt, sind auch diese Toten an die Grenzen bzw. ins Außen abgedrängt. Abraumhalde zeigt auf, dass sie zwar verdrängt, nicht aber getilgt werden können und verweist auf ihr Potential, in diesem Da-Sein bzw. Da-Bleiben immer wieder als störendes Element in das vermeintlich vor ihnen abgesicherte Zentrum eindringen und Irritationen auslösen zu können. Wenn der im Stück folgende Absatz mit einer Negation von Lessings Ringparabel beginnt, wird einmal mehr die verdeckte Verbindungslinie von Gleichheit und gewaltsamer Vernichtung von allem, was als Anderes empfunden wird, bewusst. Neben dem Begriff der Toleranz verhandelt das Sekundärdrama die Möglichkeit des Individuums, jenseits äußerer Einflüsse Autonomie und Freiheit zu erlangen. Das Spannungsfeld zwischen Fremd- und Selbstbestimmung wird in Abraumhalde vorwiegend über Sophoklesʼ Antigone eingeschrieben. In der Forschungsliteratur wird Antigones Freitod als einzige für sie mögliche Form interpretiert, Freiheit zu erlangen, da sich zwischen dem Gesetz des Staates und der

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Familie keinerlei alternative Freiräume eröffnen.134 Antigones Sein entspricht damit jenem von Heidegger formulierten Sein zum Tode, so kreist der Text um das Motiv der bereits im Leben Toten bzw. um die lebend in die eigene Grabkammer Eingesperrte. Kann dieses Lebendig-Begraben-Werden in der Antigone noch als Ausdruck der Freiheit interpretiert werden, macht das Sekundärdrama die gewaltsamen Strukturen sichtbar, die jede Autonomie negieren: „Die Tochter im Verlies, schön, dort wird sie wohl zum Todesgotte beten, den sie allein von allen Göttern ehrt, mich aber wird sie richtig anbeten.“ (AB) Dass die Frau immer schon Tod ist und daher nicht zum Sein im Sinne Heideggers gelangen kann, wird darüber hinaus mittels Zitaten aus Goethes Über allen Gipfeln ist Ruh, Mörikes Denkʼ es, o Seele!, dem Choral Mein junges Leben hat ein End’ (vertont von J. P. Sweelinck) und schließlich aus dem Volkslied Winter ade, scheiden tut weh angedeutet. Die Gleichsetzung von Frau und Tod findet ihren Höhepunkt in einer Passage, die als weibliche Gegenschreibung zur Ringparabel gelesen werden kann: „Ich will nicht sterben, aber ich muß. So hat meine Mama es zusammengefaßt. Sie hat keine Parabel dafür gebraucht und keine Hyperbel und keine Hypotenuse, sie hat sich nichts ausrechnen müssen, denn das hat sie schon vorher gewußt. Das weiß doch jeder!“ (AB) Ebenso wie in FaustIn and out präsentiert Abraumhalde die Frau als immer schon tot, damit kann sie auch im Tod nicht mehr Subjektstatus erlangen und muss somit von jedem Begriff der Freiheit ausgeschlossen bleiben. Mit der Antigone wird darüber hinaus auch die Strukturierung des Gemeinwesens thematisiert, wie sie für das antike Griechenland prägend war. Zwar deutlich zu unterscheiden von dem sich im 18. Jhdt. verstärkt herausbildenden Geschlechterdualismus, kannte auch das antike Griechenland die Trennung zwischen Privatem (oikos) und Öffentlichkeit (polis). Hannah Arendt definiert die polis als Reich der Freiheit, in dem sich „Gleiche unter Gleichen“135 treffen, die sich deutlich von der hierarchischen Ordnung des oikos unterscheidet. Ähnlich wie es Inge Stephan für die Freiheit des Hausvaters im 18. Jhdt. beschrieben hat, geht auch Arendt davon aus, dass die Freiheit der polis erst gewährleistet ist

134 Vgl.: Böhme, Hartmut: Götter, Gräber und Menschen in der „Antigone“ des Sophokles. In: Greve, Gisela (Hg.): Sophokles. Antigone. Tübingen: Edition diskord 2002, S. 93-124, S. 102. 135 Terlinden, Ulla: „Public Man“ und „Private Woman“. In: Hauser, Susanne u.a. (Hg.): Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften. Bd. 2: Zur Logistik des sozialen Raums. Bielefeld: transcript 2013, S. 220-230, S. 221.

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durch die Verrichtung der lebensnotwendigen Tätigkeiten im oikos136 – d.h. die Freiheit des männlichen, mündigen Bürgers erst durch die Kettung der Frau bzw. der Sklaven an den privaten Bereich garantiert wird. Erklärt Arendt diese Teilung zum Ideal, zeigt Jelineks Abraumhalde hingegen das Abgründige, das darin verborgen liegt. In FaustIn and out wird die Frage nach dem „In and out“ bzw. „In or out“ neben der Negation einer möglichen Freiheit durch Heideggers Sein zum Tode – immer nah an Goethes Urfaust orientiert – auch mittels weiterer kanonisierter literarischer Texte berührt. So etwa wird auf Dostoevskijs Die Brüder Karamasow angespielt, konkret auf die darin eingebettete Erzählung Der Großinquisitor. Nicht nur ruft das direkte Zitat „der Teufel schläft nicht“ (FAU)137 den Text in Erinnerung, sondern auch transformierte Passagen bzw. Motive verweisen darauf. Interessant scheint diese Erzählung deshalb, weil auch sie zentral um die Möglichkeit der Freiheit bzw. der freien Entscheidung kreist. Abgehandelt wird diese Frage im Gespräch zwischen zwei Brüdern: dem gläubigen Mönch Aljoscha und dem atheistischen Intellektuellen Iwan. Letzterer schließlich ist es, der die Geschichte eines Großinquisitors des 16. Jahrhunderts erzählt, der dem auf die Erde zurückgekehrten Jesus erklärt, dass die Menschen durch Freiheit bzw. die freie Wahl zwischen Gut und Böse überfordert seien. Entgegen der kirchlichen Sicht vertritt Iwan eine radikale Auffassung von Freiheit und propagiert ein „Alles ist erlaubt“138 . Goethes Urfaust und Dostoevskijs Erzählung teilen das Motiv des atheistischen Gelehrten, der jenem radikalen Freiheitsbegriff folgt und der bereit ist, für seine Freiheit jede gesetzliche und moralische Grenze zu überschreiten. Nicht zufällig wird im Sekundärdrama das Dostoevskij-Zitat mit Fausts „Mein Herr Magister Lobesan, / Lass er mich mit dem Gesez in Frieden!“ (UF) zusammengeschaltet, mit dem Faust, der Margarete sexuell verführen will, die Warnung Mephistopheles abwehrt, dass Margarete noch ein unschuldiges Kind sei. Steht im Sekundärdrama „Kein Gott da, der ihn wieder wegrollt. Das ist die Strafe, weil wir nicht an ihn glauben“ (FAU), wenn vom Verschließen des Kellers die Rede ist, in den der allmächtige Vater seine Tochter einsperrt, erinnert das an jene Verbindung von Nihilismus, Gewalt und Totalitarismus, wie sie bei Dostoevskij erfahrbar wird. Darüber hinaus rücken beide

136 Vgl.: Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München: Piper 2002, S. 39-40. 137 Bei Dostoevskij lautet der gesamte Satz: „Aber der Teufel schläft nicht, und es regten sich in der Menschheit schon Zweifel an der Wahrheit dieser Wunder.“ (Dostojewski, Fjodor: Der Großinquisitor. Stuttgart: Reclam 2011, S. 8.) 138 Ebd., S. 47.

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Dialogkonstellationen, sowohl die Gegenüberstellung von gläubigem und ungläubigem Bruder als auch von Inquisitor und Jesus, in eigentümliche Nähe zu Faust / Mephistopheles und Margarete. Mit Dostoevskij erfährt Margaretes Frage nach der Religion, aber auch die letzte Szene Kerker eine Übermalung bzw. eine Verschiebung und eröffnet neue Perspektiven auf Primär- und Sekundärdrama. Wartet bei Dostoevskij Jesus ebenso wie Margarete im Kerker auf seine Hinrichtung, reagiert Jesus auf den ihn dort aufsuchenden Inquisitor einzig mit Schweigen und verlässt schließlich, nachdem er den Inquisitor küsst, sein Gefängnis. Gegenteilig verhält es sich im Urfaust, wo Margarete beim Rettungsversuch Fausts in einen Sprech-Wahn kippt und sich dazu entscheidet, im Kerker zu verharren. Der Text betont so auch mit dem Bezug auf diese Textschicht, dass die Frauen tot sind und bleiben, während die Männer auferstehen. Margarete hat keine Chance, zu bestehen, sie ist das Opfer von Fausts radikalem Freiheitsverständnis, an dem sie nicht partizipieren kann. Am Ende wird dem Sekundärdrama noch eine weitere literarische Ebene hinzugefügt, wenn ein verfremdetes Zitat aus Rilkes 1. Duineser Elegie in den um die Szene Kerker kreisenden Text einbricht: Das ist alles, das ist nichts, wir sind gerichtet, die droben gerettet, eine Rabattmarke Energie, das wirds schon bringen, für die Erstfamilie dort oben, die ja auch meine Familie ist, eine Mutter, eine zweite Mutter, die ersten Kinder, die zweiten Kinder, die zweiten Kinder, welche, da sie zuviel schrien, zu den ersten hinaufgeschickt worden sind, wer, wenn ich schriee, hörte mich in der kleinen Engelchen-Unordnung? Der Papa hört dich, der Papa erhört dich, du darfst rauf, wenn du schreist, [...]. (FAU, Herv. d. Verf.)139

Mit Rilkes Elegie wird ein weiterer kanonisierter Text zitiert, der die Möglichkeiten der Autonomie und Freiheit befragt. In der 1. Elegie wird der Mensch als Gefangener einer „gedeuteten Welt“ beschrieben, dieser Gefangenschaft kann nur in der Einsamkeit und Fremdheit zur Welt entflohen werden, wobei bereits die Verschiebung von „Ordnung“ zu „Unordnung“ auf ein Freiheitsversprechen anspielt, das ebenfalls nicht mehr als eine hohle Phrase ist und keine Gültigkeit besitzt. Wenn als letztes Wort im Sekundärdrama das fragende „What?“ steht, das den Ausruf „Freiheit“ beantwortet, verweist es nicht nur auf die Unmöglichkeit, als „die Frau“ jene patriarchal geprägte Form der Freiheit zu erlangen, sondern „Freiheit“ wird auch am Ende als leere Hülle entlarvt, ein leeres Versprechen, das sich für niemanden erfüllen kann.

139 Rilkes Elegie setzt ein mit: „Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel / Ordnungen?“ (Rilke, Rainer Maria: Duineser Elegien. München: dtv 1997, S. 7.)

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Nicht nur wird jener radikale Freiheitsbegriff, der bei Dostojevskij thematisiert wird, mit dem Sekundärdrama dekuvriert, auch die Meinung des Großinquisitors, dass die Menschheit mit zu viel Freiheit nichts anfangen kann, wird in FaustIn and out aufgenommen und mit dem Bild des allmächtigen Vaters überblendet. So etwa bezieht der Text jene zentrale Behauptung des Großinquisitors in transformierter Form ein, dass die Menschen lieber Brot als Freiheit wollen,140 noch lieber jedoch eine Instanz, die ihrem Leben Sinn verleiht, und verbindet sie mit dem realen Inzest-Fall von Amstetten („Die Leute wollen Luft einfach lieber als Essen. Keine Ahnung, warum. Die Luft ist ihnen lieber als jedes Essen. Damit kann man arbeiten. Damit kann man planen. Damit kann man was anfangen.“, FAU). Es ist aber auch das Wissen der Macht um die Wichtigkeit der Angst, die sie der Bevölkerung vor der Freiheit machen muss, das im Sekundärdrama zitiert wird: „Die Tür wird nie explodieren, das hat der Papa doch nur so gesagt. Als er sich einmal ärgerte. Nicht ganz ernstzunehmen. Wir aber haben es geglaubt. Hat er aber gesagt. Damit wir uns fürchten. Es hatte ja sonst keiner was zu sagen. Er hat es gesagt. Damit wir uns vor der Freiheit fürchten.“ (FAU) Ein weiterer in FaustIn and out herangezogener Autor ist Schiller, von dem die Gedichte Das Lied von der Glocke und Der Jüngling am Bache zitiert werden, die ebenfalls das Thema Freiheit berühren. Damit bringt das Sekundärdrama zwei kanonisierte, für das deutschsprachige Bildungsbürgertum zentrale Texte ein, die von einem starken Geschlechterdualismus bestimmt sind. Wird mit Schillers Der Jüngling am Bache die tote Frau als „Schattenbild“ besungen, die aus dem Himmelreich herabsteigen soll, greift das Sekundärdrama die Zeile „Raum ist in der kleinsten Hütte“141 auf, nimmt das „herab“ des Gedichts jedoch wörtlich und verortet die Frau im Kellerverlies. Strebt der Jüngling bei Schiller nach dem weit entfernten Liebesobjekt und deutet mit den letzten Zeilen einen Zufluchtsort für die Geliebte an, wird bei Jelinek gerade jener Schutzraum zum Kerker, in dem das geliebte und begehrte Objekt festgehalten wird.142 Destruiert

140 Dieser Freiheitsbegriff deckt sich auch mit Rousseau, der davon ausgeht, dass die Armen das Brot der Freiheit vorziehen und der damit Freiheit an ökonomische Voraussetzungen bindet. (Vgl.: Kuster, Friederike: Rousseau – Die Konstitution des Privaten. Zur Genese der bürgerlichen Familie. Berlin: Akademie Verlag 2005 (= Deutsche Zeitschrift für Philosophie Sonderband 11), S. 108.) 141 Schiller, Friedrich: Der Jüngling am Bache. In: Schiller, Friedrich: dtv-Gesamtausgabe. Bd. 2: Sämtliche Gedichte. Zweiter Teil. München: dtv 1965, S. 166-167, S. 167. 142 Bei Schiller endet das Gedicht mit: „Raum ist in der kleinsten Hütte / Für ein glücklich liebend Paar.“ (Ebd., S. 167.), bei Jelinek heißt es: „Es ist nicht viel Platz hier

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wird damit – und das auch in Überblendung mit Fausts Unbedingtheit, wenn es um die Eroberung und Verführung Margaretes geht – jener Liebesbegriff, der den Mann als Subjekt zentral setzt und der einzig seiner Selbstverwirklichung dient, während die Frau passives Objekt der Liebe bleibt bzw. einzig ein Element männlicher Selbstverwirklichung ist. Schillers Ballade Das Lied von der Glocke stilisiert den Mann als Schöpfer und Erschaffer, dessen Lebenssinn in der Arbeit und im Dienst an der Öffentlichkeit liegt.143 Vollzieht die Ballade die ideale Entwicklung eines Jünglings zum Mann nach, dessen Pflichten und Freiheiten (als Kämpfer, Familienvater etc.), wird im Kontext des Sekundärdramas das Weibliche als das Nichtpräsente, als das ausschließlich über den Mann definierte und von diesem abhängige bewusst. Die Zusammenführung vom Bericht über prekäre Arbeitsverhältnisse mit dem romantisierenden Arbeitsethos in Schillers Ballade zeigt, dass die Begriffe von Pflicht und Freiheit heute nicht gültig sind und für einen Großteil der Bevölkerung immer schon Unfreiheit bedeuteten. Mit dem Bezug auf Schiller werden auf diese Weise tieferliegende Verbindungslinien sichtbar gemacht, die jenseits der Fokussierung auf Goethes Urfaust zeigen, dass der Ausschluss der Frau bzw. des Anderen tief in der deutschen Geistesgeschichte verwurzelt ist und nicht nur auf Religion und Staatssystem gründet, sondern auch von ökonomischen Systemen bestimmt ist. So assoziiert der Text freie Marktwirtschaft und freie DienstnehmerInnen weiter zum Prekariat bzw. zur Existenzvernichtung durch die freie Marktwirtschaft und entlarvt all diese Begriffsbildungen als Euphemismen eines Systems, das die Menschen unfrei macht (DienstnehmerInnen können „freigesetzt“ werden, „wir fallen in die Freiheit“ etc., FAU). Die Verbindung von Unfreiheit, freier Marktwirtschaft und Gewaltausübung erfährt in einem Zitat des Spruchs „Jedem das Seine“, wie er am Haupttor des Konzentrationslagers Buchenwald zu lesen war, seinen Höhepunkt: Schauen Sie, sonst müssen Sie sich hier auf die Bahngleise legen, wenn Ihr Kurs nicht gestiegen ist. Jedem das Seine. Jeder seines Glückes Schmied. Ich kann nichts dafür, habe meinen Job aber trotzdem verloren, obwohl ich selbst recht gut beschlagen bin. Das geht so, und zwar so, und zwar deswegen so, weil die Zirkulationssphäre sich eben von der

unten, aber er macht sich die Frau schon noch passend, und wenn es bis nächste Woche dauert! Raum ist in der kleinsten Hütte. Die Frau kann nicht heraus, also muß sie von innen her erklärt werden.“ (FAU, Herv. d. Verf.) 143 Vgl.: Schiller, Friedrich: Das Lied von der Glocke. In: Schiller, Friedrich: dtvGesamtausgabe. Bd. 2: Sämtliche Gedichte. Zweiter Teil. München: dtv 1965, S. 187-197.

206 | D RAMA ALS S TÖRUNG Produktionssphäre abgesetzt hat, schon lange, obwohl der Absatz noch funktioniert und noch nicht abgebrochen ist, und nie wieder nie wieder, keinesfalls in einfache Tauschakte konvertiert werden kann. (FAU, Herv. d. Verf.)

Die enge Verbindung von Freiheit und Unfreiheit wird durch das bereits benannte Kerker- bzw. Kellermotiv überdeutlich. Besonders nachdrücklich wird auf eine Kontinuität des Verdrängens bzw. Wegsperrens eines breiten Teils der Bevölkerung mit jener Frage, die in FaustIn and out formuliert wird, hingewiesen: „Warum all die Mädels in den Kellern? Warum nur, warum? Sie könnten ja auch in einem Turm gehalten werden, [...].“ (FAU) Beantwortet wird sie im Sekundärdrama schließlich mit: „Ob Turm, Dachboden oder Keller, es ist ohnedies alles dasselbe, dort können wir hin, dort sollen wir sie haben, man soll sie sehn, man soll sie haben, man soll die Mädels sehn, und dann soll man sie auch haben.“ (FAU) Mit dem „Turm“ rekurriert der Text auf das Motiv der „Jungfrau im Turm“, das prägend ist für den westlichen Kulturraum. Zu denken wäre an dieser Stelle etwa an den Danaë-Mythos, an die christliche Legende der Heiligen Barbara oder an Märchenerzählungen wie Rapunzel, zu denen das Sekundärdrama auf diese Weise Bezüge herstellt. Das „goldene Haar“ Margaretes etwa erinnert nicht nur an Celans Todesfuge, sondern eben auch an das goldene Haar Rapunzels bzw. verweist die mehrmalige Betonung des Goldes darauf, dass Zeus in Form eines Goldregens zu der in einem Turm festgehaltenen Danaë eindringt, um sie zu entjungfern und zu schwängern. Das Argument des Schutzes der Reinheit und Keuschheit und damit verbunden der Freiheit und Individualität der Mädchen, das in all diesen Erzählungen den zentralen Anstoß zum Wegsperren bildet, wird auch im Sekundärdrama ausgelotet, wo immer wieder betont wird, dass es die Mädchen im Keller besser haben, weil sie dort vor Unheil bewahrt werden und geschützt sind vor „Blödsinn mit falschen Freunden“ (FAU). Haben Forschungen im Bereich der Gender-Studies hinlänglich darauf hingewiesen, dass Raumverteilungen immer auch auf Machtaspekte schließen lassen,144 zeigen die Sekundärdramen auf drastische Weise, dass Freiheit und Toleranz auch gegenwärtig nur für einen kleinen, privilegierten Teil der Bevölkerung gültig zu sein scheinen, wobei auch jener Teil nicht tatsächlich autonom handeln kann, sondern dem System verpflichtet ist. Vermeintlich gelungene Gleichberechtigungsbestrebungen von Frauen realisieren sich nur an der Oberfläche, der

144 Vgl.: Hubrath, Margarete: Einführung. In: Hubrath, M. (Hg.): Geschlechter-Räume. Konstruktionen von „gender“ in Geschichte, Literatur und Alltag. Köln: Böhlau 2001, S. 1-6, S. 2.

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Blick in die Keller verrät, dass sich die Grundstrukturen nicht verändert haben, all unser Denken immer noch auf etablierte, kanonische Denkmuster gründet. Erbauer und Zerstörer Sind in den Primärdramen Freiheit und Toleranz eng mit Zivilisation und aufklärerischem Fortschrittsglauben verbunden, zeigen die Sekundärdramen die Zerstörung, auf die jede Zivilisation gründet. Sie markieren, dass Fortschritt und der Drang, immer Neues zu schaffen, dazu führen, (Altes) zu vernichten. Symbol des Fortschritts ist der Wiederaufbau aus Ruinen, der die Gewinnung von Lebensraum und immer größere und komplexere Bauwerke zur Folge hat. So sind beide Primärdramen durchzogen von jenen Symbolen der Zivilisation: In Nathan der Weise ist es das Haus, das Nathan nach dem Brand in verbesserter Form wieder errichten würde, Goethes Faust-Komplex durchzieht der Wille, Land zu gewinnen und so neuen Lebensraum zu schaffen. Durch die Einbeziehung von Schillers Lied von der Glocke wird in FaustIn and out ein weiterer Text zitiert, der eben diesem Fortschrittsglauben verpflichtet ist. Auch hier ist es, wie im Nathan, der Brand, der die Stadt bzw. Zivilisation bedroht. Der Mensch bzw. der Schöpfer erweist sich jedoch als stärker als das Feuer und kann so auf Ruinen Größeres und Bleibendes schaffen und die Natur überwinden. Jenen Gedanken greift das Sekundärdrama auf, lenkt den Fokus jedoch weg von den vom Menschen geschaffenen Werken hin zu all dem, was zugunsten dieser Schöpfung vernichtet werden musste. Der Mann als Schöpfer und Erbauer wird in beiden Sekundärdramen als gewalttätiger Alleinherrscher entlarvt. In FaustIn and out heißt es beispielsweise: Ich kenne da einen Ort, wo ich mich ausdrücken möchte, und zwar in dir, auf dir, unter dir, über dir, überall, das geht, denn der Ort ist klein, ich habe ihn selber geschaffen, ich habe alles geschaffen, ja, auch dich, und ich kenne da einen Ort, den habe ich auch gemacht, da ist es ruhig, es ist ruhig für zwei, für uns beide, ruhig, und jetzt hilfst du mir bitte, diesen Gegenstand, was immer er ist, könnte gut eine Bank sein, nein, nicht die richtige Bank, die nicht, von dort borge ich mir das Geld für meine Realitäten, nein, nicht für die Realität, nun, ein Türblatt wäre auch möglich, wenn du mich fragst, was das sein soll, was das soll, in den Keller zu tragen, dort muß er hin, der Papa mit dem Türblatt, dort mußt du hin, dort müssen wir alle hin, wir müssen alle unter die Erde, das steht nun mal fest. (FAU)

Das verklärende „Wiederaufbauen aus Ruinen“ wird im Sekundärdrama nicht nur damit beantwortet, dass jede Möglichkeit des Wiederaufbaus negiert wird, die Texte einzig Ruinen und brennende Häuser präsent machen, sondern sie ver-

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kehren zusätzlich das Denken des Aufbaus. Das, was in den Sekundärdramen geschaffen wird, sind nicht Häuser, Wolkenkratzer oder Türme, sondern Bunker und Keller. Schöpfertum und Fortschritt lassen an der Oberfläche Hochkulturen entstehen, gleichzeitig führen sie jedoch auch in den Untergrund („[...] denn er kann auch Türme erbauen, Häuser, Städte, aber er kann auch graben, das ist sein freier Willi, sein frei in der Hose baumelnder Willi, [...].“, FAU). Die gegenseitige Gebundenheit von Zerstörung und Fortschritt und die Tatsache, dass die Zerstörung nicht nur Häuser, Städte und Landschaften, sondern auch Menschen betrifft, werden in beiden Sekundärdramen deutlich betont. In Abraumhalde etwa wird die Erschaffung einer neuen, besseren Gesellschaft mit der Forderung von Menschenopfern verknüpft, in FaustIn and out ist nicht mehr von brennenden Häusern, sondern dezidiert von brennenden Menschen die Rede: „Daß Menschen brennen, reicht noch nicht. Das reicht nie.“ (FAU), um schließlich den Ruf nach Rettung und Freiheit am Ende des Textes mit der Frage zu kombinieren: „Ist es dafür, daß den Menschen das Feuer in die Hand gegeben wurde? Damit sie verglühen? Alle brennen für etwas, aber die meisten verglühen, ohne daß sie je gebrannt haben.“ (FAU) Die zerstörten Häuser stellen Bezug zu Jelineks übrigem dramatischem Werk her, konkret zu ihrem Theatertext Der Wanderer, dem letzten Teil der Trilogie Macht nichts (1999). Ähnlich den Sekundärdramen werden auch in diesem Text TäterInnen- und Opferstimmen überlagert, in diesem Fall dezidiert bezogen auf die Verbrechen des Nationalsozialismus. Der Text bringt das Bild eines unfertigen Hauses ein, einer Bauruine, in die das sprechende Ich nicht zurückkehren kann. Wie Inge Arteel herausgearbeitet hat, dient auch hier das Haus als Projektionsfläche für Bilder von Gewalt, Zerstörung und Vernichtung. Heideggers Reflexionen zum „Behausen“ des Seins problematisierend, entlarvt der Text die romantisierende Vorstellung des Hauses als Zufluchtsort und Ort der Selbstverwirklichung und macht deutlich, dass das Haus auch Gefängnis ist.145 Dies kann ebenso für die Sekundärdramen konstatiert werden. Das Verhältnis von Zerstören und Wieder-Aufbauen bzw. Neu-Bauen führt wiederum zur Frage nach AutorInnenschaftskonzepten und eröffnet eine Opposition zwischen dem Geniegedanken, der mit den Primärdramen verbunden ist, und der Absage an jene singuläre Position, wie sie mit dem Sekundärdrama erteilt wird. Indem sie den Gedanken des bleibenden Kunstwerks infrage stellen,

145 Vgl.: Arteel, Inge: Elfriede Jelineks kinematographisches Theater. In: Janke, Pia (Hg.): Elfriede Jelinek: „ICH WILL KEIN THEATER“. Mediale Überschreitungen. Wien: Praesens Verlag 2007 (= DISKURSE.KONTEXTE.IMPULSE. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums 3), S. 23-33, S. 29-30.

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berühren die Sekundärdramen die Themen (kulturelles) Erbe und Fortschritt. In einem Interview mit dem Dramaturgen Roland Koberg führt Jelinek hinsichtlich der Sekundärdramen aus: Der Bau-Meister als sein eigener Zerstörer, der nur baut, um wieder einreissen zu können, denn er will ja immer Neues schaffen, das wird dem schöpferischen Mann ja zugeschrieben, auch der Zwang zur Originalität, gehört dazu. Er muss etwas schaffen, das noch nie geschaffen worden ist. Aber es sind schon so viele Dinge da, da muss man immer etwas zerstören, um Neues zu schaffen, wenn nichts anderes da ist, notfalls auch Menschen. (BÜ)

So ist es in FaustIn and out das Gelehrten-Motiv, das Jelinek aus Goethes Urfaust übernimmt und mit dem Inzestfall von Amstetten, aber auch mit Celans Todesfuge verschränkt. Entlarvt wird damit jene Zentralsetzung des männlichen Subjekts, die der im 18. Jhdt. sich etablierende Genie-Gedanke mit sich bringt. Das Sekundärdrama macht jene, die durch die Selbstverwirklichung des Genies zu Grunde gehen, sichtbar, zeigt die Schäden, die das autonome Ich achtlos hinterlässt. Eng verbunden mit dem Genie-Denken ist die Wahrheitsfindung, die in beiden Primärdramen verhandelt wird und die in Jelineks Sekundärdramen hinterfragt und in ihrer gewaltsamen Ausformung offensichtlich wird. Nathans Reflexionen um die Bestimmung der wahren Religion und Fausts Streben nach Erkenntnis werden bei Jelinek als „männlich“ besetze Formen des Wissen-Wollens entlarvt. Es sind in sokratischer Tradition stehende Begriffe von Wahrheit und Erkenntnis, die Rationalität zur obersten Maxime erklären, die im 18. Jhdt. dominant diskutiert werden. Wenn Wissen gebunden ist an Rationalität, kann das in Zeiten des sich deutlich etablierenden Geschlechterdualismus nur bedeuten, dass die Frau von jener Form des Wissens ausgeschlossen bleiben muss. Luce Irigaray spricht diesbezüglich von einer negativen Abhängigkeit des Weiblichen, das als das Sekundäre gegenüber dem männlich konnotierten Begriff des Wissens definiert wird.146 Entgegenstehend folgt die spezifische Form von Jelineks Theatertexten der Etablierung von Nicht-Wissen. Nicht-Wissen wird dabei nicht als negative Kehrseite des Wissens begriffen, sondern es ist jener positive Schatten allen Wissens, der normalerweise im Verborgenen bleibt, wie es etwa Nietzsche oder Foucault beschreiben. In ihrer Vielstimmigkeit versperren sich Jelineks Texte einem Wissen, das auf Rationalität aufbaut, sie verweigern Eindeutigkeit, eine Hierarchisierung des Wissens sowie die Möglichkeit der Erkenntnis

146 Vgl.: Irigaray, Luce: Das Geschlecht, das nicht eins ist. Berlin: Merve 1979, S. 156.

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und öffnen den Bereich des Wissens für all jene, die bislang davon ausgeschlossen geblieben sind.147 Wurde in der Forschungsliteratur Goethes Faust-Stoff-Bearbeitung im Kontext der Verklärung und Stilisierung des Weiblichen als Objekt männlicher Schaffensgewalt hinlänglich diskutiert, findet diese Stilisierung – wenn auch weniger offensichtlich – auch im Nathan statt. Wie Helmut J. Schneider herausarbeitet, wird Recha vom jungen Tempelherrn als Kunstwerk ihres Vaters imaginiert. Der Tempelherr partizipiere auf diese Weise an der kulturellen Schöpfungskraft Nathans und bestätige die absolute Künstlichkeit Rechas.148 Auch Friedrich A. Kittler verweist darauf, dass mit dem Ziehvater Nathan eine Stilisierung und Verklärung männlichen Schöpfertums einhergehe: der leibliche Vater Rechas ist Sklave der Natur, Nathan hingegen ist als geistiger Ziehvater „ein ‚Künstler‘, der als Herr von ‚Geschöpfen‘ dem Gott gleichkommt.“149 Die weiblichen Figuren der Primärdramen sind so gesehen nicht mehr als Idealbilder und Schöpfungsfantasien der männlichen Protagonisten. In dieser schöpferischen Leistung sind diese den Autoren der Dramen selbst vergleichbar, so überblenden die Sekundärdramen beide Positionen und verweisen auf den Anspruch, als Autor gottgleich Welten zu erschaffen und über sie zu verfügen (vgl. BÜ). Die Sekundärdramen legen über die Einlagerung des Inzestfalls von Amstetten und über Hinweise auf den Holocaust frei, dass der Geniegedanke eng verbunden ist mit Herrschaftsglaube und Herrschaftsanspruch. Diesem Glauben widersetzt sich das Sekundärdrama, es vertritt ein Verständnis von Kunst jenseits jedes Geniekults, legt das Gemachte des Kunstwerks frei und fügt den Idealen von Autonomie, Toleranz und Entscheidungsfreiheit erheblichen Schaden zu. Die Sekundärdramen verweisen auf die Ruinen und das Ruinöse des deutschsprachigen Bildungskanons. Sie problematisieren einerseits die Absage an das kulturelle Erbe, wie sie der Geniegedanke zu Tage gefördert hat, um sich selbst als Zentrum zu gerieren, andererseits zeigen sie auf, welch Gedankengut jenes kulturel-

147 Vgl. hinsichtlich der Verhandlung von Nicht-Wissen bei Jelinek: Kovacs, Teresa: Wanderer und Schatten. Formationen des Nicht-Wissens bei Elfriede Jelinek. Bislang unpublizierter Vortrag im Rahmen der Tagung Theater als [H]Ort des Wissens, 14.-15.12.2015 in Gent. 148 Vgl.: Schneider, Helmut J.: Die schöne Frau. Zu einer Symbolfigur der klassischen Dramatik. In: Dörr, Volker C. / Hofmann, Michael (Hg.): „Verteufelt human“? Zum Humanitätsideal der Weimarer Klassik. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2008 (= Philologische Studien und Quellen 209), S. 115-140, S. 123-126. 149 Kittler, Friedrich A.: Erziehung ist Offenbarung. Zur Struktur der Familie in Lessings Dramen, S. 122.

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le Erbe bis in die Gegenwart erhält und fordern zu einer Relektüre kanonisierter Texte auf. Gold und Geld Beide von Jelinek herangezogenen Primärdramen reflektieren ökonomische Entwicklungen und kreisen um Begriffe wie Gold und Geld. Lessings Nathan der Weise etwa ist durchzogen vom Vokabular des Finanzmarkts, die Rede ist von Kreditwürdigkeit, Tauschgeschäften und Kapitalvermehrung. Besonders deutlich wird die Dominanz des Geldes in Nathans Monolog, der die Ringparabel einleitet („Auf Geld gefaßt; und er will – Wahrheit. Wahrheit! / Und will sie so, – so bar, so blank, – als ob / Die Wahrheit Münze wäre!“, NA). Goethes Faust ist ein bedeutendes Beispiel, wenn es um die Reflexion ökonomischer Wenden in der Literatur geht, da im Faust II die Durchsetzung des Papiergeldes thematisiert wird. Geld, Gold und Besitz spielen jedoch bereits im Urfaust eine zentrale Rolle, bedenkt man, dass Faust mit Hilfe wertvoller Geschenke Margarete verführt, die sie vom sozialen Aufstieg träumen lassen. Die Sekundärdramen stellen Bezüge her zwischen dem Recht des Vaters, dem Denken von Toleranz und Freiheit eines autonomen Subjekts und dem Recht des Geldes. Sie vollziehen die zunehmende Verselbständigung dieser Sphären nach, machen deren Austauschbarkeit bewusst bzw. verdeutlichen, dass diese nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind. Christina von Braun etwa konstatiert für den Beginn des 21. Jhdts. eine ökonomische „Zeitenwende“, die sich in der Eigenständigkeit des Geldes manifestiert: das Geld wurde vom Goldstandard losgelöst, Währungen bewegen sich völlig frei und auch die Spekulation wurde von jeder Regulierung entbunden.150 Das zunehmende Eigenleben des Geldes wird in den Sekundärdramen beim Wort genommen und die gegenwärtige ökonomische Wende wird mit jenen Überlegungen zu Gold und Geld konfrontiert, wie sie in den Primärdramen angestellt werden. Geld und Geldwirtschaft veränderten sich im 18. Jhdt. grundlegend und nahmen starken Einfluss auf bestehende Gesellschaftsordnungen. Beide Primärdramen reflektieren die sozialgeschichtlichen Entwicklungen, die damit verbunden sind. Wie aus philosophischen, politikwissenschaftlichen und soziologischen

150 Vgl.: Braun, Christina von: Das rote Blut des Kapitals. Die Realitätsmacht der Zeichensysteme Geld und Schrift. In: Felber, Silke (Hg.): KAPITAL MACHT GESCHLECHT. Künstlerische Auseinandersetzungen mit Ökonomie & Gender. Wien: Praesens Verlag 2016 (= DISKURSE.KONTEXTE.IMPULSE. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums 12), S. 98-108, S. 98.

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Schriften hervorgeht, konnotierte die Aufklärung Geld und Besitz durchwegs positiv, begriff Geld als eines der wichtigsten Zivilisationsmittel und knüpfte Ethik und Geldsystem aneinander.151 Lessings Dramentexte etwa sind jenem positiven Geldbegriff verpflichtet. Wie Walter Pape herausarbeitet, ist Kredit bei Lessing das eigentliche Geld, das eng mit ethisch-religiösen Grundsätzen verbunden ist. Diese positive Konnotation von Besitz wird auch durch die NathanFigur bestätigt, die Weisheit, Glückseligkeit und Reichtum miteinander vereint. Pape verweist darüber hinaus darauf, dass in der Zeit der Aufklärung Geldwechsel gleichzusetzen war mit Ehrerweisung und Einhaltung eines gegebenen Wortes, so werden auch in Nathan der Weise Geldgeschäft und Freundschaft über die Beziehung der Figuren Sultan und Nathan enggeführt.152 Ein wichtiger Hinweis findet sich auch bei Karl-Heinz Brodbeck, der die Ideale von Gleichheit und Brüderlichkeit untrennbar mit der Durchsetzung des Geldhandels im 18. Jhdt. verbunden sieht. Er konstatiert, dass Geld zu einer Gleichgültigkeit führte, die im Verkehr der Güter keine Unterscheidungen mehr zuließ. Gleichgültigkeit und Gleichwertigkeit, die jenes Denken in der Sprache in Aussicht stellte, zogen jedoch wiederum Ungleichheiten nach sich, wie sie etwa Goethes Faust reflektiert.153 Die Sekundärdramen greifen jene Überlegungen der Primärdramen auf, diskutieren sie im Kontext der aufklärerischen, ethisch-religiösen Grundsätze und des patriarchalen Besitzanspruchs. Indem sie die Ungleichheiten offenlegen sowie auf die Gewalt verweisen, die diesem Denken von Geld, Wert und Besitz zugrunde liegt, verstören sie die harmonische Engführung von Weisheit, Freundschaft und Reichtum, wie sie Nathan der Weise suggeriert, und machen die Brutalität und Grausamkeit der sexuellen und ökonomischen Verführung Margaretes im Urfaust bewusst. Körperwert und Geldwert Ökonomische und patriarchale Macht erweisen sich in den Sekundärdramen als untrennbar miteinander verbunden. Der Begriff des Besitzes betrifft nie nur Gold und Geld, sondern meint immer auch menschliches Kapital. Es sind die gegenwärtig vielgeforderten und -diskutierten human resources, die auf diese Weise neu lesbar und kritisch hinterfragbar werden. Die Gleichsetzung von Geldwert

151 Vgl.: Pape, Walter: Symbol des Sozialen. Zur Funktion des Geldes in der Komödie des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Deutschen Literatur 13 (1988), S. 45-69, S. 47-52. 152 Vgl.: Ebd., S. 60-64. 153 Vgl.: Brodbeck, Karl-Heinz: Faust und die Sprache des Geldes. Denkformen der Ökonomie – Impulse aus der Goethezeit. Freiburg: Verlag Karl Alber 2014, S. 89.

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und Menschenwert findet in den Sekundärdramen in der Übertragung der Sprache des Finanzmarkts auf das Sprechen über Individuen statt bzw. wird umgekehrt das Geld anthropomorphisiert. Der Mensch ist Arbeitskraft und Zahlenwert, während das Geld die vom Menschen lang angestrebte aber nie realisierte Autonomie für sich beanspruchen kann. Deutlich wird darüber hinaus, dass Patriarchat und ökonomisches System einander bedingen, einander stützen bzw. dass das Geld mittlerweile die Position des pater familias eingenommen hat. Obwohl das Geld gegenwärtig jeden anderen Machthaber verdrängt zu haben scheint, verweisen die Sekundärdramen darauf, dass das Gesetz des Vaters fortwirkt und sich auf ökonomische Voraussetzungen beruft. In Abraumhalde etwa werden gleich zu Beginn des Textes Frau und Kind mit Gold und Besitz gleichgesetzt: „Unsere Frauen und Kinder. Kostbarster Besitz, vergraben wie Gold.“ (AB), was in der Folge in immer neuen Variationen Eingang in den Text findet (z.B.: „Ganze Familien sind dem Ehrgeiz bereits zum Opfer gefallen, er hat neulich erst ein siebenjähriges Kind gefressen, weil Aktien auf einmal nichts mehr wert waren. Von einem Tag auf den andren. Hätte er sein Geld in Kinder angelegt, hätte er sein Kind nicht umbringen müssen.“, AB). Ökonomische Bedingungen erweisen sich jedoch nicht erst in unserer Gegenwart als ausschlaggebend für die Legitimation von Macht, sondern sie sind auch im 18. Jhdt. das zentrale Legitimationsmittel der Hausväter. So hält Jürgen Habermas für das komplexe Verhältnis von Kapital und Macht im 18. Jhdt. fest: „Jedenfalls entspricht die Selbständigkeit des Eigentums auf dem Markte und im eigenen Betrieb die Abhängigkeit der Frau und Kinder vom Familienvater; die Privatautonomie dort setzte sich hier in Autorität um und machte jede prätendierte Freiwilligkeit des Individuums illusorisch.“154 Lessings Nathan ist ein Paradebeispiel für jenen Bürger des 18. Jhdts., der seine Macht und seine Autonomie über Besitz garantiert.155 Die Engführung von Menschenbesitz und Kapital verdichtet sich in Abraumhalde zunehmend. Stehen beide Sphären zu Beginn des Textes oftmals noch nebeneinander, schieben sie sich immer deutlicher ineinander. Mit Beginn des vierten Absatzes, der Nathans Monolog verfremdend zitiert, tritt die Sprache des Finanzmarkts eindeutig in den Vordergrund, überlagert und verdrängt nahezu alle anderen thematischen Schwerpunkte:

154 Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied: Luchterhand 1968, S. 59. 155 Ausführlich geht Jörg Schönert darauf ein in: Der Kaufmann von Jerusalem. Zum Handel mit Kapitalien und Ideen in Lessings „Nathan der Weise“. In: Scientia Poetica 12 (2008), S. 89-113.

214 | D RAMA ALS S TÖRUNG Der Mensch ist auf Geld gefaßt, und was bekommt er? Die Wahrheit! Wahrheit! Und will sie so, so bar, so blank, als ob die Wahrheit Münze wäre! Als ob die Münze Schrift wäre! Als ob Geld Schrift wäre! Als ob der Mensch ohne Kredit auskäme! Und wieso überhaupt ist der Kredit älter als das Geld, hat das Geld mit dem Kredit, den wir einander einräumen, begonnen? Ein ewig währender Kredit, der von Gott kommt und sogar dem Tausch voraufgeht wie die liebe Sonne, denn die Menschen verpfänden sich und ihre Ehre zuerst, noch bevor sie tauschen? Sie verpfänden auch Frau, Kind, Eltern, Schwiegervater, nachdem sie erfolglos getauscht haben, Geld gegen nichts? Da müssen wir die andren auch noch hinterherschicken, ins Nichts, aber so darf man den Kredit nicht verstehen, das hieße, den Kredit überstrapazieren, den Gott uns mit unsren Angehörigen in die Hand gab, höre, Amstetten, dein Herr ist Alleinherr! (AB, Herv. d. Verf.)

Die Überlagerung von Familie und Ware, wie sie im Sekundärdrama vollzogen wird, ist bereits in Lessings Nathan der Weise eingeschrieben. So weist Kittler darauf hin, dass sich Nathan in seiner Funktion als geistiger Vater als Produzent geriert, das Drama also „Menschen als Produkt einer Arbeit und Familie als eine Produktionsstätte“156 begreift. Resümierend hält er fest, dass das Individuum für das Bürgertum zur Investition und zum kulturellen Wert für andere wird und damit jenem Ideal der Autonomie und der Individualität selbst entgegensteht.157 Wenn im gegenwärtigen Finanzsystem das Geld vom Goldwert entkoppelt ist, stellt sich unweigerlich die Frage, mittels welch alternativer Werte diese Deckung erfolgen muss. Wie von Braun konstatiert, wird Geld gegenwärtig nur noch mit dem menschlichen Körper selbst gedeckt. Sie belegt dies nicht nur anhand von Versicherungszahlungen, sondern verweist auch darauf, dass die Millionen von Menschen, die aufgrund der Lehman-Pleite bzw. der folgenden Weltwirtschaftskrise ihre Arbeit, ihre Häuser und ihr Geld verloren haben, diese Form der Gelddeckung deutlich gemacht haben. Ihr „sozialer oder symbolischer Tod“ repräsentiere „die ‚letzte Deckung‘ des Geldes“158. In den Sekundärdramen schieben sich jene patriarchale Verdinglichung, wie sie die Aufklärung und das erstarkende Bürgertum mit sich brachte, und die Bindung von Geld an den menschlichen Körper ineinander. FaustIn and out etwa bringt mit der Negation von Goethes „Nach Golde drängt, / Am Golde hängt / Doch alles! Ach, wir Armen!“ (UF) jene Abkoppelung des Geldes vom Goldwert zur Sprache:

156 Kittler, Friedrich A.: Erziehung ist Offenbarung. Zur Struktur der Familie in Lessings Dramen, S. 125. 157 Vgl.: Ebd., S. 126. 158 Braun, Christina von: Das rote Blut des Kapitals. Die Realitätsmacht der Zeichensysteme Geld und Schrift, S. 100.

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Denn das hat es ja bestellt, das Reale, Waren von realem Wert, na ja, für mich nicht, aber für den Kunden, Geldverkehr und Preisbildung unter kapitalistischen Bedingungen, okay, die gelten für mich und für den Kunden, abgehakt, gut, ist ja jetzt vorbei, gut für Sie, falls Sie bei uns nicht Kunde waren, nein, eigentlich egal, schlecht für mich, die Illusion einer Deckung durch Wertsubstanz: nicht mehr gültig, Gold ist nicht mehr Gold, am Golde hängt, zum Golde drängt nicht mehr alles, obwohl ein paar Irre das nicht glauben wollen und immer noch Gold kaufen, obwohl ein paar Irre immer noch Tips geben, daß man Goldmünzen kaufen soll und sogar wo, besser im Ausland, da dort Steuern geringer!, denn das Gold, das lebt auch ganz allein, das glauben die, welche es immer kaufen, Gold: na ja, immer noch gut, solang keine Wertdeckung und Wertdeckelung damit gemeint ist, solang das Gold sein Solo aufgeigen und aufgieren darf, Gold allein: na gut, aber nichts hängt mehr dran, außer uns, und so sagen wir, und außer uns niemand, und wahrlich wahrlich, so sagen wir, daß kapitalistische, kapitalistische, kapitalistische Ökonomie nur nur nur und ausschließlich als Kreditökonomie und Geld nur als Kreditgeld verstanden werden kann, nicht wahr, Gold abgehakt, Gold, Gold, Gold abgehakt, nicht wahr, die Deppen kaufen und kaufen immer noch, mehr denn je, aber es ist längst abgehakt, gut, es gibt noch was, wer hat noch nicht, wer will noch was?, wer hat einen Tieflaster dafür?, Gold kann man kaufen oder nicht kaufen, aber es ist abgehakt, kein Thema mehr, wahrlich, es ist doch so einfach, auch wenn Sies nicht glauben: Das Begehren des Kindes, das ein von mir gepacktes Paket öffnet, wäre erloschen, jedes Begehren erlischt, sobald dieses Paket geöffnet ist. Und Gold erlischt, sobald niemand mehr dran hängt. Der Wert von Wertungen, äh, von Währungen hängt nicht mehr am Gold, aber Sie tun es noch! (FAU, Herv. d. Verf.)

Der Ausruf „Ach, wir Armen!“ (UF) durchzieht leitmotivisch den Text und stellt damit in unterschiedlichen Kontexten die Verbindung zu ökonomischen Aspekten her. Wenn im Text von prekären Lebenssituationen die Rede ist bzw. wenn auf Selbstmorde aufgrund von Vermögensverlusten angespielt wird, macht das Sekundärdrama einmal mehr deutlich, dass einzig der menschliche Körper den Wert des Geldes deckt und als solcher nicht nur gebraucht, sondern auch verbraucht und entsorgt wird. FaustIn and out ist ebenso wie Abraumhalde deutlich durch die Sprache des Finanzmarkts geprägt und lässt damit den Eindruck entstehen, dass westliche Episteme untrennbar mit ökonomischen Systemen verbunden sind. Dass das Geld an die Stelle früherer Machthaber bzw. Ideologien tritt, markieren die Sekundärdramen, indem Begriffe wie „Gott“, „Herr“, „Vater“ etc. sukzessive durch „Geld“ ersetzt werden, aber auch Sprichwörter in verfremdeter Form wiedergegeben werden (aus „Ehrlich währt am längsten“ wird im Sekundärdrama „Gold währt am längsten?“, FAU). Schließlich greift Jelinek auch das Motiv der

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Wette aus Faust I auf und verbindet es mit der gegenwärtigen Wirtschaftskrise. Kann der Abschluss der Wette bei Goethe als Vertrauen auf eine (positive) Entwicklung sowie auf die Einlösung eines Versprechens in der Zukunft gedeutet werden, wird im Sekundärdrama nicht nur jedes Fort- und Weiterkommen negiert, sondern es wird dem Menschen auch der letzte Wert abgesprochen, der mit solch einer Wette verbunden sein könnte. Die Betonung des sprechenden Ichs, dass auf die eigene Zukunft niemand eine Wette abschließen würde, da es keine Zukunft gibt, wird im Text mit Positionen Joseph Vogls kombiniert, wie er sie in seinem Essay Die voranlaufende Verpfändung der Zeit (2009) formuliert. Vogl hält fest, dass das gegenwärtig sich wandelnde Finanzsystem auch verändernd auf Lebenskonzepte einwirkt. War Spekulation bislang mit einer Wette auf die Entwicklung der Dinge, also auf die Zukunft, vergleichbar, ist aktuell ein Gefühl der Unkontrollierbarkeit und Unvorhersehbarkeit dieser Entwicklungen eingetreten, das sich auch auf die Gegenwart überträgt. Die Unsicherheit der Zukunft unterhöhlt das Sicherheitsgefühl der Gegenwart. Man weiß nicht, wie sich Werte zukünftig entwickeln werden, man weiß aber auch nicht mehr, welchen Wert Dinge und Handlungen in der Gegenwart besitzen. Tatsächlicher Wert und Preis wirken völlig losgelöst voneinander.159 FaustIn and out bringt den Essay Vogls so auch mit der Unmöglichkeit einer positiven Zukunftsvision in Zusammenhang: nichts ist mehr von Wert (Beruf, Schönheit, Leben etc.) und daher kann auch nicht mehr auf die Zukunft spekuliert bzw. gewettet werden. Der Text bezieht sich aber auch darauf, wenn das nicht mehr länger nachvollziehbare Verhältnis von Wert und Preis thematisiert wird. Orientiert am Urfaust wird ähnlich wie in Abraumhalde deutlich, dass der Mensch nur noch in seiner Funktion der Gelddeckung von Relevanz ist, doch auch diese Bedeutung scheint ihm abhanden zu kommen, da auch sein Wert nicht mehr klar bestimmt und festgelegt werden kann: „Ich habe keinen Wert. Kein Warentermingeschäft mit mir zu machen, hab weder Waren noch Termine. Bin weder Fräulein noch schön. Überhaupt kein Geschäft mit mir zu machen.“ (FAU, Herv. d. Verf.) Daran anschließend fokussiert FaustIn and out v.a. auf den weiblichen Körper als Ware („Ich wurde bestellt und habe den Käufer dann enttäuscht. Er gibt mich gerade wieder zurück.“, FAU). Das Schmuck-Motiv aus Goethes Urfaust aufgreifend, entlarvt das Sekundärdrama den Status der Frau als käufliches Objekt, wie er ihr im Primärdrama zukommt. Damit verweist das Sekundärdrama auf sozialgeschichtliche Entwicklungen. Wie Schabert und Schaff herausarbeiten, wurde die Unterdrückung der Frau im 18. Jhdt. zentral über ökonomische

159 Vgl.: Vogl, Joseph: Die voranlaufende Verpfändung der Zeit. In: Süddeutsche Zeitung, 17.10.2009.

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Prozesse durchgesetzt. Sie konstatieren, dass jene Frauen, die sich der harten, dualistischen Grenzziehung in der Geschlechterordnung beugten, mit schmeichelnden Worten, materiellen Gütern und dem Versprechen von Schutz und Fürsorge durch den Mann belohnt wurden. All jene jedoch, die sich dieser Ordnung widersetzten, verbal bedroht wurden und mit gesellschaftlichen und ökonomischen Sanktionen rechnen mussten.160 Diese Praxis von Belohnung oder Sanktionierung, die sich so weit etabliert hat, dass sie auch gegenwärtig noch Anwendung findet, wird im Sekundärdrama bewusst gemacht. Auf der einen Seite wird der gesellschaftliche Hohn über Frauen zur Sprache gebracht, die in ihrer Emanzipation scheitern, Job und Existenz verlieren. Auf der anderen Seite wird die Infantilisierung der Frau, die auf Schutz und Fürsorge des Mannes angewiesen ist, bei gleichzeitiger sexueller Aufladung ins Extreme gesteigert, indem immer wieder deutlich auf den Inzestfall von Amstetten angespielt wird: Schenkst mir die Ohrringe dafür? Kann ich mir was aussuchen? Nein, ich kann es mir nicht aussuchen. Was hilft mir Schönheit, junges Blut? Was hilft mir mein Blut? Immer wenn ich es brauche, ist es nicht da. Nur unterm Messer, unter der Rasierklinge, dort kommt es dann. Was hilft mir mein Atem? Immer wenn ich ihn brauche, ist er nicht da. Was hilft mir ein Schmuck, was hilft mir meine Jugend, was hilft mir? Immer wenn ich sie brauche, sind sie nicht da. Ich habe anderes zu tun als von dir gefickt zu werden, Papa. (FAU)

Auf die in westlichen Kulturen weit zurückreichende Verbindung von Geldwert und weiblichem Körper, die nicht erst mit der Aufklärung hergestellt, sondern dort lediglich gefestigt wird, macht FaustIn and out mittels der Einschreibung des Mythos der Danaë aufmerksam. Zeus, der nicht akzeptieren will, die in den Turm eingesperrte Danaë nicht verführen zu können, und der sich schließlich in einen Goldregen verwandelt, um auf diese Weise in den Turm einzudringen, Danaë zu entjungfern und zu schwängern, ist Inbegriff der Macht des Geldes. Danaë wiederum wurde zur Metapher für Vergewaltigung, für Prostitution und für die Käuflichkeit des weiblichen Körpers. Wie von Braun herausarbeitet, transportiert Geld aufgrund seines kultischen Ursprungs immer auch Logiken der Fruchtbarkeit und ist daher bereits eng verbunden mit Prostitution und Reproduktion. Die Frau als lebende Münze scheint gegenwärtig ebenso befreit wie das Geld selbst: sie ist frei verfügbar, zirkuliert weltweit am freien Markt, ohne an einen fixen Wert gebunden zu sein. Am konkreten Beispiel des Danaë-Mythos exemplifiziert von Braun, dass Geld mittler-

160 Vgl.: Schabert, Ina / Schaff, Barbara: Einleitung, S. 13.

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weile die „natürliche“ Funktion der Fortpflanzung übernommen hat, Geld im 21. Jhdt. Menschen produziert und den Körper zur Handelsware macht.161 Jeglichem Wert beraubt, wird die Frau bzw. werden all jene, die zur Handelsware geworden sind, zu Abfall erklärt, das machen die Sekundärdramen bewusst. Das kapitalistische System lässt Berge von Menschenmüll entstehen, es sind Abraumhalden und Kellerverliese auf bzw. in denen diese Ausgesonderten landen. Göttliches Geld Die Verbindung von ökonomischem Ausschluss und der Verdrängung wertloser Menschenkörper in Keller, Verliese und Gräber bzw. deren völlige Vernichtung wird in den Sekundärdramen durch einen permanenten Wechsel der Sprache des Finanzmarkts und der TäterInnen-Sprache des Holocausts evident. Die Sekundärdramen nehmen den symbolischen Tod wörtlich, den viele Menschen durch die gegenwärtige Wirtschaftslage erleiden müssen, und verweisen darauf, dass die Bindung von Geldwert an den menschlichen Körper nicht nur zum sozialen, sondern auch zum tatsächlichen Tod führt. Das Ausschließende der Geldwirtschaft wird bereits in den Primärdramen deutlich sichtbar: sind es im Urfaust Margarete und ihre Familie, die im Zuge der Wette geopfert werden müssen, wird in Nathan der Weise mit Nathan ein Vater installiert, der Gemeinschaft konstituiert und schließlich alle anderen verdrängt, die sich ihm nicht zu- bzw. unterordnen lassen. Wie Kittler feststellt, negiert die Figur des Nathan paradoxerweise jene Form der Toleranz, die er selbst verkörpert: „Während das Tauschsystem, das Kultur ist, die Exogamie, d.h. die Mehrheit der Familien und Väter impliziert, ist in Lessings Dramen alles jenseits der einen Familie afamilial und jeder, der das Singularetantum Vater nicht anerkennt […], aufseiten des Abfalls […].“162 Dieses Exklusionsverfahren zeigt sich bei der Ringparabel in besonderer Weise, wenn nämlich die vermeintliche Vermehrung der Ringe nicht zu einer Pluralisierung führt, sondern am Ende auf die Konstitution einer großen Familie abzielt. In Abraumhalde verdichten sich Finanzmarktsprache und Forderungen des Ausschlusses im Verlauf des Textes zunehmend, so kreisen die Absätze 4-6, 8-9 und 12-13 zentral um jenen Komplex. Von der Vernichtung im Privaten durch patriarchale Familienväter ausgehend, assoziiert der Text die Vernichtung des Anderen in immer größeren Dimensionen, bis schließlich im 13. Absatz, der mit

161 Vgl.: Braun, Christina von: Das rote Blut des Kapitals. Die Realitätsmacht der Zeichensysteme Geld und Schrift, S. 105-107. 162 Kittler, Friedrich A.: Erziehung ist Offenbarung. Zur Struktur der Familie in Lessings Dramen, S. 134.

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der Frage „Haben Sie nicht etwas von Toleranz gesagt?“ (AB) einsetzt, Gold und Geld in Fantasien von Genozid und der völligen Vernichtung der Menschheit kulminieren: Das kostet was, Opfer zu bringen. Im Ausland kostet es noch mehr, Menschenopfer zu bringen. Das geht in die Millionen, in die Milliarden! Vielleicht können wir einen Teil dieser Kosten in Menschenopfern abarbeiten, ich meine mit Menschenopfern. Wir können ja auch hier, im Inland, Menschenopfer bringen. Na, solang ich es nicht selber bin, der geopfert wird, ist das total okay. Die Gesellschaft wird besser werden, wenn man Menschenopfer bringt, und das ist ja auch unser Ziel, das Ziel ist einfach zu definieren: Es sollen weniger dort sein, wo ich bin, aber die richtigen sollen weniger oder ganz weg sein. Ich bin selber noch ganz weg von diesem Plan. Denn wir bauen unter diesen schweren Kosten eine neue Gesellschaft auf, wo noch keine neue war, und wir bauen eine Wohnung dort, wo noch nie eine war, im Keller des Gartens, dort bauen wir eine neue Gesellschaft, wo noch die alte war, die aber nichts getaugt hat. Wir bauen unterm Haus den Keller aus. (AB)

Michel Serres widmet sich in Der Parasit dem Zusammenhang von Tausch, Geld und Gewalt. Geldhandel beschreibt Serres als Handlung (frz. „exiger“), etymologisch weist er nach, dass diese Handlung (lat. „exigere“ = hinaustreiben, verjagen, ausschließen) immer auch einen gewaltsamen Ausschluss meint: „Es ist nicht uninteressant, sich zu vergegenwärtigen, was Handeln, Aktion, für unsere unmittelbaren Vorfahren war: Reinigung, Verbannung, Enthebung, Ausstoßung, Eliminierung.“163 Er selbst verbindet in der Folge Handel und Handlung mit dem Theater, das in seinen frühen Ausformungen nichts anderes exemplifiziert als die Austreibung des Sündenbocks.164 Ausgehend von dieser Perspektive stellen sich die Sekundärdramen auch in der Verweigerung der Handlung diesem Ausschließenden von Tausch- und Geldhandel entgegen. Sie docken durch die Primärdramen an dramatische Handlung an, verweigern jedoch, indem sie in diese Texte eindringen und sie aufbrechen, jene Handlung, der die Vertreibung des Opfers immer schon inhärent ist. Die vielstimmigen Texte der Sekundärdramen lassen das Opfer nicht mehr eindeutig bestimmen, sie machen die Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und dem Anderen undeutlich. In den Sekundärdramen wechseln die Positionen permanent, sodass der Austreiber im nächsten Moment bereits der Vertriebene sein kann.

163 Serres, Michel: Der Parasit, S. 225. 164 Vgl.: Ebd., S. 225.

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Mit dem Verweis auf das lat. Wort „exigere“ wird darüber hinaus nachvollziehbar, dass Austreibung und Eintreibung, Ausschluss und Einschluss nicht losgelöst voneinander existieren können (lat. „exigere“ kann auch mit „eintreiben“, „einfordern“, „einkassieren“ übersetzt werden), wie es beide Sekundärdramen bewusst machen. Es ist bei FaustIn and out nicht ein „In or Out“, sondern ein „In and Out“, das simple Grenzziehung und Dichotomien nicht mehr zulässt und die RezipientInnen permanent herausfordert. Wie Serres festhält, fallen Steuereintreiber und der, der die Verbannung ausspricht, in eins.165 Waren abzusetzen ist damit, folgt man Serres, immer eine Form der Ein- und Austreibung: „Exigere heißt auch diese Waren absetzen, abfließen heißt nichts anderes: der Fluß geht nach draußen, andere Metaphern haben wir nicht. Wäre demnach Verkaufen nur eine andere Form von Ausschluß? Tauscht man etwa nur, was man auch verjagt, vertreibt?“166 In den Sekundärdramen sind die Eingeschlossenen immer auch die Ausgeschlossenen, damit lenken sie den Fokus auf das Verhältnis von Inklusion und Exklusion und machen bewusst, dass es ein komplexeres ist, nicht als ein simples Entweder-Oder begriffen werden kann, sondern immer unmöglich fixierbare Positionen betrifft. Die Vertriebenen bzw. das Opfer verweisen schließlich auf die religiöse Dimension von Gold, Geld und Tausch, wie sie beide Sekundärdramen deutlich betonen. Religiöse Floskeln und die Sprache des Geldes werden in Abraumhalde und FaustIn and out enggeführt („Der Weg, die Wahrheit und das Leben ist Gott, das heißt der vermehrte Tausch, der angereicherte Tausch.“, AB), bis schließlich Gott und Geld eins werden, Geld und Besitz als neuer, eigentlicher Gott angebetet werden. Die Ersetzung der Religion durch Geld wird bereits für das 18. Jhdt. konstatiert.167 Hat sich der aufgeklärte, autonome Bürger zwar erfolgreich von Gott emanzipiert, baut diese Freiheit v.a. auf ökonomische Sicherheit auf und bindet den Bürger damit an das Geld, macht seine vermeintliche Autonomie von ökonomischen Bedingungen abhängig. Die Sekundärdramen entlarven jene Verklärung von Gold und Geld, wie sie die Aufklärung propagierte, und verweisen auf die seit 2008 bestimmende Weltwirtschaftskrise, die gezeigt hat, dass die vermeintliche Freiheit immer auch Knechtschaft bedeutet. Serres geht in seiner Studie auf jene Verbindung von Religion und Geld ein. Am Beispiel des frz. „à prix sacrifiés“ (dt.: zu Opferpreisen, was in etwa dem deutschen Begriff „Schleuderpreis“ entspricht) exemplifiziert er: „Wenn das stimmt,

165 Vgl.: Ebd., S. 225. 166 Ebd., S. 226. 167 Vgl.: Luhmann, Niklas: Knappheit, Geld und bürgerliche Gesellschaft. In: Jahrbuch für Sozialwissenschaft 23 (1972), S. 186-210, S. 191.

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ist das Geld Ersatz für den Geopferten, ist es die Spur des Ausgeschlossenen, Symbol des Verbannten, Zeichen des Opfers. Das Geld ist religiös, es ist Gott; […].“168 Den Zusammenhang von Inklusion und Exklusion, Verbannung und religiösem Opfer unterstreicht auch Christina von Braun. Für den Finanzkapitalismus hält sie fest, dass es nicht um die Ausbeutung von Arbeitskraft, sondern um die Aussonderung von Menschen gehe.169 Sie arbeitet heraus, dass jene religiöse Dimension des Geldes untrennbar mit gegenwärtigen Entwicklungen verbunden ist, die Geldwert und Menschenwert aneinander koppeln. Geld schließlich bewahre symbolisch das kultische Opfer: „Der Wert des Geldes, das durch den Opferkult beglaubigt wird, beruht also letztlich auf denen, die sich am wenigsten wehren können, dem Gedanken des Menschenopfers.“170 Das symbolische Opfer, das jedem Geldhandel innewohnt, wird in den Sekundärdramen wieder zum realen Opfer. Auf diese Weise machen sie auf die Geopferten gegenwärtiger (neo-)kapitalistischer Systeme aufmerksam, die aus dem Bereich des Sichtbaren verdrängt wurden. Die Sekundärdramen legen offen, dass das Geld zwar seine Materialität verloren hat, dass die Deckung jedoch nach wie vor nicht immateriell ist, indem sie die Materialität der Körper der Geopferten wieder wahrnehmbar werden lassen.

168 Ebd., S. 226. 169 Vgl.: Braun, Christina von: Das rote Blut des Kapitals. Die Realitätsmacht der Zeichensysteme Geld und Schrift, S. 100. 170 Ebd., S. 103.

Störungen des Literatur- und Theaterbetriebs

D ER LITERARISCHE K ANON , DAS WEIBLICHE V ERDRÄNGTE

D RAMA

UND DAS

Fragmentarische Strukturen und Abbrüche verweisen auf das, was nicht da ist, und ermöglichen die Rückkehr des Verdrängten in den sichtbaren Bereich.1 Wenn Jelinek mit der Wahl ihrer Primärdramen auf Lessing und Goethe rekurriert, erinnert sie damit die Epoche der Aufklärung, des Sturm-und-Drang und der Klassik und die mit diesen Epochen einhergehende Verklärung humanistischer Ideale, die das handelnde Subjekt / Mann absolut setzt. Dass mit diesen Werten immer die Erzeugung und Ausgrenzung eines Anderen verbunden ist, weist Michael Hofmann anschaulich nach, wenn er konstatiert, dass das Modell des Humanums ein Herrschaftsdenken impliziert, das „nicht-europäische Völker, Frauen, aber auch ‚Verrückte‘, Kranke, Deliquenten und allgemein von Normen abweichende Menschen diskriminiert und damit der Behandlung von Klinikpersonal, Gefängniswärtern und Sondereinsatzkommandos überantwortet.“2 Nicht nur ist der leitende Subjektbegriff der Aufklärung, des Sturm-undDrang und der Klassik exkludierend, auch der literarische Kanon, den die Sekundärdramen aufgrund der Wahl dieser spezifischen Dramen als Primärdramen deutlich thematisieren, ist v.a. über Ausschlüsse definiert. Das Wort Kanon bedeutet ursprünglich „Richtschnur“ und „Messrute“. Der Etymologie entspre1

Vgl.: Lehmann, Hans-Thies: Das Politische Schreiben. Essays zu Theatertexten, S. 14.

2

Hofmann, Michael: Die Wege der Humanität. Krise und Erneuerung des HumanitätsParadigmas im Werk Goethes und Schillers. In: Dörr, Volker C. / Hofmann, Michael (Hg.): „Verteufelt human“? Zum Humanitätsideal der Weimarer Klassik. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2008 (= Philologische Studien und Quellen 209), S. 141-159, S. 143.

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chend handelt es sich bei Kanones um eine hierarchisch differenzierte Zusammenstellung jener AutorInnen und Werke, die unter einer weit größeren Anzahl bestehender Texte und KünstlerInnen ausgewählt wurden, da sie für würdig befunden wurden, als Beiträge bzw. BeiträgerInnen zur Nationalliteratur ins gesellschaftliche Gedächtnis aufgenommen zu werden. Der literarische Kanon ist also per definitionem selektiv, dass er darüber hinaus immer hierarchisch strukturiert ist, zeigen Unterscheidungen wie „Spitzenkanon“, „Umgebungskanon“ usw. Grabes und Sichert beschreiben Kanones als Ausdruck und Durchsetzungsform nationaler, rassistischer und geschlechterspezifischer Überlegenheitsattitüden,3 sie betreffen somit jene Ausschlusskriterien, die auch für die Zentralsetzung des männlichen Individuums grundlegend sind. Der literarische Kanon ist also Wertesystem, gibt Maßstäbe und Normen vor und entscheidet darüber, was für eine bestimmte Epoche und für eine bestimmte Kultur als besonders wertvoll gilt. Dabei unterliegt er allgemeinen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, die festlegen, welche Werte für eine Kultur zentral sind. Dies erklärt auch, wieso der Kanon wandelbar ist und einige Werke und AutorInnen im Laufe der Zeit herausfallen, während andere neu aufgenommen werden. Die feministische Forschung der 1980er Jahre hat eindringlich auf die Absenz weiblicher AutorInnen in der traditionellen Literaturgeschichte und im literarischen Kanon aufmerksam gemacht und darauf hingewiesen, dass der westliche Kanon aus weißen, heterosexuellen Männern besteht. Da der Kanon gemacht ist, ist er untrennbar mit Macht verbunden, darauf verweist etwa Sylvester-Habenicht. Besonders für die Unterscheidung zwischen Trivial- und Hochkultur unterstreicht sie, dass Kanonisierungen ein Mittel sind, um Herrschaft auszuüben. Für Schiller und Goethe, die ihre Stellung als „Klassiker“ in singulärer Weise gefördert haben, hält sie fest: „In ihrer Korrespondenz führen die Weimarer Klassiker, ausgestattet mit der höchsten kulturellen Autorität, einen Herrschaftsdiskurs: Er legt fest, was als Werk Geltung beanspruchen darf; er bestimmt auch die Ausgrenzungsregeln. Seine Dauer ist gesichert durch die Tradition. Die Institution Kunst ist also mächtig.“4 Genau hier setzen Jelineks Sekundärdramen an, wenn sie Leerstellen in den kanonisierten Dramen erzeugen, um damit Platz zu schaffen für all jene Stim-

3

Vgl.: Grabes, Herbert / Sichert, Margit: Literaturgeschichte, Kanon und nationale Identität. In: Erll, Astrid / Nünning, Ansgar (Hg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Berlin: De Gruyter 2005, S. 297-314, S. 304.

4

Sylvester-Habenicht, Erdmute: Kanon und Geschlecht. Eine Re-Inspektion aktueller Literaturgeschichtsschreibung aus feministisch-genderorientierter Sicht. Sulzbach: Ulrike Helmer Verlag 2009, S. 74.

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men, die von den Primärdramen getilgt wurden. Wenn Jelinek hinsichtlich der Sekundärdramen davon spricht, den „Menschenmüll“ zu „beseitigen“, „den der Klassiker hinterlassen hat“ (BÜ), dann wird klar, dass das Sekundärdrama den Ausschluss als gewaltsamen Akt begreift, ähnlich wie es Primavesi mit Benjamin grundsätzlich für abgeschlossene Kunstwerke ausführt.5 Besonders intensiv thematisieren die Texte den Ausschluss der Frau aus der kulturellen Sphäre, verweisen darüber hinaus aber darauf, dass dieser Ausschluss auch andere betrifft wie etwa Minderheiten, also all jene, die nicht in der geltenden Ordnung aufgehen. Geht man davon aus, dass mit dem In-Beziehung-Setzen von Sekundärem und Drama die Kategorien selbst sichtbar werden, drängt sich die Frage auf, inwieweit das Drama an Männlichkeit gebunden ist, während die Frau als Sekundäres in Opposition zu diesem steht und davon ausgeschlossen bleibt. Wie Annette Keck und Manuela Günter nachweisen, scheint „die ‚Königsgattung‘ des Dramas [...] genuin an männliche Autorschaft gebunden“6 zu sein. Bereits die Unterordnung der Sekundärdramen unter die Primärdramen als auch die Selbstbeschreibung als „Sekundärkünstlerin“ verweisen auf eine Unterwerfungsgeste, die von Frauen in patriarchalen Systemen gefordert wird. Die Hervorhebung der Vergänglichkeit, die Anreicherung der Sekundärdramen mit Trivialem und die Betonung der Reproduktion zitieren darüber hinaus Bewertungskategorien, die „weibliches“ Schreiben gegenüber der „männlichen“, „originären“ Kunstproduktion als dilettantisch abwerten und stellen die Sekundärdramen damit spielerisch in eine Tradition „weiblichen“ Schreibens.7 Diese Positionierung wird in den zu den Sekundärdramen entstandenen Interviews mit der Autorin deutlich betont, wo sie dezidiert hervorhebt, dass mit Primär- und Sekundärdrama auch eine Gegenüberstellung zwischen Mann und Frau erfolgt: „Wenn ich also in Faust Den Mann in die Waden beisse [sic], um beim Hund-Beispiel zu bleiben, dann tue ich das nicht als Neutrum, sondern als Die Frau […].“ (BÜ) Mit der Herausstellung der Vergänglichkeit wird darüber hinaus darauf verwiesen, dass die Ewig-Gültigkeit kanonisierter Werke immer nur eine scheinba-

5

Vgl.: Primavesi, Patrick: Tragödie, Fragment, Theater, S. 152.

6

Keck, Annette / Günter, Manuela: Weibliche Autorschaft und Literaturgeschichte: Ein Forschungsbericht. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 2/2001, S. 201-233, S. 210.

7

Vgl.: Helduser, Urte: Generativität, Genie und Geschlecht. Historische Diskurse über intellektuelle Produktivität. In: Bidwell-Steiner, Marlen / Wozonig, Karin S. (Hg.): Gender & Generation. Innsbruck: StudienVerlag 2005 (= Gendered Subjects. Reihe des Referats Genderforschung der Universität Wien 2), S. 242-257, S. 244-245.

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re ist. Die immense Bedeutung politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen für die Bewertung von Literatur zeigt sich anhand der ausgewählten Primärdramen überdeutlich. Lessings Nathan der Weise etwa galt im 19. Jhdt. als eines der zentralen Dramen deutscher Sprache und Nathan neben Faust als Idealbild des Deutschen.8 In der Zeit des Nationalsozialismus wird Nathan der Weise aus dem Kanon getilgt, nicht gespielt und darf in Schulen nicht gelesen werden, um nach 1945 wieder als eines der deutschsprachigen Dramen in den Kanon der BRD und DDR aufgenommen zu werden.9 Anders bei Goethes Faust: im 19. Jhdt. zu dem deutschen Nationaldrama erhoben, bleibt das Drama auch in der Zeit des Nationalsozialismus kanonisch und bildet schließlich das zentralste Werk sowohl der BRD als auch der DDR, jedoch bei jeweils sehr divergierender Deutung.10 Die Intention, mit dem Sekundärdrama die Mechanismen des männlich dominierten Kunstbetriebs sichtbar zu machen und nachhaltig zu stören, wird in den Paratexten deutlich ausgedrückt, wo die Primärdramen als „eherne Blöcke männlichen Schaffens“ beschrieben werden, denen die weibliche Künstlerin nicht nahe kommen, sondern die sie nur „umkreisen“ kann (vgl. BÜ, VO). Anders als in den frühen theaterästhetischen Essays, wo Jelinek von einer gewaltsamen Zerstörung des Vorhandenen / des Alten spricht,11 zielt das Sekundärdrama nicht mehr auf Zerstörung, sondern auf Aufstörung und Verstörung ab. Darauf verweisen nicht nur Formulierungen wie das „Aufnorden“ und „Blondieren“ (vgl. AN) der Primärdramen oder auch das „Duftmarken setzen“ bzw. das mit „schwachen Fingernägeln kratzen“ an oder mit einem „Daunenkissen einschlagen“ auf Lessings und Goethes Dramen, was die Primärdramen zwar schädigt und stört, aber nicht zerstört (vgl. BÜ), sondern auch die Forderung des gemeinsamen Präsent-Werdens im Moment der Inszenierung zeigt, dass die Referenztexte nicht zerstört werden (können), sondern vorhanden bleiben.

8

So etwa schreibt der Literaturhistoriker Georg Gottfried Gervinus 1835 über Nathan der Weise: „[...] das Buch [ist] neben Goethe’s Faust das eigentümlichste und deutscheste, was unsere Poesie geschaffen hat.“ (zit. n.: Düffel, Peter von: Erläuterungen und Dokumente: Gotthold Ephraim Lessing Nathan der Weise. Stuttgart: Reclam 1972, S. 136.)

9

Vgl. diesbezüglich z.B.: Dessau, Bettina: Nathans Rückkehr. Studien zur Rezeptionsgeschichte seit 1945.

10 Vgl. diesbezüglich z.B.: Jasper, Willi: Faust und die Deutschen. Berlin: Rowohlt 1998, S. 99-260. 11 Vgl. z.B. den Essay: Jelinek, Elfriede: Ich schlage sozusagen mit der Axt drein.

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Erdmute Sylvester-Habenicht weist in ihrer Studie Kanon und Geschlecht. Eine Re-Inspektion aktueller Literaturgeschichtsschreibung aus feministischgenderorientierter Sicht ausführlich nach, dass Frauen in der Literaturgeschichte kein Ort zuzustehen scheint12 und formuliert damit eine These, die in Jelineks literarischen Texten seit Beginn ihres Schreibens reflektiert wird. Bereits der frühe Theatertext Clara S. (1981) thematisiert den Ausschluss der Frau aus der Sphäre der Kunst, der seither sowohl in ihren Romanen, in anderen Theatertexten, aber auch in essayistischen Beiträgen immer wieder behandelt wird. Auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Jelineks Werk wurde der Fokus früh auf die Thematisierung dieses Ausschlusses gelegt, seit den 1980er Jahren sind zahlreiche Forschungsarbeiten enstanden, die hier einen fundierten Einblick geben.13 Sylvester-Habenicht konstatiert, dass das Weibliche zugunsten männlicher Selbstkonstitution geopfert werden muss, wobei damit nicht nur der männliche Held des Textes angesprochen ist, sondern diese Opferung betrifft auch den Schreibenden, „genialen Autor“. Für das kulturelle Gedächtnis bedeute dies, dass der Autor in die Literaturgeschichte Eingang findet, während die Frau, die meist besetzt ist als Hure oder Heilige, aus dem Gedächtnis getilgt wird.14 Das Konzept des Sekundärdramas macht die Tilgung der Frau aus dem kulturellen Gedächtnis bewusst, indem es freiwillig die Position des Vergänglichen einnimmt („Nichts davon muß ewig halten. Nichts davon soll ewig halten. Nichts brauchen die Klassiker weniger, als von mir gehalten oder unterhalten zu wer-

12 Vgl.: Sylvester-Habenicht, Erdmute: Kanon und Geschlecht. Eine Re-Inspektion aktueller Literaturgeschichtsschreibung aus feministisch-genderorientierter Sicht, S. 11. 13 Vgl. bspw.: Meyer, Eva: Den Vampir schreiben. In: Dramaturgische Gesellschaft Berlin (Hg.): Frauen im Theater (FiT). Dokumentation 1986/1987. Berlin: Eigenverlag 1988, S. 76-85; Gannon, Caitlin: „Clara S.“ and her „Men-tors“: the annihilation of the female artist. In: New German Review 10/1994, S. 149-156; Tunner, Erika: Dem Starken die Herrschaft, dem Schwachen das Sklaventum? Eine Lesart des Stückes „Clara S.“ In: Rétif, Françoise / Sonnleitner, Johann (Hg.): Elfriede Jelinek. Sprache, Geschlecht und Herrschaft. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 71-77; Sarca, Maria Ioana: „Natur der Frauen, Natur der Männer“. Zur Geschlechterposition in Elfriede Jelineks Theaterstücken „Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften“ und „Krankheit oder Moderne Frauen“. In: Bombitz, Attila u.a. (Hg.): Österreichische Literatur ohne Grenzen. Gedenkschrift für Wendelin Schmidt-Dengler. Wien: Praesens Verlag 2009, S. 425-432. 14 Vgl.: Sylvester-Habenicht, Erdmute: Kanon und Geschlecht. Eine Re-Inspektion aktueller Literaturgeschichtsschreibung aus feministisch-genderorientierter Sicht, S. 12.

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den.“, AN) und sich damit klar von der Dauerhaftigkeit der Primärdramen distanziert und abgrenzt („denn die Klassiker schaut man sich schließlich immer an und wird man sich immer anschauen“, AN). Darüber hinaus macht das Sekundärdrama sichtbar, dass Kanonisierungsprozesse Fragen des Gedächtnisses berühren. Sie zeigen, dass nur jene Stimmen gehört werden, die Eingang gefunden haben in den Kanon. All jene, die davon ausgeschlossen und verdrängt wurden, bleiben diesem Status verhaftet. Der Verdrängungsmechanismus hat dazu geführt, dass diese vielen unterdrückten Stimmen auch heute unhörbar sind. Ausschluss aus dem Kanon und Ausschluss aus dem kulturellen Gedächtnis sind also eng miteinander verbunden. Nur die Problematisierung der Einheitlichkeit kann dazu führen, dass die Vielheit, die dahinter verborgen liegt, evident wird.15 Bei Jelineks Sekundärdramen geht es aber nicht bloß um das Aufbrechen vorhandener Kanones und um eine Kritik am offiziellen Gedächtnis, sondern die Texte arbeiten selbst auch an der Konstruktion eines Gedächtnisraums, der jedoch keinem linearen Zeitverständnis folgt, sondern der dem Denken der Koexistenz bzw. Benjamins räumlicher Geschichtskonzeption verpflichtet ist und der neue Perspektiven, Blicke und Wahrnehmungen ermöglicht, ohne eine verbindliche Sichtweise vorzugeben. Indem das Sekundärdrama die Mechanismen, die zum Ausschluss aus dem Kanon führen, in sich einschreibt, macht es bewusst, dass der literarische Kanon nicht „natürlich“ entsteht. Diese Konstruiertheit wird besonders deutlich, wenn in Abraumhalde die Gattung des „Bürgerlichen Trauerspiels“ erinnert wird, die literaturwissenschaftlich auch als „Pseudo-Gattung“ bezeichnet wird, da sich bei den Dramentexten, die dieser Gattung zugerechnet werden, nur schwer gemeinsame Merkmale herausarbeiten lassen.16 Auch mit dem Rückgriff auf Goethes Urfaust werden Kanonisierungsprozesse offengelegt, indem gerade jener Text als Primärdrama herangezogen wird, der zugunsten des späteren Faust I von Goethe aufgegeben wurde. Wenn der Kanon nichts „Natürliches“ ist, sondern etwas Konstruiertes, kann davon ausgegangen werden, dass er gesellschaftliche Machtverhältnisse und Normvorstellungen widerspiegelt. Christina von Braun beschreibt diesen Ausschluss ausführlich, der mit Kanonisierungsprozessen einhergeht. Sie konstatiert,

15 Vgl.: Lachmann, Renate: Gedächtnis und Literatur, S. 10-11. 16 Vgl.: Pailer, Gaby: Gattungskanon, Gegenkanon und „weiblicher“ Subkanon. Zum bürgerlichen Trauerspiel des 18. Jahrhunderts. In: Heydebrand, Renate von (Hg.): Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildung. Stuttgart: Metzler 1998 (= Germanistische-Symposien-Berichtsbände 19), S. 365-382, S. 366.

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dass der Kanon die Anomalie, das Fremde / Andere braucht, das im Gegensatz zu ihm steht: „Vergleichbar der Reinheit, die nicht positiv, sondern nur über das Unreine definiert werden kann, bedarf auch die Norm des Nicht-Integrierbaren, um Grenzen des Eigenen abzustecken. Eben diese Norm erfüllt die Andersheit des Frauenkörpers.“17 Das Sekundärdrama betont die eigene Andersartigkeit und nimmt damit bewusst die Position des Anormalen, des Nicht-Integrierbaren ein. Nicht nur die gewählte Gattungsbezeichnung schließt die Texte in ihrer Unmöglichkeit der Zuordnung zum Drama aus dem dramatischen Kanon aus, auch die gemeinsame Inszenierung lässt das Sekundärdrama zunächst als das Andere, als das Nicht-Integrierbare in Lessings / Goethes Text erscheinen, indem es deren dramatischer Form und deren Inhalten entgegensteht. Wenn von Braun die Grenzziehung betont, die Kanonisierungsprozesse erfordern, fällt beim Sekundärdrama auf, dass es diese Grenzen zwischen den kanonisierten Primärdramen und den Sekundärdramen zunächst eindeutig festlegt, diese im gleichen Moment jedoch öffnet, verschiebt und schließlich eine deutliche Grenzziehung unmöglich macht. Im Moment, in dem Sekundärdrama und Primärdrama gemeinsam inszeniert werden, werden Text-, Werk- und Gattungsgrenzen uneindeutig: Jelineks „Textflächen“ werden mit dramatischen Strukturen durchsetzt, umgekehrt lösen die Sekundärdramen die geschlossenen Primärdramen auf und versetzen sie in einen offenen Zustand. Christina von Braun führt hinsichtlich der Gleichsetzung von Frau und Anomalie aus, dass besonders das Krankheitsbild der Hysterie paradigmatisch für diese Verbindung sei: „[...] die Krankheit [wird] als ‚typisch weiblich‘ und als Ausdruck einer Gegennorm verstanden [...]. Ihre Funktion für den Kanon besteht darin, die ‚Anomalie‘ zu repräsentieren.“18 Die Markierung der Frau als „das Andere“ wird in FaustIn and out intensiv ausgelotet. Bereits das „In and out“ des Titels verweist allgemein auf Ein- und Ausschlüsse und verschränkt diese Mechanismen durch das verwendete Binnen-I gleichzeitig mit gendertheoretischen Fragestellungen. Bzw. eröffnet der Titel, wie Bärbel Lücke herausgearbeitet hat, noch eine andere Lesart, nämlich kann er als das bis ins 18. Jhdt. übliche Suffix gelesen werden, das dem Familiennamen der Frauen angehängt

17 Braun, Christina von: Das Geschlecht des Kanons. In: Franke, Berthold / Ribbert, Ulrich / Umlauf, Joachim (Hg.): Kanon und Bestenlisten. Was gilt in der Kultur? – Was zählt für Deutschlands Nachbarn? Göttingen: Steidl 2012, S. 19-32, S. 24. 18 Ebd., S. 25.

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wurde.19 Damit rücken weniger Gleichberechtigungsbestrebungen in den Fokus, wie sie durch das Binnen-I assoziiert werden, sondern viel mehr die hierarchische Unterordnung der Frau unter den Mann bzw. die Abhängigkeit und Uneigenständigkeit der Frau, die ausschließlich über den Mann definiert wird. Dass sich die Frau in einem patriarchalen System immer im „Out“ wiederfindet, macht der Text von Beginn an bewusst. Mephistopheles’ „Besonders lernt die Weiber führen / Es ist ihr ewig Weh und Ach / So tausendfach, Aus Einem Punckte zu kuriren.“ (UF) aufgreifend, wird die Frau im Text als das Kranke präsent: Dieses Weh und Ach dauernd, jeder falsche Ton zerschneidet sie, jedes schiefe Wort geht durch sie hindurch, jede verachtungsvolle Bemerkung über ihr Haar, ihre Figur, ihre Kleidung, ihre Beine, ihre Titten trifft sie ins Mark, und sie kann das dann nicht mehr vergessen. Jeder, der über sie mit beleidigenden Bemerkungen über ihr Doppelkinn und ihren Hängearsch herfällt, verletzt sie sehr tief, sie kann das dann nicht mehr vergessen. Es klappert was tief im Inneren, vielleicht hat der Arzt sein Handy dort vergessen, es klappt wieder mal nichts, und sie müssen dann schon wieder zum Arzt. (FAU)

Diese Unterscheidung zwischen dem Kranken / der Frau und dem Gesunden / dem Mann durchzieht den gesamten Text („Die Frau muß zum Arzt. Die Frau ist krank. Der Mann geht nirgendwohin.“, FAU). Der Mann wird dabei nicht nur dem Gesunden / Normalen zugeordnet, sondern wird zusätzlich als derjenige präsent, der die Frau interpretiert und in ihrer Rolle festlegt: der Arzt bestimmt über die Frau. Zeichnet sich Goethes Auseinandersetzung mit dem Faust-Stoff dadurch aus, dass Margarete immer weiter zurückgedrängt wird, ihr in der abgeschlossenen Faust I und II-Fassung nur marginale Bedeutung zukommt, kreist FaustIn and out dominant um „die Frau“ und macht damit die Tendenz rückgängig, die sich bei Goethe findet. Neben diesen eindeutigen Markierungen wird die Verdrängung der Frau in den Paratexten auf einer weiteren Ebene dem Konzept des Sekundärdramas eingeschrieben und reflektiert, nämlich durch die wiederholte Bezugnahme auf Einar Schleefs Droge Faust Parsifal sowie durch die Betonung der Sonderstellung Shakespeares („[…] aber ich nehme jetzt auch Aufträge für andre Dramen an und schreibe dann jederzeit gern ein Sekundärdrama dazu. Nur bei Shake-

19 Vgl.: Lücke, Bärbel: Faust und Margarethe als Untote. Zu Elfriede Jelineks „FaustIn and out. Sekundärdrama zu Urfaust“ – offene/verdrängte Wahrheiten in freiheitlichen Zeiten, S. 31.

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speare mache ich das grundsätzlich nicht. Aber alle andren Aufträge nehme ich dankend an, […].“, AN; „Nur Shakespeare würde ich als Gegenstand ausnehmen. Mit Gott sollte man sich besser nicht anlegen.“, BÜ). Schleef, der in Droge Faust Parsifal von einer Verdrängung des antiken Chors und der Frau in der Deutschen Klassik ausgeht und damit das Ende des tragischen Bewusstseins markiert sieht, fordert die Wiedereinschreibung der Frau, konkret die „Rückführung der Frau in den zentralen Konflikt“20. Mit dem Begriff der Droge reflektiert er das Verhältnis von Chor / Gemeinschaft und Individuum und beschreibt am Beispiel von Goethes Faust-Bearbeitungen den Zusammenhang von Drogeneinnahme und Gemeinschaftsgefühl. Für die deutsche Klassik hält er fest, dass diese den Chor nur noch in seiner politischen Funktion wahrnahm, was dazu führte, dass die Frau aus diesem ausgeschlossen bleiben musste: Drückende Erb-Last, daß Chor, Chor-Gedanke, Chor-Einigung nach Auffassung der Deutschen Klassiker Männersache sind. Ihre Auffassung behauptet sich bis heute brutal in Besetzung und Spielplan. Die Einigung zu einem Chor, die Definition als Chor [...] setzt in bürgerlicher Auffassung den Ausschluß der Frau voraus, da sie die Drogeneinnahme stört.21

Wenn Schleef an dieser Stelle von der Frau als störendem Element spricht, lässt sich dies eventuell auch auf Jelineks Sekundärdrama übertragen. Als Konzept, das bewusst die „weibliche“ Perspektive wählt und das sich in eine Tradition „weiblichen“ Schreibens stellt, betont es das Fehlen der Frau in der kulturellen Sphäre und schreibt durch das Eindringen in das Primärdrama die Frau wieder ein in die kanonisierten Dramen. Sieht Schleef die Frau aus dem Zentrum des Dramas verdrängt, bekommt sie durch das Sekundärdrama die Möglichkeit, sich an den Bruchstellen des Dramatischen festzusetzen und so wieder in den sichtbaren Bereich einzutreten. Diese Wiedereinschreibung lässt den literarischen Kanon und das kulturelle Gedächtnis nicht mehr in ihrer Ganzheit wahrnehmen, sondern sie werden als brüchige Konstruktionen bewusst, die über gewaltsame Ausschlüsse ein oberflächliches Gefühl der Vollständigkeit entstehen lassen. Durch diese Verunsicherung stören die Sekundärdramen schließlich die Konsti-

20 Schleef, Einar: Droge Faust Parsifal, S. 9. 21 Ebd., S. 9.

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tution einer (männlichen) Gemeinschaft nachhaltig, die nun nicht mehr ohne das fehlende Weibliche rezipiert werden kann.22 Shakespeare nimmt im kulturellen Gedächtnis eine Sonderstellung ein. Schleef etwa verweist in Droge Faust Parsifal auf seine singuläre Stellung und seinen Einfluss auf die Deutsche Klassik, die ihn als jenen Autor „feiert“, der „den antiken Chor zerstört, ihn in Individuen spaltet“23 und mit dem somit der Ausschluss der Frau aus dem Drama ihren Anfang nimmt. Gleichzeitig macht Schleef darauf aufmerksam, dass dieses Bild von Shakespeare einer verkürzenden Rezeption geschuldet ist, die bewusst übersehen hat, wie inkongruent Shakespeares Dramen gebaut sind, und die jeden Widerspruch seiner Dramen radikal getilgt hat.24 Schleefs Verweis auf die zentrale Bedeutung Shakespeares für die Deutsche Klassik findet sich auch in der Forschungsliteratur bestätigt. Feministische und gendertheoretische Studien haben hinlänglich nachgewiesen, dass die Rezeption von Shakespeare als Genie, das keinerlei Regeln folgen muss, den Genie-Diskurs des 18. Jhdts. dominant geprägt hat.25 Der junge Goethe beispielsweise beruft sich in seiner Absage der Regelpoetik auf Shakespeare. So hält Goethe in seiner Rede Zum Schäkespears Tag fest: Schäckespear, mein Freund, wenn du noch unter uns wärest, ich könnte nirgend leben als mit dir; wie gern wollt’ ich die Nebenrolle eines Pylades spielen, wenn du Orest wärst [...]. Ich schäme mich oft vor Schäckespearen, denn es kommt manchmal vor, daß ich beim ersten Blick denke: das hätt’ ich anders gemacht! Hinten drein erkenn’ ich, daß ich

22 Vgl. zu diesem Aspekt auch: Lücke, Bärbel: Faust und Margarethe als Untote. Zu Elfriede Jelineks „FaustIn and out. Sekundärdrama zu Urfaust“ – offene/verdrängte Wahrheiten in freiheitlichen Zeiten, S. 30. 23 Schleef, Einar: Droge Faust Parsifal, S. 10. 24 Vgl.: Ebd., S. 10. 25 Vgl. bspw.: Landfester, Ulrike: „Pergamente von Engeln auf und ab gerollt“. Das Genie und sein Schreibmaterial im Werk des jungen Goethe. In: Wiethölter, Waltraud (Hg.): Der junge Goethe: Genese und Konstruktion einer Autorschaft. Tübingen: Francke 2001, S. 81-101; Stephan, Inge: Geniekult und Männerbund. Zur Ausgrenzung des „Weiblichen“ in der Sturm-und-Drang-Bewegung. In: Stephan, Inge: Inszenierte Weiblichkeit. Codierung der Geschlechter in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Köln: Böhlau 2004, S. 81-92.

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ein armer Sünder bin, daß aus Schäkespearen die Natur weissagt und daß meine Menschen Seifenblasen sind, von Romanengrillen aufgetrieben.26

Vor diesem Hintergrund kann Jelineks Behauptung der Unantastbarkeit Shakespeares als ironischer Verweis auf dessen Rezeption im Sturm-und-Drang gelesen werden, die darauf abzielte, das männliche Genie zu propagieren und die damit endgültig den Ausschluss der Frau aus der Hochkultur besiegelte. Ina Schabert und Barbara Schaff weisen auf die enge Verbindung von genialem Autor und Autorität hin, die „sich gegenüber der beschriebenen, projizierten und aufgeschriebenen Frau, die [...] als oppositionelle ‚Andere‘ aufgefaßt wird“27, konstituiert. Auf diese Unterscheidung geht auch Sylvester-Habenicht ein und belegt konkret an der Figur Margaretes in Goethes Faust I, dass der Frau als literarischer Figur Objektstatus zukommt, während der Mann als Autor Subjekt des künstlerischen Schaffensprozesses ist.28 Dieses Missverhältnis, das weniger durch die Figur des Faust entsteht als durch Goethe als männlichen Autor, betont auch Jelinek in Bezug auf FaustIn and out. So hält sie fest, dass es ihr beim Sekundärdrama nicht um Faust selbst ging, sondern um Faust als „Dramenfigur, die von einem deutschen Mann geschaffen wurde, der das eherne Gesetz des Schaffens entschlossen an sich gerissen hat und über die Schicksale seiner Figuren verfügt.“ (BÜ) Jelinek übt damit Kritik an einem Begriff von Autorschaft, wie er sich im 18. Jhdt. herausbildet. In Rückbezug auf Recha und Margarete, also Frauenfiguren, an denen die Mystifikation des Weiblichen durch den männlichen Autor sichtbar wird, wird umso deutlicher, dass Frauen in den Texten als glorifizierte, engelsgleiche Objekte zentrale Stellungen einnehmen können, vom Bereich künstlerischer Produktion jedoch ausgeschlossen bleiben. Nicht nur verweisen die Form der Sekundärdramen und Formulierungen wie „Sekundärkünstlerin“ auf eine bewusste Nicht-Integrierbarkeit in jene männlichen Autorschaftskonzepte, auch die Beschreibung des Konzepts als „Geschäftsidee“ (AN) deutet auf eine Gegenposition hin. So etablierte sich im 18. Jhdt. das idealisierende Denken, dass Kunst und Broterwerb einander ausschließen, literarische Produktion nie Geld einbringen soll. Dem gegenüber wurden schreibende Frauen oftmals stigmatisiert, mit dem Begriff der Prostitution belegt und muss-

26 Goethe, Johann Wolfgang: Zum Schäkespears Tag. In: Wiese, Benno von (Hg.): Deutsche Dramaturgie vom Barock bis zur Klassik. Tübingen: Niemeyer 1962 (= Deutsche Texte 4), S. 70-73, S. 72-73. 27 Schabert, Ina / Schaff, Barbara: Einleitung, S. 14. 28 Vgl.: Sylvester-Habenicht, Erdmute: Kanon und Geschlecht. Eine Re-Inspektion aktueller Literaturgeschichtsschreibung aus feministisch-genderorientierter Sicht, S. 14.

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ten sich dem Vorwurf aussetzen, sie würden sich durch ihre Kunst verkaufen. Gleichzeitig sprach man jedoch gerade jenen „sich verkaufenden“ Frauen ihre Weiblichkeit ab und inszenierte sie als zwitterhafte, geschlechtslose Wesen.29 Jelinek zitiert diese Zuschreibungen und entlarvt damit gleichsam das Paradoxon von Hure und geschlechtslosem Zwitter, wenn sie im Interview zu FaustIn and out sagt: „Für viele bin ich ja gar keine Frau, sondern ein sexloses Monster. […] Das Frausein hat man mir schon oft abgesprochen in dem Sinn: Die ist ja gar keine richtige Frau. Und es stimmt. Der Wunsch, etwas zu schaffen, das über das Gebären von Kindern hinausgeht, macht die Frau zu einer Monstrosität.“ (BÜ) Das Bild des prometheischen Dichters, der aus sich heraus Welten erschafft, wurde zu einem Leitgedanken künstlerischer Schaffensprozesse und blieb bis in die Gegenwart prägend. Indem das Sekundärdrama unterschiedliche Rezeptionsebenen und Bewertungskonventionen in sich einschreibt, geht es weit darüber hinaus, den Kanon einfach zu negieren und ihm eine Absage zu erteilen. Das Konzept erforscht vielmehr die verschiedenen Faktoren, die dabei zusammenwirken, legt historische Entwicklungen frei und verweist auf die geschichtliche Dimension von Kanonisierungsprozessen. Durch die Erzeugung von Leerstellen im Dramatischen wird das größere System des literarischen Kanons brüchig gemacht, das einheitliche, mono-logische System wird durch die Wiedereinschreibung der Frau in die Primärdramen nachhaltig gestört.

B EDINGUNGEN

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Ebenso wie die Sekundärdramen in Kanonisierungsprozesse eingreifen und diese problematisch werden lassen, verweisen sie als Texte, die für das Theater verfasst wurden und die vom Theater abhängig sind, auf die Voraussetzungen und Bedingungen des Theaterbetriebs. Indem die Stücke und das Konzept das Theater reflektieren, Vorschläge zur möglichen Inszenierung formulieren, aber auch auf ökonomische Bedingungen, Spielplangestaltung und Probenprozesse rekurrieren, lenken sie den Blick auf das System Theater, zeigen dessen Probleme und Unzulänglichkeiten auf. Etablierte Mechanismen und Konventionen infrage stellend, gelingt es, auf diese Weise verdeckte Hierarchien im Theaterbetrieb wie etwa die exponierte Stellung

29 Albrecht Koschorke belegt diese Tendenzen anhand von Schillers Gedicht Die berühmte Frau. Epistel eines Ehemanns an einen andern, vgl.: Koschorke, Albrecht: Geschlechterpolitik und Zeichenökonomie. Zur Geschichte der deutschen Klassik vor ihrer Entstehung, S. 585-587.

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von „Klassikern“, mit der gleichzeitig eine Verdrängung zeitgenössischer Theatertexte auf Nebenbühnen einhergeht, sichtbar zu machen. Dass dieser Eingriff ausschließlich mittels des Textes selbst erfolgt, ist eine Besonderheit von Jelineks Schreiben. Anders als andere AutorInnen, die selbst Regie bei der Umsetzung ihrer Texte führten bzw. führen und damit neue Inszenierungsformen prägten bzw. prägen wie etwa Bertolt Brecht, Heiner Müller oder René Pollesch, bestimmt Jelinek nachhaltig den Theaterbetrieb und gegenwärtige Inszenierungsformen ohne selbst praktisch am Theater tätig zu sein. In der Forschungsliteratur wurde hinlänglich darauf hingewiesen, dass Jelineks Theatertexte aufgrund ihrer speziellen Form eine Herausforderung für das Theater darstellen.30 DramaturgInnen und RegisseurInnen, die zentral an Uraufführungen von Jelineks Theatertexten beteiligt sind, betonen den Widerstand, den die Texte gegen das Theater leisten, unterstreichen aber auch, welch Potential von den Stücken für das Theater ausgeht und verweisen darauf, dass Jelineks Textform maßgeblich auf gegenwärtige Inszenierungsformen Einfluss genommen hat.31 Ulrike Haß unterstreicht diese Qualität von Jelineks Theatertexten, für das Verhältnis von Text und Theater, das dadurch entsteht, hält sie fest: Ich denke, dass Jelineks Texte und ihre poetischen Verfahren über den notwendigen Einsatz von Polemik gegen das Theater und seinen Betrieb hinausgehen. Dass sie von Anfang an die eigentümlichen Probleme des Theaters ergründet haben, das in seinem Selbstverständnis der Nachahmung und personalen Verlebendigung erstarrte. Und dass sie, im Gegensatz zum Theaterbetrieb, anfingen, nach den Bedingungen und Implikationen der Bühne zu fragen. Dass sie sich für die Geschichte einer Bühne interessierten, die man immer

30 Vgl. bspw. die Sammelbände: Janke, Pia (Hg.): Elfriede Jelinek: „ICH WILL KEIN THEATER“. Mediale Überschreitungen; Arteel, Inge / Müller, Heidy Margit (Hg.): Elfriede Jelinek – Stücke für oder gegen das Theater?; Janke, Pia / Kovacs, Teresa (Hg.): „Postdramatik“. Reflexion und Revision. Wien: Praesens Verlag 2015 (= DISKURSE.KONTEXTE.IMPULSE. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums 11). 31 Vgl. bspw.: Kovacs, Teresa: Text & Theater: Widerstand, Reibung, Innovation. Rita Thiele im Gespräch mit Teresa Kovacs. In: Janke, Pia / Kovacs, Teresa (Hg.): „Postdramatik“. Reflexion und Revision. Wien: Praesens Verlag 2015 (= DISKURSE. KONTEXTE.IMPULSE. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums 11), S. 370-376; Kovacs, Teresa: „Sie nerven, die Texte!“. Nicolas Stemann im Gespräch mit Teresa Kovacs. In: Janke, Pia / Kovacs, Teresa (Hg.): „Postdramatik“. Reflexion und Revision. Wien: Praesens Verlag 2015 (= DISKURSE.KONTEXTE.IMPULSE. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums 11), S. 377-382.

236 | D RAMA ALS S TÖRUNG mit der Unterscheidung von wahr und falsch, von wirklich und trügerisch in Verbindung gebracht hatte. Und dass Jelineks Theatertexte von Anfang an mit der Nicht-Anerkennung dieser Unterscheidung einsetzten, mit der Nicht-Verschiedenheit von fiktionaler und wirklicher Welt. Und dass sie dem Theaterbetrieb eins draufsetzten, indem sie ihn mit seinen inerten Bedingungen konfrontierten, indem sie diese im Außerhalb der Texte selbst zur Sprache brachten.32

Haß folgend kann festgehalten werden, dass die Reflexion des und das Eingreifen in den Theaterbetrieb grundlegend bestimmend sind für Jelineks dramatisches Werk, die Sekundärdramen hier also keine Sonderstellung einnehmen. Allerdings geschieht dieser Eingriff beim Sekundärdrama auf noch komplexere Weise und hat damit auch weitreichendere Folgen als dies bei den übrigen Theatertexten der Fall ist. Das Konzept geht nämlich dahingehend über jene Form hinaus, wie sie Haß hier beschreibt, als es durch die Forderung der gemeinsamen Inszenierung direkter als bisher in den Theaterbetrieb eingreift und damit stärker als bislang nicht nur auf Fragen der Regie und des Denkens von Theater, sondern auch auf ökonomische Bedingungen, Spielplangestaltung und Produktionsprozesse etc. Einfluss nimmt. Besonders hervorgehoben hat dies Jürs-Munby, die das Sekundärdrama aufgrund dieses weitreichenden Eingriffs in das Theater nicht bloß als literarische Innovation verstanden wissen will, sondern eben auch als Innovation des Theaterbetriebs.33 Es ist das parasitäre Eindringen der einen Inszenierung in die andere, das die Sekundärdramen deutlich über Jelineks andere Theatertexte hinausgehen lässt. Wird mit dem Zitat die Unterscheidung zwischen Original und Kopie fragwürdig, wird mit der Miteinbeziehung von Inszenierungen in das Konzept eine zusätzliche Ebene berührt. Das Unterlaufen solch zeitlicher Differenzierungen und damit verbunden Wertungen wie jener von Original und Kopie wird im Theater nochmals offensichtlicher. Anders als bei publizierten Texten ist im Kontext des Theaters fast nicht möglich, von Originalen zu sprechen, da Inszenierungen nicht konserviert werden können. So gibt es auch jene Form der Kanonisierung nicht, wie sie bei literarischen Texten zu beobachten ist. Aufführungen sind ereignishaft, werden bestimmt durch die Gleichzeitigkeit von Produktion und Rezeption und verschließen sich damit der Herausbildung von Kanones. Die dominante Forderung der Innovation und Novität – zumindest im westlichen Theater – ist ein weiterer Faktor, der der Kano-

32 Haß, Ulrike / Meister, Monika: „Wie ist es möglich, Theater ausschließlich mit Texten aufzustören?“ E-Mailwechsel zwischen Ulrike Haß und Monika Meister, S. 113-114. 33 Vgl.: Jürs-Munby, Karen: Abraumhalde; FaustIn and out, S. 203.

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nisierung entgegensteht.34 Die Vergänglichkeit, die das Konzept Sekundärdrama sich zueigen macht, entspricht somit eher dem Theater als dem Bereich der Literatur. Die Sekundärdramen übertragen typische Charakteristiken der Aufführung auf die eigene texutelle Struktur und verunmöglichen damit die deutliche Unterscheidung zwischen Text und Bühne. Die Tatsache, dass die Sekundärdramen nicht nur auf literarischer Ebene eingreifen, sondern auch das Theater nachhaltig stören wollen, wird bereits zu Beginn des programmatischen Essays Anmerkung zum Sekundärdrama deutlich, der sofort auf das Theater und dessen Bedingungen eingeht: „Für den Theaterbetrieb möchte ich, als neue Geschäftsidee, vermehrt auch Sekundärdramen anbieten, […].“ (AN) Wenn der Essay die Kombination der Sekundärdramen mit Inszenierungen von Lessings und Goethes Dramen anregt, zitiert er gegenwärtige und historische Inszenierungsformen, geht über intertextuelle Verweise auf Lessing und Goethe hinaus und schreibt die Texte als Theatertexte in die bestehenden Dramen ein. Jelineks Widerstand gegen das Theater wurde in der Forschung als Widerstand gegen das personale Theater beschrieben, das verständliche, kohärente Inhalte präsentieren und das wiedererkennbare Figuren mit Identifikationspotential inszenieren will.35 Jelineks Sekundärdramen produzieren (flächige) TextträgerInnen und verwehren sich damit dem Prinzip der Identifikation, wie es die Primärdramen verkörpern. Die Kombination von Primär- und Sekundärdrama zielt somit auch darauf ab, zwei Arten des Denkens von Theater aufeinandertreffen zu lassen. Auf der Bühne könnte so gezielt mit der Intensität der Störung gearbeitet werden, denn je traditioneller die Inszenierung der Primärdramen, desto fremder und irritierender würden die Sekundärdramen wirken. In den kursiv abgehobenen Passagen zu Beginn der Sekundärdramen werden Ideen für mögliche Umsetzungen beider Stücke auf der Bühne eingebracht. Dabei wird deutlich, dass das Prinzip der Überforderung und Addition, das für die Texte grundlegend ist, auch auf die Bühne übertragen werden soll. Was dabei erreicht wird, ist die zumindest phasenweise tatsächlich realisierte Simultaneität von Primär- und Sekundärdrama, wie sie der Text allein nie erreichen kann. Angeregt werden die Überlagerung und Gleichzeitigkeit verschiedener Elemente: schriftlicher Text, Audioeinspielungen, Projektionen, Film, SchauspielerInnenkörper und -stimmen:

34 Vgl.: Marx, Peter W.: Theater: Spielpläne und „Klassiker“-Inszenierungen. In: Rippl, Gabriele / Winko, Simone (Hg.): Handbuch Kanon und Wertung. Stuttgart: Metzler 2013, S. 200-205, S. 200-201. 35 Vgl.: Arteel, Inge: Elfriede Jelineks kinematographisches Theater, S. 23.

238 | D RAMA ALS S TÖRUNG Das Hauptdrama kann Szenen aus dem Seitendrama integrieren, der Text kann im Hintergrund als Schrift durchlaufen, man kann ihn wie ein Hörspiel hören, aus dem Off oder von Schauspielerinnen und Schauspielern auf der Bühne, neben dem Hauptstück, nur gesprochen oder auch gespielt. Das Hauptstück kann kurz zurücktreten und dem Sekundärstück Platz machen und umgekehrt. Die Zuschauer können den Text auf ihren Laptops oder Handys im Zuschauerraum mitlesen, nachdem sie ihn sich geladen haben. (AN)

Über die im Text selbst erzeugten Störungen hinausgehend, bilden jene Überlegungen eine wichtige Grundlage für die Herstellung kognitiver Dissonanz, die auf Ebene der Inszenierung bei den ZuschauerInnen zu einer Überforderung der Wahrnehmung führt und so Störungen entstehen lässt. Das Denken von SchauspielerInnenkörpern als Projektionsfläche und die Betonung ihrer Zweidimensionalität, wie es Jelinek bereits in ihrem frühen theaterprogrammatischen Essay Ich möchte seicht sein formuliert,36 beschreibt Arteel als ein kinematographisches Prinzip und als möglichen Ort des Widerstands.37 Mit Rückbezug auf Deleuze charakterisiert Arteel jene kinematographische Bildlichkeit als eine, die Bilder seriell aneinander ordnet, die montage- und collageartig verknüpft und scheinbar Zusammenhangloses verbindet. Auf diese Weise werden Synchronisierungen erzeugt, die unterschiedliche inkommensurable Ebenen verbinden und die in Wiederholungen und Variationen zur „Falsifikation des Wahrgenommenen“38 führen. Die Arbeit mit Projektionsflächen und Filmscreenings im Rahmen der Inszenierung würde jenes Denken von Zeitlichkeit verstärken, das auch für die Sekundärdramen konstitutiv ist. Vor diesem Hintergrund wird aber auch das Spiel mit Materialität und Immaterialität, mit Zwei- und Dreidimensionalität, das durch das Zusammenspannen von Primärund Sekundärdrama – nicht nur aufgrund der Verwendung von Projektionsflächen und TV-Geräten, sondern auch aufgrund des deutlich divergierenden Denkens von Figur und Körper – als eine permanente Grenzbefragung bzw. Grenzüberschreitung lesbar. Es ist eine Überschreitung zwischen dem Drama, das an Repräsentation und an die dreidimensionale Figur glaubt, und dem Sekundärdrama, das Körper auf ihre zweidimensionale Flächigkeit reduziert, um dadurch wiederum auf die Tiefe zu verweisen, die schließlich einen Schwellenraum eröffnet, in dem die Qualitäten von Körperlichkeit und Projektion neu verhandelbar werden.

36 Vgl.: Jelinek, Elfriede: Ich möchte seicht sein, S. 74. 37 Vgl.: Arteel, Inge: Elfriede Jelineks kinematographisches Theater, S. 24. 38 Ebd., S. 27.

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Darüber hinaus gibt es in FaustIn and out metatheatrale Reflexionen von Probenprozessen und -dialogen (vgl. FAU). Diese kurzen Textpassagen brechen die Sekundär- und Primärdramen auf, stören die Fiktion und das Prinzip der Repräsentation auf einer weiteren Ebene, denen die Primärdramen verpflichtet sind. Sie machen darüber hinaus das Produzierte und Gemachte der Inszenierung bewusst, indem sie konkret auf Striche und Änderungen verweisen, die im Verlauf des Probenprozesses an Theatertexten vorgenommen werden. Da sich die Wirkungsweise der Sekundärdramen erst mit der konkreten Inszenierung entfaltet, erschöpft sich das Konzept nicht in den von Jelinek formulierten Möglichkeiten der Umsetzung, sondern es muss auch ein Blick auf die bisherigen Inszenierungen gewagt werden, um zu sehen, wie der Betrieb nun tatsächlich mit den Texten umgeht. Da die Störungen mit jeder Umsetzung neu und anders gestaltet sind und schließlich DramaturgInnen und die einzelne Regisseurin / der einzelne Regisseur darüber bestimmen, wie Primär- und Sekundärdrama verbunden sind, kommt auch ihnen eine zentrale Funktion innerhalb des Konzepts zu. Die Anweisung an die RegisseurInnen, aber auch an die DramaturgInnen, den Kern des Sekundärdramas selbst erst zu erarbeiten und umzusetzen, erfordert eine noch aktivere Haltung als bei anderen Theatertexten Jelineks. Dass der Text und das Konzept im Theater fortgeschrieben werden, wird von Jelinek nicht nur herausgefordert, sondern von ihr selbst bereits wieder reflektiert. Wenn sie die Leistung, die die RegisseurInnen zu erbringen haben, dominant betont und zu einer Umsetzung auffordert, die ihre Vorschläge bewusst nicht respektiert, ignoriert sie auf ironische Weise, dass jede Inszenierung eines Textes am Theater eine Fortschreibung bzw. Übersetzungsleistung bedeutet. Dadurch führt sie Begriffe wie „Werk-“ und „Texttreue“, aber auch „Regietheater“ ad absurdum und schaltet sich indirekt in eine Diskussion ein, die derzeit in den Feuilletons um das Theater und um Inszenierungen geführt wird, die die/den AutorIn respektieren, aber auch die/den RegisseurIn als KünstlerIn und nicht nur als DienerIn des Textes begreifen.39

39 Vgl. bspw.: Kovacs, Teresa: „Sie nerven, die Texte!“. Nicolas Stemann im Gespräch mit Teresa Kovacs; Stemann, Nicolas: Gimpel oder Goethe. http://www.nachtkritik.de /index.php?view=article&id=7423:gedanken-zu-peter-turrinis-nestroypreis-rede&opti on=com_content&Itemid=84 (18.11.2015), datiert mit 6.11.2012; Stemann, Nicolas: Wo gibt’s hier Spaghetti? http://www.sueddeutsche.de/kultur/daniel-kehlmann-unddas-regietheater-wo-gibts-hier-spaghetti-1.172450 (18.1.2015), datiert mit 17.5.2010; Kehlmann, Daniel: Die Lichtprobe; Turrini, Peter: Rede zur Verleihung des NestroyPreises 2011.

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Inszenierungsformen Geht man mit Luhmann davon aus, dass Störungen Systeme dazu zwingen, auf sie zu reagieren, sie entweder (teilweise) auszuschließen oder produktiv zu integrieren, wird im Kontext des Sekundärdramas der Blick auf das System Theater und damit die tatsächlichen Inszenierungen der Stücke gelenkt. Jelinek hält in Anmerkung zum Sekundärdrama fest, dass die Texte niemals ohne das dazugehörige Primärdrama inszeniert werden dürfen. Diese Forderung wurde zunächst tatsächlich von Jelineks Verlag, dem Rowohlt Theaterverlag, durchgesetzt und die Texte wurden nur dann zur Inszenierung freigegeben, wenn sie mit Lessings oder Goethes Dramen kombiniert wurden. Da beide Sekundärdramen nach den jeweiligen Uraufführungen kaum inszeniert wurden, lockerte der Verlag die Bestimmung, sodass es mittlerweile auch möglich ist, die Sekundärdramen eigenständig zu inszenieren, solange das Primärdrama in derselben Saison ebenfalls auf dem Spielplan des Theaters steht. Abraumhalde wurde dennoch nur an einem weiteren Theater aufgenommen, nämlich am Zimmertheater Tübingen,40 FaustIn and out wurde seither zahlreich gespielt, und zwar an acht deutschsprachigen Bühnen und an zwei internationalen Häusern.41 Betrachtet man die einzelnen Realisierungen, die es seither am Theater gab, fällt auf, dass Inszenierungen, die Primär- und Sekundärdrama miteinander kombinieren, die absolute Minderheit darstellen. Einzig die beiden Inszenierungen von Abraumhalde, die Uraufführung von FaustIn and out und drei weitere Inszenierungen des Textes haben sich für diese Form der Umsetzung entschieden. Wobei auch hier anzumerken ist, dass in manchen dieser Inszenierungen einer der Texte bloß über einzelne, den Texten entnommene Zitate präsent wird. Die häufige Vermeidung des Ineinander-Fügens von Primär- und Sekundärdrama an den Theatern verweist darauf, dass das Theater, so wie es heute beschaffen ist, für dieses Konzept noch keine inszenatorische Handhabe kennt, es aber

40 Premiere: 7.10.2010, Regie: Christian Schäfer. (Stand: Juli 2016) 41 Übersicht über die bisherigen Premieren (Stand: Juli 2016): 27.9.2012 Schauspiel Frankfurt, Regie: Julia von Sell; 13.1.2013 Schauspielhaus Graz, Regie: Philip Jenkins; 24.4.2013 Hessisches Staatstheater Wiesbaden, Regie: Tilman Gersch; 27.9.2013 Deutsches Theater Göttingen, Regie: Swantje Möller; 18.1.2014 Theater Aachen, Regie: Ludger Engels; 26.6.2014 Residenztheater (Cuvilliéstheater) München, Regie: Johan Simons; 18.10.2014 Theater Bremen, Regie: Felix Rothenhäusler; 17.1.2015 Landesbühne Niedersachsen Nord, Wilhelmshaven, Regie: Eva Lange. Außerhalb des deutschsprachigen Raums: 31.1.2014 Göteborgs Stadsteater, Regie: Hilda Hellwig; 20.12.2014 Accademia degli Artefatti, Parma, Regie: Fabrizio Arcuri.

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auch für den Betrieb und dessen Strukturen eine Überforderung darstellt. Das Sekundärdrama widersetzt und entzieht sich dem gegenwärtigen Theaterbetrieb, dadurch macht es die Bedingungen des Betriebs selbst zum Thema und verweist auf Grenzen und Strukturen, die normalerweise transparent bleiben. Für die Sekundärdramen gilt umso mehr, was Heiner Müller bereits hinsichtlich der frühen Theatertexte Jelineks formulierte: „Was mich interessiert an den Texten von Elfriede Jelinek, ist der Widerstand, den sie leisten gegen das Theater, so wie es ist.“42 Der Widerstand bzw. die Störung des Theaters, von der Müller spricht, ist es, die auch das innovative Potential des Sekundärdramas ausmacht. Um einen Eindruck zu geben, wie der Theaterbetrieb mit Jelineks Sekundärdramen bislang umgegangen ist, sollen nun die beiden Uraufführungsinszenierungen näher besprochen werden bzw. soll auch auf spätere Inszenierungen beispielhaft verwiesen werden. Die erste Inszenierung eines Sekundärdramas stammt von Nicolas Stemann, der Abraumhalde am 3.10.2009 gemeinsam mit Lessings Nathan der Weise am Thalia Theater Hamburg zur Uraufführung brachte. Stemann inszenierte Abraumhalde als Unterbrechung von Lessings Nathan. Beginnend mit einer sehr reduzierten, eher einem Hörspiel gleichenden Umsetzung des Nathan, setzen sich mitten im 2. Akt drei SchauspielerInnen große Pappmaché-Köpfe auf, wie es zu Beginn von Jelineks Abraumhalde angeregt wird (vgl. AB). Die Ästhetik von Paul McCarthys Arbeit Piccadilly Circus zitierend, die im Sekundärdrama zu Beginn des Textes dezidiert genannt wird (vgl. AB), wo die Akteure überdimensionale Köpfe tragen, die deutlich als George W. Bush, Osama bin Laden und Queen Elisabeth zu erkennen sind, erinnern die Köpfe bei Stemann an Osama bin Laden, Papst Benedikt XVI. und Alan Greenspan. Immer noch sind jedoch ausschließlich Passagen aus Lessings Drama zu hören. Jelineks Sekundärdrama bricht an jener Stelle in die Inszenierung ein, wo bei Lessing die Ringparabel steht. Stemann lässt Sätze der Ringparabel und Textpassagen aus Abraumhalde hintereinander hörbar werden, er lässt sie jedoch auch einander überlagern, sodass die Texte nicht mehr verstanden werden können. Sichtlich wird ein Kampf zwischen den beiden Stücken inszeniert: wessen Stimme ist lauter, wer setzt sich auf der Bühne durch?

42 Müller, Heiner: Widerstand gegen das „Genau-wie-Otto-Theater“. In: Schauspiel Bonn 3/1987.

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Abb. 3: Gotthold Ephraim Lessing / Elfriede Jelinek: Nathan der Weise / Abraumhalde. Thalia Theater Hamburg, Inszenierung: Nicolas Stemann, 2009. Foto: Armin Smailovic Die SchauspielerInnen tragen, an historische Nathan-Inszenierungen erinnernd, historisierende Kostüme. Diesen historisierenden Figuren werden Sätze aus Jelineks Text in den Mund gelegt, die SchauspielerInnen wechseln in immer kürzeren Abständen ihre Kostüme, stehen teilweise mit Maschinengewehr und Bombengürtel auf der Bühne und erinnern so an islamistische Selbstmordattentäter, tragen aber auch unterschiedliche Papiermasken, etwa eine, die Josef Fritzl zeigt, aber auch – wie auf der Abbildung ersichtlich – eine Maske, die Adolf Hitler assoziieren lässt, womit inszenatorisch der im Text angelegte effet de réel umzusetzen versucht wird. Jelineks textuelles Verfahren, über Text- und Formschichtungen einen weiten Zeitraum zu eröffnen, wird von Stemann mittels der Arbeit mit häufigen Kostümwechseln und Verkleidung auf die Bühne übersetzt.43 Am Ende der Inszenierung verstummt das Sekundärdrama wieder und Lessings Drama wird allein fortgesetzt. Das Einbrechen des Jelinek-Textes hinterlässt jedoch solch ein

43 Vgl. die ausführliche Beschreibung der Inszenierung von Ortrud Gutjahr: Gutjahr, Ortrud: Was heißt hier Aufklärung? Gotthold Ephraim Lessings „Nathan der Weise“ und die Probe aufs Wort mit Elfriede Jelineks „Abraumhalde“ in Nicolas Stemanns Inszenierung.

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Abb. 4: Gotthold Ephraim Lessing / Elfriede Jelinek: Nathan der Weise / Abraumhalde. Thalia Theater Hamburg, Inszenierung: Nicolas Stemann, 2009. Foto: Armin Smailovic

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Störgeräusch, dass es – zumindest für den restlichen Theaterabend – nicht mehr möglich ist, Lessing zu hören, ohne Jelineks Neuperspektivierung mitzudenken. Stemann selbst gibt an, mit der Inszenierung intendiert zu haben, die ZuschauerInnen unter der „Oberfläche“ Lessing eine ungeahnte „Tiefe“ wahrnehmen zu lassen: „Wir wollten mit Jelinek ein Kräuseln an die Oberfläche bringen, so, als würde man einen Ast hineinhalten. Die Atmosphäre sollte sich ändern.“44 Das ursprünglich als Auftragswerk für die schwedische Regisseurin Hilda Hellwig entstandene, von ihr jedoch zunächst nicht inszenierte zweite Sekundärdrama FaustIn and out wurde am 8.3.2012 am Schauspielhaus Zürich in einer Inszenierung von Dušan David Pařízek zur Uraufführung gebracht. Anders als bei Stemann, wo Jelineks Text in eine Inszenierung von Lessings Nathan integriert wurde, entschied man sich in Zürich dafür, beide Texte zu inszenieren, um sie schließlich im Laufe des Abends zusammenzuführen und aufeinandertreffen zu lassen. Unter dem Titel Faust 1-3 wurde ein Abend konzipiert, bei dem Goethes Faust (großteils Faust I, mit Zitaten aus Faust II) auf der großen Bühne des Schauspielhauses zu sehen war, während Jelineks Sekundärdrama im schalldichten Musikzimmer im ersten Untergeschoss des Theaters inszeniert wurde. Das Publikum konnte sich für eine der beiden Inszenierungen entscheiden, wobei das Kontingent pro Aufführung für FaustIn and out auf 30 Tickets beschränkt war. Die beiden Inszenierungen wurden miteinander verbunden, indem immer wieder Aufnahmen aus dem Untergeschoss an die Rückwand der Hauptbühne projiziert wurden, umgekehrt waren im Untergeschoss zwei Fernsehgeräte aufgestellt, auf denen mehrmals kurze Ausschnitte aus der Inszenierung der Hauptbühne zu sehen, jedoch nicht bzw. nur in schlechter Tonqualität zu hören waren. Das Publikum, das sich für die Inszenierung von FaustIn and out entschied, musste sich beim Bühneneingang des Theaters versammeln und wurde von MitarbeiterInnen des Theaters mit dem Warenlift in das Musikzimmer im Untergeschoss geführt. Im Musikzimmer konnten sie in einem Sesselkreis Platz nehmen, in der Mitte des Sesselkreises positionierten sich, aus diesem heraus, die drei Schauspielerinnen, die an der Inszenierung beteiligt waren. Parallel dazu begann

44 Gutjahr, Ortrud: „DEM STÜCK DEN HASS ZURÜCKGEBEN – ABER AUCH DAS LEBEN“. Ein Gespräch mit Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg, moderiert von Ortrud Gutjahr. In: Gutjahr, Ortrud (Hg.): „Nathan der Weise“ von Gotthold Ephraim Lessing. Texterprobungen mit „Abraumhalde“ von Elfriede Jelinek in Nicolas Stemanns Inszenierung am Thalia Theater Hamburg. Würzburg: Könighausen & Neumann 2010 (= Theater und Universität im Gespräch 11), S. 191-203, S. 203.

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Abb. 5: Johann Wolfgang von Goethe / Elfriede Jelinek: Faust 1-3. Schauspielhaus Zürich, Inszenierung: Dušan David Pařízek, 2012. Foto: Toni Suter / T+T Fotografie

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auf der Hauptbühne Goethes Faust, reduziert auf zwei Schaupieler und fokussiert auf die Figur des Faust. An der Stelle, wo Margarete eigentlich die Stimme ergreifen würde, nimmt einer der beiden Schauspieler eine Axt, bricht den Bühnenboden durch und dringt in die Inszenierung im Untergeschoss ein. Das unvermittelte, gewaltsame Einbrechen des Schauspielers lässt – für die ZuschauerInnen von FaustIn and out – Goethes Drama als Störung empfinden. Ohne Rücksicht auf den Fortgang und den Stand der Inszenierung des Sekundärdramas müssen die Schauspielerinnen mitten im Text abbrechen. Die ZuschauerInnen werden aufgefordert, sich unter den Stühlen befindliche Trenchcoats anzuziehen und gemeinsam mit den Schauspielerinnen dem Schauspieler auf die Hauptbühne zu folgen.

Abb. 6: Johann Wolfgang von Goethe / Elfriede Jelinek: Faust 1-3. Schauspielhaus Zürich, Inszenierung: Dušan David Pařízek, 2012. Foto: Toni Suter / T+T Fotografie Herausgerissen aus der Inszenierung finden sich die ZuschauerInnen und Schauspierlerinnen auf der großen Bühne des Schauspielhaus Zürich wieder, sie alle sind für kurze Zeit Teil von Goethes Faust. War zunächst der Schauspieler aus Goethes Faust Eindringling in Jelineks Sekundärdrama, sind nun das Sekundärdrama und mit ihm die gesamte Inszenierung, die vom Keller nach oben transferiert wird, Eindringlinge in Goethes Faust. Die ZuschauerInnen werden gebeten, nachdem alle vom Musikzimmer auf die Hauptbühne gelangt sind, im Zuschau-

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erraum auf den für sie freigelassenen Sitzen Platz zu nehmen. Die drei Schauspielerinnen übernehmen für den letzten Teil der Inszenierung die weiblichen Rollen aus Faust I, sind also Margarete und Marte, teilweise übernehmen sie aber auch Passagen von Mephistopheles, gleichzeitig sprechen sie Textstellen aus Jelineks Sekundärdrama und lassen auf diese Weise die Inszenierung des Untergeschosses in Goethes Drama eindringen. Festgehalten werden kann, dass sich beide Inszenierungen durch einen radikalen Zugriff auf die Primärdramen selbst auszeichnen, sowohl Lessings als auch Goethes Drama wird durch die Regiearbeiten von Stemann und Pařízek aufgebrochen, Figuren werden in SprecherInnen aufgelöst, Handlung und logische Entwicklung bewusst unterlaufen. In diesem Zugriff schwächen sie den störenden Effekt, den Jelineks Stücke haben könnten, passen die Primärdramen schon vor Eindringen des Sekundärdramas an die Ästhetik und Form von Jelineks Texten an. Die Tatsache, dass bislang keine Umsetzung für die Primärdramen eine eher konventionelle Form gewählt hat, bestätigt die Tendenz, die an deutschsprachigen Bühnen zu beobachten ist, nämlich dass gerade „Klassiker“ die RegisseurInnen herausfordern, in ihren Umsetzungen neue, innovative und dekonstruktive Lesarten zu präsentieren.45 Ein Blick auf die weiteren Inszenierungen, die die Texte zusammenführten, zeigt unterschiedliche Versuche, Primär- und Sekundärdrama miteinander in Bezug zu setzen. Die Inszenierung von Abraumhalde am Kellertheater Tübingen etwa kombinierte Zitate aus Lessings Nathan der Weise mit Abraumhalde, ohne bewusst zu markieren, dass es sich hier um zwei verschiedene Stücke zwei unterschiedlicher AutorInnen handelt. Das Theater Aachen orientierte sich hinsichtlich der Kombination von Goethe und Jelinek an der Uraufführungsinszenierung und arbeitete mit schalldichten Unterkellerungen der Hauptbühne und verschiedenen Spielebenen. Interessant ist auch die Umsetzung von FaustIn and out am Hessischen Staatstheater Wiesbaden in der Regie von Tilman Gersch, wo Jelineks Text zum „Hauptstück“ wurde, in das Zitate aus Goethes Faust II eindrangen, um Jelineks Sekundärdrama neu lesbar zu machen. Die Inszenierung in Bremen ging deutlich über die Kombination hinaus und verwendete Goethes und Jelineks Texte als Grundlage eines eigenen Projekts.

45 Vgl.: Jürs-Munby, Karen / Pełka, Artur: „Postdramatik“? Zur aktuellen Forschung mit Blick auf Elfriede Jelinek. In: Janke, Pia / Kovacs, Teresa (Hg.): „Postdramatik“. Reflexion und Revision. Wien: Praesens Verlag 2015 (= DISKURSE.KONTEXTE. IMPULSE. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums 11), S. 17-32, S. 26 und 28.

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Was die Kombination – unabhängig wie sie realisiert wird – auslöst, ist eine Verunsicherung bei den RezipientInnen. Das Wissen der ZuschauerInnen, dass Lessing bzw. Goethe mit Jelinek gemixt wird, erzeugt eine ungewöhnliche Perspektive, die auch die Primärdramen ungewohnt fremd erscheinen lässt. Vorgeführt wird, wie unbekannt die kanonisierten Klassiker anmuten können und wie selektiv unsere Wahrnehmung bei ihrer Rezeption ist. So etwa betont Alexander Honold hinsichtlich seiner Eindrücke von Stemanns Inszenierung: „Vieles, was so brutal und hoffnungslos klingt und was man in Stemanns Inszenierung im ersten Moment eher Jelinek zuordnet, ist tatsächlich von Lessing selbst verfasst. Es entsteht etwas Unheimliches, wenn der Klassiker, den man zu kennen glaubte, durch die eigene Geschichte unspielbar wird [...].“46 Als beispielhafte Inszenierungen, die die beiden Texte nicht koppelten, sondern Jelineks Sekundärdrama eigenständig inszenierten, sollen jene von Julia Sell am Schauspielhaus Frankfurt und jene von Philip Jenkins am Schauspielhaus Graz genannt werden. Beide Umsetzungen versuchten mittels Programmgestaltung dennoch zu markieren, dass es ein Sekundärdrama zu Goethes Faust ist. Das Schauspielhaus Frankfurt wählte etwa eine Form, bei der Jelineks Sekundärdrama quasi als „Abgesang“ von Goethes Faust I inszeniert wurde, nämlich jeweils nach Faust I und dabei das Bühnenbild der Goethe-Inszenierung verwendend. Am Schauspielhaus Graz gab es vor Beginn der Inszenierung Einführungen durch die DramaturgInnen Britta Kampert und Christian Mayer, sie erklärten, dass das Stück eigentlich mit Goethe inszeniert werden sollte. Parallel zu dieser Einführung lief im Foyer des Theaters ein Mitschnitt der aktuellen Inszenierung von Faust I, um zumindest auf diese Weise den Eindruck der Kombination entstehen zu lassen. Darüber hinaus wurde darauf geachtet, die Programmierung so zu gestalten, dass zeitgleich zur Inszenierung von FaustIn and out – das auf einer kleinen Bühne des Hauses (Ebene 3) umgesetzt wurde – auf der großen Bühne des Hauses Goethes Faust I zu sehen war, wobei dies nicht durchgängig der Fall war. Programmankündigung und -gestaltung Inszenierungsbeschreibungen der Sekundärdramen in Programmheften oder Begleitpublikationen fokussieren immer auf die Störung, die die Sekundärdramen bei den Primärdramen erzeugen, reflektieren bislang jedoch kaum, welch Über-

46 Blomberg, Benjamin von: „...wir müssen die ‚Pseudospeziation‘ überwinden“. Diskussion mit Jan Assmann, Ortrud Gutjahr und Alexander Honold, moderiert von Benjamin von Blomberg, S. 123.

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forderung das Konzept für das Theater selbst darstellt.47 Dass Jelineks Sekundärdrama jedoch auch als störendes Element des Theaterbetriebs beschrieben werden kann, da es nicht problemlos in diesen integrierbar ist, wird auf unterschiedlichen Ebenen deutlich. Bereits die Ankündigung der Texte verweist auf die Grenzen des Theaterbetriebs. So etwa wird in der Premierenvorschau des Thalia Theater Hamburg für die Saison 2009/2010 Lessings Drama eigenständig als Premiere angekündigt, während unter dem Titel Abraumhalde Nathan eine Uraufführung „Von Elfriede Jelinek und Gotthold Ephraim Lessing“48 in Aussicht gestellt wird (allerdings hier noch in geplanter Kombination mit Jelineks Die Kontrakte des Kaufmanns). Im Spielplan scheint die Inszenierung einzig unter „Nathan der Weise von Gotthold Ephraim Lessing“49 auf, Jelineks Sekundärdrama wird nur auf dem Programmzettel und am Programmheft als Zusatz angeführt („mit dem Sekundärdrama ‚Abraumhalde‘ von Elfriede Jelinek“50). Deutlich anders verhält es sich bei der Uraufführung des zweiten Sekundärdramas am Schauspielhaus Zürich. Dort wird mit Faust 1-3 ein eigener Titel für die Inszenierung kreiert, die Goethe und Jelinek zusammenführt, mit dem sie sowohl in der Programmvorschau als auch im Spielplan unter Angabe beider AutorInnen genannt wird.51 Allerdings wird FaustIn and out auch als eigenständige Vorführung beworben. Angesprochen ist damit der erste Teil, der im Untergeschoss des Hauses inszeniert wird, während mit Faust 1-3 der Beginn von Goethes Faust und die spätere Zusammenführung von Faust und FaustIn and out auf der Hauptbühne angekündigt werden. Aus dem Beschreibungstext in der Premierenvorschau des Theaters für März 2012 und aus dem Programm geht nicht hervor, dass die eigenständig angegebene FaustIn and out-Inszenierung mit Goethes Faust verbunden werden

47 Vgl. z.B.: Gutjahr, Ortrud: Was heißt hier Aufklärung? Gotthold Ephraim Lessings „Nathan der Weise“ und die Probe aufs Wort mit Elfriede Jelineks „Abraumhalde“ in Nicolas Stemanns Inszenierung; Koberg, Roland: Gretchenpalimpsest aus dem Keller; Wolf, Harald: Goethe und der Kinderschänder. 48 Premieren Thalia Theater 2009 & 2010. In: Thalia 2009 & 2010. (= Programmvorschau des Thalia Theater Hamburg für die Spielzeit 2009/10) 49 Okt 09. (= Spielplan des Thalia Theater Hamburg für Oktober 2009) 50 Nathan der Weise. (= Programmzettel des Thalia Theater Hamburg zu Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise, 2009); Nathan der Weise. (= Programmheft des Thalia Theater Hamburg zu Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise, 2009) 51 Vgl.: Schauspielhaus Zürich. März 2012. (= Monatsvorschau des Schauspielhaus Zürich für März 2012)

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soll. Auch die Beschreibung von Faust 1-3 lässt offen, in welcher Weise Jelineks Text als „störende Gästin“52 in die Inszenierung integriert wird. Dass bereits die Ankündigung bzw. Titelgebung Schwierigkeiten bereitet, liegt einerseits daran, dass es sich – zumindest bei den Aufführungen am Thalia Theater Hamburg und am Schauspielhaus Zürich – hinsichtlich der Primärdramen um eine Premiere, hinsichtlich der Sekundärdramen um eine Uraufführung handelt und deshalb deutlich zwischen den Texten unterschieden werden muss. Doch auch an späteren Inszenierungen, die die Texte gemeinsam umsetzten, wird deutlich, welche Probleme die Ankündigung verursacht bzw. welch verschiedene Möglichkeiten der Titelgebung bestehen. Teilweise wurden beide Titel miteinander kombiniert (Nathan / Abraumhalde, Zimmertheater Tübingen; FaustIn and out / Der Tragödie zweiter Teil, Hessisches Staatstheater Wiesbaden), teilweise wurde nur ein Titel angeführt und Primär- oder Sekundärdrama wurden jeweils im Untertitel erwähnt (Theater Aachen) oder es wurden neue Titel für die Inszenierung gefunden (FAUST10, Theater Bremen). Auch die Kennzeichnung der AutorInnenschaft gestaltet sich schwierig, da nicht von einer Co-AutorInnenschaft gesprochen werden kann, sondern das Verhältnis ein komplexeres ist. Inszenierungen, die beide Texte kombinierten, griffen auch hier auf unterschiedliche Varianten zurück: so wurden entweder Lessing oder Goethe als Autor genannt, gefolgt von einem Zusatz, der Jelinek und ihr Sekundärdama anführt, aber auch umgekehrt wurde Jelinek als Autorin ausgewiesen und Lessing / Goethe in einer Zusatzzeile angeführt. Eine Ausnahme bildet das Hessische Staatstheater Wiesbaden, das bewusst den Eindruck von Co-AutorInnenschaft entstehen ließ und schrieb: „Von Elfriede Jelinek und Johann Wolfgang von Goethe“53. Aufschlussreich ist das Programmheft des Theater Bremen, das eben diese Schwierigkeiten bereits selbst reflektiert, wenn auf der Rückseite mögliche Titel wie FAUST I-III mit Faust I + II von Johann Wolfgang von Goethe und FaustIn and out von Elfriede Jelinek und FAUST10 nach Johann Wolfgang von Goethe mit Elfriede Jelinek durchgestrichen untereinander aufgelistet werden, um am Ende sehr selbstbewusst die Namen beider AutorInnen zu tilgen und durch den Regisseur und Dramaturgen zu ersetzen, die sich für

52 Faust 1-3. In: Schauspielhaus Zürich. März 2012. (= Monatsvorschau des Schauspielhaus Zürich für März 2012) 53 FaustIn and out / Der Tragödie zweiter Teil. (= Programmheft des Hessischen Staatstheater Wiesbaden zu FaustIn and out / Der Tragödie zweiter Teil, 2014)

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die Inszenierung verantwortlich zeichnen: FAUST 10. Eine Arbeit von Felix Rotenhäusler und Tarun Kade.54 Dass Jelinek mit ihrem Sekundärdrama eine Form gefunden hat, die den Theaterbetrieb irritiert, wird auch daran deutlich, dass in Ankündigungen und Programmheften, selbst wenn die Sekundärdramen eigenständig inszeniert werden, immer auf ihre spezifische Forderung der Gebundenheit der Sekundär- an die Primärdramen eingegangen wird. Einerseits werden Begriffe herangezogen wie Kommentar und Überschreibung, um zu verdeutlichen, dass sich Jelineks Texte auf ein bereits bestehendes Drama beziehen,55 andererseits wird in allen Programmheften der Begriff des „Sekundärdramas“ besonders hervorgehoben und oftmals in im Programmheft abgedruckten Interviews mit der/dem jeweiligen RegisseurIn oder der/dem DramaturgIn erklärt. Sehr häufig wird auch der Essay Anmerkung zum Sekundärdrama abgedruckt, um die ZuschauerInnen über die spezifische Form aufzuklären. Interessant ist, dass besonders in Programmheften und -ankündigungen jener Inszenierungen, die das Sekundärdrama nicht wie gefordert umsetzten, das Konzept sehr ausführlich erklärt wird. Ökonomie und Hierarchie Das Konzept des Sekundärdramas wird in Anmerkung zum Sekundärdrama als „Geschäftsidee“ (AN) vorgestellt und bindet den Theaterbetrieb damit zuallererst an ökonomische Bedingungen, nicht an ästhetische Prämissen. Die Zentralsetzung des ökonomischen Mehrwerts des Modells, „denn die Klassiker schaut man sich schließlich immer an und wird man sich immer anschauen“ (AN), verweist ironisch auf die voranschreitende Ökonomisierung des staatlichen Theaterbetriebs im deutschsprachigen Raum, der mit immer gravierenderen Subventionskürzungen bzw. mit fehlenden Indexanpassungen arbeiten muss und dadurch immer deutlicher von ZuschauerInnenzahlen und Auslastung abhängig ist. Am Ende des ersten Absatzes des Essays, der das Konzept vorstellt, steht der Satz: „Danke jedenfalls, daß ich Ihnen hier einen kleinen Auszug aus meinem reichhaltigen Angebotskatalog vorstellen durfte“ (AN), der typische Bewer-

54 Vgl.: FAUST10 Eine Arbeit von Felix Rotenhäusler und Tarun Kade. (= Programmheft des Theater Bremen zu FAUST10. Eine Arbeit von Felix Rotenhäusler und Tarun Kade, 2013) 55 So etwa wird Abraumhalde im Programmheft des Thalia Theater Hamburg als „Lessing-Kommentar“ bezeichnet. (Vgl.: Nathan der Weise. (= Programmheft des Thalia Theater Hamburg zu Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise, 2009))

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bungsfloskeln zitiert und so auch als Rekurs auf die immer zahlreicher werdenden AutorInnen-Workshops, Schreibschulen und DramatikerInnen-Preise im deutschsprachigen Raum gelesen werden kann. Bereits der Kontext, in dem das Konzept erstmals präsentiert wurde, markiert, dass das Konzept des Sekundärdramas auch auf eine Befragung der ökonomischen Voraussetzungen des gegenwärtigen deutschsprachigen Theaterbetriebs abzielt. Die erste Version von Jelineks programmatischem Essay Anmerkung zum Sekundärdrama wurde nämlich unter dem Titel Reichhaltiger Angebotskatalog in einer Ausgabe der Zeitschrift Theater heute abgedruckt, die sich der Verbindung von Kunst und Kapitalismus widmete und die dezidiert nach dem Berufsstand KünstlerIn und den damit verbundenen ökonomischen Rahmenbedingungen fragte. So stellte die Zeitschrift neben Jelinek sechzehn weiteren KünstlerInnen unterschiedlicher Bereiche (SchauspielerInnen, RegisseurInnen, TheaterleiterInnen etc.) die Frage, welches Bild sie von ihrem eigenen Beruf haben angesichts des zunehmenden Quotendrucks und ökonomischer Zwänge, die den Leitgedanken der „Freiheit der Kunst“ ad absurdum zu führen scheinen.56 In den letzten Jahren ist auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung eine breite Debatte um die ökonomischen Bedingungen des Theaters bzw. das Verhältnis von Theater und Ökonomie entstanden. Aufmerksam gemacht wird auf die Verbindung von postdramatischer Ästhetik und Neoliberalismus,57 auf die sich immer stärker verkürzende Produktionszeit und einen Uraufführungshype58 sowie auf sich deutlich verändernde Arbeitsbedingungen, prekäre Arbeitsverhältnisse und neuartige Produktionsstrategien, die den Theaterbetrieb bestimmen und die wiederum bereits in gegenwärtigen Theaterarbeiten und -texten reflektiert werden.59 Aufmerksam gemacht wird aber auch darauf, dass sich die

56 Vgl.: N.N.: Was heißt hier Kunst?. In: Theater heute 6/2009, S. 4-5, S. 4. 57 Vgl. bspw.: Stegemann, Bernd: Kritik des Theaters. Berlin: Theater der Zeit 2014; Jürs-Munby, Karen / Pełka, Artur: „Postdramatik“? Zur aktuellen Forschung mit Blick auf Elfriede Jelinek. 58 Vgl. bspw.: Felber, Silke: Neue Theatertexte: Institutionen und Instanzen. Gespräch mit Andreas Beck, Julia Danielczyk, Amely Joanna Haag, Ute Nyssen, moderiert von Silke Felber. In: Janke, Pia / Kovacs, Teresa (Hg.): „Postdramatik“. Reflexion und Revision. Wien: Praesens Verlag 2015 (= DISKURSE.KONTEXTE.IMPULSE. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums 11), S. 413-426. 59 Vgl. bspw.: Schößler, Franziska: Drama und Theater nach 1989: prekär, interkulturell, intermedial. Hannover: Wehrhahn 2013; Heimburger, Susanne: Kapitalistischer Geist und literarische Kritik: Arbeitswelten in deutschsprachigen Gegenwartstexten.

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Wirtschaft immer deutlicher an der Kunst und an Produktionsformen des Theaters orientiert und damit theatrale Arbeitsweisen, die bislang noch als subversiv gelten konnten, nahtlos in neoliberale Systeme Eingang gefunden haben und mittlerweile Mainstream sind.60 Ausgehend von der Beobachtung, dass im postfordistischen Zeitalter jede/r einzelne zur/m UnternehmerIn ihrer/seiner selbst wird, Selbstvermarktung und Flexibilität einen immer wichtigeren Stellenwert einnehmen, kann auch für das Theater festgestellt werden, dass solche Formen beständig stärker auf Produktionsprozesse einwirken und die Lebensrealität von am Theater Beschäftigten bestimmen. Carl Hegemann etwa macht auf die zunehmende Durchdringung von Kunst durch ökonomische Prozesse und die Eingliederung von Kunst in wirtschaftliche Bereiche aufmerksam. Innovation und Funktionalität seien die Schlagwörter, unter denen sich alles verbindet.61 Wie stark Ökonomie und Theater aneinander gebunden sind, arbeiten Franziska Schößler und Christine Bähr heraus, die für den gegenwärtigen Theaterbetrieb im deutschsprachigen Raum festhalten: […] die innovativen ästhetischen Formate dieses „Wirtschaftstheaters“ versuchen, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit als knappe Ressource zu sichern. Inszenierungen werden als Produkte vermarktet, Zielgruppenspezifik gewinnt an Bedeutung und der Stückauftrag (für junge Autorinnen und Autoren) reichert das Angebot mit begehrten (und nicht immer nachgespielten) Uraufführungen an. […] Gegenwärtig scheint derjenige Diskurs, der die wirtschaftliche Dimension des Theaters verschleiert hatte – die Kunst (um der Kunst Willen) –, nicht mehr reibungslos zu funktionieren, sodass das Theaterspiel als Erwerbsarbeit kenntlich wird und sich Kunst nicht mehr als das Gegenteil des ökonomischen Erfolgs definiert.62

München: Ed. Text + Kritik 2010; Schößler, Franziska / Bähr, Christine (Hg.): Ökonomie im Theater der Gegenwart. Bielefeld: transcript 2009 (= Theater 8). 60 Vgl. bspw.: Heimburger, Susanne: Kapitalistischer Geist und literarische Kritik: Arbeitswelten in deutschsprachigen Gegenwartstexten, S. 362; Schößler, Franziska / Haunschild, Axel: Genderspezifische Arbeitsbedingungen am deutschen Repertoiretheater. Eine empirische Studie. In: Pailer, Gaby / Schößler, Franziska (Hg.): GeschlechterSpielRäume. Dramatik, Theater, Performance und Gender. Amsterdam: Rodopi 2011 (= Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 78), S. 255-269, S. 255-257. 61 Vgl.: Hegemann, Carl: Die Kunst der Unwahrscheinlichkeit oder das Nichtkönnen können. In: Theater heute 6/2009, S. 6-9, S. 6. 62 Schößler, Franziska / Bähr, Christine: Die Entdeckung der „Wirklichkeit“. Ökonomie, Politik und Soziales im zeitgenössischen Theater. In: Schößler, Franziska / Bähr,

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Ein Ergebnis dieser sich verändernden Produktionsbedingungen am Theater ist, dass sich Theatertexte zunehmend schwerer am Theater behaupten: sie reagieren zu langsam und erfordern eine zu lange Produktionszeit. Dagegen boomen Dramatisierungen und Theaterarbeiten, bei denen der Text im Probenprozess entsteht.63 Dem Zwang des Theaters, in immer kürzerer Zeit Neues und Innovatives zu präsentieren, wird Jelinek mit ihren Sekundärdramen auf ironische Weise gerecht, wenn sie in Anmerkung zum Sekundärdrama das Neue ihres Konzepts zentral setzt. Dass Jelinek für ihre Texte den Begriff des Sekundärdramas einführt kann als Zitat aktueller Strategien gelesen werden, durch Neologismen die ständige Produktion von Noch-Nie-Dagewesenem zu suggerieren, um auf diese Weise darüber hinwegzutäuschen, dass sich der Betrieb eventuell doch langsamer verändert und vieles zwar innovativ vermarktet und angekündigt, aber dann doch sehr traditionell umgesetzt wird. Des Weiteren macht der kurze Essay die ökonomische Abhängigkeit der AutorInnen vom Theater bewusst. Er unterstreicht, dass es an EntscheidungsträgerInnen am Theater liegt, ob ein Text gespielt wird oder nicht und dass das Theater auf diese Weise über die existenzielle Grundlage von AutorInnen bestimmt. Wenn Jelinek angibt, künftig gerne auch andere Aufträge für weitere Sekundärdramen anzunehmen (vgl. AN), zitiert sie damit die zunehmende Abhängigkeit gegenwärtiger TheaterautorInnen von Auftragsarbeiten, was auch zeigt, dass es aktuell schwierig ist, als AutorIn Texte zu schreiben, die sich dem Theaterbetrieb entziehen und diesen herausfordern. Theatertexte unterliegen am Beginn des 21. Jhdts. v.a. dem Diktum der schnellen (bei jungen AutorInnen oftmals auch der kostengünstigen) Umsetzbarkeit.64 Auch wenn die Betonung der Auftragsarbeit das System bereits kritisch reflektiert und ironisiert, muss festgehalten werden, dass beide Sekundärdramen

Christine (Hg.): Ökonomie im Theater der Gegenwart. Bielefeld: transcript 2009 (= Theater 8), S. 9-20, S. 11. 63 Vgl.: Kovacs, Teresa: „Postdramatik“ als Label? Gespräch mit Carl Hegemann, Katja Jung, Patrick Primavesi, Stefan Tigges, moderiert von Teresa Kovacs; Interessant diesbezüglich sind auch Beobachtungen der Autorin Kathrin Röggla: „Wir sprechen uns noch“. Text auf verlorenem Posten zwischen Ichmaschine und Teammonitoring? In: Janke, Pia / Kovacs, Teresa (Hg.): „Postdramatik“. Reflexion und Revision. Wien: Praesens Verlag 2015 (= DISKURSE.KONTEXTE.IMPULSE. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums 11), S. 55-60. 64 Vgl.: Felber, Silke: Neue Theatertexte: Institutionen und Instanzen. Gespräch mit Andreas Beck, Julia Danielczyk, Amely Joanna Haag, Ute Nyssen, moderiert von Silke Felber, S. 413 sowie S. 425-426.

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tatsächlich Auftragswerke waren. Kaum ein Theatertext von Jelinek entsteht ohne Auftrag, was zeigt, dass auch Jelinek als Nobelpreisträgerin und etablierte Theaterautorin diesen Mechanismen unterliegt. Der Trend zu Auftragsarbeiten ist eng verbunden mit dem Bestreben der Theater, Neues zu präsentieren. Es ist Kunst für den Moment, die gebraucht wird und schließlich (allzu schnell) verbraucht wird, was wiederum dazu führt, dass viele AutorInnen beklagen, dass ihre Stücke nach der Uraufführung nicht mehr interessieren.65 All das betrifft, wenn auch in abgeschwächter Form, ebenso Jelinek: Viele ihrer Auftragsstücke wurden nicht öfter als einmal inszeniert, wurden – mit Ausnahme der Website der Autorin – nicht veröffentlicht und werden daher kaum wahrgenommen. Beispielhaft sei an dieser Stelle der Theatertext Die Straße. Die Stadt. Der Überfall. (2012) angeführt, der aus Anlass des 100-Jahre-Jubiläums der Münchner Kammerspiele geschrieben wurde, zu erwähnen wären aber auch Texte wie Zündholz (2010), Tod-krank.Doc (2009) oder Uns bleibt nur der Strafrahmen (2008). Auch Jelinek wird mit dem Problem konfrontiert, dass es schwierig ist, nach der Uraufführung eine Wiederaufnahme zu erfahren – dies wird auch bei Abraumhalde deutlich. Der Satz „Nichts davon muß ewig halten. Nichts davon soll ewig halten.“ (AN), der einerseits auf ein alternatives Verständnis von Werk- und AutorInnenschaft abzielt, lässt im Kontext der Reflexion ökonomischer Bedingungen noch eine andere Lesart zu. Aktuelle Theatertexte sind meist Produkte von geringer Lebensdauer: einmal uraufgeführt werden sie oft nach nur wenigen Vorstellungen abgesetzt, sie werden kaum von anderen Theatern aufgenommen und nur die wenigsten Theatertexte erscheinen gegenwärtig in gedruckter Form. Diese Tendenz, die sich v.a. auch auf das Schreiben junger AutorInnen auswirkt, bestätigt sich teilweise auch bei einer etablierten Autorin wie Jelinek. Wie Franziska Schößler und Christine Bähr nachweisen, führt die Reflexion über Arbeit am Theater dazu, dass bislang deutlich ausdifferenzierte Berufssparten wie RegisseurIn, DramaturgIn, AutorIn, VerlegerIn etc. zunehmend ununterscheidbar werden und Mischformen von Berufsprofilen entstehen, die verschiedene Aspekte in sich vereinen.66 Wenn in die Sekundärdramen Floskeln wie „Sollen wir das mit der Religion auch noch bringen? Das hier ist eh schon viel zu lang!“ (FAU) eingeschrieben sind, kann das als Zitat eines Probenprozesses gelesen werden, das auf jene neuen (Text-)Produktionsformen verweist. Regiearbeit und Textarbeit verbinden sich im Sekundärdrama. Jelinek geht jedoch den umgekehrten Weg: es ist nicht die Regie, die sich die Textproduktion aneignet

65 Vgl.: Ebd., S. 415-417. 66 Vgl.: Schößler, Franziska / Bähr, Christine: Die Entdeckung der „Wirklichkeit“. Ökonomie, Politik und Soziales im zeitgenössischen Theater, S. 11.

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und AutorInnen damit zunehmend überflüssig erscheinen lässt, sondern ihre Texte schreiben die Regiearbeit in sich ein und entziehen somit dem Theaterbetrieb zunächst wieder den Text. Andererseits lässt auch Jelineks enge Zusammenarbeit mit Nicolas Stemann die Grenze zwischen Autorin / Text und Theater zunehmend verwischen. Abraumhalde und das Konzept „Sekundärdrama“ sind ein Ergebnis jener Zusammenarbeit, auch die zahlreichen aktuellen Fortschreibungen bestehender eigener Texte Jelineks – wie etwa bei Die Kontrakte des Kaufmanns (2009)67 – entstanden auf Anregung Stemanns. Jene Passagen in FaustIn and out, bei denen ein Ich über prekäre Arbeitsverhältnisse, Job- und Existenzverlust berichtet, verweisen in der Inszenierungssituation immer auch auf die SchauspielerInnen selbst, die den Text sprechen, und reflektieren somit auch auf dieser Ebene die ökonomischen Bedingungen des Theaterbetriebs. Wenn Jelinek mit ihren Sekundärdramen in Lessings und Goethes Texte eindringt, kann das als kritischer Kommentar zur aktuellen Tendenz von verstärkter Co-AutorInnenschaft, von Teamwork und Projektarbeit gelesen werden, die oftmals weniger der Kreativität als eher der Optimierung von Arbeitsprozessen dient. Denn wie Schößler und Bähr herausarbeiten, entsprechen jene Formen auch einem allgemeinen Trend am Arbeitsmarkt und können nicht immer als alternatives Konzept von Arbeit und Arbeitsteilung beschrieben werden.68 Für Jelinek kann allgemein festgehalten werden, dass die Form ihrer Theatertexte etablierte ökonomische Strategien unterläuft, indem sie ein ständiges Zuviel produziert, zu Verschwendung und Abfallproduktion anregt.69 Dieses Zuviel wird mit dem Konzept des Sekundärdramas gesteigert. Sprengt schon – zumindest bei FaustIn and out – der Umfang der Sekundärdramen jeden konventionellen Theaterrahmen, muss das Theater spätestens durch die Kombination von Primär- und Sekundärdrama mit einer Textfülle umgehen, die immer bereits zu viel ist. Deutlich wird jene Verschwendung in Abraumhalde betont, wo bereits der Titel auf den Müll-Status des Textes verweist. Dort wird zu Beginn des Stückes dazu angeregt, das Sekundärdrama eventuell unhörbar einer Inszenierung des Primärdramas beizufügen bzw. angegeben, dass die Sätze des Sekundärdramas an jeder beliebigen Stelle abgebrochen und einzelne Stücke willkürlich aus dem Text herausgeschnitten werden können „wie von einer langen Wurst“ (AB).

67 Zu Die Kontrakte des Kaufmanns verfasste Jelinek seit der Urlesung durch Stemann am 16.3.2009 sechs Zusatztexte. (Stand: Juli 2016) 68 Vgl.: Schößler, Franziska / Bähr, Christine: Die Entdeckung der „Wirklichkeit“. Ökonomie, Politik und Soziales im zeitgenössischen Theater, S. 11. 69 Vgl.: Ebd., S. 18.

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In FaustIn and out verweist das seit Bambiland für Jelineks Theatertexte typische Zapping auf die Überfülle von Medienbildern, auf mediale Produktionsund Werbestrategien sowie auf Bildüberforderung und -übersättigung der ZuschauerInnen. Das Sekundärdrama schlägt als Idee für eine mögliche Inszenierung nämlich vor, dass die SprecherInnen auf Fernsehsesseln vor TV-Geräten positioniert sind, dabei nahezu automatisiert und gelangweilt die Kanäle wechseln, bis sie endlich ein Programm finden, das für kurze Zeit ihr Interesse weckt. (vgl. FAU) Wenn in Anmerkung zum Sekundärdrama davon die Rede ist, deshalb an Klassiker anzudocken, weil damit garantiert ein großes Publikum gewonnen wird (vgl. AN), verweist das auf die exponierte Stellung sogenannter „Klassiker“ im staatlichen Theaterbetrieb. Dabei ist anzumerken, dass das Herausbilden von „Klassikern“ am Theater eng mit der sich durchsetzenden flächendeckenden Subventionierung staatlicher Theater nach 1945 zusammenhängt. Um von staatlicher Seite her die hohen Förderungen zu begründen, war es notwendig, das Theater deutlicher in seiner Bildungsfunktion festzulegen und damit ein Repertoire zu fördern, das Ideen transportiert, die der Identität des Staates entsprechen und die ihrer Durchsetzung dienlich sind.70 So verwundert es kaum, dass an staatlichen Häusern jene Dramentexte dominieren, die auch den literarischen Kanon anführen und als exemplarische, identitätsstiftende Werke gelten. Jelineks Sekundärdrama dringt mit dem Aufgreifen von Lessings Nathan der Weise und Goethes Faust-Komplex in kanonisierte Dramen ein, die auch als die Klassiker am Theater zu bezeichnen sind. Wie aus den Werkstatistiken des Deutschen Bühnenvereins hervorgeht, findet sich Goethes Faust im Bereich des Sprechtheaters in den letzten Jahrzehnten im deutschsprachigen Raum konstant unter den Texten mit den höchsten Aufführungs- und Inszenierungszahlen. Der Deutsche Bühnenverein erfasst in seiner Statistik allerdings seit einigen Jahren Faust I und II sowie den Urfaust gesamt unter dem Titel Faust, sodass sich aktuell nicht ablesen lässt, welcher Teil bzw. welche Fassung am häufigsten inszeniert wurde. Sieht man sich Statistiken früherer Jahre an, wo die Fassungen und Teile einzeln aufgenommen wurden, ist es konkret Faust I, der an vorderer Stelle zu finden ist. Ein Blick auf die Inszenierungen von Jelineks FaustIn and out würde auch aktuell dafür sprechen, dass Goethes Faust I eine exponierte Stellung gegenüber Faust II und der Sturm-und-Drang-Fassung zukommt, denn auffallend oft wird nicht das eigentlich genannte Primärdrama mit FaustIn and out kombiniert, sondern der klassische Faust I, der manchmal auch durch Zitate aus

70 Vgl.: Marx, Peter W.: Theater: Spielpläne und „Klassiker“-Inszenierungen, S. 203204.

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Faust II ergänzt wird. Bereits bei der Uraufführung von FaustIn and out wurden Faust I und II als Primärdrama inszeniert, auch die späteren gemeinsamen Inszenierungen haben Faust I und / oder II herangezogen, mit Ausnahme des Theater Aachen, wo tatsächlich der Urfaust mit Jelinek verbunden wurde. Deutlich weniger Inszenierungen und Aufführungen als Goethes Faust erlebt Nathan der Weise. Dennoch kann auch bei diesem Text von einem „Klassiker“ gesprochen werden, da er in den letzten beiden Jahrzehnten in der Werkstatistik des Deutschen Bühnenvereins fast immer unter den zwanzig meist aufgeführten und inszenierten Stücke aufgelistet ist. Die stark variierende Zahl der Inszenierungen und Aufführungen zeigt jedoch, dass – anders als bei Faust – NathanInszenierungen eher anlassbezogen entstehen und das Interesse am Stück stark kontextabhängig ist. So etwa geht aus den Statistiken hervor, dass seit 9/11 und der Diskussion um islamistischen Terror das Interesse am Stück deutlich gestiegen ist, auch das Lessing-Jahr 2004 hat zu einem Inszenierungs-Boom beigetragen. Jelineks Theatertexte hingegen haben trotz Nobelpreis 2004 (anders als andere zeitgenössische Stücke von Yasmin Reza, Werner Schwab und Roland Schimmelpfennig) weder Eingang gefunden in die Liste der in der Werkstatistik des Deutschen Bühnenvereins angeführten 40 am meisten aufgeführten oder der 25 am häufigsten inszenierten Stücke. Beachtet man dagegen, dass Lessing und Goethe durchgehend diese Listen anführen, scheint die Geste der Unterordnung unter die beiden kanonisierten Autoren, wie sie Jelinek in Anmerkung zum Sekundärdrama formuliert, weniger ironisch, sondern als Verweis auf reale Verhältnisse hinsichtlich der Programmierung an staatlichen Theaterhäusern.71 Die Dominanz der „Klassiker“ betrifft auch Gender-Fragen, wie Franziska Schößler und Axel Haunschild nachweisen, nämlich befinden sich damit im festen Repertoire der Staatstheater übermäßig viele Texte, die ein bürgerliches Geschlechtermodell propagieren, stereotype Frauenbilder festigen und auf die Regulierung weiblicher Verhaltensmuster abzielen.72 Wenn Jelinek mit ihren vielstimmigen Texten in „Klassiker“ des Repertoiretheaters eindringt, wird die Einseitigkeit der stereotypen Frauenfiguren offensichtlich.

71 Durchgesehen wurden sowohl in Bezug auf Nathan der Weise, Goethes FaustBearbeitungen als auch Jelineks Theatertexte die Werkstatistiken der Spielzeiten 1990/91 bis 2012/13: Deutscher Bühnenverein: Wer spielte was? Werkstatistik Deutschland, Österreich, Schweiz. Bensheim: Mykene Verlag 1991ff [Berichtsjahre 1990-2013]. 72 Vgl.: Schößler, Franziska / Haunschild, Axel: Genderspezifische Arbeitsbedingungen am deutschen Repertoiretheater. Eine empirische Studie, S. 260.

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Schließlich führt die Frage nach dem Stellenwert von „Klassikern“ in den Spielplänen deutschsprachiger Theater auch wieder zu ökonomischen Bedingungen des Theaters. Wie aus den Werkstatistiken des Deutschen Bühnenvereins hervorgeht, korrelieren Häufigkeit der Inszenierung und ZuschauerInneninteresse, da nämlich Texte wie Goethes Faust nach wie vor auch die höchsten ZuschauerInnenzahlen bringen. Dies führt dazu, dass bei der Programmierung deutlich zwischen kanonisiertem „Klassiker“ und nichtkanonisiertem Stück unterschieden wird. Das hierarchische Gefälle, das dabei entsteht, bringt mit sich, dass Stücke gegenwärtiger AutorInnen meist auf den kleinen Nebenbühnen der großen Häuser zu sehen sind, während das Haupthaus mit „Klassikern“ bespielt wird.73 Diese Tendenz ist auch bei Jelinek erkennbar, deren Texte im deutschsprachigen Raum – mit Ausnahme der Uraufführungen – meist auf kleinen Nebenbühnen zu sehen sind. Mit dem Sekundärdrama wird diese hierarchische Unterscheidung besonders deutlich. Inszenierungen, die Primär- und Sekundärdrama kombinieren, erhalten durch das spezielle Konzept die Möglichkeit, dieses hierarchische Verhältnis zu thematisieren und kritisch zu befragen. Dies hat etwa Dušan David Pařízek mit der Uraufführung von FaustIn and out vorgeführt, indem er das Sekundärdrama in den Keller des Theaters verlegt hat, in einen Raum, in dem nur 30 ZuschauerInnen Platz fanden, während der „Klassiker“ Goethe auf der großen Bühne inszeniert wurde. Das Zusammenführen beider Texte würde darüber hinaus die Möglichkeit bieten, das Verhältnis umzukehren bzw. verschiedene Aufteilungen zu erproben, um so gängige Zuteilungen zu hinterfragen und etablierte Grenzziehungen durchlässig zu machen bzw. zu verschieben. Anders bei Inszenierungen, die die Texte nicht zusammenführen, sondern die Sekundärdramen eigenständig umsetzen. Indem sie dem Konzept jene Ebene entziehen, die die Kombination beider Texte mit sich bringen würde, nämlich das Verhältnis von zwei Texten zu befragen, bestätigen diese Inszenierungen wiederum gegebene Hierarchien. Ohne sich durch das Konzept herausgefordert zu fühlen, die räumliche Aufteilung von Klassikern und (experimentellen) neuen Texten zu reflektieren und gegebenenfalls neu zu denken, finden die Inszenierungen der Sekundärdramen durchgehend in den kleinen Spielstätten statt, während die Primärdramen ausschließlich auf den großen Bühnen gezeigt werden. Damit führen sie paradoxerweise jene Unterordnung bzw. die „sekundäre“ Stellung all jener Texte vor, die nicht zum klassischen Repertoire gehören und ent-

73 Vgl.: Felber, Silke: Neue Theatertexte: Institutionen und Instanzen. Gespräch mit Andreas Beck, Julia Danielczyk, Amely Joanna Haag, Ute Nyssen, moderiert von Silke Felber, S. 413 sowie S. 420-421.

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ziehen dem Konzept jene Möglichkeit, über die Form der Kombination auf die Hauptbühne zu dringen und so ein größeres Publikum zu erreichen, das normalerweise immer noch den „Klassikern“ vorbehalten bleibt. Was das Konzept darüber hinaus anregt, ist die Frage nach dem Stellenwert staatlicher Theater. Dass Jelineks kritische Theatertexte meist ausschließlich an staatlichen Bühnen zu sehen sind, wird in der Forschung rege diskutiert und als Paradox beschrieben. Es sind die Verlagspolitik, aber auch der Wunsch der Autorin selbst, an staatlichen Häusern präsent zu sein, was seit Beginn von Jelineks Schreiben für das Theater dazu führt, dass ihre Texte kaum im Off-TheaterBereich inszeniert werden.74 Die Inszenierungsrechte an staatliche Theater zu vergeben, scheint in Hinblick auf die Sekundärdramen jedoch ein wichtiges Element der Ästhetik der Störung zu bilden. Bedenkt man, dass Störungen nur innerhalb des Systems wirksam werden können, das sie angreifen, bedeutet das, dass Jelineks Sekundärdrama erst an staatlichen, etablierten Theatern und nur dort seine besondere Wirkung entfalten kann, da es das System des staatlichen Repräsentationstheaters ist, auf das die Störung abzielt. Wie ausgeführt, handelt es sich um Fragen der Programmierung, des Umgangs mit „Klassikern“ und der Verbindung von Staat und Kunst, wobei damit besonders die kritische Hinterfragung der dadurch vollzogenen Vermittlung staatlicher (Bildungs-)Ideale einhergeht. Außerhalb des Systems Staatstheater würden die Sekundärdramen ihren Wirkungsbereich verlieren. Ein Off-Theater, das sich selbst im Bereich der Gegenkultur positioniert, kann durch das Sekundärdrama nicht aufge- und verstört werden, es braucht ein Theater, das immer noch der Repräsentation verpflichtet ist – dort kann das Sekundärdrama als Störung wirksam werden. Theater und Gender-Gap Worauf das Konzept des Sekundärdramas darüber hinaus verweist, ist der Gender-Gap an deutschsprachigen staatlichen Theatern. Nicht nur war das Schreiben von Texten für das Theater lange Zeit Männersache, auch die leitenden Funktionen am Theater blieben lange Zeit Männern vorbehalten. Anders als bei der Textproduktion, wo sich das Verhältnis deutlich verschoben hat, ist beispielsweise Regiearbeit auch gegenwärtig immer noch eindeutig männlich dominiert. Dies zeigt sich etwa an der Liste des Goethe Instituts der 50 aktuell bedeutends-

74 Vgl.: Janke, Pia: „Wir haben daran geglaubt, dass die Werke wichtig sind“. Zur Arbeit als Elfriede Jelineks Theaterverlegerin. Ute Nyssen im Gespräch mit Pia Janke. In: JELINEK[JAHR]BUCH. Elfriede Jelinek-Forschungszentrum 2014-2015, S. 1928, S. 20-21.

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ten RegisseurInnen im deutschsprachigen Raum, auf der sich 13 Frauen und 37 Männer finden.75 Deutlich wird dieses Missverhältnis auch bei einem Blick auf die Premieren der Saison 2015/16 an den bedeutendsten staatlichen Theatern in Deutschland, Österreich und der Schweiz. So etwa inszenieren von 19 Premieren in der Spielzeit 2015/16 am Wiener Burgtheater nur sechs Regisseurinnen.76 Augenfällig ist die Tendenz, dass je kleiner die Bühne desto eher führen Frauen Regie. So sind die sechs Premieren im großen Haus des Burgtheaters ausschließlich Männern anvertraut, am Akademietheater inszenieren sechs Männer und eine Frau, im Casino drei Frauen (zwei Inszenierungen davon sind für Kinder und Jugendliche) und ein Mann, im Vestibül zwei Frauen und kein Mann. An der Volksbühne Berlin zeichnen von zehn Premieren, ausgenommen sind jene von KünstlerInnenkollektiven, für neun Männer und für eine Premiere eine Frau verantwortlich.77 Ebenso inszenieren an den Münchner Kammerspielen, auch hier wieder ausgenommen kollektive Performances und KünstlerInnengruppen, 12 Premieren Regisseure und nur zwei Premieren Regisseurinnen.78 Am Schauspielhaus Zürich führen in der Spielzeit 2015/16 15 Männer und fünf Frauen (davon eine Produktion für Kinder) bei Premieren Regie.79 Denis Hänzi weist anschaulich nach, dass die Verbindung von Männlichkeit und Regie eng mit den Entstehungskontexten des Regieberufs zusammenhängt. Um 1800 nämlich, wo sich Geschlechterdichotomien zunehmend verfestigen und sich der Geniediskurs, der männliche Schöpferkraft propagiert, dominant herausbildet, entsteht der Beruf der Regisseurs und mit ihm das Idealbild des männlichen Theatermachers, das sich bis heute gehalten hat.80 Die eindeutige Dominanz von Regisseuren an deutschsprachigen, staatlichen Theaterhäusern wird im Kontext der Jelinek-Forschung immer wieder angesprochen und thematisiert, da gerade auch Jelineks Theatertexte vorwiegend von

75 Vgl.: N.N.: 50 Regisseure im deutschsprachigen Theater. http://www.goethe.de/kue/ the/reg/reg/deindex.htm (11.11.2015). 76 Premieren der Saison 2015/16. http://www.burgtheater.at/Content.Node2/home/spiel plan/premieren/Premierenuebersicht_2015_16.at.php (11.11.2015). 77 Premieren 2015/16. https://www.volksbuehne-berlin.de/deutsch/repertoire/premieren _2015_16/ (11.11.2015). 78 Premieren [2015/16]. http://www.muenchner-kammerspiele.de/premieren (1.1.2015). 79 Premieren 2015/16. http://www.schauspielhaus.ch/spielplan/premieren (1.1.2015). 80 Vgl.: Hänzi, Denis: Der ideale Regisseur – Zur Genese eines normativen Männlichkeitsmusters. In: Binswanger, Christa u.a. (Hg.): Gender Scripts. Widerspenstige Aneignungen von Geschlechternormen. Frankfurt am Main: Campus 2009 (= Politik der Geschlechterverhältnisse 40), S. 143-160, S. 155.

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Männern inszeniert werden. Deutlich zeigen dies die in der Werkdokumentation Elfriede Jelinek: Werk und Rezeption angeführten Uraufführungen von JelinekTexten, von denen 38 von Männern und nur sechs von Frauen inszeniert wurden.81 Auch bei den Sekundärdramen verhält es sich ähnlich: bei beiden Uraufführungen führten Männer Regie, bei den weiteren Inszenierungen sind es sieben Männer und vier Frauen, wobei alle Inszenierungen, die Sekundär- und Primärdrama kombinierten, von Männern inszeniert wurden. Aber auch allgemein kann im Theater immer noch zwischen traditionell mit Männern und traditionell mit Frauen besetzten Berufen unterschieden werden, dabei gilt, dass je bedeutender die Funktion, desto schwieriger haben Frauen Zugang dazu. Das deutschsprachige Sprechtheater kann nach wie vor als „partriarchalische Bastion“ eingestuft werden.82 Wenn Jelinek davon spricht, mit dem Sekundärdrama die „ehernen Blöcke männlichen Schaffens“ zu „umkreisen“ (BÜ), ist damit also nicht nur das Drama angesprochen, sondern auch der Ort, an dem sich das Drama realisiert: das Theater mit all seinen verdeckten hegemonialen Strukturen. Dass Frauen im Theater eher jene Bereiche zustehen, die die Unsichtbarkeit der eigenen Person voraussetzen, wird vom Konzept dahingehend reflektiert, als auch Jelinek sich als „Sekundärkünstlerin“ zunächst unsichtbar den männlichen Künstlern anheftet. Wenn aus Goethes Faust und Geist in FaustIn and out „FaustIn“ und „GeistIn“ werden, verweist das aber auch auf den SchauspielerInnenberuf, in dem sich Frauen sehr früh etabliert haben.83 Wie Christine Künzel herausarbeitet, hat die frühe Etablierung der Frau gerade in diesem künstlerischen Bereich verschiedene Gründe, die mit stereotypen Geschlechterbildern korrelieren: einerseits die Nähe von Schauspiel und Prostitution, andererseits das Talent zur Nachahmung (als Gegenstück zur männlichen Schöpfung).84

81 Vgl.: Janke, Pia: Elfriede Jelinek. Werk und Rezeption. 2 Teile. Wien: Praesens Verlag 2014 (= DISKURSE.KONTEXTE.IMPULSE. Publikationen des Elfriede JelinekForschungszentrums 10), S. 93-200. 82 Vgl.: Röttger, Kati: Zwischen Repräsentation und Performanz: Gender in Theater und Theaterwissenschaft. In: Bußmann, Hadumod / Hof, Renate (Hg.): GENUS. Geschlechterforschung / Gender Studies in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Stuttgart: Alfred Körner 2005, S. 520-556, S. 522. 83 Vgl.: Künzel, Christine: „Die Kunst der Schauspielerin ist sublimierte Geschlechtlichkeit“. Anmerkung zum Geschlecht der Schauspielkunst. In: Pailer, Gaby / Schößler, Franziska (Hg.): GeschlechterSpielRäume. Dramatik, Theater, Performance und Gender. Amsterdam: Rodopi 2011 (= Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 78), S. 241-254, S. 241. 84 Vgl.: Ebd., S. 241-244.

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Theatrales (als das nachahmende Vergängliche) und Weiblichkeitsvorstellungen treffen sich im Beruf der Schauspielerin. Andererseits wurden Schauspielerinnen auch als Bedrohung jener Dichotomie empfunden. So spricht Beate Hochholdinger-Reiterer hinsichtlich der Schauspielerin im sich etablierenden Literaturtheater des 18. Jhdts. als „Störfaktor“. Sie verweist auf die Konstruktion einer „natürlichen“ Geschlechterdichotomie, die einflussreiche Denker durch den Beruf der Schauspielerin angegriffen sahen und nennt als einen zentralen Vertreter dieser Ablehnung von Frauen am Theater Jean-Jacques Rousseau.85 Wenn Jelinek den Begriff des „Sekundärdramas“ einbringt, macht sie auch auf die Hierarchisierung zwischen den unterschiedlichen Kunstsparten im Theaterbetrieb aufmerksam. So etwa galt die Schauspielerei, da sie nichts Eigentümliches schafft, sondern nur bereits Vorhandenes aufgreift, lange Zeit als sekundäre Kunstform und stand an unterster Stelle der künstlerischen Werteskala.86 Nicht nur gibt es erhebliche Hierarchien bezüglich der ideellen Bewertung, sondern auch der tatsächliche Wert der Kunst variiert deutlich. So verdienen SchauspielerInnen markant weniger als etwa RegisseurInnen, auch innerhalb des Schauspiels variieren die Einkommen von Frauen und Männern jedoch stark: Schauspielerinnen erhalten meist ein Drittel weniger als ihre Kollegen.87 Mit Blick auf den Theaterbetrieb verweist das in FaustIn and out zitierte, stereotype Bild der psychisch kranken Frau auch auf die Schauspielerei, da die Annahme, dass Frauen das Talent zur Schauspielerei angeboren sei, das heißt zu Lüge und Nachahmung, lange Zeit an den Glauben der psychischen Labilität gebunden war.88 Mit Krankheit geht im Kontext des Theaterbetriebs aber auch noch ein weiterer Faktor einher, nämlich die Verklärung von gesunden, sportlichen Körpern. Die Betonung des kranken Frauenkörpers in FaustIn and out ist in diesem Sinne auch eine Verweigerung, der Forderung der Selbstdisziplinierung des Arbeitsmarktes Folge zu leisten.89

85 Vgl.: Hochholdinger-Reiterer, Beate: Kostümierung der Geschlechter. Schauspielkunst als Erfindung der Aufklärung. Göttingen: Wallenstein 2014, S. 261-262. 86 Vgl.: Künzel, Christine: „Die Kunst der Schauspielerin ist sublimierte Geschlechtlichkeit“. Anmerkung zum Geschlecht der Schauspielkunst, S. 246. 87 Vgl.: Schößler, Franziska / Haunschild, Axel: Genderspezifische Arbeitsbedingungen am deutschen Repertoiretheater. Eine empirische Studie, S. 262. 88 Vgl.: Künzel, Christine: „Die Kunst der Schauspielerin ist sublimierte Geschlechtlichkeit“. Anmerkung zum Geschlecht der Schauspielkunst, S. 244. 89 Vgl.: Schößler, Franziska / Haunschild, Axel: Genderspezifische Arbeitsbedingungen am deutschen Repertoiretheater. Eine empirische Studie, S. 264-265.

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Das Binnen-I bei der Angabe der SprecherInneninstanzen verweist im Kontext des Theaters aber auch auf die Frage der Repräsentation von Geschlecht. Wer repräsentiert wen? Müssen biologisches Geschlecht der SchauspielerInnen und Rolle übereinstimmen? Wie ist es, wenn bewusst keine Übereinstimmung hergestellt wird? Dass der Schauspielberuf stärker als andere Berufe körper- und geschlechtsspezifische Normvorstellungen widerspiegelt, weisen Schößler und Haunschild in ihrer empirischen Studie nach. Sie arbeiten heraus, dass v.a. das bürgerliche Illusionstheater mit seiner Mimesis-Forderung eng mit Normierungsdiskursen verbunden ist. Nicht nur nimmt die Besetzung Einfluss auf die Wahrnehmung der ZuschauerInnen, denen am Theater präsentiert wird, wie ein „leichtes Mädl“, eine „bürgerliche Frau“ etc. auszusehen hat, auch umgekehrt spiegeln Besetzungsentscheidungen aktuell in der Gesellschaft etablierte Normvorstellungen wider, je nach Epoche ist eine „schöne Frau“ entweder vollschlank, dünn, groß, klein, blond, dunkelhaarig etc.90 Trotz der Etablierung von Geschlechternormen durch bürgerliche Dramen spricht Hochholdinger-Reiterer dem Beruf der Schauspielerin generell Potential zur Verunsicherung vermeintlich natürlicher Geschlechterdifferenzen zu. Indem nämlich die Schauspielerin Geschlecht verkörpert, verweist sie auf das Konstruierte und die Codierungen von Geschlecht und macht diese Codes für die RezipientInnen lesbar.91 Schauspielerei changiert somit zwischen der Festigung und dem Unterlaufen von stereotypen Geschlechterbildern. Folgen die Inszenierungen der Primärdramen an den großen staatlichen Häusern meist einer konventionellen Rollenaufteilung, lädt das Sekundärdrama regelrecht zu einem Spiel mit Geschlechterrollen und -identitäten ein und macht damit die problematischen Seiten der Geschlechterdifferenzierung und die Kontingenz der Geschlechterfestlegung bewusst. Grundsätzlich sind Theatertexte, die die dramatischen Konventionen verlassen und auf Figuren und Identifikation verzichten, prädestiniert, um die normierende Funktion des Dramas und des damit verbundenen Prinzips der Repräsentation bewusst zu machen sowie die dadurch behauptete „Natur“ der Frau als Konstruiertes zu entlarven. Sind es in Abraumhalde das für Jelineks Theatertexte typische antimimetische Prinzip und damit in Zusammenhang stehend die Vielstimmigkeit, die einen permanenten Wechsel zwischen männlichen und weiblichen SprecherInnen andeutet, wird in FaustIn and out die Fixierung von Geschlechterrollen auf mehreren Ebenen verweigert. Das Binnen-I nämlich verunsichert eine geschlechtliche Festschrei-

90 Vgl.: Ebd., S. 260. 91 Vgl.: Hochholdinger-Reiterer, Beate: Kostümierung der Geschlechter. Schauspielkunst als Erfindung der Aufklärung, S. 280.

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bung der SprecherInneninstanzen, während der kursiv abgehobene Text zu Beginn des Stücks wiederum zumindest eine SprecherInneninstanz auf das biologische Geschlecht Frau festlegt: „GeistIn und Faust-In, wer immer das ist. Aber zumindest Faust-In muß eine Frau sein, […].“ (FAU) Was dadurch entsteht, ist v.a. eine Verunsicherung. Mit Antke Engel wäre an dieser Stelle auch von einer VerUneindeutigung der Geschlechterzuschreibungen zu sprechen.92 Die Texte vollführen jene von Engel beschriebene Aneignung und Umarbeitung von binären, heterosexualisierten Geschlechterkonzeptionen, um davon ausgehend binäre Oppositionen aufzubrechen und die Grenzen durchlässig zu machen, ohne neue Hierarchien entstehen zu lassen.93 Der Text zitiert, verweigert dann jedoch die Festlegung auf „eine Frau“, switcht zwischen Sprachhaltungen, stereotypen Rollenzuschreibungen und geschlechtsspezifischen Klischees. Fast scheint die Anmerkung, dass FaustIn von einer Frau gespielt werden muss, wie eine Umkehrung der von der griechischen Tragödie bis zum Ausgang der Renaissance geltenden Verbannung der Frau von der Bühne,94 die dazu führte, dass alle Rollen, egal ob Frau oder Mann, von Männern gespielt wurden. Eng damit verbunden ist die Maskierung als Mittel der Kenntlichmachung von Geschlecht am Theater, die einhergeht mit einer deutlichen Betonung von Verstellung und dadurch weniger Natürlichkeitsdiskurse befördert.95 Jelinek selbst regt also zu am Theater etablierten Formen wie etwa dem cross-dressing an, das auch aus gendertheoretischer Perspektive intensiv diskutiert wird. Röttger folgend, die das Verkörpern von Männerrollen durch Frauen und umgekehrt als Behauptung einer Figur des Dritten und als Eröffnung eines Möglichkeitsraums beschreibt,96 wäre crossdressing so auch als ein Mittel einer Ästhetik der Störung zu begreifen, das auf inszenatorischer Ebene Jelineks textuelles Verfahren umsetzen könnte. FaustIn und GeistIn können im Kontext von Jelineks dramatischem Werk also, das Entweder-Oder negierend, als weiteres „Doppelgeschöpf“ gelesen werden, wie es Jelinek in ihrem frühen Theatertext Krankheit oder moderne Frauen (1984) kre-

92 Hinsichtlich der Herstellung von VerUneindeutigung vgl.: Engel, Antke: Wider die Eindeutigkeit. Sexualität und Geschlecht im Fokus queerer Politik der Repräsentation. Frankfurt am Main: Campus 2002, S. 161-189. 93 Vgl.: Ebd., S. 163. 94 Vgl.: Möhrmann, Renate: Einleitung. In: Möhrmann, Renate (Hg.): Die Schauspielerin. Zur Kulturgeschichte der weiblichen Bühnenkunst. Frankfurt am Main: Insel 1989, S. 7-23, S. 10. 95 Vgl.: Röttger, Kati: Zwischen Repräsentation und Performanz: Gender in Theater und Theaterwissenschaft, S. 528. 96 Vgl.: Ebd., S. 548-549.

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iert hat, wie es aber auch in dem sehr aktuellen Theatertext Die Straße. Die Stadt. Der Überfall. (2012) vorkommt. Wie Silke Felber herausarbeitet, ist dieses Doppelgeschöpf eine hybride Formation, die eine genderspezifische Veruneindeutigung mit sich bringt.97 Sie geht auf das Potential dieser Formation ein, Unordnung zu stiften. Mit Verweis auf den Dionysoskult und den Karneval betont sie allerdings auch das ordnungsstabilisierende Moment. Jelineks Doppelgeschöpfe teilen somit die wesentlichen Charakteristika der Störung, es sind Zweibzw. Mehrdeutigkeiten stiftende Formationen, die sich jeder Form der eindeutigen Festlegung und Festschreibung entziehen, die Systeme aber nicht nur destruieren, sondern die auch konstruktiv wirken können. Mit dem Eindringen in bürgerliche Dramen ruft das Sekundärdrama eine wieder andere Form der Darstellung und Wahrnehmung von Geschlecht auf, eben jene, die an die Übereinstimmung von SchauspielerInnenkörper, Rolle und Wirklichkeit glaubt. Röttger hält diesbezüglich fest: „Unter der Bedingung der ‚Verschleierungʻ seiner Apparatur verstand sich das bürgerliche Illusionstheater dabei als Garanten für die Wahrheit der Natur(nachahmung). Voraussetzung dafür war aber die Lesbarkeit des Körpers [...].“98 Jelineks Sekundärdramen allerdings verweigern vehement das „Verschleiern“ des Apparats und befördern so all jene Aspekte, die zugunsten der Transparenz des Herstellungsprozesses verdeckt wurden. Das Sekundärdrama macht auf diese Weise die historische Dimension der Repräsentation und Konstruktion von Geschlecht am Theater bewusst. Dass das Theater diese Verunsicherung von Geschlecht gerne auslotet, zeigt etwa die Uraufführungsinszenierung von FaustIn and out. Werden durch das Kostüm der drei den Text sprechenden Schauspielerinnen puppenhaft anmutende Mädchen inszeniert, deren Kindlichkeit dadurch betont wird, dass sie Stöckelschuhe tragen, die ihnen deutlich zu groß sind, und deren Unschuld durch das Weiß der Kleider, die sie tragen, unterstrichen wird, kleben sie sich immer wieder schwarze Schnurrbärte auf, um so die eindeutig weibliche Zuschreibung zu unterlaufen und die Aneignungsversuche von männlichen ideengeschichtlichen Entwürfen vorzuführen. Dieses Prinzip, zunächst eindeutig weiblich festge-

97 Vgl.: Felber, Silke: (M)ODE an die Geschlechter! Ökonomie des (Cross-)Dressings in Elfriede Jelineks Die Straße. Die Stadt. Der Überfall. In: Felber, Silke (Hg.): KAPITAL MACHT GESCHLECHT. Künstlerische Auseinandersetzungen mit Ökonomie & Gender. Wien: Praesens Verlag 2016 (= DISKURSE.KONTEXTE.IMPULSE. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums 12), S. 74-87, S. 77. 98 Röttger, Kati: Zwischen Repräsentation und Performanz: Gender in Theater und Theaterwissenschaft, S. 535.

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legte Rollen zu präsentieren, um sie dann durch das Einbringen von männlich kodierten Symbolen aufzubrechen und zu verunsichern, findet sich auch in späteren Inszenierungen des Textes, so etwa am Schauspiel Frankfurt oder am Schauspielhaus Graz. Auffallend ist allerdings, dass FaustIn and out meist ausschließlich mit Schauspielerinnen besetzt wird. Im deutschsprachigen Raum hat einzig eine Inszenierung, nämlich jene von Johan Simons am Residenztheater München, den Text auf eine Schauspielerin und einen Schauspieler aufgeteilt. Dies belegt, dass die Betonung einer „weiblichen Perspektive“ auf Goethes Faust die Theater dazu tendieren lässt, Frauen zu besetzen, ohne auf dieser Ebene das Konzept der Repräsentation zu hinterfragen. Wenn Jelineks unmöglich auf Geschlechter festlegbare Texte in die Primärdramen eindringen, erreichen sie einen viel deutlicheren Störeffekt, als dies ohne die Primärdramen der Fall wäre, und verweisen jenseits des Scheins des Natürlichen, wie er in den Primärdramen erzeugt wird, auf die Performativität der Geschlechter. Kati Röttger spricht in Bezug auf Geschlecht und Repräsentation am Theater von einer doppelten Sekundarität von Weiblichkeit und Theatralität. Gemeint ist damit die Übertragung von Qualitäten der Bühne auf die Frau im Sinne ihrer Funktion, Wahrheit zu spiegeln, und umgekehrt der Frau zugesprochene Eigenheiten auf die Bühne im Sinne der Nachahmung.99 Jelineks Sekundärdrama zitiert bereits in der Begriffsbildung jene Verbindung. In der Verweigerung der Repräsentation und Mimesis unterläuft es jedoch jenes Prinzip. Intensiviert wird das Potential zur Auf- und Verstörung der mit dem Illusionstheater verbundenen Geschlechterdifferenzierungen durch das Eindringen und die gemeinsame Inszenierung. Jelineks anti-mimetische Theatertexte bilden in den Dramen Lessings und Goethes ein Störgeräusch, sie lassen SchauspielerInnenkörper in ein Repräsentationstheater eindringen, die auf ein Anderes verweisen, die wieder Vielheit am Theater ermöglichen und die auf diese Weise die in den Dramen vorgegebenen Normen und Konventionen in ihrer Begrenztheit sichtbar machen. In der Offenlegung der mit dem bürgerlichen Drama und Theater transparent gewordenen Konventionen und Bedingungen machen Jelineks Sekundärdramen das Produzierte von Wissen und Kultur offensichtlich. Wenn die Texte „Klassiker“ des Theaters als Primärdrama heranziehen, dringen sie in eben jene Texte ein, die bis heute zentral daran beteiligt sind, was in Gesellschaften als Normal und Abnormal empfunden wird und wie Geschlechter festgelegt und differenziert werden.

99 Vgl.: Ebd., S. 527.

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Abschließend bleibt festzuhalten, dass die Intensität der Störung durch Jelineks Sekundärdrama stark abhängig ist von der jeweiligen Inszenierung. Einerseits variiert die Intensität mit der Dauer der Störung. Je nachdem, ob der Text eigenständig, als Unterbrechung der Primärdramen oder tatsächlich gleichzeitig inszeniert wird, unterscheidet sich auch, als wie störend er empfunden wird und wie nachhaltig die Störung wirkt. Andererseits bestimmt auch der Ort der Störung über die Intensität: dringt das Sekundärdrama in staatliche Theaterhäuser ein und wird auf den großen Bühnen, auf denen meist ausschließlich „Klassiker“ zu sehen sind, umgesetzt, irritiert es mehr als auf Nebenbühnen oder im OffBereich, weil dort das System, auf dem die Störung des Konzepts beruht, nicht vorherrschend ist.100 Dass Störungen bestehende Systeme herausfordern und dazu zwingen, auf sie zu reagieren, macht das Konzept des Sekundärdramas deutlich. Es zeigt, dass es bei Störungen jedoch nicht bloß um die Destruktion des Bestehenden geht, sondern auch um das produktive Eingreifen und schließlich die langfristige Veränderung. Dies hat zur Folge, dass Störungen über kurz oder lang ihre Wirksamkeit verlieren. Sobald das System auf sie reagiert und produktiv damit arbeitet, ist auch die Störung Teil des Systems geworden. Dass das Sekundärdrama innerhalb kürzester Zeit den Theaterbetrieb nicht mehr irritiert, sondern produktiv damit gearbeitet wird und neue Inszenierungsformen prägt, die sich zu etablieren scheinen, bestätigt etwa die aktuelle Tendenz, das Konzept auch auf andere Theatertexte Jelineks zu übertragen. Interessanterweise sind es gerade die Regisseure der Uraufführungen von Abraumhalde und FaustIn and out, die auch andere Texte der Autorin als Sekundärdrama umsetzten. So etwa übernahm Dušan David Pařízek das Konzept 2013 bei Jelineks erstem Theatertext Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften und kombinierte diesen in einer Inszenierung mit dem Titel Nora3 mit Ibsens Nora oder Ein Puppenheim und mit einem eigens von Jelinek für diese Produktion verfassten Epilog mit dem Titel Nach Nora.101 Auch die Uraufführung von Rein Gold in der Regie von Nicolas Stemann wurde so umgesetzt, dass Jelineks Text mit Musik aus Richard Wagners Der Ring des Nibelungen zusammengebracht wurde.102 Dabei wurde vom Dramaturgen Benjamin von Blomberg, der die Ur-

100 Vgl. hinsichtlich der Intensität von Störungen: Gansel, Carsten: Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie „Störung“ – Möglichkeiten der Anwendung für Analysen des Handlungs- und Symbolsystems Literatur, S. 31-32. 101 Premiere: 12.10.2013, Schauspielhaus Düsseldorf. 102 UA: 9.3.2014, Staatsoper im Schillertheater.

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aufführung betreute, der Begriff des Sekundärdramas bewusst auch auf Rein Gold angewendet. Bei der Ankündigung schreibt er: Es ist nicht das erste Mal, dass Jelinek einem Drama ihr Drama hinzufügt. Die Autorin, die ihre Stichworte bevorzugt der monströsen bzw. allzumenschlichen Gegenwart ablauscht – eben diese geht gern auch den entgegengesetzten Weg. Schreibanlass ist dann, was bereits zur Sprache gefunden hat. Sekundärdramen nennt sie diese Texte [...].103

Das Konzept wird mittlerweile auch von anderen RegisseurInnen aufgegriffen. Das Schauspiel Leipzig etwa setzt in der Regie von Enrico Lübbe Jelineks Theatertext Die Schutzbefohlenen, der, ähnlich wie viele ihrer Theatertexte, eine griechische Tragödie als Folie nutzt, in Kombination mit dem zentralen Intertext um.104 In diesem Fall ist es konkret Aischylos Tragödie Die Schutzflehenden, die von Jelinek am Ende des Textes als ein wichtiger Intertext angeführt wird, die gemeinsam mit Jelineks Stück inszeniert wird. Interessant ist, dass Jelinek selbst sich dagegen zu verwehren sucht, dass das Konzept des Sekundärdramas auch auf ihre anderen Texte übertragen wird. Wie aus der Kritik von Helmut Schödel hervorgeht, hat die Autorin für die Inszenierung der Schutzbefohlenen in Leipzig untersagt, dass ihr Stück tatsächlich mit Aischylos verquickt wird, sondern erlaubte ausschließlich ein Nacheinander beider Theatertexte im Rahmen der Inszenierung.105 Jelinek reagiert damit auf die zunehmende Unschärfe, die der Begriff durch die Übertragung auf andere Theatertexte und Inszenierungen erhält. Diese Übertragung betrifft nicht nur die Inszenierungen selbst, sondern auch in Kritiken wird der Begriff mittlerweile häufig aufgegriffen, um das intertextuelle Schreibverfahren der Autorin zu beschreiben bzw. findet er in wissenschaftliche Diskussionen Eingang und wird auch hier teilweise auf alle Texte Jelineks übertragen, die einen bestehenden Theatertext als Folie nutzen.

103 Blomberg, Benjamin von: Inhaltsangabe. http://www.berlin-buehnen.de/de/spiel plan/rein-gold-2/events/56559/ (22.11.2015). 104 Premiere: 2.10.2015, Schauspiel Leipzig. 105 Vgl.: Schödel, Helmut: Das volle Boot. In: Süddeutsche Zeitung, 7.10.2015.

Conclusio – Kein neues Drama

Störungen geben Aufschluss über die Etablierung politisch-sozialer, epistemischer und medialer Wirklichkeits- und Gesellschaftsbilder. Kunstwerke, die einer Ästhetik der Störung folgen, berühren somit nicht nur künstlerische Bereiche, sondern deutlich auch politische und soziale Aspekte und gehen in ihrer Wirkung weit über die Infragestellung der eigenen Verfasstheit hinaus.1 Störimpulse zwingen Systeme dazu, auf sie zu reagieren und sie zu bearbeiten. Konkret bedeutet das, dass Systeme Störungen entweder produktiv umwerten und einbauen, dass sie Teile für sich nutzen und andere ausstoßen oder dass sie sie ausschließlich als negative Bedrohung empfinden und gänzlich verdrängen. Künstlerische Störungen können somit zu divergierenden Reaktionen auf Seiten des Systems führen: als Ausschlussverfahren könnten Tabuisierung, Skandalisierung und Diffamierung das Ergebnis sein, andererseits könnte sich das System soweit verändern, dass die Störung positiv in das Selbstbild integriert und zu einer neuen Norm wird. Indem Störungen das System herausfordern, auf sie zu reagieren, verweisen sie auf die diesen Systemen inhärenten Normvorstellungen und Selbstbilder, tragen dazu bei, diese zu festigen, zu transformieren oder gar zu revidieren. Als das Andere der Ordnung verweisen Störungen also paradoxerweise wieder auf eben diese Ordnung, markieren deren Ränder und tragen dazu bei, die Konstruiertheit von als natürlich empfundenen Aufteilungen zu entlarven und zur Diskussion zu stellen. Indem Störung ästhetische Verfahren deutlich an die Verhandlung von Ordnungen knüpft, wird das Politische sichtbar, das jener bewusst Störungen produzierender Kunst innewohnt. Störungen irritieren die gegebene Ordnung, erzeugen Dissens und lassen an den Bruchstellen der Ordnung das Verdrängte zum Vorschein kommen. Aufgrund der Umkehrung bzw. Nicht-

1

Vgl.: Koch, Lars / Nanz, Tobias: Ästhetische Experimente. Zur Ereignishaftigkeit und Funktion von Störungen in den Künsten, S. 94-95.

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anerkennung von Sichtbarkeitsordnungen kann die Störung als subversive künstlerische Praxis beschrieben werden, die die bestehenden Vorgaben, was in einem System sagbar, sichtbar und machbar ist, unterläuft.2 Die Primärdramen, die als kanonisierte Texte Teil der vorherrschenden Ordnung sind, tragen deutlich zur Entstehung gesellschaftlicher Selbstbilder bei. Sie fördern bestimmte Formen der Wahrnehmung, arbeiten an der Unterscheidung zwischen Normalität und Abnormalität mit sowie an der Etablierung und Erhaltung der Ordnung. Die Sekundärdramen markieren eben diese Beteiligung der bürgerlichen Dramenform bzw. der kanonisierten Dramen an diesen Vorgängen. Ordnungen sind immer darauf bedacht, die Instanzen, die für ihre Durchsetzung und Einhaltung verantwortlich sind, unsichtbar zu machen und sich so als natürliche zu präsentieren.3 Die Sekundärdramen arbeiten dem entgegen und verweisen auf die (gewaltsame) Konstruktion des „Natürlichen“. Sie verweigern die Transparenz, lassen Momente der Opazität entstehen und machen auf diese Weise bewusst, was hinter dem scheinbar Natürlichen verborgen liegt. In der Verweigerung, die eigene Form, Materialität und Konstruiertheit zu verdecken, stört das Sekundärdrama gewohnte Funktionsweisen von Kunst und hebt die eigene Materialität hervor, die normalerweise zugunsten der Sinnstiftung transparent werden muss. Die Verweigerung der Transparenz soll jedoch nicht Opazität als Gegenpol starkmachen, sondern sie macht bewusst, dass auch diese Dichotomie nicht einfach in zwei sich oppositionell gegenüberstehende Seiten auseinanderfällt, sondern beide Seiten auf komplexe Weise aneinander gebunden und aufeinander bezogen bleiben – wie etwa auch Primärdrama und Sekundärdrama. Rautzenberg, der aufbauend auf Heideggers Zeug-Analysen jenes komplexe Verhältnis zu beschreiben sucht, hält fest: „Weder ist die Störung eine rein subversive Kraft, die gegen die ‚Bannkraft‘ medialer ‚Verblendungszusammenhänge‘ opponiert, noch sind Medien überhaupt als störungsfrei-monolithische Enigmata denkbar“, um schließlich schlusszufolgern: „Transparenz und Opazität, aisthetische Neutralität und Störung sind nicht dichotomische Oppositionen, sondern verschiedene Formen desselben Vorgangs; […].“4 Es ist also das Zwischen

2

Vgl.: Ruda, Frank: Gespräch mit Jacques Rancière, S. 37-90.

3

Vgl.: Ebd., S. 95-97.

4

Rautzenberg, Markus: Die Gegenwendigkeit der Störung. Aspekte einer postmetaphysischen Präsenztheorie, S. 198.

C ONCLUSIO – K EIN NEUES D RAMA

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Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Vollzug und Entzug, was durch die Störung betont wird, das sich einer eindeutigen und endgültigen Festlegung entzieht.5 In der Betonung des Zwischen verweigert sich das Konzept des Sekundärdramas der Reduktion von Komplexität wie sie die Produktion gesellschaftlicher Selbstbilder und Normvorstellungen mit sich bringt.6 Das vom Sekundärdrama verfolgte Verfahren der Addition und der Vervielfachung macht den Ausschluss der Vielheit zugunsten der Produktion von Eindeutigkeit bewusst. In dieser Vorgangsweise ähnelt das Konzept anderen zeitgenössischen Kunstformen, die mit eben jenem kulturanalytischen Potential der Störung arbeiten und dieses bewusst einsetzen, um vermeintlich sicheres bzw. gesichertes Wissen zu irritieren, wie es etwa Lehmann auch für postdramatische Theaterformen nachweist.7 Eine vereinfachende und in sich stimmig scheinende Konstruktion von Wissen, Identität etc. kann durch Vervielfältigungen Verunsicherung erfahren. Eben dieses Potential wird beim Konzept des Sekundärdramas ausgelotet: jede scheinbare Sicherheit und Eindeutigkeit wird aufgegeben, die Texte arbeiten mit sich permanent widersprechenden Stimmen, sie zitieren vermeintlich gesicherte Kategorien, um den RezipientInnen schließlich um so bestimmter den Boden unter den Füßen zu entziehen. So wie die Sekundärdramen gesellschaftliches Wissen verunsichern, stören sie auch das Wissen um das Dramatische, um etablierte Formen der Dramaturgie und um das Theater. Sie zwingen die RezipientInnen dazu, ein neues und anderes Denken von Text, Drama und Theater zuzulassen, jedoch ohne dieses wiederum als gefestigtes Wissen zu etablieren, sondern immer verharrend in der Unsicherheit. Was das Konzept also herausfordert, ist nicht nur eine aktive Haltung bzw. ein aktives Sich-zum-Text-Verhalten auf Seiten des Theaters, sondern es zwingt auch die RezipientInnen zur Aktivität. Indem das Sekundärdrama in Texte eindringt, die den meisten RezipientInnen im deutschsprachigen Raum bekannt sind, eröffnet es ein Spiel um die Erwartungshaltungen und Wahrnehmungsgewohnheiten der ZuschauerInnen, sodass am Ende alles fremd und unbekannt erscheint – auch bzw. gerade jene Dramen, die vorher so gesichert schienen. Da in der Kombination von Primär- und Sekundärdrama Ganzes aufgebrochen wird, entstehen nicht festgelegte Leerstellen, an denen jede/r einzel-

5

Vgl. hinsichtlich des Verhältnisses von Transparenz und Opazität das sehr aufschlussreiche Kapitel Transparenz und Opazität in: Ebd., S. 153-164.

6

Vgl.: Koch, Lars / Nanz, Tobias: Ästhetische Experimente. Zur Ereignishaftigkeit und Funktion von Störungen in den Künsten, S. 93.

7

Vgl.: Ebd., S. 96; sowie: Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, S. 460.

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ne/r RezipientIn selbst weiterschreiben kann. Damit fordert das Konzept, neue Wahrnehmungsweisen zuzulassen und vorgegebene Muster aufzugeben. In der Befragung des Kanons bricht das Sekundärdrama schließlich mit etablierten Formen des Gedächtnisses und mit Formen der Erinnerungskultur, die zwischen Erinnerungswertem bzw. Bedeutendem und Nicht-Erinnerungswertem bzw. Bedeutungslosem unterscheiden und die Geschichte als eine Geschichte der Herrschenden begreifen, indem es sich verweigert, Bedeutungen im Sinne von Bewertbarem zu produzieren. Die Sekundärdramen kombinieren kanonisierte Literatur mit Alltagsbanalitäten und folgend damit einem non-hierarchischen Prinzip, das gleichberechtigt aneinanderreiht. In der Vermischung von identitätsstiftendem Kanon und „verderblichem“ Textmaterial wird dem „Bleibenden“ der Verfall eingeschrieben, umgekehrt kann jedoch das Flüchtige aufgrund dieser Strategie am Bleibenden teilhaben. Wenn Albrecht Koschorke hinsichtlich des Dritten betont, dass es dort auftaucht, „wo von Schwellen, Ursprüngen, Enden und Grenzen die Rede ist und sich mit der Bildung und Auflösung von Polaritäten vom Typ innen / außen, vorher / nachher zugleich die Frage nach Vermittlern, diskursiven Doppelagenten, Grenzwärtern und Schmugglern stellt“8, kann das Sekundärdrama als jener auf- und verstörende Grenzgänger beschrieben werden, der ein unauflösbares Zwischen erzeugt. Muss sich eine Auseinandersetzung mit Jelineks Sekundärdrama unweigerlich die Frage stellen, inwieweit das Konzept als Sonderform innerhalb von Jelineks dramatischem Œuvre zu bezeichnen ist oder ob es nicht doch ihrem grundsätzlichen Verfahren entspricht, kann auch hier festgehalten werden, dass sich das Konzept einer eindeutigen Festlegung entzieht. Die vorliegende Studie plädiert dafür, „Sekundärdrama“ nicht mit Intertextualität bei Jelinek gleichzusetzen, da das Sekundärdrama dezidiert auf die historische Kategorie Drama rekurriert und bei Texten, die ein Musiktheater, eine griechische Tragödie oder auch ein Wiener Volksstück zur Grundlage haben, deutlich andere Konventionen und Voraussetzungen zitiert werden und da sich das Konzept nicht bereits darin erfüllt, einen Bezug zu einem anderen Text herzustellen. Es ist aber nicht nur die Sonderstellung der historischen Kategorie Drama, sondern es sind auch gesellschaftliche Entwicklungen des 18. Jhdts., die mit dem Sekundärdrama einer kritischen Reflexion unterzogen werden und die den Texten eine spezielle thematische Schwerpunktsetzung verleihen. In diesem Sinne wäre das Sekundärdrama als eine Sonderform innerhalb von Jelineks Gesamtwerk zu sehen. Allerdings bleibt das Sekundärdrama eng mit Jelineks grundlegenden dramen- und theaterästhetischen Überlegungen verbunden, schreibt ihren Widerstand gegen

8

Koschorke, Albrecht: Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften, S. 29.

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das Drama und das Theater fort und ist somit als genuiner Teil ihrer Arbeiten für das Theater zu bezeichnen. Das Sekundärdrama als Störung zu beschreiben, betont den politischen Anspruch und das kritische Potential des Konzepts. Darüber hinaus wird dadurch möglich, Jelinek nicht nur als destruierende Autorin einzuordnen, sondern den Blick auch auf das konstruktive Potential zu lenken und hervorzuheben, wie nachhaltig Jelineks Schreiben das Theater und dessen Inszenierungsformen, aber auch Wahrnehmungsgewohnheiten prägt und verändert. Haben sich der Begriff und das Konzept des Sekundärdramas am Theater mittlerweile so weit etabliert, dass das Sekundärdrama sein Störpotential teilweise eingebüßt hat, soll am Ende dennoch hervorgehoben werden, dass das Konzept nach wie vor am Theater nicht ausgeschöpft wurde und noch viele Möglichkeiten der Umsetzung bestehen würden, die eine intensive Störung mit sich bringen könnten. Dass Jelinek selbst angibt, keine weiteren Sekundärdramen zu verfassen, arbeitet einer Etablierung dieses Konzepts entgegen und führt dazu, dass die Sekundärdramen Sonderform bleiben werden. Das Sekundärdrama kann nur als singuläre Störung auf die Primärdramen und den Literatur- und Theaterbetrieb einwirken, es darf sich nicht tatsächlich als „Gattung“ etablieren. Über die Störung der Primärdramen, ihrer Inhalte und Form, aber auch des Literatur- und Theaterbetriebs wäre nochmals hinauszugehen und anzumerken, dass das Konzept des Sekundärdramas auch die Wissenschaft fordert, herausfordert und teilweise auch überfordert. Es stellt sich die Frage, wie diese Texte besprochen werden können, welche Begrifflichkeiten adäquat sind, wenn etablierte Unterscheidungen und Kategorisierungen im Grunde durch die Sekundärdramen unterlaufen werden. Es stellt sich aber auch die Frage, wie die Sekundärdramen zu erfassen wären, ob sie als eigenständige Werke behandelt werden sollen oder ob sie sich dieser Betrachtung nicht bereits entziehen. Das Konzept ist sowohl Drama als auch jenseits des Dramatischen organisierter Theatertext, damit jedoch gleichsam nichts von beidem. Es verunsichert eine wissenschaftliche Kategorisierung, stellt bestehende Episteme infrage und schärft damit auch auf wissenschaftlicher Ebene den Blick für Wertungen, Ausschlüsse und Hierarchien, die mit der Herausbildung von vermeintlich gesichertem Wissen und mit der wissenschaftlichen Kategorisierung einhergehen. Es regt dazu an, dramatische Texte jenseits einer Unterscheidung von Dramatischem, Prä-, Post- und WiederDramatischem zu behandeln und sich dessen bewusst zu werden, dass Kategorisierungen, die Einheit und Kohärenz produzieren, auch im wissenschaftlichen Bereich kritisch hinterfragt werden müssen. Das Sekundärdrama inspiriert dazu, auch in der wissenschaftlichen Beschreibung die Vielheit zu berücksichtigen und

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Widersprüchlichkeiten zuzulassen, ohne sie auflösen zu wollen und in ein stimmiges Ganzes und Abgeschlossenes zu verwandeln. Die Betonung der Heterogenität, die vielfältigen Verunsicherungen und die Frage nach sich permanent verändernden Verhältnissen und Konstellationen regen an, auch andere Texte und Konzepte Jelineks unter dem Aspekt der Ästhetik der Störung zu untersuchen. So gibt diese Studie hoffentlich den Anstoß zu weiteren Auseinandersetzung mit Jelineks Störverfahren. Jelineks Sekundärdramen sind produktive Störungen, die in ihren Abbrüchen, in der Erzeugung von Vielstimmigkeit, in der Um- und Verkehrung scheinbar fixierter Kategorien und in der Verweigerung, ihre eigene Form und Materialität transparent zu machen, nachhaltig Wahrnehmungsgewohnheiten verändern. Darin realisiert sich das Politische des Konzepts.

Anhang

Siglenverzeichnis

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Anmerkung Die vorliegende Studie zieht die Stücke Lessings und Goethes, die Jelinek als Primärdramen dienen, sowie zentrale Intertexte der Sekundärdramen nicht in der Printausgabe heran, sondern verwendet Online-Publikationen. Dies liegt darin begründet, dass die Sekundärdramen selbst diese Online-Publikationen aufgreifen.

Literaturnachweise

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schaften. Clara S. musikalische Tragödie. Burgtheater. Krankheit oder Moderne Frauen. Reinbek: Rowohlt 1992, S. 7-78. Essayistische Texte Jelinek, Elfriede: Textflächen. http://a-e-m-gmbh.com/wessely/ftextf.htm (15.7. 2014), datiert mit 17.2.2013 (= Elfriede Jelineks Website, Rubriken: Aktuelles 2013, zum Theater). Jelinek, Elfriede: Es ist Sprechen und aus. http://204.200.212.100/ej/fach tung.htm (30.11.2015), datiert mit 15.11.2013 (= Elfriede Jelineks Website, Rubriken: Aktuelles 2013, zum Theater). Jelinek, Elfriede: Grußwort nach Japan. http://www.a-e-m-gmbh.com/wessely/ fjapanfestival.htm (15.7.2014), datiert mit 9.6.2012 / 9.7.2014 (= Elfriede Jelineks Website, Rubrik: zum Theater). Jelinek, Elfriede: Das Parasitärdrama. http://a-e-m-gmbh.com/wessely/fpara sitaer.htm (20.6.2013), datiert mit 12.5.2011 (= Elfriede Jelineks Website, Rubriken: Archiv 2011, zum Theater). Jelinek, Elfriede: Anmerkung zum Sekundärdrama. http://a-e-m-gmbh.com/wes sely/fsekundaer.htm (28.8.2014), datiert mit 18.11.2010 (= Elfriede Jelineks Website, Rubriken: Archiv 2010, zum Theater). Jelinek, Elfriede: Reichhaltiger Angebotskatalog. In: Theater heute 6/2009, S. 16. Jelinek, Elfriede: Im Verlassenen. http://a-e-m-gmbh.com/wessely/famstet.htm (15.7.2014), datiert mit 1.5.2008 (= Elfriede Jelineks Website, Rubriken: Archiv 2008, Notizen, zu Österreich). Jelinek, Elfriede: Sprech-Wut (ein Vorhaben). In: Literaturen special 1-2/2005, S. 12-15. Jelinek, Elfriede: Im Abseits. http://nobelprize.org/nobel_prizes/literature/laure ates/2004/jelineklecture-g.html (15.7.2014). Jelinek, Elfriede: Sinn egal. Körper zwecklos. 1996 (auf der Rückseite des Plakats zu Symposium (17.-20.10.1996) und Ausstellung (17.10.-10.11.1996 Echos und Masken). Jelinek, Elfriede: Ich möchte seicht sein. In: Schreiben 29/30 (1986), S. 74. Jelinek, Elfriede: Ich schlage sozusagen mit der Axt drein. In: TheaterZeitSchrift 7 (1984), S. 14-16.

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R EZENSIONEN / K RITIKEN Klaeui, Andreas: Das Gretchen von Amstetten. http://nachtkritik.de/index.php? option=com_content&view=article&id=6675:faust-13-goethe-und-jelinekin-zuerich&catid=38:dienachtkritik&Itemid=40 (15.7.2014). Schödel, Helmut: Das volle Boot. In: Süddeutsche Zeitung, 7.10.2015. Schulte, Bettina: Gretchen Fritzl. In: Badische Zeitung, 10.3.2012. Stadelmaier, Gerhard: Witzeln und fritzeln. In: Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 29.9.2012. Surber, Peter: Faust und Fritzl. In: St. Gallener Tagblatt, 10.3.2012. Weinzierl, Ulrich: Männer, in denen immer auch der Teufel steckt. In: Die Welt, 10.3.2012.

Z EITUNGSARTIKEL N.N.: Krankenschwester im Hanusch-Krankenhaus erschossen. In: Die Presse, 15.11.2009.

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P ROGRAMMVORSCHAUEN , - ANKÜNDIGUNGEN P ROGRAMMHEFTE

UND

Faust 1-3. In: Schauspielhaus Zürich. März 2012. (= Monatsvorschau des Schauspielhaus Zürich für März 2012) FAUST10 Eine Arbeit von Felix Rotenhäusler und Tarun Kade. (= Programmheft des Theater Bremen zu FAUST10. Eine Arbeit von Felix Rotenhäusler und Tarun Kade, 2013). FaustIn and out / Der Tragödie zweiter Teil. (= Programmheft des Hessischen Staatstheater Wiesbaden zu FaustIn and out / Der Tragödie zweiter Teil, 2013). Nathan der Weise. (= Programmheft des Thalia Theater Hamburg zu Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise, 2009) Nathan der Weise. (= Programmzettel des Thalia Theater Hamburg zu Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise, 2009) Okt 09. (= Spielplan des Thalia Theater Hamburg für Oktober 2009) Premieren [2015/16]. http://www.muenchner-kammerspiele.de/premieren (1.1. 2015). Premieren 2015/16. http://www.schauspielhaus.ch/spielplan/premieren (1.1. 2015). Premieren 2015/16. https://www.volksbuehne-berlin.de/deutsch/repertoireprem ieren_2015_16/ (11.11.2015). Premieren der Saison 2015/16. http://www.burgtheater.at/Content.Node2/home/ spielplan/premieren/Premierenuebersicht_2015_16.at.php (11.11.2015). Premieren Thalia Theater 2009 & 2010. In: Thalia 2009 & 2010. (= Programmvorschau des Thalia Theater Hamburg für die Spielzeit 2009/10)

W ERKSTATISTIKEN Deutscher Bühnenverein: Wer spielte was? Werkstatistik reich, Schweiz. Bensheim: Mykene Verlag 1991. Deutscher Bühnenverein: Wer spielte was? Werkstatistik reich, Schweiz. Bensheim: Mykene Verlag 1992. Deutscher Bühnenverein: Wer spielte was? Werkstatistik reich, Schweiz. Bensheim: Mykene Verlag 1993. Deutscher Bühnenverein: Wer spielte was? Werkstatistik reich, Schweiz. Bensheim: Mykene Verlag 1994.

Deutschland, ÖsterDeutschland, ÖsterDeutschland, ÖsterDeutschland, Öster-

L ITERATURNACHWEISE

Deutscher Bühnenverein: Wer spielte was? Werkstatistik reich, Schweiz. Bensheim: Mykene Verlag 1995. Deutscher Bühnenverein: Wer spielte was? Werkstatistik reich, Schweiz. Bensheim: Mykene Verlag 1996. Deutscher Bühnenverein: Wer spielte was? Werkstatistik reich, Schweiz. Bensheim: Mykene Verlag 1997. Deutscher Bühnenverein: Wer spielte was? Werkstatistik reich, Schweiz. Bensheim: Mykene Verlag 1998. Deutscher Bühnenverein: Wer spielte was? Werkstatistik reich, Schweiz. Bensheim: Mykene Verlag 1999. Deutscher Bühnenverein: Wer spielte was? Werkstatistik reich, Schweiz. Bensheim: Mykene Verlag 2000. Deutscher Bühnenverein: Wer spielte was? Werkstatistik reich, Schweiz. Bensheim: Mykene Verlag 2001. Deutscher Bühnenverein: Wer spielte was? Werkstatistik reich, Schweiz. Bensheim: Mykene Verlag 2002. Deutscher Bühnenverein: Wer spielte was? Werkstatistik reich, Schweiz. Bensheim: Mykene Verlag 2003. Deutscher Bühnenverein: Wer spielte was? Werkstatistik reich, Schweiz. Bensheim: Mykene Verlag 2004. Deutscher Bühnenverein: Wer spielte was? Werkstatistik reich, Schweiz. Bensheim: Mykene Verlag 2005. Deutscher Bühnenverein: Wer spielte was? Werkstatistik reich, Schweiz. Bensheim: Mykene Verlag 2006. Deutscher Bühnenverein: Wer spielte was? Werkstatistik reich, Schweiz. Bensheim: Mykene Verlag 2007. Deutscher Bühnenverein: Wer spielte was? Werkstatistik reich, Schweiz. Bensheim: Mykene Verlag 2008. Deutscher Bühnenverein: Wer spielte was? Werkstatistik reich, Schweiz. Bensheim: Mykene Verlag 2009. Deutscher Bühnenverein: Wer spielte was? Werkstatistik reich, Schweiz. Bensheim: Mykene Verlag 2010. Deutscher Bühnenverein: Wer spielte was? Werkstatistik reich, Schweiz. Bensheim: Mykene Verlag 2011. Deutscher Bühnenverein: Wer spielte was? Werkstatistik reich, Schweiz. Bensheim: Mykene Verlag 2012. Deutscher Bühnenverein: Wer spielte was? Werkstatistik reich, Schweiz. Bensheim: Mykene Verlag 2013.

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Deutschland, ÖsterDeutschland, ÖsterDeutschland, ÖsterDeutschland, ÖsterDeutschland, ÖsterDeutschland, ÖsterDeutschland, ÖsterDeutschland, ÖsterDeutschland, ÖsterDeutschland, ÖsterDeutschland, ÖsterDeutschland, ÖsterDeutschland, ÖsterDeutschland, ÖsterDeutschland, ÖsterDeutschland, ÖsterDeutschland, ÖsterDeutschland, ÖsterDeutschland, Öster-

Abbildungsnachweise

Abb. 1: Claude E. Shannon, Warren Weaver: Communication System. In: Shannon, Claude E. / Weaver, Warren: The mathematical theory of communication. Urbana: University of Illinois Press 1963, S. 7. Abb. 2: Michel Serres: Schema der Kommunikation. In: Serres, Michel: Der Parasit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 677), S. 37. Abb. 3: Gotthold Ephraim Lessing / Elfriede Jelinek: Nathan der Weise / Abraumhalde. Thalia Theater Hamburg, Inszenierung: Nicolas Stemann, 2009. Foto: Armin Smailovic. Abb. 4: Gotthold Ephraim Lessing / Elfriede Jelinek: Nathan der Weise / Abraumhalde. Thalia Theater Hamburg, Inszenierung: Nicolas Stemann, 2009. Foto: Armin Smailovic. Abb. 5: Johann Wolfgang von Goethe / Elfriede Jelinek: Faust 1-3. Schauspielhaus Zürich, Inszenierung: Dušan David Pařízek, 2012. Foto: Toni Suter / T+T Fotografie. Abb. 6: Johann Wolfgang von Goethe / Elfriede Jelinek: Faust 1-3. Schauspielhaus Zürich, Inszenierung: Dušan David Pařízek, 2012. Foto: Toni Suter / T+T Fotografie.

Danksagung

Ein großer Dank gilt den beiden Menschen, die mich bei der Erarbeitung dieser Studie begleitet haben: Roman Hutter und Silke Felber. Darüber hinaus bedanke ich mich bei Armin Smailovic für die kostenlose zur Verfügung Stellung seiner Fotos.

Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Erhard Schüttpelz, Martin Zillinger (Hg.)

Begeisterung und Blasphemie Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2015 Dezember 2015, 304 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-3162-3 E-Book: 14,99 €, ISBN 978-3-8394-3162-7 Begeisterung und Verdammung, Zivilisierung und Verwilderung liegen nah beieinander. In Heft 2/2015 der ZfK schildern die Beiträger_innen ihre Erlebnisse mit erregenden Zuständen und verletzenden Ereignissen. Die Kultivierung von »anderen Zuständen« der Trance bei Kölner Karnevalisten und italienischen Neo-Faschisten sowie begeisternde Erfahrungen im madagassischen Heavy Metal werden ebenso untersucht wie die Begegnung mit Fremdem in religiösen Feiern, im globalen Kunstbetrieb und bei kolonialen Expeditionen. Der Debattenteil widmet sich der Frage, wie wir in Europa mit Blasphemie-Vorwürfen umgehen – und diskutiert hierfür die Arbeit der französischen Ethnologin Jeanne Favret-Saada. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 18 Ausgaben vor. Die ZfK kann – als print oder E-Journal – auch im Jahresabonnement für den Preis von 20,00 € bezogen werden. Der Preis für ein Jahresabonnement des Bundles (inkl. Versand) beträgt 25,00 €. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

www.transcript-verlag.de

Theater Natalie Driemeyer, Jan Deck (Hg.) »Odyssee: Heimat« Identität, Migration und Globalisierung im Blick der Darstellenden Künste Juni 2017, ca. 202 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2012-2

Andreas Englhart Das Theater des Anderen Theorie und Mediengeschichte einer existenziellen Gestalt von 1800 bis heute Mai 2017, ca. 420 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2400-7

Katharina Rost Sounds that matter – Dynamiken des Hörens in Theater und Performance November 2016, ca. 420 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3250-7

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Theater Milena Cairo, Moritz Hannemann, Ulrike Haß, Judith Schäfer (Hg.) Episteme des Theaters Aktuelle Kontexte von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit Oktober 2016, ca. 600 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3603-1

Tania Meyer Gegenstimmbildung Strategien rassismuskritischer Theaterarbeit April 2016, 414 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3520-1

Ingrid Hentschel Theater zwischen Ich und Welt Beiträge zur Ästhetik des Kinder- und Jugendtheaters. Theorien – Praxis – Geschichte März 2016, 274 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3382-5

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