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German Pages 248 Year 2016
Christina Schachtner Das narrative Subjekt – Erzählen im Zeitalter des Internets
Edition Medienwissenschaft
Christina Schachtner (Prof. DDr.) ist Professorin für Medienwissenschaft an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt und untersucht die Wechselbeziehungen zwischen Mensch und digitaler Technik. Sie veröffentlichte zu den Themen Subjektbildung, Netzwerkgesellschaft, Gender und Medien, Transkulturalität und soziale Bewegungen im Zeitalter des Internets. Von 2009-2014 leitete sie das FWF-Projekt »Kommunikative Öffentlichkeiten im Cyberspace«. Bei transcript bereits erschienen: »Digitale Subjekte« (2013, Mitherausgeberin), »Kinder und Dinge« (2014).
Christina Schachtner
Das narrative Subjekt – Erzählen im Zeitalter des Internets
Veröffentlicht mit Unterstützung des Forschungsrates der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt aus den Förderungsmitteln der Privatstiftung Kärntner Sparkasse sowie mit Unterstützung der Fakultät für Kulturwissenschaften der AlpenAdria-Universität Klagenfurt. Das Forschungsprojekt »Kommunikative Öffentlichkeiten im Cyberspace« (Projekt I 237-617), dessen Ergebnisse diesem Buch zugrunde liegen, wurde vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) gefördert. Es ist ein Teilprojekt des Gesamtprojekts »Subjektkonstruktionen und digitale Kultur«, bei dem Forschungsteams der TU Hamburg-Harburg, der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, der Universitäten Bremen und Münster kooperierten und das von der VolkswagenStiftung gefördert wurde. Im Sommer 2015 konnte ich in einer Atelierklause der Stiftung Kartause Ittingen (Schweiz) an diesem Buch arbeiten.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Vorwort | 9 Einleitung | 11 1. Erzählen als Kultur- und Lebensform | 33 1.1 Kontexte des Erzählens | 37 1.1.1 Zeit | 37 1.1.2 Raum | 44 1.2 Funktionen des Erzählens | 53 1.2.1 Erzählen als Technologie der Selbstkonstruktion | 53 1.2.2 Erzählen als Öffnung zum Du | 62 1.3 Erzählen als Unterwerfungs- und Ermöglichungstechnologie | 69
2. Erzählraum Internet | 73 2.1 Zur soziokulturellen Aufladung von Medien | 73 2.2 Strukturmerkmale digitaler Medien | 77 2.2.1 Vernetzung | 78 2.2.2 Interaktivität | 83 2.2.3 Globalität | 86 2.2.4 Multimedialität | 90 2.2.5 Virtualität | 100
3. Die Netzgeneration erzählt: Eine Typologie ihrer Geschichten | 111 3.1 Vernetzungsgeschichten | 114 3.1.1 Zeigen und Austauschen | 114 3.1.2 Sehen und Gesehen-Werden | 116 3.1.3 Sharing | 118 3.2 Selbstinszenierungsgeschichten | 119 3.2.1 Der bewunderte Star | 119 3.2.2 Modell und Suchender zugleich | 121 3.2.3 Gegenmodell | 124
3.3 Händler_innen- und Verkäufer_innengeschichten | 127 3.3.1 Gegenstände und Designprodukte im Angebot | 127 3.3.2 Mitmachprojekte im Angebot | 130 3.4 Grenzmanagementgeschichten | 132 3.4.1 Grenzmanagement als Antwort auf gesellschaftlich-kulturelle Grenzen | 132 3.4.2 Grenzmanagement als individuelles Bedürfnis | 137 3.5 Verwandlungsgeschichten | 141 3.5.1 Die Zielstrebigen | 142 3.5.2 Die Rollenspielerin | 146 3.6 Auf- und Ausbruchsgeschichten | 151 3.6.1 Auf- und Ausbrüche als biografische Projekte | 151 3.6.2 Auf- und Ausbrüche als politische Projekte | 157
4. Theoretische Nachlese: Zeit, Raum, Selbst, Du und digitale Medien als narrative Konstruktionen | 163 4.1 Zeitspuren | 165 4.1.1 »I wanted to play football with the boys, but …« – biografische Zeit | 165 4.1.2 »It’s like a political awakening […]« – gesellschaftlich-kulturelle Zeit | 170 4.2 Raumbezüge | 172 4.2.1 Grenzerfahrung und Grenzmanagement | 172 4.2.2 Raumüberschreitungen | 176 4.2.3 Räume schaffen und gestalten | 177 4.3 Selbstentwürfe | 179 4.3.1 Standardisierung und Experiment | 179 4.3.2 Orientierung | 181 4.3.3 Spaltung versus Kontinuität | 182 4.4 Duverbindungen | 185 4.4.1 Das Ringen um die Anderen | 185 4.4.2 Weltkommunikation | 187 4.5 Erzähler_innen, Erzählungen, Medium: Eckpunkte eines Wechselspiels | 189 4.5.1 Kein Ende nirgends | 189 4.5.2 Zur Konjunktur des Bildes | 190 4.5.3 Transmedialität | 193
5. Erzählen als Antwort auf gesellschaftlich-kulturelle Herausforderungen | 197 5.1 Enttraditionalisierung | 198 5.2 Pluralisierung | 201
5.3 Entgrenzungen | 204 5.4 Individualisierung | 207 5.5 »Global Flows«, Crossover, Hybridität | 210
6. Zur narrativen Produktion von Kultur | 217 6.1 Kultur und ihre Designer | 217 6.2 Zur Zukunft des Erzählens als Übersetzung | 219 6.2.1 Erzählen und Übersetzen | 219 6.2.2 Translational Turn | 222 6.3 Medien und Kultur im Zeichen narrativer Translationalität | 226
Literatur | 231
Vorwort
Netzakteur_innen und Blogger_innen aus verschiedenen Ländern haben mit ihren Erzählungen in Wort und Bild die empirische Basis für dieses Buch geliefert. Durch ihre Bereitschaft, sich an der Studie »Kommunikative Öffentlichkeiten im Cyberspace« zu beteiligen, konnte eine Typologie von Geschichten vorgelegt werden, die als Zeitsignaturen dessen gelesen werden können, was Jugendliche und junge Erwachsene heutzutage grenzüberschreitend bewegt. Ich danke ihnen für ihre Offenheit. Zu danken ist auch den jungen Forscher_innen des Forschungsteams der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, bestehend aus Nicole Duller, Katja Langeland, Katja Ošljak und Heidrun Stückler, die die Erhebungsarbeit mit großem Engagement geleistet haben. Für die Verwirklichung des empirischen Projekts spielten der Dialog mit und die Beratung durch Dr. Vera Szöllösi-Brenig von der VolkswagenStiftung eine zentrale Rolle Die produktivste Zeit der Arbeit an diesem Buch war im Sommer 2015, als mir die Stiftung Kartause Ittingen eine Atelierklause in inspirierender Umgebung zur Verfügung gestellt hat. Abgeschirmt vom Alltag, konnte ich in die Erzählungen der Netzakteur_innen und Blogger_innen »eintauchen« wie zu keinem anderen Zeitpunkt und an keinem anderen Ort. Gero Wierichs stand mir als Lektor stets mit hilfreichen Tipps und Hinweisen zur Seite. Ein herzliches Danke schließlich an Brigitte Eiselt und Regina Zirbisegger, die mein handschriftliches Manuskript transkribiert haben. Christina Schachtner Klagenfurt 2016
Einleitung
Die Idee für dieses Buch knüpft an Forschungsergebnisse der Studie »Kommunikative Öffentlichkeiten im Cyberspace«1 an, in der sich das Forschungsinteresse auf die kommunikativen Praktiken richtete, die junge Netzakteur_innen und Blogger_innen2 im Alter zwischen 11 und 32 Jahren in der Internetöffentlichkeit entfalten sowie auf die in diesen Praktiken angelegten Subjektkonstruktionen. Im Zentrum der empirischen Analyse stand in dieser Untersuchung der Prozess der Subjektivierung, in dem sich die Subjekte unter spezifischen medientechnischen Bedingungen zu einem solchen machen bzw. gemacht werden (Reckwitz 2008: 9). Autonomie und Heteronomie – so ein zentrales Ergebnis der Studie – bilden für die untersuchten Jugendlichen und jungen Erwachsenen stets die Pole eines Spannungsfeldes, in dem sich dieser Prozess ereignet. Im Zuge der Auswertung entstand der Eindruck, dass die empirischen Quellen, Interviews und Visualisierungen, nicht nur über die kommunikativen Praktiken und Subjektkonstruktionen Aufschluss geben, sondern darüber hinaus Geschichten transportieren, die sich sowohl auf den Lebensort Internet als auch auf Lebenswirklichkeiten jenseits des Netzes beziehen, die nicht nur das Jetzt, sondern auch das Gestern und Morgen thema-
1 | Die Studie ist ein Teilprojekt des Gesamtprojekts »Subjektkonstruktionen und digitale Kultur«, bei dem Forschungsteams der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, der TU Hamburg-Harburg, der Universitäten Bremen und Münster miteinander kooperierten. Mitglieder des Klagenfurter Forschungsteams waren: Nicole Duller, Katja Langeland, Katja Ošljak, Christina Schachtner, Heidrun Stückler. Die finanzielle Förderung erfolgte durch den Fonds zur Förderung wissenschaftlicher Forschung (FWF) und durch die VolkswagenStiftung. 2 | Mit dem Begriff Netzakteur_innen werden Personen bezeichnet, die verschiedene kommunikative Aktivitäten im Netz entfalten, wozu auch das Bloggen zählt. Von Blogger_innen wird dann gesprochen, wenn sich die jeweiligen Erzähler_innen selbst als Blogger_innen bezeichnen und ihre erzählrelevanten netzbezogenen Praktiken primär im Bloggen bestehen.
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tisieren und die die ermittelten Praktiken und Subjektkonstruktionen in einen übergreifenden narrativen Zusammenhang stellen. Diesen, sich im Material andeutenden Geschichten galt das Forschungsinteresse in der Sekundärauswertung der Interviews und Visualisierungen, die den anfänglichen Eindruck bestätigte, der sich rasch zu der Forschungsfrage verdichten ließ: Welche Geschichten erzählen netzaffine Jugendliche und junge Erwachsene aus verschiedenen Teilen der Welt in der heutigen Zeit? Die transnationale Perspektive war möglich, weil Netzakteur_innen und Blogger_ innen aus sieben europäischen Ländern, aus vier arabischen Ländern und aus den USA in die ursprüngliche Untersuchung einbezogen worden waren. Sie kam der Intention entgegen, den gesellschaftlich-kulturellen Wandel als einen Kontext der Geschichten zu analysieren, der sich nicht nur innerhalb einzelner Nationen, sondern als globales Geschehen abspielt. Die Sekundärauswertung stützt sich auf die Annahme des »hermeneutischen Zirkels« (Struve 2013: 22), wonach die Lektüre eines Textes nie zu Ende ist. Ich möchte die Annahme einer Mehrfachauswertung nicht auf empirische Daten beschränken, die im Rahmen eines verstehend-interpretativen Forschungsansatzes erhoben wurden. Jedoch eignen sich in der Forschungssituation produzierte Texte aufgrund der von ihnen repräsentierten mehrfachen Bedeutungsebenen in besonderer Weise für Erst-, Zweit- und Drittauswertungen. Schon Barney G. Glaser, der zusammen mit Anselm Strauss die Grounded Theory entwickelte, verwies auf die Möglichkeit, den Forschungsprozess immer wieder neu aufzunehmen: »The research in progress is always there waiting to move forward when the researcher can return to it« (Glaser 1998: 15). Was Roland Barthes als Merkmal von Objekten behauptete, gilt auch für Texte; sie sind mehreren Sinnlektüren zugänglich (Barthes 1988: 190). Das entthront in gewisser Weise sowohl den/die Erzähler_in als auch den/die Forscher_in, weil beide damit rechnen müssen, dass ein Text weitere Sinngebungen und Sinninterpretationen zulässt (Struve 2013: 22), die über das hinausgehen, was Erzähler_innen intendiert und Forscher_innen interpretiert haben.
Zur gesellschaftlich-kulturellen Bedeutung des Erzählens In Anlehnung an Kurt Ranke formulierte Albrecht Lehmann die These, dass es ein menschliches Grundbedürfnis sei, »die Welt erzählend in allen ihren Dimensionen zu verstehen, zu interpretieren und darüber zu erzählen« (Lehmann 2011: 28). Diese These impliziert, dass die Welt dem Menschen vorgegeben ist, dass er hineingeboren wird in eine Welt, die Erzählungen provoziert. Sie ist, wie Michael von Engelhardt schreibt, ein Produkt des Erzählens und wird zugleich erzählend weiterentwickelt (von Engelhardt 2011: 39). Im Erzählen gewinnen Wahrnehmungen, gewinnen Gesehenes und Gehörtes die Gestalt von Erfahrungen, d.h. die Erfahrungen von Welt ereilen uns nicht, wir machen sie, wir bauen sie in vorhandene Geschichten hinein oder
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machen aus ihnen neue Geschichten (Wolff 2012: 183). Die Dynamik der Gesellschaft sorgt dafür, dass das Erzählen nicht endet, sondern sich als unabgeschlossener Prozess entwickelt, in dem Ursachen identifiziert und Zusammenhänge hergestellt, Prognosen gewagt werden, das Gewöhnliche mit dem Außergewöhnlichen verbunden wird (Bruner 1997: 64). Narrative Praktiken beziehen sich auf existierende soziale Ordnungen, interpretieren, modifizieren sie und entwickeln sie weiter. Subjektive Prozesse des Erlebens und Handelns, wie sie uns in der Erzählung begegnen, lassen sich nach Heiner Keupp nur aus ihrer soziohistorischen Spezifität heraus begreifen (Keupp 2015: 31). Jede Erzählsituation, so hält Lehmann fest, ist Teil übergreifender Lebensverhältnisse (Lehmann 2011: 29). Individuelles Leben ist somit unauflösbar mit gesellschaftlichen Strukturen verschränkt, ohne ihnen ausgeliefert zu sein. In Zeiten gesellschaftlich-kultureller Umbrüche, wie wir sie gegenwärtig erleben, verstärkt sich die Herausforderung, Beobachtungen, Ereignisse, Mitteilungen erzählend zu be- und zu verarbeiten. Die Subjekte sind mit sozialen Widersprüchen, Spannungen und Konflikten konfrontiert, die zu Lösungen drängen. Es werden, wie Heiner Keupp bemerkt, Ideen einer prinzipiellen Unvereinbarkeit von subjektiven Wünschen und gesellschaftlichen Imperativen formuliert (Keupp 2015: 7). Es entstehen Fragen nach der Vermittlung zwischen Kultur, Gesellschaft und Subjekt (ebd.). Empfundene Ambivalenzen laden nicht zum standhaften Aushalten ein; ihnen entspringt vielmehr der Ansporn zu sprechen, der Drang sich zu äußern, das Ungelöste und Widersprüchliche durch-zu-arbeiten […]. (Bhabha 2012: 51). Da die entstandene gesellschaftlich-kulturelle Unruhe globalen Charakter hat, werden derzeit weltweit Erzählungen provoziert, in denen Menschen versuchen, die beobachteten Umbrüche zu deuten und sich erzählend neu im gesellschaftlichen Gefüge zu verankern. Die Erzählungen erwachsen aus unterschiedlichen kulturellen Hintergründen und Biografien und fügen sich daher nicht unbedingt harmonisch zueinander. Doch können sich die Menschen in einer zunehmend transnationalen Welt nicht aus dem Weg gehen. Wo interkulturelle Begegnung stattfindet und unterschiedliche Erzählungen aufeinandertreffen, ist »kulturelle Übersetzung« (Bachmann-Medick 2006: 240) erforderlich, die nicht immer gelingt. Mit Missverständnissen, Konflikten, Gewalt ist zu rechnen, wenn Erzählungen aufeinanderprallen, die unvereinbar erscheinen. Und doch haben wir vor allem nur diese Erzählungen als Mittel der Verständigung, deren Erfolgschancen steigen, wenn sie sich mit einer globalen Ethik verbinden, die es aber erst auf der Basis der Menschenrechte zu entwickeln gilt.
Der subjekttheoretische Ansatz Sowohl den theoretischen als auch den empirischen Teilen dieses Buches liegt ein subjekttheoretischer Ansatz zugrunde, was bedeutet, dass das Subjekt den
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Ausgangs- und Bezugspunkt der empirischen Untersuchung und der theoretischen Reflexion bildet. Die Entscheidung für diesen Ansatz gründet darin, dass Erzählungen von einzelnen Menschen ausgehen (Lehmann 2011: 31). Es sind einzelne Menschen, die Erlebnisse narrativ verarbeiten, Anderen3 mitteilen, sich mit Anderen austauschen und in diesem Austausch ihre Erzählungen fortsetzen und verändern. Individuen realisieren sich als Subjekte, weil sie sich kraft ihrer reflexiven Fähigkeiten selbst zum Objekt ihrer Erzählungen machen können. Das Erzählen gibt ihnen Gelegenheit, Selbstverständnis zu entwickeln, sich selbst darzustellen, sich wahrnehmbar für Andere zu machen, Brücken zu ihrer sozialen Umgebung zu schlagen, wodurch sie am Auf bau und an der Aufrechterhaltung einer gemeinsamen soziokulturellen Lebenswelt mitwirken (von Engelhardt 2011: 39). Diese Bemerkungen implizieren bereits einen bestimmten Subjektbegriff, der sich von Subjektdarstellungen unterscheidet, in denen das Subjekt eine von Anderen unabhängige Instanz darstellt, die die Grundlage für ihr Erkennen und Handeln allein in sich selbst findet (Reckwitz 2008: 12). Die Idee des autonomen Subjekts ist der abendländischen Moderne verpflichtet, die das Subjekt als vernünftig, mit sich identisch, als Souverän seines Lebens konzipierte (Bilden 2012: 184) und sich selbst, so Reckwitz, als gesellschaftliche Formation verstand, die die Emanzipation des Subjekts betreibt (Reckwitz 2008: 12). Dieser Subjektbegriff ist aus feministischer und poststrukturalistischer Perspektive in Kritik geraten (ebd.; Bilden 2012: 185). Es wurde argumentiert, dass der klassische Subjektbegriff ein historisches Produkt ist und Subjektivität in Machtfeldern konstituiert wird, die von sozialer Ungleichheit gekennzeichnet sind (ebd.). Dieses Buch folgt einem subjekttheoretischen Ansatz, der von einer Doppelstruktur des Subjekts ausgeht, wie sie mit unterschiedlichen Akzenten und Differenzierungen von Helga Bilden (2012), Judith Butler (2003), George Herbert Mead (1973), Käte Meyer-Drawe (1990) und Andreas Reckwitz (2006; 2008)4 beschrieben wird. Es handelt sich um einen Ansatz, der sowohl zu individualistischen Lehren kontrastiert, die sich darauf beschränken, das Ich zu preisen, als auch zu jenen Denktraditionen, gegen die sich der Individualismus wendet und die dem Kollektivpronomen den Vorzug geben (wie z.B. der traditionelle Kommunismus oder die feministische Schwesternschaft), in 3 | Mit dem Begriff der/die Andere sind in diesem Buch Andere gemeint, die – u.a. aus der Perspektive des Symbolischen Interaktionismus – unverzichtbar für die Subjektkonstitution sind. Es geht insofern um bestimmte Andere, was die Großschreibung des Begriffs rechtfertigt. 4 | An dieser Stelle gehe ich nur auf einen Teil der Ansätze ein; an späterer Stelle wird die Diskussion dazu nochmals aufgenommen und es werden die Ausführungen weiterer Autor_innen einbezogen.
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denen nach Butler das Wir immer positiv gedacht ist, das Ihr die möglichen Verbündeten kennzeichnet und das Ich ungehörig erscheint (Butler 2003: 43). Die Annahme einer Doppelstruktur, wonach das Subjekt zugleich autonom und heteronom ist, ist in der Geschichte des Begriffs Subjekt angelegt. Der Begriff geht auf das lateinische subiectum zurück, das das Daruntergeworfene bezeichnete. In der Neuzeit erfolgte ein Bedeutungswandel des Begriffs. Der Begriff Subjekt wird auf das erkennende Ich bezogen und verweist auf das sich selbst bestimmende Ich-Bewusstsein. Auch die Aufklärung stellt auf die Erkenntniskompetenz des Subjekts ab, wenn sie an dieses appelliert, sich aus seiner Unmündigkeit zu befreien und sich »seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen« (Kant 1914: 9). Der Appell richtet sich an das Subjekt als Ganzes; betrachtet dieses allerdings primär als rationale Einheit, wenngleich die Bedeutung von Erfahrung für die Subjektkonstitution von Immanuel Kant, einem Vertreter der Aufklärung, nicht geleugnet wird (Beer 2014: 224). Reckwitz betrachtet die Bedeutungsmomente Autonomie und Unterwerfung als zwei Seiten des Ichs, das im Prozess seiner Subjektivierung aufgefordert ist, sich als »rationale, reflexive, sozial orientierte, moralische, expressive, grenzüberschreitende Instanz zu modellieren« (Reckwitz 2006: 10). Seine Subjektanalyse richtet sich sowohl auf die Diskurse, in denen Subjektformen repräsentiert und problematisiert werden, als auch auf das subjektivierende Potenzial alltäglicher Praktiken (Reckwitz 2008: 9). Zu diesen Praktiken zählen auch die narrativen Akte, die im Zentrum dieses Buches stehen. Das Subjekt wird im Prozess der Subjektivierung nach Reckwitz zu einer »vorgeblich autonomen« Instanz, indem es sich dem Kriterium der Autonomie unterwirft (a.a.O.: 14). Die Autonomie des Subjekts ist dieser Formulierung zufolge nur scheinbar gegeben, was Reckwitz nachvollziehbar zu der Frage führt: »Welche Codes, Körperroutinen und Wunschstrukturen muss sich der Einzelne in einem jeweiligen historisch-kulturellen Kontext einverleiben, um zum zurechenbaren vor sich selber und anderen anerkannten ›Subjekt‹ zu werden?«. Diesem Subjektverständnis zufolge tut das Subjekt alles, um den an es herangetragenen Codes zu genügen. Größere Handlungsautonomie gesteht – wie Butler es sieht – Michel Foucault dem Subjekt in seinem Spätwerk zu, insbesondere in seinem Konzept der »Technologien des Selbst« (Foucault 1993). Zwar gehen auch Foucault und Butler davon aus, dass es kein Ich gibt, dem nicht schon es formende moralische Normen vorhergehen, die gesellschaftlichen Charakter haben, aber sie wollen auch zeigen, dass das Subjekt mit der Macht ausgestattet ist, diese Normen hervorzubringen (Butler 2003: 19). Die oftmals gestellte Frage »Was soll ich tun?« setze ein Ich und die Möglichkeit des Tuns voraus, was auf die Existenz eines Subjekts verweise, das zur Selbstreflexion fähig sei (a.a.O.: 9). In den von den Netzakteur_innen und Blogger_innen erzählten Geschichten taucht diese Frage immer wieder auf, ausgelöst durch äußere Bedrohungen oder auch
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durch gewonnene Einsichten in die Wirkkraft medien-technischer Artefakte. Sie eröffnet die Chance, eine kritische Perspektive auf Normen zu erarbeiten; gleichwohl stehe es dem Subjekt nicht frei, die Norm zu missachten (a.a.O.: 28). Jede Praktik, auch die Praktiken der Freiheit stünden in Bezug »zu einem ermöglichenden und begrenzenden Feld von Zwängen« (ebd.). Helga Bilden, die die Auffassung von der Doppelstruktur teilt und ebenso wie Butler und Foucault das Subjekt als Normen in Frage stellendes Subjekt betrachtet, geht in der Ausformulierung des Subjektbegriffs noch weiter. Sie betont die Prozesshaftigkeit der Subjektwerdung, wenn sie mit Sylvia Pritsch die Idee des »ganzen Subjekts« zugunsten »eines immer wieder aufs Neue zu verhandelnden und zu konstituierenden Ensembles« (Pritsch 2008: 127) zurückweist (Bilden 2012: 188). Subjektivität werde verhandelt und konstituiert in den Geschichten, die Andere über uns erzählen und die wir uns selbst erzählen. Bilden betont, dass die Narration dazu beitragen kann, das Heterogene zusammenzubringen (Bilden 2012: 221), wovon die in diesem Buch dargestellten Geschichten vielfach künden, z.B. wenn sie davon handeln, Vorstellungen von Demokratie innerhalb autoritär strukturierter Gesellschaften zu formulieren oder Öffentlichkeit und Privatheit neu zueinander ins Verhältnis zu setzen. Bilden hebt weiter die Vielstimmigkeit des Subjekts hervor (a.a.O.: 296), die sich als Antwort auf die Pluralität entwickelt, die ein zentrales Merkmal gegenwärtiger Gesellschaften darstellt. Sie löst den Subjektbegriff von dem Anspruch an das Subjekt, sich als stimmige harmonische Einheit zu generieren und gesteht ihm stattdessen zu, widersprüchlich und vielfältig zu sein. Es soll nicht ignoriert werden, dass Vielstimmigkeit auch problematisch sein kann, z.B. wenn sie als multiple Persönlichkeitsstörung auftritt, der häufig traumatische Erlebnisse zugrundeliegen, die nur dadurch ausgehalten werden können, dass sich die Person in unterschiedliche, voneinander getrennte und nicht miteinander kommunizierende Persönlichkeitszustände aufteilt (a.a.O.: 194f.). Eine Vielstimmigkeit, die keinen traumatischen Hintergrund hat, könnte dagegen, wenn sie vom Subjekt anerkannt wird, die Fähigkeit erhöhen, mit unklaren und vieldeutigen Situationen umzugehen sowie offener und toleranter auf kulturelle Differenzen zu reagieren und sie in ihrer Gebundenheit an andere kulturelle Orte zu verstehen (a.a.O.: 222ff.). Schließlich wird in das von Bilden entwickelte Subjektkonzept nicht nur die soziokulturelle Welt als stimulierender bis konstitutiver Faktor von Subjektivität einbezogen, sondern auch die Dingwelt, primär die Welt digitaler Medien. Von Beginn ihres Lebens an sehen sich die Menschen einer Dingwelt gegenüber, die ihnen »freundlich oder feindlich begegnet, die lockt, motiviert, erschreckt« (Schachtner 2014: 9), die, wie Kurt Lewin bereits in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts feststellte, einen »Aufforderungscharakter« (Lewin 1982: 64) besitzt. Die Dinge fordern schon den Säugling dazu auf, mit ihnen zu interagieren, wie der Kinderanalytiker Donald W. Winnicott beobachtet hat
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(Winnicott 1973: 13ff.); sie regen dazu an, nach ihnen zu greifen, sie zu drücken, wegzuwerfen und wieder hervorzuholen. In diesem Interaktionsspiel entdeckt das Kind den Unterschied zwischen innen und außen, zwischen dem Ich und dem Anderen; so werden Grundlagen der Subjektivierung geschaffen. Die Dinge behalten ihren Aufforderungscharakter für das Subjekt ein Leben lang. Immer wieder aufs Neue stimulieren sie sogenannte Interaktionsspiele (Lorenzer 1981: 155ff.); sie werden zum Gegenstand, Instrument und Ort narrativer Praktiken und nicht nur das: Sie nehmen auch Einfluss auf diese Praktiken und die von diesen produzierten narrativen Formen und Inhalte. Wie könnte es anders sein, materialisieren die Dinge doch soziokulturelle Codes, die in der Interaktion mit ihnen ein bestimmtes Denken und Handeln provozieren. Ein Stuhl z.B. drängt zu einer bestimmten Art des Sitzens, ein Ball zu bestimmten Körperbewegungen und Orientierungen, ein Blog zu einem bestimmten Schreiben sowie zu spezifischen Formen der Selbstdarstellung. Heutzutage spielen die digitalen Medien weltweit eine dominierende Rolle in der Dingwelt. Sie sind nach Bilden zu mächtigen Motoren für die Veränderung von Subjektivität geworden (Bilden 2012: 206ff.). Das Buch setzt sich u.a. mit dieser These auseinander.
Die empirische Analyse Weil empirische Untersuchungsergebnisse, die das Kernstück dieses Buches bilden, nicht nur durch die benutzten theoretischen Perspektiven, sondern auch durch den methodologischen Ansatz und die verwendeten Forschungsmethoden mitgeprägt werden, ist der folgende Abschnitt der Darstellung und Diskussion methodologischer und methodischer Fragen gewidmet.
Methodologie Methodologisch steht dieses Buch in der Tradition einer verstehend-interpretativen Sozialforschung, die erlaubt, das subjektive Erleben und Handeln in ihrer soziohistorischen Spezifität zu begreifen (Keupp 2015: 31). Genau darauf zielt das hier verfolgte Erkenntnisinteresse ab, das danach fragt, welche Geschichten netzaffine Jugendliche und junge Erwachsene aus verschiedenen Teilen der Welt heutzutage erzählen. Diese Frage schließt auch, um mit Rainer Winter zu sprechen, das Interesse daran ein, »wie sich historische und soziale Bedingungen im Leben miteinander interagierender Individuen auswirken« (Winter 2014: 125). Die Möglichkeit eines verstehenden Zugangs ergibt sich daraus, dass die Alltagshandelnden sich selbst und der Welt immer schon deutend gegenübertreten (Soeffner 2014: 35). Egal, wie vordefiniert soziale Situationen sind, die Alltagshandelnden müssen sie für sich neu definieren und das tun sie laut Hitzler durch »wissensgeleitete und wissensgenerierende Prozesse« (Hitzler 2014: 61). Einer Sozialforschung, die diese Prozesse verstehen will, muss es um die Rekonstruktion von Sinn gehen (ebd.). Sinn konstituiert sich,
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wie Hitzler unter Berufung auf Alfred Schütz schreibt, in »Stellung nehmenden Bewusstseinsakten« (a.a.O.: 64). Diese Definition platziert Sinn auf einer bewussten und rationalen Ebene; sie ignoriert, dass es auch impliziten Sinn (Polany 1985) gibt und dass Sinn neben Kognitionen auch sinnliche und emotionale Elemente enthält, die eine Sozialforschung nicht sehen könnte, wenn sie Sinn nur als Ergebnis »Stellung nehmende(r) Bewusstseinsakte« (ebd.) betrachten würde. Weil das deutende, Sinn schaffende Subjekt niemals isoliert agiert, sondern immer in einem Kraftfeld von Wechselwirkungen, ist es Aufgabe einer verstehenden Sozialforschung, diese Wechselwirkungen z.B. zwischen individueller und historischer Situation, zwischen individueller und kollektiver Weltsicht zu analysieren (Soeffner 2014: 40). In diesem Buch interessieren die Wechselwirkungen zwischen den medialen Artefakten und den individuellen Positionierungen, zwischen individuellen Geschichten und dem gesellschaftlich-kulturellen Wandel, zwischen Selbstdefinitionen und sozialen Erwartungen. Diese Wechselwirkungen enthalten zu einem großen Teil auch nicht-sprachliche Wirkkräfte, die teilweise von den alltäglichen Deuter_innen verwortet werden. Forschungsgegenstand einer verstehend-interpretativen Sozialforschung sind dann Texte, über die weitere Texte produziert werden; sind keine sprachlichen Dokumente vorhanden, geht es um die Übersetzung nicht-sprachlicher Phänomene in sprachliche. Wirklichkeit wird durch die Versprachlichung erst sichtbar gemacht, aber es bleibt auch eine Diskrepanz zwischen gelebter und interpretierter Wirklichkeit; Soeffner warnt vor einer Verwechslung der »sprachlich ausgedeutete(n) und verstandene(n) Wirklichkeit« mit der »eigentlichen Wirklichkeit« (a.a.O.: 51). Diese Trennung zwischen gelebter und vertexteter Wirklichkeit scheint Winter so nicht zu teilen. Ihm zufolge ist die »gelebte Erfahrung […] immer bereits durch Texte sowie Diskurse geprägt und strukturiert« (Winter 2014: 119). Die Verwechslungsgefahr ist dieser These zufolge etwas anders gelagert; sie besteht zwischen gelebter Textualität und vertexteter Textualität. In die Tradition einer verstehend-interpretativen Methodologie lässt sich die Grounded Theory einordnen, die methodologische und methodische Aspekte integriert und an deren Prinzipien und Regeln sich die Erhebung und Auswertung der diesem Buch zugrundeliegenden Empirie orientierte. Die Grounded Theory wurde von Barney Glaser und Anselm Strauss Anfang der 60er Jahre entwickelt; sie ist einerseits vom amerikanischen Pragmatismus inspiriert wie er von John Dewey, George H. Mead und Charles S. Peirce vertreten wurde und andererseits von der Chicago Schule der Soziologie, die die Methode der Fallbeobachtung favorisierte. In den letzten Jahren erfuhr die Grounded Theory im deutschsprachigen Raum verstärkte Aufmerksamkeit, was, so nehme ich an, nicht zuletzt an der Offenheit dieses Ansatzes liegen dürfte, die sie zu einem lebendigen Ansatz macht, der der Intention seiner
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Begründer zufolge weitergedacht und weiterentwickelt werden kann. In den USA war es u.a. Adele Clarke, die Nachfolgerin von Anselm Strauss, die die Grounded Theory mit dem »postmodern turn« in Verbindung brachte (Strübing 2014: 100); im deutschsprachigen Raum haben sich u.a. Heiner Legewie und Barbara Schervier-Legewie (2004), Bruno Hildenbrand (2004, 2011 mit Juliet Corbin) und Jörg Strübing (2004; 2014) um die Rezeption und Weiterentwicklung des Ansatzes verdient gemacht. Ziel der Grounded Theory ist im Unterschied zu einer nomothetischen Methodologie nicht die Überprüfung einer Theorie, sondern die Entdeckung der in den Daten schlummernden Theorie (Strauss 1995: 71). Die zentrale Aufgabe der Forscher_innen besteht darin, einen interpretativen Zugang zum Datenmaterial zu finden und theoretische Annahmen in enger Verbindung mit der Empirie, also induktiv, zu entwickeln. Dreh- und Angelpunkt der Interpretationsarbeit ist die Identifikation einer Schlüsselkategorie, die nicht nur im Mittelpunkt der Theorieentwicklung, sondern auch im Mittelpunkt der empirischen Wirklichkeit stehen soll. Glaser schreibt: »Grounded theory produces a core category that continually resolves a main concern, and through sorting the core category organizes the integration of the theory« (Glaser 1998: 13). Die Grounded Theory ist für die Analyse der von Netzakteur_innen und Blogger_innen erzählten Geschichten auch deshalb ein geeigneter Forschungsansatz, weil sie insbesondere in der Weiterentwicklung von Strauss das dialektische Verhältnis von Handlung und Struktur fokussiert (Strübing 2014: 103). Sie unterstützt somit das in diesem Buch verfolgte Erkenntnisinteresse an der Durchdringung von Mikro- und Makrostrukturen. In der Weiterentwicklung des Ansatzes von Clarke wird die Handlungsbeteiligung von Artefakten berücksichtigt, die von Glaser und Strauss zwar nicht ausgeschlossen, aber auch nicht explizit formuliert wurde und die in den hier analysierten Geschichten einen nicht zu ignorierenden Faktor darstellt. So sinnvoll ein verstehend-interpretativer Zugang zum empirischen Feld im Hinblick auf die explizierte Fragestellung ist, er hat auch seine erkenntnistheoretischen Grenzen. Prinzipiell ist davon auszugehen, dass die Verfahren einer verstehend-interpretativen Untersuchungsmethode die ermittelten empirischen Daten mitformen. Soeffner sieht die Fehlerquellen – wie erwähnt – vor allem in der Diskrepanz zwischen »dem unmittelbaren Sinnhorizont des praktischen Handelns und der […] späteren Interpretation dieses Handelns« (Soeffner 2014: 41). Unter Bezug auf Winter gehe ich bei der Analyse der narrativen Akte der Netzakteur_innen und Blogger_innen nicht davon aus, dass diese ein unmittelbarer Sinnhorizont auszeichnet, sondern vielmehr davon, dass sie bereits von einem durch Diskurse und mediale Erfahrungen vermittelten Sinn geprägt sind. Dennoch muss mit einem Unterschied zwischen dem in den Erzählungen enthaltenen und dem in der Auswertung dieser Erzählungen interpretierten Sinn gerechnet werden, zumal niemals alle Sinnebenen erfasst
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werden können. In der hier präsentierten Untersuchung ist es zu mehrfachen Sinntransfers gekommen, die vermutlich sinnverändernde Konsequenzen hatten. Ein erster Transfer fand bereits beim Erzählen über gelebte Wirklichkeit durch die Netzakteur_innen und Blogger_innen statt; in der Verschriftlichung der gesprochenen Sprache zu Text fand ein zweiter Transfer statt und in der Interpretation dieser Texte und durch die Überführung dieser Texte in den Text eines Buches ein dritter bzw. vierter Transfer. Nicht zu ignorieren ist darüber hinaus der Einfluss der Interviewerin auf den ersten Transfer, der durch ihre soziokulturelle Herkunft und die Gestaltung der Interviewführung wirksam wurde. Das Risiko der mit den Sinntransfers potenziell einhergehenden Sinnveränderungen kann nicht ausgeschaltet, jedoch reduziert werden durch ein regelgeleitetes Vorgehen bei der Erhebung und Interpretation der empirischen Daten sowie durch ein hohes Maß an Reflexion auf Forscher_innenseite, mit der eine kritische Distanz der Forscher_innen zu sich selbst und zum empirischen Material hergestellt wird, die die Perspektivenvielfalt im Forschungsprozess fördert. Winter plädiert für ein gesellschaftskritisches Verständnis eines verstehend-interpretativen Forschungsansatzes (Winter 2014: 118). Ich verstehe dieses Plädoyer so, dass damit nicht nur ein kritischer Blick auf die Begrenztheit von Methodologie und Methoden gemeint ist, sondern dieses Verständnis sich auch auf die Konsequenzen der Forschungsergebnisse bezieht. Für die Grounded Theory hat Glaser insofern ein gesellschaftskritisches Verständnis formuliert, als er forderte, dass sich diese daran messen lassen müsse, ob sie Forschungsergebnisse produziere, die einen Erklärungswert für relevantes Verhalten in dem untersuchten Wirklichkeitsfeld besitzen und die von Bedeutung sind für die Menschen in diesem Feld (Glaser 1998: 17). Winters gesellschaftskritische Vorstellungen gehen noch weiter, wenn er nicht nur die Aufdeckung kultureller Mythen und die Aufdeckung des emotionalen Gehalts ermittelter Geschichten beim Schreiben fordert, sondern darüber hinaus die Suche nach neuen Perspektiven für die Betroffenen (Winter 2014: 125). In diesem Buch wird der Forderung nach einer gesellschaftskritischen Perspektive insofern Folge geleistet, • als die das Subjekt prägenden u.a. auch die seine Freiräume einschränkenden gesellschaftlichen Mechanismen aufgedeckt werden, • als gesellschaftstransformierende Ideen, insbesondere formuliert von arabischen Netzakteur_innen und Blogger_innen, eine Stimme gegeben wird, • als Überlegungen zur Zukunft des Erzählens angestellt werden, die die Möglichkeit zur Herstellung einer gesellschaftlichen Alternative im Zeichen transnationaler Entwicklungen aufzeigen.
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Das Sample Einbezogen in die Sekundärauswertung der empirischen Daten aus der Untersuchung »Kommunikative Öffentlichkeiten im Cyberspace« wurden 21 Netzakteur_innen und Blogger_innen5 im Alter zwischen 11 und 32 Jahren. Sie setzen sich aus 11 Frauen bzw. weiblichen Jugendlichen und 10 Männern bzw. männlichen Jugendlichen zusammen. Es wurde eine Altersgruppe ausgewählt, die von Klaus Hurrelmann und Erik Albrecht als Generation Y bezeichnet wird, zu der die zwischen 1985 und 2000 Geborenen zählen (Hurrelmann/Albrecht 2014: 15). In dieser Generation versammeln sich weltweit die intensivsten Internet- und Smartphone-User, deren Lebenspraxis sich in enger Verbindung mit der digitalen Welt gestaltet. Da die Affinität für digitale Medien ein allgemeines Merkmal dieser Generation darstellt, kann davon ausgegangen werden, dass die Ergebnisse der in diesem Buch präsentierten Studie für die Generation insgesamt relevant sind, auch wenn aufgrund der begrenzten Zahl der Untersuchungsbeteiligten nicht das gesamte Spektrum der in dieser Generation erzählten Geschichten sichtbar gemacht werden kann. Dennoch liefert die ermittelte Typologie der Geschichten Einblicke in die Erfahrungen und in das Lebensgefühl einer Generation, die ihre Zukunft im Zeichen der Digitalisierung des Alltags und gesellschaftlich-kultureller Umbrüche organisiert. Sie zeigt auf, mit welchen Orientierungen, Erwartungen, Zweifeln und Hoffnungen diese Generation die Bühnen der Erwachsenenwelt betritt, mit welchen Identitäten und sozialen Praktiken sie in die Universitäten, in die Arbeitswelt, in die Freizeitarenen, in die Politik und in die Medienunternehmen kommt. Die Auswahl der Netzakteur_innen und Blogger_innen beschränkt sich nicht auf Angehörige einer Nation. Diese stammen vielmehr aus sechs europäischen Ländern (Deutschland, Italien, Österreich, Schweiz, Türkei, Ukraine), aus vier arabischen Ländern (Bahrain, Jemen, Saudi-Arabien, Vereinigte Arabische Emirate) und aus den USA. Der Grund für diese Streuung ist die zunehmende Deterritorialisierung von Phänomenen, Ereignissen, Entwicklungen angesichts von Transnationalisierung und Globalisierung. Die nationale Grenze bildet insbesondere im Zusammenhang mit digitalen Medien nicht mehr die Grenze von Erfahrungen und Handeln. Die Erzählungen der Generation Y entwickeln sich häufig grenzüberschreitend, sie verknüpfen sich mit Erzählungen aus anderen Teilen der Welt, ja, grenzüberschreitende Ereignisse und Fragen der Vernetzung und des Austausches werden selbst zu Themen von Erzählungen.
5 | Die Untersuchung »Kommunikative Öffentlichkeiten im Cyberspace« umfasste insgesamt 33 Netzakteur_innen und Blogger_innen.
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Forschungsmethoden Geschichten erzählt man denen – so Stephan Wolff –, die einen gut kennen, gut kennen lernen sollen oder von denen man dazu aufgefordert wird (Wolff 2012: 187). Für die Erzähler_innen, die in diesem Buch zu Wort kommen, trifft das Letztere zu; allerdings wurden sie eher ersucht als aufgefordert. In der Regel müssen die gewünschten Teilnehmer_innen für die Teilnahme an einer Untersuchung erst gewonnen werden. Das Interesse an einer Untersuchungsbeteiligung scheint zunächst nur auf Seiten der Forscher_innen zu existieren, die zu Ergebnissen und Publikationen kommen wollen. Im Nachhinein wurde die Möglichkeit, über sich zu sprechen, oft auch von den Untersuchungsbeteiligten als eine Chance gewertet. Sich selbst zu erzählen ist ein fundamentales menschliches Bedürfnis und wo gibt es schon Gelegenheit, eine lange Geschichte zu erzählen und dafür aufmerksame Zuhörer_innen zu finden? Die arabischen Erzähler_innen dürften die Interviewsituation als eine ambivalente Situation erlebt haben, auch wenn sie das nicht thematisierten. Aber sie sprachen über den Widerspruch, in dem sie sich befanden. Einerseits war es ihnen wichtig, ihrer kritischen Stimme weltweit Gehör zu verschaffen und die Teilnahme an einem westlichen Forschungsprojekt könnten sie als eine gute Möglichkeit dafür gesehen haben. Andererseits wussten sie um das Risiko, das eine Kritik an dem in ihrem Land herrschenden politisch-kulturellen System für sie bedeutete. Als Forschungsmethoden wurden das thematisch strukturierte Interview und die Visualisierung genutzt. Die im Interviewleitfaden vorgegebenen Themen orientierten sich an den für die ursprüngliche Untersuchung wichtigen Fragen nach den computerbasierten Praktiken und Subjektkonstruktionen. Die Interviewführung ließ bewusst so viel Spielraum für die Interviewpartner_innen, dass diese ihre eigenen Relevanzkriterien setzen und neue thematische Aspekte einbringen konnten, was das Spektrum der Bedeutungsebenen erweiterte, was dem in der Sekundärauswertung verfolgten Forschungsinteresse entgegenkam. Gegen das Interview wird zuweilen eingewandt, dass das, was Menschen sagen, nicht das ist, was sie tun. Dagegen lässt sich mit Jerome Bruner argumentieren, der einen solchen Vorwurf merkwürdig findet, weil er unterstellt, dass das, was Menschen tun, wichtiger sei als das, was sie sagen oder dass Letzteres nur insofern wichtig sei, als es etwas über Ersteres enthüllen könne (Bruner 1997: 36). Bruner »schießt« zurück: »Es interessiert nicht, dass das ›Sagen‹ sich auf das bezieht, was wir denken, fühlen, glauben, erleben«, abgesehen davon, wie Bruner kurz darauf schreibt, dass Sagen und Tun »für eine kulturwissenschaftlich orientierte Psychologie eine funktional untrennbare Einheit« (a.a.O.: 37) bilden. Die von den Interviewpartner_innen angefertigten Visualisierungen stellen Antworten auf zwei Fragen dar: (1) »Wer bin ich online?« und (2) »Ich wechsle zwischen Plattformen. Wie sieht das aus?«. Die Interviewpartner_in-
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nen wurden im Anschluss an ein Interview gebeten, eine grafische Antwort auf diese Fragen zu geben. Sybille Krämer und Horst Bredekamp betonen den Erkenntniswert der Bildlichkeit; sie charakterisieren sie »als einen unersetzlichen Kern im Entdeckungs- und Begründungskontext der Wissenschaft« (Krämer/Bredekamp 2003: 15). Die Methode der Visualisierung spricht z.T. andere Bewusstseinsebenen an als wortsprachliche Methoden; sie eröffnet Zugang zum Vorbewussten, Geahnten, auch zum Unbewussten, das aber nicht Gegenstand der Analyse wurde. Widersprüche und Ambivalenzen können im Bild stärker hervortreten, weil dieses nicht zu logischen Erklärungen drängt sowie vom Zwang zur Eindeutigkeit befreit, weil es ein Nebeneinander von Verschiedenem erlaubt. Schließlich ist davon auszugehen, dass das Bild, das aus der sinnlichen Wahrnehmung heraus entsteht und die Sinne anspricht, auch in stärkerem Maß als Worte Emotionen transportieren kann, denen im Rahmen des Geschichtenerzählens ein hoher Stellenwert eingeräumt wird (von Engelhardt 2011: 46; Wolff 2012: 191). Beide Erhebungsmethoden evozierten Erzählungen.6 Diese entstanden in einer spezifischen Situation, die nicht ohne Einfluss auf die Erzählungen geblieben sein dürfte. Zu den situationsspezifischen Einflussfaktoren zählt wesentlich die Sprache. Zu erwähnen ist, dass Interviewpartner_innen und Forscher_innen teilweise nicht dieselbe Muttersprache hatten, z.B. wenn die Interviewpartner_innen aus dem englischsprachigen Sprachraum kamen, aber zuweilen auch, wenn sie aus dem deutschsprachigen Raum kamen, weil nicht alle Forscher_innen deutschsprachig waren. Eine besondere sprachliche Herausforderung entstand dann, wenn Forscher_in und Interviewpartner_in sich in einer Sprache verständigen mussten, die für beide nicht Muttersprache war, wie im Fall der Befragung arabischer Netzakteur_innen. Mit Missverständnissen ist aufgrund der sprachlichen Barrieren zu rechnen, die aber, wenn sie während eines Interviews erkannt und thematisiert werden, aufschlussreich sein können, weil sie die Präzisierung und Differenzierung von Mitteilungen einfordern. Im Kontakt mit den arabischen Interviewpartner_innen wurden darüber hinaus politische Risiken wirksam, die von den Forscher_innen verlangten, eine Balance zwischen Erkenntnisinteresse und dem Schutz der Interviewpartner_innen zu finden. Wiederholt kam es bei den Skype-Interviews zu technischen Störungen; die Unterbrechungen dauerten oft Stunden, manchmal Tage. Schließlich spielten in die Interviews mit den arabischen Netzakteur_innen in den Jahren 2010/2011 die revolutionären Ereignisse in Nordafrika und im Mittleren Osten hinein. Die Interviewpartner_ innen äußerten sich zu politischen Themen nicht nur unter dem Eindruck der gewaltsamen Auseinandersetzungen; sie waren teilweise auch selbst exis6 | Welche Art von Erzählungen sie evozierten, wird an späterer Stelle in dieser Einleitung sowie in Kapitel 3 erläutert.
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tenziellen Bedrohungen ausgesetzt. Ein Interview wurde mit einer Bloggerin geführt, die sich auf der Flucht befand. Die Auswertung orientierte sich am Regelwerk der Grounded Theory, das sowohl für die Interpretation der Interviews als auch der Visualisierungen herangezogen wurde. Vorrangiges Verfahren im Rahmen der Grounded Theory ist das Kodieren, zunächst das offene Kodieren, um möglichst viele Aspekte zu eruieren, die für die Forschungsfrage relevant sind und anschließend das axiale Kodieren, das die Fülle der Daten in eine Ordnung bringt. Ziel des Kodierens ist die Identifikation einer Schlüsselkategorie; Beispiele von Schlüsselkategorien in der gegenständlichen Erzählanalyse sind »Vernetzung«, »Grenzmanagement« oder »Auf- und Ausbruch«. Eine Schlüsselkategorie muss häufig im empirischen Material vorkommen und zentral sein, d.h. Ausgangspunkt für verschiedene Submuster eines Phänomens sein (Strauss 1991: 64). Sie steht im Zentrum eines Kodierparadigmas, das die im Zuge des axialen Kodierens geordneten Daten in einen Strukturzusammenhang bringt (Strübing 2014: 24). Durch die um die Achse einer Schlüsselkategorie herum gruppierten Kodierergebnisse sollen Fragen nach den Ursachen, dem Kontext, den Konsequenzen eines Phänomens sowie nach phänomenbezogenen Handlungsstrategien beantwortet werden (a.a.O.: 25). Ergänzend wurden in der hier präsentierten Erzählanalyse phänomenbezogene Reflexionen und Emotionen der Erzähler_innen kodiert. Die Auswertung der Visualisierungen orientierte sich zwar auch an den Regeln der Grounded Theory, aber im Bewusstsein, dass diese zur Wortsprache kontrastierende Datenquellen darstellen. Sie wurden als Kombination von Zeichen betrachtet, die für etwas Anderes stehen (Lobinger 2012: 55). Die in dieses Buch einbezogenen Visualisierungen von Netzakteur_innen und Blogger_innen stehen für Alltagsszenarien, für erlebte Gefühle, für Selbstwahrnehmungen, für Beziehungen, für Intentionen. Das Forschungsinteresse richtete sich bei der Bildanalyse in semantischer Absicht auf die Beziehungen zwischen Zeichen und Bezeichnetem. Die Aufmerksamkeit galt den Visualisierungen somit als Sinnbilder, die Lobinger zufolge ein »hohes Maß an semantischer Unbestimmtheit und Vieldeutigkeit« (ebd.) auszeichnet. Zugleich dient die Produktion von Bildern nach Susan Sontag dazu Ordnung zu schaffen (Sontag 1980: 147). Schon in seinen Ursprüngen war das Bilder-Machen Sontag zufolge ein magisches Tun, mit dem Macht über etwas gewonnen werden sollte (ebd.). In den Visualisierungen der Erzähler_innen finden sich häufig beide Momente: Versuche Ordnung zu schaffen z.B. zwischen Mensch und Maschine, zwischen dem eigenen Ich und dem Du oder indem der Maschine ein bestimmter Platz im eigenen Alltag zugewiesen wird und zugleich enthalten die Visualisierungen Zeichen von Zwiespältigkeit, Uneindeutigkeit und Offenheit, wie es sich in dieser Visualisierung ausdrückt, mit der ein 14-jähriger Blogger die Frage »Wer bin ich online?« beantwortete:
Einleitung Abbildung 1: Ordnung und Uneindeutigkeit im Bild (Blogger, 147, Deutschland)
Der Kreis vermittelt den Eindruck einer geschlossenen Ordnung, die der 14-Jährige möglicherweise mit seinem Blog herzustellen sucht, zugleich ist der Kreis leer, was das, was innerhalb des Kreises stattfindet, völlig offen lässt. Dem offenen Bedeutungshorizont von Visualisierungen wurde im Forschungsprozess dadurch begegnet, dass die Zeichner_innen (1) gebeten wurden, ihre Visualisierungen zu kommentieren und (2), dass die Bildanalyse, wie beschrieben, regelgeleitet erfolgte. In diesem Buch werden die Ergebnisse der Bildanalyse nicht systematisch präsentiert; die Bilder werden lediglich zur Illustration von Geschichten herangezogen.
Aufbau des Buches Das Buch beschäftigt sich in einem ersten Kapitel mit dem Erzählen als Kultur- und Lebensform, das tief in die Geschichte der Menschheit eingelassen ist. Es wird als Handlungsform eingeführt, das an der Produktion der Grundlagen unseres Lebens mitwirkt, denn es verhilft dazu, erzählend die Welt auszule7 | Alter der Zeichner_innen
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gen, in der wir auf der Basis dieser Auslegung handlungsfähig werden müssen. In seinen Erzählungen verschränkt sich das Individuum mit der Welt. Es folgt der Versuch, das Erzählen in Anlehnung an Paul Ricœur zu Zeit und Raum in Beziehung zu setzen. Zeit wird als kontextueller Rahmen des Erzählens, als inhaltlicher und struktureller Zusammenhang und als Produkt von Erzählungen beschrieben. Raum wird ebenfalls als Rahmen des Erzählens charakterisiert, der sich aber erst durch das Erzählen konstituiert und immer ein Produkt des Erzählens darstellt. Aus dem subjekttheoretischen Ansatz, der dem Buch zugrundeliegt, folgt die Frage nach den Funktionen des Erzählens für das Subjekt. Inspiriert von Michel Foucault (1993) wird es als eine Technologie der Selbstkonstruktion diskutiert, die der Orientierung und Handlungsfähigkeit, der Selbsterkenntnis und dem Selbstverstehen sowie als Ort der Selbstvergewisserung und der Transgression dient. Aus der These, dass das Erzählen als Technologie der Selbstkonstruktion nicht nur eine Bewegung zu sich selbst impliziert, sondern auch eine Bewegung zum Anderen hin, wird die Rolle des/der Anderen als Bezugspunkt, Thema, Miterzähler_in und als Teil des narrativen Selbst diskutiert, wobei u.a. auf das Konzept des »relationalen Seins« von Kenneth Gergen (2002) Bezug genommen wird. Daraus leitet sich die Frage ab, inwieweit das Erzählen ein bedingtes Handeln darstellt, die durch die Charakterisierung des Erzählens als Unterwerfungs- und Ermöglichungstechnologie beantwortet wird, wonach wir als Erzähler_innen weder alleine Regie führen noch den Erwartungen unserer sozialen und dinglichen Umgebung ausgeliefert sind. Es wird die These entwickelt, dass wir unsere Geschichten inmitten von Normen situieren, die wir um den Preis von sozialer Anerkennung nicht völlig ignorieren können, ohne dass die Geschichten zu Effekten dieser Normen werden. Vielmehr – so wird weiter argumentiert – bewahren sich diese etwas Irreduzibles, das sich aus der Notwendigkeit zur Aneignung von Normen ergibt, bei der lebensgeschichtliche Dispositionen mit den Normen ins Verhältnis gesetzt werden, was Gelegenheitsstrukturen für kritische Reflexion schafft (Butler 2003: 10). Als weiterer Bezugspunkt des Erzählens heutiger Jugendlicher und junger Erwachsener wird neben dem sozialen Gegenüber das dingliche Gegenüber in Form digitaler Medien thematisiert. Diese werden als Produkte gesellschaftlicher Praxis geschildert, die im Prozess ihrer Herstellung eine soziokulturelle Aufladung erfahren. Diese konkretisiere sich – so die These – in erzählrelevanten Strukturmerkmalen wie Vernetzung, Interaktivität, Globalität, Multimedialität, Virtualität. Es wird nicht behauptet, dass sich digitale Medien grundsätzlich von bisherigen Medien unterscheiden; jedoch werden Unterschiede in Bezug auf Gestalt und Intensität dieser Merkmale konstatiert. Die Multimedialität digitaler Medien verlange beispielsweise, das Verhältnis zwischen Bild und Text in seinen Konsequenzen für das Erzählen neu zu untersuchen. Abschließend wird aus der Perspektive des Foucault’schen Heterotopie-Konzepts
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der durch die digitalen Medien konstituierte virtuelle Raum beleuchtet und festgestellt, dass die Erzählungen der physikalischen Welt aus diesem Raum nicht ausgesperrt werden, dass dieser aber zugleich neuartige narrative Akte stimuliert. Es folgt die Präsentation des empirischen Materials in Gestalt einer Typologie der ermittelten Geschichten. Diese Geschichten verweben – so zeigt die Darstellung – Erfahrungen und Handlungen aus dem virtuellen Raum und aus der physikalischen Welt, aus der Vergangenheit und Gegenwart mit zukunftsbezogenen Intentionen und Hoffnungen. Sie bewegen sich, so kann weiter gezeigt werden, auf verschiedenen Ebenen der Bewusstheit, der Ahnung, der Vorbewusstheit; ziehen sich wie ein unterirdisches Gespinst durch das Leben der Erzähler_innen, und initiieren ein bestimmtes Denken und Handeln. Die Schlüsselkategorien, die bereits in der Primärauswertung im Hinblick auf die Praktiken der Erzähler_innen identifiziert wurden, wiesen auch den Weg zum Fokus der einzelnen Geschichten. Es konnten folgende sechs Typen von Geschichten ermittelt werden, die teilweise in verschiedenen Variationen auftreten: Vernetzungsgeschichten, Selbstinszenierungsgeschichten, Verkäufer_innen- und Händler_innengeschichten, Grenzmanagementgeschichten, Verwandlungsgeschichten, Auf- und Ausbruchsgeschichten. Das folgende Kapitel beschäftigt sich damit, inwiefern sich die in den ersten beiden Kapiteln vorgestellten Konzepte Zeit, Raum, Selbst und Du sowie die Strukturmerkmale digitaler Medien in der Typologie der Geschichten abbilden und welche Formen diese in den Geschichten annehmen. Es ist der Versuch einer theoretischen Nachlese. Zeit konkretisiert sich in den Geschichten als biografische und als gesellschaftlich-kulturelle Zeit, Raum gewinnt Gestalt in narrativen Praktiken des Grenzmanagements, der Überschreitung von nationalen und kulturellen Räumen und in der Herstellung und Gestaltung virtueller Räume. Die These, dass Erzählungen Technologien der Selbstkonstruktion bilden, findet, so kann resümiert werden, vielfache Bestätigung in den Geschichten. Diese können als Versuche, durch Selbstkonstruktionen Orientierung in der Welt zu finden oder als narratives Flanieren zwischen standardisierenden und experimentierenden, zwischen spaltenden und Kontinuitäten schaffenden Selbstentwürfen dargestellt werden. Darüber hinaus bestätigt die Erzählanalyse, dass es kein isoliertes Ich ist, das im Hinblick auf Zeit, Raum und Selbst agiert. Das Du betritt als Bezugsgröße, als Thema oder Imagination die narrative Bühne. Schließlich wendet sich dieses Kapitel dem Wechselspiel zu, das sich zwischen den Erzähler_innen, den Erzählungen und der medialen Technik entfaltet. »Kein Ende nirgends«, lautet die Kurzformel für die durch den Rhizom-Charakter digitaler Netzwerke entfachte, unendlich erscheinende Distribution von Erzählungen. Eine neue Konjunktur des Bildes, so kann eine weitere Facette in diesem Wechselspiel beschrieben werden, stärkt die Funktion von Bildern als erzählte Mittel der Dokumentation gesellschaftlicher Er-
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eignisse, als soziales Bindemittel und Mittel der Selbstinszenierung. Typisch für das angesprochene Wechselspiel ist auch das transmediale Erzählen, das mediale Erfahrungen aus früheren Lebensphasen, aber auch Erfahrungen aus verschiedenen Medien miteinander verknüpft und das einen Kosmos von Geschichten schafft, an dem die Erzähler_innen als Gestalter_innen teilhaben. Entsprechend des zu Beginn der Einleitung formulierten Erkenntnisinteresses richtete sich die Analyse nicht nur darauf, welche Geschichten die Netzakteur_innen und Blogger_innen erzählen, sondern auch darauf, ob und in welcher Beziehung diese Geschichten zum gesellschaftlich-kulturellen Wandel der Gegenwartsgesellschaft stehen. Sie wurden daher mit Wandlungsphänomenen wie Enttraditionalisierung, Pluralisierung, Entgrenzungen, Individualisierung und Global Flows konfrontiert. Als Ergebnis kann festgehalten werden, dass die gesellschaftlichen Umbrüche die Geschichten der Netzakteur_innen und Blogger_innen nicht unberührt lassen. Das heißt aber nicht, dass sie diese determinieren, denn sie treffen auf eigenwillige Subjekte, die mit Fähigkeiten zur Selektion, Differenzierung, Reflexion ausgestattet sind. Insbesondere kann die Suche und Etablierung alternativer Wertorientierungen und Lebensformen als eine Antwort auf die gesellschaftlichen Herausforderungen beschrieben werden, bei der die westlichen Erzähler_innen tendenziell als Individuen handeln, während Erzähler_innen aus der arabischen Region kollektive Strategien anstreben. Abschließend wird das Erzählen in den Kontext von Kulturentwicklung gestellt, womit der Bogen zum Eingangskapitel geschlagen wird, in dem das Erzählen als Kultur- und Lebensform thematisiert wurde. Es wird gefragt, welche Form das Erzählen in einer Welt annehmen muss, in der sich globale Flows und das globale Interplay intensivieren und beschleunigen. Die Anforderungen an das Erzählen werden aus der Perspektive des »translational turns« diskutiert, aus der Konsequenzen für die Zukunft des Erzählens abgeleitet werden können, das in der Lage ist, an der Schaffung von Erzählräumen mitzuwirken, die der Literaturwissenschaftler Homi K. Bhabha als »Dritte Räume« bezeichnet (Bhabha 2000: 5), die er als Keimzellen für ein von Dualismen losgelöstes, kulturellen Differenzen Platz bietendes Erzählen beschreibt.
Innovative Aspekte Wenn ich im Folgenden den innovativen Beitrag dieses Buches skizziere, so heißt das nicht, dass genannte innovative Aspekte in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung bislang unberücksichtigt geblieben sind, aber sie wurden vielleicht nur – soweit ich sehen kann – ungenügend oder marginalisiert diskutiert. Dieses Buch handelt von Alltagserzählungen, nicht von literarischen oder filmischen Erzählungen, wie sie im Kino oder Fernsehen inszeniert werden. Damit wird eine Erzählwelt erforscht, die zwar für die Entwicklung von Per-
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sönlichkeit und Kultur von konstitutiver Bedeutung ist, aber nach Lehmann von den Erzählforscher_innen, die sich bisher vorrangig mit »in sich geschlossenen, ästhetisch gestalteten Erzählungen« (Lehmann 2011: 28) beschäftigen, nicht ins Blickfeld genommen wird. Relativ neu ist auch das hier verfolgte Interesse am alltäglichen Erzählen im Kontext digitaler Medien, obschon dieses Interesse unter dem Stichwort »Storytelling« im angloamerikanischen Wissenschaftsdiskurs stärker verbreitet ist als hierzulande. Allerdings hat der mediale Raum als Mitgestalter von Erzählungen wenig Beachtung gefunden. Dieser Lücke wird unter Rückgriff auf Ansätze entgegengewirkt, die sich mit der soziokulturellen Bedeutung von Dingen beschäftigt haben, auch wenn die digitalen Medien darin keine Rolle spielen, wie die Ansätze von Lorenzer (1981), Barthes (1988), Cszíksentmihályi/Rochberg-Halton (1989). Es soll Sensibilität dafür geweckt werden, dass sich die Menschen nicht einer neutralen, sondern einer stimulierenden Dingwelt gegenübersehen, in der durch die digitalen Medien neue Akzente gesetzt wurden, die Spuren in den Erzählungen der Menschen hinterlassen. Mit der Transformation des Themas Erzählen in die Medienwissenschaft wird ebenso Neuland betreten, jedenfalls, soweit dieses Erzählen von Alltagshandelnden und nicht von professionellen Erzähler_innen, PR-Agenturen und Medienkonzernen ausgeht. Die hier verfolgte medienwissenschaftliche Analyse beschränkt sich nicht auf die Interpretation der Texte, sondern bezieht die Erzähler_innen als Schöpfer_innen dieser Texte und als Akteur_innen in den Erzählungen ein. Sie rückt das Subjekt ins Zentrum, was im Rahmen einer medienwissenschaftlichen Betrachtung nicht selbstverständlich ist. Zudem wird mit einem Subjektbegriff gearbeitet, der sich gegen den klassischen Subjektbegriff behaupten muss, der zwar in Kritik geraten ist, aber noch nicht ad acta gelegt wurde. Gegen die Vorstellung von einem unabhängigen Subjekt wird ein Subjekt gesetzt, das sich im Spannungsfeld zwischen Selbst- und Fremdbestimmung bewegt. Die Verschränkung von Mikro- und Makrostrukturen, wonach die erkenntnisleitende Fragestellung verlangt, erfordert eine disziplinäre Öffnung. Die medienwissenschaftliche Perspektive nimmt Anleihen aus der Soziologie, aus der Psychologie, der Philosophie, der Literatur- und Kulturwissenschaft, worin ebenfalls ein innovativer Beitrag zu sehen ist. Neben den innovativen theoretischen Aspekten werden teilweise auch methodisch neue Wege beschritten. Einen methodischen Neuwert sehe ich weniger in der Verwendung einer verstehend-interpretativen Methodologie, die inzwischen hinreichend anerkannt und etabliert ist, sondern vielmehr in der Einführung der Visualisierung als Forschungsmethode. In der Medien- und in der Bildwissenschaft, auch in der Kunstgeschichte ist das Bild vorrangig Forschungsgegenstand, in Disziplinen wie der Psychologie oder der Pädagogik dient es als Diagnoseinstrument, was der Funktion des Bildes als Forschungs-
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methode schon näher kommt. Die im Zuge der empirischen Studie angefertigten Bilder stellen einerseits Kommunikate zwischen Erzähler_innen und Forscher_innen dar und andererseits dienen sie als Selbstbilder und als interpretative Bilder, mit denen die Erzähler_innen ihre Wahrnehmungen, Emotionen und Beziehungen zu ordnen suchen. Im Bild werden innere Landschaften sichtbar, die von einer mehrdeutigen Verbindung zwischen Ich und Welt künden (Sontag 1980: 118). Ich habe – und darauf sei abschließend verwiesen – keine herkömmlichen Geschichten untersucht und damit einen Erzählbegriff kreiert, der von tradierten Erzählbegriffen abweicht. Die in diesem Buch vorgestellten Geschichten wurden im Rahmen von Interviews und von Visualisierungen in Worten und Bildern erzählt; sie haben keinen linearen Verlauf, der sich zwischen Anfang, Höhepunkt und Ende aufspannt. Sie erschöpfen sich nicht im Erinnern und Beschreiben, sondern umfassen Zukunftsperspektiven, Kommentare und Reflexionen. Sie bestehen aus narrativen Puzzlestücken, die sich auf verschiedene Phasen der Lebensbiografie und auf verschiedene Lebensbereiche beziehen und die nicht nahtlos ineinander passen. Der hier vertretene Erzählbegriff schöpft aus der Zusammenschau der Puzzlestücke und aus der Identifikation eines Fokus, um den sich die Puzzlestücke gruppieren, der den Erzähler_innen aber nicht notwendig bewusst sein muss. Er stellt auf die »small stories« (von Engelhardt 2011: 46) ab, favorisiert den Blick auf das scheinbar Nebensächliche, auf Randbemerkungen, metakommunikative Äußerungen, unvollendete Sätze, Schweigen in der Annahme, dass sich darin eine komplexe Realität widerspiegelt (Ginzburg 1980: 11). Es ging mir um die Sicherung narrativer Spuren als Zeitsignaturen der Generation Y.
Zentrale Thesen Die im Verlauf der Arbeit an diesem Buch theoretisch und empirisch gewonnenen Einsichten in den Zusammenhang zwischen Alltagsgeschichten, digitalen Medien und gesellschaftlich-kulturellem Wandel im Hinblick auf heutige Jugendliche und junge Erwachsene aus verschiedenen Teilen der Welt versuche ich im Folgenden in einigen Thesen zusammenzufassen: • Das Erzählen transzendiert die Unmittelbarkeit menschlichen Daseins. Es weist sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft, es integriert das tatsächlich Erlebte und das Imaginierte, das Nahe und das Ferne, das Feste und das Flüssige. • Medien verändern die Formen und Orte des Erzählens. Sie erweisen sich als Spielfelder unserer narrativen Selbstverwirklichung. Die digitalen Medien forcieren die Deterritorialisierung des Erzählens und damit ein Displacement von Erfahrungen, Deutungen, Ideen, Werten. Zugleich sind sie Produkte von Erzählungen.
Einleitung
• Die Erzählungen der Netzakteur_innen und Blogger_innen wirken wie unterirdische Gespinste, die Erfahrungen und Handlungen der virtuellen und physikalischen Wirklichkeit integrieren und ihnen ihren Sinn geben. • Die Erzählungen stellen teilweise Antworten auf die Phänomene des gesellschaftlich-kulturellen Wandels dar, die sich als Enttraditionalisierung, Pluralisierung, Entgrenzungen, Individualisierung, globale Flows zeigen. Sie sind von diesem Wandel geprägt und dienen zugleich der Bearbeitung der gesellschaftlichen Herausforderungen. Teilweise stehen die Erzählungen aber auch im Zeichen des Wunsches nach gesellschaftlich-kultureller Veränderung, insbesondere die Erzählungen der Netzakteur_innen und Blogger_innen aus der Region des Mittleren Ostens. • Die ausgeprägte narrative Suche nach Kohärenz antwortet der erfahrenen bzw. selbst initiierten Fragmentierung des Alltags und der Erosion kultureller Kohärenz. Sie dient dazu, neuartige Wahrnehmungen, Erlebnisse, Begegnungen neu zusammenzusetzen. • Der rasanten Dynamik des gesellschaftlich-kulturellen Wandels korrespondiert die Unabgeschlossenheit der Geschichten. Es fehlen die Auflösungen, der gute Ausgang, die abschließende Klammer, stattdessen zeigen sich in den Geschichten Skepsis, Verunsicherung, aber auch hoffnungsvolle Blicke in die Zukunft. • Erzählungen werden sich in Zukunft immer mehr online und offline in Räumen entfalten, die mit kulturellen Differenzen konfrontieren, die sicher geglaubte Werte- und Normsysteme in Frage stellen. Mehr als je zuvor wird die kulturelle Übersetzung von Erzählungen erforderlich sein, was man sich nicht als glatten Transfer vorstellen darf, sondern als ein wechselseitiges Darstellen und Aushandeln von Differenzen, als Problematisieren und Überwinden von Hierarchien, was die Voraussetzungen wären für die Entstehung eines »Dritten Raums« (Bhabha 2012), der von Homi K. Bhabha als subversives Denkgebäude imaginiert wird, das geschlossene Ordnungen unterhöhlt. • Die Multimedialität digitaler Medien eröffnet neue Möglichkeiten der kulturellen Übersetzung, die ohne Wortsprache auskommt. Die Loslösung von Sprachbarrieren verspricht, dass Erzählungen in Form von Bildern, Videos, Musik eine größere Reichweite gewinnen, dass sie über kulturelle Grenzen hinweg wahrgenommen werden, dass sie mit Erzählungen aus anderen Regionen der Welt interagieren. • Kulturelle Übersetzung kann allerdings auf Grenzen stoßen, die unüberwindbar erscheinen. Die Geschichten der jeweils Anderen können unübersetzbare Reste enthalten, von denen eine Irritation ausgeht, die das Unheimliche konstituiert. Das Unheimliche verweist, wie Sigmund Freud dargelegt hat, auf das Verdängte, das sich einer Übersetzung verweigert, weil es angstbesetzt ist (Freud 1919: 250ff.). Empfundene Irritation oder
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Angst können den Wunsch nach Ausschaltung kultureller Differenzen wecken; zugleich bergen sie, wenn sie angenommen und reflektiert werden, die Chance, das Gemeinsame im vermeintlich Fremden zu entdecken.
1. Erzählen als Kultur- und Lebensform »Erzählen verbindet Dinge miteinander. Wir wollen eine zusammenhängende Welt, nicht eine in Stücken und Scherben«. S iri H ust vedt 2008a, 37
Das Erzählen beginnt nach Roland Barthes mit der Geschichte der Menschheit (Barthes 1988: 102). Es handelt sich um ein kulturübergreifendes Phänomen (Meuter 1995: 173), das es zu allen Zeiten, an allen Orten und in allen Gesellschaften gegeben hat (Barthes 1988: 102). Es zählt zu den Grundlagen menschlichen Lebens laut Ludwig Wittgenstein, demzufolge das Erzählen und Plauschen zur Naturgeschichte der Menschen gehören wie das Gehen, Essen, Trinken und Spielen (Wittgenstein 1960: 302). Die Erzählungen und Geschichten sind schon vor uns da; wir werden hineingeboren in eine Welt der Geschichten, die den unbefragten Boden unseres Seins bilden (Schütz/ Luckmann 1975: 23). Geschichten entstehen, so kann man in Anlehnung an Schütz/Luckmann sagen, weil uns die Welt zur Auslegung aufgegeben ist (Schütz/Luckmann 1975: 25). Die Auslegung wiederum ist in der Notwendigkeit begründet, die Welt zu verstehen, um in ihr handeln zu können (ebd.). Geschichten repräsentieren im Sinne von Schütz/Luckmann (Schütz/Luckmann 1975: 23 und 33) Sinnzusammenhänge bzw. Lebenswelten, die aus einem Konglomerat aus Erfahrungen, Orientierungen, Prinzipien, Werten, Normen bestehen, die von den Subjekten so zueinander in Beziehung gesetzt wurden und werden, dass sie als Sinngrundlage des Denkens und Handelns wirken können. Erzählend weben wir die verschiedenen Sinnelemente ineinander, betonen oder relativieren sie in einem nicht endenden Prozess. Sinnzusammenhänge stellen historisch betrachtet ein Kontinuum dar, denn, was wir auslegen ist Auslegung von bereits Ausgelegtem. Wir vertrauen darauf, dass die Welt, so wie sie uns bekannt ist, weiter so bleiben wird und dass der aus unseren Erfahrungen gebildete und der von Anderen übermittelte Wissensvorrat seine Gültigkeit behält (Schütz/Luckmann 1975: 26). »Und so weiter« (ebd.) ist nach Schütz/Luckmann ein wesentlicher Aspekt unseres Denkens.
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An dieser Stelle möchte ich auf mein Verständnis der Begriffe Erzählung, Narration, Erzählen und Geschichte eingehen. Der Begriff Erzählung soll ebenso wie die Narration einen Handlungsprozess bezeichnen, der Begriff Erzählen ein Handeln und der Begriff Geschichte das inhaltliche Produkt des Erzählens (s. auch Mahne 2006: 12f.). In diesen Definitionen spielen das Wie und Was des Erzählens unterschiedliche Rollen. In der Geschichte dominiert das Was, im Erzählen das Wie und in der Erzählung sowie in der Narration verbinden sich das Wie und Was. Die Geschichte integriert verschiedene Episoden, Zeitpunkte, Orte und setzt sie zueinander in ein sinnhaftes Verhältnis. Sie bildet formal eine Konfiguration, bestehend aus Bedeutungselementen, die zusammengesetzt einen Gesamtsinn ergeben, dem eine relative Endgültigkeit anhaftet. Gleichwohl können sich Geschichten verändern. Ich betrachte das Erzählen weder als ein nur rationales noch als ein nur beschreibendes Tun. Es schließt Emotionen und Stimmungen sowie Reflexionen ein, die sich sowohl im Handlungsprozess der Erzählung als auch in der Geschichte abbilden bzw. wiederfinden. Wir werden, wie erwähnt, in eine Welt der Geschichten hineingeboren, die uns erzählt werden und die wir weitererzählen. In und durch unsere(n) Erzählungen eignen wir uns die Welt an, positionieren uns in dieser Welt und teilen uns darin Anderen mit. Die Erzählung fungiert als Aneignungsform und als Transportmedium, das Erzählen als Transportmittel und – worauf ich später noch eingehe – als Gestaltungsinstrument. Voraussetzung des Erzählens ist die Fähigkeit, sich einer Sprache zu bedienen; Sprache ist Träger von Erzählungen. Doch nicht nur die mündlichen und schriftlichen Wortsprachen übernehmen nach Roland Barthes diese Trägerfunktion, dies tut auch »das stehende oder bewegte Bild, die Geste oder das geordnete Zusammenspiel all dieser Substanzen« (Barthes 1988: 102). Erzählungen finden sich folglich an vielen Orten und zu vielen Gelegenheiten: im alltäglichen Klatsch, im Film, in Comics, auf Plakatwänden, in den Körpern und Gesichtern der Menschen, in der Architektur, im Netz, in Politikerreden, in Zeitungen und in wissenschaftlichen Büchern. Selbst die Natur kann erzählen, wie aus dem Grimm’schen Wörterbuch zu entnehmen ist, wo es heißt »die fisch im meer werden dirs erzelen« und »die himmel erzelen die ehre gottes (Grimm/Grimm 1984/1862: 1077). Dinge können zum Träger von Erzählungen werden, aber die Erzählung ist stets immaterieller Natur, zusammengesetzt aus Symbolen und Bedeutungen. Susanne Langer unterscheidet zwischen diskursiven und präsentativen Symbolen. Die Wortsprache ist ihrem Wesen nach Langer zufolge diskursiv (Langer 1965: 103). Die einzelnen Elemente der Wortsprache sind Einheiten mit unabhängiger Bedeutung, die, um mit Alfred Lorenzer zu sprechen, nacheinander aufgereiht werden wie Wäschestücke auf der Wäscheleine (Lorenzer 1981: 28). Die Logik der Diskursivität erlaubt, nur solche Gedanken zur Spra-
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che zu bringen, die sich einer diskursiven Ordnung fügen. Jede Idee, die sich nicht diskursiv ordnen lässt, ist durch Worte nicht mitteilbar (ebd.). Die präsentative Symbolik dagegen setzt sich zwar auch aus Elementen zusammen, die Bestandteile einer Geschichte sind, aber diese Elemente besitzen keine voneinander unabhängigen Bedeutungen (ebd.). Licht- und Schattenflächen z.B. in einer Fotografie, die als Beispiel einer präsentativen Symbolik betrachtet werden können, haben an sich keine Bedeutung (ebd.). Aber sie wirken in der Kombination mit anderen Elementen und ergeben ein Bild, das sich dem/der Betrachterin nicht sukzessive, sondern auf einmal erschließen kann (ebd.). Ob wir uns für unsere Erzählungen einer diskursiven oder einer präsentativen Symbolik bedienen, wir greifen, wie erwähnt, auf schon vorhandene Symbole zurück, andernfalls wären wir für andere nicht verstehbar, aber wir adaptieren diese Symbole nicht einfach, wir variieren und gestalten sie. Wir treten, wie Alfred Lorenzer sagt, in Interaktionsspiele mit den existierenden Symbolsystemen ein. Im Hinblick auf die präsentativen Symbole entwickeln wir sinnlich-symbolische Interaktionsformen und im Hinblick auf die diskursiven Symbole entwickeln wir sprachsymbolische Interaktionsformen (Lorenzer 1981: 159ff.). In den sinnlich-symbolischen Interaktionsformen sind wir den Emotionen und den leiblichen Prozessen näher, die sprachsymbolischen Interaktionsformen forcieren die rationale und reflexive Auseinandersetzung mit der Welt. Im Prozess des Erzählens kombinieren wir diese Interaktionsformen; das Erzählen wird zum Instrument der Gestaltung unserer Symbolsysteme. Die narrative Psychologie geht, wie Wolfgang Kraus ausführt, davon aus, »dass wir unser ganzes Leben und unsere Beziehung zur Welt als Narration gestalten, dass wir aber auch die alltägliche Interaktion und die Organisation von Erlebtem narrativ betreiben« (Kraus 2000: 4). Unser gesamtes Leben vollzieht sich, wenn wir Barbara Hardy folgen, in Erzählungen bzw. Narrationen. Hardy schreibt: »[…] we dream in narrative, daydream in narrative, remember, anticipate, hope, despair, believe, doubt, plan, revise, criticize, construct, gossip, learn, hate, and love by narrative. In order really to live, we make up stories about ourselves and others, about the personal as well as the social past and future« (Hardy 1968: 5). Durch das Erzählen und in der Erzählung manifestiert sich, wenn Hardy Recht hat, die Art und Weise unseres Lebens; das Erzählen generiert insofern Lebensformen. Die narrativen Lebensformen sind intersubjektive Lebensformen; sie schließen an vorhandenen Symbolsystemen an und entwickeln sich durch das soziale Aushandeln von Bedeutungen weiter. Als Resultat dieses Aushandelns ergeben sich geteilte Sinnzusammenhänge, die Kultur begründen. Ein Kulturbegriff, der sich an Lebensformen orientiert, integriert Alltagskultur (Welsch 2001: 256). Unter Kultur sollen hier in Anlehnung an Jerome Bruner gemein-
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schaftlich entwickelte und geteilte Sinn- bzw. Symbolsysteme sowie Arten des Miteinanderlebens und Miteinanderarbeitens verstanden werden (Bruner 1997: 30). Der Begriff Kultur hat sich erst Ende des 17. Jahrhunderts herausgebildet (Welsch 2001: 255). Schon damals betonte der Naturrechtslehrer Samuel von Pufendorf die gestaltende Dimension von Kultur. Er definierte Kultur als »die Gesamtheit derjenigen Tätigkeiten, durch welche die Menschen ihr Leben als spezifisch menschliches gestalten – im Unterschied zu bloß tierischer Daseinsfristung« (von Pufendorf zit.n. Welsch 2001: 255). Das Gestalten wäre nicht ohne die narrative Interpretation und ohne das Aushandeln von Bedeutungen im Aufeinandertreffen verschiedener Erzählungen denkbar, denn das Gestalten schließt Variieren und Verändern ein. Kultur ist eine Erzählung, die nicht nur Normen repräsentiert, sondern auch einen interpretativen Spielraum eröffnen muss, um Abweichungen von der Norm einen Sinn zu geben (Bruner 1997: 64). Es ist nach Bruner ein Merkmal des Erzählens, dass es Verbindungen schaffen kann zwischen dem Außergewöhnlichen und dem Gewöhnlichen, zwischen dem Üblichen und dem Neuartigen (ebd.). Die Viabilität einer Kultur liege in der Fähigkeit, Konflikte zu lösen, Differenzen zu erklären und gemeinschaftliche Bedeutungen auszuhandeln (ebd.). Kultur als eine Erzählung zu betrachten heißt, sie als Schöpfung menschlicher Subjekte zu charakterisieren. Aber Kultur ist auch präskriptiv, denn sie versorgt uns mit einem Script, dessen Vokabular unserem Denken, Wahrnehmen, Deuten eine Richtung anbietet und Grenzen sichtbar macht (Hutton 1993: 145). Narrative Lebensformen gewinnen als Kulturformen einen habitualisierten Charakter im Sinne von Pierre Bourdieu. Sie bergen Dispositionen, »die als strukturierende Strukturen fungieren d.h. als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlage für Praktiken und Vorstellungen« (Bourdieu 1987: 98). Der habitualisierte Charakter narrativer Lebensformen verweist auf die wirkende Präsenz von Vergangenheit, die sie erzeugt hat (a.a.O.: 105). Doch deren Wirksamkeit ist relativ; Vergangenheit lässt zu, eröffnet, behindert, stört, ermöglicht, aber sie ist nicht deterministisch, jedenfalls nicht, wenn reflexiv auf sie Bezug genommen wird. Pierre Bourdieu beschreibt die dialektische Wirkung von Vergangenheit im Habitus wie folgt: »Der Habitus ist die unbegrenzte Fähigkeit, in völliger Freiheit Gedanken, Wahrnehmungen, Handlungen zu erzeugen, die stets in den historischen und sozialen Grenzen seiner Erzeugung liegen« (a.a.O.: 103). Insofern bewegen sich Erzählungen im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Begrenzung. Das grenzüberschreitende Potenzial von Erzählungen impliziert die Möglichkeit, dass sich Kulturen öffnen. Was passiert, wenn sich Erzählungen aus unterschiedlichen Gegenden der Welt, die aus unterschiedlichen kulturellen Traditionen schöpfen, kreuzen? Diese Frage ist angesichts der globalen kommunikativen Vernetzung gegenwärtig von besonderer Relevanz. Werden sich die Kulturen als »geschlossene Kugeln« erweisen (Welsch 2001: 258), wie es
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nach Wolfgang Welsch das klassische Kulturmodell vorsieht, das an Johann Gottfried Herder anschließt? Nach Herder hat »jede Nation ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich wie jede Kugel ihren Schwerpunkt!« (Herder 1967: 44f.). Die Hinwendung der Völker zu ihrem Mittelpunkt mache sie »blühender in ihrer Art, brünstiger und also auch glückseliger in ihren Neigungen und Zwecken« (Herder 1967: 46). Diese Bemerkungen können als Plädoyer für eine Homogenisierung von Kultur gelesen werden. Aber es ist auch bei Herder kein durchgängiges Plädoyer, spricht er doch an anderer Stelle davon, wie sich einzelne Kulturen aus anderen Kulturen speisen. Er schreibt: »Der Ägypter konnte nicht ohne den Orientalier sein, der Grieche baute auf jene, der Römer hob sich auf den Rücken der ganzen Welt – wahrhaftig Fortgang, fortgehende Entwicklung, […]« (Herder 1967: 48f.). Fragen der sich kreuzenden Kulturformen als Konsequenz und als Bedingung des Erzählens werden im Verlauf dieses Buches immer wieder aufgegriffen und weiterdiskutiert. Erzählungen ereignen sich in der Gegenwart, speisen sich aus der Vergangenheit, verweisen in die Zukunft, sie umfassen individuelle und kollektive Elemente. Sie konstituieren Raum und überwinden Räume. Zeit und Raum bilden in mehrfacher Hinsicht Kontexte des Erzählens. Als Lebens- und Kulturform in Zeit und Raum gewinnt das Erzählen seine Bedeutung für das Ich und das Du gleichermaßen. Im Folgenden sollen die Kontexte und Funktionen des Erzählens genauer erörtert werden.
1.1 K onte x te des E rz ählens Der Begriff Kontext wird in seiner zweifachen Bedeutung hier verwendet, einerseits in seiner Bedeutung als Umfeld, als Rahmen von Erzählungen und andererseits in seiner Bedeutung als inhaltlicher und struktureller Zusammenhang von Erzählungen.
1.1.1 Zeit Das Erzählen schafft, wie Paul Ricœur in seinem Werk »Zeit und Erfahrung« (1989) dargestellt hat, einen Bezug zum Phänomen Zeit. Ricoeur traf diese Aussage im Hinblick auf das Erzählen in der Literatur, in der Geschichtsschreibung und in Alltagsgeschichten (Meuter 1995: 123). Zeit soll in diesem Abschnitt als Bezugspunkt und als Produkt des Erzählens diskutiert werden, das als Produkt zum Rahmen weiterer Erzählungen wird. Darüber hinaus wird die Zeit der Erzählung selbst betrachtet, in der Zeit eine zusammenhangsstiftende Rolle übernimmt.
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Zeit als Bezugspunkt des Erzählens Nach Paul Ricœur zeichnen sich Erzählungen durch ein- und ausgeschlossene Zeiten aus (Ricœur 1989: 107). Sie beziehen sich nach Ricoeur stets auf Vergangenheit, niemals auf Gegenwart oder Zukunft, was er deswegen annimmt, weil er davon ausgeht, dass in dem Moment, in dem ich etwas erzähle, dieses Etwas schon geschehen ist. Erzählungen können sich nach Ricœur auf drei Vergangenheitsformen beziehen, auf den torist (das bestimmte Passé simple), auf das Imperfekt (Vergangenheit) und auf das Plusquamperfekt (Vorvergangenheit) (ebd.). Insofern als das Erzählen auf Erfahrungen rekurriert, ist der Vergangenheitsbezug gegeben. Eine Erzählung wird produziert, indem zurückliegende heterogene Ereignisse zu zeitlichen Einheiten zusammengefasst und damit zeitlich zuordenbar werden. Dies ist ein gestaltender Vorgang, denn im Erzählen wird ausgewählt, akzentuiert, relativiert, betont. Insofern kann man Norbert Meuter zustimmen, der dem Erzählen eine Selektionsleistung zuschreibt, die den Zweck hat, Komplexität zu reduzieren (Meuter 1995: 133). Meuter spricht von einer »Synthese des Heterogenen«, die ein komplexes Geflecht von intentionalen Leistungen und intentional unabhängigen Ereignissen darstellt (a.a.O.: 128). Das Organ des auf zurückliegende Ereignisse bezogenen Erzählens ist das Gedächtnis (Assmann 1991: 185). Mit dem narrativen Erinnern beginnt das Bewusstwerden, das den Fluss des Erlebens durchbricht, strukturiert, festhält (ebd.). Ich tauche aus der Sphäre des puren Erlebens auf, bediene mich der Sprache, um das, was ich erinnere, zu benennen. Durch den »attentionalen Strahl« (Schütz 1974: 97) des Erzählens werden vergangene Erlebnisse, auf die dieser Strahl trifft, zu fixierter Vergangenheit. Das Flüssige des Erlebnisstromes erhält fixe Elemente (Assmann 1991: 185). Für Paul Ricœur sind, wie erwähnt, Gegenwart und Zukunft keine Bezugspunkte des Erzählens. Aus der Sicht von Alfred Schütz können sie es sehr wohl sein. Alfred Schütz geht nämlich davon aus, dass vergangene Erlebnisse einen unterschiedlichen Sinn erhalten können »je nach der Zeitstelle, die sie gegenüber dem aktuellen Jetzt einnehmen, in dem sich die Erinnerung an diese Erlebnisse vollzieht« (Schütz 1974: 99). Der jeweilige Sinn des Vergangenen erschließt sich also aus dem jeweiligen »Jetzt und So« (ebd.). Das bedeutet, dass zurückliegenden Ereignissen der Stempel der Gegenwart aufgedrückt wird, mehr noch: Da das »Jetzt und So« der Veränderung unterworfen ist, kann sich auch der Sinn von Vergangenheit verändern. Die Erstarrung des Vergangenen in der Erinnerung ist also nicht endgültig, dieses kann sich im jeweiligen »Jetzt und So der reflexiven Blickzuwendung« (ebd.) als veränderungs- oder gar als auflösungsbedürftig erweisen. Freilich ist die Sinnwandlung von Vergangenheit, wenn wir den habituellen Charakter der Erzählung betrachten, nicht beliebig, sondern den Limitationen der Habitusformen unterworfen, die
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als überdauernde Dispositionen zur Grundlage späterer Einschätzungen und Beurteilungen werden (Bourdieu 1987: 98ff.). In Anlehnung an Alfred Schütz kann auch Zukunft als Bezugspunkt des Erzählens gelten. Schütz vertritt die Auffassung, dass »jedes Jetzt-Erlebnis […] ein Vorher und ein Nachher (hat), weil jedem Punkt der Dauer eine Vergangenheit und eine Zukunft notwendig zugehört« (Schütz 1974: 100). Erlebnisse sind keine isolierten Einheiten, sondern in einen Erlebnisstrom eingebettet, der irgendwohin führt, das noch vor uns liegt. Die reflexive Zuwendung zu diesen Erlebnissen nimmt notwendig auch das Zukünftige auf, denn es ist in diesen Erlebnissen angelegt. Es gewinnt Gestalt in geäußerten Wünschen, Prognosen, Visionen. Erzählungen schließen an verschiedene Zeithorizonte an, was die Erzählenden durch Bindewörter wie und, und dann, weil sowie durch Verben wie anfangen, aufhören, hervorrufen, auslösen, deutlich machen (Meuter 1995: 133) oder durch den Konjunktiv (ich käme, ich würde kommen) zum Ausdruck bringen. Heterogene vergangene und mögliche zukünftige Ereignisse werden aus der Perspektive des »Jetzt und So« in eine zeitliche Ordnung gebracht und ergeben so für den Erzählenden eine »runde Geschichte«, anders gesagt, einen Sinnzusammenhang, in den sich der/die Erzählende hineinbauen kann und dadurch Handlungsmöglichkeiten erhält.
Die Zeit der Erzählung Die Zeit fungiert nicht nur als Bezugspunkt des Erzählens; das Erzählen selbst hat eine Zeitstruktur. Es durchläuft eine »bestimmte Zeitbahn« (Waldenfels 2001: 19). Jede Erzählung hat einen Anfang und ein Ende, wenn vielleicht auch nur ein imaginiertes, befürchtetes oder erhofftes. Die Zeitbahn zwischen dem Anfang und dem Ende spiegelt Fragen nach dem Woher einerseits und dem Wohin andererseits wider, die die Erzählung in einen Sinnzusammenhang zu bringen versucht. Das Woher und Wohin durchzieht all unsere Lebensbezüge und betrifft auch unser Leben als Ganzes. »Woher komme ich? Wohin gehe ich?« (Wilmes 2011: 8), lauten die auf das Lebensganze bezogenen Fragen, die der amerikanische Konzeptkünstler Matt Mullican in seinem Werk »Choosing My Parents« in Szene gesetzt hat. Er berichtet in einem Interview, dass er sich diese Fragen bereits mit acht Jahren gestellt und eine Geschichte dazu ausgedacht hat. Mullican: »Ich stellte mir vor, dass ich mit den anderen Prä-Babys – oder Engeln oder Geistern oder wie auch immer man sie nennen will – auf einem Fließband gelegen hätte, und dass es dort kleine Türen mit Namensschildern gab. Als ich an dem Namen Mullican vorbeikam, entschied ich, dass ich durch diese Klappe rutschen wollte, und daraus wurde dann mein Leben« (Mullican 2011: 43). Mullican übersetzte den Anfang seiner Geschichte in eine Zeichnung. Der Anfang einer Geschichte – sei er in Form von Worten, einer Zeichnung oder eines Films – ist häufig der Versuch, den Anfang eines Ereignis-
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ses jenseits der Geschichte zu verstehen und zu erklären. In den Interviews, die wir im Rahmen der Untersuchung »Kommunikative Öffentlichkeiten im Cyberspace« mit Netzakteur_innen und Blogger_innen geführt haben und die als eine Erzählung angesehen werden können, stießen wir wiederholt auf das Phänomen, dass Ursachen für bestimmte Lebensverläufe in den ersten Minuten eines Interviews genannt werden. Als Beispiel kann ein 23-jähriger Blogger dienen, der seinen Blog ausschließlich dem Thema Mode gewidmet hat. Er berichtet in seinem Blog über Modeschauen, Modetrends, porträtiert Designer. Mode ist sein Lebensinhalt geworden, so sehr, dass er auch sein eigenes Leben als Gesamtkunstwerk gestaltet. »Das Leben als ästhetische Inszenierung«, lautet der Schlüsselcode, den wir als Ergebnis der Interpretation des Interviews als Lebensprinzip des Bloggers identifiziert haben. Der Grundstein für dieses Lebensprinzip wird, so unsere Deutung, durch Erfahrungen in der Kindheit des Bloggers gelegt, die dieser bereits zu Beginn des Interviews erwähnt. Es sind zwei Erfahrungen, die prägenden Einfluss auf ihn gewannen: die Begegnung mit einem Medium und die Begegnung mit einer Person. Er sagt: »Mit neun habe ich meine erste Vogue in der Hand gehalten und da hab’ ich irgendwie so das Gefühl gehabt ›Ja, das ist das, was ich irgendwann machen möchte‹«. Kurz darauf schildert er die zweite Begegnung mit einer für seine Lebensperspektive wichtigen Person: »Mich hat meine Oma sehr geprägt, weil sie für mich immer ein bisschen wie eine Grande Dame gewirkt hat und auch vom Auftragen von Make up bis hin zum Auftragen von Parfum und das Anziehen ihrer Kleider […]«. Der 23-Jährige nutzt das Interview für eine Erzählung, in der er sein Lebensmodell auf einer Zeitschiene ansiedelt. Die Erzählung beginnt mit dem, was er als Anfang seines Lebensmodells vermutet. Die Geschichte bzw. das Interview endet damit, dass er sich als Experte in Modefragen charakterisiert, der zu objektiven Urteilen fähig ist, was sich daraus erschließt, dass er sich abgrenzt von Bloggern, die »nur ihre Meinung bloggen«. Der in der Kindheit eingeschlagene Weg wurde von ihm weiter verfolgt, der Anfang der Geschichte fand eine Fortsetzung und findet in der Fantasie – so deutet sich im Interview an – eine Vollendung in der Zukunft, z.B. im Erreichen der Position eines Modejournalisten. Auch die Geschichte des Künstlers Matt Mullican hat ein Ende, das zum Zeitpunkt des Erzählens eine Zukunft ist. Er erzählt, dass sein Leben in der Hand eines Schicksals liege, das einen Fernseher laufen hat, der über einen Hebel verfüge, der sich umlegen lässt. Auf diesem Hebel sei nicht nur sein Geburtsdatum, sondern auch sein Todesdatum, nämlich das Jahr 2014, vermerkt. Das Ende allerdings sei nicht fix; je näher es rücke, desto mehr variiere er es in Richtung eines späteren Zeitpunkts (Mullican 2011: 43). Das Ende einer Erzählung gibt nicht nur der Erzählung, sondern auch dem Leben eine Zielrichtung; der Anfang bekommt – vom Ende her betrachtet – seinen Sinn.
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Zwischen dem Anfang und dem möglichen Ende spannt sich eine Ereignisfolge oder eine Argumentationskette auf, die sich um eine Mitte gruppiert. Eine Mitte ist nach Nobert Meuter ein »besonders sinnverdichteter Bereich von Handlungen und Ereignissen, um den herum sich losere Zusammenhänge anlagern lassen« (Meuter 1995: 135). Im Falle des 23-jährigen Bloggers, der einen Modeblog führt, könnte als Mitte der Erzählung angesehen werden, was wir mit dem Schlüsselcode »das Leben als ästhetische Inszenierung« bezeichnet haben. Im Falle des Künstlers Matt Mullican könnte als Mitte der Erzählung die Zergliederung der Welt in Teile und die anschließende künstlerisch basierte Neuordnung der Teile angesehen werden. Die Erzählung manifestiert sich hier im Gegenständlichen. Obschon die beiden Erzählungen, die des Künstlers und die des Bloggers, einen völlig unterschiedlichen Charakter haben – hier der Blog, dort künstlerische Arbeiten verschiedener Materialität – ist ihnen gemeinsam, dass sich auf ihre jeweilige Mitte viele eigene künstlerische Arbeiten, Blogeinträge, Interviewaussagen beziehen lassen. Mit einem Anfang, einer Mitte, einem Ende bekommt die Erzählung eine Ordnung. Das Erzählte wird sowohl für den Erzählenden als auch für Andere verstehbar. Scheitert die zeitliche Ordnung in der Erzählung, so wirkt das irritierend (Kraus 2000: 7). Der/die Erzähler_in erscheint als jemand, der sich keinen Reim auf sein Leben machen kann oder nicht weiß, was er/sie will (Kraus 2000: 9 und 2007: 39). Wenn das Erzählen eine Methode ist, Ordnung in das eigene Leben und in die Welt zu bringen, dann ist diese Methode in der Gegenwartsgesellschaft, in der einerseits Traditionen erodieren und andererseits Komplexität und Unübersichtlichkeit wachsen, besonders herausgefordert. Dann muss man annehmen, dass das Bedürfnis zu erzählen besonders stark ausgeprägt ist, weil seine Realisierung verspricht, jene Sicherheit zu gewinnen, die ein geordnetes Leben gewährt und die als Pendant für die unvermeidbaren und auch wichtigen Verunsicherungen unverzichtbar ist.
Zeit als Produkt des Erzählens Die Zeit ist nicht nur ein Bezugspunkt des Erzählens, sie ist auch ein Produkt des Erzählens. Vergangenheit im Form von Erfahrungen gewinnt erst durch das Erzählen und Wiedererzählen Gestalt (Waldenfels 2001: 20). Vergangene Ereignisse werden durch das Erzählen nicht nur sichtbar, sondern auch einem Gestaltungsprozess unterworfen, denn die Erzählung akzentuiert, relativiert, lässt weg und fügt hinzu. Wolfgang Kraus bezeichnet das Erzählen als einen »grundlegenden Modus der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit« (Kraus 2000: 4). Das gilt für die vergangene Wirklichkeit ebenso wie für die zukünftige Wirklichkeit. In Anlehnung an Michael Neumann kann die Erzählung auch als eine Bühne der Fantasie charakterisiert werden, auf der Handlungsmöglichkeiten imaginiert werden (Neumann 2000: 286). Und nicht nur das: Die narrative Bühne erlaubt auch ein mentales Probehandeln (ebd.). »Was
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wäre wenn?«, mit dieser Frage werden in Online-Netzwerken allseits beliebte Kommunikationsspiele angestoßen. Fragen wie »Was wäre, wenn du für einen Tag regieren könntest, wenn es einen Sportzwang gäbe, wenn du nur noch andersgeschlechtliche Klamotten in deinem Schrank finden würdest, wenn du ab morgen für ein Jahr nicht mehr Auto fahren darfst?« (StudiVZ »Was wäre wenn?«, 19.4. bis 7.5.2010), diese Fragen führen die Netzakteur_innen in verschiedene potenzielle Zukünfte hinein und animieren sie dazu, sich selbst in Bezug auf eine solche Zukunft zu entwerfen. Jeder Erzählung ist nach Wolfgang Kraus der Begriff des Zukünftigen inhärent, denn sie läuft auf etwas hin, so möchte ich in Abwandlung sagen, das es noch nicht gibt (Kraus 2000: 5). Das narrative Probehandeln kann sich zur gelebten Wirklichkeit jenseits der Erzählung verdichten; es verweist aber nur auf eine mögliche Zukunft, nicht auf eine zwangsläufige. Die Erwartungen an Zukunft, die in der Erzählung formuliert werden, schöpfen nicht aus dem Nichts, sondern aus der Vergangenheit. Vergangenheit, auf die sich bereits der narrative Strahl der Reflexion gerichtet hat, liefert Bewertungen, Prioritäten, Handlungsmuster, Begründungen, die als Schablonen und Baupläne fungieren (Meuter 1995: 143). Es handelt sich um ein Wissen, das in der narrativen Auseinandersetzung mit Vergangenheit wurzelt und auf Zukunft verweist. Es drückt sich in diesem Wissen ein Seinsverhältnis aus, wie Karl Mannheim schreibt, und das, wofür es ist und gesucht wird, kann »nicht wieder ein Wissen sein, sondern nur auf alle Fälle ein Werden – ein Anderswerden« (Mannheim 1960: 204). Dem Wissenssoziologen Karl Mannheim zufolge dient das Wissen immer einem Werden, nämlich • dem Werden der Person, • dem Werden der Welt, • dem praktischen Beherrschen und der Umbildung der Welt für unsere menschlichen Ziele (Mannheim 1964: 205). Karl Mannheim kritisiert, dass die moderne Gesellschaft fast nur noch eine Art von Wissen schätzt und pflegt, nämlich ein Herrschafts- und Arbeitswissen, das auf die praktische Veränderung der Welt ausgerichtet ist, wie Mannheim es formuliert (a.a.O.: 207). Fragen, die sich nicht durch Beobachten, Messen und mathematische Schlussfolgerung entscheiden lassen, seien aus dieser Wissenskultur ausgeklammert (a.a.O.: 208). Eine ähnliche Kritik kommt in jüngerer Zeit auch von dem Philosophen Paul Liessmann, der von einer Industrialisierung des Wissens spricht, die allein dem Prinzip der Anwendungsorientierung und Verwertung verpflichtet sei (Liessmann 2006: 38ff.). Von dieser Art des Wissens grenzen sich Wissensformen ab, die von der Frage handeln, »was es sei, das dieses und jenes Ding ins Dasein rief« (Mannheim 1964: 208) oder die, wie Liessmann schreibt, eine Form der Durchdringung
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der Welt darstellen und auf das Erkennen, Verstehen, Begreifen gerichtet sind (Liessmann 2006: 29). Erzählungen bringen, je nachdem welches Wissen sie transportieren, verschiedene Vergangenheiten und Zukünfte hervor. Dominiert in ihnen das anwendungs- und verwertungsorientierte Wissen, so dominiert in ihnen auch das Feste, denn dieses Wissen ist auf Verfestigungen, wie sie die analytische Logik, wie sie Definitionen, Eindeutigkeiten, Formeln, Messgrößen repräsentieren, angewiesen (Assman 1991: 183ff.). Das Flüssige tritt uns dagegen in Erzählungen entgegen, die sich durch Warum-Fragen, durch Versuche zu verstehen, durch Annahmen, Reflexionen, Empathie, Gedankenfragmente auszeichnen. Das Feste findet sich eher im schriftlichen Erzähltext, das Flüssige eher in der mündlichen Erzählung und verstärkt auch in Bedeutungsträgern, die nicht Wortsprache sind z.B. in einer Bildergalerie. Während sich die Wortsprache aus voneinander abgegrenzten Bedeutungseinheiten zusammensetzt, die einer analytischen Logik sowie dem Bedürfnis nach Abstraktion und Berechnung zuarbeiten, enthält das Bild als präsentatives Symbol eine Vielfalt an Deutungsangeboten, dem eine gewisse Vagheit anhaftet. Diese Vagheit sperrt sich gegen eine Verfestigung von Eindrücken und Mitteilungen. Martha Nussbaum favorisiert im Bereich von Moral und Ethik die vage Aussage. Sie spricht von einer »starken vagen Konzeption des Guten« (Nussbaum 1999: 46), die an Aristoteles anknüpft. Sie begründet den Vorteil des Vagen damit, dass es viele verschiedene Spezifikationen im Konkreten zulasse und dadurch der Vielfalt menschlichen Lebens näherkomme (ebd.). Ohne eine »starke vage Theorie« erhalte man oftmals genaue, aber falsche Antworten (ebd.). Martha Nussbaum bezieht sich zwar nicht ausdrücklich auf die Erzählung, aber eine Theorie ist auch eine Form von Erzählung, die das Vage ebenso sehr braucht, wie die Nussbaum’sche Theorie, ist die Erzählung doch Bestandteil der Alltagskultur. Alltagserzählungen müssen Sinnsysteme anbieten, die genügend Spielraum lassen, um Menschen verschiedenen Alters und verschiedener Herkunft Orientierung zu geben. Dafür sind am besten vage Erzählungen geeignet, denn das Vage lässt das Variieren, die Verflüssigung, den offenen Horizont zu. Aleida Assman, die das Verhältnis zwischen fest und flüssig als eine Denkfigur diskutiert, vertritt die These, dass die kulturelle Tätigkeit dreierlei verlangt: die Verfestigung, die Verflüssigung und das Oszillieren zwischen den beiden Polen (Assmann 1991: 182). Übertragen auf die hier geführte Diskussion bedeutet das, wir brauchen die Erzählung als unbefragten festen Boden unseres Seins, auf dem wir uns einrichten und agieren, als ob alles fix sei und immer so bliebe. Dadurch gewinnen wir Vertrauen in die Welt, in der wir leben. Aber es gibt Situationen, in denen wir auf das Gegenteil angewiesen sind: auf das Unfertige und Flüssige. Eine solche Situation entsteht,
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• wenn sich gegen den Hintergrund an Selbstverständlichkeiten ein Problem abhebt, • wenn sich die aktuelle Erfahrung nicht mehr in die uns vertrauten Erzählungen integrieren lässt, oder • wenn die aktuelle Erfahrung der Typik widerspricht (Schütz/Luckmann 1975: 29). Solche Situationen erschüttern das Vertrauen, denn sie entziehen uns unsere Handlungsgrundlagen (Zoll 1993: 3). Wir werden sie um so eher meistern, wenn unsere Erzählungen Interpretations- und Handlungsspielräume enthalten, wenn sich in ihnen Ideen finden, die weitergesponnen werden können, kurz, wenn sie unfertig sind. Solche Situationen sind strukturell in den biografischen Lebensbrüchen angelegt, z.B. in der Zäsur zwischen Kindheit und Erwachsensein, im Übergang zwischen Erwerbsleben und Rentnerdasein. Sie treten aber auch und heutzutage verstärkt auf der gesellschaftlichen Makroebene auf, verursacht durch die zunehmende reale und virtuelle Mobilität, die uns der Kontakt mit anderen Symbolsystemen beschert, die die eigenen relativieren sowie durch die Infragestellung uns vertrauter Werte- und Normmuster als Folge politischer und ökonomischer Krisen. Fast tagtäglich sind wir mit Ereignissen konfrontiert, die wir nicht mehr ohne weiteres in die uns vertrauten Deutungssysteme integrieren können. Es steigen die Anforderungen an das Subjekt zum Umdenken, zum Relativieren, zur Suche nach Erklärungen. Die alten Geschichten sind brüchig geworden. Welche Geschichten erzählen die Menschen heutzutage? Mit welchen Geschichten hoffen sie, wieder Boden unter den Füßen zu gewinnen?
1.1.2 Raum Ebenso wie die Zeit bildet der Raum einen Kontext des Erzählens. Und auch in diesem Fall ist der Begriff Kontext erstens als Umfeld der Erzählung und zweitens als narrative Zusammenhangsstruktur zu verstehen. Die zweite Bedeutungsdimension impliziert die Konstitution von Raum in der Erzählung, wodurch Raum als Produkt des Erzählens erscheint. Während in der Verbindung von Erzählung und Zeit die narrative Bewegung, der Verlauf einer Erzählung, das Prozessuale, das Vorher und Nachher in den Vordergrund rücken, gewinnen in der Verbindung von Erzählung und Raum die Lagebezeichnung von Erzählelementen und deren Verhältnis zueinander sowie Fragen von Nähe und Distanz, von Ausdehnung, Zugehörigkeit, Öffnung und Begrenzung an Bedeutung. Raum und Erzählung werden seit jeher, lange vor Einführung digitaler Medien in dem Begriff Erzählraum, in Verbindung miteinander gebracht. Birgit
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Althans, die sich mit der Geschichte des Klatsches beschäftigt hat, zeigt enge Verbindungen zwischen dem Klatsch als einer alltäglichen Erzählform und Raum als Gehäuse und Produkt des Erzählens auf. Sie entwickelt ihre These am Beispiel der Geschichte des Waschens, das traditionell als gemeinschaftliche Tätigkeit ausgeübt wurde und stets von Geschichten begleitet war, die die Wäscherinnen untereinander austauschten. Das Waschen fand teilweise im Innern des Hauses, teils außerhalb statt. Die Geschichten variierten je nach dem Ort, an dem sie erzählt wurden. Die Phase des Auslaugens der Wäsche, einem endlosen Begießen der Wäsche im Innern des Hauses, war verbunden mit dem Erzählen von alten Geschichten, Legenden und Schauermärchen (Althans 2000: 57). Das Ausschlagen und Ausspülen der Wäsche außerhalb des Hauses war, wie Althans feststellt, eine laute und fröhliche Angelegenheit, bei der die Leibwäsche und ihre Schmutzflecken, die von der Sexualität ihrer Träger kündeten, zum Gegenstand professioneller Deutung wurden (a.a.O.: 49). Im Reden und Klatschen wurde das eigene Erfahrungswissen über die Behebung der Flecken mit Spekulationen über die Ursprünge der Flecken ineinander verwoben (ebd.). In der Kombination manueller Tätigkeit und Erzählung konstituierten die Wäscherinnen einen Arbeitsraum, der im Bereich der Reproduktionsarbeit angesiedelt war. Was den Frauen die Waschplätze waren, waren den Männern des 17./18. Jahrhunderts die Kaffeehäuser. Allerdings war der Kaffeehausklatsch nicht nur arbeitsbegleitende Aktivität wie bei den Wäscherinnen, sondern der primäre Anlass des Zusammentreffens (a.a.O.: 80). Der Tauschhandel aktueller Informationen über Finanzen, Wirtschaft, Politik diente zur Sicherung des Lebensunterhalts (ebd.). Im Unterschied zum Waschplatz, wo das Sprechen in Verbindung mit dem praktischen Tun den Arbeitsraum konstituierte, fungierte im Kaffeehaus allein das Sprechen als raumkonstituierendes Medium. Der Kaffeehausklatsch erinnert an die außerhäusliche Erwerbstätigkeit. Er nahm seinen Anfang in einer Zeit, als sich die außerhäusliche Erwerbsarbeit aus ihrer Verbindung mit der reproduktiven Arbeit herauszulösen begann und als männlich konnotierter Arbeitsraum definiert wurde. Das Kaffeehaus war einerseits Gehäuse und andererseits Produkt des Redens und Plauderns. Es wirkte als Gehäuse, indem es durch seine Öffnungszeiten, die Anordnung von Tischen und Sitzgelegenheiten, die Art der Verköstigung und die Nähe zu anderen Gästen die Erzählungen im Raum kanalisierte. Allerdings war das Kaffeehaus offen für narrative Praktiken aller Art; wenn es zu einem Arbeitsort wurde, so ist das das Resultat spezifischer arbeitsbezogener narrativer Praktiken. Es ist sogar wahrscheinlich, dass das Kaffeehaus nur in bestimmten Ecken zum Arbeitsraum wurde, während andere Ecken dem genussvollen Plaudern, fern jeglicher Arbeitsorientierung vorbehalten blieb. Es konnten also innerhalb des großen Raums Kaffeehaus unterschiedliche Erzählräume entstehen.
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Beispiele für die Verbindung von Raum und Erzählung finden sich aber nicht nur in der Geschichte, sondern auch in modernen Lebenswelten, wie Stephanie Porschen und Fritz Böhle in ihrer Studie über das Storytelling in technisch-industrialisierten Arbeitsvollzügen verdeutlichen. Das Storytelling beginnt oft schon beim gemeinsamen Frühstück, wenn die Techniker ihre Erfahrungen mit den Maschinen austauschen (Porschen/Böhle 2005: 56), es kann sich am Ort des Arbeitsgeschehens, also direkt an der Maschine, aber auch in den Arbeitspausen fortsetzen. Inhalte des Storytellings sind z.B. Störungen im Produktionsablauf, defekte Maschinen, Schwierigkeiten im Umgang mit dem Computer. Die Erzählungen dienen der Fehlerbehebung, dem Finden von Lösungen, der Weitergabe von Erfahrungen. Porschen/Böhle empfehlen den Unternehmen, Freiräume für das Erzählen und Zuhören zu erhalten bzw. zu schaffen und es nicht als Tratsch abzuwerten (a.a.O.: 63), da es für einen funktionierenden Produktionsablauf unverzichtbar sei. Während der arbeitsbezogene Kaffeehausklatsch einen Freizeitraum teilweise oder ganz in einen Arbeitsraum verwandelt, erweitert das Storytelling der Techniker die offiziellen Arbeitsräume in die Sozialräume hinein. Der mit Maschinen ausgestattete gegenständliche Arbeitsraum wird durch einen immateriellen Erzählraum ergänzt, der sich in den Pausen konstituiert und aus der Sicht von Porschen/Böhle eine notwendige Ergänzung des materiellen Arbeitsraums darstellt (ebd.). Wie sehr das Erzählen mit der Generierung von Räumen verknüpft ist, zeigt auch das folgende Beispiel aus einem religiösen Bereich: der Beichtstuhl (Hutton 1973: 156ff.). Der Beichtstuhl materialisiert die Erzählung von Schuld, Reue und Sühne und nimmt so geprägt Einfluss auf das, was im Beichtstuhl geredet wird. Er verpflichtet die einen zur reuigen Selbstanalyse und die anderen zum Vergeben unter bestimmten Auflagen. Die im Beichtstuhl materialisierte Erzählung schreibt sich nicht nur in das Was und Wie der Selbsterforschung durch die Beichtenden ein, sondern auch in deren Körper, die durch die Architektur des Beichtstuhls in eine demutsvolle Haltung durch Knien gezwungen werden. Der Beichtstuhl wird so gesehen zu einem machtvollen Gehäuse. Gleichzeitig machen Form und Inhalt der Erzählungen, die der Beichtstuhl fordert, diesen erst zu einem Beichtstuhl. Der Beichtstuhl wäre kein Beichtstuhl, wenn sich darin nicht Sünder_innen und Priester zusammenfänden und ihre Rollen übernehmen, wenn er irgendwo im Gelände stünde und keiner ihn benutzt. Er ist auf spezifische Erzählpraktiken angewiesen, die ihn als Beichtstuhl bestätigen. Der Beichtstuhl ist ein durch Erzählungen hergestellter Raum, der neue Erzählungen initiiert und prägt, durch die er immer wieder aufs Neue produziert wird. Die Beispiele von Erzählräumen aus verschiedenen historischen Epochen und aus verschiedenen Lebensbereichen dienen dazu, sich dem Thema »Räu-
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me als Produkt und Gehäuse von Erzählungen« auf einer konkreten Ebene anzunähern, die im Folgenden theoretisch verankert wird.
Räume als Produkte des Erzählens Rudolf Maresch und Niels Werber beschäftigen sich mit der Frage, was überhaupt als Raum zu bezeichnen sei. Durch welche Qualitäten zeichnen sich Räume aus? (Maresch/Werber 2002: 13). Haben Räume notwendig ein materielles Substrat oder konstituieren sie sich durch kulturelle Codes? (ebd.) Existieren sie einfach oder werden sie hervorgebracht? (ebd.) Maresch/Werber beantworten ihre Fragen mit dem Hinweis auf die Existenz harter (materieller) und weicher (immaterieller) Räume, Raumvorstellungen und Raumentwürfe, die nebeneinander bestehen, sich oft ergänzen oder auch verdrängen; darüber hinaus verweisen sie auf hybride Räume, die »physikalisch-kulturelle Mischungen« (ebd.) darstellen. Unter den in der Einleitung zu diesem Abschnitt skizzierten Räumen findet sich jeder dieser Raumtypen. Das Storytelling der Techniker beim gemeinsamen Frühstück konstituiert einen immateriellen Arbeitsraum; das Kaffeehaus und der Beichtstuhl repräsentieren materielle Räume, die aber aus dem Immateriellen in Form von Erzählungen hervorgegangen sind und dadurch einen hybriden Charakter gewinnen. Auch die erwähnten Waschplätze repräsentieren hybride Raumbegriffe; materielle räumliche Gegebenheiten in Form von Behältern, Werkzeugen, einer möglichen Überdachung vermischen sich mit den manuellen Praktiken und Sprechakten der Wäscherinnen zu einem komplexen Raumgebilde, in dem materielle und immaterielle Elemente ineinander wirken und voneinander abhängig sind. Erzählungen stehen in Verbindung mit allen von Maresch/Werber definierten Raumtypen. Immaterielle Erzählräume können sich materialisieren und als solche neue Erzählungen anstoßen, die sich ihrerseits erneut materialisieren können und so fort. So selbstverständlich ich bislang von immateriellen Räumen gesprochen habe, so ist dennoch eine genauere Begründung dafür erforderlich, kollidiert diese Vorstellung von Raum doch mit herkömmlichen Raumvorstellungen, wonach Räume ausschließlich sinnlich wahrnehmbare und anfassbare Gegebenheiten darstellen. Ich rekurriere in meiner Begründung auf Georg Simmel, der eine Alternative zum herkömmlichen, im Alltag gebräuchlichen Raumbegriff entwickelt hat. Für Simmel entsteht ein Reich nicht durch eine bestimmte Anzahl von Quadratmeilen, sondern durch die psychologischen Kräfte, »die die Bewohner eines solchen Gebietes von einem herrschenden Mittelpunkt her politisch zusammenhalten« (Simmel 1922: 460). Die Entstehung von Räumen verdanke sich, so Simmel, der Tätigkeit der Seele, die jedoch nicht isoliert von anderen agiert (a.a.O.: 461). Letzteres geht u.a. daraus hervor, dass Simmel auf die Wechselwirkungen unter den Menschen verweist, die als Raumerfüllung empfunden werden (ebd.).
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Simmel sagt nicht, dass Räume keine materielle Qualität hätten, aber er sagt, dass das Soziokulturelle der Materialisierung vorausgeht und das Entscheidende ist, was sich auch aus seinen Bemerkungen über Nachbarschaft ergibt. Er schreibt: »Nicht die Form räumlicher Nähe und Distanz schafft die besonderen Erscheinungen der Nachbarschaft oder Fremdheit […]. Vielmehr sind auch dies rein durch seelische Inhalte erzeugte Tatsachen […]« (Simmel 1983: 222). Nicht erkennbar ist, ob Simmel davon ausgeht, dass sich die Spirale der Erzeugung von Raum in der Weise fortsetzt, dass die aus den seelischen Aktivitäten entstandenen räumlichen Gegebenheiten ihrerseits neue seelische Aktivitäten initiieren und prägen. Ein weiterer Aspekt des Simmel’schen Raumbegriffs soll im Hinblick auf das hier diskutierte Thema »Erzählen in Zeiten des Internets« Erwähnung finden. Nach Simmel gibt es nur einen »einzigen allgemeinen Raum, von dem alle einzelnen Räume Stücke sind und jeder Raum hat eine Art Einzigartigkeit« (Simmel 1922: 462). Für Simmel ist dieser allgemeine Raum möglicherweise das Universum, innerhalb dessen sich Einzelräume als Stücke bilden. Dieses Muster lässt sich auf die verschiedenen Hierarchieebenen des Seins übertragen. Es zeigte sich bereits am Beispiel des Kaffeehauses, das sich je nach dem Fokus der Erzählungen seiner Gäste in Arbeits- und Genussräume zergliedert. Auch das Internet kann als ein allgemeiner Raum betrachtet werden, der sich in viele Einzelräume in Form von Chats, Blogs, Wikis, Diskussionsforen aufgliedert. Man muss annehmen, dass Simmel den einzelnen Räumen eine Homogenität zuschreibt, denn er sieht deren Entstehung »der menschliche(n) Art (unterworfen), an sich unverbundene Sinnesaffektionen zu einheitlichen Anschauungen zu verbinden« (a.a.O.: 461). Angesichts einer pluralen Gesellschaft, die Simmel in den 20er Jahren noch nicht im Auge haben konnte, ist die Homogenitätsannahme fraglich geworden, zum einen, weil sie das Nebenund Miteinander von Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen nicht erfasst und zum anderen, weil sich damit Schließungsmechanismen gegenüber dem Abweichenden rechtfertigen lassen. Allerdings braucht ein soziales Gebilde, das als Raum wahrgenommen wird, eine gewisse Kohärenz, um überhaupt als Raum erscheinen zu können. Georg Simmel spricht nicht von Erzählungen, sondern von seelischer Tätigkeit, aber unter diesen Begriff können die Erzählungen subsumiert werden. Sie schaffen jenen geteilten Sinnzusammenhang, durch den sich ein Raum von seiner Umgebung abhebt, aber nicht abtrennt. Durch unsere narrativen Praktiken konstruieren wir – in den erwähnten Beispielen zu den Themen Wäschewaschen, Politik, Technik, Schuld und Sühne – einen »gemeinsamen Verweisungszusammenhang« (Taylor 1986: 40), der sich gegenüber seiner Umgebung abhebt, aber auch Übergänge aufweist. Dafür sorgen die narrativen Praktiken, welche Werte, Orientierungen, Prinzipien zwischen verschiedenen Räumen transportieren.
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Die Frage ist, wie autonom diese Praktiken sind, wie autonom wir bei der Konstruktion von Erzählräumen sind. Die Praktiken wurzeln in individuellen Biografien, aber man kann sie nicht unabhängig von der Gesellschaft sehen, in der sie entstanden sind. Der erotisch gefärbte Klatsch der Wäscherinnen kann nicht unabhängig von einer Gesellschaft gesehen werden, in der der Sexualität etwas Schlüpfriges anhaftet, der Informationsaustausch im Kaffeehaus gewinnt seine Bedeutung vor dem Hintergrund der ökonomischen und politischen Natur des Informationsvorsprungs in der sich formierenden kapitalistischen Gestellschaft, die Beichte ihren Wert im Zusammenhang mit dem Erlösungsversprechen des Katholizismus. Shingo Shimada schildert am Beispiel der lebensgeschichtlichen Erzählung eines Japaners, wie die kulturellen Elemente der japanischen Gesellschaft von diesem »zu einer kohärenten individuellen Lebensgeschichte verarbeitet werden« (Shimada 2006: 78). Der männliche, im Beruf erfolgreiche Protagonist stellt seinen Lebenslauf als einen Weg dar, der in ein interpersonelles und institutionelles Netz eingebunden ist; seine Entscheidungen fallen innerhalb dieses Geflechts in Abhängigkeit von Menschen, ohne dass dies vom Erzähler als Unselbständigkeit verstanden wird (a.a.O.: 90). Indem er Souveränität als eine Fähigkeit definiert, mit den Meinungen Anderer »selbständig und umsichtig umzugehen und seinen Lebensweg in Übereinstimmung mit der sozialen Umgebung bestimmen zu können« (a.a.O.: 85), gewinnt seine Geschichte autonome und heteronome Züge zugleich. Eine Tätigkeit wie das Erzählen ist, so kann man mit Alexej Leontjew sagen, »ein System mit eigener Struktur, mit eigenen inneren Übergängen und Umwandlungen sowie mit eigener Entwicklung« (Leontjew 1979: 83), »das in das System der gesellschaftlichen Beziehungen eingeschlossen ist« (a.a.O.: 84), dies auf zweifache Weise. Zum einen entwickeln sich narrative Praktiken in Auseinandersetzung mit kulturellen Vorgaben und zum anderen sind sie meist in soziale Situationen eingebettet und damit in einen Prozess des Aushandelns von Sinn involviert. Der Ansatz von Leontjew ähnelt dem bereits zitierten Habitus-Konzept von Pierre Bourdieu, wonach sich soziokulturelle Praktiken in relativer Abhängigkeit/Unabhängigkeit von einer gesellschaftlichen Erzeugungs- und Ordnungsgrundlage entwickeln. Bourdieu scheint allerdings den soziokulturellen Praktiken mehr Spielraum zuzugestehen als dies Leontjew tut. Die Leontjew’sche Formulierung, dass Tätigkeiten in das gesellschaftliche Beziehungssystem »eingeschlossen« (ebd.) sind, impliziert eine starke gesellschaftliche Limitierung von Erzählpraktiken. Ungeachtet des Ausmaßes gesellschaftlich-kultureller Prägung generiert das Erzählen symbolisch aufgeladene Räume, die zum Gehäuse weiterer Erzählungen werden.
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Räume als Gehäuse des Erzählens Sobald Räume durch Erzählungen geschaffen sind, verkehrt sich das Verhältnis zwischen Erzählung und Raum. Der Raum wird zum Gehäuse, anders gesagt, zur Bedingung des Erzählens, die Form und Inhalt von Erzählpraktiken beeinflusst. Die generierende Macht des Raumes wächst diesem als Träger einer spezifischen Symbolik zu, der sich die Akteur_innen bei der Entwicklung ihrer Erzählpraktiken bedienen oder bedienen müssen (Dickhardt/ Hauser-Schäublin 2003: 33). Der Symbolträger Beichtstuhl lässt wenig Spielraum für die verbalen und körperlichen Erzählpraktiken derer, die sich in den Beichtstuhl hineinbegeben. Er schreibt sich in die körperliche Haltung und in Verbindung mit dem offiziellen Sündenkatalog, den zehn Geboten, in das Wie und Was der Beichte ein. Auch Michel Foucault hat sich mit dem restriktiven kulturellen Code von Räumen am Beispiel totaler Institutionen wie Gefängnissen, Schulen, Kasernen, Kliniken, Klöstern beschäftigt. Die Geschichte, die diese Institutionen erzählen, ist die des »zwingenden Blicks« (Foucault 1976: 221), der das Verhalten der Bewohner_innen, Insassen, Klient_innen dieser Institutionen in eine der Diszipliniermacht genehme Normalität zwingt. Im Zusammenspiel von architektonischen Elementen wie überschaubare Korridore, auf die man zwangsläufig trifft, wenn man die Mönchs- oder Gefängniszelle oder das Krankenzimmer verlässt, von allen Seiten einsehbaren Gefängnis- und Schulhöfen einerseits und Kontrollvorschriften, Überwachungsritualen, Sanktionen andererseits, entfaltet der zwingende Blick nach Foucault seine Wirksamkeit (a.a.O.: 181ff.). Erzählungen jenseits der vorgeschriebenen Norm haben in totalen Institutionen geringe Chancen. Foucault legt seiner Analyse einen hybriden Raumbegriff zugrunde, indem er die Koordination materieller und immaterieller Symbolsysteme zu einem Überwachungsapparat herausarbeitet, der für ein deterministisch geprägtes Verhältnis zwischen Raum und den darin möglichen Erzählungen sorgt. Ein anderes Beispiel für die prägende Kraft des Raumes aus neuerer Zeit sind die Universitäten, die sich unter dem Vorzeichen moderner Bildungskonzepte als Qualitätssicherungsräume generieren. Diese konstituieren sich durch ein Evaluationsinstrumentarium, das etwas erzählt über die Vorstellungen von der Qualität der Bildung. Qualität wird aus der Perspektive dieses Instrumentariums als Messgröße betrachtet. Zum Einsatz kommen Messinstrumente, die Qualität hierarchisch ordnen, in ein Ja-Nein-Schema pressen und Bildungsprozesse ungeachtet der Inhalte und des Charakters von Bildungsveranstaltungen standardisierten Kriterien unterwerfen. Da sich Evaluationssysteme auch zur Kontrolle und Bewertung der Lehrenden verwenden lassen und damit wissenschaftliche Karrieren fördern oder behindern, ist anzunehmen, dass die Vorstellungen von Bildung, die sie verkörpern, zum Markenzeichen
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universitärer Lehrveranstaltungen werden. Das käme den Techniken der Normierung und Disziplinierung, wie sie Foucault beschreibt, sehr nahe. Auch wenn die durch Erzählungen sich konstituierenden Räume stets Einfluss nehmen auf die in ihnen entstehenden Erzählpraktiken, muss dieser Einfluss nicht notwendig restriktiv sein. Er kann auch in Richtung Ausweitung, Vielfalt, Experiment wirken, wie es in einem Interview mit dem Künstler Matt Mullican anklingt, der sagt: »Ich liebe Städte, die so ikonisch sind, dass sie fast ein grafisches Zeichen werden […]« (Mullican 2011: 87). In der Stadt, die Mullican selbst entwarf, bemerkt er: »Die Stadt ist eine Schachtel, in die ich alles stecken kann, was es gibt« (a.a.O.: 95). Dieses ›Alles‹ steht gegen Restriktion und Disziplinierung und dennoch bleibt die Schachtel ein Gehäuse, das sich Mullican allerdings als durchlöchertes vorstellt (a.a.O.: 83). Wenden wir uns nun dem virtuellen Erzählraum Internet zu. Wie färbt die Spezifik dieses Raums die Erzählungen seiner Nutzer_innen ein? Ein wesentliches Merkmal des virtuellen Raums ist, dass er seinen Nutzer_innen keine körperliche Präsenz erlaubt, jedenfalls nicht im Sinne einer leibhaftigen Begegnung. Was dies für die Erzählungen im Netz bedeutet, möchte ich exemplarisch mit den Interviewaussagen eines 12-jährigen Mädchens verdeutlichen, das regelmäßig ein digitales Kindernetz nutzt. Die 12-Jährige schreibt im Netz zusammen mit Anderen Rollenspiele; gleichzeitig ist sie in ihrer Schule Mitglied in einer Theatergruppe. In ihrem Vergleich des Online- und Offline-Rollenspiels ist die Körperlichkeit ein zentraler Faktor, der in der Schule zum Tragen kommt und im Netz fehlt. Sie erklärt: »Im Kindernetz sieht man nicht die anderen Personen, die eine Rolle spielen, also, man sieht eigentlich gar nichts über die […] und im Theater muss man mit Mimik und Gestik seine Rolle ausdrücken«. Das Theaterspielen ist viel schöner, meint sie, aber dann sagt sie auch, dass ihr das digitale Rollenspiel alle möglichen Experimente erlaube: »Meistens bin ich was Tussiges, auch wenn ich das nicht in echt bin, aber ich finde, das ist spannend zu spielen (ebd.). Kurz darauf berichtet sie noch, dass sie im Netz mit ihren Geschlechtsidentitäten experimentiert, manchmal spielt sie einen Jungen, manchmal ein Mädchen. Das Erzählgehäuse Internet wirkt sich aufgrund der nicht zugelassenen Körperlichkeit aus der Sicht der jungen Netzakteurin auf die Genese ihrer Geschichte restriktiv und gleichzeitig handlungserweiternd aus. Sie antwortet diesem Widerspruch mit Ambivalenz.
Raumverbindungen Wir bewegen uns heutzutage nicht nur in einem, sondern in vielen verschiedenen Erzählräumen. Unter den Bedingungen einer pluralen Gesellschaft vervielfachen sich die Erzählräume. Wolfgang Welsch spricht von einem »Leben im Plural« (Welsch 1991: 352), das sich im Durchlaufen unterschiedlicher sozialer und kultureller Settings abspielt. Der Durchlauf findet täglich und oft in rascher Aufeinanderfolge statt. Geht es am morgendlichen Frühstücks-
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tisch im Kreise der Familie noch um Familiengeschichten, so steht kurz darauf beim morgendlichen Meeting z.B. in einem Architekturbüro die Planung eines Wohnareals zur Debatte, um das sich verschiedene Geschichten ranken, warum, was, wie gebaut werden soll. Mittags trifft man sich mit einer/einem Freund_in und taucht in die aktuelle Scheidungsgeschichte der Freundin/des Freundes ein, nachmittags ist eine Fortbildung angesetzt, die eine Auseinandersetzung mit der Geschichte der Architektur erfordert. Nach Feierabend erzählen die Kinder ihre Schulgeschichten, der/die Ehepartner_in berichtet von seinem/ihrem Arbeitsalltag als Arzt/Ärztin, Anwalt/Anwältin, Softwareentwickler_in, und nach dem Abendessen suchen wir via Internet, mit dem wir unsere Urlaubsreise planen, das Weite und partizipieren an Geschichten über Abenteuer, fremden Traditionen und Kulturen. Das dürfte nur einen Teil der Erzählräume beschreiben, mit denen das moderne Subjekt täglich konfrontiert sein kann. Sie sind teilweise im geografischen Nahfeld angesiedelt, teilweise sind sie geografisch weit entfernt in anderen Ländern und Kontinenten. Sie gelangen mittels digitaler Medien in unseren Wahrnehmungs- und Erfahrungshorizont. Im Zuge globaler Wanderungsbewegungen reichen die Erzählungen aus anderen Kulturen aber auch ganz konkret in unsere räumliche Nähe. Dickhardt/Hauser-Schäublin verweisen auf multiethnische Städte wie London, wo sich infolge von Migration ein Ort als Ensemble unterschiedlichster Orte konstituiert, also Orte der ganzen Welt sich an einem Ort versammeln (Dickhardt/Hauser-Schäublin 2003: 15). Was hier als eine Entwicklung des 21. Jahrhunderts geschildert wird, erinnert an die Simmel’sche These, wonach sich innerhalb eines großen Raums viele kleine Räume als Stücke des großen Raums bilden (Simmel 1922: 462). In diesen »Raumstücken« spiegelt sich das unterschiedlich kulturell geprägte Ensemble individueller Lebensgeschichten wider. Es wird nicht bei einem Nebeneinander der verschiedenen Erzählräume bleiben. Räume sind laut Daniela Ahrens nicht unbeweglich und stets gleich (Ahrens 2003: 187). Ihre soziokulturelle Verfasstheit macht sie beweglich. Es sind die Erzählungen, die die Brücken zwischen den Räumen schlagen. In der Kommunikation zwischen den Menschen aus verschiedenen Erzählräumen kommen diese Erzählungen – egal, ob es sich um eine virtuelle Kommunikation oder um eine Face-to-face-Kommunikation handelt – miteinander in Berührung. Natürlich ist denkbar, dass die Erzählungen des/der Anderen ignoriert, verkannt, diffamiert, sogar bekämpft werden (Welsch 2001: 261). Andererseits sind im Interesse globaler politischer und ökologischer Aufgaben und globalen Wirtschaftens die verschiedenen Erzähl- und Kulturräume nicht als voneinander abgegrenzte wünschenswert, sondern als miteinander verbundene Bezugspunkte (Dickhardt/Hauser-Schäublin 2003: 15). Wolfgang Welsch prognostiziert, dass Lebensformen zunehmend nicht mehr an den Grenzen von Einzelkulturen enden, sondern diese überschreiten und sich wechselsei-
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tig durchdringen, eine Entwicklung, die er mit dem Begriff Transkulturalität charakterisiert (Welsch 2001: 275ff.). Transkulturalität stellt sich jedoch nicht automatisch ein. Sie setzt voraus, dass bisherige Erzählungen im großen Stil hinterfragt, umgestaltet, verworfen werden und neue Erzählungen entstehen. Die virtuellen Erzählräume, die in diesem Buch zur Debatte stehen und zu den neuesten Erzählräumen weltweit zählen, ermöglichen wie kaum ein anderer Erzählraum bislang grenzüberschreitende Erzählungen und forcieren die Möglichkeiten der Relativierung, der Um- und Neugestaltung von Erzählungen durch Verknüpfung von Deutungen und Symbolen aus verschiedenen Kulturkontexten zu neuartigen transkulturalen Sinnsystemen. Die Fragen, die im Verlauf dieser Arbeit noch zu stellen sein werden, lauten: • Welche Art von Räumen konstituieren die Netzerzählungen? • Wie wirken umgekehrt die habitualisierten Strukturen virtueller Räume auf die Erzählpraktiken und Erzählinhalte? • Wie wird mit dem Fremden in den Erzählungen Anderer umgegangen? • Inwieweit zeigen sich transkulturale Elemente in den digital gestützten Erzählungen?
1.2 F unk tionen des E rz ählens Eine 26-jährige jemenitische Bloggerin erklärt im Interview: »I’m passionate about writing«. Bereits mit 15 Jahren habe sie ein Tagebuch geführt. Die Bloggerin von heute vergleicht sich mit der Tagebuchschreiberin von damals: »There is no difference between the Online- and Offline-(Name der Bloggerin)«. Ihr Blog dient ihr dazu, über ihren Alltag und über politische Ereignisse zu schreiben. Ob sie mit 15 Jahren auch schon über Politik geschrieben hat, geht aus dem Interview nicht hervor. Gleich geblieben ist jedoch über die Jahre hinweg, dass sie über alles schreibt, was sie bewegt. Sie nutzt das Schreiben, um ihr Leben und ihre Beziehung zur Welt als Narration zu gestalten (Kraus 2009: 4). Das narrative Schreiben impliziert eine doppelte mentale Bewegung: sowohl eine Bewegung zu sich selbst als auch eine Bewegung zum Anderen hin. Die beiden Bewegungsrichtungen hängen miteinander zusammen, werden von mir aber, um sie beschreiben zu können, im Folgenden analytisch getrennt.
1.2.1 Erzählen als Technologie der Selbstkonstruktion Das narrative Schreiben charakterisiert Michel Foucault als eine »Technologie des Selbst« (Foucault 1993: 37), bei dem es dem/der Schreibenden darum geht, Wissen über sich selbst zu erwerben, um sich selbst besser zu verstehen. Foucault stellt diese Technologie in den Kontext der Sorge um sich selbst, die
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laut Foucault in der griechisch-römischen Philosophie des ersten und zweiten Jahrhunderts des frühen römischen Reiches ihren Ausgangspunkt genommen hat (Foucault 1993: 28). Technologien des Selbst zeichnen sich dadurch aus, dass man die Aufmerksamkeit auf sich selbst lenkt, auf sich selbst achtet, sich um sich selbst kümmert. Sie finden ihren Ausdruck in Aufzeichnungen über sich selbst sowie in Abhandlungen und Briefen, die man an Freunde schickt. Foucault zitiert als Beispiel für eine Technologie des Selbst einen Brief von Marc Aurel, dem späteren römischen Kaiser, an seinen Lehrer, Freund und Geliebten Marcus Cornelius Fronto aus dem Jahr 144 oder 145 n. Chr., der zwar nicht in der Wortwahl, aber dem Sinn nach an die Statusmeldungen in digitalen Netzwerken erinnert: »Heil dir, mein süßester Lehrer. Wir sind wohlauf. Ich habe heute lange geschlafen, wegen der leichten Erkältung, die jetzt abzuklingen scheint. Von etwa fünf bis neun Uhr heute morgen habe ich teils in Catos De agricultura gelesen, teils habe ich geschrieben […] Danach aßen wir. Was glaubst du, habe ich gegessen? Ein winziges Stück Brot, während ich zusah, wie andere Bohnen, Zwiebeln und Heringe voller Rogen verschlangen« (a.a.O.: 38).
Der etwa 24-jährige Marc Aurel schildert im Verlauf seines Briefes minutiös, was er gedacht, getan, gefühlt hat, wem er begegnet ist und was geredet wurde. Im Duktus nicht unähnlich klingen die Mitteilungen eines 14-jährigen Bloggers aus dem deutschsprachigen Raum im Jahre 2011. Er schrieb in seinem Blog: »Am Wochenende war ich im Urlaub. Nach vielen Stunden Autofahrt und vielen, vielen, vielen Bergen landeten wir letztendlich in Rheinland Pfalz in der Eifel. Als wir am Freitagabend ankamen, mussten wir erstmal das Haus, das wir gemietet haben, fit machen«. Fünf Tage später bloggt der 14-Jährige: »Kurzfristig habe ich mich dazu entschlossen von nun an auf tierische Produkte wie zum Beispiel Milch und Eier zu verzichten. […] Ich habe heute probiert, mich zum ersten Mal vegan zu ernähren […]«. Beide Mitteilungen enthalten zahlreiche Elemente der Sorge wie die Sorge um die Gesundheit, um das körperliche und geistige Wohlergehen. Die Autoren dieser Mitteilungen erzählen sich selbst und konstruieren sich dabei als Personen, die eingebunden sind in soziale Beziehungen (der Blogger schildert den Ausflug als ein Unternehmen mit Anderen, die Anrede in Marc Aurels Brief markiert ebenfalls eine Beziehung), die achtsam mit ihrer Gesundheit umgehen, die mobil sind, die intellektuelle Interessen verfolgen. Paul Ricœur hat den Zusammenhang von Erzählung und Selbstkonstruktion in der These zusammengefasst: »In der reflexiven Form des Sich-Erzählens entwirft sich die personale Identität als narrative Identität« (Ricoeur 2006: 132). Die eigene Persönlichkeit steht im Mittelpunkt des Sich-Erzählens; gleichwohl ist dieses keine einsame Tätigkeit, spielt sie doch mit der Existenz des
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Anderen, mit jenem Anderen, der lesen soll, was man von sich mitteilt. Marc Aurel erwartet sich das von seinem Freund, der Blogger von den sog. Followern, die seine Einträge kommentieren. Der Blogger nennt sie »Besucher« im Interview und es ist ihm wichtig, dass es »echte Besucher« sind und keine Maschinen, womit er implizit sein Interesse daran ausdrückt, verstanden zu werden. Der Andere kommt nicht zufällig ins Spiel; auf die Bedeutung des Anderen als erforderlicher Bestandteil für die Selbstkonstruktion wird später noch genauer eingegangen. In diesem Abschnitt steht das selbstbezügliche Erzählen im Vordergrund. Foucault verweist darauf, dass die Technologien des Selbst, die in der Tradition einer Kultur der Sorge stehen, nicht unumstritten blieben. Sie gerieten in Konflikt mit dem Prinzip »Erkenne dich selbst!«, das nach Foucault seinen Ursprung in der christlichen Moraltradition hat (Foucault 1993: 31). Aus der christlichen Moralperspektive erscheint die Sorge um sich selbst nach Foucault als etwas Unmoralisches, da sie Gelegenheit gebe, sich allen moralischen Regeln zu entziehen (ebd.). Foucault betrachtet die Menschen der Gegenwartsgesellschaft als »Erben der christlichen Moraltradition, die in der Selbstlosigkeit die Vorbedingung des Heils erblickt – sich selbst zu erkennen erschien paradoxerweise als der Weg, auf den man zur Selbstlosigkeit gelangte« (ebd.). Trotz der Zurückdrängung der Sorge um sich selbst durch die christliche Moral trifft man auch in christlichen Kulturkreisen heute auf diese Sorge. Es scheint, als ob die Sorge in Gestalt des Sich-Erzählens nicht zuletzt durch die medialen Bühnen wie Talkshows und Internet einen neuen Aufschwung genommen hat. Digitale Netzwerke repräsentieren globale Erzählräume, die von ihren Nutzer_innen zu solchen gemacht wurden. Die weltweit wahrnehmbare Erzähllust auf der medialen Bühne signalisiert die Unabweisbarkeit des Selbst; sie offenbart die Bedeutung des Erzählens, um an Wittgenstein anzuschließen, als Grundlage des Selbst, auf die dieses nicht verzichten kann genausowenig wie auf das Gehen, Essen und Trinken (Wittgenstein 1960: 302). Auf diese These soll im Folgenden insofern eingegangen werden, als jene Aspekte des Sich-Erzählens diskutiert werden, auf die sich die Konstitution des Selbst stützt. Weil sich, wie die eingangs zitierten Beispiele (der Brief von Marc Aurel und der Blogeintrag des 14-Jährigen), die narrativen Technologien nicht nur auf das Selbst beziehen, sondern auch das Selbst konstruieren, will ich in Abwandlung der Foucault’schen Begrifflichkeit von Technologien der Selbstkonstruktion sprechen. Das scheint mir durchaus im Sinne von Foucault zu sein, demzufolge die von ihm so genannten Technologien des Selbst dazu dienen, Operationen an diesem Selbst vorzunehmen mit dem Ziel sich zu verändern (Foucault 1993: 26).
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Orientierung und Handlungsfähigkeit Erzählungen dienen laut Wolfgang Kraus nicht der Abbildung von Wirklichkeit, sondern der Suche nach Sinn (Kraus 2007: 36). Im Akt des Erzählens wird ausgewählt, strukturiert, akzentuiert, weggelassen mit dem Ziel, eine Perspektive auf die erlebten Ereignisse zu gewinnen (a.a.O.: 40). Diesem Ziel liegt das Bedürfnis nach Orientierung zugrunde (Neumann 2000: 292). Wir müssen uns die Welt in kleinen und großen Geschichten vorstellen, um uns in ihr orientieren zu können (ebd.). Die Erzählung erfüllt die Funktion, »ein endliches Ganzes aus den unendlichen Verflechtungen der Wirklichkeit« (ebd.) auszugrenzen. Auf diese Weise werden erfahrene Situationen und Handlungsabläufe überschaubar und dadurch mitteilbar. Beispiele für solche herausgelösten Geschichten sind der von dem Blogger berichtete Ausflug in die Eifel oder das gemeinsame Mahl, wie es der von Foucault zitierte Marc Aurel schildert. Das Sich-Erzählen impliziert ein Erinnern, durch das der Fluss des Erzählens durchbrochen und festgehalten wird. Erinnern bedeutet, so Aleida Assmann in Anlehnung an Alfred Schütz, ein »Starrwerden lassen« (Assmann, 1991: 185), womit die Bildung von Bewusstsein verbunden ist. Das Erinnern impliziert die Deutung von Erfahrungen; es ermöglicht deren Einordnung in einen Sinnzusammenhang und macht mir meine Erfahrungen dadurch in meinem Bewusstsein verfügbar (Schütz 1981: 146). Erzählend erschließen wir uns den Sinn von Vergangenheit; wir lernen sie zu verstehen, »denn alles Verstehen ist auf ein Sinnhaftes gerichtet« (a.a.O.: 149). Das Verstehen macht mich handlungsfähig. Das Potenzial des Erzählens als Erinnerungs- und Bewusstmachungsstrategie hat sich auch die Psychoanalyse zunutze gemacht. Das erinnernde Erzählen konflikthafter Erlebnisse der Vergangenheit insbesondere der frühen Kindheit gilt als erster Schritt, diese Erlebnisse ins Bewusstsein zu holen, um sich ihnen gegenüber positionieren zu können als Bedingung für die Zurückgewinnung von Handlungsfähigkeit (Hutton 1993: 155). Es existiert eine notwendige Verbindung zwischen dem narrativen Erinnern, der Orientierung als Aspekt des Bewusstseins einerseits und der Handlungsfähigkeit andererseits. Je klarer der reflexive Bezug auf die Vergangenheit ausfällt, je deutlicher sich Zusammenhänge herausschälen, desto sicherer werde ich in meiner Perspektive auf Vergangenheit und desto mehr lerne ich für mein Handeln in Gegenwart und Zukunft. Eine 24-jährige Bloggerin schildert diesen Effekt des Erinnerns mit Blick auf ihren Blog, den sie seit 5 Jahren führt: »Ich finde, Erinnerungen sind einfach wichtig für’s Leben, weil man aus Fehlern lernt und sich an positive Sachen immer wieder erinnern kann und sich daran erinnern kann, was man mal Spannendes gemacht hat und was man irgendwie mal vermasselt hat und was nicht […]. Ich finde es einfach lustig, wenn man so über die Zeilen drüber liest von
1. Erzählen als Kultur- und Lebensform irgendwelchen alten Blogeinträgen und von neueren, dann merkt man schon ein bisschen, wie sehr man sich verändert hat«.
Es ist das Erzählen offline, situiert in einem Interview, über das Erzählen online, durch das die Vergangenheit für diese Bloggerin Sinn gewinnt. Sie entwickelt durch das reflexive Erzählen einen Bewertungsmaßstab, der sie darin unterstützt, vergangene Erfahrungen in positive und negative zu unterscheiden. Wenn sie davon spricht, dass sie aus ihren Erinnerungen lernt, dann verweist sie implizit auf die Handlungskonsequenzen des erinnernden Erzählens. Dieses gibt Gelegenheit zu einem mentalen Probehandeln einschließlich der Antizipation möglicher Reaktionen Anderer auf dieses Handeln, ist das Erzählen doch stets auch auf Andere gerichtet. Die Suche nach Sinn im Akt des Erzählens und Erinnerns mündet in Handlungsangebote für das Hier und Jetzt; sie fördert darüber hinaus die Entwicklung von Zukunftsperspektiven, denn sie erzeugt auch Formideen für zukünftiges Handeln (Kraus 2007: 34).
Selbsterkenntnis und Selbstverstehen In der Bemerkung der 24-jährigen Bloggerin klang es bereits an: Das digitale Erzählen dokumentiert Formungen der Persönlichkeit, die sich der Bloggerin im Erinnern an dieses Erzählen in einer früheren Lebensphase erschließen. Michel Foucault rückt die Selbsterkenntnis in den Mittelpunkt der von ihm beschriebenen Technologien des Selbst, wie sie uns in griechischen und römischen Texten begegnen und zwar in Verbindung mit dem Prinzip der Sorge um sich selbst (Foucault 2004: 112). Das Selbst erschließt sich nach Foucault, indem man sich mit sich selbst beschäftigt. Das »Erkenne dich selbst!« ist der Sorge um sich selbst untergeordnet (Foucault 1993: 29). Auch die christliche Moraltradition räumt der Selbsterkenntnis einen hohen Stellenwert ein, die aber auf umgekehrte Weise erreicht werden soll, nämlich durch Selbstlosigkeit. Die christlich geprägte Selbsterkenntnis steht unter dem Vorzeichen des Abrückens von den Ansprüchen des Selbst, das griechisch-römische »Erkenne dich selbst!« dagegen verlangt die Hinwendung zu diesem Selbst. Die griechisch-römisch geprägte Selbsterkenntnis impliziert Empathie im Verhältnis zu sich selbst, was auf die emotionale Dimension der Selbsterkenntnis verweist und den Weg zum Selbstverstehen öffnet, das über die rationale Selbsterkenntnis hinaus eine akzeptierende Komponente enthält. Als eine kognitiv-emotional-soziale Technologie der Selbstkonstruktion eröffnet das Erzählen einen vielfältigen Zugang zum Selbst. Erzählte Erfahrungen bieten Gelegenheit, Ereignisse nochmals zu durchleben, Gefühle wachzurufen, sich Begegnungen und Gespräche mit Anderen zu vergegenwärtigen und dadurch benennen zu können. Sobald ich mich auf den Boden der Sprache stelle, finde ich Schablonen und Formeln, die geeignet sind, meine Erlebnisse mitzuteilen. Die Welt des
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subjektiven Erlebens wird überwölbt von der allgemeinen Welt der Sprache (Assmann 1991: 185). Die Sprache stellt ein System an geteilten Symbolisierungen zur Verfügung, in dem sowohl Intersubjektivität verankert ist als auch Bewusstseinserhellung (ebd.). Die Sprache markiert ähnlich der Erinnerung eine Verfestigung, etwas, das aus dem Fluss unseres Erlebens herausragt, das implizites Wissen zu explizitem Wissen macht und dieses damit in die Sphäre unseres Bewusstseins transformiert. Ein Beispiel dafür, wie das Erzählen Bewusstheit produziert, zeigt die Geschichte über den Nickname einer 21-jährigen Bloggerin aus dem deutschen Sprachraum, die diese im Interview erzählt. Ihr Nickname ist Gaia, die Geschichte dieses Namens reicht in die Kindheit der Bloggerin zurück. Mit etwa 12 Jahren hat sie Bücher aus der Buchserie »Fearless« gelesen. Die Protagonistin in dieser Serie war ein etwa 17-jähriges Mädchen namens Gaia, das in New York lebte und das Verbrechen bekämpfte. Was dieses Mädchen auszeichnete und die Bloggerin schon als 12-Jährige am meisten beeindruckt hat, war, wie sie erzählt: »Ihr fehlt das Gen zur Furcht, also sie kann keine Furcht empfinden«. Gaia wurde das »großes Vorbild« der heute 21-Jährigen. Sie hat wie ihr Vorbild Kampfsportarten gelernt und sie ist mutig geworden. Ihren Mut hat sie sich über die Jahre hinweg bewahrt und ihn schließlich auch in ihren Blog getragen. Sie selbst ist es, die die Verbindung zwischen ihrem frühen Vorbild und ihrem Verhalten im Blog herstellt, was sie wie folgt beschreibt: »Es ist mir überhaupt nicht mehr wichtig, was andere Leute (die ihren Blog lesen, d.A.) eigentlich von mir denken«. Die gelebte Geschichte ging der erzählten Geschichte voraus; aber erst durch die Erzählung eignet sie sich die Geschichte an, erkennt und benennt sie den Zusammenhang zwischen der medialen Figur und ihrer Persönlichkeit, wird sie sich vermutlich erst der nachhaltigen Wirkung einer Kindheitserfahrung bewusst, entdeckt sie, wer sie ist bzw. sein will. Technologien der Selbstkonstruktion entstehen nach Foucault zu einem bestimmten Zeitpunkt im Leben, der im Griechischen hora heißt (Foucault 2004: 117). Es ist dies laut Foucault jene Lebensphase, in der der Knabe erwachsen wird. Warum Foucault seine These lediglich auf das männliche Geschlecht bezieht, ist nicht nachvollziehbar, denn die Aufgabe der Konstruktion des Selbst besteht für das weibliche Geschlecht gleichermaßen. Sie ist niemals abgeschlossen, wird, was auch Foucault einräumt, zu einer »das ganze Leben überdauernden Verpflichtung« (a.a.O.: 118), spitzt sich allerdings in biografischen Umbruchphasen zu. In diesem Buch werden die digitalen Erzählungen der 11- bis 32-Jährigen untersucht. In dieser Lebensspanne sind zwei Zäsuren zu bewältigen, einmal der Übergang von der Kindheit in die Pubertät und zum anderen der Übergang von der Adoleszenz in das Erwachsenendasein, ein Prozess, der heutzutage als relativ lange dauernder Prozess angenommen wird. Das Erzählen als eine Form der Selbstbezüglichkeit gewinnt für heutige Jugendliche und Erwachsene aber nicht nur als Strategie zur Bewältigung bio-
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grafischer Brüche besondere Brisanz, sondern auch angesichts der Pluralität von Lebensformen und Weltdeutungen und der damit verbundenen Unübersichtlichkeit der Optionen für das Selbst (Helsper 1997: 177). Das Dilemma der Selbstbezüglichkeit des Subjekts der Gegenwartsgesellschaft besteht darin, vor dem Hintergrund einer unübersichtlichen Lage das richtige Maß an Selbstbezüglichkeit zu finden. Wird die geforderte Selbstbezüglichkeit unterschritten, wird das Selbst zum Spielball externer Zwänge; wird sie zu sehr gesteigert, führt das zur Entscheidungsunfähigkeit (ebd.). Dieses Dilemma unterstreicht die Bedeutung des Erzählens als eine Technologie der Selbstkonstruktion, die durch ihre reflexiven Anteile das Herausfinden des richtigen Maßes an Selbstbezüglichkeit unterstützt.
Kohärenz und Wandel Als reflexiv wahrgenommene Technologie der Selbstkonstruktion wird das Erzählen auch jenseits der Phase des Erwachsenwerdens nicht überflüssig. Es erfüllt zwei Bedingungen, die es als lebenslang unverzichtbare Technologie auszeichnen. In Anlehnung an Sylvia Pritsch, die das Schreiben sowohl als einen Ort der Selbstvergewisserung als auch als Ort der Transgression thematisiert hat, kann auch dem Erzählen – ob es sich im Schreiben, mittels Körper oder durch Dinge vollzieht – ein Doppelcharakter zugeschrieben werden (Pritsch 2008: 37). Das Erzählen beinhaltet sowohl Momente der Verfestigung in Form von Erinnerung und sprachlicher Benennung, die Selbstvergewisserung befördern, als auch Momente der Verflüssigung z.B. in Form von Deutung und Akzentuierung, die Transgression ermöglichen. Erzählen ist eine Gestaltungstechnologie, die dem Erzählenden verspricht, das als Begrenzung Empfundene zu überwinden (ebd.). Es verhilft im Sinne von Foucault dem Einzelnen dazu, »aus eigener Kraft […] eine Reihe von Operationen an seinem Körper oder seiner Seele, seinem Denken, seinem Verhalten und seiner Existenzweise vorzunehmen mit dem Ziel, sich so zu verändern, dass er einen gewissen Zustand des Glücks, der Reinheit, der Weisheit, der Vollkommenheit oder der Unsterblichkeit erlangt« (Foucault 1993: 26). Für Paul Ricœur eröffnet das Konzept der narrativen Identität einen Zugang zur Beziehung zweier Arten von Identität, »der unveränderlichen Identität des idem, des Selben, und der veränderlichen Identität des ipse, des Selbst, in seiner historischen Bedingtheit betrachtet« (Ricœur 2006: 134f.). Das Unwandelbare entspringt nach Ricoeur dem genetischen Code und findet seinen Ausdruck z.B. in der Physiognomie, in der Stimme, im Gang; es äußert sich weiter in angenommenen Gewohnheiten und in akzidentellen Merkmalen wie Narben (a.a.O.: 135). Das Veränderliche, das ipse, ist Produkt des Sich-Erzählens. Unsere Selbstgeschichten erhalten unterschiedliche Färbungen in Abhängigkeit davon, wo und wann sie erzählt werden, wie andere darauf reagieren, wie wir neue Erlebnisse integrieren (Kraus 2000: 5). Sie dokumentieren,
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wie Kraus es ausdrückt, »work in progress« (ebd.), gleichen »unendlichen Expeditionen« (Hutton 1993: 163) auf der Suche nach Sinn, Bedeutung, Handlungsperspektiven. Inwieweit die von Ricoeur behaupteten unveränderlichen Elemente von Identität tatsächlich so unveränderlich sind, sei dahingestellt – immerhin können sich sowohl Körpermerkmale als auch Gewohnheiten verändern – wesentlich ist, dass sich Identitäten aus relativ festen und zugleich aus flüssigen veränderlichen Elementen zusammensetzen und in einem bestimmten Mischungsverhältnis zueinander stehen, das einem soziokulturellen Wandel unterliegt. Gegenwärtig scheint sich das Mischungsverhältnis zugunsten des Flüssigen verändert zu haben, wenn man die Beschreibungen des Subjekts in aktuellen Subjektdiskursen heranzieht. Das Subjekt wird als reflexiv, flexibel, mobil, anpassungsfähig charakterisiert, das als solches auf die gesellschaftlichen Anforderungen reagiert, wie sie ihm am Arbeitsplatz, aber auch in den Sphären von Politik, Freizeit, Familie, Partnerbeziehungen entgegenkommen (Bilden 2009; Ehrenberg 2004; Kraus 2000; Roth-Ebner 2015; Sennett 1998). Tempo, Beschleunigung, Wandel sind zu einem Markenzeichen der Gegenwartsgesellschaft geworden, die sich auch in der (erwünschten) Verfassung des Subjekts widerspiegelt. Die Fähigkeiten zur Veränderung bergen Chancen für das Subjekt, denn sie eröffnen neue Denk- und Handlungshorizonte, erschließen ungeahnte Ressourcen, bescheren dem Subjekt Anerkennung. Veränderung kann aber auch zur Bürde werden, wenn sie keinem Bedürfnis mehr folgt, sondern einem Zwang (Helsper 1997: 180; Sennett 1998). Hinter dem Versprechen auf Individualität und Autonomie als Lohn für Flexibilität und Veränderungsbereitschaft lauert das Risiko der Überforderung und Fragmentierung. Das Subjekt des 21. Jahrhunderts steht vor der Aufgabe, sich selbst angesichts der Vielzahl an Erfahrungshorizonten und der Vervielfältigung an Aufgaben zusammenzuhalten, sich nicht als zerstückelt zu erleben, sondern ein Bild von sich selbst als Ganzes zu gewinnen. Nicht wenige scheitern an dieser Aufgabe. Nach Richard Sennett ist dieses Scheitern nicht länger nur eine Aussicht der Unterprivilegierten, sondern auch ein unter Managern häufig anzutreffendes Phänomen, denen es nicht mehr gelingt, ihr eigenes Leben vor dem Auseinanderfallen zu bewahren, weil sie angesichts der im Berufsleben permanent geforderten Flexibilität und Mobilität den Kontakt zu ihren sonstigen Lebensbereichen, z.B. zur Familie, verlieren und dies als Versagen erleben (a.a.O.: 160). Alan Ehrenberg charakterisiert in seinem Buch »Das erschöpfte Selbst« die Depression als Krankheit der Veränderung, die das Subjekt ereilt, wenn es die vielfältigen Veränderungen in seinem Leben nicht mehr integrieren kann (Ehrenberg 2004: 145ff.). So paradox es klingen mag, das Sich-Erzählen fördert nicht nur den Wandel der Persönlichkeit, es hat auch eine integrierende Wirkung, weil es ermöglicht,
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die Erfahrungen in verschiedenen Lebensbereichen zueinander in Beziehung zu setzen und die jeweils darin verankerten Teile der Persönlichkeit miteinander kommunizieren zu lassen. Helga Bilden schlägt in Anlehnung an Rivera eine Form der Integration vor, die sich nicht auf Synthese stützt, sondern sich vielmehr dadurch auszeichnet, dass verschiedene bis widersprüchliche Erfahrungen, Rollen, Emotionen, Sichtweisen in einem zentralen Bewusstsein gehalten und Strategien entwickelt werden, damit umzugehen (Rivera 2002: 343; Bilden 2009: 23). Differenzen werden nicht zum Schweigen gebracht, sondern dahingehend geprüft, wie sie in eine kohärente Erzählung vom Ich eingewoben werden können (ebd.). Wir können, wenn wir Wolfgang Kraus folgen, auf diesen narrativen Selbstentwurf und die dabei hergestellte Kohärenz nicht verzichten; ein Verzicht würde die Selbstauflösung des Subjekts bedeuten (Kraus 2000: 15). Nicht der Kampf um Kohärenz ist nach Kraus krankmachend, sondern die Verweigerung dieses Kampfs (ebd.). Eine 24-jährige Netzakteurin erzählt, wie sie diesen Kampf um Kohärenz führt. Die 24-Jährige ist Amerikanerin; die Freiheit zu tun, was sie will, stellt einen zentralen Wert für sie dar. Dieses Freiheitsbedürfnis hat sie von den Staaten in verschiedene europäische Länder geführt, wo sie jeweils längere Zeit gelebt, studiert, gearbeitet hat. Ihr Versuch, die verschiedenen Teile ihres Lebens zusammenzuhalten, besteht darin, Beobachtungen und Situationen an den verschiedenen Orten fotografisch festzuhalten und sie in einer digitalen Bildgeschichte zusammenzufügen. Es sind keine Bilder von Sehenswürdigkeiten, die sie festhält, sondern ganz gewöhnliche Dinge, Zeichen jedweder Art, Werbeplakate, einen Mann mit einem lustigen Hut, das, was sie isst: »I take pictures of my food that I eat in different countries just to find to remember ›Oh, that was a really good pizza there‹«. Die Bildgeschichte dient ihr dazu, die verschiedenen Alltage in ihrem Leben in einen Zusammenhang zu bringen und sich damit auch ihrer selbst zu vergewissern als wahrnehmendes, fühlendes, körperliches Wesen. Die 24-Jährige ist sich der Funktion ihrer Bildgeschichte bewusst, denn sie kommentiert diese abschließend: »It’s an easier way to put things together«. Kohärenz und Wandel bilden die Pole eines Spannungsfeldes, dem das Subjekt nicht entrinnen kann. Es erzählt sich selbst und verändert sich dabei, denn sich erzählen heißt sich konstruieren. Das Sich-Erzählen fördert ein Ich, das niemals in einer festen Form erstarrt (Meyer-Drawe 1990: 122); aber es darf auch nicht auseinanderfallen. Das Erzählen muss als Technologie der Selbstkonstruktion zugleich gegen die Tendenzen arbeiten, die es selbst produziert. Es muss eine integrative Wirkung entfalten, die das Gefühl von Kohärenz erzeugt, das vor einer Selbstzerstörung schützt. Dies ist ein nie endender Prozess im menschlichen Leben, denn, so darf man mit Assmann vermuten, es gibt keinen Zusammenhang, der ewig hält, kein Abgeschlossenes, das nicht
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wieder als offen, keine Gewissheit, die sich nicht wieder als ungewiss erweisen könnte (Assmann 1991: 183).
1.2.2 Erzählen als Öffnung zum Du »Descartes hatte Unrecht. Es muss nicht heißen: ich denke, also bin ich. Es muss heißen: Ich bin, weil du bist«. S iri H ust vedt 2008b, 121
Im Vorangegangenen ist es mehrmals angeklungen: Das Sich-Erzählen schließt den Anderen nicht aus, im Gegenteil. Selbst dort, wo es ganz der Sorge um sich selbst gewidmet ist, wie in dem zitierten Brief des Marc Aurel, wird der Andere mitgedacht als derjenige, der zuhören, mitempfinden, verstehen, reagieren kann und soll. Das Erzählen enthält, wie eingangs bereits erwähnt, eine doppelte Bewegung, die zu mir hin und die von mir weg führt, jedoch auch als wegführende Bewegung wieder auf mich zurückwirkt. In diesem Abschnitt wird die Rolle des/der Anderen im Kontext des Erzählens in vierfacher Hinsicht diskutiert: der/die Andere als Bezugspunkt, als Thema, als Miterzähler_in und als Teil des narrativen Subjekts.
Der/die Andere als Bezugspunkt des Erzählens Die auf das Du gerichtete Bewegung des Erzählens gründet in dem Charakter des Erzählens als sprachliches Tun. Sprache ist intersubjektiv; jedes Sprechen appelliert nach Lacan an eine Antwort (Lacan 1975: 84). Es hat, so führt Lacan aus, selbst in seiner »extremsten Abnutzung seinen Wert als Tessera« (a.a.O.: 89). In den frühen Mysterienkulturen bezeichnete das Wort Tessere Tonscherben, deren Bruchstellen exakt den Bruchstellen anderer Scherben angepasst werden konnten. Später bezeichnete der Begriff Tessara ein Erkennungszeichen oder auch eine verabredete Parole (Lacan 1973: 89). Demnach können wir davon ausgehen, dass Wörter und Sätze, die wir verwenden, einen Widerhall im Anderen finden. Nach Lacan gibt es diesen Widerhall immer, solange es eine(n) Zuhörer_in gibt, selbst dann gibt es ihn, wenn unser Sprechen auf ein Schweigen trifft (Lacan 1975: 85). Wir rechnen mit diesem Widerhall, wenn wir erzählen. Wir machen den Anderen – ob er leiblich präsent ist oder imaginiert wird – zum Bezugspunkt unserer Erzählungen. Wie stark das Bedürfnis nach einem Widerhall ist, zeigt sich heutzutage auch am Beispiel der Erzählungen im virtuellen Raum, wo der Andere nicht physisch präsent ist, wo nicht einmal sicher ist, ob mein Sprechen Andere erreicht. Nichtsdestotrotz spielen die Anderen in der Imagination der Netzerzähler_innen eine unübersehbar große Rolle wie für die bereits zitierte 21-jährige Bloggerin mit dem Nickname Gaia, die den Anderen zum imagi-
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nierten Bezugspunkt ihrer Selbstpräsentation macht. Mit ihrer Selbstbeschreibung im eigenen Blog will sie gegenüber ihren Followern ein bestimmtes Bild von sich vermitteln, in ihren Worten: »Es ist einfach, dass ich denen zeigen möchte, dass ich ein humorvoller Mensch bin und gerne über das Leben lache und nicht immer so ernst nehme, aber manchmal auch Dinge zu ernst nehme. Ich möchte ihnen einfach einen Einblick in mein Leben geben«. Die Tonscherben, um es mit Lacan metaphorisch auszudrücken, die sie den Anderen anbietet, sind vor allem ihre Emotionen und Stimmungen; die von ihr erwünschten Gegenstücke sind Kommentare. Sie mag Kommentare, so erklärt sie, »wo man merkt, dass sich die Leute das (den Blog, d.A.) auch wirklich durchgelesen haben und darüber nachgedacht haben […]«. Sie will gesehen werden, sie will für Andere zum Gegenstand des Nachdenkens werden. Während diese Bloggerin an den/die Andere(n) als Betrachter_in und Kommentator_in des eigenen Ichs appelliert, appelliert ein 26-jähriger Blogger aus dem arabischen Raum an das Interesse der Anderen für sein Land, also für ein kollektives Ich. Er will mit seinen Erzählungen über sein Land das Interesse der Weltöffentlichkeit auf die sozialen und intellektuellen Besonderheiten seines Landes lenken, die aus seiner Sicht in den staatlich kontrollierten Medien nicht adäquat repräsentiert sind. Er sagt: »I’m trying to allow people to look into things especially in Saudi Arabia and especially when they look back to Saudi Arabia through my blog to see the social and intellectual fabric of what makes Saudi Arabia Saudi Arabia.«. Seine Erzählungen im Netz sind Gegenerzählungen. Der arabische Blogger unterstellt, dass seine Erzählungen »ankommen«, dass deren Botschaft verstanden wird. Das kann er nur annehmen, wenn er zumindest über das implizite Wissen verfügt, dass Menschen in verschiedenen Kulturen in bzw. durch Erzählungen denken und verstehen. Zu diesem Wissen kommt man durch die Erfahrung, dass man selbst Andere versteht, indem man in Erzählungen denkt, z.B. indem man sich Erklärungen ausdenkt, warum jemand so oder so gehandelt hat (Gergen 2002: 160). Wir lernen Andere zu sehen, indem wir sie uns in Geschichten vergegenwärtigen und bieten ihnen Geschichten an, damit sie uns sehen und verstehen. Auf diesen Blick der Anderen sind wir angewiesen, denn wir gehören zwar, wie Käte Meyer-Drawe argumentiert, dem Reich des Sichtbaren an, können uns selbst aber nur fragmentarisch sehen (Meyer-Drawe 1990: 116). Für den Blick auf uns selbst bleiben Teile unserer körperlichen Gestalt unsichtbar und auch auf der Ebene unserer geistig-seelischen Existenz müssen wir mit blinden Flecken rechnen. Das sind zugleich Flecken in der Autonomie des Subjekts, aber bedeuten andererseits eine Öffnung für den/die Andere(n) (ebd.). Der Blick des/der Anderen reicht an das heran, was ich selbst von mir nicht sehen kann, es sei denn durch die Resonanz seines Blicks (Meyer-Drawe 1990: 117). Dieser Blick, sei er zustimmend oder kritisch, signalisiert laut Jessica Benjamin Anerkennung. Diese vermittelt das Gefühl, es gibt mich, ich bin es, die/
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der etwas tut. Anerkennung ist nach Benjamin »die entscheidende Reaktion, die ständige Begleitmusik der Selbstbehauptung« (Benjamin 1990: 24). Mit unseren Erzählungen zielen wir auf diesen Blick, der unser Handeln kommentiert, aufdeckt, was uns selbst verborgen blieb. Insofern kann man sagen, dass die Erzählbewegung, die von uns wegführt, wieder auf uns zurückwirkt.
Der/die Andere als Thema und Miterzähler_in Die Anderen sind nicht nur Bezugspunkte von Erzählungen, sondern sie sind auch Thema von Erzählungen und sogar Miterzähler_innen. Thema sind sie insofern, als die Ereignisse, von denen Erzählungen handeln, nicht nur die Handlungen des/der Erzähler_in enthalten, sondern auch die Handlungen Anderer (Kraus 2000: 5). Dass die Handlungen Anderer integrierter Bestandteil von Erzählungen sind, überrascht nicht, gründen Erfahrungen und Ereignisse, die den Gegenstand von Erzählungen bilden, doch stets im sozialen Austausch. Das Leben spielt sich in sozialen Interaktionen ab und wenn wir es erzählen, wird das Soziale zu einem Element in dieser Erzählung z.B. dadurch, dass wir das Handeln Anderer schildern, begründen, bewerten. Wir setzen uns auf diese Weise zueinander in Beziehung. Besondere Aufmerksamkeit widmen wir, wie Michael Neumann behauptet, der Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen. Zwei Drittel aller Alltagsgespräche beschäftigen sich nach Neumann mit zwischenmenschlichen Beziehungen wie Liebesgeschichten, Ehe- und Familienstorys und deren Bewertungen (Neumann 2000: 284). Ob sich bereits die gelebten sozialen Interaktionen pränarrativ gestalten oder eine bloße Ereignisfolge darstellen, ist eine Frage, die Narrationstheoretiker_innen unterschiedlich beantworten (Kraus 2007: 33). Ich gehe davon aus, dass wir – weil wir in Erzählungen denken und handeln – bereits den gelebten Interaktionen die Form von Geschichten geben, dass wir diese Geschichten aber, wenn wir sie erzählen, einer Revision unterziehen, indem wir sie potenziell neu ordnen, hervorheben und relativieren, hinzufügen und weglassen. Auch bei dieser Revision von Erfahrungen und Ereignissen spielt der/ die Andere eine Rolle. Wie der korrektive Eingriff im Akt des Erzählens ausfällt, ob der/die Erzähler_in seine/ihre Interpretation aufrechterhalten kann, entscheidet er oder sie nicht alleine. Häufig gibt es Miterzähler_innen, die auf verschiedene Weise präsent sind: die, die körperlich anwesend sind wie beim gemeinsamen Erzählen, die, die nicht körperlich präsent sind, aber deren konkrete Reaktionen (z.B. im Netz) Wirkung entfalten, die, die nicht körperlich anwesend sind und noch nicht reagiert haben bzw. nicht reagieren werden, sondern lediglich als mögliche Miterzähler_innen imaginiert werden und allein deshalb schon Einfluss nehmen. Beim gemeinsamen Erzählen kann der/die Andere aus unterschiedlichen Gründen zum/zur Miterzähler_in werden: weil er/sie vom/von der Erzäh-
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ler_in darum gebeten wird, weil er/sie kurzfristig z.B. bei einer Benennungsschwierigkeit aushilft, weil er/sie die Informationen ergänzt, die seine/ihre Rolle in der Geschichte betreffen, weil er/sie den/die Erzähler_in korrigiert (Quasthoff 1980: 125). Uta Quasthoff unterscheidet zwischen einem kooperativen und einem antagonistischen gemeinsamen Erzählen (a.a.O.: 115). Beim kooperativen Erzählen fügt der/die Miterzähler_in Orientierungen hinzu, um den kommunikativen Erfolg der gemeinsamen Erzählung zu sichern, beim antagonistischen Erzählen versucht der/die Miterzähler_in ihre/seine Intention gegen die des/der Erzähler_in durchzusetzen (a.a.O.: 135). Wie erwähnt, können auch Nicht-Anwesende zu Miterzähler_innen werden. Was Anselm Strauss in seinem Vergleich von alltäglichen Interaktionen mit Interaktionen auf der Theaterbühne illustriert, kann auf das Erzählen als einer Form sozialer Interaktion übertragen werden. Auch wenn nur zwei Hauptdarsteller auf der Bühne stehen, sind nach Strauss weitere, nur dem Publikum oder einem der beiden Akteure sichtbare Spieler_innen anwesend (Strauss 1968: 58). Dies können Verwandte, Freund_innen, Lehrer_innen sein, sie können noch leben oder bereits verstorben sein; gemeinsam ist ihnen, dass sie Erwartungen an die Akteur_innen herantragen, die von diesen registriert werden (a.a.O.: 59). Die Interaktionssituation, an der sichtbar nur zwei oder drei Personen beteiligt sind, ist also dicht bevölkert von weiteren Personen, die auf verschiedene, oft konfligierende Weise mitreden und die Geschichten mitgestalten oder sie auch verhindern. Von einem Fall des Verhinderns berichtete im Interview eine 27-jährige Bloggerin aus Saudi-Arabien. Sie hatte in ihrem Blog über rassistische Vorkommnisse in der Stadt geschrieben, in der sie lebt. Sie erhielt empörte Reaktionen von den Leser_innen ihres Blogs. Sie wurde gefragt, wie sie dazu komme, über dieses Thema zu schreiben, woher sie den Mut dafür nehme. Die Bloggerin löschte daraufhin ihren Eintrag. Die Reaktionen der Anderen hatten ihrer Erzählung, wie sie empfindet, die Grenzen gewiesen: »It kind of showed me the boundaries«. In diesem Beispiel sind es konkrete Andere, die sich zur Geschichte der Erzählerin geäußert und dadurch zur Elimination der Geschichte beigetragen haben. Es gibt darüber hinaus die Möglichkeit, dass die Anderen ganz allgemein, ohne dass sie als konkrete Andere aktiv geworden wären, auf die Erzählung Einfluss nehmen. Diese These spielt auf das Konzept vom »verallgemeinerten Anderen« (Mead 1973: 196) an, wie es von George H. Mead formuliert wurde. Der »verallgemeinerte Andere« repräsentiert die Gesellschaft oder eine gesellschaftliche Gruppe, z.B. eine Spielmannschaft, der das Individuum angehört (ebd.). Er gewinnt Einfluss auf das Individuum, indem dieses die Haltung des »verallgemeinerten Anderen« gegenüber sich selbst einnimmt (a.a.O.: 198). Mead bezeichnet »die organisierte Gruppe von Haltungen Anderer, die man selbst einnimmt« als das ICH, in Großbuchstaben geschrieben (a.a.O.: 218).
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Um den möglichen Einfluss dieses ICHs zu konkretisieren, möchte ich auf die zitierte 27-jährige Bloggerin aus Saudi-Arabien zurückkommen. Es hätte sein können, dass die Bloggerin ihren Eintrag über Rassismus in ihrer Heimatstadt auch dann gelöscht hätte, wenn es die konkreten kritischen Stimmen nicht gegeben hätte, z.B. dann, wenn sie die Tabus ihrer Gesellschaft imaginiert und ihr eigenes Risiko als zu hoch eingeschätzt hätte. Dem gesellschaftlichen ICH antwortet nach Mead das Ich, in Kleinbuchstaben geschrieben, das die autonome Kraft des Individuums verkörpert, das kreativ und unberechenbar ist (ebd.). Im ICH, großgeschrieben, kommt die Gesellschaft zum Individuum, mit der Antwort des Ich, kleingeschrieben, lotet das Individuum seine Spielräume aus. Kenneth Gergen wirft Mead vor, dass dieser die Spielräume des Individuums als zu gering annehme, dass er das Denken und Handeln des Einzelnen letztlich von der Gesellschaft bestimmt betrachte und insofern sozialdeterministisch argumentiere (Gergen 2002: 159). Wolfgang Kraus schlägt mit dem Begriff der Verhandlung vor, das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft als dialogisch zu kennzeichnen, wenn es darum geht, Inhalte und Formen des Erzählens im Kontext gesellschaftlicher Vorgänge in Szene zu setzen (Kraus 2007: 5). Dieser Verhandlungsprozess kann nach Kraus auch antizipatorisch sein und mit einem imaginären Publikum geführt werden (ebd.). Dieser Vorchlag stellt eine Vermittlung zwischen den Ansätzen von Mead und Gergen dar. Eine 26-jährige Bloggerin aus dem Jemen schildert einen solchen Verhandlungsprozess, als sie im Interview darüber spricht, worüber sie blogge bzw. nicht blogge. Das Thema Religion ist in ihren Augen tabu: »If I do blog about religion I will be subject for death, that anybody can kill me«. Sie lehnt es zunächst strikt ab, Religion narrativ in ihren Blog einzubinden. Aber dann kommt sie darauf zu sprechen, dass sich die Gesellschaft, in der sie lebt, in einer Transformation befindet und ihr Nein wird löcherig. Sie lehnt es zwar nach wie vor ab, sich zu religiösen Themen zu äußern, aber diese Ablehnung scheint befristet, denn sie erklärt: »I don’t think my people in my country is ready enough now to hear about my views about religion or rituality, so this I would not write about now, but later«. Noch – so kann diese Äußerung interpretiert werden – sei es für ihre Erzählungen zu früh. Das in diesem Satz implizit ausgedrückte »Noch-Nicht« signalisiert einen inneren Dialog mit einem imaginierten Publikum. Das »Noch-Nicht« verheißt, dass in ihren Augen eines Tages etwas anderes möglich ist, was sie mit der Formulierung »aber später« ausspricht. Die Idee vom/von der Anderen als Miterzähler_in steht gegen den Autonomieanspruch der Moderne, demzufolge Autonomie aus Abgrenzung von Anderen resultiert. Sie macht deutlich, dass sich die Autonomie des Subjekts nicht außerhalb von Beziehungen entscheidet, sondern vielmehr zu fragen ist, ob und wie sich Autonomie in und durch Beziehungen entwickeln kann.
1. Erzählen als Kultur- und Lebensform
Der/die Andere als Teil des narrativen Selbst Was ist der/die Miterzähler_in im Verhältnis zum/zur Erzähler_in? Wenn George H. Mead schreibt, dass die Erfahrung einer Identität nicht ausschließlich aus sich selbst heraus möglich ist (Mead 1973: 239), bleibt offen, ob Mead sowohl das Ich als auch den/die Andere(n) als unterscheidbare Einheiten denkt oder als ein miteinander Verschränktes. Mead provoziert diese Überlegung auch an anderer Stelle, an der es heißt: »Zwischen unserem Selbst und dem Selbst anderer Personen lässt sich keine endgültige und eindeutige Linie ziehen, da unser Selbst nur insofern existiert und zum Bestandteil unserer Erfahrungen wird, als auch das Selbst Anderer existiert und als solches in unsere Erfahrungen eingeht« (a.a.O.: 164). Die Aussagen von George H. Mead stimulieren Gedanken über Möglichkeiten der Ich-Transzendenz; Mead selbst orientiert sich – so sieht es Kenneth Gergen – trotz der zitierten Äußerungen an der Vorstellung, dass die Subjekte als abgrenzbare Einheiten geboren werden und sich auch als solche begegnen (Gergen 2002: 159). Gergen dagegen verficht das Konzept eines relationalen Seins. Diesem Konzept zufolge bringt das Individuum vergangene Dialoge in die Gegenwart ein und wird in fortwährenden Dialogen immer wieder neu geboren (Gergen 2002: 167). Da der Begriff Dialog ein kommunikatives Geschehen benennt, das Erzählungen einschließt, liegt es nahe, Gergens These vom relationalen Sein auch im Kontext narrativer Subjektkonstruktionen zu berücksichtigen. Karen Joisten bestätigt zumindest, dass der Mensch von Anfang an narrativ verfasst ist, weil er »mit seiner Geburt bereits in den Erzählzusammenhang einer Tradition eingebunden ist, der ihm Halt und Orientierung gibt« (Joisten 2007: 187). Dieses von Joisten behauptete Eingebundensein bedeutet ein unweigerliches Verbundensein, innerhalb dessen der Mensch zu dem wird, was er ist. »Was immer wir sind,« schreibt Gergen, »aus dieser Sicht sind wir es direkt oder indirekt im Verbund mit Anderen. Wir bestehen auseinander« (a.a.O.: 174). Dieses Verbundensein kann in biografischen Erzählungen als Spannung zum Tragen kommen. Eine solche Spannung zeigt sich in der bereits geschilderten Lebensgeschichte eines Japaners, die Shingo Shimada in seinem Aufsatz »Das kulturelle Selbst – die Kultur im Selbst« präsentiert. Der im Jahre 1930 geborene Japaner, Herr M., bettet alle seine Lebensentscheidungen in den Kontext seiner sozialen Umgebung ein; er schildert sie als Resultat seines umsichtigen Umgehens und der Übereinstimmung mit der Meinung Anderer (Shimada 2006: 85f.). Diese Einbindung des eigenen Werdegangs in den sozialen Kontext entspricht nach Shimada den kulturellen Vorgaben an eine erfolgreiche narrative Selbstdarstellung (a.a.O.: 86). Die Spannung in dieser Erzählung beruht aus westlicher Sicht darauf, dass Herr M. sich als erfolgreichen, selbstbewussten Geschäftsmann darstellt und zugleich als jemand, der »keine individuell eigenständige Entscheidung treffen kann« (ebd.). Shimada
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bietet dafür die Erklärung an, dass der Lebenslauf weniger als individuelles Projekt begriffen wird, sondern als ein Weg, der in ein interpersonales Netz eingebunden ist, innerhalb dessen in Abhängigkeit von Anderen Entscheidungen fallen, ohne dass dies als Unselbständigkeit wahrgenommen wird (a.a.O.: 90). Das Spannungsverhältnis zwischen dem Individuum und seiner sozialen Umgebung mag sich in der japanischen Kultur spezifisch gestalten, aber es ist auch in anderen Kulturen zu beobachten, wie das Beispiel einer 26-jährigen Bloggerin zeigt, die in einem westlichen Industrieland lebt. Sie erzählt von der Art und Weise, wie sie ihren Blog führt und meint, dass sie nicht immer Lust habe zu bloggen, aber da sind die Anderen, die Leser_innen ihres Blogs. Ihnen gegenüber fühle sie sich verpflichtet, die vermuteten Erwartungen machten ihr ein schlechtes Gewissen, ja, sie verspüre einen Zwang. Sie denke: »Boah, jetzt hast du schon wieder anderthalb Wochen nichts geschrieben. Schreib doch mal! Da spüre ich schon so eine Art Zwang«. Die Geschichte der Bloggerin zeigt, dass die Art und Weise, wie sie den Blog führt, auch ein Resultat der tatsächlichen oder vermeintlichen Reaktionen Anderer ist. Auch sie ist, was sie ist, im Verbund mit Anderen, obschon dieses Beispiel nur einen kleinen Lebensausschnitt betrifft. Für beide Geschichten gilt der Satz von Gergen: »Wir bedingen uns gegenseitig« (Gergen 2002: 175). Allerdings zeigt sich auch ein wesentlicher Unterschied zwischen den Geschichten. Während in der Geschichte des japanischen Geschäftsmanns keine Differenzen zwischen den Erwartungen der sozialen Umgebung und den Entscheidungen des Protagonisten benannt werden, verweist die Bloggerin in ihrer Geschichte auf solche Differenzen. Sie erlebt sie als Zwang, dem sie sich aber fügt, weil sie auf die Anderen nicht verzichten kann, die sie durch das Schreiben erreicht. Sie mahnt sich selbst: »Jetzt überleg’ doch mal, was könntest Du schreiben, sonst hauen dir die Leute ab«. Es gibt wahrscheinlich endlos viele Formen, wie der/die Andere zum Teil des narrativen Selbst werden kann, wie sich der/die Erzähler_in zu diesem/ dieser Anderen in seinen/ihren Erzählungen positioniert, ihn/sie erlebt, zu welchem Handeln der/die erinnerte oder imaginierte Andere anzustacheln vermag. Brisant aber bleibt die Frage, ob, und wenn ja, welche Freiheitschancen das Erzählen für das Subjekt eröffnet.
1. Erzählen als Kultur- und Lebensform
1.3 E rz ählen als U nterwerfungs - und E rmöglichungstechnologie Ín seinen Erzählungen macht sich der Mensch seine Vergangenheit und Gegenwart bewusst, er gewinnt Orientierung und Handlungsfähigkeit. Erzählen verhilft dazu, Zukunft zu antizipieren und neue Perspektiven zu denken, sich zu verändern und gleichzeitig hat das Erzählen eine integrative Wirkung, es verbindet die Dinge miteinander. Erzählend kommen wir zu uns selbst, wir erfahren uns als ein Ich, lernen dieses Ich zu verstehen und es weiterzuentwickeln. In diesem Sinne dient das Erzählen der Selbstkonstruktion. Jedoch führen wir die Regie in unseren Erzählungen nicht alleine. Die Anderen wirken mit als Bezugspunkte, Themen von Erzählungen oder als Miterzähler_in; manchmal schlüpfen sie sogar in die Haut des Erzählers, agieren als Teil des narrativen Selbst. Die Anderen sind als konkrete Andere, die offline sichtbar sind und im Netz unsichtbar bleiben, als imaginierte mögliche Andere oder als »verallgemeinerte Andere« (Mead 1973: 196), d.h. als kollektive Haltung bzw. als Norm präsent. Der konkrete oder imaginierte Andere, der ein Du repräsentiert, ist nicht notwendig identisch mit dem »verallgemeinerten Anderen« (ebd.), der eine Norm repräsentiert. Gemeinsam ist den verschiedenen Anderen, dass sie sich in unsere Erzählungen einschreiben. Die Anderen sind unabweisbar vorhanden; wir können ihre Einflüsse nicht ausschalten. Wie Judith Butler in Anlehnung an die italienische Philosophin Adriana Cavarero schreibt, »können wir nicht existieren, ohne den Anderen anzusprechen und von ihm angesprochen zu werden« (Butler 2003: 45). Wir können uns unseren sozialen Charakter nicht wegwünschen (ebd.). Wir haben es aber auch abgesehen auf diese(n) Andere(n). Unsere Erzählungen zielen auf den Blick des/der Anderen, damit er sich uns zuwendet. Was wir erwarten von diesem Blick ist Anerkennung. Wir erleben diesen Blick als Anerkennung, weil, wie bereits beschrieben, er an das heranreicht, was uns selbst an uns verborgen bleibt und erst in der Resonanz dieses Blicks für uns sichtbar wird (Meyer-Drawe 1990: 116). In diesem auf uns gerichteten Blick können wir uns selbst erkennen; wir erreichen durch diesen Blick Selbstbewusstsein und Selbstgefühl (Benjamin 1990: 24). Anerkennung in diesem Sinn fixiert nicht den Status quo, im Gegenteil. Anerkennung initiiert Veränderung. Sie wird nach Butler »zu jenem Prozess, durch den ich ein Anderer werde als der, der ich gewesen bin und damit zu jenem Prozess, durch den ich die Fähigkeit einbüße, zu dem zurückzukehren, was ich gewesen bin« (Butler 2003: 39). Anerkennung befördert insofern die Entwicklung des Subjekts. Um Anerkennung zu erreichen, muss man sich anerkennbar machen. Die Erzählung ist das Medium, mit Hilfe dessen wir Anerkennbarkeit versuchen herzustellen. Sofern der/die Andere ein Du ist, von dem wir anerkannt werden wollen, rekurrieren wir in unseren Geschichten auf dessen Erwartungen, zei-
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gen wir, dass wir diese Erwartungen ernst nehmen. In diesen Erwartungen können bereits gesellschaftliche Normen stecken, die wir im Interesse unserer Anerkennbarkeit nicht ignorieren dürfen. Wir müssen uns nach Butler in der narrativen Darstellung bis zu einem gewissen Grad ersetzbar machen, d.h. so sein wie andere, nach denselben Regeln funktionieren wie Andere. Die Singularität meiner Geschichte muss der Perspektivik und der Zeitlichkeit bestimmter Normen weichen (Butler 2003: 49). Die Normen sind unverzichtbar, soll Anerkennung möglich sein, denn es braucht Maßstäbe, an denen sich Anerkennung orientieren kann. Bevor es Anerkennung geben kann, muss es Normen geben. Diese sind zunächst nicht meine, denn ihre Zeitlichkeit ist eine andere als die meines Lebens. Sie gehen dem Ich voraus, bilden die Bühne, auf der das Ich erzählend seine Anerkennbarkeit inszeniert. Dieses Ich baut sich mit seinen Geschichten hinein in das gesellschaftliche Regelwerk, erweist sich als abhängig von gesellschaftlich-kulturellen Vorgaben (Reckwitz 2008: 12). Kann man dieses Ich noch als Akteur seiner/ihrer Erzählungen betrachten? Muss man es nicht eher als Effekt gesellschaftlicher Strukturen sehen? Aus der Sicht von Judith Butler hat das Ich trotz seiner Abhängigkeit Spielräume. Sie bezieht sich auf Adriana Cavarero, die jedem Wesen etwas Irreduzibles und Unverwechselbares zuschreibt, das sich als Gleiches durch verschiedene Geschichten zieht, die ein Mensch erzählt (Cavarero 1997: 89; Butler 2003: 46). Deshalb würde auch jeder Versuch scheitern, sich vollständig mit einem kollektiven Wir zu identifizieren (ebd.). Was dieses Irreduzible auszeichnet und wie es entstehen kann, ergibt sich aus folgendem Gedankengang, der sich ebenfalls aus Butlers Argumentation ableiten lässt. Er geht von der Überlegung aus, dass die Ideen, Vorstellungen, Pläne des Ichs nicht deckungsgleich sind mit gesellschaftlichen Normen, die in bestimmten Situationen als Erwartung auf das Ich zukommen. Diese Differenz zwischen dem Subjekt und den Normen könnte in dem Zusammenspiel von genetischem Code und spezifischen Lebenserfahrungen und Lebensereignissen gründen. Wenn das Ich die Differenz wahrnimmt, bedeutet das, dass es über diese Normen nachdenken muss, so wie die zitierte Bloggerin über die von ihr wahrgenommene Differenz zwischen ihrem Schreibrhythmus und den vermuteten Erwartungen der Leser_innen ihres Blogs nachzudenken begann. Dieses Nachdenken impliziert eine Beziehung zwischen dem Ich und den gesellschaftlichen Regeln, in der entstehen kann, was Adorno eine lebendige Aneignung genannt hat, worunter er eine »kritische Überprüfung« (Adorno 1996: 35). versteht, in anderen Worten Reflexivität. Dieser reflexive Bezug auf die Regeln wirft die Frage auf: Was soll ich tun?, die einen kritischen Umgang mit den Regeln markiert. Das kritische Potenzial der Aneignung hat nach Butler auch Foucault gesehen, dem es ihrer Ansicht nach darum ging zu zeigen, »dass gesellschaftliche Normen nicht wirksam das Subjekt hervorbringen können, ohne dass das Subjekt diese Normen reflexiv in Form einer Ethik artikuliert« (Butler 2003: 10). Bezug-
1. Erzählen als Kultur- und Lebensform
nehmend auf diese These gilt die Differenz zu gesellschaftlichen Normen für jedes Ich, also auch für das Ich, das dem/der Erzähler_in als Du begegnet. Gleichwohl konfrontiert jedes Ich, das zum Du wird, das andere Ich mit eigenen Erwartungen. Weder die Erwartungen des Du noch die gesellschaftlichen Normen wirken deterministisch, sie bereiten dem Subjekt die Bühne, auf der es seine Selbstformung selbst vollzieht (a.a.O.: 28). Das Sich-Hineinbauen in die gesellschaftliche Tradition im Medium der Erzählung ereignet sich nicht als bloße Adaption gesellschaftlicher Vorgaben, sondern als eine kritische Annäherung an ein Du bzw. an gesellschaftliche Regeln mit dem Ziel, Anerkennung zu erreichen, ohne die Singularität aufzugeben. Selbt in der Situation des Underdog gibt es dem Literaturwissenschaftler Bhabha zufolge »Möglichkeiten, die auferlegten Autoritäten umzudrehen, einiges davon anzunehmen, anderes abzulehnen«.1 Das Subjekt führt in seinen Erzählungen ein Doppelleben: Es ist sowohl Untertan als auch Souverän (Meyer-Drawe 1990: 151). Das Erzählen erweist sich sowohl als Ermöglichungs- als auch als Unterwerfungstechnologie.
1 | Homi K. Bhabha im Interview mit Lukas Wieselberg, ORF-Science, http://science v1.orf.at/science/news/149988,Zugriff am 1.11.2011.
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Nicht nur der konkrete, der imaginierte oder der »verallgemeinerte Andere« (Mead 1973: 196) wirken, wie im Vorangegangenen diskutiert, mit an den Geschichten, die wir im Netz und über das Netz erzählen, sondern auch der mediale Kontext, in dem wir unsere Geschichten situieren bzw. der einen Bezugspunkt unserer Geschichten darstellt. Bereits im Jahre 1998 vertrat der amerikanische Medienwissenschaftler Henry Jenkins die These, dass die digitalen Medien neue Räume des Geschichtenerzählens eröffnen (Jenkins 1998: 2). Ola Erstad und James von Wertsch konkretisieren diese These, indem sie auf die Funktionalität digitaler Medien für das Erzählen und wie diese bereits in der Sprache ihren Ausdruck gefunden hat, hinweisen: »Information and communication technologies can be used for producing and consuming narratives in a whole new way by people around the world […]. By using terms like my(space), you(tube) or face(book) we see combinations of the personal expression and the mediational means used in an integrated way« (Erstad/v. Wertsch 2008: 32). In diesem Kapitel sollen die strukturellen Merkmale digitaler Medien, soweit sie für das Geschichtenerzählen, also für die Produktion von Geschichten im und über das Netz relevant sind, genauer untersucht werden. Es ist zu diesem Zweck erforderlich, sich grundsätzlich mit dem Wesen von Objekten und Medien auseinanderzusetzen, wobei auch Fragen von Raum und Zeit berührt werden. Insofern stellen sich Bezüge zu den Ausführungen über Raum und Zeit im ersten Kapitel her, die im Hinblick auf digitale Medien spezifiziert werden. Um die Komplexität digitaler Erzählräume gerecht zu werden, muss sich die Argumentation manchmal etwas von dem Thema Erzählen entfernen.
2.1 Z ur soziokulturellen A ufl adung von M edien Die Antwort auf die Frage, was ein Medium ist, erschließt sich über den Objektbegriff im Anschluss an Roland Barthes, Mihály Cszíkszentmihályi und Eugene Rochberg-Halton. Medien können in das Spektrum der von Menschen
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Das narrative Subjekt — Erzählen im Zeitalter des Internets
hergestellten Objekte eingereiht werden im Unterschied zu Objekten, denen kein menschlicher Herstellungsprozess vorausgeht, wie wir das häufig für die Objekte der Natur annehmen, jedenfalls wenn wir von »Naturdingen« (Arendt 1960: 136) im Sinne von Hannah Arendt sprechen. »Naturdinge« wachsen nach Arendt aus sich heraus (ebd.) im Unterschied zu den Kulturdingen bzw. Kulturobjekten, die den Gegenstand der hier geführten Diskussion bilden. Nach Barthes werden Objekte, so es sich um hergestellte Produkte handelt, im Prozess ihrer Herstellung bestimmten Herstellungs- und Qualitätsnormen unterworfen; es fließen Ideen in diesen Prozess ein, die sich mit den Objekten millionenfach verbreiten wie z.B. Ideen der Zeitmessung und Rationalisierung des Lebens mit der Uhr (Barthes 1988: 189). Das Einfließen von Ideen in den Herstellungsprozess und in das Hergestellte bedeutet, dass Prozess und Produkt soziokulturell aufgeladen werden; anders gesagt, sie werden sinn-voll. Da Sinn nach Barthes stets mit Sprache verbunden ist, betrachtet er Objekte auch als »strukturierte Zeichensysteme« (a.a.O.: 188). Objekte dienen Barthes zufolge nicht nur zu etwas z.B. dazu, auf die Welt einzuwirken; sie sind auch dazu da, um etwas mitzuteilen (a.a.O.: 189). Barthes verdeutlicht diese These am Beispiel eines Füllfederhalters, der nicht nur zum Schreiben dient, sondern auch einen bestimmten Sinn von Reichtum, Einfachheit, Seriosität, Phantasie zur Schau stellt (a.a.O.: 190). Die objekttheoretischen Ausführungen von Barthes haben eine große Nähe zum Ansatz von Cszíkszentmihályi und Rochberg-Halton, die die physische Existenz von Objekten als Resultat der »attentiven und intentionalen Leistungen« (Cszíkszentmihályi/Rochberg-Halton 1989: 32) der Menschen beschreiben, die diese Objekte hergestellt haben. Objekte und menschliches Subjekt sind vielfach miteinander verbunden. Einerseits verdanken Objekte ihre Existenz den Intentionen menschlicher Akteur_innen, um andererseits als Verkörperungen dieser Intentionen der Existenz dieser Akteur_innen Sinn zu verleihen. Wie Cszíkszentmihályi/Rochberg-Halton ausführen, bilden Objekte wesentliche Bestandteile von Rollen. Nur schwerlich kann man sich nach Cszíkszentmihályi/Rochberg-Halton einen König ohne Thron, einen Richter ohne Richterbank oder einen Professor ohne Lehrstuhl vorstellen (ebd.). Mit dem Verweis auf soziale Rollen machen Cszíkszentmihályi/Rochberg-Halton im Unterschied zu Barthes deutlich, dass Objekte für sie auch einen gesellschaftlichen Charakter haben. Sie bekräftigen dies, indem sie in Anlehnung an George Herbert Mead formulieren, dass Objekte als Elemente des »verallgemeinerten Anderen« fungieren können (a.a.O.: 67). Unter diesem Terminus versteht Mead, wie bereits erwähnt, »die Haltungen der organisierten gesellschaftlichen Gruppen, zu der er (der Einzelne, d.A.) gehört« (Mead 1973: 197). Diese Haltungen gewinnen an Relevanz, wenn sie der Einzelne als Haltung sich selbst gegenüber einnimmt und mit diesen Haltungen interagiert. Objekte konfrontieren nach Cszíkszentmihályi/Rochberg-Halton und Mead das
2. Erzählraum Internet
Subjekt mit dem gesellschaftlichen Prozess und fordern die Auseinandersetzung mit diesem Prozess heraus, wie ich anhand der Geschichten von Netzakteur_innen und Blogger_innen an späterer Stelle konkretisieren werde. Um es nochmals zu betonen: Der »verallgemeinerte Andere« (a.a.O.: 196) tritt nicht nur in Gestalt menschlicher Subjekte in Erscheinung, sondern auch in Gestalt der von ihnen hergestellten Objekte. Nicht nachvollziehbar ist für mich, warum sowohl Barthes als auch Cszíkszentmihályi/Rochberg-Halton den Objektbegriff auf materielle Gegenstände beschränken. Hergestellte Objekte, die sich aus den Intentionen, Ideen, Fantasien ihrer Hersteller_innen speisen, sind genauso gut als immaterielle Produkte denkbar. Auch Melodien, Rituale, Geschichten können aufgrund ihrer Genese als Objekte bezeichnet werden. Cszíkszentmihályi/Rochberg-Halton selbst liefern mit ihrer Zuordnung von Gegenständen zu gesellschaftlichen Rollen Beispiele für diese Annahme, sind doch der Thron, die Richterbank oder der Lehrstuhl heutzutage oft nur noch Symbole. Ich lege meinem Versuch, digitale Medien als spezifische Objekte zu definieren, diesen erweiterten Objektbegriff, der sich auf materielle und immaterielle Objekte bezieht, zugrunde, denn diese Erweiterung erlaubt mir, digitale Medien, die sich aus materiellen und immateriellen Elementen zusammensetzen, als Objekte zu erfassen. An den in Anlehnung an Barthes und Cszíkszentmihályi/Rochberg-Halton entwickelten Objektbegriff schließt der Medienbegriff des Medienwissenschaftlers Marshall McLuhan an. McLuhan fasst seinen Medienbegriff in der Aussage zusammen: »Das Medium ist die Botschaft« (McLuhan 1968: 21). Die mediale Botschaft ist nach McLuhan »die Veränderung des Maßstabs, Tempos, Schemas, die es (das Medium, d.A.) der Situation des Menschen bringt« (a.a.O.: 23). So hat z.B. die Erfindung des Autos (der McLuhan’sche Medienbegriff erfasst auch die Technik als Medium) die Idee der Mobilität forciert, die Automation, die Idee der Befreiung von körperlicher Arbeit, der Dokumentarfilm, die Idee der Archivierung von Wissen, das Internet u.a. die Idee körperloser Präsenz. McLuhan betont als Botschaft von Medien vor allem die Erweiterung unserer Sinne (a.a.O.: 22) z.B. des Gesichtssinns durch das Fernrohr oder des Hörsinns durch Hörgeräte und Lautsprecher. Das Einfließen von Ideen in die Konstruktion und Gestaltung von Medien macht sie zu Objekten im eingangs definierten Sinn. McLuhan hat darauf hingewiesen, dass jedes Medium ein weiteres Medium zum Inhalt hat; der Film z.B. habe einen Roman, ein Schauspiel oder eine Oper zum Inhalt (a.a.O.: 38). Digitale Medien haben u.a. Erzählungen zum Inhalt; Erzählungen wiederum haben das Medium Sprache zum Inhalt. Der McLuhan’sche Medienbegriff setzt sich von der Auffassung ab, dass es für die Wirkung eines Mediums entscheidend sei, wie man das Medium verwendet (a.a.O.: 37). Wenn McLuhan zudem andeutet, dass sich diese Wir-
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kung unabhängig vom Inhalt oder Transportgut entfalte (a.a.O.: 23), scheint es, als ob er den Medien eine absolute Autonomie zuschreibt. Diesen Anschein negiert er jedoch wieder, wenn er formuliert, dass »kein Medium Sinn oder Sein aus sich allein hat, sondern nur aus der ständigen Wechselwirkung mit anderen Medien« (a.a.O.: 50). Übertragen auf das Thema dieses Buches bedeutet das, dass sich sowohl der Sinn digitaler Medien als auch der Sinn medialer bzw. medienbezogener Geschichten durch die Wechselwirkung zwischen den Medien – hier zwischen digitalen Medien und den Geschichten im und über das Netz – konstituiert. Des Weiteren kontrastiert der McLuhan’sche Medienbegriff zu einem Medienbegriff, den Stefan Weber im Rückgriff auf Reinhard Margreiter (Weber 2001: 22; Margreiter 1999) vorstellt. Nach Weber/Margreiter muss »ein Medium Aspekte der Mitte, des Mittels, der Vermittlung und des Vermittelten enthalten, um im medienwissenschaftlichen Sinn ein Medium zu sein« (Weber 2001: 20). Das Medium als Mitte zu betrachten heißt, es zwischen Sender und Empfänger anzusiedeln. Werden Medien als Mittel beschrieben, so werden sie als Träger von Informationen definiert; der Aspekt der Vermittlung betont den Transport und die Regeln des Transports von Information bzw. Wissen und der Aspekt des Vermittelten bezeichnet das Transportgut (a.a.O.: 24ff.). Die genannten Aspekte stellen zwar Facetten von Medien dar, aber nach McLuhan erschöpft sich deren Wesen nicht in diesen Facetten. Medien bilden nicht einfach nur eine Mitte zwischen Sender und Empfänger; sie sind selbst Sender, wenn man der These »das Medium ist die Botschaft« folgt. Sie sind aus diesem Grund auch nicht nur Mittel, denn sie verkörpern selbst Inhalt. Die Begriffe Vermittlung und Vermitteltes implizieren darüber hinaus etwas Starres; sie erwecken den Anschein, als ob ein bestimmter Inhalt unverändert von A nach B geht und berücksichtigen damit zu wenig die Interaktion zwischen Medien sowie zwischen Medien und Subjekt. Stefan Weber erkennt die einschränkende Implikation der Begriffe Vermittlung und Vermitteltes und räumt ein, dass die Input/Output-Transformation letztlich kontingent ist (a.a.O.: 26), ohne jedoch die Begriffe Vermittlung und Vermitteltes aufzugeben. Für McLuhan sind die schon angesprochenen Wechselwirkungen zwischen Medien z.B. zwischen technischen Artefakten und Content entscheidend für die Sinnkonstitution beider Medien (McLuhan 1968: 50). Die Kommunikationswissenschaftlerin Irene Neverla argumentiert in dieselbe Richtung, wenn sie aus konstruktivistischer Perspektive Medien weder »als naives Mittel der Sinneserweiterung (definiert, d.A.), noch (als) technokratisches Instrument zur Weltgestaltung« (Neverla 1998: 28) beschreibt. Sie definiert: »Das Medium ist Ausdruck der Synthese von Mensch und Maschine, ist vergesellschaftete Natur« (ebd.). Mit dem im Vorangegangenen explizierten Objektbegriff nach Barthes und Cszíkszentmihályi/Rochberg-Halton sowie mit dem Medienbegriff nach
2. Erzählraum Internet
McLuhan lässt sich begründen, warum das Internet als Erzählraum charakterisiert werden kann, warum sich auch hier die Verbindung zwischen Erzählung und Raum zeigt, wie ich sie im ersten Kapitel grundsätzlich sowie am Beispiel des Waschplatzes und des Kaffeehauses aufzuzeigen versuchte. Digitale Medien konstituieren sich im Zusammenspiel zwischen materiellen und immateriellen technischen Gegebenheiten und kulturellen Codes in Form von Ideen, Regeln, Normen als Produkt des Erzählens, um sich unverzüglich in ein Gehäuse des Erzählens zu verwandeln, das auch für das Erzählen über das Netz einen Rahmen bildet. Wir können den Erzählraum Internet mit einem hybriden Raumbegriff erfassen, der auf Räume als technisch-kulturelle Mischungen abstellt, deren Bestandteile sich »wechselseitig bedingen, gegenseitig durchdringen und ineinander abbilden« (Maresch/Werber 2002: 13). Der Erzählraum Internet schreibt wie jeder Raum mit an den Gedanken und Erzählungen, unabhängig davon, ob diese in diesem Raum oder in Bezug auf diesen Raum entfaltet werden. Er inspiriert, feuert an, erweitert den gedanklichen Horizont und setzt seine Grenzen z.B. durch die Limitierung von Wortbeiträgen wie auf der Plattform Twitter, auf der Tweets auf maximal 140 Zeichen begrenzt sind. Im Kontext dieser Möglichkeiten und Grenzen spielt sich heutzutage ein Teil des Lebens von immer mehr Menschen ab. Um das Werden und Wachsen von Menschen zu verstehen, muss man nach Cszíkszentmihályi/Rochberg-Halton das Geschehen zwischen den Menschen und ihren Objekten verstehen (Cszíkszentmihályi/Rochberg-Halton 1989: 21). Diese Forderung liegt diesem Kapitel als Leitidee zugrunde. Die folgende Analyse der strukturellen Merkmale digitaler Medien, mit denen das Netz das erzählende Subjekt konfrontiert, soll dazu beitragen, die Bedeutung eines relativ neuen Objekts für das heutige Subjekt und seine Geschichten zu erhellen.
2.2 S truk turmerkmale digitaler M edien Der Begriff Strukturmerkmale spielt auf die Intentionen bzw. auf die kulturellen Codes an, die in die digitalen Medien im Prozess ihrer Herstellung einfließen und die sich in der Wechselwirkung mit den Erzählungen im und über den virtuellen Raum realisieren. Es wird nicht der Anspruch erhoben, alle Strukturmerkmale einzubeziehen, sondern nur jene mit offensichtlich erzählrelevanten Implikationen. Es wird auch nicht behauptet, dass sich digitale Medien durch diese Merkmale grundsätzlich von bisherigen Medien unterscheiden. Vielmehr tauchen diese mehr oder weniger stark ausgeprägt auch schon als Merkmale von Printmedien oder audiovisuellen Medien auf. Jedoch unterscheiden sich Gestalt und Intensität dieser Merkmale im Kontext digitaler Medien, weshalb digitale Medien auch als neue Medien bezeichnet werden.
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2.2.1 Vernetzung Vernetzung ist nach Michael Andritzky und Thomas Hauer eine »elementare Eigenschaft aller höheren Systeme« (Andritzky/Hauer 2002: 13), die die historische Entwicklung der menschlichen Gemeinschaft seit jeher bestimmt. Das Vernetzungsprinzip ist der Natur entnommen, wo sich Vernetzung u.a. in Form von Pilzgeflechten, Spinnennetzen oder neuronalen Netzen der Großhirnrinde zeigt. Zu den ersten Transformationen des Vernetzungsprinzips von der Natur in die Kultur zählten die Technik des Mattenflechtens und Teppichwirkens, die nach Gottfried Semper als Urtechniken des Bauens gelten (Semper 1860: 228ff.). Aus den daraus entstandenen Flechtwerken wurden einst Häuser und Dächer gebaut oder das Innere eines Hauses gegliedert. Davon zeugen Dokumente der chinesischen Baukunst, die bis ins Jahr 2698 vor Christus zurückreichen. Bei Semper heißt es: »Die inneren Abteilungen der häuslichen Einrichtung sind beweglich, meistens wirkliche an der Wand herabhängende Teppiche, oder durchaus Gitterwerk oder hölzerne mit Scharnieren aneinander befestigte Tafeln, die beliebig aufgestellt werden können, oder ähnlich feste Scherwände, die aber den Charakter dieser Teppiche und spanischen Wände kund geben« (ebd.).
Netzwerke sind multifunktional; sie schützen und gliedern. Sie fangen auf, verbinden; man kann sich in ihnen aber auch verfangen. Nicht zuletzt aufgrund dieser Multifunktionalität ist die Vernetzung zu einer »Kulturtechnik ersten Ranges« (Böhme 2004: 26) geworden, auf der auch eines der modernsten Netzwerke basiert: das Internet. Die digitale Vernetzung zeigt sich im Internet auf vier Ebenen (Schmidt 2009: 177; Weber 2001: 20): (1) in den digital gestützten Beziehungen zwischen den Netzakteur_innen (soziale Ebene), (2) in der Verlinkung digitaler Textbausteine (textuelle Ebene), (3) in der Verkoppelung einzelner digitaler Geräte (technische Ebene), (4) in den Beziehungen zwischen Netzakteur_innen und Computern (technisch-soziale Ebene). Es handelt sich um eine analytische Trennung der Ebenen, denn häufig sind die Ebenen miteinander vernetzt. Die Vernetzung zwischen Akteur_innen oder zwischen Texten ist z.B. nicht ohne eine Vernetzung mit dem Computer denkbar. Vernetzen können sich sowohl materielle Dinge, immaterielle Phänomene als auch materielle mit immateriellen Einheiten (Böhme 2004: 17). Ein viel diskutiertes Produkt der Vernetzung der verschiedenen Ebenen ist der
2. Erzählraum Internet
Hypertext. Hypertexte entstehen durch das Anklicken von »anchor-links«1, wodurch eine neue Seite aufgerufen wird (Bolter 1997: 43), die in einem inhaltlichen Zusammenhang mit dem vorangegangenen Textbaustein steht. Theodor Nelson hatte den Terminus »Hypertext« Mitte der 60er Jahre eingeführt und bezeichnete damit ein »nicht sequentielles Schreiben/Lesen« (Yoo 2007: 40). Moderne Vorstellungen von Hypertexten als globale Archive waren durch die Computernetzwerke überhaupt erst möglich geworden (a.a.O.: 42). Durch das World Wide Web, das Mitte der 90er Jahre in Erscheinung trat, ist es nach Hyon-Jao Yoo zu einer Hypertext-Explosion gekommen (a.a.O.: 43). Mit Hilfe des Verbindungsprotokolls des World Wide Web können beliebig viele Textfragmente zu einem neuen Text zusammengefügt werden. So diese Textbausteine Erzählungen enthalten, können aus einer Erzählung oder einem Erzählfragment viele verschiedene Erzählungen entstehen, die individuell-kollektive Produkte darstellen. Bei der Entstehung von Hypertexten spielen technische, textuelle und soziale Ebene zusammen. Vernetzung ist eine bestimmte Art der Raumorganisation (Böhme 2004: 25), die allgemein ausgedrückt folgende Elemente umfasst: Fäden, Knoten und das Dazwischen. Die Fäden digitaler Netzwerke können »materieller oder immaterieller, technischer oder thematischer, sichtbarer oder unsichtbarer Natur sein« (Weber 2001: 69). Es kann sich um dicke oder dünne Fäden, um feste oder brüchige Fäden, um Hauptstränge und Nebenverbindungen handeln. Als digitale Fäden können die Glasfaserkabel, die die Daten transportieren, die Diskussionsstränge, Threads und Links betrachtet werden (Bolter 2001: 69). Allerdings macht eine bestimmte Anzahl von Fäden noch kein Netz aus, sondern erst ihre Anordnung und Organisation. Dies erfolgt im digitalen Raum durch das Kreuzen und Verknüpfen der Fäden. Die Verknüpfung von mindestens zwei Fäden ergibt einen Knoten, viele Knoten ergeben ein Netz (Weber 2001: 72). Computertechnische Knoten sind nach Stefan Weber Hosts, Server oder einzelne Computer; soziale Knoten sind die Netzakteur_innen, textuelle Knoten einzelne Texte (a.a.O.: 72). Knoten sind stets Orte der Berührung, der Transformation und des Austausches (ebd.). Knoten und Fäden heben sich von etwas ab, das ein Nicht-Netz ist (Böhme 2004: 21f.; Krämer 1997: 99). Netze sind gerade dadurch Netze, dass sie keine Flächen abdecken, sondern sich von einem Dazwischen abheben (Böhme 2004: 21). Was aber ist dieses Dazwischen? Hartmut Böhme räumt ein, dass das Dazwischen sprachlich schwer zu fassen ist. Es hat für ihn etwas Inkommensurables, Ausdruckloses, Chaotisches, Amorphes (a.a.O.: 22). Wenn das Netz eine Ordnung darstelle, dann ist das Dazwischen eine Unordnung, die die Ordnung umgibt und immer wieder bedroht (ebd.). Kommunikative Aspekte der Unordnung in digitalen Netzwerken können Beiträge von Netz1 | Anchor-links sind untertrichene Sätze oder Worte in digitalen Texten.
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akteur_innen sein, die off-topic sind oder auch das Flaming und Mobbing in Netzen; technische Aspekte der Unordnung können Computerviren oder Netzattacken sein. Beide Arten von Unordnung bedrohen die Organisation und das Funktionieren des Netzes, wogegen sich dieses durch Regeln und spezifische Programme zu schützen sucht. Für mich bleibt dennoch die Frage, ob das Dazwischen nicht einfach als ein Loch zu sehen ist, durch das man fällt, wenn man entweder keinen Zugang zu den digitalen Netzwerken hat oder sich nicht einfügt in die Struktur des Netzes. Ersteres wird durch den Begriff des »digital divide« angesprochen, der auf den Ausschluss von Personengruppen aus den virtuellen Räumen aufgrund mangelnder ökonomischer, sprachlicher, technischer Ressourcen verweist. Letzteres kann erfolgen, wenn man gegen die Regeln des Netzwerks verstößt oder auch, wenn die eigenen Beiträge im Netz nicht wahrgenommen werden (Schmidt 2009: 181). Sowohl von den Personengruppen, die nicht im Netz vertreten sind, als auch von denjenigen, die nicht gehört werden oder die nicht die Regeln des Netzes adaptieren und deswegen ausgeschlossen werden, kann Unruhe ausgehen, die eine Art Unordnung im Böhm’schen Sinn schafft. Die Interpretation des Dazwischens als Loch steht insofern nicht prinzipiell gegen die Interpretation des Dazwischens als Ort der Unordnung. Fäden, Knoten und das Dazwischen ergeben ein Netz, das nach Hartmut Böhme hierarchisch oder heterarchisch gestaltet sein kann (Böhme 2004: 21). Hierarchische Netze sind unilinear aufgebaut wie das TV-Netz, heterarchische Netze sind interaktiv rückgekoppelte Netze ohne zentrale Instanz wie biologische Netze. Das Internet weist sowohl hierarchische Verbindungen z.B. zwischen Server und Nutzer als auch heterarchische Verbindungen z.B. prinzipiell zwischen den Akteur_innen in digitalen Netzen, so sie keine besondere administrative Funktion ausüben. Im Folgenden versuche ich die Implikationen der Vernetzung, die für das Erzählen im und über das Netz relevant sind, noch genauer zu bestimmen. Diese Implikationen spielen ineinander, weshalb sich eine Implikation oft nur durch Bezug auf eine andere Implikation erklären lässt. Redundanzen sind nicht ganz zu vermeiden. Die Analyse beschränkt sich auf digitale Netzwerke, soweit sie sich als heterarchische Netzwerke zeigen.
Reziprozität Heterarchische digitale Netzwerke zeichnen sich durch horizontale Beziehungen aus, die die Voraussetzung für die Reziprozitätsnorm bilden, d.h. für einen Wechsel von Geben und Nehmen (Frerichs/Wiemert 2002: 36). Das Geben und Nehmen kann im Kontext digital gestützten Erzählens bedeuten, dass die Einen erzählen und die Anderen auf die Erzählungen reagieren durch Kommentare oder eigene Erzählungen oder auch, dass sie zu Miterzähler_innen werden, wie im Falle einer Netzdiskussion mit dem Titel »Die Rose«. Ein Netz-
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akteur erzählte in dem Netzwerk Netlog die Geschichte einer Bettlerin, die eines Tages von einem vorbeigehenden Dichter statt eines Geldstücks eine Rose erhält; sie küsst die Hand des Dichters, steht auf und kehrt erst nach einer Woche zurück (http://de.netlog.com/groups, Zugriff April 2010). Der Dichter erklärt sich das Fernbleiben der Bettlerin damit, dass die Rose ein Geschenk für das Herz gewesen sei, von dem die Frau eine Woche zehren konnte. Andere Netzakteur_innen (vorwiegend männliche Migranten) schalten sich ein und erzählen die Geschichte weiter als eine Geschichte über den Wert materieller und immaterieller Geschenke, aus der, angestoßen von der Überlegung, ob Frauen zum Überleben auf Geschenke angewiesen sein sollten oder sich besser einen Mann suchen sollten, der für sie sorgt, eine Geschichte über das Verhältnis von Männern und Frauen und schließlich eine Geschichte über männliche Identität wird. Im Verlauf des Erzählens werden alle am Erzählprozess Beteiligten abwechselnd zu Gebern und Nehmern; sie spielen sich wechselseitig die Bälle zu, nehmen Ideen Anderer auf und versetzen sie mit eigenen Gedanken und Erfahrungen. Das Reziprozitätsprinzip realisiert sich in dieser Erzählung, indem sich die soziale Tauschlogik mit der Logik sozialer Kooperation bei der Entwicklung mehrerer Geschichten verknüpft (Messner 1997: 46). Diese Verknüpfung verweist auch auf Abhängigkeiten. Das Erzählen zielt darauf ab, dass etwas zurückkommt: Aufmerksamkeit, Anerkennung, Kommentare, Widerspruch, andere Geschichen.
Heterogenität/Vielheit Das Reziprozitätsprinzip kann nur funktionieren, wenn das digitale Netzwerk Heterogenität und Vielheit aufweist. Man könnte nichts geben, wenn man nur das Gleiche anbieten könnte. Das Gleiche zu geben, was man bekommen hat, ist in unserer Kultur tabuisiert. Wenn ich zum Geburtstag eine Vase geschenkt bekommen habe, kann ich dem Schenkenden zu seinem Geburtstag nicht dieselbe Vase schenken; ich muss zumindest eine andere Vase schenken, besser noch etwas ganz Anderes (Frerichs/Wiemert 2002: 37). Auch das Geben und Nehmen im Rahmen digitalen Erzählens baut auf Verschiedenheit. Die Anderen sind in ihrer Andersheit gefragt als Quelle neuer Impulse, was in digitalen Netzwerken, in denen sich Menschen verschiedenen Alters und Geschlechts, verschiedener sozialer und geografischer Herkunft versammeln, stärker als in lokal und national begrenzten oder milieuspezifischen Netzwerken gefördert wird.
Offenheit Eine weitere Bedingung für Reziprozität in digitalen Netzwerken ist, dass die Fäden und Knoten durchlässig sind, dass sich die Erzählenden von neuen Impulsen inspirieren lassen, dass ihre Erzählungen Anschlussmöglichkeiten bieten.
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Heterarchische Netzwerke weisen dem Netztheoretiker Dirk Messner zufolge lose Koppelungen auf (Messner 1997: 45) oder »weak ties«, wie Petra Frerichs und Heike Wiemert es nennen, die Durchlässigkeit und Öffnung signalisieren (a.a.O.: 25). Lose Koppelungen zeigen sich darin, dass der Erzählraum Internet beliebig viele Verknüpfungen von Texten zulässt, dass er es den Netzakteur_innen überlässt, was und wieviel sie erzählen sowie ob und wie sie auf die Erzählungen Anderer reagieren. Lose Koppelungen sind Hartmut Böhme zufolge offen für Unvorhergesehenes, Kontingentes, Neues (Böhme 2004: 32).
Dynamik Die beschriebene Offenheit des Erzählraums Internet gibt diesem einen Baustellencharakter (a.a.O.: 33). Das zeigt sich z.B. darin, dass Erzählungen über das eigene Selbst in Form von Selbstprofilen unvorhersehbare Reaktionen auslösen können, dass die von Einzelnen initiierten Erzählungen ein unberechenbares Projekt darstellen, weil ungewiss ist, wer welchen Textbaustein beim Weitererzählen hinzufügt. Erzählungen entfalten sich autopoietisch und evolutionär (a.a.O.: 19). Die Verknüpfungen der verschiedenen Ebenen Technik, Mensch, Text ist instabil, daher vorläufig und dynamisch. Das versetzt digitale Netzwerke, so lässt sich in Anlehnung an Hartmut Böhme sagen, in die Lage, Fehler, Störungen, Krisen zu verarbeiten (a.a.O.: 23). Digitale Netzwerke entwickeln sich in dieser Dynamik, die die Auseinandersetzung mit Störungen einschließt, weiter; sie gewinnen eine dynamische Identität, die sich nicht aus Fixpunkten speist, sondern aus immer wieder neuen Koppelungen (ebd.). Die Implikationen der Vernetzung lassen sich in einem metaphorischen Konzept zusammenfassen, das Gilles Deleuze und Felix Guattari formuliert haben: das Rhizom. Der Begriff Rhizom ist der Natur entnommen und bezeichnet einen unterirdisch wachsenden Wurzelspross, der sich permanent erneuert und sowohl eine Vielzahl an Wurzeln als auch oberirdische Triebe hervorbringt. Deleuze/Guattari verwenden den Begriff Rhizom zur Charakterisierung von dezentrierten, heterarchischen sozialen und kulturellen Prozessen, die sich miteinander verschränken und in dieser Verschränkung verändern und erneuern. Ein Rhizom kann an jeder beliebigen Stelle gebrochen werden; es wuchert entlang seiner eigenen oder anderer Linien weiter (Deleuze/Guattari 1977: 16) so wie Erzählungen im Netz in einem Erzählraum abgebrochen oder unterbrochen werden können, um in einem anderen Erzählraum oder zu einem anderen Zeitpunkt wieder aufgenommen und weiterentwickelt zu werden. Die Verschränkung verschiedener Prozesse oder Lebewesen, kurz das Rhizom-Machen, wie Deleuze/Guattari es nennen, vollzieht sich in einem Wechsel von Deterritorialisierung und Reterritorialisierung, den Deleuze/Guattari am Beispiel des Verhältnisses von Orchidee und Wespe so beschreiben: Die Orchidee deterritorialisiert sich, indem sie ein Bild formt, das der Wespe gleicht; die
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Wespe reterritorialisiert sich auf diesem Bild; dennoch deterritorialisiert sie sich, indem sie ein Stück im Reproduktionsapparat der Orchidee wird und reterritorialisiert die Orchidee, indem sie deren Blütenstaub transportiert (ebd.). Rhizom-Machen in digitalen Netzwerken bedeutet Empfangen von Codes in Form von Erzählimpulsen, Übernehmen und Verändern der Codes, Weitergeben der Codes und neues Empfangen. Der Prozess des Rhizom-Machens enthält alle Implikationen der Vernetzung, Reziprozität, Vielheit, Offenheit, Dynamik. Aus diesen Implikationen resultiert das Werden, das Wespe-Werden der Orchidee, das Orchidee-Werden der Wespe (ebd.), das Werden der Erzählungen, das Werden der Erzähler_innen, ja auch das Werden des Mediums. Das eine und das andere Werden sind miteinander verkettet. Rhizome grenzen sich von der Baumstruktur ab, die hierarchisch ist. Der Baum verkörpert nach Deleuze/Guattari eine Organisation, in der ein Element immer nur Informationen von einer höheren Einheit erhält (a.a.O.: 27). In Rhizomen dagegen gibt es keine festgelegten Verbindungen; sie bilden vielmehr »ein nicht zentriertes, nicht hierarchisches und nicht signifikantes System ohne General« (a.a.O.: 34).
2.2.2 Interaktivität Interaktivität bezeichnet ein weiteres Strkturmerkmal digitaler Medien, das bereits implizit in meine bisherigen Ausführungen eingeflossen ist. Vernetzung auch in einem globalen Sinn wäre nicht denkbar, wenn Menschen, Texte und Systeme nicht miteinander interagieren würden. Interaktivität ist aber keineswegs ein selbstverständliches Merkmal digitaler Medien; es verweist vielmehr auf »einen Sprung in der Medienevolution« (Leggewie/Bieber 2004: 14). Ist der Umgang mit Printmedien und audiovisuellen Medien, so sie noch nicht mit digitalen Medien verknüpft sind, durch Rezeption gekennzeichnet, erlauben digitale Medien, handelnd in die mediale Wirklichkeit einzugreifen (Ahrens 2003: 177; Sandbothe 1997: 66). Wer aber interagiert mit wem oder was? Das ist eine Frage, die nicht einheitlich beantwortet wird. Die Medienphilosophin Sybille Krämer spricht von einer »künstlichen Kommunikation« im Medium des Computers, »weil das, womit der Computernutzer interagiert, überhaupt nicht eine Person, sondern eine Maschine, genauer ein durch die Maschine medialisiertes Datenuniversum ist« (Krämer 1997: 92). In dieser Aussage ist noch ein menschlicher Akteur in Gestalt des Computernutzers enthalten; an anderer Stelle negiert sie auch diesen. Sie schreibt: »Sie (die Computernutzer, d. V.) agieren nicht als Person, sondern als Symbolketten […]« (a.a.O.: 97). Theoretisch betrachtet, kann man der These zustimmen, denn die menschlichen Akteur_innen sind online nur durch ihre Texte in Wort oder Bild präsent. Auf der Ebene des Erlebens der Netzakteur_innen spielt es jedoch eine große Rolle, wer hinter
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einem Text steht. Eine 12-jährige Netzakteurin macht das Verhältnis zwischen Text und Autor_in zu einer der Hauptfragen im Interview, wenn sie darüber nachdenkt, in welcher Weise der/die Autor_in im Text präsent ist, ob der Text wahre oder falsche Aussagen über den/die Autor_in enthält, ob eine »echte Freundschaft« und eine »echte Liebe« im Netz möglich sind, was für sie voraussetzt, dass man mit einer wirklichen Person interagiert. Die Überlegungen der 12-Jährigen verweisen auf eine Spannung zwischen Text und Autor_in. Je nachdem, wie sich der/die Autor_in zu seinem/ihrem Text verhält, ob er/sie darin sein »wahres Ich« zeigt oder nicht, ist der Text für die Netzakteurin »echt« und eine Interaktion mit dem/der Autor_in wichtig oder nicht. Die empirische Analyse medial gestützter bzw. -bezogener Erzählungen, die weder das Subjekt noch die Technik als Akteur ausschalten kann, verlangt nach einer Erweiterung der Differenzierung von Interaktivität in digitalen Netzwerken. Die erforderliche Richtung wird bereits durch die Differenzierung zwischen den Ebenen der Vernetzung angegeben. Entsprechend diesen Ebenen und in Anlehnung an Winfried Marotzki kann zwischen User-to-UserInteraction, zwischen User-to-Documents-Interaction und User-to-SystemInteraction unterschieden werden (Marotzki 2004: 119ff.). Ergänzen möchte ich diese Einteilung um die Documents-to-Documents-Interaction und die System-to-System-Interaction. Diese Differenzierung soll nicht suggerieren, dass sich die einzelnen Interaktionsformen in der Praxis klar voneinander unterscheiden lassen. Vielmehr enthält eine Interaktionsform immer auch Elemente anderer Interaktionsformen. Um es auf das Thema Erzählen zu übertragen: Wenn Netzgeschichten miteinander interagieren, weil sie zu einer größeren Geschichte zusammengebaut werden, dann agieren immer auch die Autor_innen dieser Geschichten, deren Handschrift die Geschichten tragen, miteinander und es interagieren technische Systeme miteinander, um die soziale und textuelle Interaktivität zu ermöglichen. Daraus kann man folgern, dass die eine Interaktionsform nicht ohne die andere funktioniert (Leggewie/ Bieber 1004: 8). Claus Leggewie und Christoph Bieber weisen darauf hin, dass häufig pseudo-interaktive mediale Anwendungen als interaktive Anwendungen angepriesen werden, z.B. wenn man zwischen einigen Menüpunkten auswählen kann (a.a.O.: 9). »Echte« Interaktivität verlangt, so Leggewie/Bieber »Einfluss auf Inhalt und Form, auf Ablauf und Dauer einer Kommunikation – und das heißt letztlich: die aktive De- und Reprogrammierung des ›Programms‹ sowie die offene und autonome Mitgestaltung der Netzwerkarchitektur« (ebd.). Auch wenn ich nicht davon ausgehe, dass Leggewie/Bieber den Eingriff in die Computersoftware als unverzichtbare Bedingung von Interaktivität betrachten, stellt diese Definition doch einen Idealtypus dar, der in Interaktion in und durch digitale(n) Netzwerke(n) nur mehr oder weniger erreicht werden kann.
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So werden der Autonomie des Einzelnen im Netz teils durch die Technik, teils durch die im Netz agierenden anderen Subjekte Grenzen gesetzt. Das Tempo eines Chats bedingt z.B., dass Beiträge kaum länger als eine Zeile sein können. Auf diese Begrenzung reagieren die Netzakteur_innen mit einer Palette von Kürzeln und Zeichen, sog. Smileys und Emoticons, die komplexe Gefühls- und Stimmungslagen wie Heiterkeit, Traurigkeit, Skepsis auf einen kurzen Nenner bringen (Tuschling 2009: 168). Eine andere Form der Autonomiebegrenzung erfuhr eine Netzakteurin, als sie auf die Businessliste des Netzwerks Webgrrls das Thema »Kinderbetreuung und Berufstätigkeit« setzte (Schachtner 2005: 186). Kinderbetreuung falle nicht unter das Thema Business und passe daher nicht auf diese Liste, schrieb die Moderatorin der Liste an die Netzakteurin. Andere Mitglieder der Liste wiesen dieses Feedback mit dem Argument zurück, die Sicherung der Kinderbetreuung sei eine Voraussetzung für die Berufstätigkeit von Frauen und gehöre daher sehr wohl auf die Businessliste. Es entzündete sich eine heftige Diskussion, in der die Frage verhandelt wurde, was als Angelegenheit des öffentlichen Interesses anzusehen ist (Fraser 1996: 169) und inwieweit dies von einzelnen Netzakteurinnen mitbestimmt werden könne. Um das Ausmaß der Einflussnahme auf die Gestaltung von Diskussionsforen ging es auch in der Diskussion »Verwarnung von Tomatensosse«, die vom 28.2.2010 bis 3.3.2010 im Netzwerk Netlog geführt wurde. Eine Teilnehmerin des Forums wurde vom Forumsmoderator verwarnt und schließlich für die Dauer von sieben Tagen von der Teilnahme am Forum ausgeschlossen, weil der Moderator die Beiträge der Teilnehmerin als OfftopicBeiträge einstufte, d.h. als Beiträge, die den Diskussionsverlauf stören (http:// forum.knuddels.de, Zugriff am 31.3.2010). Auch in der Diskussion über diese Maßnahme ging es um die Mitgestaltungsrechte der Netzakteur_innen, die von den Diskutant_innen als sehr bedeutsam eingeschätzt wurden. Interaktivität ist zwar auch in digitalen Netzwerken nicht unbegrenzt möglich, aber wenn es zu Begrenzungen kommt, so löst das engagierte Diskussionen aus. Die »autonome Mitgestaltung der Netzwerkarchitektur« (Leggewie/ Bieber 2004: 9) die Leggewie/Bieber als Kriterium von Interaktivität benennen, ist aus der Perspektive der Netzwerkakteur_innen eine immer wieder neu zu verhandelnde Angelegenheit. Welche erzählrelevanten Effekte zeitigt der interaktive Gebrauch digitaler Medien? Interaktivität kann sich auf das Erzählprodukt, auf die Gestaltung des Erzählens, auf das Erleben von Zeit und Raum beim Erzählen und auf den Status des erzählenden Subjekts auswirken. So können z.B. Textbausteine, worauf Mike Sandbothe verweist, zu einem komplexen Erzählnetzwerk verbunden werden (Sandbothe 1997: 70), sei es, dass der/die Erzähler_in in seinem/ihrem Blog verschiedene Textbausteine aneinanderreiht bzw. miteinander verschränkt oder dass der/die Leser_in Textbausteine aus verschiedenen Erzählungen zu einer neuen Erzählung zusammenfügt. Es entsteht ein dy-
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namisches, unbeschränkt vielen Veränderungen zugängliches Produkt. Das Erzählen – sei es in Form des Schreibens von Text oder des Ins-Netz-Stellens von Bildern erfolgt als eine öffentliche Aktivität, da es fast keinen zeitlichen Abstand zwischen dem Verfassen und Publizieren eines Textes gibt und das Netzwerk prinzipiell allen zugänglich ist, die in dem Netzwerk angemeldet sind. So die Erzähler_innen in ihren Erzählungen Hyperlinks setzen, können sie ungleich mehr Beziehungen zwischen ihren Gedanken, Erinnerungen, Fantasien öffentlich sichtbar machen, als sie es im Interesse eines nachvollziehbaren Erzählflusses beim mündlichen Erzählen tun könnten (Sandbothe 1997: 72). Unter hypertextuellen Bedingungen erfolgt das Erzählen darüber hinaus in Interaktion mit dem Denken und Schreiben anderer Netzakteur_innen, d.h. als kooperative Tätigkeit (Yoo 2007: 40). Wenn man sich vorstellt, dass die Kooperation auch Netzakteur_innen aus anderen Ländern und Kontinenten einschließen kann, dann erkennt man die Konsequenzen des Erzählens unter Hypertextbedingungen für die Dimensionen von Raum und Zeit in Erzählungen. Dominiert in Offline-Erzählungen das Nacheinander von Zeit, so können sich Online-Erzählungen in verschiedenen Zeitzonen nahezu gleichzeitig abspielen, z.B. wenn ein Erzähler im Netz seinen Teil der Geschichte auf den aktuellen Sommer in Europa bezieht, während ein gleichzeitig im Netz befindlicher Miterzähler aus Lateinamerika an der Geschichte anknüpft und die Szenen in den zur selben Zeit dort stattfindenden Winter verlagert evtl. in Kombination mit entsprechenden Bildern. Verschiedene Zeitzonen schieben sich in der von verschiedenen Erzähler_innen kooperativ produzierten Geschichte ineinander und mit diesen Zeitzonen überlagern sich auch Räume (Mitchell 1999: 234ff.). Die wechselseitigen Interaktionen – ob es sich um User-to-User-Interactions, um User-to-Documents-Interactions oder um User-to-System-Interactions handelt (Marotzki 2004: 119ff.) – machen die Netzakteur_innen gleichzeitig zu Sender_innen und Empfänger_innen. »Produsage« (Schmidt/ Paus-Hasebrink/Hasebrink 2009: 19). lautet der Begriff, der geprägt wurde, um diesen Statusmix zu charakterisieren. Was die User-to-User-Interaction angeht, so ist – wie Mike Sandbothe bemerkt – für die Interaktion mit Anderen nicht einmal die eigene Präsenz im Netz erforderlich. Ausgehend davon, dass meine Erzählung mein Ich repräsentiert, können andere via Erzählung mit mir auch in meiner Abwesenheit interagieren (Sandbothe 1997: 67).
2.2.3 Globalität Globalität ist als Merkmal digitaler Erzählräume eng mit dem Merkmal Vernetzung verknüpft. Für die digitale Vernetzung spielen räumliche Entfernungen auch über nationale Grenzen hinweg keine Rolle. Computernetzwerke machen jeden beliebigen Ort auf der Erdoberfläche zugänglich und vermögen ihn mit
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beliebig vielen anderen Orten zu verbinden (Mitchell 2005: 181; Ahrens 2003: 176). Territorialität stellt nach Norbert Bolz aufgrund dieser Entwicklung keine sinnvolle Sinngrenze mehr dar, weshalb er eine Tendenz zur »placeless society« prognostiziert (Bolz 2001: 38f.). Der US-amerikanische Architekt William J. Mitchell hingegen spricht im Zusammenhang mit der grenzüberschreitenden digitalen Vernetzung von einem Displacement; die technischen Geräte, die dies ermöglichen, bezeichnet er als »instruments of displacement« (Mitchell 2005, 182). Im Begriff des Displacement bleibt der Ort als Handlungskontext erhalten, aber er legt die Subjekte nicht auf einen bestimmten Ort fest. Die isolierende Wirkung eines Orts wird vielmehr durchbrochen (Ahrens 2003: 176); die Implikationen des Begriffs Displacement spielen darauf an, dass sich die Orte des Handelns verlagern, verschieben, verrücken und überlagern können. Digitale Vernetzung ist ein unverzichtbarer Bestandteil der Globalisierung; sie fördert weltweite wechselseitige Beziehungen auf ökonomischer, kultureller, politischer und sozialer Ebene (Nederveen 2008: 5). Für Mitchell ist das »unglaublich verwickelte Diagramm der Internetverbindungen das lebendigste Zeichen der Globalisierung« (Mitchell 2003: 11). Es funktioniert als Mittel und zugleich als Schauplatz der Globalisierung, indem es einen globalen Handlungs- und Kommunikationsraum zur Verfügung stellt (Sassen 1997: 231). In diesen Funktionen erfüllt sich die McLuhan’sche These, dass das Medium die Botschaft ist, d.h. dass es den Maßstab, das Tempo und das Schema verändert, den/das es der Situation der Menschen bringt (McLuhan 1968: 22). Der neue Maßstab, der durch jedes neue Medium eingeführt wird, bedingt nach McLuhan die Ausweitung von Subjektivität (a.a.O.: 21). Die digitalen Medien ermöglichen eine Ausweitung unseres kommunikativen Handelns in einem bislang ungekannten Ausmaß und in einem bislang ungekannten Tempo. Norbert Bolz bezeichnet die durch die digitalen Medien forcierte und geprägte Kommunikation als »Weltkommunikation«, womit er einerseits auf die Reichweite von Kommunikation verweist und andererseits auf deren gewachsene Bedeutung für die Wirklichkeitskonstitution, was er in dem Satz ausdrückt: »Die Welt ist alles, was kommuniziert wird« (Bolz 2001: 7). Die Ferne mischt sich, wie Daniela Ahrens festhält, als »agierende Ferne« (Ahrens 2003: 185) ein. Jedes Geschehen kann, egal wie weit voneinander entfernt die Akteur_innen in diesem Geschehen sind bzw. wie weit entfernt diejenigen sind, die das Geschehen kommunizieren, mittels digitaler Medien zu einem Nahereignis werden (ebd.). Das Potenzial digitaler Netzwerke, Kommunikation weltweit zu verweben, macht Globalität zu einem Strukturmerkmal dieser Netzwerke. Die »weltweite kommunikative Konnektivität« (Hepp 2006: 63) hebt den Wechsel von Deterritorialisierung und Reterritorialisierung, der in der Deleuz’schen Rhizommetapher angelegt ist, auf eine neue qualitative Stufe. Jenseits nationaler Grenzen bilden sich auf einer globalen virtuellen Bühne neue Kommunikationsmuster und kommunikative Verbindungen. Insofern kann
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man von einer Deterritorialisierung von Kommunikation sprechen. Gleichzeitig kommen die kommunikativen Inhalte irgendwo an; sie werden an verschiedenen Orten gelesen, adaptiert, vermengen sich mit dem Denken Anderer, werden neu durchmischt in Handeln übersetzt, ohne dass geografische Grenzen Einfluss auf die Rezeption nehmen. Sie verorten sich neu, werden anders gesagt, reterritorialisiert. Im Spannungsfeld zwischen Deterritorialisierung und Reterritorialisierung spielt sich ein Displacement von Ideen, Werten, Orientierungen ab. Netzakteur_innen rechnen, wie wir in der Studie »Kommunikative Öffentlichkeiten im Cyberspace« herausgefunden haben, mit der Globalität als Merkmal digitaler Netzwerke, wie dieser 26-jährige Netzakteur aus Saudi-Arabien, der erzählt: »There is something (das Internet, d.A.) very big out there. It’s not only limited to us«. Wenig später im Interview thematisiert der 26-Jährige das Internet als globalen Kommunikationsraum, »where interaction between Saudi Arabians and international community started to happen«. Auch eine 26-jährige jemenitische Bloggerin rechnet damit, dass ihre Tweets die nationalen Grenzen überwinden und in einem anderen Teil der Welt ankommen und dort etwas auslösen: »[…] we have a lot of stories, a lot of issues, a lot of aspects, a lot of faces that we want the world to know about. And it will be shocking the rest of the world to know that there is another side of Yemen except the terrorism side«. Die Bloggerin spricht in diesem Zitat die Möglichkeit an, dass Geschichten über ihr Land ein Displacement erfahren, dass sie jenseits des eigenen Territoriums wahr- und aufgenommen, also de- und reterritorialisiert werden. Den arabischen Netzakteur_innen war, wie wir in unserer Untersuchung feststellen konnten, die Globalität digitaler Netzwerke besonders wichtig, weil sie in ihr die Chance sahen, ihre territoriale Isolierung zu überwinden und dadurch ein anderes Bild von dem, was im eigenen Land vor sich geht, auf die virtuelle »Weltbühne« zu bringen. Für Netzakteur_innen dagegen, denen es darum ging, Freundschaften im Netz zu knüpfen und sich über ihren persönlichen Alltag auszutauschen, war die Globalität des Mediums kein Thema. Die Motive der Kommunikation im virtuellen Raum scheinen entscheidend dafür zu sein, inwieweit die globale Perspektive wahrgenommen wird. Aber auch wenn die Globalität des Mediums den Netzakteur_innen nicht bewusst ist, können ihre Beiträge auf digitalen Plattformen eine globale Wirkung entfalten, weil sie weltweit eingesehen werden können. Was bedeutet die globale Vernetzung für das Erzählen und die Erzählungen? Wie muss man sich die Konzepte Displacement, De- und Reterritorialisierung im Kontext des Erzählens und von Erzählungen vorstellen? Dem Zitat der jemenitischen Bloggerin kann entnommen werden, dass durch das Erzählen im Netz, Geschichten über ein Land aus ihrer territorialen Fixierung herausgelöst werden sollen in der Hoffnung, dass sie anderswo ankommen, also re-
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territorialisiert werden. In diesem Prozess des Displacements kommt es zur Berührung mit anderen Geschichten, durch die sich die Fremdbilder über ein Land verändern. Die Frage ist, wie sie sich verändern. Dies kann hier lediglich auf einer allgemeinen Ebene diskutiert werden. De- und Reterritorialisierung von Geschichten könnte sich mit Deleuze/Guattari gesprochen idealtypisch so abspielen, dass die in den Geschichten enthaltenen Codes von Netzakteur_innen anderswo aufgenommen werden, also in deren Denken integriert werden, aber dabei entsprechend den Bedürfnissen und Erfahrungen der Anderen eine Verwandlung erfahren, um in der verwandelten Form wieder weitergegeben zu werden. Den Wechsel zwischen De- und Reterritorialisierung kann man sich als endlosen Prozess vorstellen. In der neueren medien- und kulturwissenschaftlichen Diskussion wird die Interaktion zwischen Bildern, Werten, Interpretationen, die unterschiedlichen kulturellen Kontexten entstammen, mittels der Begriffe von Transkulturalität und Transnationalität zu erfassen gesucht. Transkulturalität betont die kulturelle Dimension globaler Prozesse, Transnationalität die politische Dimension; die Begriffe sind jedoch nicht trennscharf. Für Jan Nederveen ist Transnationalität nichts Neues, jedoch habe sie, bedingt durch die Revolution im Bereich von Mobilität und digitaler Kommunikation, an Spielraum und Dichte zugenommen (Nederveen 2008: 5). Benjamin Jörissen, der von Transkulturalität spricht, betrachtet den Cyberspace geradezu als paradigmatisch für ein Verständnis von Transkulturalität, wie es Wolfgang Welsch vertritt (Jörissen 2002: 324). Welsch versteht unter Transkulturalität, dass Kulturen einander durchdringen und dadurch Kulturmixe entstehen (Welsch 2001: 263). Transkulturalität ist eine Absage an die Vorstellung von Kultur als homogene Einheit (a.a.O.: 260); vielmehr würden sich aus der Perspektive von Transkulturalität Eigen-Fremd-Differenzen auflösen (a.a.O.: 266). Ein transkulturaler Kulturbegriff, so kann man in Anlehnung an Andreas Hepp sagen, betont die Hybridität von Kulturen, d.h. die Vermischung von Ressourcen unterschiedlicher kultureller Kontexte (Hepp 2006: 75). Während sowohl Wolfgang Welsch als auch Jan Nederveen und Andreas Hepp ihr Augenmerk auf die Vermischung kultureller Elemente richten, hebt Ulrich Beck in seinem Konzept von Transnationalität das Akzeptieren von Differenzen als Bedingung für Kulturmixe hervor. Eine transnationale Perspektive ist nach Beck eine für Differenzen sensible Perspektive, die die Andersheit des Anderen registriert und respektiert (Beck 2004: 13). Jörissen sieht im Internet, wie erwähnt, einen Möglichkeitsraum für die Entfaltung von Transkulturalität im Sinne von Wolfgang Welsch. Bezogen auf das Erzählen im Netz bedeutet das, dass Geschichten aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten ineinander verwoben werden und mit diesen Geschichten auch die in ihnen enthaltenen kulturellen Codes. Es können neue Codes in Form neuer Wertmaßstäbe und Lebensmuster jenseits des einen oder ande-
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ren kulturellen Kontextes entstehen, die neue Geschichten kreieren. Vor dem Hintergrund solcher Möglichkeiten sind die konkreten Netzgeschichten zu betrachten. Die Hybridisierung des Erzählens und des Erzählten signalisiert ein vorläufiges Ergebnis transkulturaler Prozesse; es gibt vorgelagerte Phasen, die die Möglichkeit einer Hybridisierung einleiten, auf die Daniela Ahrens verweist. Eine dieser Bedingungen besteht darin, die Berührung mit Erzählungen aus anderen kulturellen Kontexten als Aufforderung zu verstehen, die eigenen Erzählungen auf globale Kommunikationsräume abzustimmen z.B. durch eine präzisierte Darstellung eigener Positionen (Ahrens 2003: 184). Eine andere ist es, dass ein Bewusstsein von einem »generalisierten Anderswo« (Meyrowitz 1998) entsteht, das den Netzakteur_innen ihre Sichtweise als eine unter vielen erscheinen lässt und das als Spiegel fungiert, in dem sie gegenüber dem Eigenen eine reflexive Haltung einnehmen (Ahrens 2003: 184). Praktiken der Reflexion dokumentieren, dass Globalität vor Ort erfahrbar geworden ist, ohne dass sie schon zum Bestandteil des eigenen Denkens wurde. Sie spiegeln die Bereitschaft wider, sich dem Anderen zu öffnen. Es kann aber auch anders kommen. Transkulturalität erschließt sich nicht auf geradlinigem Weg (Nederveen 2008: 7). Vielmehr ist dies ein holpriger Weg, der Abgrenzung, Aggression, Konflikt einschließt. Die Berührung mit dem Anderen kann eben nicht nur als Bereicherung, sondern auch als Bedrohung des Eigenen erlebt werden.
2.2.4 Multimedialität Multimedialität charakterisiert ein strukturelles Merkmal digitaler Erzählräume, das sich ebenso aus neuen technischen Möglichkeiten wie aus kulturellen Vorgaben speist. Multimedia, wie Frank Hartmann dieses Merkmal nennt, ist ein Schlagwort der 90er Jahre und steht für »Multiple Content Media« (Hartmann 2008: 8). Es verweist auf die »Integration multipler Medienformate wie Text, Bild, Animation, Video und Audio […]« (ebd.), die eine neue »komplexe Darstellungsoption« (a.a.O.: 9) eröffnet. Medien verfügen prinzipiell über veränderliche Strukturen; schon immer gab es Verflechtungen zwischen den erwähnten Medienformaten, schon immer versuchte man z.B. Texte mit Bildern zu illustrieren, ohne dass die Grenzen zwischen den Formaten in Frage gestellt wurden (Sandbothe 1997: 57). Mit den digitalen Datennetzen geraten die Grenzziehungen zwischen Bild, Wort, Schrift, Ton in Bewegung (ebd.). Die analoge Medienkultur wird mit Hilfe der Digitaltechnologie in ein multimediales Angebot überführt (Hartmann 2008: 9). Die Digitaltechnik ist nach Hartmann »die Betriebsgrundlage der Multimedia-Kultur« (a.a.O.: 8). Sie ermöglicht eine neue medientechnische Form: die Konvergenz der Kommunikationskanäle durch das Zusammenwachsen von Techniken der Telekommunikation und des Computers und die Integra-
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tion der medialen Formate wie Bild, Schrift, verbale Sprache durch multimodale Codierung (ebd.). Multimedialität spricht durch eine integrierte Medienanwendung stets unterschiedliche menschliche Sinne gleichzeitig an (a.a.O.: 19). Die verschiedenen medialen Formate werden mittels der Computertechnologie integriert und durch ein einziges Gerät angeboten (ebd.). So werden in den Computer, der selbst bereits ein Medium darstellt, weitere mediale Formate eingelagert, die sein mediales Potenzial erweitern, differenzieren und, wie später noch zu zeigen sein wird, zu neuen medialen Konvergenzen führen. Das Merkmal Multimedialität bedeutet für das in diesem Buch behandelte Thema »Erzählen im Zeitalter des Internets«, dass Geschichten dank der Digitaltechnik auf verschiedene Weise erzählt werden können, in Form von Text, Bild, Video, Sound (z.B. Podcasts oder digitale Musik). Ich beschränke mich im Hinblick auf das vorliegende empirische Datenmaterial auf die Erörterung der medialen Formate mündliche und schriftliche Sprache sowie Bild, deren Entstehen und Entwicklung der Erfindung der Computertechnik vorausgeht. Diese Formate gewinnen unter dem Einfluss der Computertechnologie spezifische Formen, was aber nicht bedeutet, dass die im Verlauf ihrer Genese in sie eingelagerten kulturellen Implikationen verschwinden.
Sprache, Schrift, Text Bis zur Jahrtausendwende waren die digitalen Medien vor allem Sprach- und Schreibmedien. Sie konstituierten sich als solche durch die Wechselwirkung zwischen digitaler Technik und verbaler Sprache, die im Bereich von Information und Kommunikation dominierte. Wenn man mit McLuhan davon ausgeht, wie bereits dargelegt, dass Medien aufgrund ihrer kulturellen Implikationen kognitive und soziale Prozesse beeinflussen (McLuhan 1968: 23), so gilt es nach der Genese und nach den Implikationen von Sprache und Schrift zu fragen. Was ist Sprache und was ist Schrift im Verhältnis zur Sprache? Sprache ist nach Susanne Langer das Resultat von Symbolbildung (Langer 1965: 50ff.). Das Gehirn übersetzt fortwährend das von den Sinnen gelieferte Material in Symbole, die unsere elementaren Ideen sind (a.a.O.: 50). Es wird, da es sich in einem beständigen Prozess der symbolischen Transformation von Erfahrungsdaten befindet, zu einem Springquell an Ideen (a.a.O.: 51). Das Sprechen ist die Vollendung dieses elementaren Prozesses im Gehirn (a.a.O.: 52). Die Lust am Sprechen rührt aus dem Bedürfnis nach Vollendung, zu der der Transformationsprozess drängt. Die Symbolisierung von Erfahrungen ist nach Langer vorbegrifflich, aber nicht vorrational (a.a.O.: 50). Sie ist vielmehr der Ausgangspunkt unseres Verstehens (ebd.). Die allmähliche Ansammlung verbaler Symbole führt zur Entwicklung von Sprache, durch deren Vermögen sich der Mensch über das Tier erhebt (a.a.O.: 34f.). Merleau-Ponty schließt an Langers Ansatz an, wenn er das Denken und Sprechen als voneinander nicht trennbar
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beschreibt: »Die Sprache setzt nicht das Denken voraus, sondern vollbringt es« (Merleau-Ponty 1966: 210). Für ihn ist das Denken keine innere Angelegenheit, die außerhalb der Welt und der Worte existieren könnte (a.a.O.: 217). Er verweist auf den »Redner, der nicht denkt, ehe er spricht, ja nicht einmal, während er spricht; sein Sprechen ist vielmehr selbst ein Denken« (a.a.O.: 212). Die Schrift ist nicht einfach nur sichtbar gemachte und räumlich fixierte Sprache (Krämer 2003: 158). Sybille Krämer vertritt sogar die These, dass gesprochene und verschriftlichte Sprache zwei verschiedene Medien darstellen (a.a.O.: 158ff.). Sie verweist darauf, dass »syntaktische Einheiten und ihre Relationen […] durch Leerstellen und Interpunktion überhaupt erst unterscheidbar (gemacht werden, d.A.)« (a.a.O.: 160). Folglich komme im Text nicht das Lautgeschehen zum Ausdruck, sondern Konzeptuelles wie grammatische Kategorisierungen sowie Relationen zwischen Gedanken und Argumentationsstrukturen (ebd.). Konzeptuelle Aspekte sind aus meiner Sicht der gesprochenen Sprache nicht völlig fremd, auch wenn die Verschriftlichung von Sprache einem ungleich größeren Druck ausgesetzt ist, sich an die institutionalisierten syntaktischen und grammatischen Regeln zu halten. Doch gilt dieser Druck nicht ungebrochen, wie am Beispiel der Veränderung verbaler Sprache im virtuellen Raum zu zeigen sein wird. Die verschriftlichte Sprache setzte sich im Zuge der Erfindung der Drucktechnik als Reproduktionstechnik zwischen dem 15. und 19. Jahrhundert gegenüber der mündlichen Sprache als kulturelles Leitmedium durch (Hartmann 2008: 22). Die Drucktechnik eröffnete bis dahin ungekannte Möglichkeiten der Vervielfältigung und Verbreitung von Texten und Wissen. Sie begründete die Lesbarkeit von Erfahrungen und prägte zugleich neuzeitliche Denkformen mit, die sich u.a. durch argumentative Logik, durch die Übertragung von Erfahrungen in abstrakte visuelle Kategorisierungen sowie durch zunehmende Abstraktion europäischer Sprachen (a.a.O.: 22ff.) auszeichnen. Schrift ist nicht nur ein Beschreibungsmittel, sondern zugleich »ein Werkzeug des Geistes, eine Denktechnik und ein Intelligenzverstärker« (Krämer 2003: 171). Durch die Erfindung der digitalen Medien als Schreib- und Kommunikationsmedien ist verschriftlichte Sprache nicht länger an Printmedien gebunden. Der neue technische Kontext sorgt dafür, dass sich die Gestaltungsmöglichkeiten von Sprache und Text verändern, je nachdem in welchem Anwendungsbereich des virtuellen Raums geschrieben und gelesen wird. Der Hypertext wurde bereits als eine neue Textform vorgestellt, die sich der Interaktivität und den Vernetzungsmöglichkeiten digitaler Medien verdankt. Hypertexte können aus selbst geschaffenen oder schon vorhandenen Textbausteinen zu einem Textgebilde zusammengestellt werden, das die lineare Struktur des Schreibens zumindest teilweise durchbricht. Blogs haben häufig die Gestalt von Hypertexten, weil sie ihren Autor_innen erlauben, verschiedene Ebenen der Mitteilung und des Ausdrucks miteinander zu verknüpfen.
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Anna Tuschling hat Chats, eine weitere digital gestützte Textform, untersucht (Tuschling 2009). Chats sind in Echtzeit geschriebene Kommunikationstexte, die sehr rasch entstehen, Sätze werden meist nicht zu Ende geführt, Fehler werden in Kauf genommen. Sie erinnern an das mündliche Sprechen; Leithäuser/Leicht charakterisieren Chats als ein »Schreibsprechen« (Leithäuser/Leicht 2001: 43). Stimme und Rede sind beim Chat entkoppelt (Tuschling 2009: 153). Nach Tuschling verschafft sich die digitale Technik in den Chats quasi als ein Drittes Gehör und beeinflusst mit ihrem Potenzial die Form des Schreibens und der Sprache (a.a.O.: 163). Unter den Bedingungen der medialen Computertechnik wird nicht nur das sogenannte Schreibsprechen befördert, die fehlende körperliche Präsenz führt auch dazu, dass der körperliche Ausdruck, der in Face-to-face-Begegnungen die mündliche Rede kommentiert, durch eine Palette von Kürzeln, Akronymen und Emoticons ersetzt wird oder anstelle körperlicher Signale der Nickname zum Schlüssel der Kontaktaufnahme wird (a.a.O.: 172). Körperlichkeit wird generell in der Online-Kommunikation verschriftlicht, was zur Bildung neuer Zeichen und Symbole führt bzw. bekannten einen neuen Stellenwert gibt. Wie Tuschling festgestellt hat, verändert sich im Medium des Chats aber nicht nur die Form des Schreibens und der Sprache, sondern auch deren Inhalt, wofür sie als Beleg das sogenannte Flaming anführt (a.a.O.: 173). Hierbei handelt es sich um gezielte Beleidigungen, aggressive Äußerungen und Provokationen, die unter den Bedingungen der im virtuellen Raum möglichen Anonymität zunehmen. Trotz neuer Formen von Sprache und Schreiben, die sich im Kontext digitaler Medien herausbilden, scheint es durchgängige kulturelle Implikationen verbaler Sprache zu geben, die Alfred Lorenzer veranlassten, Sprache als diskursiven Bedeutungsträger zu bezeichnen (Lorenzer 1981: 28). Diskursiv ist die Wortsprache, weil sie Ideen nacheinander aufreiht, obgleich Gegenstände ineinanderliegen; so wie Kleidungsstücke, die übereinander getragen werden, auf der Wäscheleine nebeneinander hängen« (ebd.). Der Verstehensprozess folgt nach Langer derselben sukzessiven Logik, indem »die durch Sprache übertragenen Bedeutungen nacheinander verstanden (werden) und dann durch den als Diskurs bezeichneten Vorgang zu einem Ganzen zusammengefasst […]« (Langer 1965: 103) werden. Sprache vermag aufgrund ihrer diskursiven Struktur logisch-deduktives, analytisches und perspektivisches Denken zu befördern (Hartmann 2008: 24). Sprache verbindet uns darüber hinaus mit anderen Menschen, weshalb sie als Voraussetzung für die Sozialität des Subjekts bezeichnet werden kann (Schade/Wenk 2011: 44). Sprache enthält aber auch Begrenzungen, weil sich unsere Gedanken der diskursiven Logik fügen müssen, ansonsten sind sie »unaussprechbar, mit Hilfe von Worten nicht mitteilbar« (Lorenzer 1981: 28). Es stellt sich allerdings die Frage, ob nicht neue Sprach- und Schreibformen wie der Hypertext das dis-
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kursive Denken zugunsten parallel laufender Denkprozesse verändern. Dieser Frage kann an dieser Stelle jedoch nicht nachgegangen werden.
Bilder Wie erwähnt dienten neben der Wortsprache von jeher Bilder als Träger von Informationen. Es gab sie als eigenständige Informationsträger wie z.B. die prähistorische Höhlenmalerei, als ornamentalen Schmuck liturgischer Handschriften oder als Bebilderung von Buchtexten, die diese ergänzen oder erhellen sollten. Im 19. Jahrhundert entstanden durch die Nutzung von Elektrizität und Elektromagnetismus neue Aufzeichnungsverfahren, durch die die Bedeutung von Bildern und Tönen (Funk und Fernsehen) neben der Schrift zunahm (Hartmann 2008: 16). Für die Übertragung von Bildern durch das Fernsehen, das nach 1945 etwa ab den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts in nahezu jeden Haushalt in westlichen Gesellschaften einzog2 spielten geografische Grenzen keine Rolle mehr. Die Fernsehbilder durchdrangen Wände; der physische Ort, an dem man sich befand, bedeutete keine Grenze der Wahrnehmung mehr (Meyrowitz 1990: 10f.). Der grenzüberschreitende Charakter medialer Bilder kennzeichnet auch die digitalen Medien, die sich zunächst als Schreibmedien etablierten, aber mit der Entstehung digitaler Netzwerke immer stärker auch als Bildmedien in Erscheinung traten. Im Unterschied zu Fernsehen und Radio erlauben sie jedem, der Zugang zu diesen Netzwerken hat, eigene Bilder ins Netz zu stellen. Das World Wide Web sorgt nicht nur dafür, dass der Zustrom von Bildern aus allen Teilen der Welt erfolgen kann, sondern auch für deren weltweite Sichtbarkeit. Bilder bestehen im Unterschied zur Sprache nicht aus Einheiten mit unabhängigen Bedeutungen; einzelne Elemente eines Bildes ergeben nur im Zusammenhang mit anderen Elementen einen Sinn. Die Licht- und Schattenseiten eines Fotos beispielsweise haben an sich keine Bedeutung (Lorenzer 1981: 28); sie werden erst in nicht zu beschreibender Kombination zu einem Gesamtbild. Lorenzer zählt Bilder ebenso wie Musik zu den präsentativen Bedeutungsträgern, die unmittelbar zu den Sinnen und zu den Gefühlen sprechen, die wir sehen oder hören können und die uns emotional berühren (Langer 1965: 102). Sie vermögen nach Langer aufzunehmen und sichtbar zu machen, was sich dem diskursiven Code widersetzt (a.a.O.: 51). Präsentative Bedeutungsträger gehen Lorenzer zufolge aus Szenen hervor, enthalten Entwürfe für szenisch entfaltete Lebenspraxis, beleuchten das In-der-Welt-Sein von Menschen (Lorenzer 1981: 31). Diese These belegen eindrucksvoll die Bildgalerien in digitalen Netzwerken, die von den Netzakteur_innen in der Absicht veröffentlicht werden, ihren Alltag in vielen verschiedenen Situationen für Andere sichtbar 2 | Während im Jahre 1960 nur 24 % der Bevölkerung in der BRD Zugang zu einem Fernseher hatte, waren es 1965 bereits 64 % und 1971 88 % (Köcher/Bruttel 2011: 15).
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zu machen. Laut Lorenzer können Wortbilder einem sichtbaren Gegenstand niemals so eng verbunden sein wie eine Fotografie ihrem Gegenstand (a.a.O.: 28). Das Porträt etwa enthalte einen »unglaublichen Reichtum an detaillierter Information« (ebd.). Christina von Braun beurteilt das Potenzial von Bildern skeptischer, weil diese, wie sie schreibt, »keine anderen Ebene als die des Sichtbaren haben«, können sie das, was hinter dem Sichtbaren liegt, nicht beschreiben (von Braun 1989: 128). Sie können, so behauptet von Braun, nicht das Grauen einer Wirklichkeit in KZs oder im Vietnamkrieg beschreiben. Die wahrheitsgetreue Wiedergabe der Wirklichkeit erweise sich vielmehr als ein besonders effektives Mittel, diese Wirklichkeit der Vorstellungswelt zu entziehen (a.a.O.: 118). Das nimmt von Braun möglicherweise deshalb an, weil die pure Wiedergabe keine Spielräume für Fantasie und Vorstellung lässt, die die Lücken des Sichtbaren ausfüllen. Das Unsichtbare kann nach von Braun treffender durch Sprache mitgeteilt werden als durch Bilder (a.a.O.: 127). Zu dieser Auffassung kontrastiert die Rede von der Macht der Bilder, die der Kunsthistoriker William J. Thomas Mitchell in seinem Buch »What Do Pictures Want?« (2005) aufgreift. Er versucht seine Idee von der Macht der Bilder zu verdeutlichen, indem er darauf hinweist, dass man davor zurückschrecken würde, das Foto der eigenen Mutter zu zerstören, obwohl klar ist, dass das Foto nicht lebt (Mitchell 2005: 31). Er verweist weiter auf die Werbung, deren Strategien der Annahme folgen, dass Bilder »Beine haben« (ebd.), d.h. über sich selbst hinauswirken und Bedürfnisse und Kaufentscheidungen lenken. Mitchell nimmt, wie er schreibt, eine »Subjektivierung von Bildern« (a.a.O.: 2) vor, d.h. er geht von einer sozialen und psychologischen Handlungsmacht der Bilder aus. Diese Handlungsmacht spricht auch aus einem Projekt, das am 6. 3. 2013 von 3SAT in einer Reportage mit dem Titel »Minamisanriku – Schicksal einer Stadt« vorgestellt wurde. Die japanische Stadt Minamisanriku war die vom Tsunami im Jahre 2011 am stärksten betroffene Stadt. Nach der Katastrophe begannen Hunderte von freiwilligen Helfern auf dem zerstörten Gelände nach Fotos zu suchen, auf denen Menschen abgebildet waren. Die gefundenen Fotos wurden einem aufwendigen Reinigungsprozess unterzogen und in einer Schule aufgehängt. Die Menschen aus der zerstörten Stadt gingen hin und suchten nach Fotos ihrer Familie, von der oft niemand oder nur wenige überlebt hatten. Die in der Sendung zu Wort kommenden Helfer waren von der Bedeutsamkeit ihres Tuns überzeugt, ohne dass sie diese begründet hätten. Sie rührt möglicherweise daher, dass diese Bilder eine der wenigen Verbindungen mit dem Leben vor der Katastrophe darstellen, dass sie die Erinnerung stimulieren und für die Überlebenden eine Kontinuität sichern, die für das Erleben eigener Kohärenz unverzichtbar ist.
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Die Handlungsmacht von Bildern ist nach Mitchell zur beherrschenden Idee einer visuellen Kultur geworden, die von Bildern dominiert ist und die durch die neuen Reproduktionstechniken zu einer realen technischen Möglichkeit wurde (Mitchell 1999: 15; Schade/Wenk 2011: 38). Im Hinblick auf diese Möglichkeit stellt Mitchell ein neues/altes Paradoxon fest, das er wie folgt beschreibt: »On the one hand, it seems overwhelmingly obvious that the era of video and cybernetic technology, the age of electronic reproduction, has developed new forms of visual simulation and illusionism with unprecedented powers. On the other hand, the fear of the image, the anxiety that the ›power of images‹ may finally destroy even their creators and manipulators, is as old as image-making itself« (ebd.).
Die Position von Mitchell in Bezug auf die Wirkkraft von Bildern steht nicht unbedingt im Widerspruch zu der Position von Christina von Braun. Während von Braun von Bildern spricht, die nur das Sichtbare ohne Andeutungen auf das Unsichtbare zeigen, hat Mitchell Bilder vor Augen, die Erinnerungen stimulieren, die über das Dargestellte hinausgehen oder mittels der sichtbaren Symbolik unsichtbare Intentionen verfolgen, die an bestimmte Wünsche und Träume appellieren. Von Braun und Mitchell scheinen sich auf unterschiedliche Arten von Bildern zu beziehen, die sich vor allem durch den Spielraum unterscheiden, den sie für Fantasien und Vorstellungen lassen. Von Braun stellt ähnliche Überlegungen wie Mitchell an, wenn sie von neuen Formen des Fotografierens berichtet, die den unsichtbaren Bildern einen Raum gewähren oder eröffnen, der den »inneren Blick« (von Braun 1989: 125) provoziert. Die Macht der Bilder resultiert, wenn ich die von Mitchell und von Christina von Braun angestellten Überlegungen zusammenfasse, vor allem aus dem, was sie nicht zeigen, das aber erst durch das, was sie zeigen, seine Wirksamkeit entfaltet.
Zum Verhältnis von Sprache und Bild Das an verschiedenen Stellen dieses Abschnitts angedeutete Verhältnis zwischen Wortsprache und Bild soll im Folgenden noch genauer betrachtet werden, vor allem im Hinblick auf den Status, den die beiden medialen Formate in unserer Kultur einnehmen und wie sich das Verhältnis dieser Formate in Zukunft gestalten könnte. Gemeinsam ist der Sprache und dem Bild nach Lorenzer, dass sie Produkte menschlicher Praxis sind und als solche Bedeutungen vermitteln (Lorenzer 1981: 30). Verschiedene Erfahrungen entsprechen verschiedene Typen der Bedeutungsvermittlung (Langer 1965: 53). Gleichwohl gelten die beiden Formate einem wissenschaftlichen Gemeinplatz zufolge, wie Sybille Krämer festhält, als »disjunke symbolische Ordnungen« (Krämer 2003: 157). Diese Annahme hat die Wahrnehmung von Sprache und Bild wesentlich auch jenseits der Wissenschaft geprägt. Hinzu kam, dass
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Sprache und Bild nicht nur als sich wechselseitig ausschließende mediale Formen betrachtet, sondern gegeneinander hierarchisch gesetzt wurden. In der westlichen Medienkultur wurde Frank Hartmann (Hartmann 2008: 21ff.) zufolge der Text privilegiert, während das Bild tendenziell abgewertet wurde, wofür er folgende Gründe anführt: • Die Lesbarkeit von Ideen und Erfahrungen gilt als publizistisches Ideal und als qualitativ höherwertig. • Was lesbar ist, gilt als informativ, während Bildformaten nur ein Unterhaltungswert zugesprochen wird. • Bilder gelten als leichter und schneller decodierbar und daher weniger komplex. • Bilder gelten als oberflächlich, während Texte als Medien der Differenzierung wahrgenommen werden. Das bis in die 80er Jahre hinein dominierende Textprivileg machte aus der Kulturwelt eine »Welt diskursiver Ideen und Sinnbezüge« (Krämer/Bredekamp 2003: 11). Kultur habe lange, »vielleicht allzu lang […] als Text« (ebd.) gegolten, kritisieren Krämer/Bredekamp. Der »linguistic turn«, d.h. die »Entdeckung der Sprache als eines archimedischen Punktes unseres Welt- und Selbstverständnisses« (ebd.) war Krämer/Bredekamp zufolge nur noch eine folgerichtige Besiegelung dieses Privilegs. Als nachteilige Konsequenz dieses Privilegs registrieren Krämer/Bredekamp eine Verkennung »der epistemischen Kraft des Bildes« (ebd.). Frank Hartmann weist allerdings darauf hin, dass es parallel zu der Privilegierung von Sprache und Text seit der Aufklärung angesichts des erkannten pädagogischen Werts von Bildern eine Ambivalenz hinsichtlich dieser Hierarchisierung gegeben habe. Die Aufmerksamkeit für Bilder hat sich, wie erwähnt, mit der Entstehung neuer Aufzeichnungsverfahren und erst recht durch die Entwicklung und Ausbreitung der Cybertechnologie ab den 90er Jahren erheblich verstärkt. Unter den neuen technischen Bedingungen kam es zu einer massenhaften Zirkulation von Bildern in nahezu allen relevanten gesellschaftlichen Bereichen wie Werbung, Beruf, Politik, Wissenschaft, Freizeit und Unterhaltung, was Schade/Wenk fragen lässt: »Gibt es eine visuelle Zeitenwende?« (Schade/Wenk 2011: 35). Mitte der 90er Jahre hat William J. Thomas Mitschell im Hinblick auf diesen Trend den Begriff des »pictorial turn« (Mitchell 1994: 11f.) eingeführt. Nach Mitchell ist dieser »turn« kein plötzlich aufgetretenes Phänomen. Er hat nach Mitchell seine Wurzeln in der angloamerikanischen Philosophie z.B. »in Charles Peirce’s semiotics and later in Nelson Goodman’s ›languages of art‹, both of which explore the conventions and codes that underlie nonlinguistic symbol systems and (more important) do not begin with the assumption that
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language is paradigmatic for meaning« (a.a.O.: 12). Im europäischen Raum sieht er die Wurzeln des »pictorial turn« u.a. in der Untersuchung der Massenkultur und der visuellen Medien durch die Frankfurter Schule sowie in den Überlegungen von Ludwig Wittgenstein zur strukturierenden Kraft der Bilder, die er in dem bekannt gewordenen Zitat wie folgt formuliert: »A picture held us captive. And we could not get aside, for it lay in our language and language seemed to repeat itself to us inexorably« (zit.n. Mitchell 1992: 12). Für Mitchell ist der »pictorial turn« eingebettet in ein Wechselspiel, das die Symbolik des Bildes auf gesellschaftliche Strukturen einerseits und auf das Erkenntnis- und Handlungspotenzial der Subjekte andererseits bezieht, wenn er definiert: »It is […] a postlinguistic, postsemiotic rediscovery of the picture as a complex interplay between visuality, apparatus, institutions, discourse, bodies, and figurality« (a.a.O.: 16). Mitchell konstatiert die Möglichkeit, dass sich angesichts der digitalen Reproduktionstechnik und der Durchdringung unserer Kultur von Bildern die Hierarchie zwischen Text und Bild in ihr Gegenteil verkehren könnte, dass das Bild zum beherrschenden Faktor in unserer Kultur wird (a.a.O.: 15). Bilder verschiedenster Art könnten zu einem riesigen Wandteppich miteinander verschmelzen wie er schreibt: »Vision, space, worldpictures, and art-pictures all weave together as a grand tapestry of ›symbolic forms‹ […]« (a.a.O.: 19). Die Annahme von der Dominanz des Bildes basiert jedoch auf einer nach wie vor gegebenen Trennung zwischen Text und Bild. Sie berücksichtigt noch nicht die integrative Funktion der Cybertechnologie und die sich daraus ergebenden multimedialen Anwendungen. Vor diesem Hintergrund sind neue »Verflechtungsverhältnisse« (Sandbothe 1997: 57) zwischen Text und Bild vorstellbar, wie sie sich bereits in der »multimedialen Hypertextualität« (a.a.O.: 58; Yoo 2007: 44) zeigen. Krämer/Bredekamp sehen in solchen Verflechtungsverhältnissen bereits einen neuen Modus der Reproduktion unserer Kultur, deren Vertextung an ihre Grenzen gestoßen ist (Krämer/ Bredekamp 2003: 15). Sie schreiben: »[…] im Wechselverhältnis zwischen dem Symbolischen und dem Technischen, zwischen dem Diskursiven und dem Ikonischen entstehen und reproduzieren sich Kulturen« (ebd.).
Mediale Bedeutungsträger und ihre Adressat _innen Sprache, Wortsprache und Bilder sind als Objektivationen menschlicher Praxis zwar bedeutungsvoll, doch die Realisierung dieser Bedeutungen ist davon abhängig, dasss sie einen Widerhall in einem menschlichen Gegenüber finden. Christina von Braun verweist, wie erwähnt, auf den »inneren Blick« (von Braun 1989: 125), von dem das Verstehen diskursiver und präsentativer Symbolik abhängig ist; für William J. Thomas Mitchell ist das Erkenntnis- und Handlungspotenzial der Subjekte ebenfalls eine Bedingung dafür, dass Texte und Bilder ihre Bedeutungen entfalten können (Mitchell 1994: 16). Die Erwartung an den menschlichen Widerhall ist in den Texten und Bildern bereits
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angelegt. Im Hinblick auf die in die Sprache eingelagerte Erwartung formuliert Jacques Lacan: »Jedes Sprechen appelliert an eine Antwort« (Lacan 1975: 84). Die metaphorische Illustration dieser These am Beispiel einer Tonscherbe, deren Bruchstellen exakt auf die Bruchstellen einer anderen Tonscherbe abgestimmt sind3, anders gesagt, die sich als Tessera erweisen, lässt sich auch auf die Rezeption von Bildern übertragen. Die Bilder, die die Netzakteur_innen im virtuellen Raum veröffentlichen, sollen die Aufmerksamkeit Anderer erregen ebenso wie die schriftlichen Blogeinträge. Ein 14-Jähriger4 sieht den Wert seines Blogs, den er als öffentliches Tagebuch führt, in diesem öffentlichen Charakter, der ihm ermöglicht, mehr Leute zu erreichen, die etwas zu seinen Einträgen sagen können oder die die gleichen Interessen haben. Der 14-Jährige setzt darauf, dass seine Einträge ihren Wert als Tessera beweisen. Es ist nicht selbstverständlich, dass Text- oder Bildeinträge auf ein interessiertes Gegenüber treffen. Was Roland Barthes in Bezug auf traditionelles Schreiben feststellte, gilt nicht weniger im virtuellen Raum: »Der Text, den ihr schreibt, muss mir beweisen, dass er mich begehrt« (Barthes 1992: 12). Möglicherweise ist in dem sog. like-button ein Versuch der Anbieter digitaler Netzwerke zu sehen, das Tessera-Potenzial von Texten und Bildern abzufragen und zu dokumentieren. Mit Alfred Lorenzer kann man davon ausgehen, dass sich die subjektiven Antworten auf Texte als sprachsymbolische und auf Bilder als sinnlich-symbolische Interaktionsformen entfalten (Lorenzer 1981: 159ff.). Sprachsymbolische Interaktionsformen dienen dazu, Sprachzeichen und Textstrukturen zu entziffern und zu verstehen, während sich sinnlich-symbolische Interaktionsformen dem sinnlichen und emotionalen Gehalt einer präsentativen Symbolik, wie sie uns in Bildern entgegenkommt, öffnet. Auch Mitchell geht davon aus, dass die Entfaltung der Bedeutung von Texten und Bildern erstens eines Gegenübers bedarf und zweitens, dass sich die Antworten des Gegenübers auf Texte oder Bilder nicht aufeinander reduzieren lassen. Er schreibt: »It is the realization that spectatorship (the look, the gaze, the glance, the practices of observation, surveillance, and visual pleasure) may be as deep a problem as various forms of reading (decipherment, decoding, interpretation etc.) and that visual experience or ›visual literacy‹ might not be fully explicable on the model of textuality« (Mitchell 1994: 16).
3 | Mehr zur Funktion von Texten als Tonscherben bzw. Tessera s. unter »Erzählen als Öffnung zum Du«. 4 | Interviewpartner in der Studie »Kommunikative Öffentlichkeiten im Cyberspace«.
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Für Lorenzer entfalten sich sprach- und sinnlich-symbolische Interaktionsformen nicht als bloße Mimesis. Diese sind vielmehr Teil eines Interaktionsspiels; die Bedeutungen von Texten und Bildern gehen nicht umstandslos in die Köpfe ihrer Leser_innen und Betrachter_innen ein (Lorenzer 1981: 156). Sie werden in dem genannten Interaktionsspiel interpretiert, akzentuiert, selektiert, relativiert. Das Sehen beispielweise gestaltet sich nach Hoffmann-Axthelm als aktive Sinnesleistung, die nicht bloß registriert, sondern definiert (Hoffmann-Axthelm 1984: 35f.). Das Lesen und Hören werden von Roland Barthes ebenfalls als interaktive Tätigkeit beschrieben: »[…] lesen heißt benennen; zuhören heißt nicht nur, eine Sprache vernehmen, sondern sie auch konstruieren« (Barthes 1988: 119). Wenn sich, wie beschrieben, im virtuellen Raum die Grenzen zwischen Text und Bild verflüssigen, wenn neue mediale Verflechtungsverhältnisse entstehen, die eingangs als Multimedialität charakterisiert wurden, dann geraten auch die Trennlinien zwischen sprachsymbolischen und sinnlich-symbolischen Interaktionsformen in Bewegung, die den Texten und Bildern antworten. Erforderlich sind auf Seiten der Adressat_innen neue Kombinationen aus strategischen Operationen und emotional-sinnlichen Äußerungsformen, die sich die Erlebnisbedeutung präsentativer und diskursiver Symbolik nicht nur erschließen, sondern ihr auch aktiv zu antworten vermögen.
2.2.5 Virtualität In Afrika kommt es vor, so berichtet Marce Augé, dass ein Kind, das zufällig außerhalb des Dorfes geboren wird, einen besonderen Namen erhält, der auf ein Element jenes Terrains verweist, wo es zur Welt kam (Augé 1992: 65). Der physikalischen Realität kommt in der von Augé geschilderten Tradition eine existentielle Funktion zu; sie schreibt sich dauerhaft in das menschliche Sein ein, wird zum Erkennungszeichen menschlicher Identität. Orte haben, wie bereits in dem Kapitel über Räume als Kontexte des Erzählens erläutert, über zeitliche Epochen und kulturelle Grenzen hinweg eine hohe Bedeutung für menschliches Erleben und Handeln. Neben den physikalischen Orten haben sich mit zunehmender Mediatisierung der Gesellschaften, die sich in den industrialisierten Zonen der Welt rascher vollzog als in nicht-industrialisierten, agrarischen Gebieten, Räume herausgebildet, die als virtuelle Räume bezeichnet werden. In welchem Verhältnis stehen die virtuellen Räume zu den physikalischen? Wie werden sie vom menschlichen Subjekt erlebt? Welcher Wirklichkeitsstatus kommt ihnen zu? Können sie eine vergleichbare Bedeutung gewinnen wie der physikalische Ort in dem eingangs geschilderten Beispiel? Virtualisierung ist ein weiteres Strukturmerkmal digitaler Erzählräume, mit dem ich mich am Ende dieses Kapitels auseinandersetze.
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Zum Verhältnis von Virtualität und Realität Jean Baudrillard hat sein Forschungsinteresse bereits in den 70er Jahren angesichts der von ihm wahrgenommenen Ausbreitung medialer Artefakte und Szenarien auf Fragen der Virtualität gerichtet (Baudrillard 1978: 1994). Virtualität entspringt Baudrillard zufolge der Simulation des Realen; er spricht in diesem Zusammenhang auch von »Hyperrealität« (Baudrillard/Lischka 1994: 29f.). Es interessierte ihn vor allem das Verhältnis von Virtualität und Realität, anders gesagt, der Wirklichkeitsstatus von Virtualität. Er beschrieb dieses Verhältnis sowohl als Kompensations- als auch als Konkurrenzverhältnis. Virtualität sei der Versuch, so charakterisiert Baudrillard die kompensierende Rolle von Virtualität, zu kaschieren, dass das Reale nicht mehr real sei, um auf diese Weise das Realitätsprinzip zu retten (Baudrillard 1978: 25). Als Beispiel nennt er u.a. Disneyland, die amerikanische Spielzeugwelt, die uns als imaginäre Welt präsentiert wird und damit den Anschein erwecken soll, alles Übrige sei real (ebd.). Doch alles, was Disneyland umgibt, Los Angeles und ganz Amerika ist nach Baudrillard nicht mehr real. Die »Agonie des Realen« (ebd.) beschrieb Baudrillard als generelles Phänomen und zugleich registrierte er eine Wiederauferstehung des Realen in Zeichensystemen, eine Simulation von Realität, die deren Existenz bestätigen soll. Simulieren heißt für Baudrillard »fingieren, etwas zu haben, was man nicht hat« (a.a.O.: 10). Man glaubt, eine Realität zu haben und hat doch nur eine virtuelle Realität, ein Modell von Realität. Virtualität hat nach Baudrillard ihren Ursprung in dem Bedürfnis, eine perfekte, fehlerlose Realität herzustellen. »Damit sie vollkommen wird«, so Baudrillard, »muss man sie neu erschaffen, und zwar als Artefakt, denn Vollkommenheit kann unmöglich der Naturwelt innewohnen« (a.a.O.: 14). Mediale Inszenierungen in den audiovisuellen Medien wie z.B. Reality Shows, Fotogalerien und multimedial gestaltete Selbstporträts in digitalen Netzwerken geben vielfach Zeugnis von diesem Bestreben. Die virtuelle Realität, so Baudrillard, bleibt nicht in ihrem Gehäuse. Das »Konzept der Virtualität (wird) überall ins reale Leben, in homöopathischen Dosen, hineindestilliert« (a.a.O.: 8). »Das Fernsehen und die Medien sind längst aus ihrem medialen Raum herausgetreten, um das ›reale‹ Leben von innen her zu bewältigen und sich dort genau so einzunisten, wie sich ein Virus in einer normalen Zelle einnistet« (a.a.O.), schreibt Baudrillard. Die Wahrheit des Fernsehens werde, so lässt sich im Sinne von Baudrillard formulieren, zur Wahrheit für das Reale, das Online-Profil in einem digitalen Netzwerk zur Wahrheit für seine(n) Schöpfer(in). Aus dem Versuch, die Realität durch das Simulieren von Realität zu retten, werde ein Konkurrenzverhältnis zwischen Realität und Virtualität, das in eine tiefgreifende Virtualisierung des Seins münde (a.a.O.: 9; Pietraß/ Schachtner 2013: 255). Die Thesen von Baudrillard blieben nicht unwidersprochen. Um eine Realität als bloß virtuelle zu bestimmen, kritisiert Stefan Münker, muss man da-
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von ausgehen, dass es eine ursprüngliche Realität gibt (Münker 1997: 117). Wer virtuelle Realität sagt, unterstellt nach Münker, »es gebe eine einzige eigentliche und wahre Wirklichkeit« (ebd.). Absurd sei auch der Gedanke, dass wir ein Schein-Leben führten, der sich in Baudrillards Annahme von der Virtualisierung des Seins finde, in der es kein Jenseits der Abbilder und Trugbilder gebe (ebd.). Den Grund für solche Irrtümer sieht Münker in dem Wunsch nach einer Welt der klaren strikten Grenzen und Differenzierungen und der sauberen Dichotomien nach dem Muster real versus virtuell, Sein versus Schein (ebd.). Baudrillard kann auf seiner dichotomen Perspektive vielleicht auch deswegen beharren, weil er den Begriff Realität inhaltlich nicht bestimmt. Münker lehnt es ab, das Virtuelle durch kategoriale Abgrenzung gegen das Reale zu verstehen (a.a.O.: 118), womit er sich gegen die dualistische Denkmethode wendet, die traditionell westliches Denken prägt und ihren Niederschlag auch in unserer Sprache fand, wie Ludwig Wittgenstein deutlich machte, als er schrieb: »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt« (Wittgenstein 1989: 67). Dieser Satz verweist auf die Verankerung unserer Erkenntnismöglichkeiten in der Sprache. Die Konsequenzen dieser Verankerung äußern sich auch in der Schwierigkeit, das Verhältnis zwischen der physikalischen Welt und der durch audiovisuelle und digitale Medien generierten virtuellen Realität zu bestimmen, konfrontiert uns dieses Verhältnis doch mit Mischstrukturen, die sich einer dualistischen Einordnung entziehen. So vage der Begriff Virtualität ist, so kann vorläufig nicht auf ihn verzichtet werden, um die Besonderheit der medial inszenierten Realität zu bezeichnen, ohne dass damit ein Gegensatz zwischen Virtualität und Realität ausgedrückt werden soll. Michael Paetau behauptet in seinem Versuch der begrifflichen Klärung des Virtuellen unter Bezug auf Alfred Schütz, dass das Virtuelle nichts dem Realen Entgegengesetztes sei (Paetau 1997: 117). Jede Form von Wirklichkeit sei gedanklich und sozial konstruiert und daher virtuell. Nicht die physikalischen Wirklichkeiten sondern die Wirklichkeitskonstrukte sind es, die die Basis für unser Handeln bilden, erklären Schütz/Luckmann in ihrem Buch »Strukturen der Lebenswelt« (Schütz/Luckmann 1975: 23ff.). Diese Wirklichkeitskonstrukte, von Schütz/Luckmann als Lebenswelt bzw. Sinnzusammenhänge bezeichnet, haben den Charakter einer virtuellen Realität, denn es sind Modelle. Für die Subjekte sind sie deswegen aber nicht weniger real; sie strukturieren vielmehr deren Erleben und Handeln. Auch Yasuo Imai weist darauf hin, dass virtuelle Realitäten keine Besonderheit der Moderne oder gar der digitalisierten Welt darstellen; schon immer hätten sich Menschen mit virtuellen Realitäten beschäftigt, spätestens mit der Erfindung der Schrift (Imai 2002: 26). Gesprochene Sprache erfülle bereits die Funktion, »abwesende, nicht unmittelbar zugängliche Sachverhalte zu bezeichnen« (ebd.). Die Schrift verschaffe der bezeichnenden Funktion der Sprache eine dauerhafte Substanz und entwickle so eine separate Welt, die im
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Hinblick auf die aktuell erfahrene Welt als virtuell eingestuft werden könne (ebd.). Auch das Bild erfüllt diese Funktion, so möchte ich ergänzen; es zeigt das Erlebte, Wahrgenommene, Empfundene, ohne mit dem Erlebten, Wahrgenommenen, Empfundenen identisch zu sein. Mit Münker lässt sich ergänzen, dass wir mittels Sprache oder Bild eine neue Perspektive gewinnen, durch die wir aber nicht einfach die Welt anders sehen. Wir sehen vielmehr »eine andere Welt« (Münker 1997: 120), die genauso wie die physikalische Welt Wirkkraft entfaltet. Von klein auf werden wir eingeübt in die Konstruktion virtueller Realitäten. In den ersten Lebensmonaten beginnen Kinder bereits ihre lebensweltlichen Erfahrungen und Empfindungen in Lautfolgen und später in Worte zu transferieren; ab dem ersten Lebensjahr übersetzen sie Eindrücke in Kritzeleien, denen sie mit ca. drei bis vier Jahren gezeichnete Bilder und Rollenspiele folgen lassen, spätestens mit der Einschulung beginnt die Verschriftlichung der gesprochenen Sprache. Es scheint ein existenzielles Bedürfnis zu sein, virtuelle Realitäten zu produzieren, was Schütz/Luckmann damit erklären, dass uns die Welt zur Auslegung aufgegeben ist (Schütz/Luckmann 1975: 25). Erst im Kontext einer ausgelegten Welt sind wir handlungsfähig. Schreiben und Zeichnen sind eine Form der Auslegung. Eine 26-jährige arabische Bloggerin aus der Studie »Kommunikative Öffentlichkeiten im Cyberspace« erinnert sich, dass sie das Bedürfnis zu schreiben, das sie später in die digitale Welt übertrug, schon als 15-Jährige hatte: »I’m really passionate about writing. I used to write since I was 15 years old. I remember that no day passed without me writing one thing in my diary«. Münker schlägt vor, den Realitätsbegriff zu relativieren und die virtuelle Realität als eine Realität neben anderen Realitäten zu betrachten (Münker 1997: 119). Er will das Virtuelle als Teil des Realen verstanden wissen (a.a.O.: 122). Ahrens scheint auf den ersten Blick ähnlich zu argumentieren wie Münker, wenn sie virtuelle Räume als »technosoziale Zusatzräume« (Ahrens 2003: 175) definiert, die weder in einem Konkurrenz- noch in einem Ausschließungsverhältnis zum realen Raum stehen (ebd.). Der Terminus Zusatzräume impliziert wie bei Münker ein Nebeneinander von Realitäten, von dem sich Ahrens im weiteren Verlauf ihrer Argumentation mit Blick auf neue technische Entwicklungen jedoch distanziert. Nicht ein Nebeneinander sondern ein Ineinander und Übereinander physikalischer und virtueller Realitäten bezeichnen aktuelle mediale Trends. Folgendes Szenario soll dies exemplarisch illustrieren: Ich sitze in meinem Büro oder befinde mich auf der Straße, an der Bushaltestelle oder in einem Park, bin also Teil einer physikalischen Welt, was mich aber nicht daran hindert, mich mittels PC oder Smartphone gleichzeitig in eine virtuelle Welt einzuklicken, indem ich einen Blog starte, meine augenblicklichen Aktivitäten als Statusmeldungen ins Netz poste oder ein Gespräch mit anderen Netzakteur_innen beginne, die sich an anderen physikalischen Orten befin-
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den. Zwischendurch mache ich vielleicht noch ein paar Spielzüge in einem Computerspiel. Physikalische und virtuelle Realitäten schieben sich in solchen Situationen ineinander, werden uneindeutig; es entstehen bislang ungekannte »spatial interfaces« (Doulis/Agotai/Wyss: 2009). Die Vermischung von Online- und Offline-Realitäten lässt nach Ahrens neue Spannungsfelder zwischen Abstraktheit und Kontextualität, zwischen Ferne und Nähe entstehen (Ahrens 2003: 183). Das vermeintliche »Draußen« steht plötzlich auf dem eigenen Schreibtisch (ebd.) und drängt in die alltägliche Nahwelt. Die Grenzen einzelner Realitäten verschieben sich oder lösen sich auf. Sie werden beweglich; es bilden sich mixed realities (Schachtner 2013: 20ff.). Die neuen Mischverhältnisse zwischen physikalischen Realitäten und virtuellen Realitäten im Cyberspace provozieren Stellungnahme von denen, die sich in und zwischen diesen Realitäten bewegen. In der Studie »Kommunikative Öffentlichkeiten im Cyberspace« sind wir auf solche Stellungnahmen gestoßen, denen gemeinsam ist, dass sie den Wirklichkeitsstatus des Virtuellen zu klären suchen. Wenn die bereits zitierte 26-jährige arabische Bloggerin erklärt, »there is no difference between the online and offline (Name der Bloggerin, d.A.), dann behauptet sie die physikalische und virtuelle Welt als für sie gleichermaßen real, was sich darin begründet, dass sie ihr Online-Dasein als reales Dasein gestaltet. Einem 23-jährigen österreichischen Blogger ist ebenfalls daran gelegen, den virtuellen Raum als realen Raum zu gestalten, indem er in seinem Blog von seinen Gefühlen berichtet: »Ich glaub’ das ist ganz wichtig, dass die Menschen diese emotionale Verbindung zu einem Blogger haben und dass sie auch wissen, wenn ich über solche Gefühle schreibe, können sie (andere Netzakteur_innen, d.A.) sich darauf verlassen, dass das, was ich schreibe, wirklich wahr ist.«
Wahre Gefühle sind für den 23-Jährigen vermutlich authentische Gefühle. Ob er jenseits der Blogosphäre genauso fühlt, wissen wir nicht, doch während des Schreibens fühlt er aus seiner Sicht so und das ist für ihn entscheidend, um die virtuelle Wirklichkeit als real zu erleben und sie auch Anderen als real erleben zu lassen. Noch unsicher ist sich dagegen eine 12-jährige Netzakteurin, wie sie die virtuelle Realität im Verhältnis zur physikalischen Realität einstufen soll. Im Verlauf des Interviews kreist die 12-Jährige immer wieder um die Frage, ob die im Netz entfalteten Aktivitäten richtig, echt und damit als wichtig einzustufen sind oder nicht. Sie berichtet von einem Jungen, der ihr im Netz angeboten habe, seine Freundin zu werden. Dieses Angebot habe sie mit der Gegenfrage pariert, ob er »sich nicht in seinem richtigen Leben eine Freundin suchen kann«. Mögliches emotionales Engagement lässt die Frage nach dem Realitätsgehalt des Virtuellen besonders brisant werden, ist damit doch auch
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ein besonders hohes Risiko verbunden für den Fall, dass sich die virtuelle Welt doch bloß als Schein-Welt erweist.
Virtuelle Räume als Heterotopien War der Versuch, die Qualität des Virtuellen zu bestimmen, im Vorangegangenen davon geprägt, dem Verhältnis von Virtualität und physikalischer Realität auf die Spur zu kommen, so sollen nun die Merkmale von Virtualität in den Mittelpunkt gerückt werden, wie sie sich in digitalen Erzählräumen zeigen. Michel Foucault hat bereits Anfang der 90er Jahre ein Konzept vorgelegt, das sich dazu eignet, die Besonderheit digitaler Erzählräume zu erfassen: das Konzept der Heterotopien (Foucault 1992). Mit diesem Konzept will Foucault Orte charakterisieren wie psychiatrische Kliniken, Gefängnisse, Friedhöfe, Gärten, Schiffe, Bordelle und Bibliotheken (a.a.O.: 42f.), die besondere Orte in einer Gesellschaft darstellen und in denen sich physikalische Dimensionen mit bestimmten Ideologien, Visionen, Lebensmodellen mischen. Noch nicht im Blick hatte Foucault mit seinem Konzept die virtuellen Räume des Cyberspace. Gleichwohl lässt es sich zu deren Charakterisierung heranziehen. Heterotopien sind für Foucault wirkliche und wirksame Orte, die als Widerlager, als Gegenplatzierungen oder als realisierte Utopien in Erscheinung treten. Sie sind innerhalb einer Gesellschaft angesiedelt, repräsentieren einerseits deren Kultur und stellen sie andererseits in Frage (a.a.O.: 39). Foucault unterscheidet Heterotopien von Utopien, die für ihn »wesentlich unwirkliche Räume« (Foucault 1999: 149) darstellen, während Heterotopien, wie erwähnt, für Foucault wirkliche Räume sind. Er räumt aber ein, dass Mischformen existieren in dem Sinne, dass sich schon Existierendes mit Träumen und Wunschbildern mischt (ebd.). Foucault beschreibt Heterotopien mittels bestimmter Grundsätze, die sich weitgehend auf die digitalen Erzählräume übertragen lassen. Ein Grundsatz lautet, dass eine Heterotopie an einem einzigen Ort mehrere Räume zusammenfügt (a.a.O.: 42). Als Beispiel verweist er auf den persischen Garten, der aus vier Rechtecken besteht, die die vier Erdteile repräsentieren und einen heiligen Raum in der Mitte, der den Nabel der Welt symbolisiert (ebd.). Gärten sind für Foucault Teppiche, auf denen »die ganze Welt ihre symbolische Vollkommenheit erreicht« (ebd.). Das Internet ähnelt dem persischen Garten, ja, spitzt dessen Struktur zu, denn es funktioniert wie ein gleichzeitig operierender riesiger Computer (Mitchell 2003: 13), der nicht nur vier oder fünf Räume, sondern eine unübersehbar große Zahl an Räumen offeriert. Wir treffen auf digitale Arbeitsräume, Lernräume, Spielräume, Flirträume, Diskussionsräume, die sich den narrativen Aktivitäten der Subjekte öffnen. Diese Räume existieren nicht nebeneinander; sie stehen uns gleichzeitig zur Verfügung. Wir müssten, so schlägt Thomas Steinmaurer vor, von »einem sich verflüssigenden Überlappen und einem
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Nebeneinander unterschiedlicher Raumrepräsentanzen« (Steinmaurer 2013: 11) ausgehen. Die Subjekte sind, so nimmt Steinmaurer an, »der Vermischung einer gleichzeitigen Wirkung unterschiedlicher Raumbezüge ausgesetzt« (ebd.), was er mit dem Terminus »hybride Multilokalität« (ebd.) zu erfassen sucht. Angesichts der Überlappung von Räumen müsste man wohl von einer Translokalität sprechen. Miniaturisierung und Fusionierung digitaler Technik sorgen zudem dafür, dass die sich überlappenden Räume transportabel geworden sind und auf sie via Smartphone in nahezu jeder Lebenssituation zugegriffen werden kann (Schachtner 2013: 20). Diese technischen Möglichkeiten spiegeln sich auf der Handlungsebene der Subjekte wider. Eine jemenitische Bloggerin berichtete in der Studie »Kommunikative Öffentlichkeiten im Cyberspace« über die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Raumbezüge wie folgt: »When I open my laptop it’s my Facebook open, my Twitter, my blog, BBC, Yemen – it’s just everything«. In ihrer Wahrnehmung sei sie auf den verschiedenen Plattformen gleichzeitig präsent, erzählt sie weiter. Sherry Turkle ist in ihrer Untersuchung auf ein ähnliches Phänomen gestoßen. Sie bezieht sich auf eine junge Netzakteurin, wenn sie schreibt: »She can keep her parallel lives open as windows on her screen« (Turkle 2011: 194). Die sich überlagernden Raumbezüge betreffen also nicht nur die Interfaces zwischen virtueller und physikalischer Realität, wie im ersten Abschnitt beschrieben, sondern finden auch innerhalb der virtuellen Welt des Cyberspace statt. In einem weiteren Grundsatz stellt Foucault fest, dass Heterotopien an »Zeitschnitte gebunden« (Foucault 1992: 43) sind. Ihr volles Funktionieren erreichen Heterotopien nach Foucault, wenn die Menschen mit ihrer herkömmlichen Zeit brechen (ebd.). Mit dem Begriff »herkömmliche Zeit« scheint Foucault, zieht man seine Beispiele für den Bruch mit der Zeit in Betracht, ein gleichmäßiges Dahinfließen von Zeit zu verbinden. Der Friedhof ist demzufolge ein »eminent heterotopischer Ort«, denn er repräsentiert den Abbruch der Lebenszeit. Heterotopien sind nach Foucault aber auch Orte, die von der Idee beherrscht sind, alles zusammenzutragen, alle Epochen, alle Gedanken, alle Geschmäcker einzuschließen, »einen Ort aller Zeiten zu installieren« (ebd.), wie das im Museum oder in der Bibliothek geschieht. Im Gegensatz dazu gibt es nach Foucault Heterotopien, die an Flüchtigkeit und an das Vorübergehende gebunden sind wie z.B. Jahrmärkte und Festwiesen (a.a.O.: 44). Die Virtualität des Cyberspace weist verschiedene Formen des Bruchs mit herkömmlichen Zeitgrenzen auf, die teils mit den Foucault’schen Überlegungen übereinstimmen, teils auf neue Formen verweisen. Virtuelle Räume stellen unübersehbar große globale Informations- und Textarchive dar, die die Geschichten ihrer Nutzer_innen oft ohne deren Wissen und nicht selten gegen ihren Willen speichern. Sie haben eine Speicherkapazität von bislang ungekanntem Ausmaß. Andererseits repräsentieren die virtuellen Räume, ebenfalls in Übereinstimmung mit den Foucault’schen Heterotopievorstellungen,
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Orte von bislang ungekannter Flüchtigkeit. Die Geschichten, die etwa in Chats erzählt werden, huschen in Sekundenschnelle über den Bildschirm. Narrationen, die im Dialog entstehen z.B. in einem Kommunikationsforum oder in einem Computerspiel, können von einer Sekunde auf die andere abgebrochen werden ohne Chance auf Fortsetzung. Darüber hinaus gibt es in virtuellen Erzählräumen neue Formen des Bruchs mit herkömmlichen Zeitperspektiven, verursacht durch Entgrenzungen, die die digitale Technik ermöglicht. Sie zeigen sich in der Verflüssigung der Grenzen zwischen Tag und Nacht; das Geschichtenerzählen kann rund um die Uhr erfolgen und man kann sogar rund um die Uhr mit einem Publikum rechnen. Eine andere Art der Entgrenzung spielt sich zwischen Arbeits- und Freizeit ab. Die Entwicklung der Erwerbsarbeit entfernt sich derzeit unter dem Einfluss digitaler Technik von den Merkmalen der fordistisch-tayloristischen Normalarbeit, die invariable Grenzen zwischen Erwerbsarbeit und dem restlichen Leben vorsieht (von Streit 2011: 24) zugunsten einer Verflüssigung dieser Grenzen. Weil die Technik, die diese Verflüssigung fördert, mobil geworden ist, befinden wir uns als Erwerbstätige in diesen, durch eine Vielzahl von Zeitbezügen gekennzeichneten Heterotopien, nahezu ununterbrochen (Schachtner 2013: 23f; Roth-Ebner 2015: 256ff.). Ein dritter Grundsatz besteht darin, dass Heterotopien nach Foucault »immer ein System von Öffnungen und Schließungen voraus(-setzen, d.A.), das sie gleichzeitig isoliert und durchdringlich macht« (Foucault 1992: 44). Entweder man wird zum Eintritt gezwungen z.B. in ein Gefängnis oder in die geschlossene Psychiatrie und erfährt dann die Schließung des Ortes oder man darf nur mit Erlaubnis und nach Vollzug bestimmter Rituale eintreten, wie etwa in den islamischen Hamam. Auch die Merkmale dieses Grundsatzes finden sich in den virtuellen Erzählräumen wieder. Diese sind in großen Teilen weltweit offene Räume, was sie als Erzählorte für die Erzähler_innen besonders attraktiv macht. Computernetzwerke durchbrechen die isolierende Wirkung von Orten; sie machen postings weltweit sichtbar (Ahrens 2003: 176). Der Zwang zum Eintritt in diese Räume zeigt sich eher implizit als explizit und hängt mit der zunehmenden Bedeutung dieser Räume als subkulturelle Teilöffentlichkeiten zusammen. Jugendliche etwa, die sich nicht einklicken in bestimmte Computerspiele, können nicht mehr teilhaben an der Kommunikation der Peergroup, die heutzutage sehr stark medienbezogen verläuft. Die Mitgliedschaft in einer Online-Community verlangt ebenso regelmäßige Präsenz, will man keinen Ausschluss riskieren. Für Netzakteur_innen, die an den weitweiten Kommunikations- und Erzählangeboten partizipieren, erweitern sich wiederum die heterotopischen Erfahrungen, die nicht ohne Rückwirkung auf das eigene Selbstbild bleiben, wie ein Netzakteur aus Saudi-Arabien deutlich macht: »[…] in real life I’m a Saudi guy living in Saudi Arabia and talking wit-
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hin one kilometre radius that is around me […]. But online I’m multinational, I’m multigeographical […]«. Die weltweite Öffnung der digitalen Erzählräume schließt nicht aus, dass die Teilhabe an bestimmte Zugangsrituale geknüpft ist. Dazu zählen das Passwort als Bedingung für den Zugang oder auch ethische Codes, von deren Zustimmung der Aufenthalt in diesen Räumen abhängig gemacht wird. Heterotopien überwinden dualistische Perspektiven; sie gestalten, ermöglichen, drängen dazu, Verschiedenes, ja Widersprüchliches zu leben. Sie bilden die »Andere(n) Räume« (Foucault 1992); das Andere zur herrschenden Kultur. Digitale Erzählräume lassen sich in das Spektrum der Heterotopien einreihen, denn sie weisen Übereinstimmungen mit den Foucault’schen Grundsätzen auf. Sie reproduzieren einerseits bestimmte Facetten der Welt jenseits der digitalen und kontrastieren andere, z.B. stellen sie gesicherte Raum- und Zeitgrenzen in Frage (Doulis u.a. 2009: 55). Sie können sich als Gegenplatzierungen und Widerlager erweisen. Die Ferne kann sich infolge verflüssigter geografischer Grenzen als »agierende Ferne« (Castells 2012: 224) einmischen und ein Nahereignis auslösen, das nicht notwendig auf den virtuellen Raum beschränkt bleibt (Ahrens 2003: 185), worauf die von Castells festgestellte Viralität sozialer Bewegungen verweist. Mit dem Begriff Viralität beschreibt Castells Impulse, die von politischen Protesten an einem Ort ausgehen können und Proteste an anderen Orten stimulieren (a.a.O.: 224). Wenn man Proteste anderswo mitbekomme, so schüre das die Hoffnung auf die Möglichkeit der Veränderung. Digitale Medien sind nach Castells ein wichtiger Teil der Viralität. Virtuelle Räume repräsentieren wie Heterotopien generell besondere Realitäten, deren Besonderheit sich aber nicht an der Frage entscheidet, ob sie real sind oder nicht, denn sie sind real in dem Sinne, dass sie reale Gedanken und Gefühle evozieren und von solchen erfüllt sind. Genauso wie die physikalischen Räume ist die Entstehung digitaler Erzählräume auf die Interaktion und Kommunikation der Netzakteur_innen angewiesen; das erklärt, weshalb die Erfahrungen aus der Welt jenseits des Bildschirms nicht ausgesperrt bleiben, weshalb sich in den digitalen Heterotopien gängige Verhaltensweisen wiederfinden und sich zugleich neue entwickeln können aufgrund neuartiger Erfahrungen, die neue Positionierungen und Orientierungen erfordern.
Das narrative Potenzial digitaler Heterotopien Die Vervielfältigung und Überlappung virtueller Räume eröffnet Möglichkeiten der Collage und Montage von Geschichten (Ahrens 2003: 188). Neues kann in bekannte Kontexte, Bekanntes in neue Kontexte übertragen werden. Konkret: Elemente einer Geschichte, die in einem virtuellen Raum z.B. in einem Chat oder jenseits des Bildschirms erzählt werden, können auf eine andere digitale Bühne transferiert, dort mit den Elementen einer anderen Geschichte
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kombiniert und zu einer neuen Geschichte montiert werden, ein Prozess, der sich endlos fortsetzen lässt. Man kann von einem transmedialen Storytelling sprechen, auch wenn Henry Jenkins den Begriff Transmedialität für eine Art des Geschichtenerzählens reserviert hat, bei dem sich die Elemente ein und derselben Geschichte über verschiedene digitale Plattformen verteilen: »In transmedia, elements of a story are dispersed systematically across multiple media platforms, each making their own unique contribution to the whole« (Jenkins 2011). Im Fall narrativer Collagen und Montagen, deren Konstruktion über verschiedene Räume hinweg erfolgt, sind die narrativen Elemente nicht auf eine Plattform festgelegt, sie sind vielmehr mobil, woraus sich am Ende nicht nur eine, sondern viele Geschichten ergeben können. Aber ebenso wie bei dem Storytelling, das Jenkins im Blick hat, spielen die Erzählelemente aus verschiedenen digitalen Plattformen zusammen, mediale Grenzen markieren nicht notwendig die Grenzen einer Geschichte. Aus der Möglichkeit zu narrativen Collagen und Montagen in digitalen Heterotopien folgt weiter, dass die Geschichten ständig veränderbar sind, dass Dauerhaftes mit dem Flüchtigen unzählige Allianzen eingehen kann, dass das erzählte Leben als Konstruktion, dass Identität als Konstruktion erlebt und wahrgenommen werden kann. Die digitalen Heterotopien machen darüber hinaus die Erzählungen im Sinne von Walter Benjamin ausstellbar (Benjamin 1977: 28). Wie der Filmdarsteller, auf den Benjamin rekurriert, erzählen die Netzakteur_innen und Blogger_innen ihre Geschichten in Interaktion mit einer technischen Apparatur.5 Der Prozess des Erzählens fällt mit dem Produkt, der Erzählung, zusammen, was sich bereits in dem Begriff Erzählung widerspiegelt, der das Prozessuale erkennen lässt. Ein Unterschied zwischen Filmdarsteller und Netzakteur_in bzw. Blogger_in besteht zunächst noch darin, dass sich diese den Reaktionen des Publikums anpassen können, da sie sich mit diesem in einer interaktiven Beziehung befinden. Angesichts der Entstehung interaktiver Filme, bei denen die Adressat_innen die Geschichte mitgestalten können, vermindert sich der Unterschied zwischen dem Storytelling im Netz und mittels Film (Gaudenzi 2009). Benjamin will mit seiner Sichtweise, wie Yasua Imai interpretiert, die Spannung zwischen Prozess und Produkt auflösen und dem Prozess, indem er ihn als Produkt deklariert, einen höheren Stellenwert geben (Imai 2002: 31ff.). Yasuo Imai versucht die Tauglichkeit des Benjamin’schen Ansatzes, genauer, das Zusammenfallen von Produkt und Produktion, für die Charakterisierung der virtuellen Realität am Beispiel des Konzepts Leben-Schreiben nachzuweisen, das ebenfalls Parallelen zum digitalen Geschichtenerzählen aufweist. Schreiben bedeutet für Imai, wie bereits erwähnt, auch unabhängig 5 | Auch die Apparatur, vor der der Filmdarsteller erzählt, ist kein bloßes Aufnahmegerät, wie Benjamin erklärt, sie nimmt vielmehr unter Führung des Kameramanns laufend zur Leistung des Filmschauspielers Stellung.
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von Technik Produktion einer virtuellen Realität. Das Konzept Leben-Schreiben ist ein Projekt der in den 30er Jahren in Japan einflussreich gewordenen pädagogischen Reformbewegung. Es beinhaltet, dass Kinder in Aufsätzen über ihre Lebenserfahrungen schreiben und sich dabei auch über ihre Ängste, ihren Ärger, über Erfreuliches und Abscheuliches äußern (a.a.O.: 36). Die dem Konzept zugrundeliegende Annahme ist, dass sich im Prozess des Schreibens die verschiedenen Dimensionen von Realität, nämlich die Ich-Selbst-Beziehung, die Ich-Welt-Beziehung und die soziale Realität der Ich-Alter-Beziehung, durchdringen und zu einer einzigen Realität verschmelzen (a.a.O.: 39). Das Produkt, nämlich die Realität als Ganzes, steht nicht erst am Ende des Schreibens, sondern konstituiert sich bereits währenddessen. Im Sinne von Benjamin fallen Schreibprozess und Produkt zusammen. Die Formen, in denen in digitalen Heterotopien Geschichten erzählt werden, sei es mittels meist längerer Textpassagen in Blogs oder mittels knapper Tweets in digitalen Netzwerken, ähneln dem Leben-Schreiben japanischer Kinder. Auch hierbei werden alltägliche Ereignisse und damit einhergehende emotionale Befindlichkeiten in geschriebene Sprache übersetzt. Zu bezweifeln ist allerdings, ob angesichts einer pluralisierten Gesellschaft dieses Schreiben die erlebten Realitäten zu einem Ganzen zusammenfügen kann. Zu erwarten sind eher Schreibprodukte, die vielgestaltige Realitäten mit nicht-kompatiblen Facetten widerspiegeln. Nichtsdestotrotz könnte das Schreiben in digitalen Heterotopien der Intention folgen, eine kohärente Realität zu produzieren. Welche Realitäten auch immer dem digitalen Erzählen entspringen, es sind Realitäten, die Menschen als existent, neben anderen Realitäten jenseits des Bildschirms erleben, die aber nicht als die »eigentlichen« Realitäten von jenen in den digitalen Heterotopien abgegrenzt werden können.
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Eine Typologie ihrer Geschichten
Schon während sich das Forschungsinteresse der Studie »Kommunikative Öffentlichkeiten im Cyberspace« auf die von den Netzakteur_innen und Blogger_innen im virtuellen Raum entwickelten und geschilderten Handlungsperspektiven1 richtete, entstand der Eindruck, dass die berichteten Handlungspraktiken in Kombination mit den geschilderten Motiven, Gefühlen und biografischen Hintergründen Geschichten transportieren. In einer Sekundärauswertung der Interviews und Visualisierungen richtete sich die Aufmerksamkeit auf diese Geschichten, die eine weitere Facette der Lebenswirklichkeit von Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Zeitalter des Internets beleuchtet. Es wurden aus den 33 geführten Interviews 21 Interviews von Netzakteur_innen und Blogger_innen aus 11 Ländern (Deutschland, Österreich, USA, Türkei, Ukraine, Bahrain, Vereinigte Arabische Emirate, Saudi-Arabien, Jemen, Italien, Schweiz) ausgewählt, in denen sich ein deutlicher narrativer Fokus zeigt, der sich in der Bezeichnung einzelner Typen von Geschichten wiederfindet. Hinweise auf die in die Sekundärauswertung einzubeziehenden Interviews lieferten die Schlüsselcodes zu den ermittelten Handlungspraktiken2. Dass sie diese Hinweise liefern konnten ist nicht verwunderlich, denn die Handlungsperspektiven sind Bestandteile der jeweiligen Geschichte. Überwiegend enthalten die Interviews eine dominierende Geschichte; soweit in einigen Interviews eine zweite Geschichte deutliche Konturen bekommt, wurde auch diese einer Auswertung unterzogen. Unberücksichtigt blieb, wenn sich Zweit- oder Drittgeschichten lediglich andeuteten oder nur 1 | Die identifizierten Handlungspraktiken und die darin eingelagerten Subjektkonstruktionen wurden von Christina Schachtner und Nicole Duller in dem Artikel ›Kommunikationsort Internet‹ vorgestellt, der in dem Buch »Digitale Subjekte« (hg. 2014 von Carstensen, Tanja/Schachtner, Christina/Schelhowe, Heidi/Beer, Raphael) enthalten ist. 2 | Genaueres zu Methodologie und Forschungsmethoden findet sich in der Einleitung zu diesem Buch.
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fragmentarisch erkennbar wurden. Die Existenz dominierender Geschichten verweist auf das an früherer Stelle angesprochene Irreduzible, das jedem Menschen eigen ist und das sich aus der Auseinandersetzung des Subjekts mit der Differenz zwischen dem lebensgeschichtlich gewachsenen Fundus an Ideen, Plänen, Vorlieben, Abneigungen und der aktuell an das Subjekt herangetragenen gesellschaftlichen Erwartungen ergibt. Diese Auseinandersetzung prägt, metaphorisch gesprochen, eine Art Handschrift des Subjekts, die sich als roter Faden durch seine Narrationen zieht und als dominierendes Element erkennbar wird. Ein Vergleich mit Beispielen aus der Musik und Malerei lässt dies vielleicht noch deutlicher werden. Warum können wir die Werke von Johann Sebastian Bach, von Philip Glass, von Paul Klee oder von Claes Oldenburg sehr rasch ihren Schöpfern zuordnen? Das ist möglich, weil sie deren Handschrift in Form bestimmter Tonfolgen oder Farb-Form-Kombinationen tragen. Die Interviewpartner_innen erzählten nicht bewusst eine Geschichte; sie schilderten ihre Erfahrungen, berichteten davon, was sie als Netzakteur_innen und Blogger_innen tun, erleben, fühlen. Sie präsentierten narrative Puzzlestücke, die von ihnen manchmal in einen logischen Zusammenhang gebracht wurden, manchmal aber auch nicht, die zuweilen auf den Anfang einer Geschichte verweisen, jedoch nicht immer, die einen Schlusspunkt setzen oder – viel öfter – das Ende offen lassen. Die Geschichte ergibt sich aus der Summe der Puzzlestücke und ihrer spezifischen Verbindungen; sie ist implizit vorhanden und den Protagonist_innen nicht notwendig bewusst. Sie bildet gleichsam das »unterirdische Gespinst«, dem die einzelnen Äußerungen entspringen und das diesen einen Sinn gibt. Gegenstand der Analyse ist das Erzählen über das, was und wie im virtuellen Raum kommuniziert wird und nicht das Erzählen im virtuellen Raum wie es sich z.B. über die Analyse von Blogs oder von Computerspielen erschließt. Zwei Ebenen des Erzählens sind voneinander zu unterscheiden: (1) die Ebene der narrativen Akte, die im Netz entwickelt werden und (2) die Narrationen über diese Akte, die Gegenstand dieses Buches sind. Die hier präsentierten Geschichten sind vielfach mit dem virtuellen Raum verknüpft; sie weisen aber auch darüber hinaus auf andere gegenwärtige Lebensbereiche sowie auf frühere Lebensphasen. Es sind Geschichten im Zeitalter des Internets in dem Sinne, dass die mediale Technik eine selbstverständliche und unverzichtbare Rolle in den Geschichten spielt. Pro Interview wurden zunächst alle Textstellen mit einem narrativen Gehalt unsystematisch zusammengestellt. In einem weiteren Schritt wurden die Textstellen thematisch gebündelt, woraus sich der folgende Fragenkatalog ergab, anhand dessen die Aussagen in einem Interview geordnet wurden:
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1. Welche charakteristischen Merkmale enthält die Geschichte? (Merkmalsebene), 2. Welche Handlungen zeichnen sich ab? (Handlungsebene), 3. Welche Motive/Ziele sind erkennbar? (motivationale Ebene), 4. Welche Gefühle korrespondieren den Motiven/Zielen und Handlungen? (emotionale Ebene), 5. Welche Reflexionen zeigen sich? (reflexive Ebene), 6. Welche Rolle spielen die digitalen Medien in der Geschichte? (mediale Ebene), 7. Welche externen Folgen/Reaktionen zeigen sich in der Geschichte? (Folgenebene), 8. In welchen gesellschaftlich-kulturellen Kontext ist die Geschichte eingebettet? (kontextuelle Ebene).3 Nach erfolgter Einzelauswertung wurde ein Quervergleich vorgenommen, um einerseits übergreifende Merkmale zu erkennen, die die Zuordnung verschiedener Interviews zu einem Typus rechtfertigen und andererseits Unterschiede innerhalb der einem Typus zugeordneten Interviews zu identifizieren, die auf verschiedene Versionen eines Typus verweisen. Folgende sechs Typen von Geschichten konnten aus dem empirischen Material herausgearbeitet werden: Vernetzungsgeschichten, Selbstinszenierungsgeschichten, Verkäufer_innen- und Händler_innengeschichten, Grenzmanagementgeschichten, Verwandlungsgeschichten, Auf- und Ausbruchsgeschichten. Die Darstellung der einzelnen Typen und Untertypen von Geschichten erfolgt entlang der genannten Fragen, ohne dass diese im Text explizit ausgewiesen werden. Auf diese Weise erfahren die narrativen Puzzlestücke eine Ordnung, die keine zeitliche Ordnung darstellt, sondern eine an den verschiedenen Dimensionen der Geschichte orientierte Ordnung. Es ist eine Ordnung, die der wissenschaftlichen Interpretation entspringt und nicht dem Ordnungshandeln der Erzähler_innen. Die Geschichten werden unter Einbeziehung wörtlicher Aussagen der Erzähler_innen dargestellt, wobei es teilweise zu Wiederholungen von Zitaten kommt, die schon in den vorangegangenen Kapiteln zur Illustration einzelner Gedanken herangezogen wurden, im Folgenden aber als notwendige Bestandteile einer Geschichte nicht ausgeklammert werden können. Die verbale Darstellung wird durch ausgewählte Visualisierungen ergänzt, die von den Erzähler_innen angefertigt wurden und einen vertiefenden Einblick in den jeweiligen Typus von Geschichte gewähren. 3 | Der Fragenkatalog, der der thematischen Bündelung der narrativen Elemente diente, lässt einen breit angelegten Begriff von Geschichte erkennen, der neben der Beschreibung eines Handlungsverlaufs auch Begründungen, Reflexionen und Erklärungen einbezieht.
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3.1 V erne t zungsgeschichten Gemeinsam ist den in den Interviews identifizierten Vernetzungsgeschichten die Orientierung nach außen, das kommunikative Verbundensein mit anderen Netzakteur_innen. Die Vernetzungsgeschichten unterscheiden sich nach der Reichweite der Vernetzung und nach der Art der Verbindungen.
3.1.1 Zeigen und Austauschen Dem Leitgedanken »Zeigen und Austauschen« folgen Vernetzungsgeschichten, in denen die Netzakteur_innen im Netz kommunikativ lokale und regionale geografische Grenzen überschreiten; Weltkommunikation steht im Mittelpunkt. Der Welt wird weniger Persönliches gezeigt, sondern vielmehr das eigene Land, die eigene Kultur. Gleichzeitig existiert das Interesse, sich über Ereignisse und gesellschaftliche Entwicklungen in anderen Teilen der Welt auszutauschen. Vernetzungsgeschichten dieser Art wurden ausschließlich in Interviews mit arabischen Netzakteur_innen identifiziert. Zwei 26-jährige Netzakteure aus Saudi-Arabien erzählen, dass sie jeweils Blogs führen, die sich an Adressat_innnen in der Region des Mittleren Ostens, aber auch an die restliche Welt richten. Sie bloggen, wie sie berichten, über die Themen Gesellschaft, Technologie, Kunst in Wort und Bild. Einer der beiden führt einen Fotografieblog, in dem er politische Fotoprojekte präsentiert, die von Angst, Gewalt, Flüchtlingsproblematik handeln und bei denen er mit Künstler_innen weltweit zusammenarbeitet. Der zweite Netzakteur, der primär von seiner verbalen Vernetzung erzählt, berichtet davon, dass er mit amerikanischen Freunden politische Ereignisse in aller Welt diskutiere. Die Gestaltung ihrer kommunikativen Angebote erfordere einen hohen Zeitaufwand; sie erfolge unter Nutzung mobiler Geräte permanent. Ihre Angebote lösen, wie sie erzählen, erwünschte und unerfreuliche Reaktionen aus. Als erwünscht beschreiben sie Kommentare, Fragen, viele Follower. Als unerfreulich wird von einem der beiden der regelmäßige Zugriff der Ordnungsbehörden auf seinen Blog geschildert. Auch sei er schon mehrmals inhaftiert worden, wenn er für seinen Blog in der Öffentlichkeit fotografiert habe. Die Inhaftierung sei nicht von der Polizei ausgegangen, sondern auf Drängen von Passant_innen erfolgt. Einig sind sich die beiden Netzakteure darin, dass sie der Welt ein anderes Gesicht von Saudi-Arabien präsentieren wollen als das von den offiziellen Medien vermittelte, wie die folgenden Äußerungen dokumentieren: »I’m trying to allow people to look into things especially in Saudi Arabia and especially when they look back to Saudi Arabia through Mideast Youth4 or through my blog to 4 | Mideast Youth ist eine in Bahrain im Jahre 2006 gegründete Plattform, die einen kritischen Austausch über die politischen Verhältnisse im Mittleren Osten unter An-
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see the social and intellectual fabric of what makes Saudi Arabia Saudi Arabia«. Der zweite Netzakteur erklärt: »I use it (das Netz, d.A.) as a way to show kind of the Middle East and Saudi Arabia specifically from the ground, from a perspective that’s not really represented in the news«. Als empfangs- und sendebereit entwirft sich einer der beiden Netzakteure in seiner Visualisierung. Zu sehen ist, was er für den weltweiten Austausch benötigt: einen Kopf, ausgestattet mit Gehirn und Antennen, umgeben von Schallwellen, die ihn erreichen, Ohren, die hören, ein Mund, der erzählt. Abbildung 2: Empfangs- und sendebereit (Netzakteur, 26, Saudi-Arabien)
Die grenzüberschreitende Vernetzung ist von Gefühlen begleitet, die entweder als Reaktion auf empfangene Botschaften entstehen oder Bestandteil der eigenen Botschaften sind. Es mache stolz, wenn man von anderen Netzakteur_innen als Experte gefragt werde, aber auch, wenn man Gefühle zeigen kann, wie dieser Netzakteur schildert: »Whenever an emotion comes in I actually share it proudly and I say ›this is what I’m feeling right now‹. I’m not ashamed of it«. Reflexive Elemente zeigen sich in den Vernetzungsgeschichten dieses Typs in Bezug auf Identität. Während für einen der beiden Netzakteure, der bereits in verschiedenen Ländern gelebt hat, die Weltkommunikation einen selbstverständlichen Teil seiner Identität darstellt – er bezeichnet sich als »citizen of gehörigen der Region und mit Netzakteur_innen aus anderen Teilen der Welt initiieren will.
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the world«, führt diese bei dem zweiten Netzakteur zu einer Spaltung in eine Online- und Offline-Identität bzw. in eine lokale und in eine globale Identität. Er erklärt: »[…] in real life I’m a Saudi guy living in Saudi Arabia […], but online I’m multinational, I’m multigeographical […]«. Den digitalen Medien geben die beiden Netzakteure einen hohen Stellenwert für ihre Vernetzungsversuche. Sie sind aus der Sicht eines Netzakteurs Orte »where interaction between Saudi Arabians and international community started to happen«. Sie schätzen das Distributionspotenzial, aber auch das Solidarisierungspotenzial der Online-Communities, das einer der Netzakteure anlässlich seiner Probleme mit den Ordnungsbehörden erfahren hat, wie er erzählt: »[…] there was a community that was supporting me«. Die skizzierten Vernetzungsgeschichten sind eingebettet in Biografien, in denen die Berührung mit anderen Kulturen eine wichtige Rolle spielt. Einer der Netzakteure hat Eltern, die jeweils aus verschiedenen Ländern kommen; der andere hat in seinem bisherigen Leben in verschiedenen Ländern und Kontinenten gelebt. Diese biografischen Erfahrungen könnten das Interesse und die Neugier auf das Fremde geweckt und zugleich die Kompetenzen zur transnationalen Kommunikation gefördert haben. Das Interesse am Fremden korrespondiert bei beiden mit einer Wertschätzung des Eigenen, auf das die Aufmerksamkeit der Anderen gelenkt werden soll.
3.1.2 Sehen und Gesehen-Werden Das Motto »Sehen und Gesehen-Werden« zeigte sich am deutlichsten in einer Vernetzungsgeschichte, die von einem 29-jährigen Netzakteur, der in einer Großstadt eines europäischen Landes lebt, erzählt wurde. Auch in dieser Geschichte stehen die Orientierung nach außen und das Verbundensein mit Anderen im Vordergrund, aber die Reichweite der Verbindungen ist sehr viel geringer als in den Vernetzungsgeschichten, die dem Leitgedanken »Zeigen und Austauschen« folgen; sie umspannt im Wesentlichen die bisherigen Lebensorte des Netzakteurs im sogenannten real life, die innerhalb einer Landesgrenze liegen. Die kommunikativen Kontakte haben keinen politischen, sondern persönlichen Charakter. In dieser Vernetzungsgeschichte zeigt sich als weitere Besonderheit, dass die Möglichkeiten digitaler Vernetzung nicht nur verbindend wirken, sondern sich auch gegen Andere richten können. Der Startpunkt für die Vernetzungsgeschichte des 29-Jährigen war ein Profilfoto, das er von sich ins Netz gestellt hatte. Er erzählt: »Dann ist es einfach immer mehr und mehr geworden und dann habe ich eigentlich gar nicht so wirklich mitbekommen, dass ich jetzt reinkippen anfange«. Durch die eigene Netzpräsenz hat er frühere Freunde wiedergefunden; umgekehrt wurde auch er von früheren Freunden entdeckt. Der 29-Jährige pflegt seine Netzverbindungen nicht durch Blogs, sondern durch seine Selbstprofile in Wort und
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Bild und indem er chattet, manchmal die ganze Nacht. In den ersten Wochen, als er anfing in das Netz »reinzukippen«, hat er sich auf die Suche von Kontakten konzentriert, aus denen er allmählich ein Freundschaftsnetz aufgebaut hat und das er dann differenziert hat nach Familienmitgliedern und engen Freunden, die in seiner Rangliste ganz oben stehen, »dann kommen […] die Freunde zweiter Klasse, dritter Klasse, vierter Klasse und dann kommen irgendwann die Bekannten«. Das Motiv für seine Netzaktivitäten sei die Möglichkeit, dass er alte Freunde mittels Internet wiederfinden könne. Darüber hinaus reize ihn die Möglichkeit, dass Andere ihn entdecken können, aber auch die Möglichkeit, durch Steuerung von Informationsflüssen Macht auszuüben. »[…] du bist richtig ein, ein, ein Gott in der Hinsicht«, erzählt er. Der 29-Jährige will sehen, in andere Leben hineinsehen, auch dann zuweilen, wenn der/die Andere sich von ihm losgesagt hat. Er erzählt, dass er, da ihm das Passwort bekannt war, die Mailbox einer früheren Freundin nach der Trennung weiterhin beobachtet hat. Er will aber auch selbst gesehen werden, was für ihn »Balsam für die Seele« sei. Wer ihm keine Aufmerksamkeit schenkt, läuft Gefahr, aus dem Freundschaftsnetz »rausgekickt« zu werden, was den jeweils Betroffenen nicht verborgen bleiben soll: »Der soll ruhig wissen, dass ich ihn jetzt rausgeschossen habe aus meiner Freundschaftsliste, damit er sich ärgert […]«. Diese Worte verweisen auf Gefühle auch auf Seiten des Netzakteurs. Er selbst empfindet sich als »cool« bei seinen »Ausschlussaktionen«, deren aggressiver Gehalt nicht zu übersehen ist. In dieser Vernetzungsgeschichte nehmen die reflexiven Elemente einen großen Raum ein. Der Netzakteur hinterfragt sein Verhalten kritisch: »Was mache ich da eigentlich, ich hocke permanent da, schaue in dieses ›depperte Kastl‹ rein und warte darauf, dass sich irgendwer herablässt, mich an seinem Leben teilhaben zu lassen«. Das Verbundensein mit Anderen sei für ihn zu einer Droge geworden aus Angst, er könnte »über bleiben« (übrig bleiben, d.A.), d.h. nicht mehr dazuzugehören, allein sein, einsam sein. Diese Angst erklärt möglicherweise auch das unerlaubte Festhalten an Freund_innen, die sich von ihm losgesagt haben, dessen Fragwürdigkeit ihm bewusst ist, denn er nennt es »stalken« und kommentiert: »[…] das ist echt, das ist, das ist voll Stasi5, das ist ein Wahnsinn«. Nicht die digitalen Medien allgemein sind es, die das Vernetzen nach dem Motto »Sehen und Gesehenwerden« für diesen Netzakteur ermöglichen; das Medium seiner Vernetzungswünsche ist Facebook. »Facebook, das ist wie ein Schwarzes Brett«, auf das man, metaphorisch gesprochen, einen Zettel kleben kann mit der Botschaft »Zack! Ich will Dich sehen!« Facebook, »das ist wie ein großer Raum, in dem alle drin stehen und du kannst dich entscheiden, hörst 5 | Umgangssprachlich für das Ministerium für Staatssicherheit in der ehemaligen DDR, zu dessen Funktionen die Überwachung der DDR-Bevölkerung zählte.
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du dem zu oder hörst du da zu […]«. Was Facebook als Vernetzungsbühne für ihn so attraktiv macht, scheint dieser Spielraum bei der Kontaktsuche zu sein, den die Anderen ebenso wie er selbst besitzen. Das Handy lehne er als Medium der Kontaktsuche ab, weil es zu direkt auf Andere zugreife und, als mögliche Folge aus der Sicht des Netzakteurs, auch zu direkt mögliche Ablehnungen übermittle. Anders als in den Vernetzungsgeschichten »Zeigen und Austauschen« sind für die Vernetzung in der Geschichte des 29-Jährigen nicht bestimmte gemeinsame gesellschaftspolitische Themen von Bedeutung, sondern das Vernetzen als solches ist das Ziel. Es geht um das soziale Verbundensein, um das Aufgehobensein in einem größeren Ganzen, was durch die häufig von dem Netzakteur verwendeten Wörter »Reinkippen« und »Mittendrin-Sein« unterstrichen wird.
3.1.3 Sharing Als Beispiel für diesen Typus von Vernetzung wird das Interview mit einem 21-jährigen US-amerikanischen Studenten herangezogen, in dem so auffallend oft wie in keinem anderen Interview das Wort »sharing« fiel. Auch diese Vernetzungsgeschichte ist durch eine starke Außenorientierung, durch den Wunsch nach Verbundensein und durch Knotenpunkte charakterisiert, die ähnlich wie in der Vernetzungsgeschichte »Sehen und Gesehenwerden« von bekannten Personen aus dem sozialen Nahbereich verkörpert werden. Besonders wichtig ist dem 21-Jährigen die Vernetzung mit seiner Familie und seinen Freunden. Für die Verbindung mit Anderen ist das Teilen von Beobachtungen, Erfahrungen, Reiseeindrücken und vor allem von Bildern zentral. Diese thematische Verbindung unterscheidet diese Geschichte von der Vernetzungsgeschichte »Sehen und Gesehenwerden«, wo es um das Verbundensein als solches geht und verweist auf Ähnlichkeiten mit der Vernetzungsgeschichte »Zeigen und Austauschen«, in der die Inhalte allerdings gesellschaftspolitischer Art sind, während sich das Sharing des 21-Jährigen auf Privates bezieht. Seine Vernetzungsgeschichte begann mit der Plattform MySpace, auf der er Musik mit Anderen austauschte. Als die meisten Freunde zu Facebook wechselten, wechselte auch er zu dieser Plattform. Gegenwärtig ist er, wie er erzählt, permanent digital vernetzt sowohl durch sein Mailprogramm als auch durch social media: »For emails I’ll stay on all days. I check in multiple times throughout the day. Facebook I’ll check it once briefly in the morning […]. I’ll check it maybe around lunch time and then at the end of my day […]«. Für den Vater stellte er Fotos auf die Plattform, er habe dort ein Fotoalbum installiert, um dem Vater Einblicke in sein Leben zu gewähren. Mit seiner Mutter, die weniger internetaffin sei, stehe er in einem regelmäßigen telefonischen Austausch.
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Der 21-Jährige nennt zwei Gründe für das von ihm gepflegte digitale Sharing: Zum einen sei es gut für die Familie, zum andern könne er mit Menschen in Kontakt bleiben, mit denen er aufgewachsen sei: »[…] I want to maintain connections to people. I wonna know where people arrive within their lives, so when I go back to New York like I can still, you know be a part of their life and they can be a part of mine and you kind of keep your friends«. Der Wegzug aus New York, bedingt durch das Studium, solle nicht zum Abbruch von Freundschaften führen. Die Face-to-face-Kontakte können vorübergehend digital fortgesetzt werden, um dann wieder in Face-to-face-Kontakte verwandelt zu werden. Anders als bei den Protagonisten der Vernetzungsgeschichte »Zeigen und Austauschen«, deren freundschaftliche Kontakte häufig nur auf das Netz beschränkt sind, geht dieser Netzakteur davon aus, dass Freundschaften offline entstehen müssen und online allenfalls fortgesetzt werden können. Fern von seinem Heimatort ist Facebook eine unverzichtbare Bühne, um sein Leben mit Anderen zu teilen. Die Multimedialität des Mediums ermöglicht es ihm, das Bild als Dokument seines Lebens und als Kontaktbrücke zu nutzen. Diese Vernetzungsgeschichte steht in Verbindung mit einer familiären Situation, die dadurch gekennzeichnet ist, dass jedes Familienmitglied, bedingt durch Scheidung oder Bildungsmobilität, an einem anderen Ort lebt. Die Bildungsmobilität hat dazu geführt, dass er seine Heimatstadt New York und die dortigen Freunde verlassen musste. Das Sharing fungiert als Integrationsmechanismus, der die Familie und das Freundschaftsnetz zusammenhält; die digitalen Medien sind die Bedingung dafür, dass sich dieser Mechanismus entfalten kann.
3.2 S elbstinszenierungsgeschichten In den Geschichten der Selbstinszenierung steht deutlicher als in allen anderen Geschichten das Ich im Mittelpunkt, genauer die Präsentation des Ichs gegenüber einem Publikum (Seel 2001: 49). Die Anderen interessieren nicht in ihrer Besonderheit, sondern lediglich als Zuschauer_innen und Kommentator_innen. Das Ich wird absichtsvoll in Szene gesetzt; die Inszenierung wird sorgfältig vorbereitet. Fragen des Zeigens und Nicht-Zeigens sind zentral. Geschichten der Selbstinszenierung fanden sich ausschließlich in Interviews mit europäischen Netzakteur_innen und Blogger_innen.
3.2.1 Der bewunderte Star Neben der bereits dargestellten Vernetzungsgeschichte »Sehen und GesehenWerden« erzählt der Netzakteur eine Selbstinszenierungsgeschichte. In die-
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ser zweiten Geschichte schiebt sich das Sich-selbst-Herzeigen gegenüber dem Interesse an Anderen in den Vordergrund in der Erwartung, vom digitalen Publikum bewundert zu werden. Der 29-Jährige erzählt von seinen Selbstinszenierungsversuchen am Beispiel seiner Krankenhausaufenthalte: »Immer wenn ich mir irgendetwas tue, stelle ich das Röntgenbild online«, berichtet er. Als er wegen einer Knieoperation im Krankenhaus war, präsentierte er sich mit einem Knie, »wo eben die Sachen aus meinem Knie raushängen«. Mit diesen Selbstinszenierungen wolle er zeigen, »was für ein harter Knochen ich bin (lacht, d.A.) und was ich alles überlebe«. Wenn es Facebook nicht mehr gäbe, so antwortet er auf die Frage der Forscherin, wäre das für ihn »eine mittelschwere Katastrophe […], weil ich mich selber auch gerne herzeige«. Er habe zwei Versionen der Selbstdarstellung kreiert, »eine ideale Version«, ohne »Ecken und Kanten«, mit der er den Eindruck erwecken wolle, »bah, das ist ja der absolute Übertyp; der hat noch keinen einzigen Fehlschlag erlitten«, und eine zweite Version, »wo auch die blöden Fotos drauf sind«, die nur seine Familie zu sehen bekomme. Die jeweilige Präsentation ist wohl überlegt, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen: »Ich wähle schon genau aus, welche Infos ich weitergebe, damit dieser oder jener Eindruck von mir entsteht«. Seine Visualisierung erzählt die Version »Übertyp«. Der Netzakteur bildet den Blickfang auf diesem Bild; er hat sich erhöht positioniert, indem er sich auf einen Berg von Statussymbolen stellt, bestehend aus Laptop, Auto, Basketball. Breitbeinig steht er da mit umgehängten Schiern, die die Sportlichkeit des Netzakteurs unterstreichen sollen, den Blick in einen Spiegel gerichtet, aus dem ihm sein Ich entgegenschaut wie einst Narziss sein Spiegelbild in einem Teich erblickte und sich in dieses verliebte. Durch das Fenster hinter ihm blickt das Publikum und wirft neidvolle Blicke auf ihn. Ihn bewundern zu dürfen schildert er als eine Ehre: »Manche dürfen, können durchschauen. Andere stehen ganz hinten, die sehen nichts«. Außerdem hat er sich auf dem Bild die Möglichkeit eingeräumt, das am Fenster angebrachte Rollo herunterzulassen und sich damit den Blicken seines Publikums wieder zu entziehen, womit in dem Bild das Spiel zwischen Zeigen und Nicht-Zeigen als Machtspiel angesprochen wird. Neben Machtgefühlen zeigen sich in dieser Selbstinszenierungsgeschichte Stolz auf die eigenen Inszenierungsversuche, wenn er diese wiederholt als »cool« bezeichnet. Beim Erzählen dieser Geschichte schwingt aber immer auch etwas Ironie mit, so als wolle er sich von seiner Geschichte distanzieren, als wisse er um die Diskrepanz zwischen Inszenierung und Realität. Den virtuellen Raum, den er sich auf Facebook gesichert hat, beschreibt er als »einen kleinen Wohnraum«, was darauf hinweist, dass er sich dort zuhause fühlt, seine Wünsche ausleben kann. Zugleich ist es ihm wichtig, dass er diesen Wohnraum öffnen kann für die Blicke der Anderen, nicht nur für die Blicke seiner Freunde, sondern für die Blicke der ganzen Welt, wie er aus-
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drücklich betont. Diese weitweite Sichtbarkeit, ermöglicht durch den grenzüberschreitenden Charakter von Social Media, gibt der Selbstinszenierung des Individuums ein bisher nie dagewesenes Gewicht. Abbildung 3: Der absolute Übertyp (Netzakteur, 29, Österreich)
3.2.2 Modell und Suchender zugleich In dieser Selbstinszenierungsgeschichte eines 23-Jährigen steht ebenfalls das Ich im Mittelpunkt, das vor allem ein Modell für Andere sein will. Zugleich ist dieses Ich ein suchendes Ich, das nicht nur ein Publikum braucht wie »der bewunderte Star«, sondern Kommentator_innen. Es ist ein Ich auf dem Weg in eine bessere, offene Zukunft. Die Selbstinszenierungsgeschichte des 23-jährigen Bloggers, der in einer europäischen Großstadt geboren ist und dort lebt, begann im Jahre 2009, als er einen eigenen Blog gründete.6 Als Sprache des Blogs habe er Englisch gewählt, weil es eine internationale Sprache sei, die er besser beherrsche als seine Muttersprache. In seinem ersten Artikel habe er, der Fashiondesign studiert hatte, eine eigene Modelkollektion, »the dramatic human perfectionist« vorgestellt. Er habe weitere Artikel über Mode geschrieben, oft nachdem er Modeschauen und Presseveranstaltungen besucht habe. Er habe aber auch Artikel über Lebens- und Sinnfragen geschrieben. Seine zweite Phase des Bloggens habe mit einem Artikel begonnen, den er nach der Trennung von seinem Freund geschrieben habe und in dem er versucht habe, zusammen mit seinen Leser_innen zu ergründen, »ob das (die Liebe, d.A.) etwas Soziales ist, ob 6 | Der Name des Blogs wird aus Anonymitätsgründen nicht genannt.
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das ein chemischer Prozess ist oder ob das wirklich etwas ist, das uns damals schon in der Kindheit von Walt Disney eingeimpft wurde, das wir eigentlich […] durch Filme wie dieses ganz klassische Dornröschen, Schneewittchen und die Schöne und das Biest eigentlich gelehrt bekommen haben, daran zu glauben, dass es das auch wirklich gibt, dass man ewig mit dem Menschen zusammenbleibt«. Zu dieser Art von Blog, in dem sich ästhetische Fragen in Bezug auf Mode mit Lebens- und Sinnfragen mischen, hätten ihn die Jugendserie »Gossip Girl« 7 und die Fernsehserie »Sex and the City« 8 inspiriert. Er arbeite acht bis neun Stunden an einem Artikel und schreibe drei bis sieben Artikel pro Woche. Er habe derzeit (im Jahre 2011) 5000 Leser_innen, von denen er zustimmende und kritische Kommentare erhalte. Motiv für seinen Blog sei, dass er seiner Persönlichkeit Ausdruck geben möchte, einen von ihm gestalteten Ausdruck: »Ich glaube, es ist wichtig, dass man versucht, dieses Bild (das man der Welt präsentiert, d.A.) zu beeinflussen; dass man dieses Bild in eine richtige Richtung rückt […]«. Er möchte als jemand gesehen werden, »der eine Ahnung von Mode hat, dem man anmerkt, dass er das studiert hat, […], dass er sich mit dem Leben beschäftigt, aber dass er nicht aufhört zu kämpfen und auch seine Träume lebt […]«. Der 23-Jährige zeigt sich als kompetent und zugleich räumt er ein, dass er mit Problemen und Hindernissen konfrontiert ist, die es zu bewältigen gilt. Mit diesem Hinweis schlüpft er in die Rolle des Modells, die an anderer Stelle noch deutlicher wird, wenn er erklärt: »[…] dass es für mich wichtig ist mich mitzuteilen oder Leuten quasi zu zeigen, dass das Leben auch nach einer Trennung weitergeht […], dass es darum geht, kontinuierlich das Leben weiterzuleben und das Leben trotzdem zu genießen, auch wenn’s viel Kampf ist und harte Arbeit«.
Gefühle spielen für das Bloggen des 23-Jährigen eine wichtige Rolle; er schildert sie als Auslöser des Schreibens: »[…] meine Blogs sind grundsätzlich emo7 | Gossip Girl ist eine Jugendserie, die von 2007-2012 auf dem US-amerikanischen Network »The CW« zu sehen war. Die sechste Staffel wurde 2013 in deutschsprachigen Ländern ausgestrahlt. Es geht darin um Themen wie Freundschaft, Liebe, Drogen von Jugendlichen, die auf der Upper East Side in New York aufwuchsen und über die die Bloggerin Gossip Girl berichtet (s.http://de.wikipedia.org, Zugriff am 22.3.2015). 8 | »Sex and the City« ist eine US-amerikanische Fernsehserie, die von 1998-2004 gedreht wurde und sechs Staffeln umfasst. Im Mittelpunkt stehen vier Frauen aus New York und ihre erotischen und sexuellen Erlebnisse sowie ihre Gedanken zu Fragen menschlicher Beziehungen allgemein. Die Serie basiert auf dem gleichnamigen Roman von Candace Bushnell.
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tional gesteuert. Also, dass ich dann wirklich schreibe, wenn ich wirklich sehr traurig bin oder sehr glücklich oder in einer Sinnkrise bin […]«. Er schreibt über seine Gefühle, um seine Persönlichkeit auszudrücken und zu seinen Leser_innen einen emotionalen Zugang zu finden: »Ich glaube, das ist ganz wichtig, dass die Menschen diese emotionale Verbindung zu einem Blogger haben«. Der 23-Jährige stellt eine Reihe reflexiver Bezüge zu seinem Blog her. Er geht auf die Frage, warum ihm auch negative Kommentare wichtig sind, mit der Bemerkung ein »weil man kann sich ja selbst nicht weiterentwickeln […], wenn man immer nur positive reviews bekommt«. Diese Bemerkung zeigt ihn als Suchenden. Er spricht davon, dass das Bloggen für ihn zur Arbeit geworden sei, dass Arbeit und Privatleben nicht mehr zu trennen seien und das 24 Stunden lang, wie diese Aussage zeigt: »Mein Blog ist im Prinzip eigentlich 24 Stunden am Tag Arbeit«. Die digitalen Medien liefern diesem Blogger in Form des Blogs eine Bühne zur Selbstdarstellung: »Das ist […] als würden Kameras auf einen gerichtet sein und man dreht eine Episode einer eigenen, persönlichen Serie«. Sie bilden zugleich ein Gehäuse für seine Selbstsuche, die er im Austausch mit den Anderen vorantreiben will. Während sich der bewunderte Star als jemand inszeniert, der sein Ziel schon erreicht hat, ist der 23-Jährige auf dem Weg. Den Hintergrund für diese Selbstinszenierungsgeschichte bilden u.a. Kindheitserfahrungen. Es sei in seiner Familie immer wichtig gewesen, »ein gutes Gesellschaftsbild als Familie« abzugeben. Für sein Interesse an Mode, die zu einem der beiden Hauptinhalte in seinem Blog geworden ist, sei die Begegnung mit seiner Großmutter prägend gewesen, die er als »Grande Dame« charakterisiert, die »immer sehr akribisch darauf bedacht (war), sich selbst darzustellen«. Verstärkend sei ein Printmedium gewesen, die Vogue, die, als er sie mit neun Jahren zum ersten Mal angeschaut habe, bei ihm das Gefühl hervorgerufen habe: »Ja, das ist das, was ich irgendwann machen möchte«. Die Attraktivität von Mode hänge auch damit zusammen, dass sie »eine bessere Zukunft« verheiße. In dieser Verheißung könnte das Motiv für die dem Blog des 23-Jährigen inhärenten Suchbewegungen liegen. Ein zweites Mal, viele Jahre später, wurden Medien für den Blogger zur Orientierungshilfe; dieses Mal waren es die erwähnten US-amerikanischen Fernsehserien, die ihn veranlasst hätten, seinen Blog in einem »Mix aus Comedy und Drama« zu schreiben. Mit dem Verweis auf »Comedy« kommt ebenso wie in der Selbstinszenierungsgeschichte »der bewunderte Star« Humor ins Spiel; in der Selbstinszenierung des 23-Jährigen aber möglicherweise weniger in der Absicht, sich von der eigenen Selbstinszenierung zu distanzieren, sondern um das empfundene »Drama« des Lebens abzuwenden, um das »Schwere ins Leichte« (Bönsch-Kauke 2005: 17) zu verkehren.
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3.2.3 Gegenmodell Das Ich, das in dieser Selbstinszenierungsgeschichte präsentiert wird, ist nicht das bereits existierende Ich, das bewundert werden will oder das man überprüfen lassen möchte, es ist ein Ich, dem das reale Ich in den Augen seiner Schöpfer_innen nicht oder noch nicht entspricht, auf das sich aber Sehnsüchte richten. Das ersehnte Ich macht sich an Schönheitsvorstellungen oder an angestrebten Verhaltensweisen fest. Sehr genau wird überlegt, über welche Merkmale das ersehnte Ich verfügen soll, sehr sorgfältig wird an dem Idealbild gearbeitet. Die Selbstinszenierungsgeschichte »Gegenmodell« konnte in drei Interviews, die mit jungen Blogger_innen im Alter zwischen 21 und 24 Jahren geführt wurden, identifiziert werden. Die Selbstinszenierungsgeschichte einer der drei Bloggerinnen, die 21 Jahre alt ist, begann damit, dass sie bei der Wahl ihres Nicknames Gaia, den sie in ihrem Blog verwendet, auf den Namen der Protagonistin in der Buchserie »Fearless« zurückgreift. Sie habe diese Bücher mit 12 Jahren gelesen und schon damals sei Gaia, die keine Furcht empfinden könne, weil ihr das Furchtgen fehle, ein Vorbild für sie gewesen. Auch eine 24-Jährige greift bei der Wahl ihres Nicknames auf eine mediale Figur zurück. Sie nennt sich in ihrem Blog Asu, angelehnt an die Manga-Figur9 Asuka, ein »vorlautes rothaariges Mädchen«, das für die Bloggerin etwas Wünschenswertes zu verkörpern scheint, denn im Anschluss an die Charakterisierung von Asuka sagt sie: »Also, es ist nicht so verwunderlich, dass ich mich nach ihr benannt habe«. Sie hat sich aber nicht nur nach Asuka benannt, sie gestaltet auch ihr Äußeres so, dass sie Asuka ähnlich sieht; trägt »mädchenhafte Sachen, die sehr rosa und sehr glitzernd sind«. Eine dritte, 22-jährige Bloggerin, inszeniert sich ebenfalls mittels Fotos, auf denen sie sich so präsentiert, dass »die Leute schon oft erstaunt (sind), dass ich in echt ganz anders aussehe«. Sie will »interessant, vielleicht ein bisschen mysteriös« erscheinen. Den drei Bloggerinnen ist gemeinsam, dass sie ein vorteilhaftes Bild von sich im Netz zeichnen wollen. Die 22-Jährige verweist auf ihre Fähigkeit, gut »mit Perspektiven umzugehen und mein Gesicht so zu halten, dass es einigermaßen okey aussieht«. Die 21-Jährige erzählt, dass sie ihren Freund nötige, »mich tausendmal zu fotografieren bis ich zufrieden bin, wie ich auf den Fotos aussehe«. Der Zeiteinsatz, den die drei jungen Frauen für ihre Online-Präsenz aufwenden, wird von ihnen selbst als hoch eingeschätzt. Die 24-Jährige arbeitet zwei bis drei Stunden an einem Blogeintrag, die 21-Jährige ein bis zwei Stunden und die 22-Jährige ist drei bis vier Stunden täglich online und am Wochenende noch länger. 9 | Manga ist der japanische Begriff für Comics. Manga-Figuren entsprechen dem Kindchenschema; auffallend sind die großen Augen und die gewölbten Lippen.
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Die Bloggerinnen gestalten ihre Selbstinszenierungen für ein Publikum in der Hoffnung auf eine Kommentierung. Komplimente seien »Balsam für die Seele« sagt eine von ihnen; eine andere sagt, sie sei dankbar für Komplimente. Aber es gäbe auch zwiespältige bis negative Reaktionen von den Leser_innen. Die Bloggerin, die sich den Namen der furchtlosen Gaia gegeben hat, musste eines Tages lesen: »Auf deinem Blog bist du so ganz anders als im wahren Leben. […] in Wirklichkeit wirkst du ein bisschen schüchtern«. Eine andere Bloggerin freut sich, wie sie erzählt, über alle Kommentare, also auch über die negativen, vorausgesetzt sie sind »nett formuliert« und beinhalten »konstruktive Kritik«. Die Motive zu diesen Selbstinszenierungen erschließen sich teils direkt, teils indirekt. In den Äußerungen der Bloggerin mit dem Nickname Gaia steckt indirekt der Wunsch, sich durch die Adaption des Namens auch die Eigenschaften von Gaia anzueignen, womit sie bereits begonnen hat. Gaia, die alle Kampfsportarten beherrsche, habe sie motiviert, im sog. real life selbst eine Kampfsportart zu erlernen. Die bewunderte Furchtlosigkeit wirke sich auf ihr Verhalten generell aus: »Es ist mir überhaupt nicht mehr wichtig was andere Leute eigentlich von mir denken, auch im wahren Leben«. Noch direkter formulieren die anderen beiden Bloggerinnen ihre Motive. Eine von ihnen sagt, dass sie sich mittels der eigenen Inszenierung »einreden« möchte, »dass ich wunderschön aussehe und dass alle Menschen das auch glauben« und die dritte erklärt, sie wolle im Mittelpunkt stehen, »was ich im wahren Leben weniger tue«. Darüber hinaus fände sie es gut selbst zu entscheiden, »wie jemand das (u.a. die eigene Person, d.A.) sieht oder wie jemand das wahrnimmt«. Die Möglichkeit, auf die Wahrnehmung Anderer Einfluss zu nehmen, gebe ihr ein Gefühl von Macht. Emotional wird die Intention, die Selbstinszenierung als Gegenmodell zu gestalten, nicht von allen durchgehalten. Nur eine der drei Bloggerinnen konzentriert sich auf die Mitteilung erfreulicher Gefühle entsprechend ihres Idealbildes; die Anderen beiden zeigen auch, was sie real emotional belastet oder ärgert, auch wenn dies dem »schönen Bild« widerspricht. Eine der beiden beschreibt in ihrem Blog, wie sie sich bei der Beerdigung ihres kleinen Bruders gefühlt hat, die andere zeigt, wenn sie »sehr starken Liebeskummer hat oder gerade sehr sauer ist«. Sie gibt diesen Gefühlen in ihrer Erzählung aber eine positive Wendung, indem sie erklärt, dass ihr solche Gefühlslagen »sehr viel Energie« gäben und sie dann die besten Bilder zeichne. Freude und/ oder Ärger bilden bei diesen beiden Bloggerinnen aber nicht nur einen Teil der Selbstdarstellung, sie werden auch angesichts der Reaktionen empfunden, die von außen kommen, je nachdem, ob man zu hören bekommt, »du bist ja nur so eine oberflächliche Kuh« oder »du hast ’ne schöne Augenfarbe«. Da die Selbstinszenierung ein absichtsvoller Prozess ist, ist es nicht überraschend, wenn sich die drei Erzähler_innen reflexiv auf diesen Prozess be-
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ziehen, setzt Reflexion doch voraus, sich das eigene Handeln bewusst zu machen. Alle drei Erzähler_innen beziehen in ihre reflexiven Überlegungen nicht nur das eigene Handeln, sondern auch die Anderen, die Leser_innen ihrer Blogs, ein. Eine von ihnen bloggt überhaupt nur, wie sie schildert, um Rückmeldungen zu erhalten. Sie bezeichnet sich als »abhängig« von diesen Rückmeldungen. Eine Andere erklärt, es mache ihr Spaß, »so ’ne gewisse Illusion zu erzeugen«. Sie will diese Illusion, bezogen auf ihr Aussehen, bei Anderen erzeugen, vielleicht auch bei sich selbst. Vor allem verweist der Begriff Illusion auf ein Wissen über eine Diskrepanz zwischen Inszenierung und Wirklichkeit. Die dritte Bloggerin sieht ihre Selbstinszenierung in Zusammenhang damit, dass sie das Gefühl überwinden wollte »ich bin ja nichts und ich kann ja nichts«. Allerdings besteht in ihren Augen eine Diskrepanz zwischen dem geschminkten Mädchen in ihrer Online-Inszenierung und ihrem Interesse an Computerspielen, am Programmieren, an Zahlencodes, die ihre Inszenierung allerdings nicht zeigt. Ohne die technischen Möglichkeiten digitaler Medien wären die geschilderten Selbstinszenierungen nicht denkbar. Diese liefern durch ihre Multimedialität und ihre Interaktivität die Voraussetzungen für die Konstruktion eines Ichs, das das erstrebte Andere repräsentiert. Sie versammeln darüber hinaus mittels ihrer Netzstruktur ein Publikum, das die Konstruktionsversuche kommentieren soll. Die Selbstinszenierungen als Gegenmodell erfolgen nicht zufällig. Sie stehen in Zusammenhang mit biografischen Ereignissen und Erfahrungen, auf die die Bloggerinnen teilweise selbst hinweisen. Die erwähnten Versuche, eine Illusion durch die eigenen Selbstinszenierungen zu erzeugen, stehen im Kontext der Erfahrung, dass der eigene Körper nicht den Idealmaßen entspricht. »Ich hab halt – keine Ahnung – 20 Kilo zu viel oder 20 Kilo zu viel in den Augen der Mehrheit«, erklärt eine der Bloggerinnen. Bei der zweiten Bloggerin ist es die Körpergröße von 1,44 m, die andere zu Nachfragen provoziere, die sie als Angriffe erlebe und die sie durch ihre Selbstinszenierung abzuwehren versuche u.a. dadurch, dass sie ihre Körpergröße veröffentliche und ansonsten mit ihrem glitzernden Selbstentwurf punktet. Mit diesem arbeitet sie sich auch aus dem Gefühl heraus »ich bin ja nichts und kann ja nichts«, das mit ihrer Situation als Migrantin zusammenhänge. Aufgrund ihrer anderen Herkunftskultur und ihrer mangelnden Sprachkenntnisse sei sie nach der Ankunft im neuen Land in der Schule zur Außenseiterin geworden. Diese Situation habe sie versucht umzudrehen, indem sie sich Selbstbewusstsein antrainiert habe. Die Selbstinszenierung im Netz ist möglicherweise Teil dieses Trainings, bei dem sie in einer besseren Position ist als offline, denn sie ist diejenige, die im Netz Regie führt und unerwünschte Reaktionen löschen kann. Einen biografischen Umbruch musste auch die dritte Bloggerin bewältigen, die den Nickname Gaia gewählt hat. Sie musste wegen der Aufnahme eines Studiums von
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ihrer Dorfgemeinschaft, wo sie eine »schöne Kindheit« verbracht habe, in die Großstadt eines anderen Landes ziehen. Die Identifikation mit der furchtlosen Gaia könnte eine Strategie sein, sich gegen die Herausforderungen und Risiken des großstädtischen Lebens zu wappnen.
3.3 H ändler_innen - und V erk äufer_innengeschichten Auch in den Händler_innen- und Verkäufer_innensgeschichten wird inszeniert, jedoch nicht vordergründig die eigene Person, sondern Produkte materieller oder immaterieller Art werden in Szene gesetzt. Mit den Mitteln digitaler Technik werden diese Produkte sorgfältig präsentiert, kommentiert, bewertet, empfohlen. Häufig wird im Auftrag eines Unternehmens gehandelt; manchmal werden die Produkte selbst hergestellt oder erfunden wie z.B. Mitmachprojekte. Das Bewerben und Anpreisen eines Produkts ist mit Gewinnaussichten verbunden, die darin bestehen, dass man das Produkt geschenkt bekommt, ein Honorar erhält oder die Eigenproduktionen bewundert werden. Die Adressat_innen der Produktpräsentation spielen eine wichtige Rolle; es geht darum, deren Interesse zu antizipieren bzw. zu stimulieren und sie mit Texten und Bildern anzusprechen. Die digitalen Händler_innen und Verkäufer_innen unterscheiden sich danach, ob sie eher käufliche Ware oder Projekte vorstellen, die zum Mitmachen animieren. Allerdings gibt es keine trennscharfe Unterscheidung.
3.3.1 Gegenstände und Designprodukte im Angebot Ein zum Zeitpunkt des Interviews 14-Jähriger präsentiert in seinem Blog u.a. Taschenlampen, Smartphones, Produkte zum Bleichen der Zähne. Über eine bestimmte Seite im Internet wird er an Unternehmen vermittelt, die ihm diese Produkte zum Testen zur Verfügung stellen. Die Produktpräsentation erfolgt in Form eines persönlichen Erfahrungsberichts, für dessen Erstellung der 14-Jährige viel Zeit aufwendet, wie er erzählt: »Wenn ich irgendwas über die Taschenlampen schreibe, kann das schon mal einen Tag lang […] dauern«. Er lese seine Artikel wiederholt durch und habe dabei die potenziellen Leser_innen im Blick. »Mit einem Satz kann man ja auch einen Leser vergraulen, man darf ja nichts Falsches schreiben«, erklärt er. Er wolle erfolgreich sein und der Erfolg bestehe darin, viele Leser_innen bzw. Interessent_innen für seine Produktpräsentationen zu gewinnen genauso wie ein 24-jähriger Netzakteur, der sich als Anbieter von Designprodukten wie ein Verkäufer von Süßigkeiten erlebt, was er in dem folgenden Bild darstellt.
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Das narrative Subjekt — Erzählen im Zeitalter des Internets Abbildung 4: Der Blogger als Verkäufer von Süßigkeiten (Blogger, 24, Schweiz)
Dieser Netzakteur situiert sich mit einem Kiosk am Rand einer Autobahn, die für ihn den digitalen Kommunikationsstrom symbolisiert und versucht, seine grafischen Produkte wie Candys anzupreisen. Candys implizieren Süßes, das zum Anhalten verlocken soll. Für den Parkplatz hat er auf seinem Bild vorgesorgt; er befindet sich rechts vom Kiosk. Der 24-Jährige ist der Verkäufer, doch an der Herstellung seines Angebots hätten mehrere Freunde als Programmierer und Fotografen mitgewirkt. Er schildert die gemeinschaftliche Herstellung der Designprodukte und deren Präsentation im Blog als ein kommerzielles Unternehmen. Das Werben um Leser_innen ist den beiden Bloggern gemeinsam, wie sie ausdrücklich betonen. Dies verlangt die Fähigkeit, Bedürfnisse zu antizipieren, Empathie zu entwickeln sowie eine adressat_innenorientierte mediale Gestaltung. Es fällt auf, dass in beiden Blogs – wie ein Blick auf die Blogs zeigt – die Präsentation käuflicher Ware in eine Folge von Einträgen eingebettet ist, die thematisch gänzlich anderer Natur sind. In ihnen wird über den eigenen Alltag, über Beziehungen zu Menschen und Tieren, über Krankheiten, also über sehr Persönliches berichtet. Diese Kombination von geschäftlichen Aktivitäten und privatem Leben, die auf den ersten Blick irritierend wirkt, weil sie sich deutlich von professioneller Produktwerbung unterscheidet, könnte gleichwohl die Attraktivität des Blogs erhöhen und damit die Aufmerksamkeit für die vorgestellten Produkte sichern. Was motiviert die beiden Netzakteure zu ihren Produktpräsentationen im Netz? Der 24-Jährige erhofft sich Aufträge im Designbereich, der 14-Jährige rechnet damit, dass er die präsentierten Waren behalten kann und vielleicht noch zusätzlich ein Honorar erhält, was von der Zahl der Leser_innen seines
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Blogs abhängig sei. Das Interesse an einer hohen Leser_innenzahl ist bei beiden ökonomisch begründet, aber nicht nur. Der 14-Jährige spricht davon, dass ihn die Kommentare seiner Leser_innen »weiterbringen«. Da sich die Kommentare sowohl auf die Produktpräsentation als auch auf Einträge richten, in denen er aus seinem persönlichen Leben berichtet, die er als Tagebucheinträge schildert, ist anzunehmen, dass sich das Weiterbringen auf beide Bereiche bezieht. Die folgende Passage aus dem Interview unterstützt diese These. Der 14-Jährige erklärt: »Der Blog ist ja eigentlich mein Tagebuch. Wenn etwas passiert, was ich wichtig find’, dann schreib ich’s ja auch in meinem Blog. Ein Tagebuch versteckt man mehr oder weniger und ein Blog ist ja öffentlich«. Auf die Frage, weshalb er es bevorzuge öffentlich über sein Leben zu schreiben, entgegnet er: »Weil’s mehr Leute lesen können, und ja, die können was dazu sagen«. So wird auch das eigene Leben zu einem präsentierten Produkt, das öffentliches Feedback auf sich zieht. Emotional scheinen die digitalen Händler_innen und Verkäufer_innen weniger engagiert zu sein als die Protagonist_innen der Vernetzungs- und Selbstinszenierungsgeschichten; doch auch sie berichten von Gefühlen wie Freude und Stolz über Komplimente für ihre Produktpräsentationen oder für die Art und Weise, wie sie ihr Leben gestalten. Das Nachdenken über die Rolle der Leser_innen ihrer Blogs könnte als ein reflexiver Akt gedeutet werden; ansonsten werden die Versuche, einen privaten Blog für eigene kleine Geschäfte zu nutzen, nicht hinterfragt. Dies könnte als Beleg dafür gesehen werden, dass die kapitalistische Logik der Gewinnmaximierung auch für die Subjekte außerhalb der offiziellen Märkte zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist, die ihr Denken und Handeln prägt. Die digitalen Räume werden als Verkaufsräume genutzt, in denen sich die angebotenen Produkte multimedial inszenieren lassen und die durch ihren grenzüberschreitenden Charakter ein hohes Distributionspotenzial sichern. Zur lebensgeschichtlichen Einbindung der Händler_innen- – und Verkäufer_innengeschichten lassen sich nur in Bezug auf einen der beiden Netzakteure Vermutungen anstellen. Die Gestaltung seines Blogs als Schaufenster in eine bunte Warenwelt korrespondiert mit einer Lebenssituation, die aufgrund einer chronischen Krankheit davon gekennzeichnet ist, dass er immer wieder für längere Zeit von seinen gewohnten alltäglichen Zusammenhängen ausgeschlossen ist. Es scheint, als ob er sich mit der Gestaltung seines Blogs als Schaufenster ein neues eigenes Universum auf baut, zu dem er ungeachtet körperlicher Beeinträchtigungen immer Zugang haben kann. Das Spektrum der präsentierten Produkte umfasste zu einem bestimmten Stichtag im April 2015 vegane Kochrezepte einschließlich seiner Kocherfahrungen, ein Nokia Smartphone sowie eine Reihe von Dokumentarfilmen, von denen er
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jeweils einen Trailer10 vorstellt. Die virtuelle Parallelwelt erlaubt ihm, seine Fähigkeiten zu trainieren, neue Kompetenzen zu entwickeln und zu zeigen sowie darüber den fehlenden Face-to-face-Kontakt zu anderen Menschen zu kompensieren. Wie erwähnt, kann ihm auch seine Krankheit das Agieren in diesem Universum nicht verwehren; er kann sich darin möglicherweise jene Anerkennung verschaffen, die er durch seine Abwesenheit im sog. real life nicht erhält.
3.3.2 Mitmachprojekte im Angebot Nicht anders als der bereits vorgestellte 14-jährige Blogger bietet auch eine 22-jährige Bloggerin Firmen an, deren Produkte zu besprechen, wenn sie diese anschließend behalten kann.11 Nicht anders als dieser streut sie die Produktwerbung in ihren persönlichen Blog ein. Doch sie beschränkt sich nicht auf das Anpreisen käuflicher Ware wie z.B. Videogames oder Headsets einer bestimmten Marke; sie preist noch etwas Anderes an, das man nicht kaufen, bei dem man aber mitmachen kann. Ein Blick auf ihren aktuellen Blog im April 2015 vermittelt den Eindruck, dass diese Mitmachprojekte sogar im Vordergrund stehen. Sie ruft dazu auf, die Frage »Wie, wann und wo schaust du Serien am liebsten?« mit der Schilderung der eigenen Erfahrungen mit Fernsehserien zu beantworten, was sie als »Blogparade« bezeichnet. Sie animiert dazu, genauso wie sie selbst einen »Retro-Spielzeug-Spiegel« zu basteln, dessen Rahmen aus kleinem Spielzeug besteht, das sie mit grüner Farbe eingesprüht hat. Sie schickt eine »Recycel-Flohmarkt-Nerdkiste« auf die Reise, aus der sich jeder so viele Dinge herausnehmen darf, wie er selbst wieder hineinlegt. Am Ende soll die Kiste wieder bei ihr landen. Darüber hinaus veranstaltet sie Gewinnspiele, bei denen sie Geschenke von Firmen weiterverschenkt und schließlich versucht sie ein Bloggernetzwerk aufzubauen. Im Unterschied zu den digitalen Händlern, die käufliche Ware anbieten, stellt die 22-Jährige Produktideen auf ihren Blog. Die Herstellung des Produkts erfordert Kooperation bzw. Partizipation. Der mögliche Gewinn in Form kleiner Geschenke oder Spaß ist nicht ihr alleine vorbehalten; wer mitmacht, kann gewinnen. Als Motiv für ihre Mitmachprojekte nennt die 22-jährige Bloggerin Freude, wenn ihre Projektideen auf positive Resonanz stoßen. Negative Kommentare liebe sie weniger. Wer unentwegt negativ kommentiert, werde gewarnt: »Wenn das weiterhin so geht, dann werden deine Kommentare einfach igno10 | Trailer setzen sich aus einzelnen Passagen eines Films zusammen und haben eine Länge von ca. zwei Minuten. 11 | Es handelt sich um eine zweite Geschichte, die die 22-Jährige neben einer Selbstinszenierungsgeschichte erzählt.
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riert oder gelöscht«. Besucher_innen sind ansonsten natürlich als potenzielle »Mitmacher_innen« willkommen. Um Besucher_innen bzw. Leser_innen auf ihre Seite zu ziehen, lese und kommentiere sie die Blogs Anderer. Insgesamt sind es 355 Blogs, die sie regelmäßig lese. Das ergibt ca. 300 Nachrichten, die sie täglich zumindest überfliege. Das Werben für Mitmachprojekte und deren Herstellung erfordert eine sehr viel stärkere Vernetzung als das Anbieten käuflicher Produkte. Die 22-jährige Bloggerin ist die Initiatorin, aber die Produkte sind Gemeinschaftsprodukte. Die Bloggerin unterzieht ihr Handeln im Verlauf des Interviews auch einer moralischen Bewertung. Geschenke von Firmen ganz für sich zu behalten, schildert sie als moralisch bedenklich, denn sie sagt: »Allerdings nutz’ ich meinen Blog nicht nur für solche Sachen, sondern muss zugeben, den auch ab und zu zu missbrauchen, um Dinge umsonst zu bekommen«. Andere am Gewinn zu beteiligen, scheint das moralisch Wertvollere zu sein. Sie erklärt: »Ich mach da ja schon mal ab und zu was für meine Leser, es ist nicht so, dass ich die Produkte immer für mich behalte, sondern auch ab und zu was davon weggebe«. Ähnlich wie den digitalen Händler_innen, soweit diese ausschließlich käufliche Ware anbieten, dient ihr der digitale Raum als ein Verkaufsraum, den sie mit Hilfe multimedialer Anwendungen zu einem glitzernden Rahmen für ihre Produktplatzierung macht und dessen Netzcharakter ihren Wunsch, sich mit vielen zu vernetzen, unterstützt. Im Unterschied zu den Händlern der ersten Gruppe nutzt sie die medialen Möglichkeiten, um aus dem Handeln und Verkaufen von Produkten und Produktideen ein Spiel zu kreieren, für das sie Mitspieler_innen sucht. Einen wichtigen Hintergrund für die Präsentation und Gestaltung der Mitmachprojekte bildet die berufliche Ausbildung der 22-Jährigen als Mediengestalterin. Der eigene Blog dient nicht nur dazu, das Erlernte zu trainieren; mit ihm schafft sie sich eine Gestaltungsbühne, auf der sie autonom agieren und ausprobieren kann, was im Beruf vermutlich so nicht möglich ist. Es gibt noch ein weiteres biografisches Detail, das möglicherweise als Kontext für ihre Mitmachprojekte von Bedeutung ist. In früher Kindheit verlor sie ihren Bruder. Sie erwähnt den Tod des Bruders gleich zu Beginn des Interviews als sie von der Forscherin nach prägenden Lebensereignissen in ihrer Kindheit gefragt wird. Ihre Antwort: »Ich war da zwar erst sechs Jahre, aber ich weiß das alles noch ganz genau. […]. Wie meine Familie sich verhalten hat, das weiß ich alles noch ganz genau. Ich erinnere mich auch noch an den Tag, an dem er gestorben ist«. Der Tod des Bruders dürfte, wenn die Erinnerung daran nach 16 Jahren noch so wach ist, als einschneidender Verlust erlebt worden sein, der sie bis heute begleitet. Die heutigen Mitmachprojekte, die sie in ihrem Blog initiiert, bilden eine Art Gegenpol zu diesen Erfahrungen. Sie stellen den Versuch dar, Menschen an sich zu binden und kontrastieren insofern zu Verlusterfahrun-
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gen. Sie könnten die Funktion haben, den früh erfahrenen, einschneidenden Verlust zu kompensieren. Doch dies muss Vermutung bleiben. Das vorliegende empirische Material reicht nicht aus, diesen möglichen Zusammenhang weiter abzustützen.
3.4 G renzmanagementgeschichten In den Geschichten von Netzakteur_innen und Blogger_innen, die als Grenzmanagementgeschichten bezeichnet werden, stehen Grenzen als Gegenstand des Nachdenkens und Handelns im Mittelpunkt. Grenzen scheiden verschiedene Territorien voneinander und verlaufen häufig entlang von Wällen, Wasserläufen, Gebirgszügen. Sie werden sichtbar durch Grenzsteine, Grenzstationen und Grenzpolizisten markiert. Grenzsymbole dieser Art fehlen im Internet. Der Zugang zu bestimmten Anwendungsfeldern erfordert zwar zuweilen eine Registration und/oder ein Passwort, doch dies sind leicht zu überwindende Barrieren, die kaum als solche wahrgenommen werden. Die Technik digitaler Medien hat die bekannten geografischen und materiellen Grenzen hinweggefegt und den virtuellen Raum zu einem grenzenlosen Raum gemacht. Doch nur scheinbar; neue Grenzen drängen in den virtuellen Raum, die von außen oder von innen kommen können. In den erzählten Grenzmanagementgeschichten spielen äußere Grenzen in Form von gesellschaftlich-kulturellen Grenzen oder innere Grenzen, die mit den Bedürfnissen der Individuen korrespondieren, eine Rolle. Ob es sich um äußere oder innere Grenzen handelt, stets geht es um die Trennung zwischen öffentlich und privat, die verbunden sein kann mit der Trennung zwischen online und offline. Diese Grenzen kollidieren mit dem Angebot eines grenzfreien digitalen Raums; die Kollision wird zur Handlungsherausforderung für Netzakteur_innen und Blogger_innen. In den erzählten Geschichten wird diese Herausforderung angenommen; die Erzähler_innen agieren als Grenzmanager_innen, d.h. sie wollen unter Einbeziehung der erkannten oder vermuteten Risiken selbst entscheiden, wie sie die Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatheit ziehen. Sie als Grenzmanager_innen zu charakterisieren, verweist auf ein methodisches Vorgehen und kennzeichnet sie als Akteur_innen.
3.4.1 Grenzmanagement als Antwort auf gesellschaftlich- kulturelle Grenzen Eine 27-jährige arabische Bloggerin erzählt eine Geschichte, in der die Kollision zwischen gesellschaftlich-kulturellen Grenzen und der durch die digitale Technik eröffneten Grenzenlosigkeit im Internet besonders deutlich in Erscheinung tritt. Sie ahnt nicht nur, sie weiß, dass die Missachtung der äußeren
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Grenzen für sie gefährlich wird. Den genauen Verlauf der gesellschaftlich-kulturellen Grenzen kennt sie nicht, auch wenn sie im Verlauf ihrer Erzählung Themen nennt, für die ein gesellschaftliches Gesprächstabu gilt. Die 27-Jährige muss den Grenzverlauf der Grenzen selbst herausfinden. Möglicherweise erhält sie dabei Unterstützung aus der Bloggerszene, die es in der Stadt, in der sie lebt, gibt. Aber sie erwähnt eine solche Unterstützung nicht. Die 27-Jährige fing mit 17 Jahren an zu bloggen, nachdem sie festgestellt hat, dass es zu diesem Zeitpunkt (in den Jahren 2001/2002) überwiegend nur US-amerikanische Blogs und keinen Blog aus Saudi-Arabien gegeben habe. Der festgestellte Mangel habe sie motiviert: »And then I just thought, why not make a blog that is also from Saudi Arabia«. Sie sagt nicht, dass sie als Person auf der internationalen Bühne des Internets präsent sein wollte wie die Erzähler_innen der Selbstinszenierungsgeschichten, sondern dass durch ihren Blog ihr Herkunftsland dort vertreten sein sollte. Dies ist ein erster Hinweis darauf, dass sie sich als Bloggerin in einem kulturellen Rahmen situiert, den sie auch deswegen nicht übersehen kann, weil sie ihn in ihrem Online-Handeln ins Kalkül ziehen muss. Das Bewusstsein für diesen Rahmen sei im Verlauf der letzten 10 Jahre gewachsen. Ihre ersten Blogs würden sich erheblich von ihren heutigen Blogs unterscheiden. Früher habe sie mit ihrem tatsächlichen Namen gepostet, heute vermeide sie die Veröffentlichung persönlicher Informationen, jedenfalls in dem Blog, der sich an die Öffentlichkeit richtet. Die 27-Jährige führt derzeit drei Blogs: »Diana writes«, »Diana speaks«, »Diana actual«. Mit dem Blog »Diana writes« wolle sie ihre Freunde und die Familie erreichen, die über die ganze Welt verstreut seien. Sie blogge jeden Abend, berichte von ihren Erfahrungen, die sie mit Freunden und Familie teilen wolle, wie sie erklärt: »So it’s something where I can share my life with them«. Der Zugang zu diesem Blog sei auf einen ihr bekannten Personenkreis beschränkt, während sich der Blog »Diana speaks«, ein Podcast, an die Öffentlichkeit richte, insbesondere an die Öffentlichkeit ihrer Heimatstadt. Die Bloggerin produziert die Inhalte während der Woche und sendet sie jeden Freitag. Sie handeln vom Leben in ihrer Heimatstadt; oft lade sie Leute ein, die sie zum Leben in der Stadt interviewe, eine Stadt, der sie ein relativ offenes Gesprächsklima bescheinigt: »The City of (Name der Stadt)12 has a reputation for being the most open city in Saudi Arabia; we are more open to modern things«. Dennoch gäbe es Tabus. Die Bloggerin formuliert: »Well, in the audio blog we talk about everything you can imagine about in (Name der Stadt) in Saudi Arabia except, except for religion and politics. These are two things that we never, never talk«. Es sei nicht so, dass sie kein Interesse an diesen Themen hätte, im Gegenteil sagt sie: »In fact, I enjoy talking about them«. Aber diese Themen seien dem Face-toface-Kontakt jenseits des Internets vorbehalten. Sie erklärt: »You know, they’re 12 | Name der Stadt wird aus Anonymitätsgründen nicht genannt.
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very, they are very sensitive topics in my society and I feel it’s better discussed in person«. Ein dritter Blog trägt den Titel »Diana actual«, von dem sie aber im Interview nichts Genaueres erzählt; wir wissen nur, dass es sich um einen Fotoblog handelt. Das Führen von drei Blogs lässt die Strategie der Bloggerin erkennen, im virtuellen Raum öffentliche von privaten Bereichen abzugrenzen, indem sie die einzelnen Bereiche thematisch unterschiedlich füllt und sie für unterschiedliche Personengruppen zugänglich macht. Die Grenzziehungen sind nicht nur auf den virtuellen Raum beschränkt; sie werden von der 27-Jährigen auch zwischen diesem und dem Diskussionsraum jenseits digitaler Medien gezogen. Öffentliche Themen, deren öffentliche Diskussion online riskant erscheint, werden in den privaten Raum offline verwiesen. Darüber hinaus zieht sie eine Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatheit im Offline-Bereich, die von ihrer Online-Präsenz beeinflusst ist. Sie will z.B. im öffentlichen Raum jenseits des Bildschirms nicht als Autorin des Podcasts »Diana speaks« erkannt werden. Sie erzählt: »For example, I would be at a supermarket or I’d be at a restaurant and someone would recognize my voice and say ›Hey, aren’t you on that podcast?‹ […] Most of the time I deny it and I say ›No, no it’s not me (lacht). You probably mistake me for someone else‹«. Sie begründet ihr Verhalten damit, dass Hörer_innen ihres Podcasts auf die von ihr dort kreierten Inhalte reagieren sollen und nicht auf sie als Person. Sie deutet aber auch an, dass es in ihrem Land nicht erstrebenswert sei, Online-Berühmtheit zu erlangen, wenn sie zur Interviewerin sagt: »You would think that it’s a nice feeling, because it’s like being a celebrity, but in our society it’s not the same«. Wieder tritt der gesellschaftlich-kulturelle Rahmen in Erscheinung, auf den sie ihr Handeln abstimmt. Das in der Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit, von online und offline praktizierte strategische Handeln der Bloggerin lässt Methode erkennen, was erlaubt, es als Grenzmanagement zu kennzeichnen. Strategisches Handeln erfordert eine Bewusstheit, die auch in den Reflexionen der Bloggerin zutage tritt, die sie laufend in ihre Erzählung einstreut. Die Reflexionen handeln zum einen von den Gründen für das praktizierte Grenzmanagement. Als Grund für die nicht-öffentliche Diskussion über die Themen Politik und Religion nennt sie zunächst fehlendes Wissen: »I feel, I feel we don’t have the right knowledge, we don’t have enough information about religion and politics to talk about it. It’s not our expertise – do you know what I mean? And it’s not fair for us to talk about it«. Dieser Begründung steht die Äußerung gegenüber, dass sie gerne über diese Themen im privaten Umfeld diskutiere. Der Widerspruch löst sich auf, sofern die Bloggerin davon ausgeht, dass die öffentliche Diskussion umfassendes Wissen verlangt, worauf im privaten Gespräch verzichtet werden kann. Andererseits berichtet die Bloggerin davon, politische Fragen als kulturelle Fragen zu betrachten, weil sie eng mit Religion verknüpft sind. Religion gehört in den Bereich von Kultur; die Diskus-
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sion kultureller Fragen unterliegt möglicherweise geringeren Restriktionen. Dieses deutet sich in folgender Erzählpassage an: »I think it’s more cultural than political, honestly. Saudi Arabia is, we don’t really have much politics here that is not involved with the religion. The two topics are, they’re very close to each other. […] So we try to keep it on a cultural level«. Der letzte Satz spricht für ein strategisches Handeln in der Absicht, politische Fragen in kulturelle zu verwandeln, um sie öffentlich diskutierbar zu machen. Dies spricht weiter für Versuche, den öffentlichen Diskussionsraum im Internet auszuweiten. Die selbst gezogenen Grenzen stellen also keine fixe, sondern eine flexible Größe dar. Die in ihre Erzählung integrierten Reflexionen beziehen sich zum anderen auf die Identität der Bloggerin. Die selbst gezogenen Grenzen zwischen öffentlich und privat werfen die Frage auf, ob sich in den unterschiedlichen Bereichen unterschiedliche Identitäten der Bloggerin zeigen, ob es eine öffentliche und eine private Identität gibt. Diese Frage stellt sich offensichtlich auch die Bloggerin selbst, denn sie antwortet auf diese im Interview nicht gestellte Frage: »I’m pretty much the same online, the same person online as I’m in person […]. I feel like my life online cannot even be separated from my real life […] it’s like a continuation«. Auch wenn sich vielleicht online und offline unterschiedliche Identitäten zeigen, muss sich die Bloggerin nicht als zerstückelt erleben unter der Voraussetzung, dass sie sich ihrer verschiedenen Lebensfelder bewusst ist und die jeweils dort entfalteten Identitäten miteinander kommunizieren. Die Bloggerin spricht in der folgenden Erzählpassage von den Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen Lebensfeldern, was als kommunikative Beziehung gedeutet werden kann: »Everything that I do online has a connection to what I do in real life. My interests, my hobbies, my friends – it’s all very much interconnected«. Das beschriebene Grenzmanagement steht in enger Verbindung mit der Internetpräsenz der 27-Jährigen. »I’m 100 % an internet person«, sagt sie von sich selbst. Schon mit 14 Jahren habe sie begonnen das Internet zu nutzen; mit 16/17 Jahren habe sie einen eigenen Laptop bekommen. Sie beschreibt den Beginn ihrer Internetnutzung als Übergang vom Tagebuch zum Computer. Das erklärt die Bedeutung der Blogs als Plattform für die Verschriftlichung und Visualisierung ihres Lebens. Sie blogge täglich so wie man täglich Einträge in ein Tagebuch vornimmt mit dem entscheidenden Unterschied, dass sich diese Einträge an ein Publikum wenden und damit Fragen von Öffentlichkeit und Privatheit virulent werden. Gleichwohl steht sie dem Medium nicht unkritisch gegenüber; sie beklagt Verluste in der digitalen Kommunikation im Vergleich zur Face-to-face-Kommunikation: »Well, I think online there is a lot of things that are lost like maybe a tone of voice, maybe a facial expression and we tend to misunderstand a lot of things«. Das Wissen um solche Verluste könnte sie umso vorsichtiger werden lassen bei ihren Grenzziehungen zwischen Öffent-
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lichkeit und Privatheit, um riskante Missverständnisse in der öffentlichen Online-Diskussion zu vermeiden. Trotz ihrer Vorsicht konnte die 27-Jährige eine Kollision mit den gesellschaftlich-kulturellen Grenzen nicht verhindern. Gefragt nach dem für sie bedeutsamsten Blogeintrag erzählt sie von einem Eintrag, den sie nach der Veröffentlichung wieder gelöscht habe. Die Geschichte habe sich wie folgt abgespielt: »I wrote, I wrote a blog that is about racism. This is a very long blog post. I talked about racism in my city, which is something that we don’t really talk about, nothing you talk about. And when I published that, it suddenly became a huge thing. People started calling me and asking me about how I felt and why, how did I have the guts to publish something like that, you know. I have deleted it, it kind of showed me the boundaries«.Wir erfahren nicht, ob es sich bei den Personen, die an dem Blogeintrag Anstoß nahmen, um Regierungsvertreter_innen handelte oder um andere Netzuser; jedenfalls zeigten die Reaktionen eine Grenze auf, die die Bloggerin in ihren Augen überschritten hatte. Die Bloggerin betrachtete diese Grenzen als unüberwindbar und löschte den Eintrag. Im Nachhinein zweifelt sie, ob sie das hätte tun sollen, denn sie sagt: »I wish I didn’t delete it«. Das spricht für ihre Versuche, die Grenzen von Öffentlichkeit auszuloten; die von außen gesetzten Grenzen zu verschieben, eine Möglichkeit, die sie angesichts der heftigen externen Kritik zunächst nicht gesehen hat. Als für sie besonders bedeutsam bezeichnet sie diesen Blogeintrag möglicherweise, weil ihr ein so deutliches Zeichen gegeben wurde in einem sonst weitgehend unklaren Feld äußerer Grenzen, das sie in der Folge in ihr Handlungskalkül gezogen habe, was aber nicht heißt, dass ihr solche Zeichen willkommen sind, denn sie erklärt: »I think one of the worst things about publishing yourself online openly is that people tend to judge you«. Wenn die 27-Jährige das Internet zu einem für sie zentralen Lebensort macht, so ist das eingebettet in eine bestimmte Bildungsgeschichte. Sie hat eine internationale Schule besucht und hat dort die englische Sprache so gut gelernt, dass sie heute für englischsprachige Zeitungen schreibt und Englisch unterrichtet. Sie beherrscht also die Sprache, die ihr erlaubt, barrierefrei weltweit zu kommunizieren und sie beherrscht die technischen Kompetenzen, da ihr bereits als Jugendliche die digitale Technik zur Verfügung stand. Das förderte den Zugang zu einem Kommunikationsraum, der nach anderen Regeln funktioniert als die Gesellschaft, in der sie jenseits der digitalen Technik lebt. Das Grenzmanagement der Bloggerin ist der Versuch, mit den wahrgenommenen Differenzen in einer Weise umzugehen, die die Risiken bannt und ihr neue Kommunikationsspielräume eröffnet.
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3.4.2 Grenzmanagement als individuelles Bedürfnis Auch bei diesem Typus von Grenzmanagementgeschichten geht es um den Umgang mit Grenzen, die aber nicht von außen gesetzt werden, sondern individuellen Bedürfnissen entspringen. Diese Bedürfnisse existieren nicht unabhängig von sozialen Erwartungen, die aber sehr viel diffuser bleiben als die gesellschaftlich-kulturellen Grenzen in der vorangegangenen Geschichte der arabischen Bloggerin. Es dominieren in der folgenden Geschichte einer 19-jährigen Netzakteurin aus einem europäischen Land, die als Prototyp ausgewählt wurde, nicht die Problematisierung der extern gesetzen Grenzen sowie Versuche, diese Grenzen zu verschieben, sondern Grenzziehungen der Netzakteurin im Interesse individueller Chancenmehrung. Auch diese Grenzziehungen dienen der Abgrenzung von Privatheit und Öffentlichkeit, aber sie sind im Unterschied zur ersten Grenzmanagementgeschichte ganz auf die Darstellung der eigenen Person im Blog konzentriert, nicht auf die Diskussion politischer Themen. Fragen des Sich-Zeigens und Nicht-Zeigens stehen im Mittelpunkt, die Ambivalenzen hervorrufen, denn das Sich-Zeigen verspricht Vor- und Nachteile zugleich. Als die Netzakteurin mit 14 Jahren ihre erste Homepage erstellte, habe sie diese bereits als Plattform für die Präsentation ihrer Person und ihrer Vorlieben genutzt. Es gab darauf eine Liste mit dem Titel »Was Margarete13 mag, was Margarete nicht mag«. Außerdem sei auf der Homepage eine Galerie mit Fotos u.a. mit Fotos von ihrem Zimmer zu finden gewesen sowie eine Seite, auf der sie die von ihr gespielten Computerspiele und Songtexte veröffentlicht habe. Zum Zeitpunkt des Interviews agierte sie in sozialen Netzwerken. Auf Facebook sind Fotos von ihren Reisen, aber auch eigene Gedichte zu finden. In ihren Statusmeldungen teilt sie mit, »wenn ich wohin fahre oder wenn ich mir gerade irgendwas denke«. Auch wenn sie zu Events geht, stelle sie das »automatisch« auf Facebook. Die digitalen Medien, so scheint es, dokumentieren ihr Leben, doch es ist nicht das ganze Leben. Sie wähle aus, was und wie sie erzählt, in der Absicht, ein positives öffentliches Bild von sich zu erzeugen: »Also, ich will nicht irgendwo was online stellen, was mir selbst nicht gefällt oder was mich irgendwie schlecht darstellt. Man macht sich irgendwie immer ein bisschen schöner, wenn man die Möglichkeit hat sich zu präsentieren«. Es geht der Netzakteurin um das »schöne Bild«, das sie im öffentlichen Raum sozialer Netzwerke erzeugen möchte. Was nicht in dieses Bild passt, behalte sie für sich. Sie ziehe bewusst eine Grenze zwischen Zeigen und Nicht-Zeigen, wie sie in dem Zitat deutlich macht, die zugleich eine Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatheit ist. Indem sie von der Ich-Form in die Man-Form wechselt, als sie über die 13 | Es handelt sich um ein Pseudonym.
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geschönte Selbstdarstellung spricht, charakterisiert sie ihr Handeln als allgemeines Handeln, was ihr möglicherweise erlaubt, sich zu diesem Handeln zu bekennen, dessen problematische Seite ihr nicht verborgen blieb, wie ein von ihr erzähltes Erlebnis wie folgt belegt. Die Grenzziehung im Interesse eines schönen Bildes kann zum Problem werden, wenn eine andere Grenze überschritten wird, nämlich die Grenze zwischen dem digitalen Raum und der Welt jenseits dieses Raumes, in der die Face-to-face-Begegnung dominiert. Die Netzakteurin erzählt dazu eine Geschichte, die aus einer Zeit stammt, als sie gerade begonnen hatte, im Netz aktiv zu werden. Sie habe ein Mädchen in einem Chat kennengelernt, »mit der ich mich dann treffen wollte oder sie sich mit mir treffen wollte und ich dann nicht wollte. Also, es war für mich so, ich hab’ mich dann auf einmal nicht getraut«. Sie hat sich nicht getraut, weil sie um die Diskrepanz zwischen dem von ihr erzeugten Bild online und dem, was sie nicht gezeigt hat, wusste. Es scheint sogar, als ob sie das schöne Bild als ein falsches Bild wahrgenommen habe, denn sie sagt: »[…] da war ich auch noch mehr so, dass ich mich präsentiert habe als wer, der ich vielleicht nicht war«. Das hat sie sich getraut, so darf vermutet werden, weil das »Virtuelle und das Echte« in ihrem Kopf getrennt waren. Angesichts des bevorstehenden Treffens drohte sich die Grenze zwischen online und offline zu verflüssigen. Es gibt Hinweise, dass ihr das Treffen von Anfang an nicht geheuer war, denn sie lässt offen, wer sich mit wem treffen wollte und ob sie sich wirklich treffen wollte. Letztlich hat sie die Grenzüberschreitung zwischen online und offline verhindert, indem sie sich dem Face-to-face-Kontakt entzog, was sie als ein Drama schildert, weil die Absage im letzten Moment erfolgt sei. Bis dahin hat sie also gezögert, um dann die im Kopf vorhandene Grenze zu bestätigen und das schöne Bild unangetastet zu bewahren. In einer eigenen Homepage hat sie schon als 14-Jährige die Möglichkeit gesehen, über ihr öffentliches Bild selbst zu entscheiden. Diese Möglichkeit hat sie aus ihrer Sicht genutzt, um »mich in ein positives Licht zu rücken«. Vor dem Hintergrund dieses Motivs ist es nicht verwunderlich, wenn sie ein methodisches und intentionales Handeln im Umgang mit Grenzen im virtuellen Raum sowie zwischen dem sogenannten virtual life und real life entwickelt hat, das Managementqualitäten aufweist. Dieses Handeln verspricht ihr Rückmeldungen, die sie schätzt. Sie lösen ein Gefühl aus, »so Oxytocin«14, erzählt sie, »und das ist das gleiche Gefühl, was du auch hast beim Kuscheln (lacht). Und das löst wirklich ein Glücksgefühl aus«. Das Glücksgefühl ist aber nicht ungebrochen. Sie habe auch schon Angst empfunden als ihr bewusst geworden sei, dass der Adressat_innenkreis 14 | Oxytocin ist ein Hormon und wird u.a. mit Liebe und Vertrauen in Verbindung gebracht.
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ihrer elektronischen Botschaften unbegrenzt ist und dass jederzeit und an jedem Ort auf ihr Online-Profil zugegriffen werden kann. Sie erzählt: »Letztens war ich bei einer Party und da bin ich zu einem Fernseher im Wohnzimmer, wo man Flickr-Alben15 anschauen kann, und da haben sie auf einmal angefangen, mein Flickr-Album anzuschauen und das war schon, das war ein bisschen eigenartig«. Was sie in dieser Situation empfunden habe, fragt die Interviewerin. »Also zuerst war’s ungut«, antwortet sie und führt weiter aus, »weil Fotos drauf waren von so einem Fotoshooting mit einer Freundin gemeinsam. Und dann war ich mir auf einmal nicht sicher, ob sie auch wollte, dass ich das da raufstelle und das die Anderen sehen«. Die 19-Jährige wird überraschend selbst zum Publikum ihrer Online-Darstellung; sie muss sich aus der Perspektive des Publikums betrachten, muss dessen Maßstäbe übernehmen und ihr Bild daran messen. Das kann verunsichern. Sie merkt darüber hinaus, dass sie das Bild der Freundin einer Öffentlichkeit ausgesetzt hat, ohne sich deren Zustimmung versichert zu haben. Für die Konstitution neuer Öffentlichkeiten im virtuellen Raum fehlen allgemeine Regeln. Jeder muss für sich selbst entscheiden, wie er die Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatheit zieht. Diese Aufgabe hat die 19-Jährige der Freundin abgenommen und sich dadurch, so wird ihr bewusst, möglicherweise über deren Vorstellungen, wie die Grenze verlaufen soll, hinweggesetzt. Sie erkennt diesen Fehler; ob sie daraus Konsequenzen zieht, wissen wir nicht. Der kurz aufgekommene Zweifel an der Veröffentlichung des eigenen Bildes aber weicht rasch einer positiven Einschätzung, wie im Folgenden deutlich wird: »Aber ansonsten finde ich’s eigentlich auch ziemlich, also irgendwie spannend zu schauen, wie sie reagieren. Weil da merkt man auch, was eigentlich den Leuten gefällt und was nicht, wenn sie’s anschauen«. Als unmittelbare Zeugin der Reaktionen auf das eigene Bild erfährt die Netzakteurin, wie sie es noch besser machen kann, wie sie den Publikumsgeschmack noch besser treffen kann. So kommt diese Situation, die sie zunächst verunsichert hat, ihrem Motiv, ein positives Bild von sich zu zeichnen, entgegen. Dennoch begleitet sie der Zweifel, ob die Grenzen, die sie zieht, richtig gezogen sind. Mit Blick auf Grenzen, die sie als 14-jährige Netzakteurin zwischen Öffentlichkeit und Privatheit gezogen hat, meint sie: »Ob ich das eigentlich preisgeben hätte sollen?« und führt weiter aus: »Es ist halt zu hinterfragen, wieviel man da jetzt ins Internet stellt«. Sie sagt dies gleich zu Beginn des Interviews, was ein Hinweis darauf ist, wie sehr sie Fragen des Grenzmanagements beschäftigen. Gegen Ende des Interviews formuliert sie ihre Skepsis nochmals und wird noch deutlicher. Sie vergleicht ihre Generation mit einer Generation, die in ihren Augen über keine Online-Präsenz verfügt: »Wenn ich mir denke, die Leute, die 15 | Flickr ist ein Web-Portal, das ermöglicht, digitale Bilder und 5-minütige Videos auf die Website zu laden.
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jetzt erwachsen sind, haben keine so festgeschriebene Vergangenheit. Man kann eigentlich übers Internet nichts über sie herausfinden, weil’s das Internet noch nicht so lange gibt; also nichts über deren Jugend halt«. Diese Bemerkung klingt, als ob sie die beschriebene Generation um die fehlende Online-Präsenz beneidet. Im Unterschied zu dieser Generation sieht sie ihre Vergangenheit im Netz festgeschrieben. Eine »festgeschriebene Vergangenheit« ist wie eine Fessel, die einen an einem ungeliebten Ort festhalten kann, die man nicht los wird, die auch in der Gegenwart ihre Wirksamkeit entfalten kann, ob man will oder nicht. Gedanken dieser Art scheinen der 19-Jährigen durch den Kopf zu gehen, denn sie sagt: »Ich weiß nicht, ob man […] mich dann ewig nachverfolgen kann. Das kann ich eigentlich nie wieder rückgängig machen und das ist irgendwie ein bisschen schräg«. Aus diesen Worten spricht die Unsicherheit, was mit ihrem öffentlichen Bild geschehen kann, welchen Zugriffen es ausgesetzt sein wird, Zugriffe, die sie nicht verhindern kann, weil sie dieses Bild einem Medium anvertraut hat, das wie ein Archiv alle Inhalte dauerhaft speichert. So jedenfalls sieht es die 19-Jährige. Als Antwort auf die von der Forscherin gestellt Frage »Ich bin auf verschiedenen Online-Plattformen präsent. Wie sieht das für mich aus?«, zeichnet sie ein Bild, das sowohl die Verunsicherung als auch den Versuch, sich vor unerwünschten Zugriffen zu schützen, visualisiert. Abbildung 5: Rückzug in die Privatheit inmitten einer anonymen Öffentlichkeit (Netzakteurin, 19, Österreich)
Zu sehen sind viele Arme und Hände, die alle auf ein Wesen zugreifen, dessen Kopf aus einem mumienhaft verpackten Körper herausragt. Sie selbst beschreibt sich als das »Püppchen mit ihrem Mac, das so vor sich hin tippt und eigentlich die Augen zu hat und nach unten schaut«. Sie fühlt die von außen kommenden Arme und Hände, aber sie will sie nicht sehen; sie betont, dass es
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zu den Armen keine Gesichter gibt. Es handelt sich um eine anonyme Öffentlichkeit. Indem sie ihren Blick senkt und selbst nicht sieht, kann sie sich in der Illusion wiegen, nicht gesehen zu werden; als Fast-Mumie bietet sie darüber hinaus wenige Möglichkeiten des Zugriffs. Das Bild erweckt den Eindruck, als ob sie sich inmitten einer anonymen Öffentlichkeit in ihre Privatheit zurückzieht. Es steht im Widerspruch zu dem Bedürfnis, die digitale Bühne zu nutzen, um sich dort der Öffentlichkeit in einem positiven Licht zu präsentieren. Mit diesem Widerspruch lebt sie. Er provoziert Nachdenklichkeit. Sie sucht nach Gründen für die Veröffentlichung persönlicher Details und sieht sie auch in den Appellen, die von sozialen Netzwerken wie Facebook ausgehen: »Sie fordern dich halt ziemlich auf, alles preiszugeben von dir«. Diesen Appellen ist sie bislang insofern nachgekommen, als sie online zeigte, was der Konstruktion eines schönen Bildes diente. Wie die Zukunft aussieht, wissen wir nicht. Die identifizierte Nachdenklichkeit und die geäußerten Zweifel an dem bisherigen Grenzmanagement lassen vermuten, dass sich die 19-Jährige in einem biografischen Umbruch befindet. Die Netzakteurin hat das Internet mit 14 Jahren für sich entdeckt; sie hat es nicht als ein Instrument betrachtet, sondern als einen neuen Lebensort: »Dort habe ich damals mein ganzes Leben verbracht, also den ganzen Tag, also da war ich wirklich süchtig danach«. Im Rückblick auf diese erste Zeit im Netz und auf die Erfahrungen danach stellt sie sich heute die Frage nach den richtigen Grenzen. Ähnlich wie der Grenzmanagerin der vorangegangenen Geschichte geht es ihr um die Suche nach Strategien, die vor Risiken des ungewünschten Zugriffs schützen sollen, ohne das Potenzial einer neuen Öffentlichkeit zu tilgen.
3.5 V erwandlungsgeschichten Die Veränderung von Lebensphase und Identität bilden den Fokus, um den die Verwandlungsgeschichten kreisen, die in der Studie »Kommunikative Öffentlichkeiten im Cyberspace« identifiziert wurden. Die Protagonist_innen in diesen Geschichten sind zwischen 11 und 13 Jahre alt. Sie spüren, dass etwas anders wird, dass sie ein(e) Andere(r) werden sollen und/oder wollen. Sie begeben sich gedanklich, handelnd und emotional auf Entdeckungsreise, bei der die digitalen Medien in mehrfacher Hinsicht wichtige Funktionen übernehmen. Schon deren Besitz kann dazu dienen, das Anderswerden sichtbar zu dokumentieren; die digitalen Medien werden aber auch als Experimentierraum, als Trainingsort oder als Vergleichsfolie bei der Entscheidung der Frage nach dem richtigen Leben genutzt. Eingewoben in das medienbezogene Handeln sind moralische und Identitätsfragen sowie Fragen des Erfolgs und der Anerkennung.
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3.5.1 Die Zielstrebigen Die in die Interviews mit einem 11-jährigen und einem 13-jährigen Netzakteur aus demselben europäischen Land eingelagerten Geschichten haben eine klare Zielsetzung gemeinsam, was mit dem Titel »die Zielstrebigen« zum Ausdruck gebracht werden soll. Für den einen ist das Ziel das Erwachsenwerden schlechthin, für den Anderen sind es Erfolge und Gratifikationen, die aber mit dem Erwachsenwerden verbunden sind. Der 13-Jährige will alles hinter sich lassen, was ihn als Kind ausweist und sich stattdessen mit Symbolen aus der Erwachsenenwelt umgeben; der 11-Jährige sucht sein Ziel als berühmter Fußballspieler zu erreichen. Zu den Symbolen der Erwachsenenwelt zählen für den 13-Jährigen die Ausweitung seiner Zugangsrechte im Netz sowie der Besitz (medien)technischer Geräte; der 11-Jährige sucht seine Fertigkeiten im Fußballspiel auf dem Fußballfeld, auf der Straße und im Netz zu trainieren. Beide Protagonisten wurden in die Untersuchung als Mitglieder des SWR-Kindernetzes‘‘16 einbezogen. Doch bereits zum Zeitpunkt der Interviews, einige Monate nach der Auswahl, nutzten sie dieses Netz nur noch partiell oder distanzierten sich davon. Die Loslösung von dem Kindernetz korrespondiert mit ihrem Bestreben, neues Terrain zu erobern. Schon zu Beginn des Interviews distanzierte sich der 13-Jährige von einem Computerspiel, das das SWR-Kindernetz zur Verfügung stellt. Er habe dieses Spiel in der Vergangenheit gespielt und habe sich in diesem Spiel »Löwie« genannt; doch diesen Nickname habe er abgelegt, auch spiele er das Spiel kaum noch. Etwas später kam er auf ein zweites Computerspiel zu sprechen, in dem er mit einem Frosch und einer Tigerente interagieren konnte, von dem er sich aber ebenfalls abgewandt habe. Das Spiel mache ihm keinen Spaß mehr, was er damit begründet: »Wie gesagt, ich finde, das ist mehr so für Kleinere«. Der 13-Jährige will selbstbestimmt handeln, was auch in einer Erzählpassage deutlich wird, in der er einen Konflikt mit dem Redaktionsteam des SWR-Kindernetzes schildert. Er erzählt, dass er mehrmals gegen Regeln des Kindernetzes verstoßen habe u.a. weil er ein Playboy-Symbol, zusammengesetzt aus Dollarzeichen, auf seine Homepage gestellt habe, die er im Kindernetz angelegt habe. Er habe das Symbol daraufhin von der Seite genommen, aber am nächsten Tag wieder hochgeladen. Noch habe es keine neue Rüge gegeben. Der 13-Jährige bezeichnet sein Handeln als witzig; der Redaktion bescheinigt er, »eine Ma16 | Das SWR-Kindernetz (www.kindernetz.de) ist ein Portal für Kinder im Alter von acht bis 14 Jahren, das vom Südwestdeutschen Rundfunk seit 1997 angeboten wird. Zum Zeitpunkt der Interviews in den Jahren 2010/11 umfasste das Online-Angebot ein Mediennetz, ein Infonetz, einen Netztreff und ein Spielenetz. Das Netz wurde moderiert; die Kinder konnten aber auch selbst Clubs anbieten und eine eigene Homepage erstellen.
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cke« zu haben. In dem geschilderten Vorfall geht es um die Verhandlung von Macht. Das Fast-noch-Kind ringt mit den Erwachsenen um Entscheidungshoheit. Vorerst darf der 13-Jährige annehmen, das Machtspiel für sich entschieden zu haben, was er als Statusgewinn verbuchen kann. Während es in den geschilderten Handlungsbeispielen die Nutzung digitaler Medien ist, die aus der Sicht des 13-Jährigen Belege dafür liefert, dass er erwachsen wird, hebt er in weiteren Beispielen auf den Besitz (medien)technischer Geräte ab, die das Erwachsenwerden beweisen sollen. Er erzählt, dass er sich ein »nagelneues« Handy gekauft habe, »arschteuer«, aber er wollte eben ein »schnelles und gutes Handy« und das Taschengeld hat offenbar für die Anschaffung gereicht. Außerdem habe er sich für seinen PC »einen neuen Bildschirm geholt«. Er schaue sich gegenwärtig bei eBay auch nach einem Motorroller um, weil er sich in einem Jahr einen »holen« wolle. »Ja, dann kann ich nämlich Roller fahren«, sagt er und fügt hinzu, »den kaufe ich mir auch wieder von meinem Taschengeld«. Es ist nicht nur der Besitz dieser (medien) technischen Dinge, mit denen sich der 13-Jährige in die Welt der Erwachsenen katapultiert; für die Teilhabe an dieser Welt scheint auch der Besitz von eigenem Geld von Bedeutung, der ihm erlaubt, als Konsument aufzutreten. Nicht weniger zielstrebig verfolgt der 11-Jährige seinen Weg in die Erwachsenenwelt, wenn auch mit anderen Mitteln. Ihm geht es nicht um den Besitz von Statussymbolen und Rechten, sondern um den Erwerb von Kompetenzen als Fußballspieler. Er ist nicht nur Mitglied in einem Fußballverein jenseits digitaler Medien, er spielt auch in Fußballrollenspielen, die vom SWR-Kindernetz angeboten werden. Er tausche mit anderen Netzusern online Wissen über Vereine, Spieler und Trainer aus, sehe sich im Netz Videos über Fußballspiele an; und wenn er dann selbst spielt, »dann versuch’ ich eben auch so zu spielen, wie die eben, also auch Tricks abzugucken«. Er schlüpfe in die Rolle bewunderter Spieler, werde selbst zu einem Star, jedenfalls solange er online sei, wie er schildert, und erlebe »das Gefühl berühmt zu sein«. Ja, er geht noch weiter, fragt sich, »was er (z.B. Miroslav Klose, ehemaliger Spieler in der deutschen Nationalmannschaft) in seiner Freizeit macht, ob er vielleicht am Computer irgendwie im Internet ist«. Er folgt den Twitter-Spuren seiner Vorbilder. Sein Interesse gilt nicht nur deren Qualitäten als Fußballspieler, sondern auch deren Lebensgestaltung. Seine Vorbilder stehen für ein bestimmtes Lebensmodell, das er anstrebt, wie im Folgenden deutlich wird. Was motiviert den 11-Jährigen, so vehement seinen Vorbildern nachzuspüren? Er weiß es genau. Er will berühmt werden. Berühmt?, fragt die Forscherin nach. »Ja, berühmt sein, ja, ja!«, antwortet er und führt weiter aus: »Ich find’s eben toll, wenn man berühmt ist, sehr viel über sich hört, dass man in den Medien, im Fernsehen, Internet, im Computer eben, dass man sehr viel über einen weiß, […], dass man auf der ganzen Welt bekannt ist auch«. Der 11-Jährige wünscht sich, im Zentrum medialer Aufmerksamkeit zu stehen, bewundert,
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vielleicht beneidet zu werden, für viele wichtig zu sein. Er verspricht sich von solcher Berühmtheit aber noch etwas anderes, nämlich viel Geld zu verdienen. Er findet »es wäre schon gut, wenn man sich tolle Sachen davon kaufen kann«. Unter den »tollen Sachen«, die er sich gerne kaufen würde, versteht er Klamotten. »Also Klamotten sind mir eben wichtig«, erklärt er. In der Schule sei es sehr »in, coole Klamotten zu tragen«. Ihm würden Klamotten in knallbunten Farben gefallen, »so gelb, hellblau, blau, rot« und Glitzerndes, wie es manche Mädchen aus seiner Klasse tragen würden. Er schwärmt: »[…] dass eben vielleicht so kleine Diamanten, ja okay, so Steine, die glitzern, die in der Sonne schimmern«. Er selbst besitze solche Klamotten nicht, denn sie seien zu teuer. Aber er hat sich einen Nickname gegeben, der ihn in die Nähe dieser Klamotten rückt. Er nennt sich Hardyboy. Hardy sei die von ihm favorisierte Klamottenmarke, von der er allerdings kein Stück besitze. Weniger detailliert schildert der 13-Jährige seine Motive, die seinem Streben nach Ausweitung von Zugangsrechten im Netz und nach (medien-)technischen Produkten zugrunde liegen. Sie stecken eher implizit in der Schilderung dessen, was er tut. Er möchte die Kinderdinge durch Erwachsenendinge ersetzen. Warum die Erwachsenendinge für ihn so wichtig sind, darüber spricht er nicht. Welche Vorstellungen sich mit dem Erwachsensein für ihn verbinden, ist kein Thema in seiner Erzählung. Es könnte ähnlich wie bei dem 11-Jährigen Anerkennung sein, die er sich wünscht. Aber es gibt dafür keine Belege. Gefühle werden von den beiden nicht explizit geäußert, wenn sie über ihre Ziele und wie sie sie erreichen wollen, sprechen. Sie erschließen sich jedoch implizit. Stolz spricht aus den Worten des 13-Jährigen, wenn er die medientechnischen Dinge aufzählt, die er besitzt und wenn er betont, dass er sich diese von seinem Taschengeld geleistet hat, wenn er die Vorzüge seiner neuen Besitztümer dem »alten Scheiß« gegenüberstellt, den er hinter sich gelassen hat. Begeisterung lässt der 11-Jährige erkennen, wenn er sich vorstellt, selbst so berühmt zu sein wie mancher Fußballstar oder wenn er von den glitzernden Steinen erzählt, die er auf teuren Kleidern entdeckt hat, die manche Mädchen in seiner Klasse tragen. Auch Gefühle von Sehnsucht darf man bei ihm vermuten, ist das, was er bewundert und wonach er strebt, für ihn relativ weit weg. Angst- und Frustrationsgefühle sind für beide nicht auszuschließen, sind die Wege, die sie beschritten haben, doch mit Ungewissheiten gepflastert, die Rückschläge wahrscheinlich machen. Im Unterschied zu dem 13-Jährigen streut der 11-Jährige in seine Erzählung Reflexionen über die Gründe ein, die seine Vorlieben und seine Aktivitäten erklären sollen. Er versucht insbesondere seiner Vorliebe für Fußball auf die Spur zu kommen und erinnert sich: »Ich war schon sehr sportlich, eben immer«. Mit drei oder vier Jahren habe er mit dem Fußballspielen begonnen. »Eigentlich bin ich mit dem Ball aufgewachsen«, sagt er. Fasziniert habe ihn die Bewegung, vermutlich, weil er das Sich-Bewegen gut beherrscht, denn er
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führt weiter aus »man muss sich eben sehr viel bewegen, auch laufen und Kondition haben. Und ja, das habe ich eben und das gefällt mir daran so«. Er nennt noch einen zweiten Grund für seine Fußballbegeisterung, der auf die ästhetischen Qualitäten des Balls abhebt. Der Ball sei »ein sehr schönes Sportgerät« findet er. Dieser Blick für das Schöne schlägt eine Brücke zu seiner Begeisterung für bunte, glitzernde Kleider und steht möglicherweise für die Träume eines noch kleinen Jungen, der in Zukunft sehr viel erreichen möchte. Die beiden Jungen betreiben ihre Strategien, die auf Veränderung abzielen, online und offline. Sie beziehen die digitalen Medien nicht zufällig in ihre Strategien ein. Diese verfügen über Qualitäten, die sie zu einem zentralen Ort und Instrument machen, an und mit dem sich der Wechsel von der Kinderwelt in die Erwachsenenwelt entscheidet. Der 13-Jährige hat zu seinem 11. Geburtstag zwar Zugang zum Internet erhalten, was er als Zeichen seines Älterwerdens verstehen konnte, andererseits hat der Vater, wie der Junge erzählt, eine »Kindernetzsicherung eingebaut, damit ich nicht auf alle Seiten kann«. Diese Kindersicherung scheint für ihn viel zu bedeuten, denn er erwähnt sie im Interview immer wieder; an ihr misst er seinen biografischen Status. Kurz nachdem er diese Kindersicherung im Interview zum ersten Mal erwähnt hat, stellt er beruhigt fest: »Jetzt hab’ ich auch keine Kindersicherung mehr«. Der Vater habe sie rausgenommen, weil er davon ausgehe, dass er es nun alleine schaffe, sich kompetent im Netz zu bewegen. Stolz erzählt er: »So hatte ich halt dann alles bekommen, die ganzen Programme – Microsoft, Outlook und die ganzen Dinger hat mein Vater mir dann alle aufgespielt«. Andererseits erzählt er, dass er das soziale Netzwerk SchülerVZ nach wie vor nicht nutzen dürfe, obwohl er das »cool« fände, weil der Vater es nicht erlaube. Es könnte sein, dass er in der ersten Einschätzung, das gesamte Internet stehe ihm offen, etwas übertrieb, aber das würde nur unterstreichen, dass eine solche Öffnung in Verbindung mit dem Vertrauen, das der Vater in ihn setzt, mit dieser Öffnung verantwortlich umzugehen, entscheidend für ihn ist, wo er sich auf der biografischen »Lebensleiter« einordnen darf. Eine weitere, bereits besprochene Funktion spielt der Besitz (medien-)technischer Geräte, wozu neben Motorroller und Fernseher auch digitale Medien zählen als materialisierter Ausdruck des Erwachsenwerdens. Für den 11-Jährigen sind die digitalen Medien als Tranings- und Suchort wichtig. Wie beschrieben bieten ihm die Fußballrollenspiele Gelegenheit, seine Fähigkeiten als Fußballspieler zu trainieren; auf den sozialen Netzwerken wie Twitter und Youtube kommt er seinen Idolen nahe, indem er ihren digitalen Spuren in Wort und Bild folgt. Gegen Ende des Interviews erwähnt er noch eine weitere Trainingsmöglichkeit, für die er die digitalen Medien nutzt: die Kommunikation mit Mädchen. Digital vernetzt wage er etwas, was er face-toface nicht wage. Im Netz könne er sich »ein bisschen verstellen und sagen: ›Ja, wie geht’s dir so?‹«. Das würde er »in echt nicht so richtig […] rausbringen, weil
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ich eben ein bisschen schüchtern bin«. Verstellen heißt für ihn offenbar, dass er sich mutiger darstellt als er ist. Der Mut verlasse ihn, wenn er »richtig im Leben vor denen steht«. Er fürchtet sich möglicherweise davor, mit Zurückweisungen umzugehen, auf die er im Face-to-face-Kontakt unmittelbar reagieren müsste. Auch wäre in einem solchen Kontakt der kleine Junge sichtbar, der sich online hinter Worten und Bildern verstecken kann. Aber vielleicht wird der kleine Junge auch mutiger, wenn er lange genug im Netz geübt hat. Die Verwandlungsgeschichten der beiden Jungen sind im Kontext einer Lebensphase zu sehen, die als Umbruchs- und Übergangsphase gekennzeichnet werden kann. Das Kindsein geht zu Ende und das Jugendalter, das ins Erwachsensein führt, ist in Sicht. Sie sind mit neuen externen Erwartungen konfrontiert oder erahnen solche; manchmal werden diese Erwartungen konkret wie das Rausnehmen der Kindersicherung, das an ein verantwortungsvolles Agieren im Netz appelliert. Öfter bleiben sie diffus. Dieser unklaren Situation begegnen die beiden Jungen mit klaren Zielvorstellungen, die sie konsequent verfolgen.
3.5.2 Die Rollenspielerin Ähnlich wie der 11-Jährige schildert auch ein 12-jähriges Mädchen ihre Vorliebe für Rollenspiele. Doch im Unterschied zu dem Jungen schlüpft sie nicht nur in eine Rolle, sie übernimmt viele verschiedene Rollen online und offline, auch Rollen, von denen sie sagt, dass sie ihrer Persönlichkeit widersprechen. Die 12-Jährige probiert aus; sie hat sich noch nicht entschieden. Sie ringt mit der Frage nach dem Richtigen und die digitalen Medien dienen ihr dazu, der Antwort näher zu kommen. Im SWR-Kindernetz sei sie wegen der Rollenspiele, erzählt die 12-Jährige, die wie folgt ablaufen: Jeder, der an dem Spiel teilnehme, bekomme eine Rolle, deren Charakter nicht bildlich dargestellt, sondern von der Moderatorin oder der Spielerin selbst in Worten beschrieben werde. An einem Rollenspiel beteiligten sich zehn bis fünfzig Spieler_innen. Gemeinsam werde eine Geschichte geschrieben, in der die Spieler_innen bestimmte Rollen übernehmen. Welche Rolle sie spiele, fragt die Forscherin und die 12-Jährige antwortet: »Ich bin meistens ein normaler Mensch und lieber ein Mädchen natürlich, aber auch manchmal ein Junge«. Die Netzakteurin will nicht zu sehr von einer Realität abheben, die sie als normal empfindet, aber sie liebäugelt auch mit dem Anderen; so auch, wenn sie berichtet, dass sie manchmal »was Tussiges« spiele, obwohl sie das »in echt« nicht sei. Als Tussige trage sie blonde lange Haare, kurze Hosen und Röcke, ziehe Andere gerne auf und halte sich für »total toll«. Obwohl solches Verhalten nicht ihrem Selbstbild entspreche, sie finde »das spannend zu spielen«. Spannend sind möglicherweise das Sich-Hineindenken in eine andere Persönlichkeit, was neue Gefühle und Gedanken
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erleben lässt sowie die Reaktionen der Anderen, die ebenfalls Überraschendes bergen. Die 12-Jährige nimmt an sieben Rollenspielen teil und schlüpft jeweils in eine andere Rolle, womit sie sich ein breites Spektrum an Erfahrungs- und Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Jenseits dieser Rollenspiele schlüpft die 12-Jährige als Anbieterin eines Online-Zeichenclubs in eine weitere Rolle. In diesem Club, der 20 Mitglieder umfasst, tauschen sich diese über ihre Zeichenerfahrungen aus, beraten sich, wo man die besten Farben kauft und wie man sich bestimmte Techniken aneignet. Die 12-Jährige führt in diesem Club Regie, die sie wie folgt beschreibt: »Also, wenn jemand Neues kommen will, der muss sich bestätigen, dass er in meinen Club darf, und ich kann Umfragen machen, die mit ja/nein oder in/out beantwortet werden. Ich kann Beiträge löschen, falls sie nicht den Regeln – also falls die damit gegen die Regeln verstoßen würden. Ja, genau!«.
In dieser Rolle kann sie neben ihren Kompetenzen als Zeichnerin ihre Organisations-, Führungs- und Durchsetzungskompetenzen trainieren. Als sie nach den Motiven, diesen Club zu gründen, gefragt wird, erklärt sie dann auch: »Ich möchte mich verbessern, wie ich zeichne und male, das ist mir eigentlich am wichtigsten und dass sich andere auch verbessern«. Das zweite, auf Andere bezogene Motiv, erfordert die Rolle der Clubleiterin, die die Auswahl geeigneter Mitglieder trifft, deren Interessen abfragt und sicherstellt, dass sich alle an den gemeinsamen Regelkodex halten. Ein übergreifendes Motiv für die Online-Aktivitäten der 12-Jährigen steckt implizit in ihrer Visualisierung, die eine Antwort gibt auf die Frage »Wer bin ich im SWR-Kindernetz?«. Zu sehen ist eine weibliche Figur, deren Körper detailliert gezeichnet ist, während der Kopf lediglich aus einem Rechteck besteht, in das ein Fragezeichen gezeichnet ist. Auch auf dem Oberkörper der Figur sind zwei Fragezeichen angebracht. In der einen Hand hält das Mädchen einen Stift, in der anderen ein Blatt Papier; beides zeigt, was die 12-Jährige gerne macht: Zeichnen. Diese kommentiert: »Das Fragezeichen soll bedeuten, dass man nicht viel, also dass die Leute nichts über mich so genau wissen. Und das Einzigste, was sie wissen, ist das, was ich gerne mache, das hab’ ich in der Hand: Zeichnen. Und eigentlich müsste ich sehr viele Fragezeichen dort überall hinmachen, weil sie überhaupt nicht wissen, wie ich ausseh’, sondern nur, was ich gerne mache«. In der Tat, für die Mitglieder in den Rollenspielen und im Zeichenclub ist sie primär als agierende Spielerin präsent; die Anderen erfahren sie in ihren Aktionen. Wie sie aussieht, wissen sie nicht, denn es gibt kein Bild von ihr im SWR-Kindernetz und die knappe, dort gegebene Beschreibung ihres Aussehens stimmt nicht mit ihrem tatsächlichen Aussehen überein. Sie selbst jedoch scheint sich ein differenziertes Bild von sich zu machen, wie der detailliert gezeichnete Körper verrät. Es ist kein kindlicher Körper, sondern ein
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Körper im Übergang vom Kind zur jungen Frau. Dieser Körper symbolisiert ein mögliches, aber noch nicht ausgesprochenes Ziel. Verborgen allerdings bleibt auch für die Zeichnerin selbst der Kopf. Das Fragezeichen anstelle eines Kopfes könnte in Verbindung mit dem Fragezeichen auf Brusthöhe auf die noch verborgene Persönlichkeit verweisen, auf deren Suche sich die 12-Jährige in ihren Rollenspielen begeben hat. Wenn diese Interpretation stimmt, dann ist sie es auch selbst, die noch nicht weiß, wohin sich ihre Persönlichkeit entwickelt, die es aber herausfinden möchte, was ihr Experiment mit vielen verschiedenen Rollen erklären könnte. Abbildung 6: Auf der Suche nach dem Richtigen (Netzakteurin, 12, Deutschland)
Über Gefühle spricht die 12-Jährige so wenig direkt wie die beiden Jungen in der Geschichte »die Zielstrebigen«. Aber es gibt auch hier implizite Hinweise auf Gefühle. Das Motto auf ihrer Homepage lautet: »Ein Tag ohne Lachen ist
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ein verlorener Tag«, was auf das Bedürfnis verweist, sich zu freuen, lustige Dinge zu erleben. Als Motto formuliert, ist sie ständig daran erinnert, solchen Dingen Aufmerksamkeit zu schenken. Auch ihr Nickname »Sahnekeks«, den sie selbst erfunden hat, hat etwas Lustiges. Deutlicher als Gefühle wird im Interview mit der Netzakteurin ihr Hinterfragen der Dinge, anders gesagt, ihr Bedürfnis nach Reflexion. Dieses Bedürfnis, das sich wie ein roter Faden durch das gesamte Interview zieht, konzentriert sich auf die eine Frage nach dem Richtigen; der Vergleich zwischen online und offline soll ihr dazu verhelfen, sich über eine Antwort klar zu werden. Gleich zu Beginn des Interviews erwähnt sie, dass es an ihrer Schule eine Theatergruppe gebe, in der sie mitspiele. Unmittelbar nach dieser Bemerkung beginnt sie damit, das Theaterspielen mit den Online-Rollenspielen zu vergleichen. Sie stellt fest: »[…] man kann sich beim Theater zwar besser reinfühlen, aber beim Kindernetz find‹ ich das auch schön«. Wenige Minuten später erklärt sie, das Theaterspielen sei »viel schöner […], aber im Kindernetz ist es einfach einfacher, weil man nur den Computer anmachen muss, dort (in der Schule, d.A.) muss man auch hingehen und da hat man auch natürlich nicht alle Zeit, es ist ganz anders«. Mit der Frage, was anders ist, setzt sie sich immer wieder auseinander. Den Unterschied zwischen dem Online-Rollenspiel und dem Spiel in der schulischen Theatergruppe bzw. zwischen der Kommunikation in den beiden Realitätssphären generell macht sie, je länger sie sich damit beschäftigt, an der körperlichen Präsenz fest. Sie beginnt ihre Überlegungen zur vorhandenen oder nicht-vorhandenen Körperlichkeit mit der Feststellung »im Kindernetz sieht man nicht die anderen Personen, die eine Rolle spielen, also man sieht eigentlich gar nichts über die, sondern nur die Beschreibung der Rolle; im Netz […] muss man schreiben und im Theater muss man mit Mimik und Gestik seine Rolle ausdrücken und Schreiben ist halt was ganz Anderes«.
Die mediale Kommunikation beim Telefonieren biete zumindest noch die Möglichkeit, die Stimme zu hören mit der Konsequenz: »Man weiß mehr beim Telefonieren über den Anderen, die Stimme weiß man, […] man weiß die Stimmung. Wenn man chattet, kann man nicht die Betonung in die Stimme geben und das ist ja beim Reden ja das, was etwas über die Stimmung grade aussagt«.
Die Stimme lasse auf die Stimmung schließen, das Chatten dagegen biete die Möglichkeit zu schwindeln. Und noch einen weiteren Unterschied betont sie, der ebenfalls mit der körperlichen Präsenz zu tun hat. Sie könne mit ihren Netzfreundinnen nichts unternehmen, könne nicht mit ihnen Eis essen oder ins Schwimmbad gehen. So kommt sie schließlich zu dem Schluss, im Netz könne sie »keine so richtigen Freunde haben«; sie lege daher auch »nicht viel
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Wert auf Freunde im Netz«, mehr noch: Während es im »richtigen Leben« viele Dinge gibt, die wichtig sind, ist aus ihrer Sicht »im Netz […] eigentlich nichts richtig wichtig«. Der Körper wird in den Überlegungen der 12-Jährigen zum Garant für das Richtige und Wichtige, denn er könne nicht lügen. Die körperliche Unsichtbarkeit im Netz dagegen eröffnet Möglichkeiten der Verstellung und der Lüge, die die 12-Jährige irritieren. Andererseits nutzt sie in ihren Rollenspielen diese Möglichkeiten selbst und schätzt sie, weil sie sie in neue Erfahrungswelten führen. Es verwundert nicht, wenn sie bei der Bewertung der beiden Sphären zuweilen hin- und hergerissen ist, wenn sie teilweise Widersprüchliches behauptet. Sie begründet beispielsweise das Angebot ihres Online-Zeichenclubs damit, dass sie sich verbessern wolle; an anderer Stelle erklärt sie, dass man im Netz nichts lernen könne, »was man braucht«. Zwiespältig antwortet sie auch auf die Frage, was die Reaktionen anderer Netzuser auf ihr Online-Profil für sie bedeuten. »Also, mir ist das nicht unwichtig«, sagt sie, »aber auch nicht richtig wichtig«. Wichtig werden diese Reaktionen nur dann, wenn es negative Reaktionen sind. Diese lösche sie. Meist erhalte sie Lob, ja sogar Unterstützungsangebote, wenn sie traurig sei. Aber das sei ihr keine richtige Hilfe, weil die Anderen den Kontext nicht kennen, dem ihre Stimmung entspringe. Sie könnten sich z.B. nicht in einen Konflikt mit der Mutter hineindenken, weil sie die Mutter nicht kennen. Von einem Gegenüber, das ihren sozialen Kontext nicht teilt, erwartet sie sich nicht viel. Kein Wunder, wenn sie einem Jungen, der sie im Netz gefragt hatte, ob sie seine Freundin werden wolle, eine deutliche Abfuhr erteilt hat. »Ich habe gesagt, ob er sich nicht in seinem richtigen Leben eine Freundin suchen kann und dass ich das ziemlich unhöflich finde, dass man das einfach so fragt und dass wir uns nicht mal kennen«, berichtet sie. Für Beziehungen, die nicht bloß Rollenspiele sind, braucht es, so interpretiere ich das Verhalten der 12-Jährigen, einen gemeinsamen sozialen Rahmen, innerhalb dessen einen mehr miteinander verbindet, als die postings im Netz. Die 12-Jährige befindet sich ebenso wie die beiden Jungen der ersten Geschichte in einer biografischen Umbruchs- und Übergangsphase. Auch sie weiß, worauf es ihr ankommt: auf das Richtige oder auf das »Echte«, wie sie manchmal sagt. Was aber das Richtige ist, danach sucht sie. Sie weiß nur, dass sie nicht mit Lüge und Verstellung konfrontiert sein will. Die virtuelle Welt bietet in ihren Augen für die Lüge mehr Möglichkeiten als die Begegnungen face to face, aber zugleich sind es diese Möglichkeiten, die das Spiel mit verschiedenen Verhaltensweisen und Persönlichkeitsfacetten erlauben, aus dem heraus sich die Konturen eines neuen Ichs schälen können. Dieser Zwiespalt ist für sie zu einer Herausforderung geworden.
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3.6 A uf - und A usbruchsgeschichten In den identifizierten Auf- und Ausbruchsgeschichten steht dem bisherigen Lebensverlauf oder Gesellschaftsmodell etwas Neues gegenüber, mit dem man konfrontiert wird und/oder das ausdrücklich angestrebt wird. Der Begriff Aufbruch signalisiert, wenn man der Etymologie des Begriffes folgt, den Beginn eines Prozesses. Man spricht vom Aufbruch einer Blume, einer Knospe, aber auch einer Wunde (Grimm/Grimm 1984/1854, 630). Aufbrüche können freudvoll oder schmerzhaft sein. Der Begriff Ausbruch verweist auf ein plötzliches, machtvolles Ereignis, wie die Rede vom Ausbruch des Feuers, des Gewitters, des Vulkans, der Pest, des Gerüchts, des Unglücks, des Krieges erkennen lässt (a.a.O.: 53f.). Auf- und Ausbrüche werden in den Geschichten der Netzakteur_innen und Blogger_innen häufig miteinander kombiniert. Sie zeigen sich als biografisches Projekt, das in einen Bildungskontext eingebunden sein kann oder als politisches Projekt. In den biografisch motivierten Auf- und Ausbrüchen geht es darum, Altes und Neues miteinander zu verbinden, in den politisch motivierten Auf- und Ausbrüchen will man sich vom Alten trennen, das als Fessel erlebt wird oder mit leidvollen Erfahrungen verknüpft ist, wie die im Grimm’schen Wörterbuch zu findende Aufforderung illustriert, die lautet: »lasz nicht stumm den schmerz an deinem edlen herzen zehren, gib ihm ausbruch« (a.a.O.: 54). In den erzählten Auf- und Ausbrüchen, egal ob es sich um biografische oder politische Projekte handelt, dominiert ein zukunftsorientiertes Denken und Handeln der Akteur_innen. Gefühle der Verunsicherung und der Ungewissheit begleiten diese Orientierung, sind die Folgen des Handelns doch unabsehbar. Die Akteur_innen der politischen Auf- und Ausbrüche sind jedoch ungleich stärker gefährdet, denn sie setzen sich – wie darzustellen sein wird – den Risiken von Anschlägen auf Gesundheit und Leben aus.
3.6.1 Auf- und Ausbrüche als biografische Projekte Die Autor_innen der biografisch motivierten Auf- und Ausbruchsgeschichten waren zum Zeitpunkt des Interviews 20, 21 und 24 Jahre alt. Es handelte sich um einen türkischen und um einen amerikanischen Studenten, deren Geschichten Teil eines Bildungsprojekts waren, sowie um eine 24-jährige amerikanische Weltenbummlerin. Der 21-jährige amerikanische Student war Teilnehmer des computerbasierten universitären Projekts »Global Modules« (Scudder 2008: 109ff.), bei dem amerikanische Student_innen mit Student_ innen anderer Länder innerhalb eines festgelegten Zeitrahmens online über zeitpolitische Themen wie ›Friedenspolitik‹, ›Konsumorientierung‹ oder ›Totalitarismus‹ diskutieren17. Der 20-jährige türkische Student nahm an einem 17 | S. Scudder 2008: 109ff.
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studentischen Austauschprogramm teil, das ihn von Istanbul nach Wien geführt hat. Sein Auf bruch kann als geografischer Auf bruch bezeichnet werden, während der Auf bruch des 21-jährigen Amerikaners mentaler Art war. Ebenfalls geografische Grenzen hat die 24-jährige amerikanische Weltenbummlerin überschritten, als sie vor drei bis vier Jahren nach Europa aufgebrochen ist, wo sie mehrere Länder bereist und sich jeweils längere Zeit in einzelnen Ländern aufgehalten hat. Es gibt in den erzählten Geschichten das Alte und Vertraute in Gestalt des Herkunftslandes, der Familie und der Freund_innen und zugleich das Neue in Gestalt eines anderen Landes oder eines anderen Kontinents einschließlich der dort lebenden Menschen und deren Kultur. Die Verbundenheit mit dem bisherigen Lebenskontext ist den Protagonist_innen dieser Auf- und Ausbrüche wichtig, die vertrauten sozialen Verbindungen werden von ihnen gepflegt und zugleich wollen sie Menschen anderer gesellschaftlicher und kultureller Zugehörigkeit kennenlernen, sich mit ihnen austauschen und Freundschaften schließen. Der Gedanke des Auf bruchs ist stärker ausgeprägt als der Ausbruchsgedanke, zumal es mit Ausnahme eigener Schuldgefühle wenig zu geben scheint, was sie an der Erschließung neuer Lebensbereiche hindert. Angetrieben werden die Erzähler_innen dieser Geschichten von Neugier, Interesse am Anderen und Erwartungen auf verbesserte Lebenschancen. Die zentrale Erfahrung, die mit ihrem Auf bruchshandeln verknüpft ist, ist die Differenzerfahrung. Teil seines Auf bruchshandelns ist für den 20-jährigen türkischen Studenten, dass er einen Account in dem sozialen Netzwerk Netlog angelegt hat, das ihm von einem Freund für eine rasche Kontaktanbahnung im Gastland Österreich empfohlen worden war. Wenn er in diesem Netzwerk Anderen seine Freundschaft anbiete, schreibe er: »Hallo, ich bin noch neu in Österreich. Ich komme aus der Türkei. Ich will Menschen kennenlernen. Wie geht es Dir?«. Er kommuniziere in Deutsch, Englisch und Türkisch, was dafür spricht, dass er sich möglichst viele Kontaktmöglichkeiten eröffnen will. Sein Interesse gilt nicht nur den Online-Kontakten, er möchte sich mit den Menschen aus den sozialen Netzwerken auch face to face treffen. Um der möglichen Flüchtigkeit solcher Kontakte entgegenzuwirken, ist er erfinderisch. Er erzählt: »Wenn jemand Türkisch lernen will und will ich Deutsch lernen, mache ich Tandem«. Er berichtet von einer deutschen Freundin, mit der er sich regelmäßig im Cafe getroffen habe; die Kommunikation sei in türkisch-deutsch geführt worden mit dem Ziel, jeweils die Sprache des Anderen zu lernen. Einen Gegenpol zu seinen Versuchen, sich eine neue Sprache, neue Menschen, ein neues Land zu erschließen, bilden das tägliche Lesen türkischer Zeitungen im Internet sowie seine Skype-Telefonate mit seiner Familie in Istanbul jeden zweiten Tag, was er wie folgt kommentiert: »Ich schaue meine Familie und das macht mich froh. Ich freue mich«.
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Das Auf bruchshandeln des 21-jährigen amerikanischen Studenten bewegt sich innerhalb des erwähnten universitären Projekts, bei dem amerikanische Student_innen mit Student_innen aus anderen Ländern online über aktuelle gesellschaftliche Fragen diskutieren. Der 21-Jährige hat bereits dreimal an diesem Projekt teilgenommen. Im Unterschied zu dem türkischen Studenten stehen für ihn nicht die persönlichen Kontakte im Mittelpunkt, sondern der internationale Austausch über bestimmte Inhalte. Er agiert in diesem Austausch nicht nur als Individuum, sondern als Vertreter seiner Schule und seines Landes. »You feel an obligation to make a good impression for your school or for your country«, berichtet er. Die 24-jährige Amerikanerin erschließt sich das Leben in den neuen Ländern, in die sie reist, durch Bilder. Sie fotografiert alles, was ihr auffällt, z.B. Werbeplakate, »a man with a funny hat« oder das, was sie in den verschiedenen Ländern isst. Sie erzählt: »I take pictures of my food that I eat in different countries. […] It’s an easier way to put things together«. Diese Formulierung verweist auf den Versuch, durch Bilder das Neue und Verschiedene, das sie bei ihrem Aufbruch in einen anderen Kontinent erfährt, in einen Zusammenhang zu bringen, anders gesagt, Kohärenz herzustellen. Diese Intention zeigt sich auch darin, dass sie mit den Menschen, die sie unterwegs trifft, mittels Facebook in Kontakt zu bleiben sucht. So schafft sie sich einen festen Freundeskreis, der sie zumindest virtuell auf ihren Reisen begleitet und sie Kohärenz erfahren lässt. Bilder, die die 24-Jährige online stellt, symbolisieren nicht nur den Aufbruch in die neue Welt; sie schlägt mit ihnen auch eine Brücke zu dem, was sie zurückgelassen hat. Sie betont, dass die ins Netz gestellten Bilder von ihrer Familie abgerufen werden könnten. In ihrer Vorstellung hat die Familie Anteil an ihrem Auf bruch, sie wird zu einem Teil ihres Auf bruchsprojekts. Das stärkste Motiv in der Auf bruchsgeschichte des türkischen Studenten ist der Wunsch, neue Freunde zu finden, ein Netzwerk aufzubauen, das ihm vielleicht ein neues Zuhause bietet und das von ihm nicht in Konkurrenz, sondern als Ergänzung zu seinem bisherigen Zuhause gesehen wird. Dem amerikanischen Studenten ging es zunächst nur um eine gute Präsentation seines Landes gegenüber Menschen aus anderen Ländern. Doch dabei blieb es nicht. Er erschloss sich bei diesem Versuch auch das Andere, das seine Gesprächspartner_innen repräsentierten, und gewann aus deren Perspektive neue Einblicke in das Eigene, worauf noch eingegangen wird. In der Auf bruchsgeschichte der 24-jährigen Amerikanerin zeigt sich ein unbedingter Freiheitswille als Aufbruchsmotiv, den sie bereits als Kind entwickelt habe, wie eine von ihr erzählte Geschichte illustriert. Sie hätte damals gerne mit den Jungen Fußball gespielt, was ihr nicht erlaubt worden sei. Daraus hat sie Konsequenzen gezogen, wie sie sagt: »I wanted to play football with the boys but I wasn’t allowed to. If I can’t play football, I’m gonna read a book. They think I had social problems but it was really because I wanted to play football instead of hopscotch […]«. Die
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Entschlossenheit, sich nichts aufzwingen zu lassen, sondern das Eigene zu verfolgen, wurde für sie zur Lebensmaxime. Sie sagt: »If I had to do something I never wanted to but I would do just about anything willingly«. Diese Entschlossenheit dürfte auch bei ihrem Auf bruch nach Europa eine Rolle gespielt haben, was nicht heißt, dass es keine Fragezeichen für sie gibt. »I feel guilty all the time«, sagt die 24-Jährige. Die Schuldgefühle empfinde sie gegenüber ihren jüngeren Geschwistern, die sie in Amerika zurückgelassen hat und für die sie wie eine Mutter gewesen sei, in ihren Worten: »I loved to play mother. I was always very involved in their lives«. So sehr sie an dieser Rolle Gefallen gefunden hatte, sie hat sie durch ihren Auf bruch nach Europa aufgegeben; emotional aber scheint sie sich von dieser Rolle noch nicht gelöst zu haben. Der türkische Student blickt, wie erwähnt, mit Freude auf seine Familie, wenn er sie während seiner Skype-Telefonate sieht und spricht. Sorge bereitet ihm eher das Hier und Jetzt in seinem Gastland Österreich. Ihn quält die Unsicherheit, ob er in dem Land Freunde findet, wie die folgende Passage zum Ausdruck bringt: »Ich dachte im Januar, wenn sie (die Menschen in Österreich, d.A.) nicht freundlich sind, was mache ich? Wenn ich keine Freunde habe, was mache ich?«. Freundschaften scheinen für den 20-Jährigen eine Basis zu bilden, die die Risiken seines Auf bruchs abfedern sollen, aber gerade sie werden durch den Auf bruch erschüttert. Bisherige Freunde rücken in die Ferne, neue Freundschaften sind nicht gesichert. Der Auf bruch in ein anderes Land gleicht insofern nicht nur dem Auf bruch einer Knospe; er kann auch zu Verletzungen führen, wie im Grimm’schen Wörterbuch mit der Rede vom ›Auf bruch einer Wunde‹ angedeutet (Grimm/Grimm 1984/1854: 630). Die emotionale Verunsicherung des türkischen Studenten lässt ihn überlegen: »Österreich liegt in Europa und vielleicht sind diese Menschen ein bisschen kalt«. Er zieht eine klare Grenze zwischen seinem Herkunftsland und seinem Gastland; die unterschiedliche nationale Zugehörigkeit könnte, so ist seinen Worten implizit zu entnehmen, auch Konsequenzen für das emotionale Verhalten der Menschen da und dort haben. Diesen Überlegungen widersprechen seine Erfahrungen im sozialen Netzwerk Netlog, wie er erzählt: »Ich benutze Netlog und ich schaue diese Menschen an und Österreicher sind nicht so kalt«. Die konkrete Begegnung, zu der ihn sein Auf bruch gedrängt hat, konfrontiert ihn mit einem Widerspruch zwischen Erwartung und erlebter Wirklichkeit. Auch bei dem amerikanischen Studenten haben die konkreten, aber in diesem Fall virtuellen Begegnungen im Rahmen des universitären Online-Projekts Reflexionen ausgelöst, in denen wahrgenommene Differenzen im Mittelpunkt stehen. Zunächst nur daran interessiert, in den Online-Begegnungen mit Menschen anderer nationaler und kultureller Zugehörigkeit selbst ein möglichst gutes Bild abzugeben, wurde er plötzlich neugierig auf das Andere, wie er erzählt: »[…] it was interesting just that kind of cultural curiosity that probably anybody would feel anytime they get to communicate with some-
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body who would have some sort of different experience from themselves«. Die empfundene Neugier hat ihn erkennen lassen: »[…] the communication style is so different for people in different countries«. Es falle ihm schwer, so meint er, die Kommunikationsunterschiede zu beschreiben, denn sie seien nicht nur darin begründet, dass Englisch nicht die Muttersprache seiner Kommunikationspartner sei. Weiteres Nachdenken lässt ihn konkreter werden. Er versucht eine Charakterisierung des Kommunikationsverhaltens der Menschen in seinem Land, zu der er durch einen Vergleich gelangt. Zweierlei sei ihm aufgefallen: (1) »Whereas in the United States we tend to be really assertive, but at the same time usually really friendly«. (2) »Americans, in general, tend to respond like they’re right without question, which is maybe not the best quality to have […]«. Für den 21-Jährigen hat das Eigene durch die Begegnung mit dem Anderen noch schärfere Konturen erhalten, was er auch selbst feststellt: »You start to notice your own when you’re communicating with somebody who has different ones«. Der durch den kommunikativen Auf bruch in das Andere initiierte Blick auf das Eigene ist ein kritischer Blick, von dem wir nicht wissen, wohin er führt. Während sich die Reflexionen des 21-Jährigen auf das in der Konfrontation mit dem Anderen sichtbar gewordene Eigene richten, ist es bei der 24-jährigen amerikanischen Weltenbummlerin der Auf bruch selbst, den sie kritisch unter die Lupe nimmt. Sie reflektiert zum einen die sozialen Kosten in Gestalt des Kontaktverlusts zu ihren Geschwistern, die ihr Auf bruch verursacht hat, und zum andern das Risiko fragmentierter Erfahrung. Letzteres geht implizit aus ihrer Erzählung hervor, wenn sie schildert, dass sie durch Fotos versuche, unterschiedliche Erfahrungen in unterschiedlichen Ländern in einen Zusammenhang zu bringen. Das verweist zugleich auf eine Strategie, erkannten Risiken konstruktiv zu begegnen. Die digitalen Medien sind für sie ein wichtiges Instrument, Zusammenhänge über Ländergrenzen hinweg aufrechtzuerhalten. Sie schaltet ihren Computer niemals aus, um ihre Erreichbarkeit zu gewährleisten. Auch mitten in der Nacht sei sie ansprechbar insbesondere für ihre beste Freundin in Amerika, die den Zeitunterschied nicht realisiere. Sie erzählt: »So I leave it (den Computer, d.A.) open and she’d call me like four in the morning. But then I can hear it and I would answer«. Auch für ihre Eltern will sie erreichbar sein. Zudem könne sie durch permanente Online-Präsenz jederzeit die Online-Ausgabe der lokalen Tageszeitung ihres Heimatortes lesen. Online zu sein gebe ihr das Gefühl von Verbundenheit. »I feel connected; I have to still be online«, sagt sie. Neben den Beziehungen zu den Menschen aus ihrem Herkunftsland pflege sie mittels Facebook auch die neuen, unterwegs entstandenen Freundschaften. Der türkische Student nutzt die digitalen Medien ebenfalls, wie erwähnt, als Ort und Instrument für Beziehungspflege. Die Gestaltung der verschiedenen Arten von Beziehungen erfolgt durch unterschiedliche digitale Services.
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Skype dient ihm für den regelmäßigen Kontakt mit seiner Familie, das soziale Netzwerk Netlog für die Anbahnung von neuen Beziehungen und Facebook für die Kommunikation mit Freunden. Darüber hinaus bleibt er wie die 24-jährige Amerikanerin seinem Heimatland durch regelmäßiges Lesen der Online-Ausgabe einer türkischen Zeitung verbunden. Der 21-jährige amerikanische Student thematisiert das universitäre Online-Projekt »Global Modules« als eine Möglichkeit zur Weltkommunikation. Seine Visualisierung, die eine Antwort gibt auf die Frage »Who am I on ›Global Modules‹?«, kommentiert er wie folgt: »I’m putting in the centre of it a picture of the world. […] There are a bunch of small wavery lines from my face down onto the globe up in the centre. This will be my little ideas that I’m sending off into the world wide web. Then I’ll do the same for these other little faces«.
Der 21-Jährige betont mit seinem Bild den Austausch von Ideen, der ihm nicht nur das Fremde, sondern auch das Eigene nähergebracht hat. Aber er sieht auch Einschränkungen, die mit der digital gestützten Kommunikation im Vergleich zur Kommunikation face to face einhergehen, z.B. der Verlust mimischen und verbalen Ausdrucks. Abbildung 7: Digital gestützte Weltkommunikation (Netzakteur, 21, USA)
Die beschriebenen Auf brüche stellen Auf brüche in andere gesellschaftlichkulturelle Territorien dar. Teils basieren die Kontakte zu anderen Kulturen und Gesellschaften auf der physischen Überschreitung von Grenzen, teils auf einer
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virtuellen Grenzüberschreitung. Das Doppelgesicht des Auf bruchs als freudige Erwartung und als Sorge vor möglichen Enttäuschungen und Verlusten zeigt sich am stärksten, wenn ein geografischer Auf bruch gewagt wurde. Um so mehr steht die Pflege und das Knüpfen von sozialen Beziehungen im Mittelpunkt, während für den 21-Jährigen, dem sein bisheriger Freundeskreis sicher ist, die Kommunikationsmuster seiner neuen Gesprächspartner aus anderen Ländern zur Herausforderung werden, den eigenen Kommunikationsstil kritisch zu hinterfragen.
3.6.2 Auf- und Ausbrüche als politische Projekte Auf- und Ausbruchsgeschichten stellen sich insofern als politische Geschichten dar, als sie sowohl Kritik am herrschenden gesellschaftlich-kulturellen System als auch Vorstellungen von einer alternativen Zukunft transportieren. Die Geschichten stammen von vier Netzakteurinnen und Bloggerinnen im Alter zwischen 21 und 26 Jahren aus dem arabischen Raum. Von westlichen Netzakteur_innen und Blogger_innen wurden keine Geschichten dieser Art erzählt. Kritisiert werden in diesen Geschichten die mangelnde Rede- und Meinungsfreiheit, die Diskriminierung von Minderheiten sowie der Umgang mit Natur und Umwelt in der Region. Zugleich enthalten die Geschichten alternative Vorstellungen und Wünsche wie Redefreiheit, Minderheiten eine Stimme zu geben, verantwortungsvoll mit der Umwelt und den Ressourcen umzugehen, Kontakt zu westlichen Ländern, auch um zu zeigen, dass das eigene Land andere Seiten hat als die von den Herrschenden kontrollierten Medien übermittelten. Im Unterschied zu den biografisch motivierten Auf- und Ausbrüchen überwiegt hier das Ausbruchsmotiv. Die Geschichten sind in der Zeit vor, während oder kurz nach der Arabischen Revolution18 in den Jahren 2010 und 2011 situiert. Schon im Jahre 2007 habe sie begonnen, sich kritisch mit den politischen Verhältnissen in ihrem Land auseinanderzusetzen und die digitale Plattform Mideast Youth gegründet, erzählt eine 24-jährige Netzakteurin. Tabuisierte und angstbesetzte Themen hätten mit dieser Plattform ein Forum erhalten. Die 24-Jährige erzählt: »We talk a lot about taboos, you know homosexuality like I said atheism […], sex traffic, things that people don’t talk about because they are scared […]«. Auf dieser Plattform würden darüber hinaus Kampagnen gestartet wie die »March 18 Movement«, die sich für die Redefreiheit von Blogger_innen einsetze. Ebenfalls vor dem Beginn der Arabischen Revolution engagierte sich eine 23-jährige Netzakteurin in einer Umweltinitiative, die 18 | Die arabischen Erzähler_innen bezeichnen die politischen Proteste im Mittleren Osten und in Nordafrika in den Jahren 2010/11 ausschließlich als Revolution, während im Westen die Bezeichnung Arabischer Frühling dominiert.
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sich mit Fragen des Energieverbrauchs und der Müllbeseitigung beschäftigt.19 Adressat dieser Initiative ist die Bevölkerung insgesamt, nicht nur die Regierung. Zwei Netzakteurinnen sahen sich durch die Arabische Revolution aufgefordert, aus ihren Blogs politische Blogs zu machen. Eine von ihnen hat sich mittlerweile der »March 18 Movement« angeschlossen; sie blogge aber auch über die Rechte von Frauen. Ihr Engagement entwickle sich parallel zu politischen Ereignissen. Als in Ägypten ein Mann von der Polizei getötet worden sei, weil er die Polizei im Einsatz gefilmt habe, hätten sich ihre Tweets gehäuft. Sie versuche angesichts solcher Ereignisse auf Twitter einen »topic trend« zu machen, d.h. ein breit diskutiertes Thema. Eine 26-jährige jemenitische Journalistin nutzt seit Beginn der Revolution alle Internetdienste; sie sei täglich sechs Stunden online. Sie sagt: »I tweet, I blog, I skype, I sms«. Ihre gesamte Aufmerksamkeit gelte derzeit der Politik im Jemen und im Mittleren Osten. Sie sei zu einer wichtigen Informationsquelle für die internationalen Medien geworden. Die 26-Jährige sagt über sich: »I talk freely about my political views which are like one of the taboos in the Arab countries«. Die Motive und Ziele der gewagten Auf- und Ausbrüche werden in den Geschichten der arabischen Netzakteurinnen sehr deutlich formuliert. Sie sind teilweise spezifisch, teilweise allgemein; sie richten sich teilweise an Adressat_innen im eigenen Land bzw. in der Region, teilweise an eine Öffentlichkeit jenseits des Mittleren Ostens und Nordafrikas. Die 23-jährige Umweltaktivistin aus Saudi-Arabien sieht den Grund für ihr Engagement in ihrer Liebe zur Natur und in der Beobachtung, dass sich niemand in ihrem Land mit Umweltfragen beschäftigt. Sie möchte mit Anderen zusammen ein Bewusstsein erzeugen »about the importance of litter and recycling […]«. Eine 24-jährige Netzakteurin aus Bahrain, die sich für die Achtung der Menschenrechte in 19 | Das Engagement der 23-jährigen Netzakteurin aus Saudi-Arabien kann dem »Islamic Environmentalism« zugeordnet werden, der in den 60er Jahren seinen Anfang nahm und von dem iranischen, in den USA lebenden Philosophen Seyyed Hossein Nasr angeregt worden war. Die Öko-Muslime setzen sich für einen sparsamen Umgang mit Ressourcen, für Tierschutz, für gesunde Ernährung, nachhaltige Pilgerfahrten ein und begründen ihr Engagement mit dem Koran. Dieser Auslegung des Korans zufolge besteht die Welt aus Zeichen Gottes, die zu schützen sind. Organisationen des Öko-Islam gibt es vorwiegend in westlichen Ländern; der 23-jährigen Netzakteurin zufolge haben sich in der Folge der Arabischen Revolution aber auch im Mittleren Osten und in Nordafrika viele ökologische Gruppen und Organisationen gegründet. Für die Verbreitung des Öko-Islam spielen soziale Netzwerke, Blogs, Websites eine wichtige Rolle. Die hier dargestellten Informationen über den Öko-Islam stammen aus einem Gespräch mit Monika Zbidi, das von Kemal Hur geführt wurde. Monika Zbidi untersucht in ihrer Promotion den Öko-Islam als moderne islamische Strömung. (Quelle: http://mediendienstintegration.de/artikel/umweltschutz-oeko-muslime.html, Zugriff am 21.5.2015)
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ihrer Heimatregion engagiert, benennt ebenso präzise Gründe für ihre Aktivitäten: »[…] there was a lack of freedom of speech in the Middle East«. Darüber hinaus wolle sie mit der von ihr gegründeten Online-Plattform Mideast Youth den diskriminierten Minderheiten in der Region eine Stimme geben. Sie berichtet: »I like to discuss about ethnic and religious minorities. […] We started talking about Bahais and then atheism and then gay rights; so we started inviting gay people to come in, gay or bisexual or transgender people to give interviews with Mideast Youth […]«. Die 24-Jährige ist überzeugt: »[…] without their human rights no one else can have human rights«. Eine 21-jährige Netzakteurin aus den Vereinigten Arabischen Emiraten will der eigenen Generation zu einer Stimme verhelfen: »[…] we wanted people to know ›look, we’re the youth in the Middle East and we are active online, we are active socially and we believe in causes‹. We have the voice and we wanted to be heard«. Gefühle werden in den Geschichten der arabischen Netzakteurinnen kaum direkt angesprochen; nur eine von ihnen meint, sie würde im Netz zeigen, wenn sie glücklich sei, nicht aber, wenn sie traurig oder verärgert sei. Implizit aber verweisen die Geschichten auf ein breites Spektrum von Gefühlen, die die Auf- und Ausbrüche begleiten wie Zorn, Wut, Angst, Sorge, Hoffnung, Sehnsüchte, Enttäuschung. Neben den Motiven nehmen die Reflexionen einen breiten Raum in den Geschichten der arabischen Netzakteurinnen ein. Motive und Reflexionen sind nicht eindeutig zu trennen; doch die Reflexionen besitzen eine größere thematische Reichweite. Sie beziehen sich auf den gesellschaftlichen Status quo, auf die zum Zeitpunkt der Erzählung sich vollziehenden transformativen Versuche, auf die eigene Rolle und das eigene Handeln in diesem Prozess sowie auf die wahrgenommenen Grenzen. Ein Teil der arabischen Netzakteurinnen betont bei der Charakterisierung des gesellschaftlichen Status quo die Tabus, zu denen aus der Sicht der Herrschenden geschwiegen werden soll, ein anderer Teil die mangelnden Menschenrechte. »Usually in the Arab countries they have three taboos that they don’t talk about: it’s politics and religion and sex«, berichtet eine 25-jährige jemenitische Netzakteurin. Eine andere Netzakteurin aus Bahrain stellt die Existenz von gesellschaftlichen Tabus und den Mangel an Menschenrechten mit folgenden Worten in Frage: »How can we learn about other religions if we are not meant to talk about them? How can you believe about other human beings and about the value of life and the value of human rights if you have no rights?«. Die politischen Proteste, die sich im Jahr 2011 in verschiedenen arabischen Ländern ereigneten, werden von einer 12-jährigen Netzakteurin wie folgt gedeutet: »It’s like a political awakening what’s happening in the country. Already the revolution had made the people realize their own identity, their own nationality, their own political rights and people now are fighting for their de-
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Das narrative Subjekt — Erzählen im Zeitalter des Internets
mocracy«. Das von der Netzakteurin benutzte Wort »awakening« verweist auf einen vorangegangenen Schlafzustand, der überwunden wurde, weil, so lässt sich das Zitat interpretieren, etwas erkannt wurde, das wichtig genug erschien, um dafür zu kämpfen. Eine der Netzakteurinnen will dieses Erwachen unterstützen, indem sie mit ihrem Blog die Tabus bricht, wie sie erzählt: »When I’m blogging I’m trying to break that wall and talk about one of those taboos. And even when I talk about gender issues I’m also trying to talk about sex […] to shock the people with my opinion«. Sie will nicht nur im eigenen Land schocken; sie will auch die Weltöffentlichkeit schockieren, indem sie Einblick in ein anderes Jemen gibt, das bislang unsichtbar geblieben sei. Sie erzählt: »We have a lot of stories, a lot of issues, a lot of aspects, a lot of faces, that we want the world to know about. And it will be shocking for the rest of the world to know that there is another side of Yemen except the terrorism side. And so I would like to be part of that shock«. Ob hier das Sichtbarmachen der aus ihrer Sicht verschwiegenen Seiten des Landes für die Weltöffentlichkeit tatsächlich einen Schock bedeutet, sei dahingestellt. Wesentlich ist die Intention der Netzakteurin aufzudecken, öffentlich zu machen, das Schweigen zu brechen, kurz: den kommunikativen Aufstand zu wagen. Doch die subversiven Akte haben für die Bloggerin auch Grenzen. Sie würde nicht über Religion schreiben sagt sie, denn das wäre lebensgefährlich. Die Grenzen zu erkennen und ins Kalkül zu ziehen ist allen hier zitierten Netzakteurinnen ein Anliegen, um sich selbst und ihre Familien zu schützen. Eine von ihnen überlegt: »Because you don’t know […] who is monitoring you«. Das veranlasse sie, online nie mitzuteilen, wo sie lebt, wer ihre Eltern sind, wann sie aus dem Haus geht. Die Auf- und Ausbruchsgeschichten der arabischen Netzakteurinnen spielen sich nicht nur im digitalen Raum ab; jedoch hat dieser aus der Sicht der Erzählerinnen einen zentralen Stellenwert. Tendenziell werden mehrere digitale Kommunikations- und Informationskanäle genutzt, wie diese Netzakteurin schildert: »When I open my laptop it’s my Facebook open, my Twitter, my blog, BBC Yemen – it’s just everything. I don’t know how I’m able to do that but I do it«. »Social media is a helping tool«, erklärt dieselbe Netzakteurin, um kurz darauf zu ergänzen: »Social media is the future«. Was macht die Online-Netzwerke so attraktiv für diese Nutzerinnen? Sie schätzen das Vernetzungspotenzial digitaler Medien, in den Worten einer Netzakteurin: »I love Facebook because I can keep in touch with everybody«. Eine andere ergänzt: »I think the online-world makes the whole world smaller«. Willkommen ist auch die schnelle Kommunikation sowie das Distributionspotenzial des Mediums, wie diese Netzakteurin feststellt: »[…] it’s usually something about spreading my passion around«. Schließlich wird der digitale Raum als geschützter Raum geschildert. »I think some of the things we do we cannot do outside of Mideast Youth; things that are homosexual, human rights, discussions about atheism, this for sure you cannot talk about in public without being arrested or in dan-
3. Die Net zgeneration erzählt: Eine Typologie ihrer Geschichten
ger«, schildert eine Netzakteurin. Auf der Plattform könne man lernen, über solche Themen zu diskutieren und dabei alles in Frage stellen, was einem beigebracht worden sei. Deshalb sei die Plattform auch ein Bildungsort, in den Worten der Netzakteurin: »Mideast Youth is education«. Ein Ort, der den offenen Diskurs befördert sowie die Verbreitung von Ideen und die Vernetzung von Gleichgesinnten eignet sich nicht überraschend als Kampfinstrument, worauf diese Äußerung verweist: »We use new media in order to fight against oppression – oppression against ourselves, oppression against minorities«. Ebenfalls nicht überraschend angesichts der geschilderten Qualitäten, die die Auf- und Ausbrüche der Netzakteurinnen unterstützen, bezeichnen sich einige von ihnen als abhängig von den digitalen Medien. Islam und Internet sei kein Widerspruch, betont eine 23-Jährige: »I’m Moslem, I mentioned that I’m in (Name der Stadt), that I’m an environmentalist, but I love the internet and I used to be an internet junkie«. Diese Liebe zum Internet scheint nicht nur dem politischen Wert des Mediums geschuldet, sondern seinem Kommunikationswert allgemein, wie an anderer Stelle noch deutlicher wird als die Netzakteurin schildert, wie leicht sie mittels Facebook Menschen, die sie irgendwo getroffen habe, wiederfinden könne. Das Internet öffnet sich unterschiedlichen Inhalten, Intentionen und Aktivitäten. Denkbar ist auch, dass die politische Nutzung des Internets, die für die Netzakteurinnen derzeit dominiert, zu einem späteren Zeitpunkt und bei veränderter politischer Situation wieder einer stärker privaten Nutzung weicht. Politische Kritik und Kommentare der Netzakteurinnen richten sich, wie sie erzählen, an ein Publikum. Die Reaktionen – erwünschte und unerwünschte – blieben nicht aus. Zu den unerwünschten zählen Drohmails wie diese Nachricht, die von einer Netzakteurin zitiert wird: »Wake up young lady, you gotta stop criticizing the president otherwise your mother and sister will be deprived of you recklessness«. Dieselbe Netzakteurin erzählt von einem bewaffneten Angriff auf eine politische Aktivistin und Journalistin im eigenen Haus und von anderen Journalisten, die auf der Straße niedergeschlagen worden waren. Als eine Art Ausgleich für diese Bedrohungen verweist sie auf die Zustimmung, die sie von den Leser_innen ihres Blogs erfährt, »and from people who believe in me more than I believe in myself«. Sie sei mutiger geworden durch die Unterstützung ihrer Leser_innen, erzählt eine andere Netzakteurin, wage mehr zu sagen, in ihren Worten: »So when you have more supporters on your side it becomes easier to be more outspoken because you have more people who can back you up«. So wichtig diese Unterstützung sei, sie erwarte nicht nur Zustimmung. Unterschiedliche Meinungen, wenn auch keine Drohmails, seien auf der Plattform ebenso willkommen, die Koexistenz von Verschiedenheit sei ein wesentlicher Bestandteil des Konzepts der Plattform. Die Auf- und Ausbruchsgeschichten wurden von den arabischen Netzakteurinnen, wie eingangs erwähnt, erzählt, als die politischen Proteste in ein-
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zelnen Ländern des Mittleren Ostens und Nordafrikas in vollem Gange oder gerade beendet worden waren. Nicht nur die aktuellen Ereignisse, auch das, was dazu geführt hat, sind den Erzählerinnen sehr präsent und werden von einer Erzählerin so geschildert: »We a’re talking about many years of suffering, of people suffering in their own nation by their own regime […]«. Sie stehen aber auch im Kontext von spezifischen Lebensgeschichten, die bestimmte Lebensperspektiven, den kritischen Blick oder Weltoffenheit befördert haben. Jene Netzakteurin, die sich für Menschenrechte engagiert, sieht die Wurzeln für dieses Engagement in ihrer Kindheit. Damals schon sei ihr klar gewesen: »I never wanted an office job, I never wanted to work from 9 to 5, I always wanted to work for myself and I wanted to do something that will change everyone’s life«. Eine andere machte einen akademischen Abschluss in »International Relations«, was ihr Interesse am überregionalen Meinungsaustausch gefördert haben dürfte, der ihr so wichtig ist, wie diese Äußerung erkennen lässt. Sie sagt: »I love the fact that you can share ideas with the community both at a regional local level and also at a very international level as well«. Eine dritte Netzakteurin bezeichnet ihre Ausbildung zur Journalistin als »eye-opening career« und begründet: »I got to know to be in contact with real issues or serious issues that Yemen has to face«. Alle vier Netzakteurinnen werden nicht zufällig zu Autorinnen der Auf- und Ausbruchsgeschichten. Eigene Ambitionen spielen zusammen mit einer historischen Situation, die an diese Ambitionen appelliert.
4. Theoretische Nachlese
Zeit, Raum, Selbst, Du und digitale Medien
als narrative Konstruktionen
Das Erkenntnisinteresse richtete sich bei der Erarbeitung der präsentierten Typologie der Geschichten auf die narrativen Gespinste, die den im Interview berichteten Episoden, Reflexionen, Hintergründen, Zukunftswünschen zugrunde liegen, gleichsam auf die Geschichten hinter den Geschichten. Elemente dieser »hintergründigen« Geschichten werden teils explizit, teils implizit erzählt, manchmal lassen sie sich nur erahnen. Ihren Sinn bekommen diese Geschichten aber erst durch die Zusammenschau ihrer expliziten und impliziten Elemente. In dieser Zusammenschau werden die Wechselbeziehungen zwischen den narrativen Puzzlestücken erkennbar und diese wiederum eröffnen den Blick auf den über die einzelnen Puzzlestücke hinausgehenden Sinn. Die impliziten Elemente einer Geschichte sind, wie Jürgen Straub betont, seelisch nicht weniger präsent als die expliziten (Straub 2013: 78). Sie gehören, so Straub, zur »Erlebnisgeschichte eines Subjekts, das von sich erzählt« (ebd.) ähnlich dem Unbewussten, das aber nicht Gegenstand dieser Analyse ist. Die identifizierten Geschichten, die Explizites und Implizites sowie verschiedene Lebensphasen und Lebensbereiche integrieren, erinnern an die von Vera Nünning so bezeichneten »master narratives« (Nünning 2013: 163), worunter sie die großen sinnstiftenden Geschichten versteht, in die einzelne Episoden eingeordnet werden können (ebd.). Die große Geschichte darf – dies möglicherweise in Abweichung von Nünning – nicht als etwas Statisches vorgestellt werden. Es muss vielmehr damit gerechnet werden, dass sie Veränderungen unterliegt, dass sie zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedlich erzählt wird, dass sie mit neuen Episoden versetzt wird oder andere weggelassen werden. Es kann sein, wie das Material lehrt, dass sich eine zweite große Geschichte herausbildet, die sich neben der ersten großen Geschichte etabliert oder diese sogar verdrängt. Die jeweils erzählten großen Geschichten sind immer auch Produkte der Umstände, innerhalb derer sie erzählt werden. Zu diesen Umständen zählt sowohl der historische Zeitpunkt mit seinen gesell-
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schaftlich-kulturellen Implikationen als auch im Fall der gegenständlichen Studie die Forschungssituation, das formulierte Forschungsinteresse sowie die kulturelle Herkunft der Forscherinnen, was z.B. im Gespräch mit arabischen und US-amerikanischen Netzakteur_innen Einfluss darauf genommen haben dürfte, was und wie erzählt wurde. Solchen Einschränkungen unterliegt Wissenschaft generell, denn jede menschliche Äußerung konstituiert sich in Abhängigkeit von Raum und Zeit. Nichtsestotrotz enthält Subjektivität durchgängige Facetten, die das bereits diskutierte Irreduzible des menschlichen Subjekts ausmachen. Wenn Arif Dirlik in Bezug auf den gesellschaftlichen Wandel behauptet, dass das, was danach kommt, immer auch den Stempel dessen trägt, was zuvor gewesen ist (Dirlik 2010: 36), so lässt sich das auf die Ebene des Subjekts übertragen. Insofern kann man davon ausgehen, dass die jeweiligen Geschichten und die darin zum Ausdruck kommenden Bilder, Strategien, Erfahrungen, Lebensgefühle keine Zufallsprodukte sind, sondern Kontinuität aufweisen. Die Erzähler_innen sind auf zwei Instanzen verteilt; sie sind Erzähler_innen und zugleich Protagonist_innen der Geschichten (Ries 2013: 41), die als solche das Erzählte emotional oft erneut durchleben. Der ständige Wechsel zwischen diesen Rollen beim Erzählen impliziert auch einen Wechsel zwischen Abstand und Nähe zum Erzählten, was nicht ohne Konsequenzen für die narrative Bearbeitung des Erlebten und für die Konstruktion des Selbst bleibt. Ich komme darauf zurück. In diesem Kapitel soll der Frage nachgegangen werden, wie sich die in den ersten beiden Kapiteln vorgestellten Konzepte Zeit, Raum, Selbst und Du sowie die Strukturmerkmale digitaler Medien in den präsentierten Geschichten wiederfinden und welche Formen diese Konzepte und Strukturmerkmale in diesen Geschichten annehmen. Bezogen auf einzelne Geschichten wurde dies auf einer beschreibenden Ebene bereits angesprochen, nun aber soll ein Quervergleich dazu verhelfen, die einzelne Geschichten übergreifenden Tendenzen erkennbar werden zu lassen. Die theoretischen Konzepte Zeit, Raum, Selbst, Du und digitale Medien lassen sich in den verschiedenen Typen von Geschichten identifizieren, nehmen darin aber jeweils unterschiedliche Formen an. Dieses Kapitel baut auf dem vorangegangenen auf; es thematisiert die theoretischen Anschlussstellen. Die Kenntnis des vorangegangenen Kapitels erleichtert das Verständnis der theoretischen Ausführungen im Folgenden.
4. Theoretische Nachlese: Zeit, Raum, Selbst, Du und digitale Medien
4.1 Z eitspuren Zeit tritt in den verschiedenen Typen von Geschichten als biografische und als gesellschaftlich-kulturelle Zeit in Erscheinung.
4.1.1 »I wanted to play football with the boys, but …« — biografische Zeit Die eindrucksvollsten Zeitspuren in den Geschichten waren die lebensgeschichtlichen Spuren, die auf Vergangenheit oder gegenwärtige Lebensumstände verwiesen, als Ursache formuliert wurden oder auch nicht, der Forscherin dennoch geschildert wurden oder ihr zumindest nicht verborgen bleiben konnten. Lebensgeschichten existieren nicht als feststehende unveränderliche Größe. Sie konstituieren und wandeln sich in der Erzählung von Geschichten (Straub 2013: 86). Das Subjekt ist insofern in die Entstehung seiner Lebensgeschichte involviert, als es das Erlebte erzählerisch artikuliert (Straub 2013: 96). Wenn Norbert Meuter unser lebensweltliches Handeln als Prozess charakterisiert, zu dem das Erzählen von Geschichten konstitutiv gehört (Meuter 1993: 164), so kennzeichnet er einerseits das Erzählen als Handeln und andererseits betont er das Prozesshafte von Lebensgeschichten, ist das Erzählen doch jenes Handeln, durch das Lebensgeschichte entsteht. Sie entsteht als ein die Existenz eines Menschen umspannender narrativer Rahmen, der unterschiedliche Episoden, wie sie das Erzählen hervorbringt, integriert (Straub 2013: 111).
Gegenwart als Folge lebensgeschichtlicher Vergangenheit Vergangenheit an sich gibt es nach Aleida Assmann nicht, sie könne nur durch »Auswahl, Formung und Sinngebung aufgerufen werden« (Assmann 2011: 133). In den Geschichten der vorliegenden Studie wurde Vergangenheit bewusst oder unbewusst aufgerufen. Sie wurde als Ursache geschildert oder war als solche bzw. als begünstigender Faktor erkennbar. Ein bewusstes Aufrufen lebensgeschichtlicher Vergangenheit findet sich in den Auf bruchs- und Ausbruchsgeschichten der 24-jährigen amerikanischen Netzakteurin, die nach Europa aufgebrochen ist, der 24-jährigen Netzakteurin aus Bahrain, die das Netzwerk Mideast Youth gegründet hat, der 26-jährigen jemenitischen Bloggerin und Journalistin sowie in der Selbstinszenierungsgeschichte des 23-jährigen Bloggers aus Österreich, der einen Modeblog führt. Die Amerikanerin sieht einen wesentlichen Zusammenhang zwischen ihrer schon als Kind entwickelten Eigenwilligkeit (die sich u.a. darin geäußert habe, dass sie sich nicht mehr an Spielen im Freien beteiligte, weil es ihr verwehrt worden war, mit den Jungen Fußball zu spielen) und ihrem Aufbruch in einen anderen Kontinent als junge Frau. Die 24-jährige arabische Netzakteurin benennt die Entschlossenheit, das eigene Leben und das Leben
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Das narrative Subjekt — Erzählen im Zeitalter des Internets
Anderer zu verändern, die sie schon als »very young girl« empfunden habe, als Grund für ihr späteres politisches Engagement, das als Ausbruchshandeln interpretiert wurde. Der 23-jährige österreichische Blogger erzählt eine Selbstinszenierungsgeschichte, aber auch für ihn ist klar, was ihn zu seinen Selbstinszenierungshandlungen motiviert hat. Er nennt drei in der Vergangenheit angesiedelte Ursachen: das Leitbild seiner Familie, nach außen ein gutes Bild abzugeben, die Modezeitschrift Vogue, die seine Leidenschaft für Mode als Mittel der Selbstdarstellung geweckt habe als er neun Jahre alt war, seine Oma, die »sehr akribisch darum bemüht war, sich selbst darzustellen, aber auch gut auf die Gesellschaft zu wirken«. Weniger weit zurück in die Vergangenheit reichen die Ursachen, die die 26-jährige jemenitische Bloggerin verantwortlich für ihr gegenwärtiges Handeln macht, das ebenfalls als Teil einer Ausbruchsgeschichte gedeutet wurde. Sie betrachtet ihre Ausbildung zur Journalistin als entscheidend dafür, dass sie politische Zusammenhänge durchschaut hat. Diese Annahme illustriert die These von Tilmann Habermas, dass Lebensgeschichte nicht in der Kindheit festgeschrieben wird, sondern auch im Jugendalter und darüber hinaus eine weichenstellende Kraft entfalten kann (Habermas, T. 2011: 649). Wie ist der Wahrheitsgehalt der von den Erzähler_innen aufgerufenen Vergangenheit einzuschätzen? Die von ihnen geschilderten Ursache-WirkungsZusammenhänge, die jeweils ein logisches Bild ergeben, werden in der einschlägigen Literatur als Konstruktionen betrachtet. Vergangenheit werde »oft so modelliert […], dass sie eine Stütze für ein Argument oder eine Haltung der Gegenwart ist« (Assmann 2011: 123), stellt Assmann fest. Ähnlich argumentiert Jürgen Straub, der davon ausgeht, dass sich Vergangenheit nachträglich »im Licht einer veränderten Gegenwart und der Antizipation einer neuen Zukunft« (Straub 2013: 111) verwandeln kann. Das spricht dafür, dass erzählte Vergangenheit eine bestimmte Funktion für den/die Erzählende erfüllt, nämlich ihm/ihr das eigene aktuelle Handeln als logisch und sinnvoll erscheinen zu lassen. Insofern ist es für das Subjekt nicht wichtig, ob etwas so gewesen ist, wie es erzählt wird (Ries 2013: 36), wichtig ist, dass die erzählte Vergangenheit dem Subjekt einen Halt gibt, auf dessen Basis es Zukunftsperspektiven entwickeln kann. Genau dies interessiert in diesem Buch, in dem die Perspektiven der Subjekte ermittelt werden sollen. Vergangenheit kann für die Genese von Lebensgeschichten aber auch dann eine Rolle spielen, wenn sie den Subjekten nicht bewusst ist oder allenfalls geahnt wird. Eine solche Ahnung lässt sich in der Selbstinszenierungsgeschichte der 21-jährigen Bloggerin aus Italien, die sich den Nickname Gaia ausgesucht hat und aus der Verkäufer_innengeschichte der 22-jährigen Bloggerin aus Deutschland erkennen, die für Mitmachprojekte wirbt. Beide erzählen von Ereignissen bzw Erfahrungen, die aus ihrer Sicht prägend für ihr Leben waren, ohne dass sie diese in einen Zusammenhang mit dem Fokus ihrer Geschichte
4. Theoretische Nachlese: Zeit, Raum, Selbst, Du und digitale Medien
bringen. Zwar erklärt die 21-Jährige, dass sie die Orientierung an Gaia, die Heldin aus dem Roman »Fearless«, den sie mit 12 Jahren gelesen habe, mutiger gemacht habe. Aber sie sagt nicht bzw. ahnt allenfalls, dass Gaia – so meine Interpretation – zu einem Gegenmodell geworden ist, das ihr hilft, aktuelle Zäsuren in ihrem Leben, verursacht durch Wohnortwechsel und die Aufnahme eines Studiums, zu bestehen. Die 22-jährige deutsche Bloggerin schildert den Tod des Bruders, den sie mit sechs Jahren erlebt hat, als traumatisches und prägendes Ereignis. Sie lässt aber offen, in welcher Weise diese frühe Verlusterfahrung ihr Leben geprägt haben könnte. Aus meiner Sicht könnte es einen Zusammenhang geben mit den von ihr im virtuellen Raum gestarteten Mitmachprojekten, die ich als Versuche sehe, neue soziale Bindungen und Verbundenheit herzustellen, die einen Gegenpol zur Verlusterfahrung durch Tod bilden können. Möglicherweise ist es ein Versuch in einer Reihe weiterer Versuche, Menschen an sich zu binden. Eine weitere 24-jährige Bloggerin, die mit zehn/11 Jahren von der Ukraine nach Deutschland emigriert war, erzählt wiederholt von Ausgrenzungserfahrungen im Migrationsland, die ihr das Gefühl gegeben hätten, nichts zu sein und nichts zu können. Andererseits erzählt sie von ihrem sorgsam, mit hohem Zeitaufwand gestalteten, glitzernden Internetauftritt, den sie an der Mangofigur Asuka orientiert, und davon, dass sie in der Manga-Szene eine kleine Berühmtheit geworden sei. Auch hier gehe ich davon aus, dass der Internetauftritt Bezüge zu den vorangegangenen Diskriminierungserfahrungen aufweist in dem Sinne, dass er diese kompensieren soll. Lebensgeschichtliche Vergangenheit kann – ob bewusst oder unbewusst – als Ansporn, als Ermutigung, als dunkler Fleck, als böse Erinnerung wirksam werden und so den Fokus mitdefinieren, um den herum sich Orientierungen, Gefühle, Handlungen gruppieren, die eine bestimmte Geschichte ergeben. Sie kann aber auch nur als begünstigender Faktor wirksam werden, so z.B. wenn heutige Netzakteur_innen bereits in der Pubertät Zugang zur digitalen Technik hatten und sich früh medientechnische Kompetenzen aneignen konnten, wenn ihre Eltern Angehörige verschiedener Kulturen sind, wenn sie selbst durch Aufenthalte in verschiedenen Ländern als Jugendliche mit verschiedenen Kulturen konfrontiert waren oder Schulen besuchen konnten, in denen sie die englische Sprache erlernten. Solche Lebensumstände und die damit verbundenen Erfahrungen können das Interesse am Fremden, die Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur sowie den Austausch mit Netzakteur_innen aus anderen Kulturräumen gefördert und Narrationen unterstützt haben, in denen Vernetzung, Grenzmanagement oder Auf- und Ausbruch im Mittelpunkt stehen.
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Aktuelle Lebensumstände als begründende bzw. fördernde Faktoren Wie bereits erwähnt, ist es nicht nur lebensgeschichtliche Vergangenheit, die bestimmte Erzählungen evoziert, die verursachenden oder fördernden Faktoren können auch in gegenwärtigen Lebensumständen liegen. In den vorliegenden Erzählungen von Netzakteur_innen und Blogger_innen finden sich aktuelle lebensgeschichtliche Erschütterungen und Umbrüche, die individuell oder familial bedingt sind oder mit denen diese aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Altersgruppe konfrontiert sind. In beiden Fällen zeigen sich Verbindungen zu den erzählten Geschichten. Das Leben des 21-jährigen amerikanischen Studenten, der eine Vernetzungsgeschichte erzählt, in der das Teilen von Erfahrungen dominiert, dürfte in Unordnung geraten sein, als sich seine Familie aufgrund einer Trennung der Eltern in alle Richtungen auf dem US-amerikanischen Kontinent zerstreut hat und er zudem aufgrund eigener Bildungsmobilität Heimatstadt und Freundeskreis verlassen musste. Seine Geschichte konzentriert sich auf Vernetzungshandlungen, die er in Form des Sharings von Bildern und Mitteilungen zwischen den Mitgliedern seiner Familie und im Kontakt zu seinem Freundesnetz, dessen Teil er bleiben möchte, betreibt. Wie kein anderes Medium kann das Internet dieses Sharing unterstützen, weshalb er den ganzen Tag dem Medium verbunden bleibt. Eine andere Art lebensgeschichtlicher Erschütterung erfuhr ein 14-jähriger deutscher Blogger, der eine Händler_innen- und Verkäufer_innengeschichte erzählt und sich in seiner Geschichte als Tester käuflicher Produkte präsentiert. Er leidet seit Kurzem an einer chronischen Erkrankung, die ihn immer wieder von der Teilnahme am sozialen Leben fernhält. Wenn er auf seinem Blog technische Geräte begutachtet, Kochrezepte und Kocherfahrungen samt einschlägiger Bilder vorstellt sowie Dokumentarfilme rezensiert und Trailer bereitstellt, schafft er sich eine eigene autonome Welt, in der er seine Kompetenzen zeigen kann und zu der er unabhängig von seiner Krankheit immer Zugang hat. Die digital gestützte Warenwelt, die der 14-Jährige mit seinem Blog schafft, ist keine abgeschlossene, nur ihm vorbehaltene Welt; sie richtet sich vielmehr an Andere. Um das Interesse der Anderen zu wecken, ist er bemüht, deren Bedürfnisse zu treffen, seine Artikel sorgfältig auszuarbeiten und ergänzend zu den Produktrezensionen über sein Leben einschließlich seiner Krankheit zu erzählen. Nicht das lang Zurückliegende, sondern aktuelle Erfahrungen bilden die Zeitspuren in den Geschichten der beiden Netzakteure. Sie treten in ihren Geschichten als Handelnde in Erscheinung (Müller-Funk 2002: 172), deren Handeln darauf abzielt, lebensgeschichtliche Erschütterungen abzuschwächen, zu kompensieren oder wie im Fall des 14-Jährigen, neue Lebensperspektiven aus diesen Erschütterungen durch die Entwicklung von Expertise zu ziehen. In den Verwandlungsgeschichten des 11-Jährigen und des 13-Jährigen, die in verschiedenen Regionen Deutschlands leben, findet sich eine weitere Art von Zeitspuren, die mit der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Altersgruppe
4. Theoretische Nachlese: Zeit, Raum, Selbst, Du und digitale Medien
zu tun hat. Für diese Netzakteur_innen beginnt die Pubertät oder sie stecken schon mittendrin. In der Pubertät, die in die Adoleszenz mündet, gerät alles durcheinander (Erdheim 1988: 193). Der Übergang von der Kindheit in die Erwachsenenwelt ist zu bewerkstelligen. Ein offener Optionshorizont tut sich auf, demgegenüber Entscheidungen zu treffen sind (Helsper 1997: 177). In »heißen Kulturen«, wie sie nach Claude Lévi-Strauss westliche Gesellschaften ausbilden, wird von Jugendlichen erwartet, dass sie Traditionen in Frage stellen, innovative Kreativität entwickeln, dass sie eine Neustrukturierung ihrer Persönlichkeiten vornehmen, die nicht mehr an den familialen Rahmen geknüpft ist (Lévi-Strauss 1973: 270ff.; Assmann 2011: 129; Erdheim 1984: 296). Nichtsdestotrotz existieren auch in »heißen Kulturen« gesellschaftliche Rituale, die auf herrschende Werte verpflichten oder Abweichungen zumindest begrenzen sollen wie Schulnoten, elterliche Verbote, Auswahlverfahren an den Universitäten und auf dem Arbeitsmarkt. Es ist eine von Widersprüchen durchzogene Lebensphase, die Verunsicherung auslöst und zugleich die Aufforderung enthält, Handlungsfähigkeit und Zukunftsperspektiven aufzubauen. Von dieser Aufforderung sind die Verwandlungsgeschichten deutlich gekennzeichnet. Die beiden männlichen, 11- und 13-jährigen Netzakteure schildern klare Ziele, die ihre jeweiligen Wege in die Erwachsenenwelt bestimmen. Der 13-Jährige versucht sich mit Dingen aus dem Reservoir der Verkehrs- und Medientechnik zu umgeben, die er in seiner Verwandlungsgeschichte als Beleg für sein Erwachsenwerden präsentiert; darüber hinaus verweist er auf erweiterte Zugänge zu bislang verbotenen Internetanwendungen, die einmal mehr sein verantwortungsvolles Umgehen mit Medientechnik beweisen sollen. Der 11-Jährige greift nach den Sternen; er will ein berühmter Fußballspieler werden, wofür er offline und online trainiert und er träumt von teuren Modemarken, denen er sich zumindest mit seinem Nickname »Hardyboy« annähern kann. Beide Erzählungen künden von Allmachtsphantasien, die für Jugendliche typisch sind, aus denen sie nach Mario Erdheim ihre Stärke beziehen, die aber auch ihre Archillesferse bilden (Erdheim 1988: 200). Die Geschichte der 12-jährigen Netzakteurin, deren Geschichte ich »die Rollenspielerin« getitelt habe, lässt ebenfalls ein Ringen mit der Aufforderung nach Handlungsfähigkeit erkennen. Dieses zeigt sich zum einen in der berichteten Teilnahme an Rollenspielen online und offline. Die Möglichkeit zum Rollenwechsel nutzt sie ausgiebig insbesondere in den Online-Rollenspielen. Sie spiele in sieben Rollenspielen sieben verschiedene Rollen erzählt sie, was auf ein intensives Experimentieren mit Handlungsmöglichkeiten und Identitäten verweist. Ein zweites Indiz für ihre Auseinandersetzung mit der Aufforderung, Handlungsperspektiven zu entwickeln, ist eine Frage, die ihre Erzählung wie ein roter Faden durchzieht, die Frage, was richtig und wichtig bzw. unwichtig im Leben sei. Die virtuelle Welt des Internets nutzt sie, um sich an dieser Frage abzuarbeiten.
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Ähnlich wie lebensgeschichtliche Vergangenheit können Erschütterungen und Umbrüche der Gegenwart den Fokus mitbestimmen, um den sich die jeweilige Geschichte rankt. Diese dient dem narrativen Durcharbeiten der Erfahrungen und der Entwicklung von Lösungen (Augustin 2015: 180), eine Funktion, die den Erzählenden nicht bewusst sein muss, um sich als solche zu entfalten.
4.1.2 »It’s like a political awakening […]« — gesellschaftlich-kulturelle Zeit Sollen in den Verwandlungsgeschichten biografische Lebensphasen überwunden werden, so künden andere Geschichten vom Überwinden gesellschaftlichkultureller Epochen. Es sind die Auf bruchs- und Ausbruchsgeschichten, die Vernetzungs- und Grenzmanagementgeschichten, die die zuletzt genannte Zeitbotschaft übermitteln, soweit die Geschichten von arabischen Netzakteur_ innen und Blogger_innen stammen. Sie erzählten ihre Geschichten in den Jahren 2010/11, als sich in Nordafrika und im Mittleren Osten die politischen Proteste gegen die herrschenden Systeme häuften, die nicht nur Narrationen evoziert, sondern auch die Spielräume für narrative Praktiken erweitert haben dürften. Das Zurücklassen-Wollen der »alten Zeit« in Form einer bestimmten politisch-kulturellen Epoche stützt sich auf drei narrative Facetten: (1) auf die Kritik an der zu überwindenden Zeit, die sich auf existierende Tabus, auf mangelnde Rede- und Meinungsfreiheit, auf die Diskriminierung von Minderheiten sowie auf die Zerstörung natürlicher Ressourcen bezieht, (2) auf die Betonung der neben oder innerhalb der »alten Zeit« sich entwickelnden vielfältigen kulturellen Facetten des jeweiligen Landes, die für die Weltöffentlichkeit sichtbar gemacht werden sollen als Anknüpfungspunkte für gesellschaftliche Alternativen, (3) auf die direkte oder indirekte Beschreibung einer alternativen Zukunft. Die »bessere Zukunft« wird in den Geschichten der kritisierten »alten Zeit« gegenübergestellt; sie bildet die Vision, die dem aktuellen Handeln den Weg weist. Die Erzähler_innen machen in ihren Geschichten immer wieder deutlich, dass es ihnen um die kollektiv erlebte Vergangenheit und Gegenwart und um eine kollektive Zukunft geht. Als entsprechende narrative Markierungen dient ihnen die Betonung eines »Wir«, das in der Vergangenheit gelitten hat (»We’re talking about many years of suffering, of people suffering […]«) und das in der Zukunft bessere Chancen erhalten soll wie es in dieser Bemerkung anklingt, »[…] the youth of today is the future of tomorrow […]«. Dass sie Vergangenheit,
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Gegenwart und Zukunft in ihrer kollektiven Bedeutung im Blick haben, drückt sich auch darin aus, dass sie ihre kommunikativen Beiträge in den digitalen Netzwerken als Versuche beschreiben, ein kollektives Bewusstsein zu schaffen (»we just spread awareness about the importance of litter and recycling […]«) und dass sie der Gesellschaft Schocks verpassen wollen, um Dinge bewusst zu machen (»The first shock was about my political views and the second is about talking about gender issues and maybe I will also talk about religion«). Eine weitere narrative Markierung bezogen auf die »alte Zeit« zeigt sich in der Bezeichnung der Proteste in den Jahren 2010/11 als Revolution1, eine von allen arabischen Netzakteur_innen und Blogger_innen getroffene Wortwahl. Der Begriff Revolution signalisiert, dass die Ablösung der »alten Zeit« bereits begonnen hat, nicht in einem harmonischen Sinn, sondern – wie der Begriff impliziert – als Bruch, als kämpferischer, gewaltsamer Vorgang. Ausdrücklich wird über die Risiken gesprochen, die die Überwindung der »alten Zeit« für diejenigen mit sich bringt, die sich diese als Ziel gesetzt haben. Risiken für Leib und Leben werden beschrieben. Die in den Erzählungen aufgerufenen Risikoerfahrungen evozieren die narrative Auseinandersetzung mit den Grenzen zwischen der »alten Zeit« und der alternativen Zukunft. Bei allen Erzähler_innen zeigt sich ein Konflikt zwischen der erkannten Notwendigkeit Grenzen zu respektieren, um die Risiken zu mindern und ihrem Wunsch, Grenzen zu durchbrechen, um der »neuen Zeit« zum Durchbruch zu verhelfen. Die oft widersprüchlichen Einschätzungen des Grenzverlaufs durch ein und dieselben Erzähler_innen verweisen darauf, dass die möglichen Spielräume narrativ austariert werden. Die Erzählungen der arabischen Netzakteur_innen und Blogger_innen zur Überwindung einer gesellschaftlich-kulturellen Epoche dienen diesen dazu, die Analyse des Status quo zu schärfen, das eigene Handeln zum wahrgenommenen Status quo in Beziehung zu setzen und zukünftige Handlungsschritte zu planen. Die Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schließt nicht aus, dass es darin auch um das eigene Selbst geht, ist jedes Leben doch ein von Anderen und Anderem bestimmtes Dasein (Straub 2013: 79f.). Zeit ist als Ordnungs- und Bezugsgröße aus den präsentierten Geschichten, deren Autor_innen Jugendliche und junge Erwachsene aus verschiedenen Ländern und Kontinenten sind, nicht wegzudenken. Am deutlichsten zeigt sich in den Narrationen die biografische und die gesellschaftlich-kulturelle Zeit, die als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft für die Erzähler_innen relevant ist. Vergangenheit wird bewusst, unbewusst oder erahnt als Ursache oder als begünstigender Faktor ins Spiel gebracht, Zukunft als Vision, als 1 | In den westlichen Medien wird eher vom »Arabischen Frühling« gesprochen, der zwar Aufbruch, aber keinen Umbruch impliziert.
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Traum, als Ziel. Gegenwart wird von den Erzähler_innen nicht explizit als solche benannt. Sie ist der aktuelle Handlungskontext, aus dem heraus in die Vergangenheit und in die Zukunft geschaut wird und die Einfluss auf dieses Schauen nimmt, der die Erzähler_innen aber zeitlich zu eng verbunden sind, um sie zum Gegenstand von Reflexion zu machen. Die Geschichten haben eine klar erkennbare Mitte, die sich in dem Fokus äußert, der den Geschichten ihren Namen gibt. Die Erzähler_inen setzen in den Geschichten oft einen Anfang, der manchmal sehr präzise benannt wird wie ein bestimmter Roman oder eine bestimmte Einsicht, manchmal nur grob als Zeit der Diskriminierung oder des Leidens geschildert wird. Meist fehlt das Ende der Geschichte oder es ist allenfalls als imaginiertes vorhanden z.B. als gelungene Karriere als Fußballspieler oder als eine Gesellschaft ohne Tabus. Je unfertiger die Geschichten sind, desto eher lässt sich Neues integrieren, desto mehr Grund gibt es für Veränderungshandeln. Die Geschichten haben durchgängig einen progressiven Charakter; d.h. es geht aus der Perspektive der Erzähler_innen aufwärts (Kraus 2000: 12). Das bedeutet nicht, dass sich nicht Elemente von »Stabilitäts-Narrationen« (ebd.), mit denen Bisheriges festgehalten werden soll, in die Geschichten schleichen oder sie sogar beherrschen können. Solche Elemente tauchen dann auf, wenn der aktuelle Lebenskontext brüchig geworden ist wie bei jenem amerikanischen Studenten, der fern von Familie und Heimatort von seinen permanenten Anstrengungen erzählt, sein bisheriges Familien- und Freundesnetz durch ein »Sharing« auf verschiedenen Ebenen zusammenzuhalten.
4.2 R aumbezüge Raumfragen spielen in den Geschichten der Netzakteur_innen und Blogger_ innen eine nicht weniger wichtige Rolle als Fragen von Zeit. Sie konzentrieren sich auf Grenzerfahrungen und Grenzmanagement, auf Raumüberschreitungen sowie auf das Schaffen und Gestalten virtueller Räume.
4.2.1 Grenzerfahrung und Grenzmanagement Grenzerfahrungen und Grenzmanagement sind Themen, über die am häufigsten in den Grenzmanagementgeschichten und in den Auf bruchs- und Ausbruchsgeschichten gesprochen wird. Sie sind häufig mit Fragen des Verhältnisses von Öffentlichkeit und Privatheit sowie mit Fragen des Verhältnisses zwischen virtueller und physikalischer Realität verknüpft. Der Begriff Öffentlichkeit wird hier weiter gefasst als die von Jürgen Habermas konzipierte Öffentlichkeit, die den Raum bezeichnet, in dem Bürger über ihre gemeinsamen Angelegenheiten beraten, woraus eine öffentliche Meinung entsteht
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(Habermas 1990: 56). Der Habermas’sche Öffentlichkeitsbegriff stellt auf die politische Existenz der Subjekte ab; im Folgenden interessiert auch die lebensweltliche und lebensgeschichtliche Existenz der Subjekte, sofern sie in Räumen verhandelt wird, zu denen ein offener Zugang besteht. Zur Öffentlichkeit sollen alle narrativen Praktiken zählen, die nicht verborgen und nicht geheim sind (Hahn/Koppetsch 2011: 11). Von Grenzerfahrungen im virtuellen Raum erzählen arabische Netzakteur_innen und Blogger_innen, die versuchen, eine kritische Netzöffentlichkeit über die gesellschaftlich-kulturelle Situation in der Region herzustellen. Sie sind nicht überrascht über die erhaltenen Aufforderungen, ihre Kritik einzustellen oder über die Androhung von Gewalt. Sie müssen angesichts ihres Versuchs, die diskursiven Spielräume auf die Probe zu stellen, mit solchen Botschaften rechnen. Und doch sind sie verunsichert. Narrativ versuchen sie, die Verunsicherung zu bearbeiten. Sie stellen fest: »It kind of showed me the boundaries!«. Sie fragen trotzdem: »What are the things that I can do and what are the things that I have the courage to continue with?«. Sie erinnern sich: »There is one female activist who was attacked in her house«. Es geht darum, die Bedeutung der signalisierten Grenzen zu erfassen. Welches Handeln kann gefahrlos fortgesetzt werden, zu welchem braucht man Mut? Könnte es mir auch so ergehen wie der Aktivistin, die attackiert wurde? Welche Grenzen muss ich akzeptieren? Durch das Erzählen entsteht eine reflexive Distanz, die eine Klärung der Frage, wie der virtuelle Raum als öffentlicher Raum inhaltlich besetzt werden kann bzw. trotz Risiken im Interesse politischer Ziele besetzt werden muss, verspricht. Grenzerfahrungen werden darüber hinaus als Erfahrungen an der Schwelle zwischen virtuellem und physikalischem Raum geschildert. Den Erzählungen einiger Netzakteur_innen ist zu entnehmen, dass für sie an dieser Schwelle Grenzen existieren, die erhalten bleiben sollen. Als »ungut« beschreibt eine 19-Jährige eine Situation auf einer Party, als plötzlich begonnen wurde, ihr Flickr-Album anzuschauen. Nicht weniger irritiert war sie, als eine OnlineFreundin ihr ein Treffen offline vorschlug. Sie sei nicht sicher gewesen, ob sie tatsächlich die sei, die sie im Internet vorgebe zu sein. In der ersten Episode könnte die Irritation dadurch ausgelöst worden sein, dass aus der Sicht der Erzählerin die Netzöffentlichkeit in einen Raum hinein ausgeweitet wurde, den sie als privat betrachtete oder dass das Fotoshooting, das dem Internetauftritt zugrunde lag und das auch Bilder einer Freundin zeigt, die sie ohne Rückfrage ins Netz gestellt hatte, von ihr als etwas Privates definiert wurde, das nun einer bewertenden Öffentlichkeit ausgesetzt wurde, zu deren Teil sie selbst in dieser Situation wurde. Erzählend wägt sie die Vor- und Nachteile dieses Erlebnisses ab, um sich schließlich mit Blick auf die erweiterten Feedback-Chancen in der Runde der Partygäste, die sie für sich als Vorteil wertet, zu beruhigen. Die zweite Episode kennzeichnet sie als Drama. In der narrativen Auseinanderset-
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zung wird ihr klar, was das Drama ausgelöst hat, nämlich, dass im Kopf für sie immer etwas getrennt gewesen sei: »das Virtuelle und das Echte«, das durch den Vorschlag sich offline zu treffen, in Frage gestellt wird. Auch jene arabische Bloggerin, die einen Podcast führt und zuweilen jenseits des Netzes z.B. beim Einkaufen im Supermarkt an ihrer Stimme erkannt wird, möchte die Trennlinie zwischen physikalischer Realität und Virtualität erhalten wissen, wenn auch aus anderen Gründen als die 19-Jährige, die befürchtet, online ein Bild von sich produziert zu haben, das nicht der Realität entspricht. Die arabische Bloggerin will für ihre online produzierten Inhalte eine Öffentlichkeit gewinnen, nicht aber für ihre Person; diese soll online und offline privat bleiben. Die Erzählungen über Grenzerfahrungen lassen erkennen, dass die Grenzen zwischen öffentlich und privat, zwischen online und offline in Bewegung geraten sind, eine Bewegung, die die Erzähler_innen als Protagonist_innen teilweise selbst angestoßen haben. Die strikte Trennung zwischen Öffenlichkeit und Privatheit, die Habermas als Garant für die autonome Entwicklung des bürgerlichen Individuums propagierte, beginnt sich zu verflüssigen. Aus den Erzählungen spricht jedoch ein Interesse an klaren Grenzen und zugleich ein narratives Ringen mit Grenzziehungen, das angesichts mangelnder gesellschaftlicher Regulative oder nicht erwünschter Regulative darauf abzielt, Grenzerweiterungen, Abgrenzungen oder das Neue-Grenzen-Ziehen als eigenständige Leistung im Rahmen gegebener Machtverhältnisse zu erbringen (Jurczek/Oechsle 2008: 27). Die auf Grenzregulierung abzielenden Leistungen werden als Strategien des Grenzmanagements geschildert, von denen in den Grenzmanagementgeschichten bereits die Rede war und die nun einer systematischen Kategorisierung zugeführt werden sollen. Zu den am häufigsten besprochenen Strategien zählen Selektion und Differenzierung. Der Begriff Selektion bezeichnet jene in den Grenzmanagementgeschichten genannten Strategien, die auf eine Auswahl von Inhalten oder Personen abzielen, die kommuniziert oder nicht kommuniziert bzw. an die adressiert oder nicht adressiert wird (Schachtner/Duller 2014: 67f.). Durchgängig benennen die arabischen Netzakteur_innen und Blogger_innen gesellschaftliche Tabus, die sie in ihren Netzbeiträgen aussparen wollen bzw. müssen, nicht ohne einzustreuen, dass sie eigentlich darüber sprechen möchten und ob sie es nicht doch tun sollten. Sowohl arabische als auch westliche Netzakteur_innen und Blogger_innnen erzählen, dass sie persönliche Details wie Name und Wohnort verschweigen; sie möchten sich eine nicht identifizierbare Existenz jenseits des Netzes erhalten. Dies diene ihrer Sicherheit, erklären sie, aber auch, so kann im Umkehrschluss angenommen werden, der Sicherung von Freiheiten im Netz. Die Erzähler_innen machen sich darüber hinaus Gedanken über den Personenkreis, an den adressiert wird, wie diese 12-Jährige, die erklärt: »Ich
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pass’ auch auf, mit wem ich schreibe […] ich schreibe sowieso nur mit richtigen Freundinnen, die ich in echt kenne«. Dieses »in Echt« verweist auf den Face-to-face-Kontakt, an dem sich die Auswahl der digitalen Kommunikationspartner_innen orientieren soll. Die physikalische Realität erscheint auf der narrativen Ebene als die vertrauenswürdigere Realität in dem Sinne, dass sie verlässliche Auskunft über den Anderen gibt. Neben den Selektionsstrategien werden Strategien der Differenzierung genannt, die den virtuellen Raum in verschiedene Räume aufgliedern, die sich durch unterschiedliche Grade von Öffentlichkeit auszeichnen (Schachtner/ Duller 2014: 68f.). Die beschriebenen Differenzierungsleistungen bestehen entweder darin, dass den im Netz vorgefundenen Netzwerken ein bestimmter Status von Öffentlichkeit zugeordnet wird, z.B. wenn Facebook für den Kontakt mit der Familie und mit engen Freunden reserviert bleibt und andere Netzwerke dem Kontakt mit Bekannten oder mit einer anonymen Öffentlichkeit. Eine andere Differenzierungsstrategie, von der berichtet wird, besteht darin, selbst virtuelle Räume zu kreieren, die mit unterschiedlichen Graden von Öffentlichkeit ausgestattet werden, so wie es jene arabische Bloggerin tut, die von ihren drei Blogs erzählt, die sich jeweils an ihre Familie, an die regionale oder an die internationale Öffentlichkeit richten. Sämtliche in den Erzählungen identifizierten Strategien des Grenzmanagements zielen darauf ab, klare Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, zwischen virtueller und physikalischer Realität zu ziehen. Die narrativen Grenzziehungen fallen unterschiedlich aus, sind sie doch, wie erwähnt, als individuelle Leistungen zu erbringen. So kommt es auch, dass Privatheit und Öffentlichkeit unterschiedlichen Orten zugeordnet werden, ja, dass sie aus ihrer Gebundenheit an Orte gelöst und zu einer Perspektive der Subjekte werden, die inmitten von Öffentlichkeit das Private etabliert wie die Bloggerin, die im Supermarkt ihre Privatheit behauptet (Jurczek/Oechsle 2008: 17). Die strategischen Überlegungen der Erzähler_innen zum Grenzmanagement sind von Zweifeln, Ärger, Unsicherheit, von Selbstvorwürfen und Ängsten begleitet. Während sich eine Bloggerin fragt, ob sie die Grenzen von Öffentlichkeit nicht zu weit zu Lasten von Privatheit gezogen hat (»Ob ich das eigentlich hätte preisgeben sollen?«), vor allem mit Blick auf ihre Netzaktivitäten mit 14, überlegt eine Andere, die einen Beitrag aus ihrem Blog aufgrund externer Kritik gelöscht hat, ob sie die Grenzen von Öffentlichkeit nicht zu eng veranschlagt hat als sie bemerkt: »I wish I didn’t delete it«. Für Geert Lovink nimmt die kollektive Verwirrung »über das, […] wie viel wir über unser Privatleben und unsere persönlichen Meinungen preisgeben sollen, zu, […]« (Lovink 2012: 54). Wenn sich dieser Trend bestätigt, so dürfte dies nicht nur daran liegen, dass die Individuen bei der Neustrukturierung des Verhältnisses zwischen Öffentlichkeit und Privatheit auf sich selbst geworfen sind, sondern auch daran, dass immer raffiniertere Verfolgungstechnologien
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entwickelt werden, die die Online-Anonymität zerstören sollen oder schon zerstört haben (Lovink 2012: 64) und dass das Internet nicht vergisst, dass einmal gemachte Fehler, wie viele erkennen, so leicht nicht zu reparieren sind oder wie es ein Netzakteur aus Saudi-Arabien ausdrückt: »If you post them (Informationen, d.A.), they are gone for ever, even if you delete them, they’re gonna be there«.
4.2.2 Raumüberschreitungen Raumüberschreitungen sind ein weiteres Phänomen von Raumbezug, das in den Geschichten der Netzakteur_innen und Blogger_innen thematisiert wird. Erzählt wird von kommunikativen und von physischen Überschreitungen. Die kommunikativen Überschreitungen überraschen nicht, wenn sie von Netzakteur_innen und Blogger_innen erzählt werden, die sich eines Mediums bedienen, zu dessen Strukturmerkmalen Vernetzung und Globalität zählen. Mit jedem Posting und jedem Tweet werden Räume überschritten, aber zum Thema in den Erzählungen wird dies erst, wenn die digital gestützte Kommunikation über nationale Räume und über Kontinente hinweg reicht. »I’m talking to the world«, ist das Erzählenswerte. Das mit der kommunikativen Raumüberschreitung verbundene Erleben wird als Differenz- und Vielfaltserfahrung geschildert. Vielfalt zeigt sich in verschiedenen Kommunikationsstilen und Meinungen, die auch etwas, wie ein amerikanischer Student feststellt, mit unterschiedlichen Denkweisen zu tun haben. Mit der Vielfalt rückt die Differenz ins Blickfeld, da Vergleiche provoziert werden, vor allem dann, wenn Missverständnisse auftauchen. Erzählend wird versucht, Vielfalt und Differenz zu charakterisieren und ins Verhältnis zum Eigenen zu setzen. Dass dies den Erzähler_innen nicht äußerlich bleibt, macht ein Netzakteur aus Saudi-Arabien deutlich: »I cannot determine what is the difference of impact that I’m taking from everywhere else coming back into me«. Die Vielfalt wird zum Teil seiner Persönlichkeit, jedenfalls solange er sich auf der Bühne des Internets bewegt, wo er sich als »multinational« und »multigeographical« erlebt. Die Vorsilbe »multi« impliziert, dass das Viele nebeneinander existiert, während es bei einem anderen Netzakteur, der nicht nur digital mit Partnern aus aller Welt kommuniziert und kooperiert, sondern auch schon in mehreren Ländern gelebt hat, zu einem hybriden Ganzen verschmolzen ist, in seinen Worten: »I’m a citizen of the world, like I could be at home just everywhere«. Salmon Rushdie charakterisiert die Grenzüberschreitung, die für ihn Raum- und Selbstüberschreitung impliziert, als neue Lebensform: »[…] the migrant, the man without frontiers, is the archetypal figure of our age« (Rushdie 2002: 356). Differenzerfahrung wird auch in den Erzählungen über physische Raumüberschreitungen als zentrale Erfahrung beschrieben, doch wird sie nicht per
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se als bereichernd und anregend charakterisiert. Der türkische Student, der im Rahmen eines studentischen Austauschprogramms in eine österreichische Großstadt gezogen ist, nähert sich in seiner Auf bruchsgeschichte dem von seinem Herkunftsland unterschiedenen Alltag mit Skepsis, fragt danach, ob er darin Vertrautes entdecken kann oder ob er von diesem Alltag ausgeschlossen bleiben wird. Die amerikanische Weltenbummlerin, die zum Zeitpunkt ihrer Erzählung seit zwei Jahren durch Europa reist, bezieht sich in ihrer Auf bruchsgeschichte auf die vielen verschiedenen Alltage, mit denen sie auf ihrer Reise durch Europa konfrontiert ist und die eine Fragmentierung von Erfahrungen zu begünstigen scheinen, jedenfalls, wenn man von ihren Versuchen, die erlebten Alltage durch Bilder miteinander zu verbinden, auf mögliche Ursachen schließt. Wird im Fall der kommunikativen Raumüberschreitungen das Internet als Medium der Erosion, der Durchlöcherung geschlossener Systeme charakterisiert, so wird es in den physischen Raumüberschreitungen zum Medium des Zusammenfügens z.B. durch digitale Fotogalerien oder Versuche der Kontaktanbahnung. In jedem Fall kann man Assmann zustimmen, die schreibt: »Diejenigen, die die Grenzen von Staaten, Gesellschaften, Kulturen überschreiten, haben viel gemeinsam mit denen, die die Grenzen der Gewohnheit, der Tradition, der Wahrnehmung überschreiten« (Assmann 2011: 233). Die sozialen Konsequenzen von Raumüberschreitungen, die Assmann nennt, werden von den Erzähler_innen der hier zitierten Studie nicht nur als bereichernd beschrieben, sondern auch als verunsichernd und bedrohlich.
4.2.3 Räume schaffen und gestalten Ausgehend von einem hybriden Raumbegriff (Maresch/Werber 2002: 13), wonach sich Räume aus materiellen und immateriellen Teilen zusammensetzen, lassen sich in den Geschichten der Netzakteur_innen und Blogger_innen zahlreiche Versuche entdecken, durch narrative Praktiken im Netz Räume zu schaffen und zu gestalten. Diese narrativen Akte werden in den Geschichten implizit oder explizit geschildert. Zum Spektrum der narrativ produzierten Räume, die sich am deutlichsten in den Geschichten abzeichnen, zählen: politische Diskursräume, Verkaufsräume, Trainingsräume und Flirträume. Von politischen Diskursräumen erzählen die Vernetzungs- sowie die Aufbruchs- und Ausbruchsgeschichten, soweit sie von arabischen Netzakteur_innen und Blogger_innen stammen. Sie generieren diesen Typus von Raum, indem sie soziale Plattformen als Orte für den Austausch politischer Analysen und Meinungen, für das Durchbrechen gesellschaftlicher Tabus, für diskriminierte Minderheiten, für die Verabredung politischer Aktivitäten beschreiben. Die Geschichten enthalten daneben auch Hinweise auf die Risiken, von denen diese Räume umstellt sind und von den Versuchen, die Risiken zu reduzieren,
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sei es durch die Ausklammerung von Themen oder durch Umdefinition politischer Diskurse in kulturelle oder soziale Diskurse. In den Händler_innen- und Verkäufer_innengeschichten werden virtuelle Verkaufsräume kreiert, indem von Netzpraktiken berichtet wird, die auf die Bereitstellung von Diensten, Produkten, Empfehlungen und Projekten abstellen. Die Erzähler_innen versprechen sich als Protagonist_innen dieser Praktiken monetäre und ideelle Gewinne wie Anerkennung, Zugehörigkeit, Verbundenheit. In sämtlichen Geschichten wird der virtuelle Raum implizit oder explizit als Trainingsraum charakterisiert. Direkt wird das von der 24-jährigen arabischen Netzakteurin ausgesprochen, die erklärt: »Mideast Youth is education«. Bildung bedeutet für sie, alles zu hinterfragen. Direkt äußert sich auch eine 12-jährige Netzakteurin, die das soziale Kindernetz als einen Raum betrachtet, in dem sie ihre Kompetenzen als Zeichnerin verbessern kann. Darüber hinaus geben die Geschichten Einblicke in das Training einer Reihe weiterer Kompetenzen wie die Aufarbeitung gesellschaftlicher Verhältnisse durch Bilder, die Kreation von Selbstentwürfen als Zukunftsentwürfe, die Neustrukturierung von Grenzen, die Überwindung von Kindheitsmustern, die Antizipation von Bedürfnissen Anderer sowie die Entwicklung von Führungs-, Organisations-, Kommunikations- und Vernetzungsfähigkeiten. Auch als Flirtraum tritt der virtuelle Raum in den Geschichten in Erscheinung, wenngleich nicht so häufig und deutlich, wie man aufgrund anderer Studien vermuten kann (Illouz 2006: 115ff.). Lediglich die Selbstinszenierungs- und Verwandlungsgeschichten, die von Jugendlichen erzählt werden, enthalten Hinweise auf diesen Raumtypus. Er gewinnt Konturen, wenn der 11-Jährige erzählt, dass er es aus dem virtuellen Raum heraus eher wage, mit Mädchen in Kontakt zu treten oder die 12-Jährige, die Anmachversuche eines Jungen schildert, die sie natürlich abschmettere. In der Beschreibung der Selbstinszenierungen zeigt sich das Flirtpotenzial, wenn diese Inszenierungen als Orientierung an Schönheitsidealen erkennbar werden, die auf das andere Geschlecht abstellen. Die schwache Ausprägung virtueller Flirträume in den Geschichten muss nicht heißen, dass es sie nicht gibt, sie kann auch dem Kontext geschuldet sein, in dem die Geschichten erzählt wurden, nämlich in einer Forschungssituation, in der von den Erzähler_innen Grenzen zwischen öffentlich und privat gezogen werden und in der von Seiten der Forscher_innen nicht ausdrücklich auf erotische Beziehungen im Netz abgehoben wurde. Durch die digitalen Medien haben Raumerleben, Raumgestaltung, Raumüberschreitungen neue Bedeutungsfacetten erhalten. Räume der physikalischen Welt werden ausgeweitet oder durch neue virtuelle Räume ergänzt, die sich für Inhalte aller Art öffnen, die aber auch Fragen nach dem Verhältnis zu den Räumen jenseits der digitalen Welt aufwerfen. Es entstehen neue Öffentlichkeiten, die euphorisch genutzt werden, aber auch auf Widerstand z.B.
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durch etablierte Ordnungskräfte stoßen. Grenzen verflüssigen sich oder werden von den Netzakteur_innen selbst oder von anderen Akteur_innen neu markiert. Die Erzählungen befassen sich mit mediengestützten Raumveränderungen sowie mit Möglichkeiten einer neuen Raumordnung, die sich zu individuellen Projekten verdichten; vorerst jedenfalls sind es Projekte einzelner Individuen.
4.3 S elbstent würfe Die in Anlehnung an Foucault im ersten Teil formulierte These, dass sich Erzählungen als Technologien der Selbstkonstruktion gestalten, hat sich in der Analyse der empirischen Daten als durchgängige Tendenz bestätigt. Als Ergebnis dieser Konstruktionsleistungen werden Selbstentwürfe sichtbar, in denen folgende Dimensionen eine zentrale Rolle spielen: Standardisierung und Experiment, Orientierung, Spaltung und Kontinuität.
4.3.1 Standardisierung und E xperiment »Heiße Kulturen«, wozu westliche Industrienationen zählen, fördern, wie Assmann unter Bezug auf Lévi-Strauss feststellt, das Neue, den Wandel, die Non-Konformität (Assmann 2011: 129). Die auf das eigene Ich bezogene Experimentierfreude im Netz, von der jugendliche Netzakteur_innen und Blogger_ innen aus westlichen Ländern erzählen, scheint ein Ausdruck der kulturell geförderten Non-Konformität zu sein. Da ist die 21-Jährige, die sich mittels ihres Nicknames Gaia in ein furchtloses Sein hineinkatapultierem will, das ihr Unabhängigkeit und das Meistern von Lebenszäsuren verspricht. Da sind die Jugendlichen, die sich in digitale Rollenspiele vertiefen, sei es, um vom kleinen Jungen zu einer Fußball-Berühmtheit aufzusteigen oder in eine Identität zu schlüpfen, die der eigenen entgegengesetzt erscheint oder gleich in eine andere Geschlechtsidentität. Alles spricht dafür, dass sich diese Netzakteur_innen und Blogger_innen durch ihre narrativen Akte im Netz, auf die sie sich erzählend beziehen, einen Selbstentwurf anpeilen, den Assmann als »Exklusions-Identität« (Assmann 2011: 217) bezeichnet, die eine Differenz zwischen dem Ich und vorformulierten Rollen markieren soll, die zeigt, dass man ganz anders ist als alle Anderen. So sehr dies auch ein Wunsch sein mag, es stellt sich die Frage, ob es sich bei den praktizierten Selbstversuchen tatsächlich um große Experimente handelt, die sich dem Vorgegebenen widersetzen. Repräsentieren Furchtlosigkeit, Überlegenheit und Unabhängigkeit nicht auch das gesellschaftlich Erwünschte? Zählen nicht Berühmtheit sowie die Flexibilität des Individuums zu den honorierten Werten der Gegenwartsgesellschaft (Sennett 1998; Roth-Ebner 2015: 310ff.)?
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Ein klares Nein zum Vorgegebenen findet sich dagegen in Geschichten, die von arabischen Netzakteur_innen und Blogger_innen erzählt werden, die in sogenannten »kalten Kulturen« leben, in denen Beschleunigung blockiert wird, in denen die Zeichen auf Wiederholung stehen, die »Inklusions-Identitäten« fordern, d.h. die Übereinstimmung mit traditionellen Rollen (Assmann 2011: 217). In diesen Geschichten wird ein rebellisches Subjekt entworfen, das sich den gesellschaftlichen Erwartungen nicht beugen will, das im Konflikt mit traditionellen Erwartungen steht, das Alternativen formuliert, Risiken in Kauf nimmt und sich doch immer wieder eingestehen muss, dass es unüberwindbare Grenzen gibt, die es nicht ignorieren darf, um sich selbst zu schützen. Für Lovink überwiegt im Web 2.0 der Trend zur Standardisierung, hervorgebracht von einer globalen Überwachungs- und Kontrollindustrie, die nicht gerade zu Ich-Experimenten anspornt und auf die mit der »Religion des Positiven« (Lovink 2012: 54ff.) geantwortet wird. Tatsächlich spricht diese Religion aus vielen Geschichten z.B. wenn geschildert wird, wie sorgfältig die Selbstporträts bearbeitet werden, bevor sie ins Netz gestellt werden, um für sich und Andere ein wunderschönes Bild zu erzeugen oder wenn erzählt wird, dass aus den kommunikativen Beiträgen das Traurige und Negative zugunsten kommunizierter Fröhlichkeit ausgeklammert wird. Freilich, nicht alle Erzähler_innen wollen ihre Netzexistenz auf das Positive beschränken, manche wollen auch ihre dunklen Seiten zeigen und selbst bei denen, die ihre digitale Selbstinszenierung an herrschenden Schönheitsstandards orientieren, lassen sich Brüche feststellen, wie diese Visualisierung zeigt, mit der eine Bloggerin ihre Online-Existenz in Szene setzt. Volles Haar, voluminöse Lippen, große Augen, runde weibliche Formen, Shoppingtüten verweisen auf das gängige Stereotyp von Weiblichkeit und weiblicher Schönheit, das sich einem Blick darbietet, der solches sehen möchte. Zu sehen sind auf dem Bild aber auch Gegenstände, die eine Abweichung von diesem Stereotyp symbolisieren. Fotoapparat, Pinsel und Stift signalisieren berufliche Ambitionen, die für den Wunsch nach Selbstbestimmung, Eigenwilligkeit und Unabhängigkeit stehen. Selten repräsentieren die narrativen Selbstentwürfe, ob in Gestalt von Bildern oder Texten, Eindeutigkeit. Meist bewegen sie sich auf dem Spannungsbogen zwischen Standardisierung und Experiment, schlagen mehr zum einen oder anderen Pol aus, was sich aber ändern kann, denn eines wird auch deutlich: Die Selbstentwürfe sind poröse offene Gebilde. Das Erzählen erweist sich als Ermöglichungs- und Unterwerfungstechnologie, um das Doppelleben als Untertan und Souverän zu bewerkstelligen, in dem Variationen möglich sind, aber kein Entkommen aus der sozialen Abhängigkeit.
4. Theoretische Nachlese: Zeit, Raum, Selbst, Du und digitale Medien Abbildung 8: Standardisierung versus Experiment (Bloggerin, 24, Deutschland)
4.3.2 Orientierung Orientierung bedeutet, den eigenen Standort innerhalb eines spezifischen gesellschaftlichen Kontextes bestimmen und auf der Basis dieser Bestimmung Zukunftsperspektiven mit Handlungsimplikationen entwickeln zu können. Das setzt Selbsterkenntnis und Weltkenntnis voraus. Beides entspringt der Deutung von Erfahrungen, die ich mit mir selbst in der Auseinandersetzung mit der mich umgebenden sozialen und kulturellen Welt mache und gemacht habe. Auch Vergangenheit, lebensgeschichtliche und gesellschaftlich-kulturelle Vergangenheit verlangt nach Deutung, soll Vergangenheit meinen Erkenntnishorizont erweitern. Es sind die Geschichten, die kleinen und die großen, in denen die Menschen deutend nach sich selbst und der Welt suchen. Diese Suche wird umso brisanter, wenn die bisherigen Orientierungen obsolet werden, wenn Verwirrung aufkommt und es an Handlungsperspektiven mangelt. Zu einer Verschärfung von Verunsicherung kommt es in Umbruchsituationen. So ist es nicht verwunderlich, wenn Orientierung als Dimension narrativer Selbstentwürfe in jenen Geschichten besonders augenscheinlich wird, in
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denen biografische und gesellschaftlich-kulturelle Umbrüche den Kontext der Subjektkonstruktion bilden – in den Verwandlungs- sowie in den Auf bruchsund Ausbruchsgeschichten. Indizien für die Suche nach sich selbst sind bei den jugendlichen Netzakteur_innen und Blogger_innen die Erzählungen über die Suche nach Vorbildern, über die Suche nach dem Richtigen, die Erzählungen über Dinge aus dem Sortiment von Medientechnik und Modemarken, an denen sie ihren Status ablesen oder festmachen wollen sowie über die Zugänge zu verschiedenen Internetanwendungen, die den eigenen Standort auf dem Weg ins Reich der Erwachsenen markieren. Orientierungssuche in den gesellschaftlich-kulturellen Umbruchssituationen findet ihren Ausdruck in der kritischen Analyse des gesellschaftlichen Status quo, im Experimentieren mit dem Brechen gesellschaftlicher Tabus, in der Entwicklung von gesellschaftlichen Alternativen und auch in dem Vor und Zurück zwischen Rebellion und Schweigen in den Geschichten der arabischen Netzakteur_innen und Blogger_innen. Die Möglichkeiten der Selbst- und Weltbestimmung hängen von Erzählungen ab, die sich als Labor erweisen können, in dem analysiert, verglichen, kategorisiert und nach Lösungen gesucht wird. Im Erzählen gewinnen die Subjekte nach Straub jenen reflexiven Abstand zum Erlebten, der für die Orientierungsbildung konstitutiv ist (Straub 2013: 104f.), der aber nicht notwendig vor Fehleinschätzung schützt. Das spricht nicht gegen die narrative Suche nach Orientierung. Auch wenn die narrative Suche nach Orientierung mit Risiken behaftet ist; sie zählt zu den wichtigsten, dem Menschen eigenen Möglichkeiten der Selbst- und Weltvergewisserung.
4.3.3 Spaltung versus Kontinuität Wenn die virtuellen Räume als Aktivitäts- und Showräume genutzt werden, so entscheidet sich durch die den jeweiligen Intentionen folgenden Praktiken auch, wer wir sein wollen in diesen Räumen, ist doch das, was wir tun, wesentlich für das, was wir sind. »Wer bin ich online?«, ist eine Frage, die die Erzähler_innen von sich aus mehr oder weniger intensiv während des Interviews aufgreifen. Am Ende jeden Interviews wurde diese Frage von den Forscherinnen explizit gestellt, verbunden mit der Bitte, die Antwort in Form eines Bildes zu geben. Als eine Antwort auf die Frage ist folgendes Bild entstanden: Wir blicken, wie es die 22-jährige Zeichnerin nennt, auf ein zweigeteiltes Porträt. Die eine Seite ihres Gesichts charakterisiert sie als »pompös«, es ist die Online-Seite, die andere als »schlichter« und »menschlicher«, es ist die Offline-Seite. Abgesehen davon, dass man das Porträt als Beleg für die im Netz verbreitete »Religion des Positiven« (Lovink 2012: 59) nehmen kann, zeigt sich darin auch das Phänomen der Spaltung, das im Phänomen der Kontinuität,
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das aus anderen Geschichten spricht, seinen Gegenpol findet. Spaltung und Kontinuität spielen in der narrativen Selbstkonstruktion der Netzakteur_innen und Blogger_innen eine zentrale Rolle, die sich auch schon in der Strategie der Selektion als eine Form des Grenzmanagements andeutete. Im Folgenden sollen nicht nur einzelne Spaltungs- bzw. Kontinuitätspraktiken betrachtet werden, sondern wie sich die Subjekte als Ganzes in den Spannungsbogen zwischen Spaltung und Kontinuität einreihen. Abbildung 9: Das zweigeteilte Porträt (Bloggerin, 22, Deutschland)
So wie die 22-jährige deutsche Zeichnerin spaltet auch eine 24-jährige arabische Netzakteurin ihre Persönlichkeit in eine Online- und in eine OfflineVersion. Im Unterschied zu dieser stellt sie ihrer Erzählung zufolge keine geschönten Bilder ins Netz, sie stellt keinerlei Bilder von sich ins Netz. Ihre visuelle Präsenz sei der Offline-Welt vorbehalten, online dagegen sei sie argumentativ präsent und umgekehrt. »On Mideast Youth I am much more outspoken I would say than I am in real life«, sagt sie. Wofür sie sich im Netz einsetze, nämlich für die Rechte von Minderheiten, sei kein Thema, das sie in die Welt jenseits des Netzes hinaustrage, fährt sie fort. »I’m not going to go out in public and hold the microphone and say ›I support gay rights for everyone‹«. Die Spaltung beziehe sich nicht nur auf die Themen, sondern auch auf die Art und Weise, wie sie sich dazu äußere. Im Netz sei ihre Sprache machtvoller und aggressiver. Auf die Frage »wer bin ich online?« zeichnet sie eine Frau, die eingehüllt ist in einen Ganzkörperschleier und von der nur die Augen zu sehen sind. Sie kommentiert: »It’s just to show that who I am online is different than who I am offline«. Ihr beobachtender, kritischer Blick werde in der Netzöffent-
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lichkeit sichtbar, nicht aber ihr Körper. In der Öffentlichkeit jenseits des Netzes dagegen ist der Körper der Netzakteurin zumindest als verschleierter sichtbar, nicht aber die der kritischen Analyse entspringende politische Positionierung. Die Verbindung von Körper und Politik bildet demnach das, was die Netzakteurin zu vermeiden sucht. Beide Beispiele von Spaltung sind vermuteten Gefahren geschuldet, im ersten Fall werden Gefahren für die Intimsphäre befürchtet, im zweiten für Leib und Leben, die nicht nur der Netzakteurin gelten könnten, wie sie erzählt, sondern auch ihrer Familie (»there will be consequences suffering by my family«). Geschichten, die von Spaltungen erzählen, werden kontrastiert von Geschichten, die von Kontinuität erzählen. Zu Letzteren zählt die Selbstinszenierungsgeschichte des 23-jährigen Bloggers aus Österreich, der in seinem Blog über Mode und Gefühle schreibt und erklärt: »Mein Blog gibt meine Persönlichkeit wieder«. Für ihn sei es wichtig, erzählt er, seine Persönlichkeit im Netz weiterzuleben und alles zu zeigen, was sie auch außerhalb ausmacht, einschließlich der tragischen Momente in Form von Gefühlszuständen nach Trennungen. In seiner Erzählung spiegelt sich nicht die »Religion des Positiven« wider, aber vielleicht eine andere Religion, die Religion man selbst zu sein, die sich gerade auch darin beweist, dass freimütig die Risse im schönen Bild gezeigt werden. Die 27-jährige Bloggerin aus dem arabischen Raum, die eine Grenzmanagementgeschichte präsentiert, spricht die Kontinuität als Dimension ihres Selbstentwurfs noch direkter an, wenn sie bemerkt: »I feel like my life online cannot even be separated from my, like real life. It’s mostly like a continuation«. Sind es für den 23-jährigen Blogger die Gefühle, durch die Kontinuität hergestellt wird, so sind es für die 27-jährige arabische Bloggerin Interessen, Hobbys und Freunde, die die Kontinuität garantieren, wie sie sagt: »Everything that I do online has a connection to what I do in real life. My interests, my hobbies, my friends – it’s all very much interconnected«. Um Spaltung und Kontinuität als Dimensionen von Selbstentwürfen zu beschreiben, habe ich Geschichten ausgewählt, in denen sich die Pole jeweils deutlich hervorheben. Viele andere Geschichten changieren zwischen diesen Polen. Aber auch die zitierten Fallbeispiele enthalten Brüche. Die eben zitierte 27-jährige arabische Bloggerin ist dieselbe, die ihre Online-Existenz im Supermarkt, wie beschrieben, verleugnet und in diesem Moment nicht auf Kontinuität, sondern auf Spaltung setzt. Umgekehrt erzählt die 24-jährige arabische Netzakteurin, die für Spaltung eintritt, dass sie damit begonnen habe, im Netz ihren vollen Namen zu nennen, wodurch sie mit ihrer Offline-Existenz in Verbindung gebracht werden kann. Dies könnte damit zusammenhängen, dass sie inzwischen auch in den westlichen Medien so bekannt geworden ist, dass sie ihr Name mehr schützt als die Anonymität.
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Spaltung und Kontinuität sind gegensätzliche Trends, die in einem flexiblen Verhältnis zueinander stehen und über die als Handlungsmaximen unter dem Eindruck neuer Erfahrungen immer wieder aufs Neue entschieden werden muss.
4.4 D uverbindungen Ob es um Zeitspuren, Raumbezüge, Selbstentwürfe in den Geschichten der Netzakteur_innen und Blogger_innen geht, es ist kein isoliertes Ich, das im Hinblick auf Zeit, Raum und Selbst agiert, es gibt auch ein Du, das sich einmischt. Dieses Du tritt als konkreter Bezugspunkt, als Thema der Erzählung oder als Imagination auf die narrative Bühne. Es kann im Folgenden nicht allen feinen Verästelungen der Ich-Du-Beziehungen nachgegangen werden, die sich durch die Geschichten ziehen. Ich beschränke mich auf die Diskussion von zwei Phänomenen der Ich-Du-Beziehung, die als typisch für die Netzgeneration gelten können, sind diese Phänomene doch eng mit den Möglichkeiten digitaler Medien verwoben: auf das Ringen um das Du und auf das Du in der Weltkommunikation.
4.4.1 Das Ringen um die Anderen »Der gesamte Blog ist für mich einfach nur eine Herausforderung, viele Kommentare zu bekommen und viele Leser zu bekommen«, erklärt ein 14-jähriger Blogger aus Deutschland. Das Interesse an Leser_innen und Kommentaren zeigt sich durchgängig in den Geschichten unabhängig vom Alter, vom Geschlecht und der kulturellen Herkunft der Erzähler_innen. Ein ganzes Arsenal an Strategien und Bemühungen kommt, wie geschildert wird, zum Einsatz, um sich die Aufmerksamkeit der Anderen zu sichern: • große Sorgfalt beim Schreiben von Artikeln, die am nächsten Tag nochmals gelesen und korrigiert werden, ehe sie online gestellt werden, • Genauigkeit und Zuverlässigkeit bei der Produktbewertung, • das Lesen anderer Blogs, um deren Verfasser_innen als Leser_innen des eigenen Blogs zu gewinnen, • regelmäßiges Schreiben von Beiträgen, auch dann, wenn es einem schwerfällt. Die Veröffentlichung der eigenen Beiträge, Artikel oder »Mikronarratives«, wie sie Ries nennt, erfolgt im Wissen darüber, »dass die Adressaten nicht nur lesen, betrachten und hören, sondern selber schreiben, filmen und Musik los schicken« (Ries 2013: 34). Die Erzähler_innen im Netz produzieren für andere
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Erzähler_innen, erwarten deren narrative Fragmente und erzeugen selbst wieder neue (ebd.). Die eigene Teilhabe am Leben der Anderen und die Teilhabe der Anderen am eigenen Leben werden als wichtige Ziele geschildert. »Ich hocke permanent da […] und warte darauf, dass sich irgendwer dazu herablässt, mich an seinem Leben teilhaben zu lassen« erklärt, wie erwähnt, ein 29-jähriger Netzakteur aus Österreich und drückt mit seiner Bemerkung auch Ambivalenz aus, die er angesichts der Abhängigkeit vom Anderen zu empfinden scheint. Dieses Veröffentlichen und Warten kann, wie er weiter ausführt, zur »Droge« werden. Lovink spricht von einer »Kommentarkultur« in den digitalen Netzen, deren Credo lautet: »Bitte sag etwas über mich, vermittle mich weiter, verlinke auf mich und klicke auf den ›Like-Button‹« (Lovink 2012: 80). Kommentare kreisen nach Lovink um das Original; sie wirken informell, schnell, fluid, sie erwecken das stille Original zum Leben (Lovink 2012: 76) und beleben als eine Form der Zuwendung auch den/die Autor_in. »I never turn my computer off. Even in the middle of the night it’s always on in case something, somebody calls me like so I can get«, erzählt die 24-jährige Amerikanerin, die durch Europa tourt. Dem Wunsch nach Zuwendung korrespondiert, wie auch andere Netzakteur_innen und Blogger_innen berichten, dass die Grenze zwischen online und offline aufgehoben wird, dass virtuelle und physikalische Räume dauerhaft miteinander verschränkt werden, sei es dadurch, dass Laptop oder Smartphone nicht mehr ausgeschaltet werden oder dadurch, dass die Geräte mit ins Bett genommen werden, dass man am Morgen als Erstes in die Welt der virtuellen Kontakte eintaucht, wie es diese 21-jährige Netzakteurin aus den Vereinigten Emiraten erzählt: »As soon as I wake up I roll over (lacht, d.A.) and even though I can’t see properly I type in all my passwords to my e-mails, check my e-mails […] ». Falls die erwarteten Nachrichten, Kommentare, Feedbacks nicht eintreffen, kann man, wie ein 29-Jähriger metaphorisch schildert, die Kontakte forcieren: »Du hast eine Angel mit 200 Angelhaken daran und an jedem Angelhaken hängt einer von deinen Freunden und den du halt brauchst, den fischst du dir aus dem Teich von diesen anderen 100 000 Fischen raus«. Der interaktive Charakter des Mediums ermöglicht es, selbst aktiv zu werden; dieser erzeugt darüber hinaus die Illusion einer schier unbegrenzten Zahl von Anderen, auf die zugegriffen werden kann. Worin ist das durchgängig so stark ausgeprägte Interesse am wechselseitigen Sich-Mitteilen und Erzählen begründet? Es gibt die unabweisbare Angewiesenheit auf den Anderen, wie unter Rückgriff auf Meyer-Drawe (1990) und Benjamin (1990) bereits dargelegt, der das von uns sehen kann, was wir selbst nicht sehen, weil wir uns immer nur in Fragmenten sehen. Es gibt die Notwendigkeit des Anderen als »verallgemeinerten Anderen« (Mead 1973: 196), wie Mead uns gelehrt hat, der uns mit gesellschaftlichen Normen konfrontiert, an denen wir den Grad unserer Übereinstimmung oder Nicht-Übereinstimmung
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ablesen können. Die Sicherung des Anderen in diesem Sinn ist eingebettet in den Modus des Gebens und Nehmens; ich muss mich dem Anderen zuwenden, damit er sich mir zuwendet. Der Austausch von alltäglichen Erzählstücken im Netz hat nach Ries aber auch etwas mit dem Schweigen der Welt und ihrer Systeme zu tun (Ries 2013: 39). Er versteht unter diesem Schweigen die Uneinnehmbarkeit der Natur und das Scheitern des hermeneutischen Zugriffs auf die soziale Welt, dem gegenüber die Menschen ihr Leben nicht mehr in der Hand haben (ebd.). Mit den digital gestützten Sprechakten, die den Alltag spiegeln, versichern sie sich ihrer territorialen Anbindung und dass sie nicht alleine sind »gegen das Schweigen der Systeme, der Institutionen […]« (Ries 2013: 40). Die Bemerkung eines 29-Jährigen, er befürchte »über zu bleiben«, wenn der Kontakt zu den Anderen abbricht, liefert einen dritten Grund: die Angst, nicht mehr dazuzugehören, ausgegrenzt zu sein, nicht mehr gesehen zu werden. Siri Hustvedt formuliert diese Angst in ihrem Roman »Die Leiden eines Amerikaners« als allgemeine Angst des Gegenwartsmenschen. Dort heißt es: »›So wenige Menschen sehen einen an‹, sagte Burton. ›Blinde und taube Horden mit Einkaufstüten, Aktentaschen und Rucksäcken gehen an einem vorbei. Das ist das Los der Ungesehenen, mein Freund, der Unbekannten, der Unbedeutenden und Vergessenen‹« (Hustvedt 2008a: 392). Wenn in den digitalen Medien das Ringen um den Anderen so deutlich hervortritt, dann nicht deswegen, weil das Bedürfnis nach dem Anderen hier stärker wäre, sondern weil diese Medien als Netzwerkmedien nicht nur das Versprechen auf den Anderen, sondern auch die Einlösung dieses Versprechens symbolisieren.
4.4.2 Weltkommunikation Es sei ihm von Anfang an klar gewesen, erzählt ein 26-jähriger Netzakteur aus Saudi-Arabien, der mit 13 Jahren das Internet kennengelernt hatte: »There is something very big out there. It’s not limited to us«. Das Potenzial des Internets habe er in den grenzüberschreitenden Möglichkeiten zur Verbreitung von Ideen gesehen. Es sei für ihn der Auftakt für die Interaktion zwischen SaudiArabien und der internationalen Community gewesen. Mit dem Internet ist eine Technik entstanden, die nach Ries die Chance eröffnet, dass Tweets, Postings, Bilder »von vielen medial produziert, gehört, gesehen […] werden« (Ries 2013: 32). Weltkommunikation wird für alle möglich, soweit sie einen Zugang zu diesen Medien haben und über die erforderlichen kommunikativen Kompetenzen verfügen. Sie ist nicht mehr länger den Privilegierten aus der Politik, der Wirtschaft, der Wissenschaft und Kunst vorbehalten.
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Weltkommunikation zeigt sich in den Geschichten in verschiedenen Facetten und bedeutet Unterschiedliches für die jeweiligen Erzähler_innen. Der eingangs zitierte Netzakteur nutzte das von ihm wahrgenommene Kommunikationspotenzial des Mediums, wie er beschreibt, um ein weltweites Freundesnetz aufzubauen, in dem über Ereignisse in verschiedenen Teilen der Welt diskutiert wird. So kann sich gleichsam ein globaler Kommentar entwickeln, der sich aus verschiedenen Ecken der Welt speist. Als eine zweite Form der Weltkommunikation schildert er seine, an früherer Stelle bereits erwähnten Versuche, der Welt ein Saudi- Arabien vorzustellen, das der Weltöffentlichkeit sonst verborgen bliebe. Nahezu alle arabischen Netzakteur_innen und Blogger_innen sprechen über diese Form der Weltkommunikation, die ein von den herrschenden Medien vermitteltes Bild von Land und Kultur verändern soll. Mit den digitalen Medien hat die weltumspannende Kommunikation einen bislang nicht gekannten Aufschwung erhalten, was den Kommunikationswissenschaftler Norbert Bolz zu der These veranlasste, dass Weltwahrnehmung identisch sei mit Kommunikationswahrnehmung (Bolz 2001: 7). Weder in dieser These noch in den zuvor genannten Beispielen von Weltkommunikation hat Kommunikation lediglich eine instrumentelle Rolle; sie prägt auch die Wahrnehmungsinhalte, verändert Bilder. Neben den politischen Ambitionen, die Weltkommunikation stimulieren, gibt es persönliche Motive, die sich z.B. in den Selbstinszenierungsgeschichten zeigen. Wenn ein 23-jähriger österreichischer Blogger erzählt, dass er seinen Blog in Englisch führe, so dürfte das nicht nur daran liegen, dass ihm Englisch besser liege, wie er behauptet, sondern auch mit der Erwartung verknüpft sein, als Modeexperte über die nationalen Grenzen hinaus wahrgenommen zu werden, was er als sein Ziel an anderer Stelle beschreibt. Das Wissen um die weltweite Sichtbarkeit im Netz wird von allen in Erwägung gezogen, die eine Selbstinszenierungsgeschichte erzählen. Da Selbstinszenierungen ohne Publikum keinen Sinn machen, ist davon auszugehen, dass die sich inszenierenden Netzakteur_innen im Sinne von Lacan an eine Antwort appellieren (Lacan 1975: 84), dass sie einen Widerhall auslösen wollen, der als weltweiter Widerhall sicher nicht unwillkommen wäre. Die medialen Verbindungen dehnen sich im Zuge des Ausbaus der Informations- und Kommunikationstechnologien über die gesamte Welt hinweg aus und mit ihnen die sozialen Verbindungen (Mitchell 2003: 17); die Wahrnehmungs- und Kommunikationsformate erweitern und verändern sich. Miniaturisierung und Fusionierung digitaler Technik, die in unsere Jacken- und Handtaschen wandert, sorgen dafür, dass wir fast permanent mit der Welt in Verbindung bleiben können. Das verändert Subjektivität. Es entbindet davon, im Hier und Jetzt zu leben; es erlaubt »endlose Veränderungen der Aufmerksamkeit und des Engagements über Ort und Zeit hinweg« (Mitchell 2005: 185).
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4.5 E rz ähler _ innen , E rz ählungen , M edium : E ckpunk te eines W echselspiels Die aus den Geschichten der Netzakteur_innen und Blogger_innen identifizierten Bezüge zu Raum, Zeit, Selbst und Du enthalten immer auch Bezüge zur digitalen Technik. Das liegt daran, dass das Leben der Erzähler_innen eng mit dieser Technik verwoben ist. Zwischen Erzähler_innen, Erzählungen und medialer Technik existiert ein vielfältiges Wechselspiel. Markante Eckpunkte dieses Wechselspiels, die einzelne mediale Bezüge bündeln, stehen im Mittelpunkt dieses Kapitels.
4.5.1 Kein Ende nirgends Auch wenn es nur ein Netzakteur ist, der den Begriff »Sharing« ausdrücklich als Ziel seiner narrativen Akte im Netz beschreibt, alle Geschichten verweisen auf das Teilen von Botschaften, von Bildern und Videos. Aus diesem Teilen resultieren nach Ries Wanderbewegungen der Netzerzählungen, die »an verschiedenen Orten gleichzeitig auftauchen, mitgeteilt und geteilt werden« (Ries 2013: 36). Es ist die Struktur der digitalen Netzwerke, die in Verbindung mit den Intentionen der Subjekte die Erzählungen zum Laufen bringt. Netze sind nach Hartmut Böhme Organisationsformen zur Produktion, Distribution und Kommunikation materieller und symbolischer Objekte (Böhme 2004: 19). Wir haben es bei den Erzähler_innen mit immateriellen Netzen zu tun und folglich geht es in den Geschichten um das Teilen von symbolischen Objekten. Weil es sich außerdem um heterarchische Netze (Böhme 2004: 32) handelt, fehlen die zentralen Instanzen, die die Wanderbewegungen steuern. Der anarchische Charakter ist zumindest der technischen Struktur digitaler Medien eigen, doch wissen wir aus den Erzählungen, dass es Versuche gibt, hierarchische Elemente in die Technik einzuziehen. Trotz solcher Versuche wird das Netz immer noch von vielen als ein Ort besprochen, der »ungehemmt textuelle und fotografisch-filmische Produktionen als Rohstoff für seine Austauschszenarien evoziert« (Ries 2013: 41). Der Rohstoff, den die Szenarien liefern, ermöglicht Diskurse, Selbstinszenierungen, Fotogalerien ständig zu verändern, neue Elemente aufzunehmen oder wegzulassen, das eigene Ich und seine Sprechakte in eine Dynamik zu versetzen, die endlos erscheint. Diese Dynamik spiegelt sich in den Geschichten wider, in denen von der Distribution der Kommunikation über die digitalen Services hinweg (»I tweet, I blog, I skype, I sms, I […]«) oder über die flanierenden diskursiven Bewegungen über Kontinente hinweg berichtet wird. Sie drückt sich aus in den erzählten Versuchen, die digitale Selbstdarstellung, angeregt durch den interaktiven Austausch mit Anderen, immer wieder aufs Neue zu modellieren oder dieses Ich in verschiedene Rollen aufzusplittern, die verschiedene Facetten dieses
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Ichs in verschiedenen medialen Settings repräsentieren und weiterentwickeln. Sie ist abzulesen an den Erzählungen über das nicht endende Akquirieren von Leser_innen und Follower_innen, verbunden mit der Hoffnung auf Kommentare, deren Zahl als unendlich vorgestellt wird. Kein Ende nirgends, so lässt sich der in den Geschichten imaginierte Charakter des Entwicklungspotenzials digitaler Netzwerke zusammenfassen. Das als Baustelle vorgestellte Netz (Böhme 2004: 33) bedient Wünsche und Hoffnungen, kann aber auch Ängste hervorrufen, wie bei jenem türkischen Studenten, der, in einem neuen kulturellen Umfeld angekommen, zweifelt, ob er dort neue Freunde gewinnen kann. In diesem Fall zeigt sich das emotionale Verarbeiten der Möglichkeit, dass die erhoffte Dynamik im Netz, die neue Freunde beschert, ein Ende haben könnte. Andere Geschichten künden von der emotionalen Verarbeitung der dem Netz zugeschriebenen Endlosigkeit. Die erzählten Gefühle changieren zwischen Freude an ungekannten Freiheitschancen und Optionsvielfalt und Ärger über den selbst auferlegten Druck, nie aufhören zu können mit der Jagd nach neuen Optionen. Wie erwähnt gibt es Versuche, in die Heterarchie digitaler Netzwerke Hierarchien einzuziehen, die den unbegrenzten Optionen entgegenwirken. Sie werden verkörpert durch Administratoren, Netzanbieter und vor allem durch die weltweit zunehmenden Kontroll- und Überwachungsinstanzen, die oft im Bund mit den politischen Systemen stehen. Zugleich sind Gegenkräfte zu beobachten, die aus den Reihen der Netzakteur_innen kommen und die die modernen Kontrolleure durch intelligente technische Konstruktionen und kreative Strategien mit den eigenen Mitteln schlagen. Weitere Gegenkräfte entspringen dem Rhizom-Charakter der digitalen Netzwerke. Wenn es stimmt, dass diese Netzwerke Rhizom-Charakter haben, wie an früherer Stelle dargelegt, dann wird es auch deswegen schwierig, das Wuchern der Erzählungen zu unterbinden, weil solche Netzwerke Unterbrechungen z.B. durch Zensur überstehen, um zu einem anderen Zeitpunkt und vielleicht an geschützterer Stelle neu aufzuleben.
4.5.2 Zur Konjunktur des Bildes Bilder sind wie Worte Objektivationen menschlicher Praxis und verkörpern als solche Bedeutungen. Bilder zählen zu den präsentativen Bedeutungsträgern, die im Unterschied zur Wortsprache Bedeutungen nicht hintereinander aufreihen, sondern in einem Ganzen zusammenfassen und in dieser Ganzheit rezipiert werden wollen (Langer 1965: 53). Das Bild galt, wie an früherer Stelle ausgeführt, bis zu den 80er Jahren als der qualitativ weniger wertvolle Bedeutungsträger im Vergleich zur Wortsprache u.a. auch deswegen, weil das Bild unmittelbar zu den Gefühlen und den Sinnen spricht. Zurückgehend auf die griechische Philosophie repräsentieren Gefühle und Sinne, wie John De-
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wey dargelegt hat, das Unbeständige, das dem Begehren Verhaftete, das ewig Wechselnde, das uns anders als das Denken davon abhält, dem Wesen der Dinge näherzukommen (Dewey 1964: 344ff.). »Lange, vielleicht allzu lange galt Kultur als Text« (Krämer/Bredekamp 2003: 11), schreiben Krämer/Bredekamp. Die Kulturwelt als Welt diskursiver Zeichen zu begreifen (ebd.), ist fest verankert in der abendländischen Tradition. Auch die digitalen Medien waren in ihren Anfängen ausschließlich Textmedien; selbst die ersten Computerspiele wie MUDs2 waren textbasierte Spiele. Die Dominanz der Wortsprache in den virtuellen Räumen jedoch bröckelt seit sich die digitalen Medien zu multimedialen Medien entwickelt haben, die Text, Bild und Sound integrieren. Die Geschichten der Netzakteur_innen und Blogger_innen belegen, dass neben dem Text der Sound in Form von Podcasts und Musik, aber vor allem das Bild an Bedeutung gewonnen haben. Welche Funktionen des Bildes gehen implizit oder explizit aus den Geschichten hervor? Das Bild in seiner Funktion als Dokument begegnet uns in der Vernetzungsgeschichte des 26-jährigen Bloggers, der in der Schweiz geboren und aufgewachsen ist, später in verschiedenen Ländern Europas, Nord- und Südamerikas gelebt hat und zum Zeitpunkt des Interviews in Saudi-Arabien wohnt. Er produziert, wie erwähnt, für seinen Blog Fotoserien, die gesellschaftliche Fragen wie Flüchtlingsproblematik, Gewalt, aber auch die Kleidungsgewohnheiten arabischer Frauen visualisieren. Seine Erzählung über diese Fotoserien verbindet er mit der Information, dass er wegen seiner Bilder schon mehrmals verbal attackiert worden sei. Er zeigt sich verwundert über diese Attacken, da er sich als externer Beobachter sieht, der über einen neutralen Blick verfügt. Aber vermutlich hat sich unter dem Eindruck verschiedener Kulturen, in denen er gelebt hat, ein inhaltlich profilierter Blick entwickelt, der sich in seine Perspektive als Fotograf einmischt und der im Konflikt mit den aktuell ihn umgebenden Normen steht. Als Folge dieses Blicks könnte der Sinngehalt der von ihm produzierten Bilder über das vordergründig Dokumentierte hinausweisen, was Bilder dem Kunsthistoriker William John Mitchell zufolge zu tun vermögen (Mitchell 2005: 31). Der 26-Jährige weiß um den überschießenden Sinn, denn er bemerkt, dass seine Bilder über die Ganzkörperverhüllung von Frauen aufzeigen, dass das traditionelle Sich-Kleiden von Frauen in Saudi-Arabien zu einem »sexy thing« geworden sei. Seine Bilder verweisen demnach auf eine Sexualisierung von Kleidung, womit sie ein Tabu aufrufen, was den Leser_innen bzw. Beobachter_innen seines Blogs nicht verborgen blieb, die ihn wegen seiner Bilder kritisieren. Im Zusammenhang mit der Produktion seiner Fotoserien bezeichnet sich der 26-Jährige als »community photographer«, was impliziert, dass diese Se2 | MUD (Multi User Dungeon) ist ein textbasiertes Rollenspiel, das auf einem zentralen Computer läuft, auf dem sich mehrere Spieler_innen einloggen können.
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rien keinem einsamen Tun entspringen. Er schildert, wie er den Fotoblogs anderer Blogger folgt, aus diesen Blogs Ideen für seinen Fotoblog bezieht und zugleich seine Bilder in Beziehung zu den Bildern Anderer setzt. Wie bereits am Beispiel von Wortbeiträgen beschrieben, scheint auch die Produktion von Bildern im Wissen um die Produktionen der Anderen zu erfolgen. Dieses wechselseitige Inspirieren ist nicht nur dem virtuellen Raum vorbehalten, aber dieser erleichtert und beschleunigt diesen Prozess, der Bilder und Texte zu einer Art Gemeinschaftswerk werden lässt. Nicht zufällig gibt es Tendenzen, auf individuelle Autorenschaft für mediale Produkte zu verzichten. Bilder können ihren Wert darüber hinaus als Bindemittel erweisen, wie es der 21-jährige Amerikaner in seiner Vernetzungsgeschichte und die 24-jährige Amerikanerin in ihrer Auf bruchsgeschichte erzählen. Im ersten Fall sollen die Bilder, die Alltagssequenzen spiegeln, dazu dienen, Verbindungen zwischen Menschen herzustellen, die weit voneinander entfernt leben (»look at my facebook profile at these photos today, you might enjoy them«). Im zweiten Fall geht es um die Verbindung von Erfahrungen an verschiedenen Orten (»I take pictures of my food that I eat in different countries«). Die Erzählungen, die das Bild als Bindemittel ins Spiel bringen, sagen etwas aus über die Versuche der Erzähler_innen, Kohärenz herzustellen. Menschen, Situationen, Erfahrungen wollen miteinander verbunden werden, um das Gefühl zu stärken, ein zusammenhängendes Leben zu führen, das heutzutage durch Mobilität und befristete Bindungen gefährdet ist. Auswahl und Zusammenstellung von Bildern aus bestimmten Bildfeldern – seien es Reisen, Geburtstagsfeiern, Zoobesuche, Ausflüge mit der Familie – können nach Nünning eine zusammenhängende Vorstellung von einer Person erzeugen (Nünning 2013: 163). Nicht nur derjenige oder diejenige, der/die Bilder ins Netz stellt, gewinnt für sich ein Gefühl von Kohärenz; er/sie kann diese auch nach außen zeigen und beim sozialen Gegenüber den Eindruck hinterlassen, ein kohärentes Leben zu führen. Eine dritte Funktion des Bildes begegnet uns in den Selbstinszenierungsgeschichten. Als Mittel der Inszenierung werden von den Erzähler_innen nicht nur Bilder, sondern auch Texte genannt, aber das Bild – in Gestalt von Profilfotos, Fotogalerien, Videos, Zeichnungen – bekommt ein ungleich stärkeres narratives Gewicht. Ausführlich wird, wie im Rahmen der Selbstinszenierungsgeschichten beschrieben, die Produktion solcher Bilder als ein Projekt geschildert, in dem Aussehen, Mimik, Gestik, Haltung sorgfältig in Szene gesetzt und später bearbeitet werden ganz im Sinne der Technologien der Selbstkonstruktion. Die Erzähler_innen machen deutlich, dass der mit diesen Bildern »in mediale Formen übersetzte Körper, der handelnde, sich darstellende, verkleidende, verformende, also spielende Körper eine neue Attraktion in seinem Gebrauch als Bild« (Ries 2013: 41) erlebt. Der Körper als Bild will bewundert, beneidet, entdeckt werden; er soll soziale Kontakte und Zukunftsschancen sichern. Den Erzähler_innen ist als Protagonist_innen die-
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ser Körperbilder zweierlei wichtig, so geht aus ihren Geschichten hervor: die Stimmigkeit des Bildes und die Signalisierung von Flexibilität und Veränderbarkeit dieses Bildes (Nünning 2013: 159). Damit gerät ein Körper ins Blickfeld, der Kontinuität und Diskontinuität in ein dynamisches Verhältnis zueinander setzt. Die These Lorenzers, dass Worte den sichtbaren Gegenständen nie so eng verbunden sein können wie Bilder (Lorenzer 1991: 28) könnte man dahingehend erweitern, dass Bilder auch den Wünschen und Träumen so eng verbunden sind, wie es Worte vielleicht nicht sein können. Spricht das dafür, dass sich das Konkurrenzverhältnis zwischen Wort und Bild zugunsten des Bildes verkehrt? Nicht zuletzt unter dem Einfluss der Multimedialität und Globalität digitaler Medien könnte in Verbindung mit den Bilder produzierenden Subjekten ein Webteppich der Bilder entstehen, der das Wort in die zweite Reihe verweist. Man spricht, wie erwähnt, bereits von einem »pictorial turn« (Mitchell 1994: 11f.) und von einer »visuellen Kultur«, die dabei ist, die Textkultur abzulösen. Diesem Trend allerdings kontrastiert eine andere Entwicklung, zumindest in den digitalen Netzwerken und auf den Websites, wo sich die Grenzen zwischen Text und Bild verflüssigen, wo neuartige Text-Bild-Konstruktionen entstehen, aus denen die Hierarchie gelöscht ist zugunsten eines hintergründigen und oft witzigen Wort-Bild-Sound-Spiels (Reichert 2013: 529).
4.5.3 Transmedialität Transmedialität ist, wie bereits erwähnt, ein von dem Medienwissenschaftler Henry Jenkins eingeführter Begriff, dessen knappe Definition lautet: »Transmedia, used by itself, simply means ›across media‹« (Jenkins 2011)3. Jenkins sah bereits das narrative Potenzial transmedialer Trends; er schuf den Begriff »Transmedia Storytelling«, das er beschreibt als »one logic for thinking4 about the flow of content across media« (ebd.). Transmediales Erzählen ist eingebettet in Kommunikations-, Informations-, Bilder-, Soundströme, die sich über verschiedene Medien hinweg ziehen. Transmedialität wird zunehmend ein Thema in der Erzählforschung. Diese befasst sich mit Transmedia-Produktionen, in denen Geschichten von Medienunternehmen als transmediales Geschehen inszeniert werden, das von den Adressat_innen teilweise interaktiv mitgestaltet werden kann. Das erste trans-
3 | http://henryjenkins.org/2011/08/defining_transmedia_further_re.html, Zugriff am 17.7.2015. 4 | »We might also think about transmedia branding, transmedia performance, transmedia ritual, transmedia play, transmedia activism, and transmedia spectacle as other logic« (ebd.)
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mediale Projekt dieser Art war in Deutschland Alpha 0.7, eine Science FictionThriller Serie in TV, Radio und Internet (Söller-Eckert 2013: 350). In diesem Kapitel verwende ich den Begriff Transmedialität nicht für mediale Angebote von Medienunternehmen. Das Erkenntnisinteresse richtet sich vielmehr auf die von den Netzakteur_innen und Blogger_innen selbst initiierten transmedialen Erzählprojekte, genauer, wie sich diese Projekte in ihren Geschichten widerspiegeln, die sie in den Interviews erzählen. Weil die Geschichten darauf verweisen, wird ein transmediales Erzählen thematisiert, das auch auf lebensgeschichtliche Vergangenheit rekurriert. Inhalte, die in der Kindheit in verschiedenen Medien rezipiert wurden, werden aus der Sicht der Erzähler_innen in der gegenwärtigen Lebenssituation aufgerufen und in ein neues Medium mit unterschiedlichen Intentionen nicht nur übertragen, sondern auch weiterentwickelt. In erinnere an den 23-jährigen Blogger, der die Zeitschrift Vogue, die sein Interesse für Mode geweckt hat, als er neun Jahre alt war, heute zu einem Thema in seinem Blog macht. Er setze sich, wie er erzählt, mit den Ambitionen auseinander, die das Printmedium im Hinblick auf seine Leser_innen verfolge und biete das seinen Leser_innen als Gesprächsstoff an. Aus einem anderen medialen Angebot, nämlich aus der amerikanischen Fernsehserie »Gossip Girl«, die er vor Jahren gesehen habe, habe er sich zu seinem Schreibstil als Blogger inspirieren lassen, den er als »Mix aus Comedy und Drama« kennzeichnet. Eine 21-Jährige hat, wie mehrfach erwähnt, den Namen der Romanfigur Gaia, die ihr als Kind begegnet war, als Nickname adaptiert, der sie permanent daran erinnert, wohin sie sich entwickeln will. Die in die Vergangenheit gerichteten transmedialen Akte münden aber nicht nur in eine Adaption medialer Inhalte, diese werden unter dem Einfluss des neuen Mediums und aktueller Lebensfragen auch verändert.5 Die Übertragung vollzieht sich den Erzählungen zufolge als eine Interaktion mit den übertragenen Inhalten, die auch zu einem Hinterfragen dieser Inhalte führen kann. Der zitierte 23-Jährige, der sich als Fan von Walt Disney-Filmen deklariert, erzählt, dass er angefangen habe, in seinem Blog die Prägung durch Walt Disney-Verfilmungen wie Dornröschen und Schneewittchen, die er als Kind gesehen habe, zu hinterfragen; insbesondere interessiere ihn das in diesen Filmen transportierte Verständnis von Liebe (»Ob das wirklich etwas ist, das uns damals schon in der Kindheit von Walt Disney eingeimpft wurde?«). Neben der in der Vergangenheit wurzelnden Transmedialität schildern die Netzakteur_innen und Blogger_innen auch eine Transmedialität, die durch die aktuelle Rezeption von Medien stimuliert wird. Aktuelle Filme und Videogames werden den Erzählungen zufolge im eigenen Blog vorgestellt, bewertet und mit anderen diskutiert. Eine 22-Jährige berichtet stolz von der von ihr 5 | Nach Jenkins beinhaltet jede Übertragung eine Interpretation, durch die das Original modifiziert oder erweitert wird (Jenkins 2011).
4. Theoretische Nachlese: Zeit, Raum, Selbst, Du und digitale Medien
angestoßenen »Blogparade« über Fernsehserien. Die Leser_innen werden mit der Frage »wie, wann und wo schaust du Serien am liebsten?« aufgefordert, über das Setting zu berichten, in dem sie sich Fernsehserien ansehen. Comicfiguren werden als Vorlage für digitale Selbstinszenierungen geschildert. Sie verwandle sich mit Hilfe von Make-up und Körperstyling selbst in die Comic-Figur Asuka und erscheine dann als Bild auf ihrer Homepage, erzählt die 24-jährige Migrantin. Von verschiedenen Netzakteur_innen und Blogger_innen ist zu erfahren, dass sie alltägliche Lebensszenarien in Fotos festhalten, um sie im Netz zu präsentieren. Eine von ihnen mischt in die digitalen Fotogalerien ein literarisches Medium in Form eigener Gedichte. Printmedien werden von denjenigen im Netz gelesen, die sich weit entfernt von ihrem Heimatland befinden, um daraus Gesprächsstoff für die Kommunikation mit der zurückgebliebenen Familie zu beziehen, die online oder per Telefon geführt wird. Es scheint für die Erzähler_innen selbstverständlich zu sein, ihre medialen Erinnerungen nicht nur in das Hier und Jetzt zu transportieren, sondern sie auch im Kontext digitaler Medien auf neuartige Weise zu beleben, Elemente dieser Erfahrungen in neue mediale Akte einzubauen, sie kritisch zu hinterfragen oder sich von ihnen zu neuen Narrationen inspirieren zu lassen. Der Nickname Gaia, den sich eine Netzakteurin zugelegt hat, erzählt eine neue Gaia-Geschichte. Mit dem aus »Gossip Girl« übernommenen Schreibstil werden Geschichten erzählt, die an der Fernsehserie anknüpfen und doch sind es andere Geschichten. Nicht anders gehen die Erzähler_innen, so ist ihren Geschichten zu entnehmen, mit den aktuellen medialen Erfahrungen um. Auch sie scheinen als ein Angebot wahrgenommen zu werden, das man nicht einfach konsumiert, sondern an verschiedenen medialen Orten diskursiv hinund herwendet, unter dem Einfluss der jeweiligen Community und der Spezifik des Mediums auf spezifische Weise durcharbeitet, mit neuen Sinnfacetten versieht und als Rohstoff für neue narrative Gebilde nutzt. Wenn im Rahmen der von einer Bloggerin initiierten »Blogparade« in Wort, vielleicht auch in Bild erzählt wird, wie, wann und wo Fernsehserien konsumiert werden, dann können prinzipiell – den Möglichkeiten eines Blogformats angepasst – viele neue Geschichten entstehen, die möglicherweise in wieder anderen Medien weitererzählt und neuerdings verändert werden. Aus den Geschichten geht hervor, dass die Erzählfäden kreuz und quer gelegt werden, dass aus statischen Bildern bewegliche in Form von Videos entstehen, dass Worte zu Bildern werden, Bilder zu Körper und Körper zu Bildern. Die Überführung eines Darstellungsmodus in einen anderen ist nach Claudia Söller-Eckert aufgrund der Konvergenz der Medien möglich (Söller-Eckert 2013: 342), da der Gebrauch der verschiedenen Medien auf ähnlichen Kompetenzen wie kommunikativen, gestalterischen, literarischen Kompetenzen basiert. Das von den Erzähler_innen geschilderte transmediale Forterzählen
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schafft nach Martin Gessmann einen »beweglichen Kosmos von Geschichten, die zwar immer ein gestalterisches Zentrum haben, aber offene Ränder, was die Dimension ihrer Fortentwicklung angeht« (Gessmann 2013: 260). Accessoires, Dinge, Eigenschaften, Bezeichnungen werden in der Forterzählung zu frei beweglichen Utensilien. Mediale Figuren können mit neuen Gegenständen ausgestattet werden, die aktuellen Lebensmodellen geschuldet sind wie im Fall der imaginierten Comic-Figur Asuka, der die Bloggerin Pinsel, Stift und Fotoapparat in die Hand drückt, die die Zukunftsperspektiven der Bloggerin ausdrücken. Die Erzähler_innen generieren sich in ihrem Verhältnis zu den Medien nicht als Zuschauer_innen oder Nur-Nutzer_innen; sie entwerfen sich vielmehr als Gestalter_innen, die die medialen Inhalte mitproduzieren und damit auch die Medien selbst (Jenkins 2011). Mehr noch: Sie wirken nicht nur an der Entwicklung von Einzelmedien mit, sondern auch an der Mischung von Medien (Krotz 2010: 108). Sie treten als Subjekte auf, die die Mediatisierung der Gesellschaft vorantreiben, indem sie mediale Formate und Inhalte in unterschiedliche Lebensbereiche hineintragen, aber vor allem auch durch die Art und Weise, wie sie diese Formate und Inhalte als transmediale Erzähler_innen zueinander in Beziehung setzen.
5. Erzählen als Antwort auf gesellschaftlich- kulturelle Herausforderungen
Die Erzählungen der in die Studie einbezogenen Netzakteur_innen und Blogger_innen aus verschiedenen Teilen der Welt kreisen um Fragen des eigenen Lebens, um soziale Beziehungen, häufig auch um Fragen gesellschaftlicher und medialer Entwicklung sowie um das Verhältnis dieser Bereiche zueinander. Jugendlichen und jungen Erwachsenen, zu denen die Netzakteur_innen und Blogger_innen zählen, bescheinigen Klaus Hurrelmann und Erik Albrecht eine besondere Sensibilität im Umgang mit sich selbst und ihrer Umgebung (Hurrelmann/Albrecht 2014: 15). Sie setzen sich laut Hurrelmann/ Albrecht deshalb so aktiv mit dem, was mit ihnen und um sie herum passiert, auseinander wie sonst niemand, weil es für sie darum geht, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden (ebd.). Die Netzakteur_innen und Blogger_innen dieser Studie gehören überwiegend der sogenannten Generation Y an, den zwischen 1985 und 2000 Geborenen. Von einer Generation ist auszugehen, wenn die einzelnen Jahrgänge mit denselben gesellschaftlichen Ereignissen und Herausforderungen konfrontiert sind. Zentrale gemeinsame Erfahrungen der Generation Y sind die gesellschaftlich-kulturellen Umbrüche, die sich derzeit weltweit auf Makro- und Mikroebene vollziehen. Die Synchronisation der gesellschaftlichen Strukturen und der individuellen Bedürfnislagen steht mit diesen Umbrüchen auf dem Prüfstand bzw. zeigt sich brüchig (Keupp 2015: 7). Wenn sich die Menschen ihrer raumzeitlichen Bezüge, innerhalb derer sie ihren Alltag leben und ihre Identitäten entwerfen, nicht mehr sicher sind oder sie als einschränkend erleben, ist das Nachdenken über diese Bezüge angesagt (ebd.). Dies liefert einmal mehr Grund für Jugendliche und junge Erwachsene, sich erzählend mit den gesellschaftlichen Veränderungen auseinanderzusetzen. Die Netzakteur_innen und Blogger_innen tun dies implizit oder explizit in ihren Erzählungen, die von der Suche nach neuen Lebensmodellen, nach neuen Beziehungsnetzen, von Grenzverschiebungen und neuen Grenzziehungen, von Auf- und Ausbruch handeln.
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In diesem Kapitel soll das Verhältnis zwischen den Subjekten, ihren narrativen Praktiken und dem gesellschaftlichen Wandel in den Mittelpunkt gerückt werden. Es soll gefragt werden, inwiefern sich in den präsentierten Geschichten dieser Wandel widerspiegelt, inwiefern diese Antworten auf gesellschaftlich-kulturelle Herausforderungen darstellen. Dieses Anliegen stützt sich auf die Annahme, dass individuelles und soziales Geschehen miteinander verknüpft ist (a.a.O.: 31). »What it means to be a person is social and cultural all the way down« (Barker 2003: 220), formuliert Chris Barker die soziale und kulturelle Verfasstheit des Subjekts. Diese soll jedoch nicht als deterministisch gedacht werden; vielmehr ist von Interdependenzen auszugehen. Subjekt, Gesellschaft und Kultur schaffen sich in wechselseitiger Interaktion (Honneth 1990: 21). Das Subjekt tritt mit seinen aktuellen Fragen sowie beeinflusst von lebensgeschichtlichen Erfahrungen, wie an früherer Stelle dargelegt, in diese Interaktion ein. Erzählungen gewinnen in gesellschaftlichen Umbruchphasen als Vermittler zwischen Makro- und Mikroebene besondere Bedeutung. Die Liste der in der einschlägigen sozial- und kulturwissenschaftlichen Literatur aufgezählten Phänomene des Wandels ist lang. Ohne den Anspruch zu erheben, das gesamte Spektrum an Umbruchsphänomenen zu erfassen, habe ich für die geplante Diskussion möglicher Zusammenhänge zwischen den Geschichten der Netzakteur_innen und Blogger_innen und den gesellschaftlichkulturellen Umbrüchen folgende Phänomene ausgewählt: Enttraditionalisierung, Pluralisierung, Entgrenzungen, Individualisierung und Global Flows. Im ersten Schritt werde ich diese Phänomene des gesellschaftlichen Wandels beschreiben, um sie im nächsten Schritt mit den Geschichten in Beziehung zu setzen in der Absicht, mögliche Zusammenhänge zu identifizieren.
5.1 E nt tr aditionalisierung Der Prozess der Enttraditionalisierung startete in westlichen Ländern in der Moderne, deren stärkstes Motiv nach Zygmunt Baumann war, das Alte aufzulösen, um die Wirtschaft aus den Fesseln von Familie und Haushalt zu befreien (Baumann 2003: 10). Das Beseitigen von Bremsen, Deregulierung, Liberalisierung, Flexibilisierung löste eine ungehemmte Entwicklung von Finanz-, Immobilien- und Arbeitsmärkten aus (a.a.O.: 12). Betroffen von der Überwindung tradierter Strukturen waren aber auch das soziale und kulturelle Leben; tradierte Werte, Normen, Lebensmodelle verloren an Gültigkeit. Normative Verbindlichkeiten, soziale Ligaturen wurden eingeschmolzen; Baumann spricht von einer »Totalverflüssigung des Alltags« (a.a.O.: 15), die die Lebensbedingungen der Menschen radikal veränderte. Dem heutigen Subjekt fehlen nach Baumann die tradierten Orientierungsmuster als ein Gerüst, an dem sich Lebenspläne festmachen können (Baumann 2003: 21). Vor dem
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Hintergrund dieser historischen Entwicklung wird Enttraditionalisierung mit Verlust, Demontage, Zerfall in Verbindung gebracht. Enttraditionalisierung erscheint so betrachtet als etwas, das den Subjekten widerfährt. Enttraditionalisierung kann aber auch von den Subjekten intentional betrieben werden, wenn die Tradition den Zukunftsvisionen der nachwachsenden Generation widerspricht, wie wir am deutlichsten den Auf- und Ausbruchsgeschichten der arabischen Netzakteur_innen und Blogger_innen entnehmen können. Die tradierte enge Verbindung von Politik und Religion, die mangelnde Meinungs- und Redefreiheit, die kulturell verankerten Diskussionsverbote werden von ihnen als Fesseln geschildert, die abgeworfen werden sollen. Enttraditionalisierung ist hier kein Effekt makrostruktureller Entwicklungen, sondern ein von den Alltagsakteur_innen angestoßener Prozess. In beiden Fällen aber gilt, dass Lebensformen die »strukturelle Gefügtheit, die Traditionen und das berechenbare Maß (verlieren), auf das hin Subjekte ihren Lebensentwurf, ihre Biografie und Identität ausrichten könnten« (Keupp 2015: 7). Das Andere einer Ordnung, die verloren gegangen ist oder von der man sich abzuwenden sucht, äußert sich für die Generation Y in den westlichen wie in den arabischen Ländern in Unbestimmtheit, Unvorhersagbarkeit, Unberechenbarkeit. Daraus kann Angst erwachsen, wie sie Heinz Bude in seinem Buch »Gesellschaft der Angst« (2004) als typisches Gefühl in westlichen Gesellschaften beschrieben hat. Enttraditionalisierung wird vor allem dann zur Quelle von Angst, wenn sie als Verlust von Sicherheiten erfahren wird. Die Angst kommt nach Bude daher, »dass alles offen, aber nichts ohne Bedeutung ist« (Bude 2004: 20). Jede Handlung zählt, jede Handlung kann ein Fehltritt sein, mit jeder Handlung, so glaubt man laut Bude, steht das gesamte Leben zur Disposition (ebd.). Dort, wo die Verabschiedung tradierter Strukturen gewünscht ist, machen dagegen eher die Risiken Angst, die aus dem Widerstand der beharrenden Kräfte erwachsen. Was dennoch bleibt, ist die Verunsicherung angesichts einer zwar gewünschten anderen, aber offenen Zukunft. Die offen gewordenen Lebensläufe sind nach Hurrelmann/Albrecht das wichtigste Kennzeichen der Generation Y, die zur größten Herausforderung für sie geworden sind (Hurrelmann/Albrecht 2014: 35). Die Ypsiloner haben es mit Offenheit in verschiedener Form zu tun, mit der sie lernen müssen umzugehen, z.B. • durch immer wieder neu geforderte Anpassung an eine gewandelte Realität, • durch ein ständiges Sich-Neuerfinden, • durch ein fortwährendes, nie endendes Aushandeln von Konsensen. Die Erosion tradierter Strukturen und Muster wird von den Netzakteur_innen und Blogger_innen mit einem hohen Maß an Reflexion beantwortet, das sich
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in allen Geschichten unabhängig von der nationalen Zugehörigkeit der Erzähler_innen zeigt. Zur Debatte stehen Werte – z.B. Liebe oder Loyalität – und wie sie heute interpretiert werden müssen, die Angemessenheit des eigenen Verhaltens in der Begegnung mit Anderen oder in Interaktion mit der Technik, aber auch das Verhalten der Anderen oder die tradierten Ordnungsstrukturen und politischen Rechte, die vor allem von den arabischen Erzähler_innen thematisiert bzw. problematisiert werden. Den offen gewordenen Lebensläufen und dem Erfordernis sich selbst zu erfinden, korrespondiert das suchende Ich, das seinen Auftritt in den Selbstinszenierungsgeschichten hat, sich in der Hoffnung auf Feedback mit seinen Schwächen und Stärken im eigenen Blog präsentiert oder die Leser_innen mit einem sorgfältig gestalteten virtuellen Ich beeindruckt, das zugleich ein Idealbild verkörpert, das Ziel und Ansporn für die eigene Entwicklung darstellt. Das suchende Ich giert nach Zustimmung, weil es daraus Bestätigung ziehen kann, auf dem richtigen Weg zu sein. Zustimmung und Lob, so wird wiederholt betont, seien »Balsam für die Seele«. Das Suchmotiv findet sich erwartungsgemäß auch in den Verwandlungsgeschichten der Pubertierenden, die nicht nur mit dem gesellschaftlich-kulturellen Wandel, sondern auch mit einem biografischen Umbruch konfrontiert sind. Es äußert sich eindrucksvoll in der Verwandlungsgeschichte der 12-Jährigen, die die Frage nach dem Richtigen, in der die Frage nach dem richtigen Leben steckt, in den Mittelpunkt ihrer Geschichte rückt. Sie nutzt die Möglichkeiten der virtuellen Welt, um sich an dieser Frage abzuarbeiten. Am Ende ist es für sie der Körper, der ihr als einziger Garant für das Richtige erscheint, denn er kann in ihren Augen nicht lügen. Soziale Begegnungen müssen für sie Face-to-face-Begegnungen sein, um richtig und wichtig zu sein. Auch die Beliebtheit der Rollenspiele online und offline, von denen Kinder und Jugendliche erzählen, verweist auf die Suche nach Verhaltensmustern und Beziehungsgestaltung. Sie bieten Gelegenheit auszuprobieren, was ankommt, Anerkennung findet, ohne sich festlegen zu müssen. Das suchende Ich der erzählenden Kinder und Jugendlichen ist angesichts einer erodierenden Gesellschaft dazu gezwungen, sich seine Wertewelt neu aufzubauen. Das schließt ein kritisches Hinterfragen alter und neuer Werte nicht aus, aber wir haben es nicht mit einem rebellierenden Ich zu tun. Davon unterscheiden sich die Aus- und Auf bruchsgeschichten der arabischen Netzakteur_innen und Blogger_innen, in denen gegen einengende tradierte Strukturen auf begehrt wird. Die digitalen Netzwerke werden von ihnen, so geht aus ihren Geschichten hervor, genutzt, um Tabus zu brechen, alternative Öffentlichkeiten zu konstituieren, Spielräume für Meinungsäußerung auszutarieren. Die Möglichkeiten digitaler Medien werden aber auch genutzt, um in der grenzüberschreitenden Kommunikation der Welt andere Seiten der eigenen Kultur zu zeigen, die von den offiziellen Medien aus Sicht der Erzäh-
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ler_innen verschwiegen werden. Das spricht dafür, dass Traditionen nicht generell ad acta gelegt werden sollen, sondern zwischen einengenden Traditionen und solchen, die Wertschätzung verdienen, unterschieden wird. Ob es darum geht, tradierte kulturelle Systeme zu ersetzen, weil sie verschwunden oder untauglich geworden sind oder weil sie nicht mehr akzeptiert werden, in allen Geschichten, die von Enttraditionalisierung der einen oder anderen Art handeln, ist das Bedürfnis nach Gestaltung stark ausgeprägt. Aus diesem Bedürfnis spricht die Hoffnung, auf die Zukunft im Sinne der eigenen Wünsche Einfluss nehmen zu können.
5.2 P lur alisierung Pluralität ist nach Wolfgang Welsch das Herzwort der Moderne, das zugleich auf ein gesellschaftlich-kulturelles Danach verweist, das Welsch Postmoderne nennt (Welsch 1988: 13). Weil ich das Prozesshafte dieses Phänomens betonen möchte, werde ich im Folgenden nicht von Pluralität, sondern von Pluralisierung sprechen. Mit dem Begriff Pluralisierung wird die Vervielfältiung von Lebensräumen bezeichnet, die mit einer Vervielfältigung sowohl von Anforderungen als auch von Angeboten einhergeht. Auch dieser Prozess wurzelt in der Logik der Moderne und der ihr eigenen ökonomischen Kräfte, die zur Ausdifferenzierung des ökonomischen Sektors, zur Trennung von Erwerbsund Reproduktionsarbeit sowie zu verstärkter Mobilität in Form von Bildungs-, Arbeits-, Beziehungsmobilität drängte. Wer sein Bildungsniveau heben wollte, musste den Bildungsangeboten in die Städte folgen, wer seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbessern wollte, musste dorthin gehen, wo sich Arbeitsplätze konzentrieren. Dieser Trend gilt bis heute. Es bahnte sich mit ihm die Vorherrschaft des Nomadischen über das Sesshafte an (Baumann 2003: 20f.), die in der »flüchtigen Moderne« (ebd.) immer mehr Lebensformen prägt, während die Bodenhaftung an Bedeutung verliert. Pluralisierung ist also kein völlig neuer Trend, aber er zieht verstärkt Aufmerksamkeit auf sich, weil er sich beschleunigt und intensiviert hat. An dieser Entwicklung haben die Medien einen entscheidenden Anteil. Bereits das Buch und die Zeitung führten über die physische Nahwelt hinaus in andere Erfahrungswelten. Telefon, Radio, Fernseher verstärkten dies, weil sie leichter zu konsumieren bzw. zu nutzen waren, immer mehr Alltagshandlungen mit diesen Medien verknüpft wurden und weil sie das Spektrum an Erfahrungswelten erheblich erweiterten (Meyrowitz 1990: 10). Mit den digitalen Medien wird die Vervielfältigung der Räume auf die Spitze getrieben (Schachtner 2013: 20f.). Die digitalen Räume öffnen sich Inhalten aller Art und können uns folglich als Arbeitsräume, Lernräume, Verkaufsräume, Flirträume, Informationsund Kommunikationsräume dienen, die nicht an den nationalen Grenzen en-
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den (ebd.). Im Unterschied zu den Printmedien und audiovisuellen Medien liefern die digitalen Medien nicht nur ein Erfahrungspanorama; wir können in den digitalen Räumen auch selbst aktiv werden. Das Internet besteht nach Mitchell aus einer Vielzahl gleichzeitig operierender Computer, die uns eine Welt miteinander verbundener Räume offerieren, in denen wir in sich überlappenden Beziehungen kommunizieren, arbeiten, lernen, spielen können (Mitchell 2003: 13f.). Für die Netzakteur_innen und Blogger_innen ist es selbstverständlich geworden, mehrere digitale Netzwerke, Informationsnetze und Computerspiele zu nutzen und das oft nahezu gleichzeitig. Sie können dies an jedem Ort und zu jeder Zeit tun, denn die digitalen Medien sind dank ihrer Miniaturisierung mobil geworden; die Vielzahl der Räume, die sie offerieren, passt in jede Hand- und Jackentasche. Dies fördert nicht nur das Flanieren zwischen den virtuellen Räumen, sondern auch zwischen den virtuellen und den physikalischen Räumen, wie die Visualisierung eines 22-jährigen Netzakteurs aus Österreich illustriert. Abbildung 10: In sich überlappenden Räumen kommunizieren, arbeiten, lernen (Netzakteur, 22, Österreich)
Eigentlich will der 22-Jährige mit seinem Bild nur zeigen, dass er verschiedene mediale Angebote nutzt wie Twitter, Google, Soup.io1, das Mobiltelefon. Die Darstellung jedoch gerät ihm zur Darstellung seines Tagesablaufs, beginnend mit dem Aufstehen, der Fahrt mit dem Bus zum Arbeitsplatz, dann der Besuch der Universität, die Fahrt zurück und das Ankommen zuhause. Zu sehen ist in Form von Sprechblasen, dass er über den Tag hinweg den virtuellen Räumen verbunden bleibt, wie er auch selbst wahrnimmt. Er bewegt sich und agiert, so 1 | Soup.io ist eine österreichische »social networking und microblogging site«.
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führt das Bild vor Augen, sowohl in wechselnden virtuellen als auch in wechselnden physikalischen Räumen. Das Agieren in den virtuellen Räumen erfolgt aus seiner Sicht »nebenbei« oder »parallel«, so seine Worte. Unter den Bedingungen der Pluralisierung von Lebensräumen, verstärkt durch die Medien, wird das Leben zu einem »Leben im Plural«, das Wolfgang Welsch schon in den 80er Jahren als Entwicklungstrend festgestellt hat (Welsch 1988). Vor allem die Generation Y dürfte dieses Lebensmodell adaptieren, zählt sie doch zu der Altersgruppe, die die digitalen Medien weltweit am stärksten nutzt 2 . Ein Leben im Plural birgt Herausforderungen und stellt Ansprüche. Aus dem Neben- und Ineinander digitaler und physikalischer Räume kommen den Subjekten unterschiedlichste Bilder, Verlockungen, Angebote entgegen, von denen man nicht weiß, wie sie zueinander passen (Schachtner 2013: 23). »You don’t know how the two worlds are going to cross«, schreibt Sherry Turkle (Turkle 2011: 196). Turkle untertreibt, wenn sie nur von zwei Welten spricht, denn schon allein die digitale oder die physikalische Welt sind in sich heterogen; hinzu kommen die sich überlappenden Lebensfelder des virtual und/oder real life, die sich als ein Drittes oder ein Dazwischen darstellen. Der häufige und oft rasche Wechsel von einem Lebensraum in den anderen birgt das Risiko fragmentierter Erfahrungen und den Verlust des Gefühls, ein zusammenhängendes Leben zu führen. Pluralisierung ist ein widersprüchlicher Prozess, der sowohl eine Erweiterung an Optionen bedeutet als auch eine Zunahme an Spannungen und Konflikten. Wer sich erfolgreich in einem Leben im Plural bewegen möchte, benötigt Ambiguitätstoleranz, Pluralitätskompetenz, Übergangsfähigkeit (Welsch 1991: 357). Dem Risiko, dass das Leben im Plural in einzelne, voneinander isolierte Stücke zerfällt, antworten die Netzakteur_innen und Blogger_innen mit narrativen Praktiken, die auf die Herstellung von Kohärenz abzielen wie sie in Vernetzungsgeschichten, aber auch in Auf- und Ausbruchsgeschichten geschildert werden. Die digitalen Medien haben für die Generation Y einen hohen Stellenwert bei dem Versuch, aus ihrem Leben ein zusammenhängendes Leben zu machen. In Zusammenhang gebracht werden sollen mittels medialer Technik Ereignisse oder Menschen aus unterschiedlichen Kontexten. Ich erinnere an die amerikanische Weltenbummlerin, die auf ihren Reisen durch verschiedene Länder Alltägliches fotografiert und das Festgehaltene anschließend in eine Bildergalerie online stellt. So fügt sie die verschiedenen Alltage zu einem bunten Mosaik zusammen, das zwar Differenzen aufweist, aber dennoch ein Ganzes bildet. Die Online-Präsentation hat für sie den weiteren Vorteil, wie sie erzählt, dass sie mittels der Bilder auch eine Brücke zu ihrer 2 | Laut ZDF/ARD-Studie 2011 (Zeitpunkt der Erzählungen) nutzten im Jahre 2011 in Deutschland die 14- bis 19-Jährigen das Internet zu 100 % und die 20- bis 29-Jährigen zu 98 % (diese Altersgruppen zählen zur Generation Y).
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Familie schlagen und damit den familialen Raum in ihre aktuelle Umgebung integrieren kann. Entfernt existierende familiale Netze und Freundesnetze mittels Bilder, Texten, Sound mit dem Hier und Jetzt online in Beziehung zu setzen, ist eine unter der Generation Y weit verbreitete Strategie. Kraus schildert den Kampf um Kohärenz als unverzichtbar; der Verzicht auf diesen Kampf hätte die Selbstauflösung des Subjekts zur Folge (Kraus 2000: 15). Doch nicht immer fügen sich die verschiedenen Räume und die damit verbundenen Erfahrungen harmonisch zueinander. Besonders deutlich wird das in den Erzählungen der arabischen Netzakteur_innen und Blogger_innen, die darauf hinweisen, dass sich die Online-Präsenz erheblich von der Offline-Präsenz unterscheiden kann. Als Ursache wird die Diskrepanz zwischen eigener Meinung und den gesellschaftlich-kulturellen Limits angegeben. Manche von ihnen erleben sich, wie sie sagen, als gespalten. Andere meinen, dass sie in den verschiedenen Kontexten mit sich identisch bleiben, was sich dadurch erklären könnte, dass sie unterschiedliches Verhalten lediglich als eine Facette ihrer Identität betrachten oder ein Selbstverständnis von sich haben, das unabhängig von ihrem jeweiligen Verhalten in den verschiedenen Kontexten nach außen unsichtbar von ihnen aufrechterhalten wird. Die Netzakteur_innen und Blogger_innen gestalten ihren Erzählungen zufolge ihre Strategien im Umgang mit Pluralität unterschiedlich in Anpassung an die jeweiligen Lebenskontexte; gemeinsam ist ihnen, dass sie die Gestaltungsstrategien selbst herausfinden müssen, weil es dafür keine vorgefertigten Muster gibt.
5.3 E ntgrenzungen Die Pluralisierung von Lebensräumen bedeutet nicht nur eine Erweiterung, sondern auch eine Überlagerung von Räumen, aus der Entgrenzungen erwachsen, die sich unter dem Einfluss von Medien verstärken. Zu den sich in der Gegenwartsgesellschaft am deutlichsten abzeichnenden Entgrenzungen, die medial unterstützt oder sogar medial initiiert werden, zählen die Entgrenzung zwischen geografischen bzw. nationalen Grenzen, die Entgrenzung zwischen Arbeit und Freizeit3 sowie zwischen Öffentlichkeit und Privatheit. Im Folgenden wird auf die zuletzt genannte Form der Entgrenzung eingegangen; die geografischen Entgrenzungen werden im Abschnitt »Global Flows, Crossover, Hybridität« thematisiert.
3 | Die Entgrenzung zwischen Arbeit und Freizeit wurde in dem kooperierenden Projekt der TU Hamburg-Harburg untersucht. (s. Carstensen/Ballenthien/Winker 2014, 29ff.; s. auch Roth-Ebner 2015).
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Jürgen Habermas propagierte Trennlinien zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, die er als konstitutiv für moderne demokratische Gesellschaften betrachtete (Habermas 1990: 27ff.). Die Herausbildung einer Privatsphäre, in der sich das Individuum, geschützt vor staatlichen Eingriffen, entwickeln konnte, wurde in der politischen Philosophie als Zugewinn an Freiheit und Autonomie gefeiert (Jurczyk/Oechsle 2008: 9). Es handelt sich um ein normatives Konzept, das in der Realität vermutlich nie in dieser reinen Form existierte. Schon Habermas beobachtete, dass Privates veröffentlicht wird und als Folge davon die »Öffentlichkeit Formen der Intimität an(nimmt)« (Habermas 1990: 245f.). Zur Erosion existierender oder vorgestellter Grenzen trug wesentlich die mediale Entwicklung bei. Fragen des privaten Lebens sind heutzutage ein beliebter Gegenstand medialer Inszenierungen (Jurczyk/Oechsle 2008: 8). Kindererziehung, Partnerwahl, Familienalltag, Sexualität sind zu selbstverständlichen Themen in öffentlichen Talkshows und von Reality TV4 geworden. Die digitalen Medien haben die Möglichkeiten der Veröffentlichung des Privaten erheblich erweitert, denn sie bieten Räume, die nicht nur von den Nutzer_innen selbst bespielt werden können, sondern zu denen potenziell alle Welt Zugang hat. In den Geschichten der Netzakteur_innen und Blogger_innen wird dies teilweise begrüßt, teilweise als erschreckend oder als bedrohlich geschildert. Wer sich auf den virtuellen Bühnen als Star inszeniert, so geht z.B. aus der Selbstinszenierungsgeschichte »der bewunderte Star« hervor, genießt die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit; wer sich mit seiner Online-Präsenz im Widerspruch zur tradierten kulturellen Ordnung weiß, erlebt den öffentlichen Charakter des virtuellen Raums ambivalent. Einerseits, so erzählen Netzakteur_innen und Blogger_innen aus dem Mittleren Osten, sehen sie die Online-Öffentlichkeit als willkommene Chance für die Entwicklung eines alternativen politischen Diskurses auch über regionale Grenzen hinweg ganz im Sinne des Habermas’schen Öffentlichkeitsbegriffs, andererseits fürchten sie Repressalien durch die politisch administrativen Behörden. Die Einsehbarkeit der virtuellen Räume war den Erzähler_innen meist nicht von Anfang an bewusst; einige sprechen über ihre unbesorgte Nutzung digitaler Medien als sie Kinder und Jugendliche waren. Eine der Netzakteur_innen erzählt, wie berichtet, dass sie den öffentlichen Charakter erst dann erschrocken zur Kenntnis genommen habe, als sie sich per Zufall unter ein Publikum gemischt hatte, das gerade ihr Flickr-Album betrachtete und kommentierte. Man erlebt sich meist nicht als Teil einer Öffentlichkeit, wenn man im Netz agiert. Es ist dafür nicht erforderlich, sich physisch aus seiner Privatheit herauszubegeben. Ein Klick auf das Tastenfeld eines Smartphones oder Lap4 | Reality TV (Realitätsfernsehen) tritt mit dem Anspruch auf, alltägliche Lebenswelten, die Ausnahmesituationen zeigen – z.B. Heirat, Geburt, Tod – authentisch oder nachgestellt wiederzugeben.
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tops genügt, um öffentliches Leben in die Privatheit der eigenen Wohnung zu holen. Die Angebote des Fernsehens über Öffentlichkeiten anderswo werden durch Videos ergänzt, die seit Auf kommen der sogenannten Handyvideos in unübersehbar großer Zahl auf digitalen Netzwerken und Blogs zur Verfügung stehen. Ein Tastendruck und das vermeintliche Draußen befindet sich auf dem eigenen Schreibtisch. So entsteht Öffentlichkeit inmitten von Privatheit oder es entsteht etwas Neues, von dem wir noch nicht wissen, wie wir es nennen sollen. Wenn existierende oder vorgestellte Klassifizierungen an Gültigkeit verlieren wie im Fall der Entgrenzung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, gerät eine Ordnung ins Wanken. Es verändern sich die Beziehungen zwischen bestimmten Handlungen und den Folgen dieser Handlungen. Man kann sich nicht mehr auf vergangene Erfolge als Anleitungen für zukünftige verlassen (Baumann 1992: 14). Die Subjekte sind herausgefordert, neue Klassifizierungen zu finden, d.h. Handlungen des Einschließens und Ausschließens zu entwickeln (a.a.O.: 15). In eine neue Klassifikation von öffentlich und privat auch die virtuellen Räume einzubeziehen, stellt die Subjekte vor besondere Schwierigkeiten, denn sie haben es in diesen Räumen mit einer Realität zu tun, die anders ist als die Welt jenseits digitaler Medien und die in dieser Andersheit von ihnen erst erforscht werden muss. Die strukturelle Entgrenzung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit spiegelt sich am deutlichsten in den Grenzmanagementgeschichten wider. In diesen Geschichten wird die Entgrenzung nicht nur thematisiert; es werden auch Strategien geschildert, die neue Klassifikationen begründen sollen. Zu diesen zählen, wie bereits dargestellt, Selektion und Differenzierung. Selektion bezieht sich auf Inhalte, die öffentlich im Netz präsentiert oder nicht präsentiert werden sowie auf Personen, an die bestimmte Inhalte adressiert oder nicht adressiert werden, je nachdem wo sie sich auf dem selbst gelegten Spannungsbogen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit befinden. Differenzierung bezieht sich auf die Einteilung des virtuellen Raums in öffentliche und private Foren. Das eindrucksvollste Beispiel hierfür liefert die Grenzmanagementgeschichte der 27-jährigen arabischen Bloggerin, die drei verschiedene Blogs führt, mit denen sie ihre Grenzen zwischen öffentlich und privat jeweils unterschiedlich zieht. In den Geschichten der Netzakteur_innen und Blogger_innen zeichnet sich nicht nur ein Bewusstsein für Entgrenzungen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit ab, sondern auch das Bedürfnis, klare Grenzen festzulegen und sich nicht einer ungeklärten Situation zu überlassen. Müller-Funk nennt Gründe, die das Bedürfnis nach Grenzen erklären können, indem er den Charakter von Grenzen als Trennung und Verbindung bestimmt (Müller-Funk 2012: 81). Wo die Grenzen verschwinden, kann es nach Müller-Funk nicht zu Berührung und Kontakt kommen (a.a.O.: 80), worauf menschliche Subjek-
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te aber nicht verzichten können. Demzufolge sind Grenzen ein konstitutives Merkmal menschlichen Seins. Bei den Grenzziehungen, von denen die Netzakteur_innen und Blogger_ innen in ihren Geschichten berichten, fällt zweierlei auf: (1) Grenzen werden nicht als endgültige Grenzen geschildert, (2) Grenzziehung erscheint als individuelle Leistung. In den Geschichten ist von Grenzzonen die Rede, die variiert werden können. Das Fehlen gesellschaftlicher Modelle für die Gestaltung des Verhältnisses zwischen Öffentlichkeit und Privatheit begreifen die Erzähler_innen als Aufforderung, diese Gestaltung selbst in die Hand zu nehmen, jede(r) für sich. Wenn es stimmt, dass Grenzen die Möglichkeiten des sozialen Miteinanders bestimmen, wie sich aus den Überlegungen von Müller-Funk ableiten lässt, wird es dabei nicht bleiben können. Konsensuelles Aushandeln der Grenzzonen wird die individuell verantworteten Grenzziehungen ersetzen müssen.
5.4 I ndividualisierung Die Individualisierungsthese signalisiert die Entbettung des Individuums aus sozialen Zusammenhängen, die sich in einer abnehmenden Bedeutung »industriegesellschaftlicher Vergemeinschaftungsformen« (Beck/Sopp 1997: 10; Beck 1986: 115ff.) wie Klasse oder Arbeitermilieu äußert. Einmal mehr verschwinden damit auch kollektiv geteilte Lebensmodelle und Identitätsentwürfe, die ungeeignet erscheinen oder bedeutungslos werden (ebd.). Auch die Individualisierungsthese weist insofern eine westliche Prägung auf, als in der sozialwissenschaftlichen Analyse Verluste und der Entzug von Sicherheiten im Zusammenhang mit Individualisierungstendenzen betont werden. In den Geschichten der arabischen Netzakteur_innen und Blogger_innen ist Individualisierung ebenfalls ein Thema, allerdings als ein rebellischer Prozess, der von den Individuen ausgeht, die sich den Zwängen tradierter sozialer Zusammenhänge und ihrer Traditionen entziehen wollen. Individualisierung kann auch im Westen Befreiung aus einengenden Strukturen von Klasse, Schicht, Familie bedeuten, ist doch nicht gesagt, dass traditionelle Gemeinschaftsformen dem Individuum stets Integration in wünschenswerter Form geboten haben (ebd.). Wie auch immer: Wo die sozialen Ligaturen verschwinden oder abgelegt werden, ist das Subjekt auf sich alleine gestellt. Nach Zygmunt Baumann, der die Demontage sozialer Verbindungsglieder in die Nähe des Orwell’schen Alptraums rückt, sind die Ziele individueller Selbstkonstruktion unwiederbringlich unterdeterminiert (Baumann 2003: 14). Soziale Integration ist in einer Gesellschaft, in der die Verbindungsglieder in den Schmelzofen gewandert sind, so Beck/Sopp, nicht als politische Systemleistung oder als Leistung des
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kulturell-normativen Systems zu erwarten, sondern als individuelle Leistung zu erbringen (Beck/Sopp 1997: 12). Der Individualisierungsthese kann vor dem Hintergrund des empirischen Materials der hier vorgestellten Studie insofern zugestimmt werden, dass Individualisierung zum einen strukturelle Entbettung und zum anderen Neukonstitution des Individuums bedeutet. Letztere muss aber – so zeigen die Geschichten der Netzakteur_innen und Blogger_innen – nicht notwendig nur als individuelle Leistung erbracht werden, sie ist auch – insbesondere mit Blick auf die arabischen Erzähler_innen – als kollektive Leistung denkbar. Bezogen auf die in der Studie »Kommunikative Öffentlichkeiten im Cyberspace« ermittelten Geschichten interessieren primär die im Zuge der Individualisierung sich zeigenden individuell oder kollektiv gestarteten Versuche der Selbstkonstruktion. Ein grundlegender Modus der Konstruktion von Wirklichkeit, wozu auch Selbstkonstruktionen zählen, ist nach Kraus das Erzählen (Kraus 2000: 4). Deshalb überrascht es nicht, wenn wir in nahezu allen Geschichten auf narrative Individualisierungspraktiken stoßen. Sie zeichnen sich in den Selbstinszenierungsgeschichten, in den Händler_innen- und Verkäufer_innengeschichten, in den Verwandlungsgeschichten und in den Auf- und Ausbruchsgeschichten ab. In den Selbstinszenierungsgeschichten zeigen sich zwei Formen von Versuchen der Individualisierung: eine egozentrische und eine duorientierte Form. Die Geschichte »der bewunderte Star« repräsentiert die egozentrische Form, bei der sich der 29-jährige Erzähler aus Österreich als Übertyp charakterisiert, der sein Leben ganz aus eigener Kraft meistert. Er präsentiere sich online, wie er erzählt, »ohne Ecken und Kanten«, als »harter Knochen«, der jeden Fehlschlag pariert und dem die Statussymbole zu Füßen liegen ebenso wie die ihn bewundernden Anderen, wie seine Visualisierung zeigt (s. Abb. 3). Seine Stärke und Überlegenheit scheint er ganz aus sich heraus zu gewinnen; die Anderen sind als Zuschauer gefragt. Als solche kann auf sie nicht verzichtet werden, was der inszenierten Unabhängigkeit widerspricht. Bei der duorientierten Form von Individualisierung machen sich die in Europa lebenden Protagonist_innen zwar ebenfalls zum Zentrum ihrer Lebensplanung, aber sie verstehen sich nicht als unabhängige Akteur_innen. Sie erzählen von selbst gewählten Zielen und Identitätsentwürfen, die sie bewusst im Netz einem Publikum präsentieren, das kommentieren soll. Die Kommentare dienen, so geht aus den Geschichten hervor, als Orientierungspunkte; die Erzähler_innen erhoffen sich Lob und Zustimmung, verschließen sich aber auch nicht der Kritik, wenn sie diese aus ihrer Sicht weiterbringt. Eine andere Antwort auf den Individualisierungsschub der Gegenwart, der das einzelne Individuum als Gestalter seines Lebens fordert, ist die Nutzung des virtuellen Raums als Trainingsort von Kompetenzen, die dem Individu-
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um ein erfolgreiches Leben versprechen. Antworten dieser Art finden sich in den Händler_innen- und Verkäufer_innengeschichten sowie in den Verwandlungsgeschichten. Beispiele dafür sind die Geschichten des 14-jährigen und des 24-jährigen Bloggers sowie der 22-jährigen Bloggerin aus dem europäischen Raum, in denen geschildert wird, wie sich die Erzähler_innen online als Expert_innen für die Bewertung technischer und medialer Produkte, als Designer oder als Projektmanagerin entwerfen. Der 11-Jährige erzählt in seiner Verwandlungsgeschichte, wie er das Internet als Ort nutzt, nicht nur um sich die Tricks berühmter Fußballspieler abzuschauen, sondern auch, um sie selbst zu trainieren. Sein Ziel ist es, ein berühmter Fußballspieler zu werden, der in aller Welt bekannt ist und dessen Leistungen hoch dotiert werden. Hurrelmann/Albrecht beschreiben die Generation Y als eine Generation, bei der sich alles um Beruf und Karriere dreht, um sich eine erfolgversprechende Zukunft zu sichern (Hurrelmann/Albrecht 2014: 30). Auch in den in dieser Studie ermittelten Individualisierungsversuchen geht es um den Wunsch nach einer erfolgreichen Zukunft. In den Selbstinszenierungsgeschichten bleibt dieser Wunsch vage, in den Geschichten, die auf die Schulung von Kompetenzen und Expertise abzielen, wird er konkreter. Der Karrierewunsch steht jedoch nicht isoliert, sondern ist verbunden mit dem Wunsch nach einer entwickelten Persönlichkeit. Die Geschichten zeigen eine Generation, die Ziele hat, was die Annahme von Baumann kontrastiert, dass es an Lebenszielen mangle. Es sind nur keine extern determinierten, sondern selbst gesetzte Ziele. Die auf den Prozess der Individualisierung bezogenen narrativen Antworten machen deutlich, dass die Akteur_innen zwar als Unternehmer_innen ihrer selbst und ihres Lebens auftreten, aber ihr Handeln immer auch auf Andere bezogen ist, selbst dann, wenn sie sich als völlig unabhängig wähnen. Noch stärker als in den Geschichten der westlichen Netzakteur_innen tritt die soziale Orientierung in den Geschichten arabischer Erzähler_innen in Erscheinung. Auch diese Geschichten künden von dem Wunsch nach neuen, in die Zukunft gerichteten Selbstentwürfen, nach Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung. Doch der Wunsch nach persönlicher Entwicklung wird eng an den Wunsch nach gesellschaftlich-kulturellem Wandel geknüpft. Den Geschichten zufolge mündet das Wünschen in ein Handeln, das die Neukonstruktion von Individuum und Gesellschaft als kollektives Unternehmen anstrebt. Die digitalen Netzwerke, die von den Erzähler_innen als geschützte Orte wahrgenommen werden, sollen sie darin unterstützen, Verbündete und Mitstreiter_innen zu finden. Wie erwähnt, befinden sie sich im Unterschied zu den westlichen Erzähler_innen nicht in einer Situation, in der gesellschaftlich-kulturelle Traditionen bedeutungslos geworden sind, im Gegenteil. Sie erleben sich umstellt von den Wächtern der Tradition, die auf Abweichungen mit Drohgebärden reagieren. Die arabischen Erzähler_innen äußern im Unterschied zu den westlichen Erzähler_innen deutlich, dass Individualisierung
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im Sinne einer selbstbestimmten Lebensführung nur in einem veränderten gesellschaftlich-kulturellen Kontext denkbar ist. Das Wissen um die Macht der beharrenden Kräfte provoziert Individualisierungshandlungen zunächst als kollektive Handlungen, deren Ergebnis in individuelles Handeln übersetzt werden muss. Individualisierungschancen ergeben sich nach Adriana Cavarero daraus, dass »each human being is different from all those who have lived, who live, and who will live« (Cavarero 1997: 89). Um es nochmals aufzugreifen: Ob die Handlungen, die auf eine selbstbestimmte Neuverortung des Individuums in der Gesellschaft zielen als individuelle oder kollektive Handlungen geplant werden, sie entstehen immer in Verbindung mit Anderen. Der soziale Charakter unseres Handelns hängt damit zusammen, dass wir hineingeboren werden in eine soziale Welt und uns als Individuen in einem sozialen Prozess konstituieren z.B. dadurch, dass wir für unsere Selbstkonstruktion sozial geteiltes Material verwenden (Barker 2003: 222). »[…] nobody is free in the sense of undetermined« (a.a.O: 236), schreibt Barker. Das spricht nicht gegen Selbstbestimmung, denn unterschiedliche Individuen werden nach unterschiedlichen Materialien greifen, um daraus ihre Lebensmodelle zu kreieren (Welsch 2001: 280). Die gegenwärtigen gesellschaftlich-kulturellen Umbrüche rufen die Netakteur_innen und Blogger_innen verstärkt als Designer ihrer Zukunft auf. Als solche generieren sie sich, wenn sie an ihren Selbstentwürfen im Netz arbeiten, wenn sie als Rollenspieler_innen experimentieren, wenn sie sich »glitzernde« Ziele setzen, wenn sie für ihre Träume Risiken in Kauf nehmen, wenn sie sprachliche und politische Barrieren überwinden, um weltweit miteinander ins Gespräch zu kommen.
5.5 »G lobal F lows «, C rossover , H ybridität »Global flows« in Gestalt von Finanz-, Rohstoff-, Migrant_innen-, Kommunikations- und Informationsströmen zählen zu den markantesten Merkmalen der gegenwärtigen gesellschaftlich-kulturellen Umbrüche und doch sind Flows dieser Art keine völlig neuen Phänomene. Die in der vorchristlichen Zeit entstandene Seidenstraße, auf der Waren-, Händler-, Kulturtransporte zwischen Ost und West erfolgten, ist ein früher Beleg dafür; ebenso die Völkerwanderungen, die im 4. und 6. Jahrhundert in Mittel- und Südeuropa stattfanden. Zu Auswanderungswellen aufgrund von Wirtschaftskrisen kam es im Verlauf der Geschichte immer wieder, z.B. wanderten seit Beginn des 17. Jahrhunders wiederholt Menschen aus Deutschland in die USA aus. Neu ist in der Gegenwartsgesellschaft die unübersehbare Gleichzeitigkeit, das erhöhte Tempo, die Intensität, die Interdependenzen zwischen den Flows und die globale Wahrnehmbarkeit transterritorialer Flows (Schachtner 2009: 5). Nahe-
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zu alles, was beweglich ist, ist nach John Urry heutzutage unterwegs und bewegt sich in verblüffendem Tempo in verschiedenste Richtungen (Urry 2003: 2). Urry schreibt: »[…] people, machines, images, information, power, money, ideas and dangers are all, we might say, ›on the move‹, travelling at bewildering speed in unexpected direction from place to place, from time to time« (ebd.). Die Multidirektionalität der globalen Flows bewirkt ein wechselseitiges SichDurchkreuzen dieser Flows. Im Kontext der hier verhandelten Fragen nach den Phänomenen des gesellschaftlich-kulturellen Wandels interessiert die kulturelle Dimension der globalen Flows. Nicht nur Dinge, auch Ideen werden über Grenzen hinweg ausgeborgt und neu kombiniert. Ein Beispiel hierfür ist die italienische Modemarke Etro, die in jeder Saison Motive, Muster und Farben aus einer anderen Region der Welt adaptiert und mit italienischem Chic verknüpft. Ein anderes Beispiel ist die Integration asiatischer Medizin in die Behandlungskonzepte westlicher Medizin. Kommunikationsflüsse mittels digitaler Medien speisen sich zunehmend aus verschiedenen Sprachen. Nederveen schlägt zur Benennung dieses vielfältigen Crossover den Betriff »global multiculture« (a.a.O.: 1) vor. Mit diesem Begriff will er die globalen Wechselbeziehungen und das Nomadische dieses Prozesses einfangen. Wolfgang Welsch lehnt den Begriff Multikulturalität ab, der ihm zu sehr der Vorstellung von homogenen Einzelkulturen verhaftet bleibt (Welsch 2001: 260). Er plädiert für den Begriff Transkulturalität, der für ihn deutlich macht, dass es keine voneinander abgegrenzten Kulturen gibt, sondern sich Kulturen wechselseitig durchdringen (Welsch 2012: 26). Das neue gesellschaftliche Leitbild sollte nach Welsch nicht das von Kugeln, sondern das von Geflechten sein (a.a.O.: 28). Transkulturalität beschreibt ein normatives Konzept, von dem Welsch allerdings sagt, es sei zunehmend Realität und nicht nur Wunsch (a.a.O.:36). In beiden Konzepten fehlt die postkoloniale Perspektive, die in den 90er Jahren von den postcolonial studies formuliert wurde und besagt, dass wir in einer Welt leben, die wesentlich durch die Beziehungen zwischen den Kolonisatoren und den Kolonisierten geschaffen wurde, die bis heute wirksam sind (Dirlik 2010: 33)5. Von dieser Prägung künden Dirlik zufolge Ungleichheiten zwischen den Industrieländern und den sogenannten Ländern der Dritten Welt auf den Gebieten von wirtschaftlicher und infrastruktureller Entwicklung, von Bildung und sozialer Sicherheit. Ein aktuell weltweit sichtbarer Effekt dieser Ungleichheit sind die Wanderungsbewegungen aus den Ländern, die unter kolonialer Herrschaft 5 | Der Medienwissenschaftler Andreas Hepp macht in der neu bearbeiteten 2. Auflage seines Buches »Transkulturelle Kommunikation« den Versuch, postkoloniale Perspektiven unter Bezug auf Homi K. Bhabha in das Konzept der Transkulturation bzw. Transkulturalisierung zu integrieren, das er für die Medienwissenschaft adaptiert hat (Hepp 2014: 27ff.).
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keine eigenen ökonomischen und politischen Entwicklungsmöglichkeiten hatten und daher die ökonomische Existenzsicherung ihrer Bewohner_innen nicht gewährleisten können und/oder über keine ausreichenden politisch-administrativen Strukturen verfügen, die die Menschenrechte zu schützen in der Lage wären. Migration ist nur eine Form, wie sich die Ränder zu Wort melden. Die Einbahnstraße zwischen Zentrum und Rand ist prinzipiell aufgebrochen. Die mediale Entwicklung hat, wie bereits erläutert, einen entscheidenden Anteil an dem globalen Crossover. Ich nehme an dieser Stelle die unter dem Titel »Strukturmerkmale digitaler Medien« begonnene Diskussion über das globale Crossover wieder auf. Die weltweiten Bilder- und Textströme, die Informationen, Ideen, Werte, Lebensstile transportieren, unterwandern die national gedachten kulturellen Landkarten (Hess/Lenz 2001: 19). Globales Wirtschaftshandeln, die Koordination internationaler Politik, die Organisation globaler sozialer Bewegungen, aber auch Projekte in der Musik-, Film-, Kunstbranche wären nicht denkbar ohne die grenzüberschreitenden digitalen Medien, die wie ein unterirdisches Spinnennetz Orte und Regionen miteinander verbinden. Das »global interplay« infolge sich kreuzender globaler Flows forciert Hybridisierung, die sich für Welsch darin zeigt, dass für jede Kultur alle anderen Kulturen zu Binnengehalten auf der Ebene von Bevölkerung, Waren, Information werden (Welsch 2012: 28). Bhabha verknüpft Hybridisierung mit dem Konzept des Dritten Raums, was ihm erlaubt, die qualitativen Potenziale von Hybridisierung auszuloten (Bhabka/Posselt 2012: 9). Hybridisierung ist für Bhabha eine Bewegung (Bhabha 2012: 66), die den Dritten Raum konstituiert, der aber kein begrenztes räumliches Gebiet darstellt (a.a.O.: 68). Der Dritte Raum ist ein »Verbindungsgefüge« (Bhabha 2000: 5) nach Bhabha, ähnlich einem Treppenhaus, in dem die binäre Ordnung verschwindet oder mit Bhabha ausgedrückt: »Das Hin und Her des Treppenhauses, die Bewegung und der Übergang in der Zeit, die es gestaltet, verhindern, dass sich Identitäten an seinem oberen oder unteren Ende zu ursprünglichen Polaritäten festsetzen«. Dieser zwischenräumliche Übergang zwischen festen Identifikationen eröffne die Möglichkeit einer kulturellen Hybridität, in der es einen Platz für Differenz ohne eine übernommene oder verordnete Hierarchie gebe (ebd.). Hybridisierung will Bhabha im Unterschied zu Welsch nicht einfach als eine Vermischung verstanden wissen, »sondern als strategische und selektive Aneignung von Bedeutungen, Raum schaffen für Handelnde, deren Freiheit und Gleichheit gefährdet sind« (Babka/Posselt 2012: 13). Bhabha konstituiert den Dritten Raum als Raum der Kritik und der Subversion, ohne ihn als machtfreien Raum behaupten zu wollen. Selbst in der Position des Underdog sei es möglich, die auferlegten kulturellen Autoritäten umzudrehen, einiges davon anzunehmen, anderes abzulehnen (ebd.). Bhabhas Dritter Raum erinnert an Foucaults Heterotopien. Hinsichtlich der diesen Räumen zugeschriebenen kritischen Impulse sowie ihrer Charakterisierung als ein Dazwischen sind
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sich die beiden Konzepte ähnlich. Allerdings betont Bhabha sehr viel stärker das Aufeinandertreffen kultureller Differenzen innerhalb des Dritten Raums, während Foucault auf das Andere der Heterotopie gegenüber ihrer Umgebung insistiert. Außerdem klopft Bhabha den Dritten Raum nach postkolonialen Einflüssen ab, die Foucault so nicht im Blick hat. In einer von kulturellen Flows und Hybridisierung durchzogenen Welt besteht die Herausforderung, kulturelle Differenzen zur Kennntis zu nehmen und als existent anzuerkennen. Gefordert ist die Kompetenz, wie Bude schreibt, »die Perspektiven anderer zu übernehmen, sich elastisch und flexibel im Wechsel der Situation zu zeigen […]« (Bude 2004: 24). Es geht nicht darum, gegen solche Prozesse Widerstand zu leisten, sondern sie mitzugestalten (Hardt/Negri 2003: 13). Im Kontext dieses Buches ist zu fragen: Finden die beschriebenen Phänomene einen Widerhall in den Geschichten? Wie präsent sind den Netzakteur_ innen und Blogger_innen die weltweiten Flows? Nehmen sie die kulturellen Differenzen wahr und machen sie sie zum Gegenstand ihrer Geschichten? Erfassen sie die Chancen des Dritten Raums in der Kommunikation mit Menschen aus anderen Kulturen? Soweit sich die Erzählungen auf die Online-Kommunikation beziehen, ist allen Erzähler_innen irgendwie die weltweite Transparenz digitaler Bühnen bewusst, die eine Bedingung für sich kreuzende Kommunikations- und Informationsflüsse darstellt. Nur dieses Wissen bleibt unbestimmt. Die weltweite Öffentlichkeit bekommt in den Erzählungen keine Konturen. Anders ist es bei den Erzähler_innen, die im Zuge von Bildungsmobilität geografische Grenzen überschreiten, Reisen in andere Kontinente unternehmen, an internationalen Projekten teilnehmen oder mittels digitaler Technologien intentional einen grenzüberschreitenden Kommunikationsprozess initiieren. In diesen Fällen zeigen sich eine intensive Auseinandersetzung mit erwarteten oder wahrgenommenen kulturellen Differenzen sowie Versuche, das eigene Verhalten auf diese Differenzen abzustimmen. Ich erinnere an den türkischen Studenten, der mit der Befürchtung nach Österreich gekommen ist, dort auf wenig Herzlichkeit zu stoßen und nun dabei ist zu prüfen, ob das wirklich stimmt, ob es andere, von ihm noch nicht antizipierte Unterschiede gibt und wie er es in dieser neuen Umgebung schaffen kann, Freunde zu finden. Vom Erkennen und vom richtigen Umgehen mit kulturellen Differenzen hängt für ihn ab, ob er in der neuen Umgebung »ankommen« kann. Ein amerikanischer Student ist, wie erwähnt, mit sich kreuzenden Kommunikationsflüssen im Rahmen eines internationalen Online-Projekts konfrontiert. Ihm werden durch die Teilnahme an diesem Projekt Kommunikationsunterschiede bewusst, die er zum Anlass nimmt, die in seiner Kultur entwickelten Kommunikationsformen kritisch zu hinterfragen. Nicht als Provokation, sondern als willkommenes Phänomen wird die kommunikative Vernetzung der Welt dank digitaler Medien,
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wie mehrmals dargestellt, von den arabischen Erzähler_innen betrachtet. Das hat etwas damit zu tun, dass sie ihre jeweiligen Länder an der Peripherie des Weltgeschehens sehen, deren kulturelle Besonderheiten von den herrschenden Medien falsch übermittelt werden oder die von der Weltöffentlichkeit unbeachtet geblieben sind und die sie dank der digitalen Netzwerkmedien einem globalen Publikum präsentieren können.6. Digitale Online-Netzwerke wie Mideast Youth oder Crowdvoice werden in den Auf- und Ausbruchsgeschichten von den arabischen Erzähler_innen als Räume geschildert, die dem Dritten Raum sehr nahe kommen. Ihre Funktion wird darin gesehen, sowohl den grenzüberschreitenden Austausch in der Region zu forcieren als auch internationale Kommunikation zu unterstützen. Mit diesem Ziel ist die Möglichkeit gegeben, dass sich globale und lokale Kommunikationsströme kreuzen. Unterschiedliche Meinungen sind ausdrücklich erwünscht; die Differenz wird von der Gründerin des Netzwerkes Mideast Youth als Informationsgewinn beschrieben. Sie erklärt: »If I lose that (das Netzwerk Mideast Youth, d.A.) it means I lose a lot of important points of view and perspectives that are not represented in the media«. Kulturelle Flows und Hybridisierung finden in den in diese Studie einbezogenen Geschichten noch keinen massenhaften Widerhall. Es handelt sich aber um Entwicklungstrends, die sich in einer sich verflechtenden Welt in Zukunft intensivieren und damit gerade für die nachwachsende Generation zu unleugbaren Herausforderungen werden dürften.
Zusammenfassende These Die beschriebenen Merkmale der gesellschaftlich-kulturellen Umbrüche lassen die Geschichten der Netzakteur_innen und Blogger_innen nicht unberührt. Es mangelt nicht an Hinweisen, dass diese Merkmale wahrgenommen werden, auch wenn sie nicht unbedingt als Umbruchsphänomene bewusst sind. Steht dagegen in den Geschichten die Kritik an den traditionellen Institutionen und Systemen im Vordergrund, so bildet der gesellschaftliche Wandel geradezu den Fokus der narrativen Praktiken. Unabhängig davon, ob der Wandel widerfährt oder bewusst angestrebt wird, auf der Handlungsebene verweisen die Geschichten auf Ähnlichkeiten. Sie dokumentieren die Suche nach alternativen Wertorientierungen, Strategien der Organisation eines Lebens im Plural, des Grenzmanagements, das Experiment mit Selbstentwürfen. Die westlichen Erzähler_innen sehen sich herausgefordert, als Individuen zu handeln; die arabischen Erzähler_innen binden ihr Handeln, wie sie schildern, dagegen stärker an eine kollektive Strategie. Ob individuell oder gemeinsam 6 | Das schließt nicht aus, dass sie an bestimmten Elementen ihrer Kulturen nicht auch Kritik üben, wovon die Aus- und Aufbruchsgeschichten der arabischen Netzakteur_innen und Blogger_innen künden.
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angestrebt, es geht um die Suche und die Etablierung neuer Lebensformen. Ob intendiert oder nicht, mit der Suche nach neuen Lebensformen ist der Grundstein für neue Kulturformen gelegt. Die digitalen Medien treten den Geschichten zufolge in der Auseinandersetzung der Subjekte mit den Phänomenen der gesellschaftlich-kulturellen Umbrüche in einer Doppelrolle in Erscheinung. Sie repräsentieren und unterstützen einerseits die Veränderung; sie steigern die Pluralisierung von Lebensfeldern, sie forcieren die Entgrenzung von Öffentlichkeit und Privatheit, sie ermöglichen als grenzüberschreitende Medien die globalen Flows und das Crossover der Informations- und Kommunikationsflüsse. Gleichzeitig bieten sie sich den menschlichen Akteur_innen als Instrumente und Bühnen zur Auseinandersetzung mit diesen Umbrüchen an. Die Netzakteur_innen und Blogger_innen nutzen die medialen Potenziale angesichts der drohenden Fragmentierung von Erfahrungen u.a. zur Herstellung von Kohärenz; sie bedienen sich der virtuellen Bühnen für ihre Individualisierungsversuche oder für das Training zukunftssichernder Kompetenzen. Sowohl die Rolle digitaler Medien als Repräsentant_innen gesellschaftlich-kultureller Umbrüche als auch ihre Rolle als Instrumente zur Auseinandersetzung mit diesen Umbrüchen, begründet sich darin, dass Medien kulturabhängig sind (Müller-Funk 2002: 177). Jede Gesellschaft entwickelt ihre Medien entlang ihrer Leitbilder; folglich repräsentieren Medien gesellschaftliche Trends. Als Instrumente genutzt, eignen sich die Subjekte den in den Medien materialisierten gesellschaftlichen Sinn an. Aneignung bedeutet aber nicht bloße Sinnreproduktion, sie eröffnet auch Spielräume für eigene Deutungen. Die medialen Potenziale treffen auf eigenwillige Subjekte, die geprägt sind von ihrer Vergangenheit und mit individuell unterschiedlichen Fähigkeiten zur Selektion, Differenzierung und Reflexion ausgestattet sind. So erklären sich Unterschiede in den Praktiken der Auseinandersetzung mit den geschilderten Phänomenen des Wandels sowie differierende Positionierungen gegenüber diesem Wandel.
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6. Zur narrativen Produktion von Kultur
Kulturelle Lebensformen basieren, wie zu Beginn dieses Buches bereits argumentiert, auf Sinnzusammenhängen (Schütz/Luckmann 1975: 33), bestehend aus Werten, Orientierungen, Lebens- und Identitätsentwürfen, die das Subjekt handlungsfähig machen. Angesichts der gesellschaftlich-kulturellen Umbrüche stehen die tradierten Sinnzusammenhänge auf dem Prüfstand; eine Verdichtung von Fragen, Nachdenklichkeit, Experimentierbereitschaft, Kritik an bzw. Ablehnung tradierter(n) Sinnsysteme(n) in den Geschichten der Netzakteur_innen und Blogger_innen künden davon. Im Folgenden soll zunächst der schon zu Beginn des Buches angesprochene Zusammenhang zwischen Kultur und Erzählen vor dem Hintergrund der nunmehr ausgebreiteten Empirie aufgegriffen werden, um anschließend die Zukunft des Erzählens unter dem Gesichtspunkt der Übersetzung zu diskutieren.
6.1 K ultur und ihre D esigner Die Erfahrungen gesellschaftlich-kultureller Umbrüche bedrängen und befähigen. Es sind vor allem die Widersprüche, die Spannungen, die Ungereimtheiten, welche Verunsicherungen und Irritationen auslösen und gleichzeitig zu Lösungen drängen. Die Erfahrung der Ambivalenz beinhaltet nach Bhabha »den Ansporn zu sprechen, den Drang, sich zu äußern, eine Form, das Ungelöste und Widersprüchliche durch-zu-arbeiten, um das Recht auf Erzählen zu erhalten« (Bhabha 2012: 51). Die Interviews mit den Netzakteur_innen und Blogger_innen dürften diesem Ansporn zur narrativen Auseinandersetzung ein geeignetes Forum geboten haben. In ihren Erzählungen präsentierten sich diese als handelnde Wesen in der Welt, denen die Fähigkeit eignet, ihre eigene Zukunft zu designen (Appadurai 2013: 267). Diese Fähigkeit resultiert aus der Kompetenz zur Reflexion, zur Vorstellung von Alternativen und zur Kommunikation ihrer Ideen, Einsichten, Entwürfe, Lösungsansätze. Sie schicken sich bzw. positionieren ihre Erzählungen in den digitalen Netzwerken oder in Blogs, so geht aus den Geschichten hervor, im Wissen darüber, dass auch die
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Das narrative Subjekt — Erzählen im Zeitalter des Internets
Anderen schreiben, filmen, senden. Sie erwarten die Erzählungen der Anderen, um sich davon zur Fortsetzung ihrer Erzählungen inspirieren zu lassen. Sie wissen, dass sie sich den Anderen zuwenden müssen, damit diese sich ihnen zuwenden, dass sie die Erzählungen der Anderen kommentieren müssen, um selbst kommentiert zu werden. Sie erklären, dass sie solche Kommentare als Rohstoff betrachten, aus dem sie Ideen und Hinweise für ihre Erzählungen schöpfen. Die Netzakteur_innen und Blogger_innen generieren sich in ihren Erzählungen als handelnde und als gestaltende Subjekte. Gestaltung ist nach Appadurai die primäre Quelle des Sozialen, wenn sich Gestaltung als Interaktion zwischen Imagination, Antizipation und Aspiration vollzieht (Appadurai 2013: 286ff.). Angesprochen sind mit dieser Interaktion zukunftsorientierte kognitive und emotionale Potenziale wie Phantasie, Vorstellung, Einfälle, Erwartungen, Vorfreude, Bestreben, Trachten, Sehnen und vor allem Hoffnung. Appadurai schreibt der Hoffnung eine orientierende Kraft zu, ohne die Begriffe wie Empowerment und Partizipation bedeutungslos wären (a.a.O.: 289). Wir treffen in den Geschichten der Netzakteur_innen und Blogger_innen auf solche zukunftsorientierten Potenziale, wenn davon berichtet wird, • dass virtuelle Selbstinszenierungen als Gegenmodelle kreiert werden, auf die man zustrebt, • dass virtuelle Räume für das Experiment mit Identitäten genutzt werden, um das bestmögliche Lebensmodell für sich herauszufinden, • dass geografische Grenzen überschritten werden, um sich dem Neuen und Unbekannten zu stellen, • dass der transnationale Dialog via Internet aufgenommen wird in der Hoffnung auf Austausch und Verständigung, • dass tradierte politische Systeme mit Alternativen konfrontiert werden. Erzählend kreieren die Netzakteur_innen und Blogger_innen mittels imaginierter oder realisierter zukunftsorientierter Gestaltungshandlungen neue Lebensformen, die den Grundstein für neue Kulturformen legen. Kultur setzt geteilte Sinnzusammenhänge voraus, wie eingangs dargelegt. Geteilte Sinnzusammenhänge zeichnen sich deutlich in jenen Geschichten ab, deren Erzähler_innen den kulturellen Wandel anpeilen. Diese betonen das Wir; sie beschreiben sich als Angehörige einer Generation, die eine Stimme erhalten soll. Erzähler_innen dagegen, die primär die Gestaltung ihres persönlichen Lebens im Blick haben, begreifen ihr Gestaltungshandeln als individuelles Handeln und spüren doch, dass sie nicht isoliert handeln können, sonst gäbe es nicht das Ringen um den Anderen, das Bedürfnis nach Austausch, nach Einblick in andere Leben. Die Angewiesenheit auf Andere lässt es nicht zu, sein Leben jenseits sozialer Konsense zu leben.
6. Zur narrativen Produktion von Kultur
Die Entwicklung geteilter Lebensformen, die als neue kulturelle Formen in Erscheinung treten, verläuft nicht notwendig harmonisch, kreuzen sich in diesem Prozess doch unterschiedliche bis konträre Interessen und Bedürfnisse. Es muss vielmehr damit gerechnet werden, wie an früherer Stelle bereits erwähnt, dass es ein holpriger und unregelmäßiger Weg ist (Nederveen 2008: 2), der auch von Konflikten und Gewalt gepflastert sein kann.
6.2 Z ur Z ukunf t des E rz ählens als Ü berse t zung Neue Kulturformen lassen sich immer weniger auf ein bestimmtes Territorium oder auf eine bestimmte ethnische Gruppe beziehen. Sie gewinnen zunehmend einen grenzüberschreitenden Charakter. Dieser Trend erfolgt nicht unabhängig von den narrativen flows, die sich medienunterstützt zu »global flows« entwickeln und dort, wo sie sich kreuzen, ein »global interplay« entfachen können, das Einfluss nimmt auf die Entstehung neuer Kulturformen. Das »global interplay« ist nach Bhabha ein erforderlicher Vermittlungsakt, den ich bislang in meiner Argumentation ausgespart habe, nun aber in den Mittelpunkt rücken möchte: die kulturelle Übersetzung (Bhabha 2000: 341). Es handelt sich hierbei nicht um ein neues Phänomen. Erzählungen mussten immer schon in den Kontext anderer Lebenswelten hinein übersetzt werden, dem die Adressat_innen der Erzählungen angehörten. Unter dem Eindruck erodierender kultureller Grenzen wurde dem Übersetzen aus kulturwissenschaftlicher, literaturwissenschaftlicher und neuerdings auch medienwissenschaftlicher Sicht (Hepp 2014: 29) verstärkte Aufmerksamkeit zuteil. Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Doris Bachmann-Medick konstatiert mit Blick auf dieses neu formulierte Interesse an der Übersetzung einen »translational turn« (Bachmann-Medick 2006: 239ff.). Im Folgenden soll zunächst die Beziehung zwischen Erzählen und Übersetzen diskutiert werden, um anschließend auf die Implikationen des »translational turns« einzugehen und abschließend deren Verflechtungen mit Kultur und Medien zu thematisieren.
6.2.1 Erzählen und Übersetzen Dem Erzählen wurde von mir im einführenden Kapitel unter dem Titel »Erzählen als Öffnung zum Du« in Anlehnung an Jacques Lacans Bemerkungen über das Wesen und die Funktion von Sprache, ein Wert als Tessara zugeschrieben (Lacan 1973: 89). Mit dieser Metapher referriert Lacan auf frühe Mysterienkulturen, in denen der Begriff Tessere Tonscherben bezeichnete, deren Bruchstellen exakt den Bruchstellen anderer Tonscherben angepasst werden konnten (ebd.). Genauso wie Tonscherben müssen sich Erzählungen in die Lebenskontexte ihrer Adressat_innen fügen, sollen sie von diesen verstanden
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Das narrative Subjekt — Erzählen im Zeitalter des Internets
und erwidert werden. Erzählungen sind aber in der Regel nicht per se passförmig; sie müssen passförmig gemacht werden. Adriana Cavarero betont in ihrer Schrift »Relating Narratives« wiederholt die Einzigartigkeit von Erzählungen, was einmal mehr die Notwendigkeit unterstreicht, Erzählungen an andere Erlebniskontexte anzuschließen. Sie schreibt: »No matter how much you are similar and consonant, […], your story is never my story« (Cavarero 1997: 92). Der 20-jährige türkische Netzakteur, der als Austauschstudent nach Österreich gekommen war und dort medienunterstützt durch das soziale Netzwerk Netlog nach neuen Freunden suchte, machte die Besonderheit seiner Geschichte zum Ausgangspunkt seiner Suche. Er schildert sein Vorgehen: »Ich schreibe beim ersten Mal ›hallo, ich bin noch neu in Österreich‹. Ich erzähle den Menschen über mich etwas. ›Ich komme aus der Türkei. Ich bin noch neu in Österreich. Ich will Menschen kennenlernen und wie geht es Dir?‹«. Sein Handeln kann als Versuch gesehen werden, seine Geschichte anschlussfähig an die Geschichten potenzieller Freunde in einem anderen Land zu machen, indem er die Besonderheit seiner Geschichte betont und dadurch sein Anliegen nachvollziehbar macht. Einmal begründet, bezeichnet sein Anliegen einen Wunsch, von dem er annehmen kann, dass er ihn mit den Menschen seiner neuen Umgebung verbindet. Er verstärkt das Verbindende noch, indem er mit der Frage »Wie geht es Dir?« Empathie signalisiert. Sein Versuch, Kontakte zu knüpfen, verläuft von der Betonung der Differenz zur Betonung vermuteter Gemeinsamkeit; er beschreibt eine kulturelle Übersetzung, aus der aktuell als markantestes Merkmal der Wunsch nach sozialen Kontakten herausragt, von dem sich Andere angesprochen fühlen sollen. Mit dem Begriff Übersetzung wird nochmals an die Bedeutung des Anderen erinnert, an den die Erzählung adressiert ist, nicht zufällig, nein, immer, wie Cavarero behauptet: »[…] in the autobiographical exercise, the real existence of the other, even just as an adressee, is always taken into account, whether he or she is a listener of an oral narration, or an ideal reader to which the text appeals« (a.a.O.: 85). Geschichten transformieren Sprachgrenzen, wie die Geschichte des türkischen Austauschstudenten illustriert, und, so vermutet Birgit Wagner, verändern sich dadurch, weil diese Transformation eine Auseinandersetzung mit anderen kulturellen Wertecodes erfordert (Wagner 2009: 2). Inwieweit sich die Geschichte in dem geschilderten Beispiel durch die Übersetzung verändert hat, lässt sich aufgrund des vorliegenden empirischen Materials nicht erkennen. Sehr wohl aber kann gesagt werden, dass das Erzählen im virtuellen Raum grenzüberschreitender Netzwerke häufig nicht in der Sprache erfolgt, in der das Erzählte erlebt wurde, sondern in eine geteilte Sprache übersetzt wird. Die Netzakteur_innen und Blogger_innen produzieren »übersetzende Texte« (Wagner 2012: 40) z.B. in Gestalt eines Netzjargons, der sich als eine Mischung aus besonderen Sprachwendungen, Kürzeln, Icons, Smileys äußern kann oder durch Verwendung der Sprache der Adressat_innen, wie
6. Zur narrativen Produktion von Kultur
in dem geschilderten Beispiel. Hat sich der türkische Austauschstudent für Deutsch entschieden, so postet, wie erwähnt, ein 23-jähriger österreichischer Blogger in Englisch mit der Begründung u.a., er wolle sich einer internationalen Sprache bedienen, d.h. er adressiert seine Geschichten über Mode und Gefühle an ein internationales Publikum. Blogger_innen aus dem arabischen Kontext führen ihre Blogs ausnahmslos in Englisch, wozu sie gezwungen sind, soll der von ihnen angestrebte internationale Dialog initiiert werden. Die Herausbildung einer Weltsprache geht, darauf verweist Bachmann-Medick, mit Risiken einher z.B. in Gestalt hegemonialer Tendenzen in Form von Vereinheitlichungszwängen (Bachmann-Medick 2006: 242), die dazu führen können, dass sich Geschichten im Zuge ihrer Übersetzung nicht nur verändern, sondern dass kulturelle Besonderheiten verschwinden. Um dieses Risiko zu reduzieren und die Fremdheit des Ursprungstextes zu erhalten, greifen Schriftsteller_innen nach Wagner häufig dazu, begriffliche Einsprengsel aus der Ursprungssprache in den übersetzten Text hineinzunehmen; die Übersetzungsleistung liegt dann bei den Leser_innen (Wagner 2009: 7). Als eine vergleichbare Praxis digitalen Erzählens kann gelten, wenn in sozialen Netzwerken in verschiedenen Sprachen erzählt wird. Das arabische Netzwerk Mideast Youth war in seiner Anfangsphase sehr stark von Mehrsprachigkeit (Arabisch, Englisch, Farsi) geprägt. Dies entsprang der Intention, Menschen aus verschiedenen Sprachkontexten eine Stimme zu geben. Die Übersetzung musste von den jeweiligen Adressat_innen geleistet werden, was die Dominanz westlicher Sprachen unterlief, ja, sogar, wenn in Arabisch oder Farsi gepostet wird in ihr Gegenteil verkehrt wurde. Die arabischen Netzakteur_innen konnten sich vermutlich eher englische Texte zu Eigen machen als englischsprechende Netzakteur_innen Texte in Arabisch oder Farsi. Netzakteur_innen und Blogger_innen sind zu mehrfachen Übersetzungen herausgefordert: Sie müssen nicht nur selbst erlebte Episoden in geschriebene Sprache, sei es in die eigene, in eine andere oder auch in einen geteilten Netzjargon übersetzen; sie müssen auch die Erzählungen der Anderen, obschon diese als übersetzter Text ankommen, in ihre Lebenswirklichkeit hinein übersetzen. Soll die jeweilige Besonderheit des Ursprungskontextes erhalten bleiben, muss sich das Übersetzen nach Bachmann-Medick als »differenzbewusstes Grenzüberschreiten« (Bachmann-Medick 2008: 2) vollziehen. Das erfordert, Übersetzungen an Praxis, Interaktion und Symbolik des Ursprungslandes rückzubinden (Bachmann-Medick 2006: 243). Kulturelle Differenzen erschließen sich nicht aus einzelnen Textelemeten, sondern erst unter Bezug auf deren kulturspezifische Verwendung (ebd.). Folglich sind mitgeteilte Erzählungen auch im Lichte kulturspezifischer Rituale, Regeln und Praktiken zu sehen. Übersetzungen gestalten sich aufgrund des komplexen Bedingungsgefüges, auf das sie sich beziehen, immer nur als Annäherungen; Fehlübersetzun-
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gen, Brüche, Missverständnisse sind zu erwarten. Die größte Blockierung entsteht durch Macht. Wie Macht in den Übersetzungen von Netzakteur_innen und Blogger