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German Pages 322 Year 2015
Jörn Eiben Das Subjekt des Fußballs
Praktiken der Subjektivierung | Band 6
Editorial Poststrukturalismus und Praxistheorien haben die cartesianische Universalie eines sich selbst reflektierenden Subjekts aufgelöst. Das Subjekt gilt nicht länger als autonomes Zentrum der Initiative, sondern wird in seiner jeweiligen sozialen Identität als Diskurseffekt oder Produkt sozialer Praktiken analysiert. Dieser Zugang hat sich als außerordentlich produktiv für kritische Kultur- und Gesellschaftsanalysen erwiesen. Der analytische Wert der Kategorie der Subjektivierung besteht darin, verwandte Konzepte der Individuierung, Disziplinierung oder der Habitualisierung zu ergänzen, indem sie andere Momente der Selbst-Bildung in den Blick rückt. So verstehen sich die Analysen des DFG-Graduiertenkollegs »Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive« als Beiträge zur Entwicklung eines revidierten Subjektverständnisses. Sie tragen zentralen Dimensionen der Subjektivität wie Handlungsfähigkeit und Reflexionsvermögen Rechnung, ohne hinter die Einsicht in die Geschichtlichkeit und die Gesellschaftlichkeit des Subjekts zurückzufallen. Auf diese Weise soll ein vertieftes Verständnis des Wechselspiels von doing subject und doing culture in verschiedenen Zeit-Räumen entstehen. Die Reihe wird herausgegeben von Prof. Dr. Thomas Alkemeyer, Institut für Sportwissenschaft der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Soziologie und Sportsoziologie Prof. Dr. Thomas Etzemüller, Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Neuere und Neueste Geschichte Prof. Dr. Dagmar Freist, Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Geschichte der Frühen Neuzeit Prof. Dr. Gunilla Budde, Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Deutsche und Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts Prof. Dr. Rudolf Holbach, Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Geschichte des Mittelalters Prof. Dr. Johann Kreuzer, Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Geschichte der Philosophie
Prof. Dr. Sabine Kyora, Institut für Germanistik der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Deutsche Literatur der Neuzeit Prof. Dr. Gesa Lindemann, Institut für Sozialwissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Soziologie Prof. Dr. Ulrike Link-Wieczorek, Institut für Evangelische Theologie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Systematische Theologie und Religionspädagogik Prof. Dr. Norbert Ricken, Institut für Erziehungswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum, Fachrichtung Theorien der Erziehung und Erziehungswissenschaft Prof. Dr. Reinhard Schulz, Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Philosophie Prof. Dr. Silke Wenk, Kulturwissenschaftliches Institut der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Kunstwissenschaft
Jörn Eiben (Dr. phil.), geb. 1982, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Helmut Schmidt Universität Hamburg. Zuvor lehrte und forschte er an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Er war Stipendiat der Hans-Böckler-Stiftung und Kollegiat des DFG-Graduiertenkollegs »Selbst-Bildungen«. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte des Körpers, Wissenschaftsgeschichte, Geschlechtertheorien, Diskursanalyse sowie methodische Fragen zum Umgang mit Bildern als historischen Quellen.
Jörn Eiben
Das Subjekt des Fußballs Eine Geschichte bewegter Körper im Kaiserreich
Die vorliegende Arbeit wurde von der Fakultät IV – Human- und Gesellschaftswissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg als Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) angenommen. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), der Hans-Böckler-Stiftung und der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.
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Inhalt I. »Etwas ganz alltägliches«: Einleitung | 9
II. Der Raum des Sagbaren | 33
1. Drei Problematisierungsachsen | 34 1.1 Gesundheit | 35 1.2 Männlichkeit | 41 1.3 Militärtauglichkeit | 47 Zwischenfazit: Ein moderner Raum des Sagbaren | 52 2. Einzel- und Volkskörper als Gegenstand des Sprechens | 53 2.1 Zellular-organische Dependenz: Individuum und Kollektiv | 55 2.2 Die Vermessung von Volks- und Einzelkörper | 57 Zwischenfazit: Die diskursive Formation | 63
III. Bewegte Körper | 65 3. »Überschreiten des richtigen Maßes«: Überbürdung | 66 4. »Ermüdung ähnlich wie die Muskelarbeit«: Überbürdung und bewegte Körper | 71 4.1 Überbürdete Körper in Bewegung | 73 4.2 »Der Anprall wird sich erneuern«: Der Zentralausschuss | 79 4.3 »Krieg bis aufs Messer«: Das Feld der Körperkultur | 87 Zwischenfazit: Positionengefüge | 94
IV. Das »deutsche Nationalspiel«? A kzeptabilitätsbedingungen und die Konturen des Fußballers | 95 5. Gefahr und Degeneration: Fußball und Gesundheit | 102 5.1 »Todesfall noch weniger«: Ist der Fußball gefährlich? | 104 5.2 »Schule freier schöner Körperhaltung«: Der Fußball und seine Körper | 127 Kontur 1: Fußballer und ihre (gesunden) Körper | 159 6. Typologien und Modellierung: Fußball und Männlichkeit | 161 6.1 »Jammerlappen«, »Muttersöhnchen«: Beunruhigende Typologien | 165
6.2 »Werft die Münze in den Tiegel«: Die Modellierung von Männlichkeit im Spiel | 170 Kontur 2: Mutige und beherrschte Männer | 183 7. »Ein starkes Band«: Fußball und Militärtauglichkeit | 184 7.1 Lose Fäden feste knüpfen: Verflechtungen von Fußball und Militär | 186 7.2 Fußballer und Soldaten, Fußball und Krieg: zweierlei Analogien | 193 Kontur 3: Der Fußballer als Soldat und der Soldat als Fußballer | 213 8. »Pro patria est, dum ludere videmur«: Fußball, Nation und Gegenwart | 214 8.1 »Buntfarbige Narrenjacken« und »sprachlicher Unfug«: Dissonanzen zwischen Fußball und Nation | 217 8.2 Der fußballerisch bewegte Volkskörper | 234 8.3 Der »Spielorganismus« als »Vorschule für das Leben« | 249 Kontur 4: Das Subjekt der Gegenwart | 260
V. »König Fußball« und das Kaiserreich: Schluss | 263 Dank | 275 Abkürzungsverzeichnis | 277 Abbildungsverzeichnis | 279 Quellen- und Literaturverzeichnis | 281 Ungedruckte Quellen | 281 Gedruckte Quellen | 281 Sekundärliteratur | 306
I. »Etwas ganz alltägliches«: Einleitung »Es gibt etwas, etwas ganz alltägliches, etwas, was heutzutage, Millionen von Menschen bewegt, das bis zum Jahre 1874 in Deutschland völlig unbekannt war.«
Mit diesen Worten beginnt der Teaser zum Kinofilm Der ganz große Traum von 2011.1 Leicht verkitscht, streckenweise albern und mit zahlreichen historischen Unschärfen erzählt der Film die Geschichte des Gymnasiallehrers Konrad Koch, der am Braunschweiger Martino-Katharineum im Jahre 1874 beginnt, mit seinen Schülern2 Fußball zu spielen und dabei auf große Widerstände stößt. Diese kulminieren in einem Fußballverbot durch die Schulleitung, die mit den negativen Auswirkungen des Spiels auf die Schüler argumentiert. Das Spiel fördere »nichts als den sittlichen Verfall unserer Jugend«. Koch erklärt seinen Schülern darauf hin das Verbot mit den Worten: »Es sieht so aus, als fühlte sich das Deutsche Kaiserreich durch unser Spiel in seinen Grundfesten erschüttert.«3 Wenn es an diesem Film auch vieles zu
1 | Der Teaser ist im Internet frei zugänglich. URL: https://www.youtube.com/watch? v=aZMSpyHsUyg, letzter Aufruf am 20.08.2014. Das Zitat wird zwischen 00:00:06 und 00:00:25 eingeblendet. 2 | Im Film wie im Quellenmaterial dieser Arbeit tauchen Menschen weiblichen Geschlechts nur marginal auf. In der folgenden Untersuchung wähle ich, immer dann wenn es um die historische Analyse geht, die männliche Form. Nicht etwa, weil es leser_innenfreundlicher wäre, sondern weil dies der geschlechtlichen Exklusivität des Fußballs im Kaiserreich entspricht. Vgl. ausführlich: Kapitel 6. 3 | Diese Szene findet sich im Trailer, der ebenfalls im Internet zugänglich ist. URL: https://www.youtube.com/watch?v=5ALOePpgLKo, letzter Aufruf am 20.08.2014. Die zitierten Passagen finden sich zwischen 00:01:08 und 00:01:15.
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Das Subjekt des Fußballs
bemängeln gibt,4 so verdeutlicht er den Ausgangspunkt der Überlegungen zu dieser Studie. Es erschien mir schlichtweg verwunderlich, dass der Fußball im Deutschen Kaiserreich eben nichts alltägliches, sondern vielmehr etwas umstrittenes bildete.5 Abseits dieser Verwunderung lassen sich anhand der angeführten Auszüge sowohl der historische Bezug als auch die zentrale Problemstellung der folgenden Untersuchung skizzieren. Es ist zwar nicht ganz korrekt, dass der Fußball, wie zu Beginn des Teasers formuliert, vor 1874 »in Deutschland völlig unbekannt war«,6 aber der ›wirkliche‹ Konrad Koch und sein im Film nicht berücksichtigter Kollege August Hermann waren die ersten, die einen Versuch unternahmen, deutschen Schülern das Fußballspiel beizubringen. Über die »im Herbst 1874 angestellten Spielversuche mit dem Fußballe« berichteten die beiden 1875. Für diese Spielversuche hatte Koch die Regeln der Marlborough Public School ins Deutsche übersetzt7 und 1875 gemeinsam mit Hermann veröffentlicht. Die Schrift enthielt neben den Regeln noch einige administrative Maßgaben sowie gesundheitliche Vorschriften und sollte es »ermöglich[en], das englische ›Football‹-Spiel auf den Spielplätzen unserer Jugend einzubürgern.«8
4 | Vgl. für eine eingehende Besprechung: Binz, Roland: Der ganz große Traum, in: Zeitgeschichte-online, März 2011, URL: www.zeitgeschichte-online.de/film/der-ganzgrosse-traum, letzter Aufruf am 20.08.2014. 5 | Achim Landwehr hat dieses Moment der Verwunderung als Ansatzpunkt für diskursanalytische Studien bezeichnet. Vielfach sei es »schlicht und ergreifend« das Wundern darüber, »dass bestimmte Dinge als wirklich akzeptiert werden oder möglicherweise auch umstritten sind.« Landwehr, Achim: Diskurs und Diskursgeschichte, Version 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.02.2010. Zitiert nach dem PDF. URL: https://docu pediade/images/5/52/Diskurs_und_Diskursgeschichte.pdf, letzter Zugriff: 03.08. 2014, S. 7. 6 | Im Raum Stuttgart wurde, so schreibt Philipp Heineken, bereits seit 1865 Fußball gespielt. Vgl.: Heineken, Philipp: Ein Stück Rugby-Geschichte. Erinnerungen an den Cannstatter Fußball-Club, in: Rugby Jahrbuch 3, 1930, S. 22-36, hier S. 23. Allerdings, das zeigt auch der Titel, handelte es sich bei diesem Fußball um die Rugby-Form der Praktik. Siehe zur Mehrdeutigkeit des Fußball-Begriffs ausführlich: Teil IV. 7 | Vgl. zur Provenienz der Regeln: Koch, Konrad: Die Geschichte des Fußballs im Altertum und in der Neuzeit, 2. verm. Aufl., Repr. Münster 1983 [Berlin 1895], S. 41. Vgl. ferner: Burkhardt, Armin: Der deutsche Fußball und seine Sprache, in: Kemper, Dirk (Hg.), Deutsch-russische Germanistik, S. 223-244, hier S. 224. 8 | Alle Zitate: Koch, Konrad: Fußball. Regeln des Fußball-Vereins der mittleren Classen des Martino-Catharineums zu Braunschweig, Braunschweig 1875, S. 2.
I. »Etwas ganz alltägliches«
Die von Koch und Hermann erhoffte Einbürgerung9 verlief jedoch alles andere als reibungslos. Was heutzutage fast jeden Tag am Fernseher betrachtet, in Parks und Stadien, auf Wiesen und Fußballplätzen gespielt werden kann, was in Print- und Onlinemedien täglich verarbeitet und in verschiedenen sozialen Situationen regelmäßig besprochen wird, erfreute sich im Deutschen Kaiserreich keineswegs einer verbreiteten Akzeptanz. Im Film wird dies u.a. durch das bereits erwähnte Fußballverbot angezeigt. Zwar kann ein solches Verbot für das ›wirkliche‹ Martino-Katharineum nicht bestätigt werden, an anderen Schulen wurden solche Verbote allerdings sehr wohl ausgesprochen.10 Neben solchen konkreten Maßnahmen lassen sich zahlreiche und vielstimmige Aussagen identifizieren, die sich in einem Raum verteilten, dessen Grenzen die Extreme ›absolute Ablehnung‹ und ›bedingungslose Befürwortung‹ des Fußballs bildeten. Diesem »Diskursuniversum«,11 d.h. jenem Raum, innerhalb dessen die Akzeptabilitätsbedingungen des Fußballs ausgehandelt wurden, den in diesen Aushandlungsprozessen aufgerufenen, konterkarierten und (re-)aktualisierten Problemhorizonten sowie der Position des Individuums innerhalb dieses Geflechts gilt das Erkenntnisinteresse der folgenden Untersuchung. Der Untersuchungszeitraum ist auf die Zeit zwischen 1874/1875 und 1918 eingegrenzt. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurde der Fußball zu einem Massenphänomen, wie bereits zahlreiche Historiker_innen betont haben.12 Das bedeutet zwar nicht, dass der Fußball seit der Weimarer Republik absolut unumstritten war, aber er trat auf eine andere Weise in das Sprechen ein.13 Für diesen Untersuchungszeitraum (1874/75-1918) wird der Fußball auf 9 | Diese ›Einbürgerung‹ im wahrsten Sinne des Wortes hat die Historikerin Christiane Eisenberg in zahlreichen Aufsätzen sowie ihrer Habilitationsschrift näher untersucht. Siehe: Verortungen in einem weiten Feld: Forschungsstand. 10 | Siehe: Kapitel 5. 11 | Vgl.: Keller, Reiner: Wissenssoziologische Diskursanalyse. Grundlegung eines Forschungsprogramms, 3. Aufl., Wiesbaden 2011, S. 195-205, Zitat S. 197. 12 | Vgl. u.a.: Eisenberg, Christiane: Vom ›Arbeiter-‹ zum ›Angestelltenfußball‹? Zur Sozialstruktur des deutschen Fußballsports 1890-1950, in: Sozial- und Zeitgeschichte des Sports 4, 1990, S. 20-45, hier S. 22-37; Dies.: Fußball als globales Phänomen, in: Frankfurter Rundschau, vom 23.06.2004; Luh, Andreas: Fußball als Massenphänomen und Faszinosum der Weimarer Zeit. Verbreitung, Organisation und Konfliktpotenziale, in: SportZeiten 6, 2006, S. 7-70; Pfeiffer, Lorenz: »Schulfeind‹ Fußball hat gesiegt«. Die Einführung des Fußballs an den Schulen zur Zeit des Nationalsozialismus, in: Herzog, Markwart (Hg.), Fußball zur Zeit des Nationalsozialismus, S. 51-64, hier S. 53f. 13 | Kurioserweise kommen für diesen Kontext Frank Becker (für den Sport) und Rudolf Oswald (für den Fußball) in ihren Studien zur Weimarer Republik, zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen. Konstatiert Oswald eine Fußball-Volksgemeinschaft, so gelangt
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Das Subjekt des Fußballs
eine bestimmte Art und Weise zum Gegenstand der Analyse. Um falschen Erwartungen vorzubeugen: Diese Studie ist keine Geschichte des Fußballs zwischen 1874/75 und 1918. Weder wird eine Entwicklung auf diachroner Ebene nachgezeichnet, noch werden spieltaktische Veränderungen,14 Vereins- und Verbandsgründungen, Ergebnisse ›großer Spiele‹ oder andere ›Fußballfakten aus der Vergangenheit‹ zum Gegenstand der Analyse. Das Interesse ist anders gelagert. Im Zentrum stehen zwei Facetten des Sprechens über den Fußball, die eng aufeinander bezogen waren und in den angeführten Passagen aus dem Spielfilm bereits angeklungen sind. Koch erläuterte seinen Schülern das Fußballverbot damit, dass das Kaiserreich durch den Fußball in seinen Grundfesten erschüttert würde. Zwischen Fußball und Gegenwart wurde mithin eine enge, in diesem Fall dissonante Beziehung behauptet. Die zweite Facette wird durch das Fußballverbot angedeutet, das auf der Annahme beruhte, der Fußball trüge zu einem »sittlichen Verfall unserer Jugend« bei. In diesem Fall betraf die Beziehungsebene das Verhältnis zwischen Fußballspiel und Fußballspielern. Während des gesamten Untersuchungszeitraums stabilisierten sowohl Fürsprecher als auch Gegner ihrer jeweiligen Argumentationen vor dem Hintergrund solcher angenommenen Beziehungen – (un-)passende Beziehungen zwischen Fußball, Fußballern und Gegenwart; negativ oder positiv konnotierte Effekte des Fußballspiels auf Fußballspieler. Die leitende Fragestellung der Arbeit ist insofern doppelt gelagert. Wie wurde die Akzeptabilität des Fußballs zeitgenössisch ausgehandelt und wie wurde das Individuum in diesen Aushandlungsprozessen in welche Verhältnisse zum Fußballspiel gesetzt? Eine Untersuchung dieser Frage ist historiographisch aufschlussreich, was im folgenden Abschnitt präzisiert wird. Anschließend wird der Forschungsstand skizziert. Die doppelt gelagerte Fragestellung ist theoretisch voraussetzungsvoll, was in der Folge erläutert wird. Grundlage der Studie ist ein spezifisches Quellenkorpus. Dessen Beschaffenheit sowie der Umgang mit den Quellen wird zum Schluss dieser Einleitung vorgestellt.
Becker zu der Ansicht, dass der Sport als Projektionsfläche für Imaginationen einer »repräsentativen Demokratie amerikanischen Musters« diente. Vgl.: Becker, Frank: Amerikanismus in Weimar. Sportsymbole und politische Kultur 1918-1933, Wiesbaden, 1993, Zitat S. 126; Oswald, Rudolf: ›Fußball-Volksgemeinschaft‹. Ideologie, Politik und Fanatismus im deutschen Fußball 1919-1964, Frankfurt a.M. 2008. 14 | Vgl. hierzu die grandiose Studie von Jonathan Wilson: Wilson, Jonathan: Inverting the Pyramid. The History of Soccer Tactics, London 2008.
I. »Etwas ganz alltägliches«
»Jedes Spiel hat seine Zeit«: Der Fußball und seine Gegenwart 1925 erklärte Paul Bräuel seinen Lesern die Geschichtliche Notwendigkeit des Rasensportes. Argumentationsgrundlage bildete ein simples Kausalitätsprinzip. »Der ganze geschichtliche Weltenlauf ist eine zusammenhängende Kette von Ursache und Wirkung. Deshalb sind auch die verschiedenen Formen körperlicher Uebungen nichts anderes als der Ausdruck einer geschichtlichen Notwendigkeit.« Entsprechend bildete die militärische Niederlage Preußens gegen die napoleonische Armee im Jahre 1806 die »Geburtsstunde des deutschen Turnens«. Allein das Turnen, so seine Erklärung, habe es vermocht, die »ganze Bevölkerung des kleinen Landes« zu erfassen und »in gewissem Sinne militärisch« zu schulen.15 Für die folgenden gut siebzig Jahre verzeichnete er eine »Erstarrung« des Turnens. Dagegen habe »sich eine Gegenbewegung bemerkbar [gemacht], die sporadisch in den achtziger und neunziger Jahren auftrat [und] um die Jahrhundertwende festere Formen annahm.« Diese Gegenbewegung war in der Logik seiner Argumentation ebenfalls »aus den Verhältnissen der Zeit geboren«. Die Rahmenbedingungen dieser ›Geburt‹ bildeten jedoch keine politischen Ereignisse, sondern Industrialisierung, Urbanisierung und die Veränderung der politischen Verhältnisse. »Der Rasensport hat seine Wurzeln in unserer grosstädtischen [sic], industriellen und politischen Entwicklung.«16 Was Bräuel rückblickend in einer historistischen Skizze fasste, hatte Philipp Heineken gut 25 Jahre zuvor als Passungsverhältnis zwischen Fußball und Gegenwart behauptet. »Jedes Spiel hat seine Zeit und wird von etwas zweckmäßigerem abgelöst. Dieses Gesetz lässt sich nicht aus der Welt schaffen, und so gut sich Turnen einstens den Boden erobern musste, ebenso sicher wird sich die neue Sportbewegung Bahn schaffen, sie wird es um so mehr, weil sie sich den Erfordernissen der Zeit anzuschmiegen weiss, weil sie aus denselben hervorgegangen ist, mag sie nun ausländischen Ursprunges sein oder nicht, nach diesem wird auch bei andern Kulturfortschritten nicht gefragt.«17
Diese Aussage aus Das Fußballspiel. Rugby und Association von 1898 ist in zweierlei Hinsicht interessant. Erstens postulierte Heineken, ähnlich wie Bräuel und vor dem Hintergrund eines vergleichbaren Kausalitätsprinzips, ein 15 | Vgl.: Bräuel, Paul: Geschichtliche Notwendigkeit des Rasensportes, in: Statistisches Amt der Freien Stadt Danzig (Hg.): Turnen, Spiel und Sport in Danzig, Danzig 1925, S. 9, alle Zitate ebd. 16 | Ebd. 17 | Heineken, Philipp: Das Fußballspiel. Association und Rugby, Stuttgart 1898, S. 228.
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Passungsverhältnis zwischen Fußball und »der Zeit«. Allerdings besteht ein feiner Unterschied in ihrer beider Blickrichtung. Bräuel argumentierte rückblickend, während sich Heineken auf eine unmittelbar bevorstehende Zukunft bezog. Anders als Bräuel, der retrospektiv bestimmte ursächliche Prinzipien benannte, setzte Heineken voraus, dass seine Leser wüssten, worum es sich bei den »Erfordernissen der Zeit« handle. Daher war eine weitere argumentative Unterfütterung des behaupteten Passungsverhältnisses zwischen Fußball und Gegenwart respektive unmittelbarer Zukunft offenbar auch nicht notwendig. Zweitens polarisierte Heineken, ebenfalls ähnlich wie Bräuel, zwischen Sport und Turnen. Diese Polarisierung ist nur aus dem Entstehungskontext seines Textes verständlich. Im gleichen Jahr war die sicherlich bekannteste Polemik auf den Fußball erschienen, nämlich Karl Plancks Fusslümmelei. Mit dieser setzte sich Heineken in dem Abschnitt, aus dem die zitierte Passage entstammt, auseinander.18 Planck, Turnlehrer aus Stuttgart, hielt den Fußball für eine »englische Krankheit« und Symptom »deutsche[r] Fremdsucht«, wetterte auf die »abstoßende Häßlichkeit« der fußballerischen Körperhaltung, »Rohhigkeit« und »Rohheit« des Spiels, seine Gefährlichkeit und die »Unnatur eines solchen Spielgeschmacks«.19 Zum Schluss seiner Ausführungen fasste er die Entwicklungen der letzten Jahre zusammen. »Die ›Tumbheit‹ unserer Kinderjahre ist für immer verschwunden.« Man habe zu kämpfen gelernt, »die staatliche Einheit errungen« und sei derzeit »in heißem Kampfe begriffen, die Klassengegensätze zu überwinden, damit auf freiem Grund ein freies Volk erstehe.« In engem Zusammenhang mit diesen Entwicklungen stünde das »steigende Interesse für die leibliche Volkserziehung«. Allerdings müsse man darauf achten, die richtigen Formen zu wählen. »Darum du deutsches Volk […], die Augen auf, damit dir nicht irgend ein liebreicher Nachbar oder die eigene ungeschickte Hand das Unkraut unter den Weizen mische!«20 All diese Ausführungen Plancks gehören, mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen, zum eisernen Repertoire nahezu jeder historiographischen Auseinandersetzung mit dem Fußball. Entsprechend werden sie jene Leser_innen kaum überraschen, die sich mit einem Buch oder Aufsatz über den Fußball vor dem Ersten Weltkrieg auseinandergesetzt haben. Der Bekanntheitsgrad von Plancks Polemik beruht nicht zuletzt darauf, dass sie im Prinzip alle zeitgenössisch gängigen Kritikpunkte bündelte. Schaltet man die Ausführungen Plancks und Heinekens zusammen, so werden die Grenzen jenes bereits angesprochenen Raumes deutlich, innerhalb 18 | Vgl.: Ebd., S. 225-229. 19 | Planck, Karl: Fusslümmelei. Über Stauchballspiel und englische Krankheit, Stuttgart 1898, Zitate S. 19, S. 7, S. 16, S. 11. 20 | Vgl.: Ebd., Zitat S. 21.
I. »Etwas ganz alltägliches«
dessen über den Fußball gesprochen wurde. Zugleich scheint der Problemhorizont auf, der anhand des Fußballs ausgeleuchtet werden soll. Dieser Problemhorizont setzt sich aus zwei Bereichen zusammen, die sich während des Untersuchungszeitraums überlagerten: Nationalismus und Moderne. Nationalismus: Drei Jahre vor Kochs und Hermanns »Versuchen mit dem Fußballe« war die so genannte Reichsgründung erfolgt. Nach dem deutschfranzösischen Krieg von 1870/71 und der Kaiserproklamation in Versailles war ein Nationalstaat entstanden: das deutsche Kaiserreich, welches bis Ende November 1918 bestand. Politikgeschichtlich deckt sich der Untersuchungszeitraum also fast vollständig mit dem Kaiserreich. Allerdings interessieren in der folgenden Untersuchung weder die großen, noch die kleinen Linien der Politik. Sozialistengesetze, Flottenpolitik, der »Panthersprung nach Agadir« und ähnliches werden keine Rolle spielen. Das Kaiserreich ist vielmehr insofern interessant, als mit der Reichsgründung aus »dem hoffenden und strebenden […] der erfolgreiche Nationalismus« geworden war, wie es Thomas Nipperdey formuliert. Anders als in der Nationalbewegung vor 1871 war der Nationalismus des Kaiserreichs »nicht mehr auf die Zukunft hin orientiert, sondern an etwas Gegebenem und Gewonnenen, etwas Gegenwärtigem«.21 Innerhalb dieser historischen Konfiguration wurde Fußball gespielt – eine Praktik, darin waren sich Planck und Heineken einig, von »ausländischem Ursprung«. Anhand der Debatten über das Für und Wider des Fußballs lassen sich somit Aushandlungsprozesse des Nationalen rekonstruieren. Handelte es sich um eine »englische Krankheit«, die grundsätzlich abzulehnen sei? Waren gewisse Modifikationen notwendig, um ein Passungsverhältnis zwischen Nation und Fußall einzurichten? Oder bildete er einen notwendigen »Kulturfortschritt«, der »aus der Zeit geboren« war? Moderne: Spätestens für die 1880er Jahre kann die intensive Thematisierung einer sich zunehmend rasanter verändernden Gegenwart verzeichnet werden, wie bereits an den Ausführungen Heinekens und Plancks deutlich geworden ist. Wenngleich sie exemplarisch für zwei unvereinbare Positionen zum Fußball stehen, so setzten ihn beide in eine unmittelbare Beziehung zur Gegenwart. Diese Beziehung zwischen Fußball und Gegenwart hatte Bräuel rückblickend als zwingendes Ergebnis bestimmter Transformationen behauptet. Ob nun Symptom für »deutsche Fremdsucht«, aus der Zeit geborener »Kulturfortschritt« oder zwingendes Ergebnis von Urbanisierungs- und Industrialisierungsprozessen – der Fußball trat als Phänomen einer spezifischen Gegenwart in das Sprechen ein. Zwei der prominentesten Aspekte dieser Gegenwart – (Groß-)Städte und Bürgertum – sind hinsicht-
21 | Vgl.: Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte. 1866-1918. Band II. Machtstaat vor der Demokratie, 3. Aufl., München 1995, S. 251, Zitat ebd.
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Das Subjekt des Fußballs
lich des Fußballs in der Forschung bereits ausführlich untersucht worden.22 Anders als diese Untersuchungen ist der Fokus der vorliegenden Studie auf die Problematisierung23 der Gegenwart im Sprechen über den Fußball gerichtet. Diese, vornehmlich gegenwartsdiagnostischen Problematisierungen, bildeten genuin moderne Operationen, zeichnet sich die Moderne doch vor allem dadurch aus, dass sie »etwas mit Zeitdiagnose zu tun«24 hat, wie es Christof Dipper formuliert. Die Aushandlungsprozesse der Akzeptabilität des Fußballs bieten, so wird zu zeigen sein, Einblicke in sehr unterschiedliche Zeitdiagnosen mit sehr unterschiedlichen Gegenständen der Diagnose. Worum handelte sich in der zeitgenössischen Rezeption bei »der Zeit«, für die der Fußball angemessen oder inadäquat sei? Welche Probleme wurden identifiziert? Wie sollten diese durch den Fußball bearbeitet werden? Oder: Welche Probleme wurden durch den Fußball intensiviert, erzeugt oder indiziert? Welche (Nicht-)Passungsverhältnisse zwischen Gegenwart und Fußball wurden behauptet? Wenngleich also der Untersuchungszeitraum eher konventionell als Deutsches Kaiserreich bestimmt werden kann – und angesichts der Frage nach den Aushandlungen der Akzeptabilität des Fußballs auch so bestimmt werden muss25 –, handelt es sich bei dieser Studie nicht um eine Nationalgeschichte. Vielmehr wird anhand des Fußballs rekonstruiert, wie die Zeitgenossen ihre Gegenwart rezipierten und wie im Kontext dieser Rezeptionen bestimmte Konzeptionen des gesunden Körpers und der Nation sowie Fragen nach einer Ermännlichung und militärischen Ertüchtigung des Individuums verhandelt wurden.
Verortungen in einem weiten Feld: Forschungsstand Fußball, in diesem Punkt hat der Teaser des großen Traums sicherlich nicht übertrieben, fasziniert Millionen von Menschen. Diese Faszination schlägt sich in einer Vielzahl kultureller Produkte nieder. Neben Spiel- und Dokumentarfilmen, Hörspielen, Musikstücken, Kunstausstellungen, Bekleidung, Kaffeebechern, Bettwäsche und Fußballbelletristik gibt es eine große Anzahl 22 | Vgl. einschlägig zu Sport und Fußball als primär urbane und bürgerliche Phänomene: Eisenberg, Christiane: ›English Sports‹ und deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1800-1939, Paderborn 1999. 23 | Siehe zum Konzept der Problematisierung: Akzeptabilität: Prämissen und Anlage der Arbeit I. 24 | Dipper, Christof: Moderne, Version 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 25.08.2010. Zitiert nach dem PDF. URL: http://docupedia.de/docupedia/images/0/07/Moderne. pdf, letzter Zugriff: 21.08.2014, S. 8. 25 | Siehe: Akzeptabilität: Prämissen und Anlage der Arbeit I.
I. »Etwas ganz alltägliches«
von Darstellungen zum Fußball, die ein weites Feld zwischen Populärwissenschaft und wissenschaftlicher Beschäftigung abdecken. In interdisziplinären und fachspezifischen Sammelbänden26 sowie einschlägigen Monographien27 ist der Fußball »zum Untersuchungsgegenstand eines Fächerspektrums geworden […], das von der Sportwissenschaft, der Soziologie und der Ethnologie über die Geschichts- und Politikwissenschaft bis hin zur Medien-, Literatur-, Film- und Kulturwissenschaft reicht«,28 wie Rebekka Ladewig und Annette Vowinckel konstatieren. Zu den eher populärwissenschaftlichen Arbeiten kann das Gros der Veröffentlichungen des Göttinger Verlags Die Werkstatt gezählt werden. Titel wie etwa Im Revier der Zebras. Die Geschichte des MSV Duisburg bieten leicht lesbare Vereinsgeschichten. Hinzu kommen zahlreiche Biografien einzelner Fußballer und Trainer, Geschichten von Welt- und Europameisterschaften der Frauen und – vornehmlich – Männer sowie Darstellungen über die Beziehungen zwischen Fußball(-vereinen) und dem Nationalsozialismus. Diese Arbeiten wurden nur am Rande berücksichtigt, da sie zumeist sowohl auf Quellenkritik als auch auf Fußnoten verzichten, weshalb sie sich für eine geschichtswissenschaftliche Arbeit nur bedingt eignen. Für den Bereich der Geschichtswissenschaft sind vor allem die einschlägigen Arbeiten von Christiane Eisenberg zu nennen. Sie hat seit Mitte der 1990er Jahre zahlreiche Aufsätze29 zur Geschichte des Fußballs, des Sports im Kaiserreich und darüber hinaus vorgelegt. Ferner sind zwei von ihr (mit-)
26 | Vgl. u.a.: Böhnisch, Lothar/Rautenberg, Michael/Tillmann, Angela (Hg.), Doppelpässe; Brandt, Christian/Hertel, Fabian/Stassek, Christian (Hg.), Gesellschaftsspiel Fußball; Klein, Gabriele/Meuser, Michael (Hg.), ernste Spiele; Lindner, Rolf (Hg.), der Ball ist rund; Röger, Ulrike (Hg.), Frauen am Ball; Taborek, Janusz/Tworek, Artur/ Zieliński, Lech (Hg.), Sprache und Fußball. 27 | Vgl. u.a.: Dunning, Eric/Murphy, Patrick/Williams, John: The Roots of Football Hooliganism. An Historial and Sociological Study, London 1988; Gebauer, Gunter: Poetik des Fußballs, Frankfurt a.M. 2006; Müller, Marion: Fußball als Paradoxon der Moderne. Zur Bedeutung ethnischer, nationaler und geschlechtlicher Differenzen im Profifußball, Wiesbaden 2009; Sülzle, Almut: Fußball, Frauen, Männlichkeiten. Eine ethnographische Studie im Fanblock, Frankfurt a.M. 2011. 28 | Ladewig, Rebekka/Vowinckel, Annette: Einleitung, in: Dies. (Hg.), Am Ball der Zeit, S. 7-18, Zitat S. 7f. 29 | Vgl.: Eisenberg, Christiane: Sportgeschichte als Sozialgeschichte. Überlegungen zu einigen britischen Neuerscheinungen, in: Stadion 15, 1989, S. 277-287; Dies.: Fußball in Deutschland 1890-1914. Ein Gesellschaftsspiel für bürgerliche Mittelschichten, in: GG 20, 1994, S. 181-210; Dies.: Sportgeschichte. Eine Dimension der modernen Kulturgeschichte, in: GG 23, 1997, S. 295-310; Dies.: Die Entdeckung des Sports durch die moderne Geschichtswissenschaft, in: Historical Social Research 27, 2002, S. 4-12.
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herausgegebene Sammelbände zu nennen.30 1999 wurde schließlich ihre Habilitationsschrift ›English Sports‹ und deutsche Bürger31 veröffentlicht, mit der sie, so ein Rezensent, »die in Zukunft zu überspringende Forschungslatte [für die Sportgeschichte] erkennbar höher gelegt«32 hat. In der Schrift untersucht Eisenberg den Sport in England und Deutschland für den Zeitraum zwischen 1800 und 1939 vor dem Hintergrund gesellschaftsgeschichtlicher Überlegungen. Der Fokus liegt dabei vor allem auf den vergesellschaftenden Effekten des Sports, die sie in einer »Verknüpfung von Sport- und Bürgertumsgeschichte« vornimmt.33 Auf diese Weise gelingt es ihr die Interdependenzen zwischen dem scheinbar nebensächlichen Sport und der zeitgenössisch prominenten sozialen Formation des Bürgertums auszuleuchten. Fast ausnahmslos sind die Sprecherpositionen des in der vorliegenden Studie untersuchten Feldes ebenfalls dieser Formation zuzurechnen. Anders als bei Eisenberg richtet sich der Blick der vorliegenden Studie jedoch auf Aspekte wie Körper und Geschlecht, die Eisenberg, angesichts einer prononcierten Abwehrhaltung gegenüber kulturgeschichtlichen Ansätzen,34 geradezu systematisch ausblendet, wie ein Rezensent kritisch bemerkt.35 Wenngleich ihr also zweifellos das Verdienst gebührt, mit ihren Arbeiten den Sport als Untersuchungsgegenstand der Geschichtswissenschaften nachhaltig verankert zu haben, so bleiben Leerstellen. Im Fokus dieser Untersuchung stehen daher weder Fragen der Vergesellschaftung noch die Interaktion von Angebot und Nachfrage oder Kulturtransfers zwischen England und Deutschland, sondern die im Sprechen über den Fußball aufgerufenen Körperlichkeiten und Imaginationshorizonte sowie deren Beziehungen zu zeitgenössischen Rezeptionen der Gegenwart. Mindestens drei weitere Arbeiten, von denen zwei vor English Sports erschienen, sind für die historiographische Auseinandersetzung mit bewegten 30 | Dies. (Hg.), Fußball, Soccer, Calcio; Dies. et al. (Hg.), FIFA 1904-2004. 31 | Eisenberg, English Sports. 32 | Schalenberg, Marc: [Rezension zu:] Eisenberg, English Sports, in: H-Soz-u-Kult 11.08.1999, URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/126.pdf, letzter Zugriff: 20.08.2014. 33 | Vgl.: Eisenberg, English Sports, S. 12-18, Zitat S. 17. 34 | Deutlich formuliert sie dies in: Dies., Dimension, S. 299f. 35 | Vgl.: Ott, Michael: Eine Sportgeschichte ohne Körper. Rezension zu: Eisenberg, English Sports, in: IASL Online 5, 2002. URL: www.iaslonline.de/index.php?vorgang_ id=2309, letzter Aufruf: 20.08.2014. Vgl. zu einer ähnlich gelagerten Kritik: Heinsohn, Kirsten/Martschukat, Jürgen/Stieglitz, Olaf: Sportreportage. Sportgeschichte als Kultur- und Sozialgeschichte, in: H-Soz-u-Kult 28.05.2009. Angabe nach dem PDF. URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2009-05-001.pdf, letzter Aufruf: 20. 08.2014, S. 4.
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Körpern maßgeblicher. Thomas Alkemeyer hat mit seiner Studie zu Körper, Kult und Politik von 1996 bereits gezeigt, wie eine theoretisch avancierte, vor allem am Körper interessierte historiographische Untersuchung über den (olympischen) Sport funktionieren kann. In einem Geflecht semiotischer, körper- und diskurstheoretischer Ansätze schreibt Alkemeyer eine »systematische Analyse von Prozessen der ›Besetzung‹ des olympischen Zeichen- und Formenvokabulars durch den Berliner Organisationsstab« der olympischen Spiele von 1936 und beginnt seine Untersuchung im Frankreich des späten 19. Jahrhunderts und den Initiativen Pierre de Coubertins.36 1998 zeichnete Svenja Goltermann in ihrer Arbeit Körper der Nation vornehmlich im Rekurs auf theoretische Prämissen Pierre Bourdieu nach, wie innerhalb der deutschen Turnbewegung nationale und »andere Identitäten, wie etwa […] Geschlechtsidentität oder […] regionale, einzelstaatliche oder konfessionelle Identitäten«, in Form eines Habitus einverleibt und aufgeführt wurden.37 Im Jahre 2004 legte Maren Möhring ihre Studie zur deutschen Nacktkultur vor. In genealogischer Perspektive und mit Schwerpunkten auf den Arbeiten Michel Foucaults und Judith Butlers hat sie eine außerordentlich fruchtbare, »normalismushistorische Studie« vorgelegt. Möhring beschäftigt sich primär mit der Frage, wie im Diskurs der Nacktkulturbewegung »gesellschaftliche Normierungen angegriffen« wurden, »um gleichzeitig durch andersartige Normen und andere Verfahren der Normalisierung ersetzt zu werden.«38 Alle drei Arbeiten bringen den Körper ins Spiel. Alkemeyer situiert ihn als historischen Referenten zur Bearbeitung spezifischer Problemlagen und als zeichenhaft besetzten Referenten von Ideologie im Sinne von »vorgegebenen Bildern, Konzepten, Prämissen und Inszenierungen«.39 In Goltermanns Arbeit fungiert er als Einschreibe- und Projektionsfläche des Nationalismus und bei Möhring als Bezugspunkt normalisierender Diskurse. Alle drei lassen sich im Kontext einer theoretisch ambitionierten Körpergeschichte verorten, in welcher der Körper nicht ahistorisch gesetzt ist, sondern auf verschiedene Weise und in spezifischen historischen Konfiguration hervorgebracht und besetzt wird. Zieht man weitere Arbeiten hinzu, die den Körper dezentrieren und
36 | Vgl.: Alkemeyer, Thomas: Körper, Kult und Politik. Von der ›Muskelreligion‹ Pierre de Coubertins zur Inszenierung von Macht in den Olympischen Spielen von 1936, Frankfurt a.M. 1996, Zitat S. 33, Hervorh. i. Orig. 37 | Vgl.: Goltermann, Svenja: Körper der Nation. Habitusformierung und die Politik des Turnens 1860-1890, Göttingen 1998, Zitat S. 21. 38 | Vgl.: Möhring, Maren: Marmorleiber. Körperbildung in der deutschen Nacktkultur. 1890-1930, Köln u.a. 2004, Zitate S. 16. 39 | Alkemeyer, Körper, Kult und Politik, S. 38, Fußnote 38.
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innerhalb bestimmter Wissens-, Zeichen- und Symbolordnungen ansiedeln,40 so wird ein in thematischer Breite und theoretisch-methodologischer Tiefe umfassend ausgeleuchtetes Feld deutlich. In diesem Feld ist die folgende Untersuchung verortet, die thematisch eine Lücke schließen und ein theoretisch-methodisches Angebot machen soll. Der Fußball ist für den Untersuchungszeitraum noch in keiner eigenständigen Arbeit behandelt worden. Allein Rudolf Oswald hat mit seiner 2008 erschienenen Studie zur Fußball-Volksgemeinschaft eine in gewisser Hinsicht ähnlich gelagerte Untersuchung für die Zeit zwischen 1919 und 1964, mit deutlichem Schwerpunkt auf dem Nationalsozialismus, vorgelegt. Oswald zeichnet überzeugend nach, wie der Fußball zu einer Projektionsfläche für das Imago der Volksgemeinschaft wurde und richtet seinen Fokus dabei primär auf die »Repräsentationen des Fußballs«, was für ihn bedeutet »Kommerz, Professionalisierung, Ideologisierung, politische Instrumentalisierung, Gewalt, Fußball als Lokal- und Vereinskultur« zu untersuchen.41 Abgesehen davon, dass er sich mit einem anderen Zeitraum beschäftigt, ist die vorliegende Studie vor allem in der theoretischen Anlage von Oswalds Untersuchung abzugrenzen. Zwar hat auch er den Anspruch einer diskursanalytischen Vorgehensweise, doch erscheint diese (diskurs-)theoretisch zumindest ungewöhnlich. So heißt es etwa, dass Konrad »Adenauer […] den Diskurs, mit dem sich der Nationalsozialismus den Fußball in Deutschland angeeignet hatte«,42 nicht fortsetzte. In der folgenden Analyse wird kein derartig instrumentelles Diskursverständnis zugrunde gelegt. Vielmehr soll die produktive Facette der »Diskursivierung«43 des Fußballs untersucht werden: die Erzeugung einer auf bestimmte Weise beschaffenen Gegenwart und die darin eingefaltete Konturierung des Fußballers als Subjekt des Fußballs. In diesem Zusammenhang ist das theoretisch-methodische Angebot zu sehen. Es besteht darin, den Fußball vor dem Hintergrund diskursanalytischer und subjekttheoretisch inspirierter Überlegungen als Sonde zu verwenden. Inso40 | Vgl. u.a.: Bublitz, Hannelore/Hanke, Christine/Seier, Andrea (Hg.), Der Gesellschaftskörper. Zur Neuorientierung von Kultur und Geschlecht um 1900, Frankfurt/M. 2000; Hartmann, Heinrich: Der Volkskörper bei der Musterung. Militärstatistik und Demografie in Europa vor dem Ersten Weltkrieg, Göttingen 2011; Rabinbach, Anson: Motor Mensch. Kraft, Ermüdung und die Ursprünge der Moderne, Wien 2001; Sarasin, Philipp: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765-1914, Frankfurt a.M. 2001; Wildmann, Daniel: Der veränderbare Körper. Jüdische Turner, Männlichkeit und das Wiedergewinnen von Geschichte in Deutschland um 1900, Tübingen 2009. 41 | Oswald, Fußball-Volksgemeinschaft, S. 9. 42 | Ebd., S. 302, Hervorh., J.E. 43 | Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a.M. 1983, S. 23.
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fern ist die vorliegende Studie im Bereich der so genannten »Neuen Kulturgeschichte« zu verorten. Das Interesse richtet sich darauf, anhand des Fußballs bestimmte »Sinngebungsformen und Bedeutungsnetze« zu untersuchen, »mit denen Gesellschaften der Vergangenheit ihre Wirklichkeiten ausgestattet haben«, wie es Achim Landwehr als kleinsten gemeinsamen Nenner dieser historiographischen Blickrichtung formuliert.44 Es handelt sich also um keine Sportgeschichte im engeren Sinn. Vielmehr reiht sich die Studie in den jüngst von Frank Becker und Ralf Schäfer formulierten Anspruch ein, »Themen aus dem Bereich des Sports in eher systematischer Hinsicht für die geschichtswissenschaftliche Forschung« fruchtbar zu machen.45
Akzeptabilität: Prämissen und Anlage der Arbeit I Interessiert man sich nicht für den Fußball hinsichtlich seiner vergesellschaftenden Effekte vor dem Hintergrund einer Bürgertumsgeschichte, sondern für die Historizität von Fußball und Fußballer, so bietet die Frage nach den »Akzeptabilitätsbedingungen« einen fruchtbaren Ausgangspunkt. Dieses Konzept geht auf eine Überlegung Foucaults zurück. Er vertrat die Prämisse, dass Singularitäten wie Geisteskrankheit und Sexualität (oder eben der Fußball) »nicht kraft irgendeines ursprüngliches Rechtes akzeptabel gemacht worden« sind. Durch die Verabschiedung eines Ursprungs, so Foucault weiter, gelte es die »Erscheinungsbedingungen einer Singularität in vielfältigen bestimmenden Elementen ausfindig zu machen und sie nicht als deren Produkt, sondern als deren Effekt erscheinen zu lassen.«46 Bevor daher die leitenden Fragestellungen – Aushandlungen der Akzeptabilität sowie die Verhältnisse zwischen Fußball und Fußballer – beantwortet werden können (Teil IV), muss zunächst jener Raum umrissen werden, innerhalb dessen die Bedingungen der Akzeptabilität von Fußball und Fußballer denk- und sagbar waren. Konzipiert man den Fußball auf diese Weise, so fungiert er als Sonde.47 Das Ziel ist es, den Unter44 | Vgl.: Landwehr, Achim: Kulturgeschichte, Version 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 14.05.2013. Angabe nach dem PDF. URL: https://docupedia.de/images/5/55/ Kulturgeschichte.pdf, letzter Zugriff: 14.05.2015, S. 1. 45 | Vgl.: Becker, Frank/Schäfer, Ralf: Einleitung, in: Dies. (Hg.), Profile und Perspektiven, S. 9- 23, Zitat: S. 11. 46 | Vgl.: Foucault, Michel: Was ist Kritik, Berlin 1992, S. 30-37, Zitate S. 35, S. 37. 47 | Die Metapher der Sonde als Mittel zur punktuellen Beleuchtung von Sachverhalten haben Thomas Etzemüller und Alexander Gallus in ihren Ausführungen zur Biographie eingeführt. Vgl.: Etzemüller, Thomas: Biographien. Lesen, Erforschen, Erzählen, Frankfurt a.M. 2012, S. 73; Gallus, Alexander: Biographik und Zeitgeschichte, in: APuZ 55, 2005, S. 40-46, hier S. 41. Vgl. kritisch zu naturwissenschaftlichen Begriffen wie »Sonde, Lackmustest und Probebohrung«: Pohlig, Matthias: Geschmack und Urteilskraft.
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suchungszeitraum in einer Binnensicht anhand der Diskursivierung des Fußballs auszuleuchten und zu rekonstruieren. Diese Ausleuchtung wird in einer Verschränkung diskursanalytischer und feldtheoretischer Zugänge bearbeitet. In Anlehnung an die Arbeiten Bourdieus wird im Folgenden angenommen, dass Praktiken nicht in einem sozio-kulturellen Vakuum bestehen, sondern eingebettet sind in soziale Felder. Felder bilden in Bourdieus theoretischer Architektur Bereiche, in denen aus verschiedenen Positionen Auseinandersetzungen um je bestimmte Gegenstände geführt werden. Die Akzeptabilitätsbedingungen des Fußballs wurden in diesem Feld primär zwischen drei Positionen ausgehandelt: Turnerschaft, Spielbewegung und Sport. Den Gegenstand der Auseinandersetzungen bildete die Frage nach dem Gebrauch des Körpers in Form bestimmter Praktiken. Spätestens durch die Herausbildung der Position Sport im Laufe der 1890er Jahre lässt sich eine Krise im Feld verzeichnen. An dieser Position versammelten sich nämlich Akteure, die sich wenig für die Turnvereine interessierten und unabhängig, d.h. außerhalb der Deutschen Turnerschaft (DT), ihren Praktiken nachgingen. Für Bourdieu bilden genau solche Krisen die »Anreizung zu Diskursen«,48 wie sich mit Foucault sagen ließe. »Erst die Häresie, die Heterodoxie als kritischer, oft im Zusammenhang mit der Krise auftretender Bruch der Doxa bringt die Herrschenden dazu, ihr Schweigen zu brechen und jenen Diskurs zur Verteidigung der Orthodoxie, des rechten Denkens im doppelten Sinne, zu produzieren, mit dem ein neues Äquivalent zur schweigenden Zustimmung der Doxa geschaffen werden soll.« 49
Die DT bildete den Ort, von dem aus der Diskurs zur Verteidigung der Orthodoxie geführt wurde. Dies war notwendig geworden, weil es galt die hegemoniale Position im Feld zu verteidigen. Durch die steigenden Mitgliederzahlen von Sportvereinen geriet ihr Anspruch, die nationale Körperkultur zu vertreten, zunehmend ins Wanken. Die DT neigte zu »Erhaltungsstrategien«, während sich die Sportler »Umsturzstrategien« verschrieben.50 Die Spielbewegung nahm in diesem strategischen Panorama eine Mittelstellung ein. Sie befürwortete den Fußball als eines von mehreren, das Turnen ergänzenden Spielen, wandte sich aber ausdrücklich gegen »sportliche Übertreibungen«. Es ist wichtig vor diesem Hintergrund eine Einschränkung Bourdieus nachzuHistoriker und die Theorie, in: Ders./Hacke, Jens (Hg.), Theorie in der Geschichtswissenschaft, S. 25-40, hier S. 38. 48 | Foucault, Wille zum Wissen, S. 23. 49 | Bourdieu, Pierre: Über einige Eigenschaften von Feldern, in: Ders., soziologische Fragen, S. 107-114, Zitat S. 109. 50 | Ebd.
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vollziehen: Allen Akteuren (seien es Organisationen, seien es Individuen) sind »bestimmte Grundinteressen gemeinsam, nämlich alles, was die Existenz des Feldes selbst betrifft.« Zwar haben sich die Häretiker »Umsturzstrategien auf ihre Fahnen geschrieben, doch sind diesen, bei Strafe des Ausschlusses, bestimmte Grenzen gesetzt.«51 Wer nicht über den Körper in Bewegung sprach, konnte am Diskurs nicht teilnehmen; wer nicht über den Körper in Bewegung von einer dieser Positionen52 aus sprach, wurde nicht oder kaum wahrgenommen. Dieses Gewimmel von Aussagen lässt sich theoretisch anhand des Strategiebegriffs differenzieren, weshalb die genannte Einschränkung wichtig ist. Folgt man Foucault – und hier besteht die Überschneidung zum Denken Bourdieus –, so könnte »keine Strategie zu globalen Wirkungen führen, wenn sie sich nicht auf ganz bestimmte und sehr beschränkte Beziehungen stützte, in denen sie nicht ihre Anwendung und Durchführung findet, sondern ihren Träger und Ankerpunkt.«53 Diskurse als strategische Aussagensysteme zeichnen sich somit dadurch aus, dass sie »an bereits anerkannte Deutungen« anknüpfen, »um ihre Argumente plausibler zu machen«,54 wie es Laura Kajetzke in einer Synthese Bourdieu’schen und Foucault’schen Denkens formuliert. Mithin gilt es, den Raum auszuloten, innerhalb dessen jene Deutungsmöglichkeiten zirkulierten, die zur Stabilisierung von Argumenten taugten. Das wird in dieser Arbeit in einem ersten Analyseschritt (Teil II) unternommen. Das Ziel ist es, die diskursive Formation einzugrenzen, in die sich die Diskursivierung des Fußballs einschrieb.55 Genau in diesem Kontext bietet sich der Fußball als Sonde an. Er war nämlich für seine Akzeptabilität nicht allein darauf angewiesen, dass ihn Turner und Spielbewegung tolerierten, sondern er musste plausibel als gesellschaftlich relevant und adäquat behauptet werden. Dies betrifft den Bereich der Pro51 | Ebd. 52 | Es gab sicherlich noch weitere Positionen, wie etwa die der Gymnastik bzw. Nacktgymnastik. Vgl. ausführlich für diese Praktiken: Möhring, Marmorleiber. Allerdings hatten dieser und andere Positionen, zu denken ist an Tanzen oder Varieté, im Sprechen über den Fußball keine Relevanz. 53 | Foucault, Wille zum Wissen, S. 98. 54 | Kajetzke, Laura: Wissen im Diskurs. Ein Theorievergleich von Bourdieu und Foucault, Wiesbaden 2008, S. 110f. Vgl. zum Strategiebegriff im Kontext diskurstheoretischer und -analytischer Überlegungen ferner: Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, 4., Aufl., Göttingen 2009, S. 53f. 55 | Vgl. zum Konzept der Einschreibung im Anschluss an Dominique Maingueneau: Sarasin, Philipp: Subjekte, Diskurse, Körper. Überlegungen zu einer diskursanalytischen Kulturgeschichte, in: Hardtwig, Wolfgang/Wehler, Hans-Ulrich (Hg.), Kulturgeschichte Heute, S. 131-164, hier S. 144.
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blematisierung, d.h. »ein in den Quellen beschriebenes Problem nicht einfach als Gegebenheit zu akzeptieren, sondern […] als strategische Intervention in ein dynamisches Feld gesellschaftlicher Auseinandersetzungen«56 zu verstehen. Drei Problematisierungsachsen spannten dieses Feld auf: Gesundheit, Männlichkeit und Militärtauglichkeit (Kapitel 1).57 Diese, vornehmlich das Individuum betreffenden Problematisierungen, transponierten die Zeitgenossen über die Annahme einer Dependenz zwischen Individuum und Kollektiv in einen umfänglicheren, körperlich zugespitzten Zusammenhang (Kapitel 2). Eine weitere zentrale Annahme Bourdieus besteht darin, dass Felder nur relativ autonom sind. Die Aushandlungen der Akzeptabilität des Fußballs waren eingebettet in ein »umfänglicheres Feld von Auseinandersetzungen, die die Definition des legitimen Körpers und des legitimen Gebrauchs des bzw. Umgangs mit dem Körper zum Gegenstand«58 hatten. Dieser Annahme trägt der folgende Analyseschritt (Teil III) Rechnung. Indem die Dependenz von Individuum und Kollektiv vor allem körperlich zugespitzt wurde, versprach das in-Bewegung-setzen des Körpers spätestens seit den 1880er Jahren praktische Lösungen zeitgenössischer Problemdiagnosen. Diese Lösungsvorschläge werden anhand der so genannten Überbürdungsdebatte (Kapitel 3) sowie der dadurch angereizten Diskursivierung des spielerisch bewegten Körpers (Kapitel 4) näher erörtert. Als Sonde bietet der Fußball in dieser Hinsicht Rückschlüsse auf das Wechselspiel zwischen den Auseinandersetzungen im Feld mit umfänglicheren Aushandlungsprozessen und Debatten über die Erfordernisse der Gegenwart. Wenn die Figur Koch im Film sagt, das Spiel scheine das »Kaiserreich in seinen Grundfesten zu erschüttern«, so sind diese Auseinandersetzungen bereits angedeutet. Durch ihre Rekonstruktion wird die Untersuchung des Fußballs zur Geschichte einer bestimmten Erfahrung im Sinne Foucaults. In den Blick gerät eine bestimmte »Korrelation […], die in einer Kultur zwischen Wissensbereichen, Normativitätstypen und Subjektivitätsformen besteht.«59 So konzipiert überschreitet die Untersuchung den Bereich von diskursiv-formatierten
56 | Klöppel, Ulrike: Foucaults Konzept der Problematisierungsweisen und die Analyse diskursiver Transformationen, in: Landwehr, Achim (Hg.), diskursiver Wandel, S. 255263, Zitat S. 256. 57 | Siehe: Kapitel 1. 58 | Vgl.: Bourdieu, Pierre: Historische und soziale Voraussetzungen modernen Sports, in: Ders., soziologische Fragen, S. 165-180, Zitate S. 172f., Hervorh. i. Orig. 59 | Foucault, Michel: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2, Frankfurt a.M. 1989, S. 10. Vgl. auch: Lemke, Thomas: Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Hamburg 1997, S. 265-269.
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Aushandlungsprozessen und verschränkt sich mit einer subjekttheoretischen Dimension.60
Das Subjekt des Fußballs: Prämissen und Anlage der Arbeit II In dieser Dimension überkreuzten sich zwei angenommene oder behauptete Beziehungen zwischen Fußball und Fußballer: eine produktive Relation und ein Verantwortungsverhältnis. Beide Dimensionen der Diskursivierung des Fußballs stehen im Zentrum des letzten und ausführlichsten Analyseschritts (Teil IV). In beiden Dimensionen waren die Aussagen eng mit dem Raum des Sagbaren und dem bewegten Körper verbunden. Deshalb ist dieser Analyseschritt anhand der einzelnen Problematisierungsachsen (Kapitel 5-7) sowie der Dependenz von Individuum und Kollektiv (Kapitel 8) gegliedert. Der Fußball bildete in der produktiven Relation eine (trans-)formative Praktik. In seine Diskursivierung waren, wie eingangs am Beispiel des »sittlichen Verfalls« zumindest angedeutet wurde, bestimmte Effekte auf das Individuum eingelagert. Diese Effekte schrieben sich, so vermuteten oder behaupteten zahlreiche Zeitgenossen, in jeden einzelnen Mitspieler ein und (ver-)formten ihn auf positive oder negative Weise – je nach Position. In den Auseinandersetzungen um das Für und Wider des Fußballs bildete diese Relation den Drehund Angelpunkt ihrer Argumentationen. Allerdings formte der Fußballer nicht nur eine »residuale Größe«61 abgeleiteter Effekte, sondern zugleich eine die Akzeptabilität beglaubigende oder konterkarierende Instanz. In den meisten Fällen wurde auf Kasernen- und Schulhöfen, Exerzierplätzen, Parks und anderen, zumeist städtischen Freiflächen gespielt.62 Zudem waren Fußballspiele, auch jene, die in materiell deut60 | Vgl. zu subjektivierungstheoretischen und subjektivierungstheoretischen Perspektiven in der Geschichtswissenschaft aktuell: Wiede, Wiebke: Subjekt und Subjektivierung, Version 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte. URL: http://docupedia.de/images/a/ ab/Subjekt_und_Subjektivierung.pdf, 10.12.2014, letzter Zugriff: 14.01.2015. 61 | Buschmann, Nikolaus: Persönlichkeit und geschichtliche Welt. Zur praxeologischen Konzeptualisierung des Subjekts in der Geschichtswissenschaft, in: Alkemeyer, Thomas/Budde, Gunilla/Freist, Dagmar (Hg.), Selbst-Bildungen, S. 125-149, hier S. 140. 62 | Laut eines Artikels in der Zeitschrift Sport im Bild gab es 1905 etwa »30 geschlossene Spielplätze«, von denen jedoch »nur etwa die Hälfte die erforderlichen Größenverhältnisse aufweist«, da der Großteil dieser Plätze sich im Innenraum von Pferderennbahnen befand, die nur selten eine Fläche von »100-110 X 65-75 m« aufwiesen. Siehe: Schulz, Gustav: Sportplatz-Gesellschaften im Fußballsport, in: Sport im Bild 12, 1906, S. 88. Vgl. ferner: Grundner, Franz: Spielregeln und Spielfeld, in: DFB-Jahrbuch 10, 1913, S. 163-172. Rückblickend: Trapp, Hans: Die Geschichte der Spielplätze. Von der
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lich geschlossenen »Funktionsräume[n]«63 wie etwa Stadien stattfanden, in Form von Spielberichten prinzipiell öffentlich.64 Was Sonntagnachmittags auf einem Fußballplatz geschah, konnte unmittelbar beobachtet und an jedem anderen Ort wenige Tage später in Sportzeitschriften nachgelesen werden. Das Tun jedes einzelnen Fußballers war, ob es nun unmittelbar beobachtet oder in Spielberichten öffentlich gemacht wurde, potenziell immer wahrnehmbar. Vollmundige Behauptungen, etwa dass ein jeder im Spiel lerne sich zu beherrschen, konnte durch unfaires Spiel praktisch und öffentlich konterkariert werden. Insofern war jeder einzelne Spieler aufgefordert, diskursiv stabilisierte Argumente für den Fußball praktisch zu beglaubigen. Vor dem Hintergrund dieser beiden Beziehungsebenen zwischen Fußball und Fußballer wird deutlich, dass bei der Frage nach den Akzeptabilitätsbedingungen auch nach dem Fußballer gefragt werden muss. In den Auseinandersetzungen über sein Für und Wider wurden dem Spiel bestimmte Effekte auf den einzelnen Fußballer attestiert. Zugleich war jeder Einzelne in seinem Tun auf dem Spielfeld permanent für die Akzeptabilität der Praktik verantwortlich. Da sich das Erkenntnisinteresse dieser Studie auf die Akzeptabilitätsbedingungen des Fußballs im Kaiserreich richtet, muss also die Frage nach dem Fußballer gestellt werden – und zwar auf eine besondere Art und Weise. Es geht nicht darum herauszufinden, wie ›der Fußballer‹ im Kaiserreich war, welche Körpertechniken er beherrschen oder welches taktische Verständnis er mitbringen sollte. Im Zentrum steht der Fußballer als Subjekt des Fußballs. Dieses Subjekt ist in der doppelten Relation zwischen Fußball, Fußballer und Akzeptabilität zu suchen und bedarf der theoretischen Einordnung. Bisher wurde vom »Individuum« oder »dem Fußballer« gesprochen, aber die Formulierung »Subjekt des Fußballs« weitestgehend vermieden. Dieser Sprachgebrauch ist zu präzisieren. Theoretisch ist das Subjekt des Fußballs nicht mit dem Individuum austauschbar. Es ist vielmehr, in Anlehnung an Butler, »als sprachliche Kategorie aufzufassen […], als Platzhalter, als in Formierung begriffene Struktur.« Individuen besetzen »den Ort des Subjekts (als
Weide und dem Exerzierplatz zur modernen Kampfbahn, in: DFB (Hg.), 25 Jahre Deutscher Fußballbund, S. 263-266. Siehe ausführlich zur Herausbildung von Sporträumen: Dinçkal, Noyan: Sportlandschaften. Sport, Raum und (Massen-)Kultur in Deutschland, 1880-1930, Göttingen 2013. 63 | Boschert, Bernhard: Der Sport und der Raum – der Raum des Sports, in: SportZeiten 2, 2002, S. 19-37, Zitat S. 26. 64 | Vgl. zum Konzept der Öffentlichkeit von Praktiken und einer differenzierenden Konzeptualisierung: Schmidt, Robert/Volbers, Jörg: Öffentlichkeit als methodologisches Prinzip. Zur Tragweite einer praxistheoretischen Grundannahme, in: Zeitschrift für Soziologie 40, 2011, S. 24-41, hier v.a. S. 26f.
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welcher ›Ort‹ das Subjekt zugleich entsteht)«.65 Diese Dublette, d.h. benennbare Zugehörigkeit und Ort der Selbstverortung, soll durch den Genitiv markiert werden. Angesichts der prinzipiellen Öffentlichkeit von Fußballspielen bezeichnet das Subjekt des Fußballs also sowohl jenen Ort, an welchem fußballspielende Individuen als Fußballer (an-)erkannt, wahrgenommen und sichtbar werden konnten als auch den Ort, an welchem sie sich selbst als Fußballer (an-) erkannten, benannten und wahrnahmen.66 Dieser Ort ist historisch gebunden. »Es gibt ›keine universelle Form des Subjekts, die man überall finden könnte‹, weil das Subjekt eine Form und keine Substanz ist«, wie es Thomas Lemke im Rekurs auf Foucault formuliert.67 Die Konturen dieser Form runden die einzelnen Kapitel zu Fußball und Fußballer (Kapitel 5-8) ab. Diese Konturen umrissen das Subjekt des Fußballs als jene »bewohnbare Zone«,68 die diskursiv um die Praktik und ihre Subjekte eingerichtet wurde und im fußballerischen Tun ausgefüllt werden sollte.
»Sayings about Doings« und »praktische Texte«: Das Quellenkorpus Das Materialkorpus setzt sich aus einem breitgefächerten und recht heterogenen Ensemble vorwiegend gedruckter Quellen zusammen. Zwar gibt es zahlreiche Archivalien zum Fußball, doch diese sind für den Untersuchungszeitraum zumeist fragmentarisch überliefert und eignen sich daher nicht für eine systematische Analyse, wie sie für die Fragestellungen der Studie notwendig ist. Während für den ersten Analyseschritt neben der einschlägigen Sekundärliteratur zwei zeitgenössische Periodika, nämlich die Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege (DVöG) und das Militär-Wochenblatt, hinzugezogen wurden, bilden Quellen aus dem Umfeld der Turn-, Spiel- und Sportbewegung eindeutig den Kern des Quellenkorpus. In diesem versammeln sich Periodika, Abbildungen und Anleitungen zum Turnen, Bewegungsund Fußballspiel. Die Funktionen dieser Quellentypen für die Analyse sowie ihre Verwendungsweise werden im Folgenden erläutert. Um die Aushandlungsprozesse der Akzeptabilitätsbedingungen des Fußballs zu rekonstruieren, stehen alle drei Quellentypen gleichberechtigt neben65 | Vgl. zu diesem Gedankengang: Butler, Judith: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a.M. 2001, S. 15-18, Zitat S. 15. 66 | Vgl. zu einer ähnlichen Überlegung aus dem Bereich der Historischen Anthropologie: Tanner, Jakob: Historische Anthropologie, Version 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 03.01.2012. Angabe nach dem PDF. URL: https://docupedia.de/images/e/e8/ Historische_Anthropologie.pdf, letzter Zugriff: 06.05.2015, S. 4. 67 | Lemke, Kritik der politischen Vernunft, S. 266. 68 | Villa, Paula-Irene: Subjekte und ihre Körper, in: Wohlrab-Sahr, Monika (Hg.), Kultursoziologie, S. 251-274, Zitat S. 259.
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einander. Als Periodika sind zunächst die offiziellen Organe der einzelnen Positionen zu nennen. Bereits seit 1856 erschien die Deutsche Turn-Zeitung (DTZ) und seit 1892 veröffentlichten Spielbewegte in eigener Zeitschrift69 und eigenem Jahrbuch.70 Vier Jahre nach der Gründung des Deutschen FußballBundes (DFB) im Jahre 1900 erschien schließlich das erste DFB-Jahrbuch. Alle Formate bieten ein buntes Ensemble von Texten, die u.a. organisatorische Fragen, Modifikationen und Neuerungen betrafen, Regeln erläuterten oder verschiedene Eigenschaften einzelner Praktiken diskutierten. Die Akzeptabilitätsbedingungen des Fußballs wurden jedoch nicht nur in textuellen, sondern auch in visuellen Registern verhandelt. Innerhalb des Feldes gab es – vor allem auf Seiten der Turner – einige Karikaturen, deren Bezugspunkt vor allem der Fußballkörper war. Auch Anleitungen zum Turnen und zum Fußball enthielten Bildquellen. Sie visualisierten Körpertechniken und inszenierten praktikspezifische Körper. Dieser visuelle Teil des Quellenkorpus bietet einen Ansatzpunkt, um bestimmte Facetten jener Aushandlungsprozesse zu rekonstruieren, die sich primär auf den Körper kaprizierten. Sie werden daher nicht auf eine rein illustrative Funktion reduziert, sondern als gleichberechtigter Bestandteil des diskursiven Geflechts betrachtet, denn, so der Sporthistoriker Douglas Booth, »an understanding of sport, which is inextricably tied to corporeality and movement, would be nigh impossible without the testimony of images that appear in numerous media«.71 Im Fokus des Umgangs mit den Bildquellen steht die Frage danach, wie diese Bildquellen praktikspezifische Körperlichkeiten ins Bild setzten. 69 | 1892-1902: Zeitschrift für Turnen und Jugendspiel (Zf TJs); ab 1902: Körper und Geist (KuG). 70 | 1892-1893: Allgemein unterrichtende Mitteilungen des Zentral-Ausschusses; 1894-1895: Jahrbuch für Volks- und Jugendspiele; ab 1896: Jahrbuch für Jugend- und Volksspiele (JfVJ). 71 | Booth, Douglas: The Field. Truth and Fiction in Sports History, London/New York 2006, S. 98f. Ich danke Olaf Stieglitz für den Hinweis auf Booth. Aus der Fülle der deutschsprachigen Sekundärliteratur zu Bildern als historischen Quellen seien an dieser Stelle folgende Titel genannt, die für den Umgang mit den Bildquellen maßgeblich waren: Becker, Frank: Historische Bildkunde – transdisziplinär, in: Historische Mitteilungen 21, 2008, S. 95-110; Jäger, Jens: Fotografie und Geschichte, Frankfurt a.M. 2009; Paul, Gerhard: Visual History, Version 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 29.10.2012. URL: https://docupedia.de/images/c/c2/Visual_History_Version_2.0_Gerhard_Paul.pdf, dort auch weiterführende Literatur; Talkenberger, Heike: Von der Illustration zur Interpretation. Das Bild als historische Quelle, in: ZfH 21, 1994, S. 289-313; Dies.: Bilder als historische Quellen. Zur Methode und Praxis der Interpretation, in: Keck, Rudolf/ Kirk, Sabine/Schröder, Hartmut (Hg.), Bildungs- und kulturgeschichtliche Bildforschung, S. 4-24; Wohlfeil, Rainer: Das Bild als Geschichtsquelle, in: HZ 243, 1986, S. 91-100.
I. »Etwas ganz alltägliches«
Neben den bereits genannten Periodika wurden zwei weitere Typen hinzugezogen: Sportzeitschriften und Vereinsschriften. 1891 erschien der erste Jahrgang der Zeitschrift Spiel und Sport, die allerdings erst ab dem Jahrgang 1893 überliefert ist. Zwischen 1894 und 1903 wurden weitere Zeitschriften gegründet, die mit unterschiedlicher Lebensdauer den Zeitraum bis 1918 abdecken.72 Neben Leitartikeln, Leserbriefen und ähnlichem, in denen auch Stellung zum Bereich der Akzeptabilität bezogen wurde, enthalten die Sportzeitschriften Berichte von Fußballspielen. Solche Spielberichte enthielten auch die Vereinsperiodika. Für die vorliegende Studie wurde das Schrifttum von drei, geographisch relativ weit voneinander entfernten Vereinen untersucht: Altonaer Fußball-Club (AFC) für die Jahre 1915-1916, Berliner Fußball-Club Preußen (BFC) für die Jahre 1905 und 1911-1913 und Kölner Fußball-Club (KFC) für den Zeitraum zwischen 1908 und 1916. Während die Sportzeitschriften der gesamten interessierten Öffentlichkeit zugänglich waren, gingen diese Periodika lediglich Vereinsangehörigen zu. Somit bieten sie – wenngleich nur fragmentarische – Einblicke in die Mikrokosmen zeitgenössischen Vereinslebens. Vorzüge, Relevanz und Bedeutung des Fußballs für die Gegenwart erläuterten auch die Verfasser von Anleitungen – vornehmlich in Vorwörtern und Einleitungen, manchmal aber auch in eigenen Kapiteln. Alle genannten Quellentypen waren also Bestandteil jenes, sich permanent im Fluss befindenden diskursiven Geflechts, innerhalb dessen die Akzeptabilitätsbedingungen des Fußballs ausgehandelt wurden. Periodika und Anleitungen zum Fußball haben in der vorliegenden Studie jedoch nicht nur die Funktion, die Untersuchung der Aushandlungsprozesse zu komplementieren. Vielmehr kommt ihnen eine besondere Bedeutung für die Konturierung des Subjekts des Fußballs zu. Fußballspiele waren, wie bereits bemerkt, prinzipiell öffentlich. Diese Öffentlichkeit stellten vor allem Spielberichte her, die für die vorliegende Studie fruchtbares Quellenmaterial bieten. In der Regel verfasste sie der Kapitän der siegreichen Mannschaft und zwar zumeist wenige Tage nach Spielende.73 Spielberichte sollen jedoch nicht dazu dienen, eine objektive Bestimmung dessen vorzunehmen, was vor über 100 Jahren auf dem Fußballplatz geschah. In Abwandlung eines Diktums des amerikanischen Praxisphilosophen Theodore Schatzki handelt es sich bei die-
72 | Nach Ersterscheinung sortiert: Der Fussball. Zeitung zur Förderung aller athletischen Sports (1894-1896), Deutsche allgemeine Fußball Zeitung (1896), Sport im Bild (1895-1934), Sport im Wort (1899-1915) und Der Rasensport (1903-1929). Ferner erschien im Untersuchungszeitraum auch die Neue Sportwoche (1903-1917), welche jedoch nicht mehr gesichtet werden konnte. 73 | Die allermeisten Spielberichte erschienen weniger als eine Woche nach Spielende.
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Das Subjekt des Fußballs
sen Texten vielmehr um ›sayings about doings‹,74 d.h. textuell verdichtete Verarbeitungen dessen, was auf dem Spielfeld beobachtet worden war. Damit ist eine praktikentheoretische Überlegung für den Umgang mit diesem Quellenmaterial angedeutet. Der 2001 proklamierte ›Practice Turn«75 hat in den letzten Jahren eine fast unüberschaubare Zahl an Monographien, Sammelbänden und vor allem konzeptionell-programmatischen Artikeln gezeitigt. Diese Arbeiten bilden weniger eine »konsensual geteilte ›Praxistheorie‹«, als vielmehr ein »Bündel von Theorien mit ›Familienähnlichkeit‹«.76 Für den Umgang mit dem Quellenmaterial stellen praktikentheoretische Paradigmen »beobachtungsleitende Annahmen« im Sinne einer theoretischen Empirie dar.77 Die – vermutlich banale – Prämisse lautet, dass es sich beim Fußballspiel im Kaiserreich um eine Praktik, d.h. um »organisierte Verkettungen von Aktivitäten und (wieder-)erkennbare[n] Vollzugsformen«78 handelte. Diese organisierten Verkettungen verdichteten die Verfasser von Spielberichten in einer Textform, die sich auf unmittelbar vergangene Beobachtungen fußballerischer Praktiken bezog. Damit bieten diese Texte zwar noch lange keinen unverstellten oder gar objektiven Blick auf fußballerisches Tun im Kaiserreich, dafür aber Rückschlüsse darüber, wie die Zeitgenossen Beobachtungen von Fußballspielen verarbeiteten. Ferner läßt sich anhand der Spielberichte rekonstruieren, wie die Verfasser Fußballspiele in ihren Texten verdichteten, d.h. wie sie dem Spiel in Textform eine (wieder-)erkennbare Gestalt verliehen. Um eine solche (Wieder-)Erkennbarkeit bemühten sich auch die Verfasser von Anleitungstexten zum Fußballspiel. Zwischen 1875 und 1914 erschienen gut vierzig Texte, die ihre Rezipienten dazu anleiten sollten Fußballer zu werden, oder Anleitung zur Anleitung geben sollten. Letzteres betraf vor allem 74 | In seiner Studie Social Practices formuliert Schatzki, dass Praktiken ein »nexus of doings and sayings« seien. Schatzki, Theodore: Social Practices. A Wittgensteinian Approach to Human Activity, Cambridge/New York 1996, S. 89. 75 | Vgl.: Knorr-Cetina, Karin/Schatzki, Theodore/Savigny, Eike von (Hg.), The Practice Turn in Contemporary Theory, London u.a. 2000. 76 | Reckwitz, Andreas: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie 32, 2003, S. 282-301, Zitat S. 284. 77 | Vgl. zum Konzept der theoretischen Empirie den gleichnamigen Sammelband: Kalthoff, Herbert/Hirschauer, Stefan/Lindemann, Gesa (Hg.): Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung, Frankfurt a.M. 2007. Zitat: Kalthoff, Herbert: Einleitung. Zur Dialektik von qualitativer Forschung und soziologischer Theoriebildung, in: Ebd., S. 8-32, hier S. 12. 78 | Brümmer, Kristina: Mitspielfähigkeit. Sportliches Training als formative Praxis, Bielefeld 2015, S. 53. Vgl. für einen umfassenden Einblick in den praxistheoretischen Denkstil und Forschungsstand: Ebd., S. 49-63.
I. »Etwas ganz alltägliches«
Spielesammlungen, die vornehmlich der Spielbewegung zuzurechnen sind. Diese enthielten zum Teil über 100 Spiele und beschrieben, neben vielen anderen Spielen, auch den Fußball. Daneben gab es zahlreiche Texte, die sich ausschließlich dem Fußball widmeten. Möhring, die sich in ihrer Untersuchung zur Nacktkultur im Kaiserreich mit ähnlichen Texten beschäftigte, hat quellenkritisch angemerkt, dass diese »zwar praxisanleitend, aber nicht in der Lage waren, die Körperpraktiken vollständig zu determinieren.«79 Unabhängig davon, dass es zumindest zweifelhaft ist, ob Praktiken überhaupt vollständig determiniert werden können, waren sich auch die Zeitgenossen der Grenzen von Praxisanleitungen bewusst. So strich Friedrich Ernst Clasen, der sich an »solche, welche die Spiele weder können noch kennen« richtete, die ›Übersetzungsprobleme‹ zwischen Text und Tun heraus. »Hinter der Wirklichkeit muß jede Schilderung zurückbleiben«.80 Doch auch wenn sie hinter der Wirklichkeit zurückblieben, gaben sich Clasen und andere dennoch sehr viel Mühe, die Spiele für jene, die sie weder können noch kennen, zu beschreiben; auch wenn diese Texte keine Körperpraktiken determinieren konnten, waren sie praxisanleitend – und deshalb werden die Texte, die sich in diesem Teil des Quellenkorpus versammeln, im Folgenden als Praxisanleitungen bezeichnet. Sie werden als »›praktische‹ Texte« im Sinne Foucaults behandelt. Es handelt sich um »Texte, die Objekt von ›Praktik‹ sind, sofern sie geschrieben wurden, um gelesen, gelernt, durchdacht, verwendet, erprobt zu werden«.81 Sie haben also eine ausgedehnte, dezidiert praktische Dimension, die sich vom Lesen und (Durch-)Denken bis hin zum konkreten Erproben und Anwenden des Gelesenen und Durchdachten aufspannt. Ähnlich wie Foucault, der anhand solcher Texte den Gebrauch der Lüste innerhalb der antiken griechischen Sexualmoral untersucht hat, interessiert der operative Charakter der Praxisanleitungen. Sollten die antiken Texte das Ethos ihrer Rezipienten in ein Verhältnis zu der spezifischen Ordnung der Sexualmoral setzen, so organisierten die Praxisanleitungen das Verhältnis zwischen Rezipienten und Fußballspiel. Sollten die griechischen Texte »es den Individuen erlauben [...], sich über ihr eigenes Verhalten zu befragen, darüber zu wachen, es zu formen und sich selber als ethisches Subjekt zu gestalten«, so sollten die Praxisanleitungen es ihren Rezipienten erlauben, notwendige körperliche Fähigkeiten, Regelwissen und ein Verständnis für die Praktik zu erlangen. In
79 | Möhring, Marmorleiber, S. 46. 80 | Clasen, Friedrich Ernst: Bewegungsspiele im Freien zur Gesundung des Körpers und Erfrischung des Geistes. Für das heranwachsende Geschlecht, Stuttgart 1882, S. 5. 81 | Foucault, Gebrauch der Lüste, S. 20. Vgl.: Möhring, Marmorleiber, S. 46.
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beiden Fällen geht es um ein in Abhängigkeit von spezifischen Ordnungen, auszubildendes Selbst-Verhältnis, d.h. einen Prozess von Selbst-Bildung.82 Praxisanleitungen und Spielberichte ergänzen sich also in der vorliegenden Untersuchung. Zusammengenommen erlauben sie Rückschlüsse auf die Normativität der Praktik und über das anhand dieses normativen Horizonts bewertete Tun von Fußballern. Während das konkrete Tun von Fußballern für Historiker_innen nicht unmittelbar zugänglich ist, kann anhand dieses Quellenmaterials die zeitgenössische Kontur des Subjekts des Fußballs erschlossen werden. In dieser Kontur mochte der Fußballer nicht aufgehen, aber sie bildete den Maßstab, den sich diejenigen, die Fußballer beobachteten oder Individuen zur Teilnahme am Fußball befähigen wollten, zu eigen gemacht hatten – und dieser Maßstab stand, das ist das zentrale Argument, in einer engen Beziehung zu einem bestimmten Raum des Sagbaren.
82 | Vgl. zu diesem Gedankengang explizit: Foucault, Gebrauch der Lüste, S. 20f. Alle Zitate: Ebd.
II. Der Raum des Sagbaren
Rauchende Industrieschlote, übervölkerte Städte, psychische und physische »Degeneration« von Individuen und Kollektiven, »Werteverlust« und »vaterlandslose Gesellen«; Frauen- und Jugendbewegungen, wissenschaftlicher Fortschritt, Wirtschaftswachstum und Kaisertreue; oder aber: Sonderweg, Modernisierung, Verwissenschaftlichung, Kontinuitäten oder Diskontinuitäten. Ein Blick in zeitgenössische Gegenwartsbeschreibungen sowie aktuelle historiographische Arbeiten zeigt diese und eine frappierend hohe Zahl weiterer Charakterisierungen des Untersuchungszeitraums. Wenn eine auch nur annähernd hinreichende Untersuchung der Zeit zwischen 1870 und 1918 in all ihren Facetten überhaupt möglich ist, ginge dies in jedem Fall über den Rahmen dieser Arbeit hinaus. Gleichwohl muss jener Raum bestimmt werden, innerhalb dessen Aussagen zum Für und Wider des Fußballs sowie die Konturierung des Subjekts des Fußballs zeitgenössisch anschlussfähig sein konnten. Mithin ist es nicht notwendig, das Kaiserreich in seiner facettenreichen historischen Gestalt zu untersuchen, sondern zu fragen, an welche Voraussetzungen die Diskursivierung des Fußballs anknüpfen konnte. Grundsätzlich steht dabei die zentrale Frage der Foucault’schen Diskursanalyse im Raum: Wie »kommt es, daß eine bestimmte Aussage erschienen ist und keine andere an ihrer Stelle«?1 Dieser Frage wird in zwei Schritten nachgegangen. Zunächst wird nach den Bedingungen gefragt, innerhalb derer Aussagen zum Fußball plausibel werden konnten. Mithin ist nach der in die »soziale Wirklichkeit« eingeschriebenen »Bandbreite von gesellschaftlichen Bedeutungen, Praktiken, Machtformen und -kämpfen sowie Interessen«2 zu fragen. Diese Bandbreite wird als »Archiv« im Sinne Michel Foucaults untersucht. Damit bezeichnet er zweierlei. Zum einen stellt das Archiv eine Systematik dar, eine Regelhaftigkeit, die »das Erscheinen der Aussagen als einzelne Ereignis1 | Foucault, Michel: Die Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1981, S. 42. 2 | Bublitz, Hannelore: Zur Konstitution von ›Kultur‹ und Geschlecht um 1900, in: Dies./ Hanke, Christine/Seier, Andrea (Hg.), Gesellschaftskörper, S. 19-96, hier S. 20.
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se beherrscht.« Gleichzeitig bildet das Archiv aber auch einen Raum der Verknappung von Aussagen. Es verhindert eine Häufung von Aussagen zu »einer amorphen Vielzahl« und erzeugt die Anordnung von Aussagen zu »distinkten Figuren«.3 Anhand von drei Problematisierungsachsen wird untersucht, wie dieses Archiv als ein Raum des Sagbaren gestaltet war, in welchem Aussagen als Argumente Geltung entfalteten. Im zweiten Schritt wird der Gegenstand des Sprechens fokussiert: bewegte Körper. Hierzu wird untersucht, wie der Körper in das Sprechen eintrat, wie ihn das Archiv als Gegenstand des Sprechens erzeugte und wie die Problematisierung des Einzelkörpers in einen kollektiven Zusammenhang überführt wurde.
1. D rei P roblematisierungsachsen Um den Raum des Sagbaren in seiner Ausdehnung und seiner Grenzen zu bestimmen, wird auf Michel Foucaults Konzept der Problematisierung zurückgegriffen.4 In der Einleitung zu Gebrauch der Lüste hat er die hohe Relevanz dieses Konzepts für seine bisherigen Arbeiten betont.5 Der Begriff bezeichne den Eintritt eines Gegenstandes »in das Spiel des Wahren und Falschen« in welchem er als »Objekt für das Denken« konstituiert wird.6 Denken ist im Sinne Foucaults zum einen »unlösbar an eine historische Konfiguration von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken gekoppelt«. Zum anderen ist es aber – historisch wie gegenwärtig – auch »das Mittel, von sozialen Handlungsroutinen zurückzutreten, um sie in einer Distanzierungsbewegung zu ›problematisieren‹.« Problematisierung bezeichnet also eben »nicht einfache Repräsentationen von konkreten (politischen, ökonomischen etc.) Problemen, sondern […] eine kreative Arbeit, die die Bedingungen definiert, unter denen bestimmte mögliche Antworten ›konstruiert‹ oder ›fingiert‹ werden können.«7 Im Folgenden werden drei Bereiche näher bestimmt, die in den Aushandlungen der Akzeptabilitätsbedingungen des Fußballs einen prominenten Platz hatten: Gesundheit, Männlichkeit und Militärtauglichkeit. 3 | Vgl.: Foucault, Archäologie des Wissens, S. 187-190, Zitate S. 187. 4 | Ich danke Timo Luks, der mich in verschiedenen Gesprächen auf die Relevanz des Problematisierungskonzepts hingewiesen hat. 5 | Vgl.: Foucault, Gebrauch der Lüste, S. 19. Vgl. allgemein zum Konzept der Problematisierung: Lemke, Kritik der politischen Vernunft, S. 340-343; Luks, Timo: Der Betrieb als Ort der Moderne. Zur Geschichte von Industriearbeit, Ordnungsdenken und Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2010, S. 31. 6 | Vgl.: Foucault, Michel: Die Sorge um die Wahrheit. Gespräch mit François Ewald, in: Defert, Daniel/Ewald, François (Hg.), Dits et Ecrits IV, S. 823-836, Zitate S. 825. 7 | Vgl.: Lemke, Kritik der politischen Vernunft, S. 340-343, Zitate S. 341, S. 343.
II. Der Raum des Sagbaren
Alle drei Bereiche werden nicht als objektive Gegebenheiten, sondern in ihrer Ausdehnung untersucht, denn es geht darum die Bedingungen zu bestimmen, innerhalb derer Probleme identifiziert und Lösungen formuliert werden konnten. Daher wird der etwas sperrige Begriff der Problematisierungsachsen gewählt. Sie stellten jeweilige Register bereit, in die jene greifen konnten, die Vorzüge oder Nachteile des Fußballs argumentierten. Zusammengenommen spannten die Achsen jenen Raum des Sagbaren auf, in welchem sich die Diskursivierung des Fußballs vollziehen konnte.
1.1 Gesundheit Die Beschäftigung mit dem Körper und seiner Gesundheit respektive der Abwehr von Krankheit sind keine Erfindungen des 19. Jahrhunderts. Die Frage ist aber nicht die nach einem ›Ursprung‹ des Sprechens über Gesundheit, sondern wie die Zeitgenossen diesen Grenzbegriff, d.h. einen nicht eindeutig definierten Gegenstand, verhandelten. Ein Spezifikum des 19. Jahrhunderts ist fraglos der Bedeutungsgewinn medizinisch-hygienischer Wissenschaften, durch welche auf wissenschaftlichen »Tatsachenblick[en]«8 basierende, quasiobjektive Bestimmungen von Gesundheit Eingang in das Sprechen über diese fanden. Der Bedeutungsgewinn lässt sich u.a. daran ablesen, dass sich Ärzte »in allen Aspekten der Lebensverhältnisse […] als normierende, überwachende Instanzen der Ernährungsgewohnheiten, Wohnungs- und Arbeitsverhältnisse, den vielfältigen Bereichen der Hygiene«9 festsetzten, wie es Gerd Göckenjan formuliert. Diese Aufwertung biologisch-medizinischen Wissens sowie das breite Vertrauen in biologisch-medizinische Zugriffe auf den Körper und die damit verbundenen Lösungsversuche – nicht nur medizinischer, sondern auch sozialer Art – stellten ein Charakteristikum des 19. Jahrhunderts dar. Neben der »Verwissenschaftlichung«10 von Gesundheit ist vor allem der hohe politisch-administrative Aufwand, in welchem Krankheit zu einem ›politischen Problem‹ geriet, spezifisch für das 19. Jahrhundert und das Kaiser-
8 | Vgl. zum ›Tatsachenblick‹ im Kontext der Verwissenschaftlichung des Sozialen grundlegend: Raphael, Lutz: Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: GG 22, 1996, S. 165-193, Zitate: S. 179. Vgl. außerdem: Bonß, Wolfgang: Die Einübung des Tatsachenblicks. Zur Struktur und Veränderung empirischer Sozialforschung, Frankfurt a.M. 1982. 9 | Göckenjan, Gerd: Kurieren und Staat machen. Gesundheit und Medizin in der bürgerlichen Welt, Frankfurt a.M. 1985, S. 26. 10 | Siehe: Raphael, Verwissenschaftlichung des Sozialen.
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reich.11 Die Gesundheitspolitik seit Mitte des 19. Jahrhunderts, aber vor allem die des Kaiserreichs, lässt sich – und hier liegt der Unterschied zu der »Gesundheitspropaganda« des späten 18. Jahrhunderts – als »Medikalisierung« der Gesellschaft beschreiben.12 Mit diesem von Foucault vorgeschlagenen Begriff lassen sich, so Ute Frevert, »all jene Prozesse und Strukturen« erfassen, »die auf die Einbindung von Individuen, Familien, Schichten und Klassen in ein komplexes System medizinischer Strukturen hinzielten.« Es wurden sukzessive »immer mehr Menschen in das Netz medizinischer Versorgung einbezogen« und von staatlich ausgebildeten und geprüften, medizinischen Experten behandelt.13 Diese Experten beließen es aber nicht dabei, lediglich ›am Ende‹ eines Krankheitsverlaufs die Wiederherstellung der Gesundheit zu leisten. Sie forderten seit den 1870er Jahren auch zunehmend die Regierungen auf, sich vor allem dem Schutz der Gesundheit von Arbeitern zuzuwenden.14 Die Gesundheitspolitik des Kaiserreichs zeichnete sich allerdings nicht nur durch dadurch aus, dass sie in erhöhtem Maße Arbeiter fokussierte. Auch die Hinwendung zu einem bestimmten Krankheitsraum, nämlich der Stadt, war in diesem Umfang neuartig. Eigene »Sachverständigenkomittees« stellten Hygieneexperten und Stadtärzte an. Die Städte schufen seit den 1880er Jahren »eigene wissenschaftliche Forschungsanstalten und Untersuchungsämter«.15 Dem Fußball, der genau wie alle anderen Sportarten ein vornehmlich städtisches Phänomen war, schrieben seine Fürsprecher besondere Leistungen für die Gesundheit der städtischen Bevölkerung zu. Beispielsweise war dem DFB-Jahrbuch von 1911 eine Widmung Arthur von Posadowsky-Wehners vorangestellt.
11 | Es gab auch vor dem 19. Jahrhundert Bestrebungen das Verhalten gegenüber Gesundheit und Krankheit politisch und individuell zu gestalten. Johann Peter Franks System einer vollstaendigen medicinischen Policey stellt sicherlich den bekanntesten Versuch einer solchen Gestaltung dieses Verhältnisses dar. Vgl. v.a.: Frevert, Ute: Krankheit als politisches Problem. Soziale Unterschichten in Preußen zwischen medizinischer Polizei und staatlicher Sozialversicherung, Göttingen 1984, S. 21-83; Pieper, Markus: Der Körper des Volkes und der gesunde Volkskörper. Johann Peter Franks ›System einer vollstaendigen medicinischen Policey‹, in: ZfG 46, 1998, S. 101-119. 12 | Vgl. Frevert, Krankheit, S. 21, Zitat ebd. 13 | Vgl.: Ebd., S. 15f., Zitate ebd. 14 | Vgl.: Ebd., S. 234. 15 | Vgl.: Witzler, Beate: Großstadt und Hygiene. Kommunale Gesundheitspolitik in der Epoche der Urbanisierung, Stuttgart 1995, S. 110-122, Zitate S. 110, S. 122.
II. Der Raum des Sagbaren »Schon mehr wie jeder fünfte Deutsche ist ein Großstädter. Wollen wir nicht allmählich ein schwächliches übergeistigtes Stadtvolk werden, so müssen wir […] unseren Körper härten gegen die täglichen stillen Angriffe geistiger und seelischer Überspannung.«16
Während Posadowsky-Wehner in dieser Aussage auf konstitutionshygienische Wissensordnungen zurückgriff, diskutierten die Zeitgenossen Gesundheit und Krankheit bis zur »epidemiologische[n] Wende«17 vor allem anhand von zwei Erklärungsmodellen: Kontagionismus und Miasmatologie. Die Vertreter der Kontagionismus-Theorie gingen von einer Übertragung von Mensch zu Mensch aus. Auf dieser jahrhundertealten Theorie basierten Quarantäne- und Desinfektionsmaßnahmen, mit denen »in früheren Jahrhunderten Pest und Aussatz erfolgreich bekämpft worden«18 waren. Die Grundannahme der Miasmatologie lautete, dass Gifte, die aus dem Boden aufsteigen, Krankheiten verursachen. Daher versuchte man, die unbelebte Umwelt des Menschen vor allem durch assanierende Interventionen umzugestalten sowie den einzelnen Menschen in Form von Appellen zu präventiven Praktiken anzuhalten. Eine solche präventive Praktik sollte auch das Training zum Fußball bilden. Genau wie medizinische Schriften forderten auch Trainingsanleitungen den Einzelnen auf, reinlich zu sein, sich gesund zu ernähren, »Wärme, Licht und gesunde Luft« zu suchen, aber auch mäßig, enthaltsam und sittlich zu leben.19 Allerdings vermochte die Miasmatologie nicht die »Spezifität der Krankheitsursachen und der einzelnen Infektionskrankheiten«20 zu erklären. Dieses Erklärungsdefizit löste die Bakteriologie. Robert Koch gelang es 1882 den Tuberkulose-Bazillus und 1884 den Cholera-Bazillus nachzuweisen. Dadurch konnten einzelne Krankheitsbilder auf jeweils spezifische Ursprünge zurückgeführt werden. Die Krankheitsintervention der Bakteriologie favorisierte kontagionistische Lösungen, d.h. Isolation und Desinfektion. Damit wurde das miasmatische Erklärungsmodell zwar nicht endgültig obsolet, aber an den Rand der medizinisch-biologischen Wissensordnung gedrängt. Die Bakteriologie stieg im Kaiserreich zu einem der zentralen Paradigmen der Medizin 16 | Widmung Posadowsky-Wehners, in: DFB-Jahrbuch 8, 1911, S. 10. 17 | Lengwiler, Martin/Madarász, Jeanette: Präventionsgeschichte als Kulturgeschichte der Gesundheitspolitik, in: Dies. (Hg.), das präventive Selbst, S. 11-28, Zitat S. 18. 18 | Castell Rüdenhausen, Adelheid Gräfin zu: Die ›gewonnenen Jahre‹. Lebensverlängerung und soziale Hygiene. Die Hamburger Cholera-Epidemie von 1892, in: Nitschke, August u.a. (Hg.), Jahrhundertwende, S. 147-175, Zitat S. 148f. 19 | Vgl.: Ebd., Zitat S. 149. Siehe zu Training und Gesundheit ausführlich: Kapitel 5.2. 20 | Labisch, Alfons: Experimentelle Hygiene, Bakteriologie, Soziale Hygiene. Konzeptionen, Interventionen, soziale Träger. Eine idealtypische Übersicht, in: Castell Rüdenhausen, Adelheid Gräfin zu/Reulecke, Jürgen (Hg.), Stadt und Gesundheit, S. 37-47, Zitat S. 39.
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auf, konnte das Gesundheitswesen weitestgehend dominieren und hatte großen Einfluss auf »populäre Vorstellungen von Krankheiten und ihrer Übertragung«.21 Das Popularisierungspotenzial der Bakteriologie lag vor allem in ihrem »kausale[n] Minimalkonzept« sowie ihrem relativ simplen Krankheitsbegriff, der Krankheit auf »unsichtbare Feinde in der Luft«22 zurückführte. Solche Feinde vermuteten Kritiker des Turnens auch im Staub der Turnhallen.23 Die Bakteriologie konnte jedoch nicht die Variabilität der Wirkung von ein und demselben Krankheitserreger erklären. Gerade der Tuberkulose in ihrem individuellen und gleichzeitig epidemischen Verlauf stand sie geradezu hilflos gegenüber.24 Zwar blieb die Bakteriologie eine der zentralen medizinischen Disziplinen des Kaiserreichs, allerdings erwuchsen ihr mit den verschiedenen, um die Jahrhundertwende entstehenden Hygienelehren konkurrierende Modelle, Gesundheit und Krankheit zu denken. Konstitutionshygiene und Soziale Hygiene schlossen das Erklärungsdefizit der Bakteriologie. Erstere entstand in der zweiten Hälfte der 1890er Jahre und ist eng mit dem Prager Hygieneprofessor – und erstem Präsidenten des DFB – Ferdinand Hueppe verbunden.25 Hueppe und andere Konstitutionshygieniker fokussierten sowohl »Regeneration und Degeneration […], deren individuelle wie soziale Faktoren« als auch »die Erhaltung von Art und Rasse.«26 Indem die Konstitutionshygiene ein sehr flexibles und dynamisches Modell von Ursache und Wirkung auf Ebene des Individuums, seiner Umwelt und den Krankheitserregern zugrunde legte, gelang es ihr quasi ohne Erklärungsdefizit den Verlauf und die Ätiologie von Krankheiten zu bestimmen sowie Präventions- und Interventionsmaßnahmen zu entwickeln. Vor allem der immer wieder arti21 | Gradmann, Christoph: Bazillen, Krankheit und Krieg. Bakteriologie und politische Sprache im deutschen Kaiserreich, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 19, 1996, S. 81-94, Zitat S. 84. Vgl. ferner: Berger, Silvia: ›Die Jagd auf Mikrobien hat erheblich an Reiz verloren‹. Der sinkende Stern der Bakteriologie in Medizin und Gesundheitspolitik der Weimarer Republik, in: Lengwiler, Andreas/Madarász, Jeanette (Hg.), das präventive Selbst, S. 87-114, hier S. 88. 22 | Cohn, Ferdinand: Unsichtbare Feinde in der Luft, in: Ders.: Die Pflanze. Vorträge aus dem Gebiete der Botanik, Breslau 1882, S. 463-484, zit. n.: Gradmann, Bazillen, Krankheit und Krieg, S. 84. 23 | Siehe: Kapitel 5.1. 24 | Vgl.: Berger, Jagd auf Mikrobien, S. 92; Labisch, eine idealtypische Übersicht, S. 39f. 25 | Vgl. zu Hueppe: Schnitzler, Thomas: Fußball und Rassenhygiene. Der DFB-Gründungspräsident Ferdinand Hueppe, in: Bouvier, Beatrix (Hg.), Sozial- und Kulturgeschichte des Fußballs, S. 78-119. 26 | Labisch, eine idealtypische Übersicht, S. 40.
II. Der Raum des Sagbaren
kulierte Imperativ einer Stärkung der individuellen Konstitution, bildete im hygienisch geprägten Sprechen über Fußball und Gesundheit eine produktive Referenz. Daher kommt es nicht von ungefähr, dass ein Hygieniker wie Hueppe Funktionär im DFB wurde. Als aktiver Fußballer und Turner, als Mitglied des DFB sowie der Spielbewegung und der DT hatte er seine hygienischen Überlegungen zur Regeneration des Einzelnen und der Nation immer wieder mit rassentheoretischen und -hygienischen Denkmodellen verbunden und auf den sportiv bewegten Körper kapriziert.27 Im Gegensatz zur Konstitutionshygiene, die auf den medizinisch-biologischen Mutterdisziplinen Physiologie und (Mikro-)Biologie beruhte, trat mit der Sozialen Hygiene das Nachdenken über Krankheit und Gesundheit in einen erweiterten Kontext ein. Sie beruhte vor allem auf sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Modellen. Nachdem experimentelle Hygiene, Bakteriologie und Konstitutionshygiene den hohen Einfluss der physischen Umwelt auf die Gesundheit des Menschen in den Vordergrund gerückt hatten, begannen Sozialhygieniker »Krankheiten und Sterblichkeitsrisiken vor allem in ihre[m] gesellschaftlichen Entstehungskontext«,28 d.h. in der sozialen Umwelt, zu suchen. Spezifisch an der sozialen Hygiene war, dass sie nach sozial-statistischen Parametern definierte Gruppen zu ihrem Gegenstand erhob. Neben solchen, die nach soziographischen Daten als besonders gefährdet galten (Alte, Frauen, Kinder, Arbeiter), rückten Krankheitsträger – »etwa Tuberkulöse, Geschlechtskranke, Alkoholiker, Geisteskranke etc.« – in den Blickpunkt des Interesses.29 Einen ganz anderen Ton in der Problematisierung von Gesundheit schlugen Rassenhygiene, Sozialdarwinismus, Eugenik und Degenerationstheorien an. Sie verdichteten sich im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert zu einem heterogenen, diagnostisch-prognostischen Aussagekomplex, in dem Gegenwart und Zukunft wesentlich pessimistischer beurteilt wurden. Die Rassenhygieniker bewerteten die bisherigen, durch die hygienischen Lehren initiierten politisch-administrativen Eingriffe in die mittelbare und unmittelbare Umwelt des Menschen als Hemmung der natürlichen Auslese. Das zentrale Argument von Rassenhygienikern wie Alfred Plötz und Wilhelm Schallmayer bestand in der Annahme, die Erhaltung und Höherentwicklung von Rassen 27 | Vgl. exemplarisch: Hueppe, Ferdinand: Volksgesundheit durch Volksspiele, in: JfVJ 7, 1898, S. 1-23; Ders.: Über Unterricht und Erziehung vom sozial-hygienischen und sozial-anthropologischen Standpunkte, in: Zeitschrift für Sozialwissenschaft 8, 1905, S. 490-549. 28 | Witzler, Großstadt und Hygiene, S. 162. 29 | Vgl.: Labisch, eine idealtypische Übersicht, S. 40f., Zitat S. 41. Ferner: Grotjahn, Alfred: Soziale Pathologie. Versuch einer Lehre von den sozialen Beziehungen der menschlichen Krankheiten auf Grundlage der sozialen Medizin und der sozialen Hygiene, Berlin 1912, S. 14-21.
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sei »durch den humanitären und zivilisatorischen Schutz des Individuums gefährdet«.30 Über das Prinzip der ›Rassenaufartung‹ durch Selektion geriet die Rassenhygiene zu einem Eckpfeiler des zeitgenössischen Sozialdarwinismus, der Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zu einer über Biologie und Medizin hinausreichenden Denkfigur geworden war. Er entwickelte sich zu einer »Kulturtechnologie […], die direkt mit Praktiken der Regulierung der Bevölkerung verkoppelt«31 war; und diese Bevölkerung stellte am Ende des 19. Jahrhunderts in den Augen der Zeitgenossen »qualitativ ein Risiko dar: sie drohte zu degenerieren.«32 In der »zweite[n] Rezeptionsphase« der Morel’schen Degenerationstheorie, die eng mit dem Psychiater Emil Kraepelin verbunden ist, wurde die religiösmoralische Aufladung des Konzepts schließlich in »säkularisierter Form offensiv in die gesundheits- und bevölkerungspolitische Debatte eingebracht«. Geschlechtskrankheiten und der Konsum von Alkohol galten ebenso wie sexuelle Anomalien und (jugendliche) Delinquenz als unmoralische Abweichungen und potenziell vererbbare Dispositionen.33 Durch die Überführung sozialer Phänomene in den Bereich psychisch und biologisch determinierter Unabwendbarkeiten, die durch ihre Erblichkeit mittel- oder langfristig sämtliche Teile der Bevölkerung befallen könnten (und würden), stand die Degenerationstheorie in einem engen Verhältnis zur Rassenhygiene. Letztere forderte die »absehbare erbliche Degeneration […] durch eine gezielte gesellschaftliche« Selektion zu verhindern. Indem sie Gesundheitsgefährdungen in das Erbgut des Individuums verschob, lag die Propagierung eugenischer Interventionsmodelle nahe. Zeitgenössisch verhandelte man Eugenik in zwei Richtungen. Die positive Eugenik propagierte die Förderung derjenigen, die gutes Erbgut in sich trugen; die negative Eugenik, auf der anderen Seite, sah die »Ausschaltung der Träger minderen Erbgutes« vor.34 Gesundheit und Krankheit wurden im Rahmen der jeweiligen Denkmodelle unterschiedlich konzeptualisiert sowie präventiv und interventiv operationalisiert. Eine markante Entwicklung seit Mitte des 19. Jahrhunderts bildete die zunehmend höhere Anschlussfähigkeit des Sprechens über Gesundheit 30 | Bublitz, Hannelore: Die Gesellschaftsordnung unterliegt ›dem Walten der Naturgesetze‹. Sozialdarwinismus als Schnittstelle der Rationalisierung von Arbeit, Bevölkerungspolitik und Sexualität, in: Dies./Hanke, Christine/Seier, Andrea (Hg.), Gesellschaftskörper, S. 236-324, hier S. 259. 31 | Ebd., S. 236. 32 | Etzemüller, Thomas: Ein ewigwährender Untergang. Der apokalyptische Bevölkerungsdiskurs im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2007, S. 29. 33 | Vgl.: Roelcke, Volker: Krankheit und Kulturkritik. Psychiatrische Gesellschaftsdeutungen im bürgerlichen Zeitalter (1790-1914), Frankfurt a.M. 1999, S. 171, Zitat ebd. 34 | Vgl.: Labisch, eine idealtypische Übersicht, S. 41f., Zitate ebd.
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und Krankheit für Popularisierungen außerhalb des medizinischen Kontextes. Ironisierend bemerkte etwa Willy Hellpach: »Die Feuilletonisten überm und unterm Strich […] reden vom Fieber der Spekulation und von Bildungshypertrophie, von einer Goldplethora und von finanziellen Aderlässen, von den verstopften Poren des Volkskörpers und von einer Embolie der Schlagadern des Verkehrs«. 35
Die Popularisierung des Sprechens über Gesundheit und Krankheit lässt sich u.a. darauf zurückführen, dass die primär in den hygienewissenschaftlichen Gesundheitskonzepten aufgerufenen Einflussfaktoren Großstadt und Kultur äußerst anschlussfähig für zivilisationskritische Diskurse waren.36 Des Weiteren bot die Öffnung der Ätiologie von Krankheiten in Richtung der Umwelt des Menschen und des Menschen in der Umwelt zugleich ein größeres Potenzial zur Propagierung einer »Sorge um sich«.37 Indem alle anderen Menschen zugleich jeweils die Umwelt des Individuums bildeten, entfaltete diese Konzeption eine besondere kollektive Wirksamkeit und galt daher auch in nicht-medizinischen, (populär-)wissenschaftlichen Konzepten als bedeutsam. Exemplarisch formulierten die Verfasser einer Broschüre des Norddeutschen Fußball-Verbandes von 1910: »Aus verstaubten, vergrämten, schwachbrüstigen und kränklichen Stubenseelen wollen wir freie, frohe Schönheitssucher, Verehrer der Mutter Natur, ein kraftstrotzendes, selbstbewußtes und starkes Geschlecht erziehen.«38
1.2 Männlichkeit Ähnlich wie Gesundheit stellt auch Männlichkeit einen Grenzbegriff dar. Es war (und ist) nicht klar, was Männlichkeit ist. Das hinderte (und hindert) Zeitgenossen aber nicht, ausführlich über Männlichkeit zu sprechen. Dieses 35 | Hellpach, Willy: Die geistigen Epidemien, Frankfurt a.M. 1906, S. 7. 36 | Vgl. zum Zusammenhang von Gesundheit und Stadt-, Kultur- und Zivilisationskritik u.a.: Lengwiler/Madarász, Präventionsgeschichte als Kulturgeschichte, S. 11-19; Radkau, Joachim: Die wilhelminische Ära als nervöses Zeitalter, oder: Die Nerven als Netz zwischen Tempo- und Körpergeschichte, in: GG 20, 1994, S. 211-241, hier S. 218f.; Roelcke, Krankheit und Kulturkritik; Seier, Andrea: ›Überall Cultur und kein Ende‹. Zur diskursiven Konstitution von ›Kultur‹ um 1900, in: Dies./Bublitz, Hannelore/Hanke, Christine (Hg.), Gesellschaftskörper, S. 112-178, hier S. 124f. 37 | Vgl. ausführlich, wenn auch mit anderem historischen Schwerpunkt: Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit 3. Die Sorge um sich, Frankfurt a.M. 1989, v.a. S. 133-139. 38 | Norddeutscher Fußball-Verband (Hg.): Was wir wollen. Ein Mahn- und Weckruf an Eltern und Behörden, Hamburg 1910, S. 3.
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Sprechen war, im Gegensatz zu dem über Gesundheit, sehr viel ausufernder und geschah zugleich von entschieden verstreuteren Positionen. Daher wird in diesem Teil die Problematisierung von Männlichkeit zunächst in einem sehr speziellen Krankheitsbild, der Neurasthenie, exemplifiziert. Ungefähr zwischen 1880 und dem Ersten Weltkrieg diskutierte man in Publizistik und Wissenschaft ausführlich über Neurasthenie.39 Die diffuse Symptomatik, wie etwa »unangemessene Müdigkeit, Krankheitsängste, diffuse Schmerzen, Schwindel oder sexuelle Funktionsstörungen«, sowie die sehr offene Ätiologie, welche u.a. Urbanisierung, Industriearbeit, das moderne Geschäftsleben und den allgegenwärtigen »Kampf ums Dasein« als Ursachen einführte,40 machten die Neurasthenie zu einem diagnostischen Passepartout. Pointiert fasste Richard Krafft-Ebing 1885 die Allgegenwärtigkeit neurasthenischer Erscheinungen in der »Formel vom ›nervösen Zeitalter‹«41 zusammen, die in unzähligen literarischen, (populär-)wissenschaftlichen und feuilletonistischen Gegenwartsbeschreibungen der Zeit auftaucht.42 Der US-amerikanische Psychiater George Miller Beard hatte in einigen Aufsätzen der späten 1860er die Neurasthenie erstmals als »eigenständige Krankheitseinheit« beschrieben. Seine Monographie zur Neurasthenie, Ame39 | Vgl. zur Neurasthenie: Radkau, die wilhelminische Ära als nervöses Zeitalter, S. 211-241; Ders.: Nationalismus und Nervosität, in: Hardtwig, Wolfgang/Wehler, HansUlrich (Hg.), Kulturgeschichte Heute, S. 284-315; Ders.: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München 1998; Roelcke, Krankheit und Kulturkritik. Für Österreich: Hofer, Hans-Georg: Nervenschwäche und Krieg. Modernitätskritik und Krisenbewältigung in der österreichischen Psychiatrie, Wien 2004. Für Frankreich: Rabinbach, Motor Mensch, S. 182-193. 40 | Vgl. Roelcke, Krankheit und Kulturkritik, S. 113-125, Zitat S. 113. 41 | Ebd., S. 135. 42 | Vgl. u.a.: Baumgarten, Otto: Physische Kraft, in: KuG 14, 1905/1906, S. 129-135; Buttenstedt, Uebertragung der Nervenkraft; Dornblüth, Otto: Gesunde Nerven. Aerztliche Belehrungen für Nervenkranke und Nervenschwache, Rostock 1896; Erb, Wilhelm: Über die wachsende Nervosität unserer Zeit, Heidelberg 1893; Erlass des grossherzoglich hessischen Ministeriums an die Kreisgesundheitsämter vom 18. März 1884 betreffend hygienische Ueberwachung der Schulen, abgedr. in: DVöG 17, 1885, S. 336337; Gebhardt, Willibald: Wie werde ich energisch? Allgemeine Psychogymnastik und spezielle Boulogymnastik. Eine vollständige Anleitung zur Selbsterziehung zu Energie und Tatkraft, 2. verm. u. verb. Aufl., Leipzig o.J. [1900]; Hosaeus, A.: Die Ueberbürdung der Jugend mit Schularbeiten, in: DVöG 13, 1881, S. 533-542; Jaeger, H.: Schulhygienische Untersuchungen zur Beurtheilung der Ueberbürdungsfrage, in: DVöG 26, 1894, S. 563-583; Pel, Pieter: Über die Kunst gesund und glücklich zu leben und Krankheiten zu verhüten. Rede gehalten am 270. Stiftungstage der Universität Amsterdam, übers. v. Albrecht Rosenstein, 3. unveränd. Abdr., Jena 1903.
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rican Nervousness von 1880, erschien bereits ein Jahr später in deutscher Übersetzung.43 In ihrer spezifisch deutschen Rezeption galt Neurasthenie als Degenerationsphänomen und geriet somit zu einer kollektiven Bedrohung – und bedroht waren in erster Linie bürgerliche Männer, da sie den als ursächlich konzipierten Einflüssen der Moderne als am unmittelbarsten ausgesetzt galten. Eine der Wirkungen dieser Krankheit vermuteten Zeitgenossen in »der Zunahme an ›leichten Geschlechtsstörungen‹ und der daraus abgeleiteten progressiven Verschlechterung der [männlichen] Fortpflanzungsfähigkeit beziehungsweise des Erbguts, die zur These der ›Degeneration‹ und ›Entartung‹ der Kultur um 1900 zugespitzt«44 wurde. Damit stellte man die Männlichkeit neurasthenischer Männer in Frage, gründete doch die »Substanz von Männlichkeit« im »Geschlechtsakt«.45 Die Substantialität der Männlichkeit im Geschlechtsakt zu vermuten verweist auf ihre Verortung in der Matrix der Geschlechter, wie sie Judith Butler beschrieben hat. Die Geschlechterdifferenz wird in einer zweidimensionalen Matrix erzeugt, die sich über die Achsen Geschlechterordnung und Geschlechterbeziehung aufspannt. Obwohl sie potenziell beliebig viele Kombinationsmöglichkeiten zuließ, verstetigten sich die Verweisverhältnisse zwischen den Elementen in eine bestimmte Richtung: die binäre Geschlechterordnung, in der die Elemente männlich und weiblich die – vermeintlich – einzige Möglichkeit der Zuordnung bilden, sowie die heterosexuelle Paarbeziehung, die den normativen Wert der Qualifizierung jeglicher Form zwischenmenschlicher Beziehungen bildet.46 In Butlers Theoriebildung ist diese Verstetigung jedoch keineswegs zufällig gedacht. Mit ihrem Konzept der Performanz, beziehungsweise der »Performativität diskursiver Praktiken«,47 unterstreicht sie die Machtgebundenheit der Produktion von Geschlechtern und Geschlechterbeziehungen. Paradigmatisch lässt sich das an der Neurasthenie zeigen. Im
43 | Vgl.: Roelcke, Krankheit und Kulturkritik, S. 112, Zitat ebd. 44 | Bublitz, Konstitution von ›Kultur‹ und ›Geschlecht‹, S. 49. Vgl. zur Korrespondenz von Neurasthenie und Degeneration ferner: Stoff, Heiko: Degenerierte Nervenkörper und regenerierte Hormonkörper. Eine kurze Geschichte der Verbesserung des Menschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Historische Anthropologie 11, 2003, S. 224-239, hier S. 224. 45 | Frevert, Ute: ›Mann und Weib‹ und ›Weib und Mann‹. Geschlechterdifferenzen in der Moderne, München 1995, S. 32. 46 | Vgl.: Bublitz, Hannelore: Judith Butler. Zur Einführung, 3. Aufl., Hamburg 2010, S. 66-70. 47 | Krämer, Felix/Mackert, Nina: Wenn Subjekte die Krise bekommen. Hegemonie, Performanz und Wandel am Beispiel einer Geschichte moderner Männlichkeit, in: Landwehr, Achim (Hg.), Diskursiver Wandel, S. 265-279, Zitat S. 269.
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Sprechen über die Neurasthenie verband man die Formel des ›nervösen Zeitalters‹ permanent mit einer befürchteten Erosion von Männlichkeit. Um die Selbst- und Fremdverortung innerhalb dieser Klassifikationen gezielter in den Blick nehmen zu können, sind zwei Fragen hilfreich. Wie wurden Männer in einer spezifischen historischen Konfiguration als Männer (an-) erkennbar? Wie kann man die Selbstbildung von Männern analytisch fassen? Zu beiden Fragen haben George Mosse48 und Raewyn Connell49 Vorschläge gemacht. Mosse geht davon aus, dass Maskulinität eine Konstruktion sei, die sich parallel zur bürgerlichen Gesellschaft entwickelt habe. Er argumentiert mit einer doppelten Konstruktionsleistung. Zum einen habe sich Männlichkeit an einer bestimmten Norm ausgerichtet und sich zum anderen durch Abgrenzung von – an der Norm gemessenen und dadurch als deviant erkannten – Antitypen bezeugt.50 Connells Konzept der hegemonialen Männlichkeit erlaubt es, Männlichkeiten und ihre Veränderungen sowohl auf diachroner als auch auf synchroner Ebene einzufangen. Auf diese Weise gerät analytisch das in den Blick, was Definitionen und Annäherungen an Männlichkeit für das 19. Jahrhundert »so schwierig macht: das Spannungsverhältnis zwischen sogenannten urmännlichen Eigenschaften wie Körperkraft und Tapferkeit […] und der großen Skala bestimmter Haltungen und Einstellungen, die erwachsenen Männern darüber hinaus zugeschrieben wurden.«51 Connell entwickelt einen allgemeinen analytischen Rahmen »verschiedene Arten von Männlichkeit zu unterscheiden und ihre Veränderungsdynamik zu begreifen«.52 Hegemoniale Männlichkeit stellt dabei eine je zeit- und raumgebundene »Form von Männlichkeit [dar], die 48 | Mosse, George: Das Bild des Mannes. Zur Konstruktion der modernen Männlichkeit, Frankfurt a.M. 1997. 49 | Connell, Robert: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, 3. Aufl., Wiesbaden 2006. Robert Connell hat mittlerweile das biologische Geschlecht gewechselt und heißt nun Raewyn. Da das verwendete Werk aber noch unter ihrem früheren Namen erschienen ist, verwende ich für die Bibliographie ihren vorherigen Namen, im Fließtext jedoch jenen Vornamen, den sie sich mittlerweile gegeben hat. 50 | Vgl.: Mosse, Bild, S. 27-54, 79-106. Problematisch an Mosses Arbeit ist seine Annahme eines zu statischen männlichen Stereotyps. Vgl. zur Kritik: Frevert, Ute: Das maskuline Stereotyp. George L. Mosse entwirft ein allzu statisches Bild des Mannes, in: Die Zeit 26, 1997, URL: www.zeit.de/1997/26/Das_maskuline_Stereotyp, letzter Aufruf: 22.08.2013; Martschukat, Jürgen/Stieglitz, Olaf: Geschichte der Männlichkeiten, Frankfurt a.M. 2008, S. 64-73. 51 | McMillan, Daniel: ›… die höchste und heiligste Pflicht‹. Das Männlichkeitsideal der deutschen Turnbewegung 1811-1871, in: Kühne, Thomas (Hg.), Männergeschichte, S. 88-100, Zitat S. 95. 52 | Connell, Mann, S. 87.
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in einer gegebenen Struktur des Geschlechterverhältnisses die bestimmende Position einnimmt, eine Position allerdings, die jederzeit in Frage gestellt werden kann.«53 Ihre Entstehung beschreibt Connell in einer doppelten Abgrenzung. Erstens grenzt sie sich vom Weiblichen als biologisch eindeutig anderem – ähnlich wie bei Butler – ab. Zweitens distanziert sie sich von ›biologisch identischen‹, aber als Form devianten, marginalisierten Männlichkeiten (beispielsweise Homosexuelle, ›Effeminierte‹, Dandys) – ähnlich wie bei Mosse.54 Die hegemoniale Männlichkeit des Kaiserreichs beruhte auf der biologischen Fundierung des zweigeschlechtlichen Modell.55 Diese war ein bedeutsamer Effekt des bereits beschriebenen Aufstiegs medizinisch-biologischer Wissensordnungen im Laufe des 19. Jahrhunderts. Mit dem zunehmenden Prestige und dem Anwachsen der Deutungsmacht dieser Wissensordnungen ging eine »Biologisierung des Menschen«56 einher. Diese gestattete eine Komplexitätsreduktion der Frage nach dem Geschlecht. Indem man das Geschlecht auf eine »biologische Materialisierung des Sozialen im Körper«57 reduzierte, konnte die seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert innerhalb der Figur des ›Geschlechtscharakters‹58 konzipierte Geschlechterdifferenz vereinfacht und gleichzeitig in eine zeitgenössisch ›glaubhafte‹ Wissensordnung überführt werden. Mit der Naturalisierung der Geschlechterunterschiede und der Annahme einer biologischen Grundsubstanz, ging eine »Dichotomisierung und Polarisierung der Geschlechter« einher, in welcher vor allem »Differenz betont und auf allen Ebenen der psychischen, geistigen und sozialen Organisation nachgezeichnet«59 wurde. Durch die Verwissenschaftlichung und Naturalisierung der Geschlechterunterschiede konnten Normalität und Abweichungen beobachtbar gemacht werden. Die heteronormative Geschlechtermatrix fand auch außerhalb der wissenschaftlichen Fachdiskurse ihren Niederschlag. Die beiden wichtigsten Orte der Erzeugung und Reproduktion hegemonialer Männlichkeit waren si53 | Ebd., S. 97. 54 | Vgl.: Ebd., S. 88, S. 99f. 55 | Vgl. u.a. Brunotte, Ulrike: Zwischen Eros und Krieg. Männerbund und Ritual in der Moderne, Berlin 2004; die Beiträge in: Bublitz (Hg.), Geschlecht der Moderne; Dies./ Hanke/Seier (Hg.), Gesellschaftskörper; Frevert, Mann und Weib. 56 | Vgl.: Schott, Heinz: Zur Biologisierung des Menschen, in: Bruch, Rüdiger vom/Kaderas, Brigitte (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik, S. 99-108. 57 | Bublitz, Hannelore: Einleitung, in: Dies./Hanke, Christine/Seier, Andrea (Hg.), Gesellschaftskörper, S. 10-18, hier S. 15. 58 | Vgl.: Frevert, Mann und Weib, S. 51. 59 | Ebd., S. 51f.; vgl. ferner: Bublitz, Hannelore: Einleitung, in: Dies. (Hg.), Geschlecht der Moderne, S. 9-25; Dies.: Das Geschlecht der Moderne. Genealogie und Archäologie der Geschlechterdifferenz, in: Ebd., S. 26-48.
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cherlich die Schule und das Militär.60 Doch auch im Theater thematisierte man anhand verschiedener Mann-Frau-Konstellationen – Judith und Holofernes, Salome und Johannes der Täufer, Ödipus und die Sphinx, Simson und Delila – hegemoniale und marginalisierte Männlichkeiten.61 Ferner stilisierten sich Ingenieure zu Männern der Tat,62 wurde die Kleidung auf eine spezifische Weise geschlechtlich codiert,63 entwarf und stilisierte die Nacktkultur einen spezifischen Männerkörper64 und geriet der Fußball seinen Befürwortern zu einer Arena der praktischen Modellierung von Männlichkeit.65 Als ›Kampfspiel‹ formte er beispielsweise für Carl Diem die Projektionsfläche für eine Vision zukünftiger Männlichkeit. »Der im Kampfe entwickelte Mann, der starkgliedrige, der mutige, der vornehm denkende, der kann Träger vorwärtsschreitender Kultur werden.«66 Die Problematisierungsachsen »Männlichkeit« und »Gesundheit« überschnitten sich deutlich. Schließlich war die Naturalisierung der Geschlechterunterschiede eng mit der Biologisierung des Menschen verbunden und bildete die Grundlage des zeitgenössischen Kriterienbündels hegemonialer Männlichkeit. Gleichzeitig beruhte die Problematisierung von Männlichkeit, ähnlich wie die der Gesundheit, nicht nur auf biologisch-medizinischen Wissensordnungen, sondern reichte über diese hinaus. Geschlecht verhandelten die Zeitgenossen zugleich in kulturellen und sozialen Registern. Im Unterschied zur Gesundheit konnte das Sprechen über Männlichkeit und Weiblichkeit schwerlich auf statistischen Erhebungen auf bauen. Anhand der Neurasthenie als spezifisch männlich codierter Krankheit wird deutlich, wie trotz des Mangels an ›statistischen Beweisen‹ eine vermeintliche Gefährdung von Männlichkeit durch Modernisierungsprozesse konzipiert und in ihrer Allgegenwärtigkeit als besonders bedrohlich propagiert werden konnte. 60 | Vgl.: Dinges, Martin: ›Hegemoniale Männlichkeit‹ – ein Konzept auf dem Prüfstand, in: Ders. (Hg.), Männer, Macht, Körper, S. 7-33, hier S. 19. 61 | Vgl.: Croitoru, Joseph: Zwischen Übermacht und Ohnmacht: Die Figur Simsons in der deutschen, völkischen und zionistischen Literatur um 1900 als Medium des kulturpolitischen Kampfes um hegemoniale Männlichkeit, in: Brunotte, Ulrike/Herrn, Alexander (Hg.), Männlichkeiten und Moderne, S. 207-218. 62 | Vgl.: Paulitz, Tanja: Kämpfe um hegemoniale Männlichkeit in der Ingenieurkultur um 1900, in: Brunotte, Ulrike/Herrn, Alexander (Hg.), Männlichkeiten und Moderne, S. 257-270. 63 | Brändli, Sabina: ›…die Männer sollten schöner geputzt sein als die Weiber‹. Zur Konstruktion bürgerlicher Männlichkeit im 19. Jahrhundert, in: Kühne, Thomas (Hg.), Männergeschichte, S. 101-118. 64 | Möhring, Maren: Der moderne Apoll, in: WerkstattGeschichte 29, 2001, S. 27-42. 65 | Siehe Kapitel 6.2. 66 | Diem, Carl: Ist Sport Kultur?, in: DFB-Jahrbuch 10, 1913, S. 40-43, Zitat S. 43.
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1.3 Militärtauglichkeit Ute Frevert hat darauf aufmerksam gemacht, dass das Militär im Kaiserreich als »Schule der Männlichkeit« galt.67 Die Problematisierung der Militärtauglichkeit überschnitt sich also insofern mit der der Männlichkeit, als dass untaugliche Männer diese ›Schule‹ nicht absolvieren konnten. Gleichzeitig überschnitt sie sich mit der Problematisierung der Gesundheit. Sie galt zeitgenössisch als »bester Maßstab dafür, ob ein junger Mann sich einer normalen Gesundheit erfreut«.68 Da nahezu alle deutschen Männer im Alter zwischen 20 und 22 Jahren die Musterung zur Militärtauglichkeit durchlaufen mussten, war eine qualitative Erhebung über diese definierte statistische Grundgesamtheit in einem Umfang möglich, wie sie für keinen anderen Bereich der Bevölkerung hätte durchgeführt werden können. Die Musterung war der Ort der Vermessung der Bevölkerung und damit der Nation als solcher«.69 Weder erlaubten Volkszählungen qualitative Aussagen über die physische Durchschnittsbeschaffenheit der Bevölkerung, noch vermochten die Schulen wirklich aussagekräftige und vergleichbare Zahlen über die Schulgesundheit für das gesamte Kaiserreich zu liefern. Die betreffenden Zahlen wurden immer nur regional erhoben und dann auf die Gesamtbevölkerung hochgerechnet. Der Unterschied zu den beiden vorherigen Problematisierungen besteht also darin, dass Militärtauglichkeit keinen Grenzbegriff bildete, sondern über messende Verfahren definiert war. Bei der Musterung ordnete man die jungen Männer auf einer vierstufigen Skala der Tauglichkeit ein. Zu den für die Tauglichkeit noch akzeptablen Abweichungen von der Norm zählten u.a. »kleine Geschwülste, Schielen und Kurzsichtigkeit geringen Grades, […] unbedeutende Bruchanalage, Breitfüßigkeit, sog. X Beine [und] unausgebildete Plattfüßigkeit.« Männer mit virulenteren körperlich-geistigen Abweichungen wurden absteigend als bedingt tauglich (u.a.: »stärkeres Schielen, mäßiger Grad von Schwerhörigkeit, Mangel bestimmter Zähne, stärker ausgebildeter hohler Rücken«), zeitig unbrauchbar 67 | Frevert, Ute: Das Militär als ›Schule der Männlichkeit‹. Erwartungen, Angebote, Erfahrungen im 19. Jahrhundert, in: Dies. (Hg.), Militär und Gesellschaft, S. 145-173. Siehe auch, in konzeptioneller Erweiterung auf Männlichkeiten: Frevert, Ute: Das Militär als ›Schule der Männlichkeiten‹, in: Brunotte, Ulrike/Herrn, Alexander (Hg.), Männlichkeiten und Moderne, S. 57-75. 68 | Hasemann, P.: Die Ueberbürdung der Schüler in den höheren Lehranstalten Deutschlands mit Beziehung auf die Wehrhaftigkeit des Deutschen Volkes, 2. Aufl., Straßburg 1884, S. 7; Vgl. ferner: Grotjahn, soziale Pathologie, S. 658. 69 | Vgl. hierzu und einschlägig für den folgenden Zusammenhang zwischen Musterung und der qualitativen Beschreibung von Bevölkerung: Hartmann, Volkskörper bei der Musterung, Zitat ebd., S. 16.
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(u.a.: »chronische Entzündungen des Auges, des Gehörs, der Haut, Balg- u. Fettgeschwülste an bestimmten Stellen«) und dauernd untauglich (»schwerere Leiden und deren Folgen, welche den Gebrauch einzelner oder mehrerer Sinne oder Glieder beeinträchtigen«) innerhalb des Tableaus gesunder militärischer Männlichkeit eingeordnet.70 Die tauglichen Rekruten bildeten die Teilmenge der Wehrfähigen. Statistiker, (Rassen-)Hygieniker, Militärangehörige, Politiker und andere erhofften sich über Extrapolationen der gesammelten Daten zur Wehrfähigkeit und -unfähigkeit Aufschlüsse über die qualitative Beschaffenheit der Grundgesamtheit ›männliche Bevölkerung‹. Diese qualitative Beschaffenheit der Grundgesamtheit bezeichneten die Zeitgenossen als Wehrkraft. Die Wehrkraft »beruht heute auf dem Volke selbst, auf der Zahl seiner streitbaren Männer und auf deren körperlicher, sittlicher und intellektueller Kraft.«71 Zunahme oder Abnahme von Militärtauglichkeit, Wehrkraft oder Wehrfähigkeit bildeten zeitgenössische Streitpunkte, die in Bezug auf Schulreformen,72 Großstadtkritik,73 den Wandel des Kaiserreichs vom Agrar- zum Industriestaat74 oder die Valenz statistischer Erhebungsmethoden75 verhandelt wurden. Ein prominentes Beispiel, in dem sich die beiden letzteren Aspekte verbanden, bildete die Debatte über die Tauglichkeit ländlicher und städtischer Rekruten. Auf der einen Seite standen diejenigen, die den Transformations70 | Vgl. zu den Stufen der Tauglichkeit: Bindewald, Georg: Die Wehrfähigkeit der ländlichen und städtischen Bevölkerung, Halle/Saale o.J. [1901], S. 5f. sowie die Fußnoten 1, 2 und 3 auf diesen Seiten. Die Beurteilungskataloge variierten ein wenig. Vgl. dazu: Blau: Rekrutentraining, in: Militär-Wochenblatt 94, 1909, Sp. 2971-2976; Sp. 29993004. Das Prinzip der Einordnung auf einem Tableau qua körperlicher Beschaffenheit blieb aber bestehen. 71 | o.A.: Die Grundlagen unserer Wehrkraft, in: Militär-Wochenblatt 84, 1899, Sp. 1529-1535, hier Sp. 1531. 72 | Vgl. zur Schulreform u.a.: Petermann, F.A.: Die Schäden, hervorgerufen durch unsere heutige Schulbildung, und Vorschläge zu ihrer Abhilfe. Ein Mahnwort an Eltern und Lehrer, Braunschweig 1881; o.A.: Zur Reform der humanistischen Gymnasien, vom militärischen Standpunkt betrachtet, in: Militär-Wochenblatt 75, 1890, Sp. 512-514; o.A.: Nochmals über ›Militärische Jugenderziehung‹, in: Militär-Wochenblatt 78, 1893, Sp. 197-200, hier Sp. 200, sowie: Stübig, Heinz: Bildung, Militär und Gesellschaft in Deutschland. Studien zur Entwicklung im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1994. 73 | Vgl.: Witzler, Großstadt und Hygiene, S. 164. 74 | Vgl.: Saul, Klaus: Der Kampf um die Jugend zwischen Volksschule und Kaserne. Ein Beitrag zur ›Jugendpflege‹ im Wilhelminischen Reich 1890-1914, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 9, 1971, S. 97-143, hier S. 97f. Vgl. ferner: o.A., Nochmals über ›Militärische Jugenderziehung‹; Bindewald, Wehrfähigkeit der ländlichen und städtischen Bevölkerung, S. 29f. 75 | Vgl.: Hartmann, Volkskörper bei der Musterung, S. 48-58.
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prozess des Kaiserreichs von einem Agrar- zu einem Industriestaat zwar als durchaus problematisch, aber eher optimistisch betrachteten. Allen voran Lujo Brentano, sein Schüler Robert Kuczynski76 und andere Vertreter des liberalen Flügels im Verein für Socialpolitik. Auf der anderen Seite fanden sich jene zusammen, die kultur-, zivilisations- und großstadtkritische Haltungen gegenüber diesem Prozess teilten. Dazu zählten Vertreter des protektionistischen Flügels, wie Max Sering und Johannes Conrad, Rassentheoretiker, wie Otto Amon, sowie weite Teile des Militärs.77 Neben ihren Überschneidungen mit Gesundheit und Männlichkeit ließ die Problematisierung der Militärtauglichkeit ferner einen ›eigenen‹ Gegenstand in das Sprechen eintreten: den zu formenden Rekruten. Es galt als nicht ausreichend, nur tauglich für den Militärdienst zu sein. Eine Ausbildung des Rekruten zum Soldaten war unabdingbar und die Charakteristika dieses Soldaten verschoben sich. Mit den um 1900 zutage tretenden Veränderungen des Krieges ging eine signifikante Verschiebung der Konzeption des idealen Soldaten einher. Militärtechnische Entwicklungen, allen voran das »rauchschwache Pulver«78 und das Maschinengewehr,79 erforderten in den Augen der Militärs nun nicht mehr einen Soldaten, der auf Kommando gehorchte. Stattdessen trat der disziplinierte, aber gleichzeitig zu selbstständigem Handeln befähigte Soldat in das Sprechen ein. Diese Gleichzeitigkeit von Disziplin und Selbstständigkeit bildete dabei eine Einheit und geriet seit dem zweiten Burenkrieg (1899-1902) zunehmend in den Fokus. In seiner Studie über die seelischen Werte im Frieden und im Kriege situierte Ernst van den Bergh 1906 die »Wandlungen der Kriegsführung« als Voraussetzung für eine »Wandlung des Begriffs der ›Disziplin‹«. Es sei nicht mehr das Kommando der Offiziere, welches in »einem künftigen Kriege« die Schlacht prägen würde, sondern der einzelne Soldat. »Wir brauchen heutzutage keine Soldaten, die nur willenlos und unbe76 | Vgl. deren Publikation: Brentano, Lujo/Kuczynski, Robert: Die heutige Grundlage der deutschen Wehrkraft, Stuttgart 1900. 77 | Vgl. für letztere u.a.: Blume, W. von: Die Grundlagen unserer Wehrkraft, Berlin 1899; Bs.: Wehrkraft und Jugenderziehung, in: Militär-Wochenblatt 86, 1901, Sp. 2838-2840; Roon, W. von: Turnen und Militärdienst, in: Militär-Wochenblatt 94, 1909, Sp. 2453-2457; o.A.: Wehrkräftige Jugend!, in: Militär-Wochenblatt 96, 1911, Sp. 635641; Sp. 670-674; dezidiert rassenhygienisch: Münter, Max: Offizierskorps und Körperkultur, in: Militär-Wochenblatt 98, 1913, Sp. 3125-3132. 78 | Allein im Militär-Wochenblatt von 1890 finden sich zehn Artikel über das neue Pulver. Zuvor konnten die Schützenlinien durch die über ihnen befindlichen Rauchschwaden leicht verortet werden. 79 | Vgl.: Eisenberg, Fußball in Deutschland, S. 206. Zeitgenössisch: Btz.: Das neue Exerzir-Reglement und die Schulreform. Eine vergleichende Studie, in: Militär-Wochenblatt 76, 1891, Sp. 113-118, hier Sp. 116.
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dingt ihren Führern gehorchen, wir brauchen selbstbewußte, die im Interesse des Ganzen ihre ganze Intelligenz und ihre ganze Persönlichkeit einsetzen«. Zur Ausbildung solcher Soldaten müsse man »größten Wert auf die Disziplin legen«. Damit sei aber keineswegs »Dressur«, sondern die Gleichzeitigkeit von Unterordnung und Selbstständigkeit gemeint.80 Van den Berghs Ausführungen sind indikativ für Verschiebungen innerhalb der zeitgenössischen Konzeptionen des Kriegsgeschehens.81 Johann von Bloch hatte diese Veränderungen 1899 zum Gegenstand seiner sechsbändigen Arbeit über den zukünftigen Krieg gemacht. Dem ersten Band über den Kriegsmechanismus schickte er voraus, dass es nahezu unmöglich sei den zukünftigen Krieg vorherzusagen. »Ein völliges Verstehen der Kriegsverhältnisse ist jetzt um so schwieriger, als man einerseits Angriffs- und Abwehrmittel einsetzen wird, deren Wirkung praktisch noch nicht erprobt ist, und man andererseits die Kriegführung auch nicht mehr als etwas rein mechanisches ansehen kann wie früher«. 82
Der zweite Burenkrieg sowie der russisch-japanische Krieg (1904-1905) erlaubten europäischen Militärs und einer breiten Öffentlichkeit diese Wirkungen einzuschätzen.83 Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen maß man dem einzelnen Soldaten eine zunehmend erhöhte Bedeutung bei. Die Neuen Militärischen Blätter zogen den Burenkrieg als Beweis heran, dass die »Selbstständigkeit und die Tüchtigkeit des einzelnen Mannes [...] nunmehr im Vordergrund«84 80 | Alle Zitate: Bergh, Ernst van den: Die seelischen Werte im Frieden und im Kriege. Eine Studie, in: Militär-Wochenblatt, Beiheft 6, 1906, Sp. 205-236, hier: Sp. 233f. 81 | Der zu diesem Aspekt angekündigte Sammelband von Stig Förster (Förster, Stig (Hg.): Vor dem Sprung ins Dunkle. Die militärische Debatte über den Krieg der Zukunft 1880-1914, Paderborn 2015) ist bei Fertigstellung dieser Studie leider noch nicht erschienen. 82 | Bloch, Johann von: Der zukünftige Krieg in seiner technischen, volkswirtschaftlichen und politischen Bedeutung. Bd. 1: Beschreibung des Kriegsmechanismus. Aus dem russischen übersetzt, Berlin 1899, S. XX; Vgl. dazu: Bender, Steffen: Der Burenkrieg und die deutschsprachige Presse. Wahrnehmung und Deutung zwischen Bureneuphorie und Anglophobie, 1899-1902, Paderborn u.a. 2009, S. 86f. 83 | Über beide Kriege wurde in der Tagespresse ausführlich berichtet. Vgl. zum Burenkrieg: Bender, Burenkrieg, v.a. S. 24-48; zum Russisch-japanischen Krieg: Gassert, Philipp: ›Völker Europas, wahrt eure heiligsten Güter‹: Die Alte Welt und die japanische Herausforderung, in: Löwe, Heinz-Dietrich/Seifert, Wolfgang/Sprotte, Maik Hendrik (Hg.), der russisch-japanische Krieg, S. 277-293, hier S. 289. 84 | o.A.: Der Angriff der Infanterie nach den Erfahrungen des Burenkrieges, in: Neue Militärische Blätter 60, 1902, S. 426-443, zit. n.: Bender, Burenkrieg, S. 97. Vgl. ferner:
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stünde. Verschiedene Akteure innerhalb der Spielbewegung propagierten vor genau diesem Hintergrund die Bewegungsspiele. Koch führte dies in einem Referat Über die Erziehung zur Selbstständigkeit auf dem Siebenten Deutschen Kongreß für Volks- und Jugendspiele aus. »Unsere Militärs fordern nach den Erfahrungen des russisch-japanischen Krieges, wie nach denen des Burenkrieges und auch unseres südwestafrikanischen Feldzuges, mit derselben Entschiedenheit, daß unsere Jugend mehr zur Selbstständigkeit erzogen wird.« Diese Erziehung sei vor allem angesichts technischer Entwicklungen notwendig. Zum Beweis führte er das »rauchlose Pulver« und die »Tragweite der neuen Schusswaffen« an, die eine Veränderung der modernen Kriegsführung nach sich gezogen hätten.85 Wesentliches Merkmal dieser Veränderungen war die Fokussierung auf den einzelnen Soldaten. Darauf hatte von Bloch in seinen Prognosen über den Artillerie- und Infanteriekrieg bereits hingewiesen. Die technischen Veränderungen auf diesen Gebieten der Landkriegsführung erhöhten seiner Ansicht nach die »Anforderungen an die Ausbildung des einzelnen Mannes«.86 In dem Band zum Landkrieg spitzte von Bloch diese Einschätzungen zur Ausbildung des einzelnen Soldaten zu. »Die Verwandlung des einzelnen Soldaten in einen Mechanismus, der sich nur auf das für die ganze Reihe der Kolonne gemeinsame Kommando bewegt [, ...] [verdient] gegenwärtig um so mehr Tadel, als die Erreichung dieses Zieles jetzt für unnütz und sogar schädlich gilt. [...] Im Angesichte des Feindes ist die geschlossene Formation nicht denkbar.« 87
Die Problematisierung der Militärtauglichkeit individuierte um 1900 angesichts militärischer Entwicklungen den einzelnen Soldaten, machte ihn sichtund notwendig bearbeitbar. Sie setzte, ähnlich wie die Problematisierungen von Gesundheit und Männlichkeit, einen Fixpunkt, von dem aus der Einzelne Reichenau, Ernst von: Die wachsende Feuerkraft und ihr Einfluß auf Taktik, Heerwesen und nationale Erziehung, Berlin 1904, S. 129f. 85 | Vgl.: Koch, Konrad: Über die Erziehung zur Selbstständigkeit. Vortrag gehalten auf dem siebten Kongress für Volks- und Jugendspiele 1905, abgedr. in: Raydt, Hermann: Siebenter Deutscher Kongreß für Volks- und Jugendspiele vom 15. bis 18. September 1905 zu Frankfurt a.M. Reden und Verhandlungen, in: KuG 14, 1905/1906, S. 193292, hier: S. 213-222, Zitate S. 214f. Inwieweit der Völkermord an den Herero, den Koch als »unseren südwestafrikanischen Feldzug« euphemisiert, die Notwendigkeit einer Erziehung zur Selbstständigkeit deutlich machen konnte, ist mir im Übrigen völlig schleierhaft. 86 | Bloch, Der zukünftige Krieg, Bd. 1, S. 467 (Artillerie). Vgl. zur Infanterie: Ebd., S. 521. 87 | Ders., Der zukünftige Krieg, Bd. 2: Der Landkrieg, Berlin 1899, S. 133.
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und das Kollektiv vermessen und bewertet, diagnostische und prognostische Aussagen getätigt werden konnten. Die Teilnahme am Fußball galt, das wird zu zeigen sein, in den Augen ziviler und militärischer Sprecher als ideales Mittel, um Militärtauglichkeit zu erzielen oder aufrechtzuerhalten sowie angesichts seines ›kämpferischen Charakters‹ zu flexiblen Soldaten für den modernen Krieg auszubilden. Pointiert formulierte dies der Offizier Dietrich von Hülsen im DFB-Jahrbuch von 1912. »Nicht jeder Sport wird […] [der militärisch notwendigen] Form der körperlichen und geistigen Betätigung so gerecht wie das Fußballspiel. Deshalb stehe ich auch nicht an zu erklären, daß ich das Fußballspiel für eine der besten, der segensreichsten Betätigungen zum Heile der Wehrfähigkeit unserer Nation halte.« 88
Zwischenfazit: Ein moderner Raum des Sagbaren Unabhängig davon, ob man über Gesundheit, Männlichkeit oder Militärtauglichkeit sprach: alle drei Bereiche zeichnen sich durch einen signifikanten Anteil diagnostisch-prognostisch formulierter Aussagen aus. Solche Aussagen, die häufig in Form chronologischer Schwellenrhetoriken, wie etwa »unser Zeitalter«, »die Gegenwart« oder das »Jahrhundert des …« formuliert wurden,89 verweisen auf das zeitgenössisch prominente und in zahllosen Texten verarbeitete Gefühl an einer Epochenschwelle zu stehen.90 Der Raum des Sagbaren war insofern ein genuin moderner Raum, zeichnet sich die Moderne doch u.a. dadurch aus, dass die Zeitgenossen ihre Gegenwart intensiv beobachteten und diese Beobachtungen in Form von Diagnosen und Prognosen formulierten.91 88 | Hülsen, Dietrich von: Fußballsport und Wehrfähigkeit, in: DFB-Jahrbuch 9, 1912, S. 123-128, Zitat S. 126. 89 | Vgl. u.a.: Bilz, Friedrich Eduard: Wie schafft man bessere Zeiten? Die wahre Lösung der sozialen Frage nach dem Naturgesetz, Leipzig 1898; Buttenstedt, Carl: Die Uebertragung der Nervenkraft. Ansteckung durch Gesundheit. Eine populär-wissenschaftliche Naturstudie, Berlin 1894, S. 5; Kornig, Th. G.: Umgangshandbuch für den Verkehr mit Nervösen, Berlin/Leipzig 1892, S. 5; Rathenau, Walther: Zur Kritik der Zeit, 7. Aufl., Berlin 1912, S. 7; Wolzogen, Ernst von: Linksum kehrt schwenkt – Trab! Ein ernstes Mahnwort an die herrschenden Klassen und den deutschen Adel insbesondere, Berlin 1895, S. 9. 90 | Vgl.: Hardtwig, Wolfgang: Die Krise des Geschichtsbewußtseins in Kaiserreich und Weimarer Republik und der Aufstieg des Nationalsozialismus, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs, 2001, S. 47-75, hier: S. 60-71. 91 | Vgl. u.a.: Dipper, Moderne, S. 13f.; Drehsen, Volker/Sparn, Walter: Die Moderne: Kulturkrise und Konstruktionsgeist, in: Dies. (Hg.), Weltbildwandel, S. 11-29; Etzemüller, Thomas: Social Engineering als Verhaltenslehre des kühlen Kopfes, in: Ders. (Hg.),
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Es wurde gemessen, gewogen und für (un)tauglich befunden. Dies korrelierte man mit Räumen und Bevölkerungsgruppen. Die Ergebnisse überlagerten, veränderten oder ergänzten sich mit bestehenden Kriterien und Konzepten zur qualitativen Beschreibung von Individuen oder Kollektiven. Die an diesen Kriterien und Konzepten ausgerichteten Diagnosen und Prognosen verwiesen auf eine mehr oder weniger gute Gegenwart und Zukunft. Die Bevölkerung degenerierte oder sie tat es nicht; die Männer waren nicht mehr männlich oder sie konnten wehrhaft gegenüber den Zivilisationseinflüssen gemacht werden; die Stadtbevölkerung war für den Militärdienst ungeeignet oder eben nicht. »Es ist nichts schlechter geworden, aber es muß alles besser werden«,92 so lautete eine eher optimistische Variante der Diagnose und Prognose; pessimistische Diagnose-Prognose Komplexe hoben auf die »rapid zunehmende Verschlechterung der Konstitution der modernen Gesellschaft«93 ab. Bevor die Geschichte bewegter Körper im Kaiserreich erzählt werden kann, soll im Folgenden zunächst geklärt werden, wie der Körper innerhalb dieses modernen Raums des Sagbaren in das Sprechen eintrat.
2. E inzel- und V olkskörper als G egenstand des S prechens »[D]as Spiel [soll] in erster Linie die Volksgesundheit fördern, aber es will sich keineswegs auf die des Leibes beschränken. […] Reine Freuden will es wieder einführen in unsere an Genüssen so reiche, an Freuden aber so herzlich arme, verärgerte, verbitterte Zeit; es will ein kraftvolles Geschlecht heranziehen, mit starken Muskeln und scharfen Sinnen; es will durch gemeinsame, harmlose Interessen die sich oft genug schroff gegenüberstehenden Gesellschaftsklassen einander näher bringen und dadurch zu seinem Teil den sozialen Frieden fördern.« 94
Ordnung der Moderne, S. 11-39, hier S. 20; Ders.: Eine mögliche Konzeption der Geschichte der Moderne (unveröffentlichtes Manuskript 2011); Raphael, Lutz: Ordnungsmuster der ›Hochmoderne‹? Die Theorie der Moderne und die Geschichte der europäischen Gesellschaften im 20. Jahrhundert, in: Ders./Schneider, Ute, (Hg.), Dimensionen der Moderne, S. 73-91, hier: S. 85f. 92 | Vogl, Anton von: Die Sterblichkeit der Säuglinge in ihrem territorialen Verhalten in Württemberg, Bayern und Oesterreich und die Wehrfähigkeit der Jugend mit besonderer Rücksichtnahme auf die Anforderungen an die Marschfähigkeit, München 1909, S. 66. 93 | Kornig, Umgangshandbuch, S. 9. 94 | Witting, Richard: Die Jugend- und Volksspiele vom Standpunkt der nationalen Wohlfahrt, in: Schenckendorff, Emil von/Schmidt, Ferdinand August (Hg.), Allgemein unterrichtende Mitteilungen 4, 1895, S. 2, Hervorh. i. Orig.
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Diese Ausführungen Richard Wittings über die Volks- und Jugendspiele vom Standpunkt der nationalen Wohlfahrt könnten als Leitmotiv der Spielbewegung der 1890er Jahre gelten. Witting und zahlreiche andere Zeitgenossen postulierten die quasi automatische Formierung gesunder und integrierter Staatsbürgerr durch Bewegungsspiele wie den Fußball. Diese Behauptung wird in ihrer Historizität aber nur dann plausibel, wenn man fragt, wie der Körper im späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts thematisiert wurde. Durch die Problematisierungen von Gesundheit, Männlichkeit und Militärtauglichkeit bildeten sich Klassifikationsraster, welche die Bedingungen für Diagnosen und Prognosen bereitstellten, die ihrerseits zumeist körperlich zugespitzt waren. Es war aber nicht nur der einzelne Mensch, dessen Körper in das Sprechen eintrat, sondern dieser Einzelne wurde in der Regel in einen kollektiven, körperlich codierten Zusammenhang überführt. Verschiedene Geschichts- und Kulturwissenschaftler_innen haben in den letzten Jahren auf die zeitgenössische Metaphorik des Volkskörpers, Gesellschaftskörpers oder Bevölkerungskörpers hingewiesen.95 Am Ende des 19. Jahrhunderts erschien der Mensch »als individualisierter Teil einer ›Massengesellschaft‹« und wurde »einem ›Gesellschaftskörper‹ ein- und untergeordnet«.96 Im Folgenden wird zunächst das Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv für das 19. Jahrhundert allgemein bestimmt. Anschließend wird die körperliche Zuspitzung dieses Verhältnisses in Beziehung zu den Problematisierungen von Gesundheit, Männlichkeit und Militärtauglichkeit gesetzt. Nur durch den in diesem Zusammenhang erfolgenden gleichzeitigen Eintritt von Einzel- und Volkskörper in das Sprechen über Gesundheit, Männlichkeit und Militärtauglichkeit kann der Bezugspunkt des Sprechens über (fußballerisch) bewegte Körper erfasst werden. Nur so wird zum Beispiel verständlich, wie sich Witting eine Verbindung zwischen individueller Körperbildung und nationaler Wohlfahrt vorstellen konnte.
95 | Um eine begriffliche Überkomplexität zu vermeiden, werden im Folgenden die Begriffe Einzelkörper und Volkskörper verwendet. 96 | Bublitz, Konstitution von ›Kultur‹ und ›Geschlecht‹, S. 25. Vgl. u.a. zu dem allgemeinen Befund: Dies./Seier/Hanke (Hg.), Gesellschaftskörper; Föllmer, Moritz: Der ›kranke Volkskörper‹. Industrielle, hohe Beamte und der Diskurs der nationalen Regeneration in der Weimarer Republik, in: Hardtwig, Wolfgang (Hg.), Neue Ideengeschichte, S. 4167; Hartmann, Volkskörper bei der Musterung; Möhring, Marmorleiber; Planert, Ute: Der dreifache Körper des Volkes. Sexualität, Biopolitik und die Wissenschaften vom Leben, in: Frevert, Ute (Hg.), Körpergeschichte, S. 539-576; Sarasin, reizbare Maschinen.
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2.1 Zellular-organische Dependenz: Individuum und Kollektiv Der immense Bedeutungsgewinn medizinisch-biologischer Wissensordnungen wurde bereits angesprochen. Sie erzeugten ein Wissen über Gesundheit und Krankheit, hatten großen Anteil an der Naturalisierung der Geschlechterunterschiede und fanden Eingang in die Zurechnung von Militärtauglichkeit. Bereits im späten 18. Jahrhundert »reflektiert[e] sich das Biologische im Politischen«. Dieser epistemische Bruch des späten 18. Jahrhunderts begünstigte einerseits medizinisch-biologische Wissensordnungen wie dieselben andererseits diesen Bruch stabilisierten.97 Eine zeitlich diesem Bruch nachgängige Geschichte des Körpers kommt »ohne den Blick auf die Macht der Bio-Politik nicht aus.«98 Dieses Foucault’sche Konzept in seiner gesamten Bandbreite zu bestimmen, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Die folgende Skizze soll lediglich dazu dienen, mittels des Konzepts der Biopolitik das Verhältnis zwischen Volks- und Einzelkörper in einem ersten Schritt näher zu bestimmen. In einer seiner Vorlesungsreihen zur Gouvernementalität hat Michel Foucault die Geburt der Biopolitik näher untersucht. Effekt dieser ›Geburt‹ war die »Vorstellung einer Naturalität der Gesellschaft«.99 Diese Vorstellung stellt auf den ersten Blick nichts Neues dar, denn metaphorische Übertragungen von Körper auf Gesellschaft finden sich seit der Antike.100 Der Unterschied den Foucault mit der Geburt der Biopolitik beschreibt, ist jedoch kein semantischer Bruch. Vielmehr beschreibt er eine Erweiterung der Machttechnologien, »die es weniger mit Rechtssubjekten als mit Lebewesen zu tun hat.« Zwischen den Polen der »Disziplinierung des Individualkörpers einerseits und der Regierung der Bevölkerung andererseits« spannt sich die Bio-Macht, die Macht über das Leben, auf.101 Die Disziplinierung des Einzelkörpers, die Foucault ausführlich in Überwachen und Strafen untersucht hatte,102 wird von der Biopolitik nicht abgelöst, sondern integriert, modifiziert und operationalisiert. Was mit der Geburt der Biopolitik neu hinzukommt, ist der gezielte Zugriff »auf den Gesell97 | Vgl.: Foucault, Wille zum Wissen, S. 137f., Zitat S. 138. 98 | Planert, der dreifache Körper, S. 545. 99 | Vgl.: Lemke, Thomas: Eine Analytik der Biopolitik. Überlegungen zu Geschichte und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, in: Behemoth. A Journal on Civilisation 1, 2008, S. 72-89, Zitat S. 80. 100 | Vgl. ausführlich: Guldin, Rainer: Körpermetaphern. Zum Verhältnis von Politik und Medizin, Würzburg 2000. 101 | Vgl.: Lemke, Kritik der politischen Vernunft, S. 134f., Zitate S. 135, Hervorh. i. Orig. 102 | Vgl.: Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 1994.
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schaftskörper […], der als eigene (biologische) Entität auftritt.«103 Die Verquickung der Disziplinierung des Einzel- und der Regulierung des Volkskörpers gestattete es, beide quasi gleichzeitig »mittels korrigierender oder optimierender Maßnahmen zu ›regieren‹«.104 Die Geburt der Biopolitik steht bei Foucault im Kontext seiner Untersuchungen zur Gouvernementalität. Diese eher allgemeinen Überlegungen hat François Ewald aufgegriffen und anhand des Arbeitsunfalls im Frankreich des 19. Jahrhunderts genauer untersucht. Dabei hat er auf eine spezifische Verschiebung aufmerksam gemacht. Die der Gouvernementalität zugrunde liegende liberale Rationalität, die zunächst vor allem vor dem Hintergrund ökonomisch-rationalen Handelns operierte, wich im 19. Jahrhundert zunehmend einer »›Sicherheitsgesellschaft‹ […], welche die ökonomische Vernunft durch Elemente ›sozialer‹ Rationalität ergänzt[e].«105 Im Zuge der arbeitsrechtlichen Versicherungen erwarben Arbeiter im Laufe des 19. Jahrhunderts »aufgrund des Solidarvertrags ein Recht auf Sicherheit«. Im gleichen Atemzug legte man ihnen die Pflicht auf, selbst Verantwortung für körperliche und geistige Unversehrtheit in Form eigener »Vorsorgeleistungen« zu übernehmen.106 Das Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv – noch nicht explizit das zwischen Einzel- und Volkskörper – ist also insoweit zu bestimmen, als dass beide zunehmend in ein reziprokes Abhängigkeitsverhältnis gerieten. Das Kollektiv übernahm die (Ver-)Sicherung des Einzelnen; dadurch wurde der Einzelne im gleichen Zug verantwortlich dafür, den eigenen Körper im Rahmen seiner Möglichkeiten gesund zu erhalten. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts spitzte sich diese Verhältnis körperlich zu. In Anlehnung an Mary Douglas hat Ute Planert darauf aufmerksam gemacht, dass die »Vorstellung vom eigenen Körper offenbar das Gesellschaftsbild modelliert.«107 Da die medizinisch-biologischen Wissensordnungen eine exakte Beschreibung körperlicher Vorgänge versprachen und den menschlichen Körper als regulierbaren Interventionsraum bis in das kleinste Detail ausleuchteten, erhoffte man sich auch die Gesellschaft auf diese Weise regulieren zu können. Spezifisch für das Kaiserreich und die der Reichsgründung unmittelbar vorausgegangenen Jahrzehnte war die »Repräsentation der nationalen Gesellschaft im organizistischen Bild des ›Zellenstaats‹, in dem jede untergeordnete Einheit die ihr zugedachte Aufga103 | Vgl.: Lemke, Kritik der politischen Vernunft, S. 136, Zitate ebd., Hervorh. i. Orig. 104 | Ders., Analytik der Biopolitik, S. 81. 105 | Ders., Kritik der politischen Vernunft, S. 35. 106 | Vgl.: Ewald, François: Der Vorsorgestaat, Frankfurt a.M. 1993, S. 426, Zitate ebd. Vgl. für das Kaiserreich, wenn auch in einem anderen theoretischen Rahmen: Frevert, Krankheit. 107 | Planert, der dreifache Körper, S. 543.
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be erfüllte.«108 Der Volkskörper verhielt sich also zum Einzelkörper wie der Organismus zur Zelle – ein Verhältnis zellular-organischer Dependenz. Um die Funktionsfähigkeit des Organismus zu gewährleisten, durfte keine der Zellen abweichen oder erkranken. Diese biologische Vorstellung überführte beispielsweise Ferdinand August Schmidt, prominentes Mitglied der Spielbewegung, in eine sozialpathologische Sichtweise. »Art und Ausdehnung des Wirtshauslebens ist ein Krebsschaden, der am Marke des deutschen Volkes frißt.«109 Diese – zugegebenermaßen dramatisierte – Einschätzung ist indikativ für das enge Verhältnis von Individuum und Kollektiv sowie dessen körpermetaphorische Überformung.
2.2 Die Vermessung von Volks- und Einzelkörper Im Folgenden wird die körperlich zugespitzte Relation zwischen Individuum und Kollektiv bezüglich ihrer Wirksamkeit auf den drei Problematisierungsachsen genauer untersucht. Am deutlichsten war das Verhältnis zwischen Gesundheit und Körper bestimmt, setzten sich diejenigen, die von Gesundheit sprachen, doch unmittelbar mit dem Körper auseinander. Die einflussreichste Position für diesen Zusammenhang stellten die verschiedenen Bereiche der Hygienewissenschaften bereit, die sowohl gesundheitsschädigende Faktoren in der sozialen Umwelt des Menschen suchten als auch eine Stärkung seiner Konstitution propagierten. Auf diese Weise zielte die Problematisierung von Gesundheit auf ihre gesellschaftliche Dimension. Die Hygienewissenschaften nahmen eine Mittelstellung zwischen den spezialisierten biologisch-medizinisch-naturwissenschaftlichen Wissenschaften, der Politik und einem breiteren Publikum ein.110 So pries der Generalstabsarzt Alwin Gustav von Coler auf dem VII. Internationalen Kongress für Hygiene und Demographie in London im Jahre 1890 die hygienischen Wissenschaften mit den Worten: »Nutzbringend ist der Born, der aus dem Schoße jeder einzelnen Wissenschaft quillt, aber so
108 | Ebd., S. 564. Siehe auch: Weindling, Paul: Theories of the Cell State in Imperial Germany, in: Webster, Charles (Hg.), Biology, Medicine and Society 1840-1940, S. 99155, der anhand der fachwissenschaftlichen Debatten über die zellulare Logik des Sozialen ausführt, wie innerhalb der Medizin Positions- und Statuskämpfe ausgetragen wurden. 109 | Schmidt, Ferdinand August: Über Volksspiele im Freien und ihre weitere Ausbreitung in Deutschland, in: Ders./Schenckendorff (Hg.), Allgemein unterrichtende Mitteilungen 1, 1892, S. 95-99, hier S. 96. 110 | Vgl. zu folgendem Gedankengang v.a.: Sarasin, reizbare Maschinen, S. 118-124; S. 244-252.
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des Segens voll, so an Lohn ergiebig für das allgemeine Wohl und das Glück des Einzelnen ist doch kaum eine andere Lehre, wie die der Hygiene.«111 Für das allgemeine Wohl und das Glück des Einzelnen sorgte die Hygiene in den Augen ihrer Vertreter zum einen dadurch, dass sie wissenschaftliche Befunde über verbesserungswürdige Gesundheitsverhältnisse lieferte und konkrete Vorschläge machte, wie diese Verhältnisse zu verändern seien – und ihre Vertreter machten sich mit großem Eifer daran, solche Befunde und Vorschläge zu liefern. Allein die Aufsätze über die Hygiene der Milch in der DVöG, dem Hauptorgan der Hygienebewegung, würden empirisches Material für ein umfangreiches Forschungsprojekt bieten. Eine andere Eigenschaft der Hygiene ist aber interessanter für den Zusammenhang zwischen Einzel- und Volkskörper. Die Hygieniker zielten explizit auf die Erzeugung eines Verantwortungsbewusstseins in jedermann und jederfrau. Der Einzelne wurde zu individual-präventiven Maßnahmen zum Wohle des Ganzen angehalten. Bereits zu Beginn der 1870er Jahre hatte der Schweizer Arzt Jakob Laurenz Sonderegger in seinem auch in Deutschland breit rezipierten Lehrbuch Vorposten der Gesundheitspflege diejenigen, die sich nicht selbst um ihre Gesundheit bemühten, mit einem Bettler gleichgesetzt, der nur am Wege säße und auf die »Gesundheit als fertiges Almosen« warte. Über die Wirkungslosigkeit eines solchen Verhaltens ließ Sonderegger seine Leser nicht im Unklaren. Derjenige, der Gott »um Segen zu seiner eigenen Arbeit« bittet »kommt zum Ziele, in sittlicher und ökonomischer, in wissenschaftlicher und gesundheitlicher Beziehung.« Krankheit galt Sonderegger – in explizit aufklärerischem Gestus – als »selbst-verschuldete[s] Elend«.112 Die persönliche Verantwortung für den Körper war somit ausdrücklich bestimmt. Durch die von Philipp Sarasin beschriebene »Verschiebung vom individuellen zum ›Volkskörper‹«, die er im Sozialdarwinismus der 1860er situiert, war der Einzelne in zunehmendem Maße mit der Verantwortung für die Gesundheit seines Körpers nicht mehr allein.113 Vor allem Rassenhygiene, Sozialdarwinismus, Eugenik und Degenerationstheorie stabilisierten diese Verantwortlichkeit. Auf den Körper zielende »Technologien des Selbst«114 galten nicht 111 | Vgl.: o.A.: Rede des Generalstabsarztes der Armee v. Coler auf dem VII. Internationalen Kongreß für Hygiene und Demographie in London, abgedr. in: Militär-Wochenblatt 76, 1891, Sp. 2049-2052, Zitat Sp. 2050. 112 | Sonderegger, Jakob Laurenz: Vorposten der Gesundheitspflege im Kampfe um’s Dasein der Einzelnen und ganzer Völker, 2. verm. Aufl., Berlin 1874, Zitate S. 9f.; Vgl.: Sarasin, reizbare Maschinen, S. 163. 113 | Vgl.: Sarasin, reizbare Maschinen, S. 259, Zitat ebd. Vgl. ferner: Möhring, Marmorleiber, S. 275. 114 | Vgl.: Foucault, Michel: Technologien des Selbst, Frankfurt a.M. 1993. Einschlägig zum Hygienediskurs in Bezug zu Technologien des Selbst: Sarasin, reizbare Maschinen.
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mehr nur als vernünftig. Vielmehr bildeten sie, so Max Münter im MilitärWochenblatt von 1913, »das Mittel, das der einzelne […] in der Hand hat, um einer drohenden völkischen Degeneration, einem Rassetod, an seinem Teile entgegenzuarbeiten.«115 Das Sprechen über die Gesundheit des Volks- und Einzelkörpers band beide eng aneinander. Dabei war es jedoch nicht so, dass der Einzelne im Sinne eines Top-Down-Modells fortwährend in den Dienst für den Volkskörper gestellt wurde. Die Hygieniker appellierten zwar auch an das Individuum, aber sie richteten ebenfalls umfangreiche Forderungen an die Behörden zur Gewährleistung hygienisch einwandfreier Zustände. Die Hygiene war der mit Abstand einflussreichste epistemische Raum, in dem Einzel- und Volkskörper bezüglich der Problematisierungsachse »Gesundheit« klassifiziert und zugleich aufeinander bezogen wurden. Der organizistische Zellenstaat musste sich ebenso sorgsam um seine einzelnen Glieder kümmern, wie diese angehalten waren, ihre eigenen Körper gesund zu erhalten. Auf diese Weise zurrte sich das vorsorgestaatliche, quasi-vertragliche Verantwortungsverhältnis des Einzelnen gegenüber seinem Körper fest. Krankheit war nicht mehr lediglich selbstverschuldet und ein Problem des Individuums. Der Einzelne trug mit der Verantwortung für seinen Körper mittelbar auch eine Verantwortung gegenüber der Gesundheit des Volkskörpers. Gleichzeitig war die politisch-administrative Ebene der Nation gefordert, die Gesundheit des Einzelnen so weit zu fördern, dass nicht einzelne Zellen des Organismus erkrankten und somit den gesamten Volkskörper infizierten. Es kommt nicht von ungefähr, dass Hygieniker die Akteure waren, die im Sprechen über Bewegungsspiele, Turnen, Sport und Fußball im Kaiserreich die dominanten Positionen für die gesundheitliche und zugleich politische Relevanz dieser Bewegungsformen besetzten. Beispielweise hob Ferdinand Hueppe 1897 auf einer Tagung das »erzieherische Moment« des Sports gegenüber dem Turnen hervor. Dieses Moment könne man genauso wenig »in der Erziehung der Schule, in der Erziehung der Kinder […] [oder] in der Volkserziehung, in der Volksgesundheit, in der Volksgesundung« entbehren.116 Das Sprechen über Volks- und Einzelkörper innerhalb der Bedingungen, die die Problematisierungsachsen »Männlichkeit« und »Militärtauglichkeit« bereitstellten, ist schwerer zu bestimmen. Beide waren in gewissem Sinne den Bedingungen der Problematisierungsachse »Gesundheit« nachgeordnet. In Bezug auf das Geschlecht, darüber herrscht in der neueren Forschung Einigkeit, bildete der Aspekt der Fortpflanzung den zentralen Schnittpunkt zwischen Volks- und Einzelkörper.117 Allerdings war Reproduktionsfähigkeit 115 | Münter, Offizierskorps und Körperkultur, Sp. 3132. 116 | Vgl.: Hueppe, Volksgesundheit durch Volksspiele, Zitat S. 16. 117 | Vgl.: Bublitz, Einleitung, 2000, S. 14f.; Möhring, Marmorleiber, S. 138; Planert, der dreifache Körper, S. 546f.
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eine eher dem weiblichen Körper zugeschriebene Qualität. Dem männlichen Körper, der als »›Maschinenkörper‹ zunächst auf seine Funktionstüchtigkeit in Arbeitswelt und Nationalstaat ausgerichtet war«, stand der weibliche »Gattungskörper« gegenüber, der als Ort der Reproduktion den Fortbestand des Volkskörpers sichern sollte.118 Die obig zitierte Aussage, ein jeder habe dem drohenden »Rassetod an seinem Teil entgegenzuarbeiten«, verdeutlicht jedoch, dass der Frauenkörper vielleicht der privilegierte, sicherlich aber nicht der exklusive Ort zur Erhaltung des Volkskörpers war. Während jedoch die reproduktive Verantwortung dem weiblichen Körper zweifellos sehr viel direkter und expliziter zu- und eingeschrieben war, ging es, wenn man vom männlichen Fortpflanzungsverhalten sprach, in den meisten Fällen lediglich um die »Samenökonomie«.119 Die Problematisierung der Männlichkeit des Volks- und Einzelkörpers bestand allerdings nicht nur darin, vor Onanie zu warnen120 und Männern eine bedingte Verantwortung im Bereich der Fortpflanzung zuzuweisen. Für die Frage danach, wie der Körper auf eine bestimmte Weise in das Sprechen eintrat und vor allem, wie dies an Machteffekte gekoppelt war, sind die im- und expliziten Erziehungs- oder Produktionsprogramme dieser Männlichkeit entscheidender. Ernst van den Berghs Ausführungen über den Erziehungsauftrag des Militärs sind in dieser Hinsicht exemplarisch. »Wir wollen Männer erziehen, wie sie das Vaterland braucht, und noch viel mehr, wir wollen damit auf die Seele des ganzen Volkes einwirken, sie gesund und kräftig erhalten und sie mit idealen Vorstellungen erfüllen, gegenüber jenen ungesunden, weichlichen oder materiellen Einflüssen.«121
Van den Bergh stand nicht allein. Die Erziehung als Mittel zur Abwehr einer körperlich-geistigen Verschlechterung und mithin Entmännlichung des Körpers stellte eine sehr gängige zeitgenössische Programmatik dar. Ein dezidiert körperliches Erziehungsprogramm zur Männlichkeit (und Weiblichkeit) hat Maren Möhring für den Fall der Nacktgymnastik nachgezeichnet. Die Nacktgymnasten erhofften sich, sich über die Betrachtung antiker griechischer Statuen und ihrer Nachahmung in einem Prozess »mimetisch-körperliche[r] Aneignung«122 gute, schöne und hegemonial männliche (und weibliche) Körper zu geben. Vor allem die verschiedenen Akteure in Turnen, Spiel und Sport 118 | Vgl.: Planert, der dreifache Körper, S. 547, Zitat ebd. 119 | Möhring, Marmorleiber, S. 138. 120 | Vgl. z.B.: Altschul, Theodor: VI. Section für Schulgesundheitspflege, in: DVöG 27, 1895, S. 264-276. 121 | Bergh, die seelischen Werte im Frieden und im Kriege, Sp. 236. 122 | Möhring, moderne Apoll, S. 29.
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betonten dieses körperliche Erziehungsprogramm besonders. Die Problematisierung der Männlichkeit des Einzel- und Volkskörpers fand im Sprechen über Fußball und Bewegungsspiel hohe Verbreitung. Albert Otto Paul betonte, dass der Fußball »unter seinen Anhängern keine verzärtelten und empfindlichen Menschen brauchen« könne.123 Eduard Angerstein hob als eine der wichtigsten Wirkungen des Bewegungsspiels hervor, dass der »verzärtelte Knabe« durch die »körperlichen Wirkungen des lebhaften Spiels« sozusagen ›entzärtelt‹ würde.124 In einem allgemeineren Sinne hat Planert betont, dass Turnen und Exerzieren – Spiel und Sport berücksichtigt sie nicht – »Männern und ihren Körpern […] genau jene Tugenden einverleibt[en], auf die es in der sich entfaltenden Industriegesellschaft ankam.«125 Die Problematisierung der Männlichkeit des Volks- und Einzelkörpers hatte weniger eindeutige Positionen als die der Gesundheit. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass sie kein Thema war. Im Sprechen über den Fußball, in den Selbstpositionierungen der Turner126 oder der Militärs127 als Schulen der Männlichkeit finden sich immer wieder Aussagen, die vor ›Entmännlichungstendenzen‹ des Einzel- und Volkskörpers warnen. Das wohl wichtigste Ergebnis der Analyse des Sprechens über Männlichkeit bezüglich des Volks- und Einzelkörpers ist dessen performativ-materielle Dimension in einem doppelten Sinn. Männlichkeit zeigte sich am Körper und konnte über eine Arbeit am Körper – als einer Form der Selbstbildung – erzeugt werden. Das Sprechen über die Männlichkeit von Volks- und Einzelkörper unterschied sich also von dem über die Gesundheit dadurch, dass ersteres primär eine Körperlichkeit der Selbstbildung und letzteres vor allem eine Körperlichkeit der sozialen Verantwortung erzeugte. Der Körper der angehenden Rekruten war ein prominenter Gegenstand des Sprechens über Militärtauglichkeit. Da das »Volk in Waffen«, so eine zeitgenössisch gängige Charakterisierung der allgemeinen Wehrpflicht, »ein Unterpfand für die Sicherung des Friedens« bilden sollte, appellierte ein anonymer Autor im Militär-Wochenblatt, »größte Sorgfalt […] [auf] die körperliche Entwickelung der Jugend« zu legen.128 Das Für und Wider einer militärischen 123 | Paul, Albert Otto: Das Fussballspiel, Leipzig 1905, S. 6. 124 | Angerstein, Eduard: Die sittliche und physiologische Bedeutung der Bewegungsspiele, in: Schenckendorff/Schmidt (Hg.), Allgemein unterrichtende Mitteilungen, 1, 1892, S. 7-11, hier S. 10. 125 | Planert, der dreifache Körper, S. 554. 126 | Vgl. v.a.: Goltermann, Körper der Nation, S. 290-324. 127 | Vgl. v.a.: Frevert, Ute: Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland, München 2001; Dies., Militär als ›Schule der Männlichkeit‹; Dies., Militär als ›Schule der Männlichkeiten‹. 128 | o.A., Reform der humanistischen Gymnasien, hier Sp. 512.
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Das Subjekt des Fußballs
Jugenderziehung respektive einer Erziehung der Jugend, die ihre Militärtauglichkeit gewährleistete, blieb bis zum Ersten Weltkrieg ein stabiles Thema in diesem Kontext.129 Ein weiteres Element bildete die Relevanz, die die Zeitgenossen – vor allem Militärs – dem Wehrdienst als Garant generativer Stabilität der Nation zuwiesen. Der bereits zitierte von Colmer schwärmte, dass diejenigen, die die Armee, diese »Schule körperlicher wie geistiger Entwickelung« verließen, nach ihrem Austritt die »Schaffung einer gesunden Familie«130 gewährleisteten. Ehemalige Soldaten galten also als ›gute‹ Träger einer generativen Verantwortung. Gleichzeitig bildete diese gesunde Familie – in der Logik des Arguments – wiederum die Bedingung für körperlich militärtaugliche Nachkommen. Dieser optimistisch gewendeten, Gegenwart und Zukunft verbindenden Reziprozität einer Produktion und Reproduktion körperlicher Militärtauglichkeit, stellten Militärkreise Niedergang der Volksgesundheit, Degeneration, Urbanisierung und Industrialisierung als konkret militärische, unmittelbar Volks- und Einzelkörper betreffende Probleme gegenüber. »Die Wehrfähigkeit und Wehrhaftigkeit breiter Volksschichten, die Grundlage unserer militärischen und damit auch politischen Machtstellung, ist – darüber wird kein Soldat zweifelhaft sein – im modernen Leben von schweren Gefahren bedroht«. Im Anschluss an dieses konkret militärisch und politisch formulierte Problem nannte der Verfasser nahezu alle zeitgenössisch gängigen zivilisations-, kultur- und großstadtkritischen Topoi. Großstadt, Zivilisation und Kultur führten dazu, »daß breiten Volksschichten jene körperlichen Eigenschaften immer mehr abhanden kommen«, welche für den Kriegsdienst erforderlich seien.131 Angesichts des Anspruchs eine ›Schule der Männlichkeit‹ zu sein, leuchtet die Überschneidung zwischen dem Sprechen über Militärtauglichkeit und Männlichkeit des Einzel- und Volkskörpers ein. Zeitgenössische autobiographische Verarbeitungen der Militärzeit thematisierten in der Regel kaum die Erfahrung Waffenträger gewesen zu sein. Vielmehr strichen ehemalige Militärangehörige, die die ›Schule der Männlichkeit‹ absolviert hatten, diejenigen 129 | Vgl. u.a.: Bernhardi, Friedrich von: Deutschland und der nächste Krieg, Stuttgart/ Berlin 1912, S. 278; Bs., Wehrkraft und Jugenderziehung; Grotjahn, soziale Pathologie, S. 658; Kronecker: [Rezension zu:] Vogl, Anton von: Die Sterblichkeit der Säuglinge in ihrem territorialen Verhalten zu Württemberg, Bayern und Österreich und die Werbefähigkeit [d.i. Wehrfähigkeit] der Jugend mit besonderer Rücksicht auf die Anforderung an die Marschfähigkeit, in: Pfeiffer, A. (Hg.): Sechsundzwanzigster Jahresbericht über die Fortschritte und Leistungen auf dem Gebiete der Hygiene. Jahrgang 1908. Supplement zur DVöG 41, 1911, S. 285-286; Vogl, Die Sterblichkeit der Säuglinge. 130 | o.A., Rede v. Coler, Zitate Sp. 2050, Sp. 2051; Vgl. ferner: Bindewald, Wehrfähigkeit der ländlichen und städtischen Bevölkerung, S. 4, S. 29. 131 | Bs., Wehrkraft und Jugenderziehung, Zitate Sp. 2838f.
II. Der Raum des Sagbaren
»Lernerfolge« heraus, die charakteristisch für das Kriterienbündel hegemonialer Männlichkeit des Kaiserreichs waren: »körperliche Gewandtheit und Ausdauer, Willenskraft, Ordnungs- und Vaterlandsliebe, Pünktlichkeit, Sauberkeit, Kameradschaftlichkeit, Autoritäts- und Gesetzestreue.«132 Des Weiteren beglaubigte die Tauglichkeit zum Militärdienst, die Voraussetzungen für die Selbst- und Ausbildung zu ›wahrer Männlichkeit‹ überhaupt zu erfüllen. Das Sprechen über Volks- und Einzelkörper in Bezug auf seine Militärtauglichkeit schuf einen Sonderbereich, in welchem sich die Problematisierungsachsen »Gesundheit« und »Männlichkeit« kreuzten. Das Militär als Schule der Männlichkeit und als Ort der Produktion gesunder Körper bot die Gelegenheit den Einzel- wie den Volkskörper für die Anforderungen der Moderne zu kräftigen.
Zwischenfazit: Die diskursive Formation Der Raum des Sagbaren, der für die vorliegende Studie maßgeblich ist, wurde durch die drei Problematisierungsachsen aufgespannt. Als Klassifikationsraster waren alle drei Achsen relativ eigenlogisch. Auf der Problematisierungsachse »Gesundheit« konnten verschiedene Grade von nicht-gesund angegeben werden. Im Gegensatz dazu war hegemoniale Männlichkeit im Grunde erreichbar. Das skizzierte Kategorienbündel dieser Männlichkeit stellte eine Bezugsgröße für männliche Individuen bereit. Auch die Problematisierungsachse »Männlichkeit« erlaubte es, graduelle Abweichungen innerhalb der von der Achse bereitgestellten Bedingungen beobachten zu können. Anders als Gesundheit und Männlichkeit bildete die Militärtauglichkeit einen definierten Zustand. Im Gegensatz zu Gesundheit und Männlichkeit maß man diesen Zustand auch an nahezu jedem männlichen Staatsbürger nach. Sehr viel präziser als Gesundheit und Männlichkeit vermaß und klassifizierte man jeden einzelnen männlichen Staatsbürger auf der Achse der Militärtauglichkeit. Zusammengenommen organisierten die drei Problematisierungsachsen ein bestimmtes »System der Streuung« von Aussagen – strukturierten also eine bestimmte »diskursive Formation«.133 Entscheidend für die vorliegende diskursive Formation ist es, dass sie Individuum und Kollektiv auf eine spezifische Weise als interventionsbedürftig erzeugte. Beide, Individuum und Kollektiv, existierten innerhalb der Formation als körperliche Entitäten, weshalb die Interventionen am Körper ansetzen mussten. Von einem solchen Ansatz handelt der nächste Teil.
132 | Frevert, Schule der Männlichkeit, S. 172. 133 | Foucault, Archäologie des Wissens, S. 58, Hervorh. i. Orig.
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»[D]er in erschreckendem Masse zunehmende Prozentsatz von Kurzsichtigen und von für den Militärdienst Untauglichen, das ungewöhnlich starke Kontingent Geisteskranker, die sittliche Entartung ganze Volksklassen – sind sie nicht die Ankläger einer verkehrten, zum mindesten einseitigen Auffassung unserer Jugenderziehung?«1
Diese von ihm selbst gestellte Diagnose nahm der Dresdener Turnlehrer Robert Heeger zum Anlass, in seinem Vortrag über Schulturnen und Körperpflege von 1883 »zu untersuchen, wer [sic] von den Faktoren, die auf das Erziehungsgeschäft unserer Jugend von wesentlichem Einflusse sind, auf die Anklagebank gehört«. Auf dieser Bank versammelte er die zeitgenössisch ›üblichen Verdächtigen‹: Schule, Elternhaus, Schulbehörden und die »herrschende Zeitströmung«. Heeger ließ seine Zuhörer nicht im Zweifel über die Relevanz des Themas. Dieses sei schließlich »in den verschiedenen Fach- und Zeitschriften, in medizinischen und pädagogischen, ja sogar in gesetzgeberischen Kreisen eingehend behandelt worden.«2 Heegers Vortrag lässt sich in den Kontext der in den frühen 1880er Jahren allenthalben diskutierten Überbürdung der Schüler einordnen. Diese unterhielt, wie an der eingangs zitierten Diagnose deutlich wurde, enge Beziehungen zu den drei Problematisierungsachsen. Mithin drängt sich eine genaue Untersuchung der Überbürdungsdebatte geradezu auf, um eine bestimmte Problematisierung, nämlich die des Schülerkörpers, innerhalb des Raums des Sagbaren näher zu betrachten. Diese Betrachtung erfolgt in einem ersten Schritt. Gleichwohl soll an dieser Stelle kein beispielhaft illustrativer Exkurs erfolgen. Die vorliegende Studie untersucht das Subjekt des Fußballs dezidiert als Teil einer Geschichte bewegter Körper. Daher soll die markante Verschiebung in der Diskursivierung bewegter Körper, die die Überbürdungsdebatte der 1 | Heeger, Robert: Schulturnen und Körperpflege. Ein Beitrag zu der von dem königlichen Amtsrichter Hartwich-Düsseldorf verfassten Broschüre: ›Woran wir Leiden.‹, Leipzig 1883, S. 5 2 | Alle Zitate ebd., S. 6.
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Das Subjekt des Fußballs
1880er Jahre anzeigt, näher bestimmt werden. Dieser Verschiebung gilt der zweite, ausführlichere Untersuchungsschritt. Das gesamte Kapitel stellt insofern eine Art Scharnier zur Analyse der Diskursivierung des Fußballs dar.
3. »Ü berschreiten des richtigen M asses «: Ü berbürdung Grundsätzlich beruhte die Überbürdungsdebatte auf der Annahme, dass in den Schulen zu viel Arbeit von den Schülern verlangt würde. Allerdings blieb im Grunde stets unklar, wo genau die Grenze zwischen zumutbaren und das Maß überschreitenden Anforderungen bestand. Generell waren Klagen über eine – wie auch immer quantifizierte oder qualifizierte – Überschreitung des richtigen Maßes bereits um 1800 laut geworden.3 Diese Sorgen um ein Zuviel des Unterrichts brachte der Mediziner Carl Ignatius Lorinser in einem Vortrag von 1836 auf den Begriff der »Überbürdung«. Darunter fasste er die negativen Auswirkungen eines Übermaßes an Unterrichtsfächern, Unterrichtszeit und Hausaufgaben.4 Obwohl (oder vielleicht gerade weil) er kaum empirische Belege, dafür aber emphatisch vorgetragene Meinungen für seine Einschätzung lieferte, stieß Lorinser auf große Resonanz. Nachdem verschiedene Gutachten eingeholt worden waren, die den Befund weder bestätigten noch widerlegten, erging 1842 eine Cabinettsordre, die den Knaben-Turnunterricht an preußischen Schulen obligatorisch machte, um der Überbürdung entgegenzuwirken.5 In dieser Anordnung betonte Friedrich Wilhelm IV., der König von Preußen: »[B]ei den größeren Ansprüchen, welche an die geistige Ausbildung der Jugend nach dem Entwickelungsgange und dem jetzigen Stand der Bildung gemacht werden müssen, [ist es] nothwendig […], der Erhaltung und Kräftigung der körperlichen Gesundheit eine besondere Sorgfalt zu widmen, und durch eine harmonische Ausbildung der geistigen und körperlichen Kräfte dem Vaterlande tüchtige Söhne zu erziehen.« 6 3 | Vgl.: Whittaker, Gwendolyn: Überbürdung, Subversion, Ermächtigung. Die Schule und die literarische Moderne 1880-1918, Göttingen 2013, S. 44. 4 | Vgl.: Oelkers, Jürgen: Physiologie, Pädagogik und Schulreform im 19. Jahrhundert, in: Sarasin, Philipp/Tanner, Jakob (Hg.), Physiologie und industrielle Gesellschaft, S. 245-285, hier S. 248. Zeitgenössisch bereits: Euler, Carl: Die Ueberbürdungsfrage und das Schulturnen vor fünfzig und mehr Jahren, in: DTZ 38, 1893, S. 343-345, hier S. 344. 5 | Vgl.: Oelkers, Physiologie, Pädagogik und Schulreform, S. 248; Ders.: Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte, Weinheim 2005, S. 58f. 6 | Zit. n.: Wiese, Ludwig Adolf (Hg.): Das Höhere Schulwesen in Preußen. HistorischStatistische Aufstellung, Berlin 1864, S. 32, Fußnote 2.
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Auch nach der Cabinettsordre verstummte das Sprechen über die Schädigung des Schülerkörpers durch zu hohe Anforderungen seitens der Schule nicht. 1854 sah sich etwa das preußische Unterrichtsministerium veranlasst, »dem Überschreiten des richtigen Maßes in der Forderung häuslicher schriftlicher Arbeiten entgegenzutreten«.7 Der Leipziger Schuldirektor Paul Möbius mahnte 1867, dass das »sich hoch aufthürmende Lehrgebäude […] die körperliche Kraft und Gesundheit [der Schülerinnen und Schüler] gar bald vernichten«8 werde. Zehn Jahre später meldete sich der Abgeordnete Johannes Franz Miquel im preußischen Abgeordnetenhaus zu Wort und wies auf die »täglich allgemeiner werdenden Klagen über eine übermäßige Anhäufung und Ausdehnung des Lehrstoffes auf Gymnasien« hin. Mit Ausnahme einiger diesbezüglicher Wortmeldungen behandelte der Reichstag dieses Thema jedoch nicht weiter.9 Obwohl für die 1870er Jahre einige Veröffentlichungen10 zum Thema Überbürdung verzeichnet werden können, blieb es – gemessen an den frühen 1880er Jahren – verhältnismäßig still. Eine enorme Konjunktur lässt sich ab etwa 1880 feststellen.11 Die Frage »Wie ist den immer wieder erhobenen Klagen über Überbürdung seitens der Schule zu begegnen?« bildete einen eigenen Tagesordnungspunkt einer Tagung Posener Schuldirektoren von 1885.12 Zudem fand sie ihren Niederschlag 7 | o.A.: Denkschrift betreffend die Frage der Überbürdung der Jugend an den höheren Schulen Preußens, in: Pädagogisches Archiv 25, 1883, S. 401-423, Zitat S. 401. 8 | Möbius, Paul: Die Ueberbürdung der Volksschule, Leipzig 1867, S. 18f. 9 | Vgl.: Hamer, Eerke: Die Anfänge der ›Spielbewegung‹ in Deutschland, Göttingen 1989, S. 349; zitiert nach ebd. 10 | Vgl. u.a.: Krumme: Die Ueberbürdung des Gymnasiums und das Mittel zur Abhülfe, Leipzig 1878; o.A.: Die Ueberbürdung der Gymnasiasten. Ein Wort an die Eltern unserer Schüler. Von einem preussischen Gymnasialdirector, Gütersloh 1878; Schmelzer, Carl: Die Überbürdung auf den höheren Lehranstalten. Briefe an meinen langen Freund Jonathan. Alten und Jungen zu Nutz und Frommen, Leipzig 1878; Schmitt-Blank, Johann Carl: Die Ueberbürdung der Gymnasiasten mit Hausaufgaben. Versuch einer Maßbestimmung, in: Allgemeine Schulzeitung 49, 1872, S. 209-211; S. 217-218; S. 224-225; Schober, Karl: Welche Unterstützung kann und soll das Elternhaus dem Gymnasium gewähren. Ein Wort an die Eltern als Beitrag zur Lösung der Frage betreffs der Ueberbürdung der Gymnasial-Schüler, Wien 1877. 11 | Allein eine Suche in den einschlägigen pädagogischen Zeitschriften, d.h. dem Pädagogischen Archiv und der Pädagogischen Reform auf Scripta Pädagogica Online (URL: http://goobiweb.bbf.dipf.de/viewer/, letzter Aufruf: 16.05.2013) ergibt über 25 Treffer für die Zeit zwischen 1880 und 1905, bei weniger als zehn für den gesamten Zeitraum zuvor. 12 | Siehe: o.A.: Verhandlungen der Direktoren Versammlungen in den Provinzen des Königreichs Preussen seit den Jahren 1879, Band 18, 1885, S. 16-47, S. 193-197.
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in pädagogischen Enzyklopädien. Ferdinand Sander versah den Begriff in seinem Lexikon der Pädagogik von 1883 mit einem Verweis auf das Lemma »Aufgaben«.13 Im betreffenden Artikel heißt es dann schlicht, dass zu viele Aufgaben zu Überbürdung führten.14 1884 erhielt die Überbürdung im Ergänzungsband der Real-Encyclopädie des Erziehungs- und Unterrichtswesens nach katholischen Prinzipien ein eigenes Lemma. Unmittelbar nach dem Artikel zum Turnen findet sich ein fast zehnseitiger Eintrag zum Thema.15 Sowohl in pädagogischen Fachzeitschriften und Lexika als auch innerhalb des bereits recht ausdifferenzierten Zeitschriftenmarkts der 1880er Jahre wurde Überbürdung diskutiert. »Von der ›Gartenlaube‹ bis zur ›Zukunft‹, vom ›Simplicissimus‹ bis zur ›Jugend‹ war das Überbürdungsthema damals populär und die Schule als Prügelknabe beliebt«,16 wie es der Historiker Joachim Radkau formuliert. Im Grunde waren das der Überbürdung zugrundeliegende Problem wie auch die zur Lösung des Problems geforderten Veränderungen an der Schule identisch mit Lorinsers Kritik von 1836. Die Schüler seien zu lange in der Schule, hätten zu viele verschiedene Fächer und zu viel Hausarbeit. Somit standen »Forderungen, die Zahl der Wochenstunden in den Lehrplänen, das Spektrum der Unterrichtsgegenstände und die Menge der Hausarbeiten zu reduzieren«17 im Mittelpunkt. Inhaltlich bildete die Überbürdung – wie schon bei Lorinser – auch in den 1880er Jahren eine Art Container für ein diffuses Bündel an mehr oder weniger eindeutig definierten Problemen. A. Hosaeus benannte »bleiche Wangen« und das »frühe Siechthum unserer Jünglinge und Jungfrauen« sowie die »mehr und mehr um sich greifenden nervösen und geistigen Störungen« als Symptome.18 1884 gelangte P. Hasemann zu der dramatischen und sehr allgemein gehaltenen Einschätzung, »daß etwa 66 % der Schüler der höheren Lehranstalten keine normale Körperbeschaffenheit besitzen« und dies primär auf deren Überbürdung zurückzuführen sei.19 Wie genau das ohnehin diffuse Konzept der Überbürdung und die festgestellten gesundheitlichen Beeinträchtigungen zusammenhingen blieb in den meisten Fällen unbestimmt und Gegenstand gelehrter Streitereien. So galt 13 | Art. »Überbürdung«, in: Sander, Ferdinand: Lexikon der Pädagogik. Handbuch für Volksschullehrer, Leipzig 1883, Sp. 192. 14 | Vgl.: Art. »Aufgaben«, in: Ebd., Sp. 21f. 15 | Vgl.: Art. »Überbürdung«, in: Rolfus, Hermann/Pfister, Adolph: Real-Encyclopädie des Erziehungs- und Unterrichtswesens nach katholischen Prinzipien. Ergänzungsband, Mainz 1884, Sp. 356-364. 16 | Radkau, Zeitalter, S. 319. 17 | Albisetti, James/Lundgreen, Peter: Höhere Knabenschulen, in: Berg, Christa (Hg.), Handbuch Bildungsgeschichte IV, S. 228-278, Zitat S. 232. 18 | Hosaeus, Ueberbürdung der Jugend, S. 538f. 19 | Hasemann, Ueberbürdung der Schüler, S. 29.
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nicht einmal die Verantwortung der Schule, obwohl prominentester Gegenstand der Kritik, als bewiesen.20 Einzig der Überbürdung als solcher, wie auch immer sie sich symptomatisch niederschlug, waren sich die allermeisten Beteiligten sicher. Die Diskussionen flauten um 1890 – vermutlich wegen der auf der Schulkonferenz von 1890 beschlossenen Reduktion der Unterrichtsstunden21 – merklich ab und lösten sich »bis 1914 weitgehend«22 auf. In der Debatte über den obligatorischen Spielnachmittag auf dem siebten deutschen Kongreß für Volks- und Jugendspiele von 1905 sprach ein Diskutant sogar von Klagen über eine »›Unterbürdung‹«.23 Zweifellos war die Überbürdungsdebatte in den Kontext der ausführlichen und europaweiten Debatten über Reform und Reformbedürftigkeit des höheren Schulwesens der 1880er Jahre eingebettet. Darauf haben u.a. die Historiker James Albisetti und Peter Lundgreen aufmerksam gemacht.24 Eine Reformbedürftigkeit der Schulen war aber auch vor den 1880er Jahren ein Thema gewesen. Daher ist zu fragen, ob es nicht weitere Faktoren gab, die dem Sprechen über Überbürdung gerade in den 1880er Jahren eine besondere Relevanz verliehen. In der Forschung wird das zeitgenössisch prominente Thema des (Schüler-)Selbstmordes als zentrales Element der Überbürdungsdebatte genannt. So hat Gwendolyn Whittaker in einer kürzlich erschienen literaturwissenschaftlichen Studie zur Überbürdung konstatiert, Schülerselbstmorde seien zentraler Bestandteil des »diskursiven Sediments der Schulliteratur« gewesen.25 Ähnlich argumentiert Joachim Radkau, dass die »Berichte über Schülerselbstmorde […] die Stimmung anheizten«.26 Zieht man die Bibliographie des Selbstmords Hans Rosts27 von 1927 hinzu, so wird deutlich, dass in zahlreichen europäischen Ländern – Rost nennt Publikationen aus dem Kaiserreich, Österreich-Ungarn, Russland, Frankreich, Italien und England – der Schülerselbstmord ein Thema war. Lässt man die von Rost vollzogene Trennung zwischen dem »Selbstmord 20 | Vgl.: Alexi: Zur Frage der Ueberbüdung der Schuljugend auf den Schulen, in: DVöG 13, 1881, S. 407-416; Whittaker, Überbürdung, S. 51. 21 | Vgl.: Albisetti/Lundgreen, höhere Knabenschulen, S. 236. 22 | Oelkers, Physiologie, Pädagogik und Schulreform, S. 276. 23 | Zitiert nach: Raydt, Siebenter Deutscher Kongreß für Volks- und Jugendspiele, hier: S. 277. Bereits 1891 hatte Wilhelm August Roth die Überbürdungsdebatte für beendet erklärt. Vgl.: Roth, Wilhelm August: Zur Schulhygiene, in: DVöG 23, 1891, S. 277-288. 24 | Vgl.: Albisetti/Lundgreen, höhere Knabenschulen, S. 232. Siehe auch: Oelkers, Physiologie, Pädagogik und Schulreform; Radkau, Zeitalter, S. 315; Whittaker, Überbürdung, S. 27ff. 25 | Vgl.: Whittaker, Überbürdung., Zitat ebd. 26 | Radkau, Zeitalter, S. 316. 27 | Rost, Hans: Bibliogaphie des Selbstmords, Augsburg 1927.
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bei Schülern« und dem »Selbstmord bei Kindern und Jugendlichen« außer Acht,28 so wurden über 170 Aufsätze und Monographien zum Thema veröffentlicht. Allerdings erschien die überwiegende Mehrzahl der Arbeiten zwischen 1900 und 1914. Genau deshalb erscheint die Annahme Radkaus, die Überbürdungsdebatte sei durch einen Rekurs auf Schülerselbstmorde »angeheizt« worden, als nicht haltbar. Ein anderer, dem Komplex Überbürdung immanenter Zusammenhang war wesentlicher. Dieser Zusammenhang betraf das Überschreiten eines richtigen Maßes und lässt sich aus der Psychiatriegeschichte herleiten. 1881 erklärte F. A. Petermann, die Ausführungen Johann Paul Hasses hätten das Thema virulent gemacht.29 Der Psychiater Hasse hatte im August 1880 auf einer Versammlung der Deutschen Irrenärzte in Eisenach einen Vortrag gehalten, in welchem er anhand von sechs Fallgeschichten einen Kausalzusammenhang zwischen Geisteskrankheit und Überbürdung behauptete.30 Diese Behauptung, die er auf Grundlage einer recht dünnen Datenlage aufstellte, galt den Anwesenden keineswegs als konsensfähig.31 Das hinderte Hasse jedoch nicht daran, eine gekürzte Version seines Vortrags in der Gartenlaube zu veröffentlichen32 und das Thema auf diese Weise einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Seine Behauptung eines Kausalzusammenhangs zwischen Überbürdung und Geisteskrankheiten beruhte auf der Annahme einer nervlichen Überreizung. Ein Zuviel an schulischer Bildung führe zu einer zu hohen Anspannung der Nerven, was wiederum psychische Krankheiten nach sich zöge. Mit der Annahme, Nerven könnten ähnlich wie Muskeln ungesund überspannt werden, stand Hasse keineswegs allein.33 Im Gegenteil: Die an anderer Stelle geschilderte zeitgenössische Wahrnehmung einer Allgegenwart von nervösen und neurasthenischen Erscheinungen verlieh Hasses Ausführungen eine ebenso hohe Plausibilität wie Relevanz – und die Ähnlichkeit zwischen angespannten Muskeln und Nerven legte einen Zugriff auf den Körper nahe, um das Problem der Überbürdung zu lösen. 28 | Dies entsprach offenbar auch den Wahrnehmungsgewohnheiten, wie ein anonymer Autor dem Wiener psychoanalytischen Verein noch 1910 versicherte. Vgl.: Unus multorum: o.T., in: Adler, Alfred (Hg.), Über den Selbstmord, S. 5-18. 29 | Vgl.: Petermann, Schäden, S. Vf. 30 | Vgl.: Hamer, Spielbewegung, S. 351-353; Radkau, Zeitalter, 316. 31 | Vgl.: Hamer, Spielbewegung, S. 353. 32 | Vgl.: Hasse, Paul: Schule und Nervosität. Zur Beleuchtung der Ueberbürdungsfrage vom irrenärztlichen Standpunkte, in: Die Gartenlaube, 1881, S. 7-9; ferner: Radkau, Zeitalter, S. 316. 33 | Vgl.: Petermann, Schäden, S. 11; Schmidt, Ferdinand August: Nervensystem und Turnen, in: DTZ 38, 1893, S. 21-24; S. 53-57; S. 85-89. Siehe auch: Radkau, Zeitalter, S. 315.
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4. »E rmüdung ähnlich wie die M uskel arbeit«: Ü berbürdung und be wegte K örper Im April 1882 rief Edwin von Manteuffel, kaiserlicher Statthalter von ElsassLothringen, eine medizinische Sachverständigenkommission ins Leben, die den Zustand des elsässisch-lothringischen Schulwesens einschätzen sollte. Auf Grundlage ihrer Diagnosen sollte dann geklärt werden, welche Reformen »zur Erhaltung und Förderung der Wehrbarkeit und der geistigen Frische der Nation« nötig wären.34 Die Experten bestätigten die Überbürdung als ›Tatsache‹ und unterbreiteten der Unterrichtsverwaltung 24 Vorschläge zur Behebung überbürdender Faktoren. Zu diesen Vorschlägen gehörten »Schwimmübungen, Spiele im Freien, Ausflüge, Schlittschuhlauf« neben den »obligatorischen Turnstunden«.35 Bei ihren Diagnosen und ihren Empfehlungen gingen die Gutachter davon aus, dass »anhaltende und angestrengte Geistesthätigkeit […] zu einer Ermüdung ähnlich wie die Muskelarbeit«36 führe. Diese angenommene Ähnlichkeit zwischen geistiger und körperlicher Arbeit verweist auf die physiologischen Denkmodelle des 19. Jahrhunderts, die für die Diskursivierung des bewegten Körpers von zentraler Bedeutung sind. Der Historiker Anson Rabinbach hat diese Denkmodelle in seiner Studie Motor Mensch am Topos der Ermüdung ausführlich untersucht. Ausgangspunkt ist die These, dass die Arbeitskraft des Menschen den »fundamentalen Imperativ [bildete], der Gesellschaft und Natur im Denken des 19. Jahrhunderts« verband.37 Genau diese Arbeitskraft und die Folgen ihrer Überbeanspruchung waren auch Gegenstand der Überbürdungsdebatte. Daher beruhte die Diagnose einer Überbürdung des Schülerkörpers wie auch die vor diesem Hintergrund vorgetragene Kritik an der Schule weniger auf pädagogischen oder schulpolitischen Erwägungen, als vielmehr auf einer »Allianz von Reflexionseliten der Schule mit Medizinern«.38 Diese Allianz schulischer und medizinischer Sprecher beschrieb den Körper auf eine spezifische Weise. Da das Problem der Ermüdung im Allgemeinen ebenso wie das der Überbürdung im Speziellen in der Endlichkeit von (geistiger und physischer) Kraft bestand, wurde nicht nur in Elsass-Lothringen eine Kräftigung des Körpers und ein Ausgleich in Form von körperlicher Bewegung empfohlen. Zum Beispiel insistierte der bereits erwähnte Hasemann: »Eine große Hauptsache bleibt neben der Verringerung der Schul- und 34 | Vgl.: o.A.: Ärztliches Gutachten über das höhere Schulwesen Elsaß-Lothringens, in: Pädagogisches Archiv 25, 1883, S. 81f. 35 | Ebd., S. 124. 36 | Ebd., S. 98. 37 | Vgl.: Rabinbach, Motor Mensch, S. 12-17, Zitat S. 12. 38 | Oelkers, Physiologie, Pädagogik und Schulreform, S. 252.
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Das Subjekt des Fußballs
Arbeitsstunden unter allen Umständen die ausgiebige Bewegung des Körpers in frischer Luft.«39 Schon in dem Gutachten für Elsass-Lothringen hatte sich ein Teil der Expertenkommission ausschließlich mit der spielerischen Betätigung des Körpers im Freien beschäftigt. Die Befunde der Experten illustrieren die für das Sprechen über Bewegungsspiele eigentümliche Mischung pädagogischer Weisheiten mit naturwissenschaftlichen ›harten Fakten‹. Viele Pädagogen alter und neuer Zeit hätten den »Einfluß, welchen die körperliche Thätigkeit auf Gesundheit, Rüstigkeit, Gewandtheit und Widerstandsfähigkeit des Körpers gegen Erkrankung ausüben« gepriesen. Allerdings würden die Schulen dieses pädagogische Wissen nicht berücksichtigen. Sie hätten vergessen »den mächtigen natürlichen Trieb zu anhaltender Bewegung und Kraftübung zu pflegen«.40 In diesem Kontext geriet das (Schul-)Turnen, das Mitte des 19. Jahrhunderts noch als probates Mittel galt »tüchtige Söhne« für das »Vaterland« heranzubilden, wie es in der bereits zitierten Cabinettsordre hieß, in die Kritik. Beispielsweise hielten die elsässisch-lothringischen Gutachter dem Schulturnen vor, den Körper des Kindes in falscher Weise zu berücksichtigen. Gerade das Turnen nach Spieß spanne den Schüler ab und kräftige »den Körper nicht wesentlich«.41 Ein Gutachten für das Großherzogtum Hessen kam zu einem ganz ähnlichen Ergebnis. Die Turnstunden müssten durch Spiele im Freien und andere Bewegungsformen ergänzt werden.42 Die Ergänzung des Turnens durch Bewegungsspiele markiert eine wesentliche Verschiebung in der Diskursivierung bewegter Körper. Diese Verschiebung wird in drei Abschnitten nachgezeichnet. Im ersten Abschnitt wird die Herausbildung der so genannten »Spielbewegung« Anfang der 1880er Jahre skizziert.43 Der Fokus richtet sich dabei vor allem auf das veränderte Verhältnis zwischen der Problematisierung des (Schüler-)Körpers und dessen Bewegung, welches sich primär in einer Kritik am Schulturnen niederschlug. Anfang der 39 | Hasemann, Ueberbürdung der Schüler, S. 74. 40 | Vgl.: o.A., Gutachten über das höhere Schulwesen Elsaß-Lothringens, S. 98-102, Zitat S. 99f. 41 | Ebd. 42 | Vgl.: o.A.: Gutachterlicher Bericht der Kommission zur Prüfung der Frage nach der Überbürdung der Schüler höherer Lehranstalten mit häuslichen Arbeiten und Lernstoff. An das grossherzogl. hessische Ministerium des Inneren und der Justiz, in: Pädagogisches Archiv 25, 1883, S. 580-596. 43 | Vgl. ausführlich zur Überbürdungsdebatte und ihrem Verhältnis zur Spielbewegung: Hamer, Eerke: Die Anfänge der ›Spielbewegung‹ in Deutschland, Göttingen 1989. Vgl. ferner sehr verkürzt zum Verhältnis von Überbürdung, Fußball und Spielbewegung: Oberschelp, Malte: Der Fußball-Lehrer. Wie Konrad Koch im Kaiserreich den Ball ins Spiel brachte, Göttingen 2010, S. 25-37.
III. Bewegte Körper
1890er Jahre fand die Spielbewegung ihren organisatorischen Ort im Zentralausschuss zur Förderung der Volks- und Jugendspiele (ZA). Dem ZA, seinen Initiativen und vor allem seiner körperpolitischen Position gilt das Interesse des zweiten Abschnitts. Im dritten Abschnitt wird schließlich jener »Schauplatz von Kämpfen«44 abgesteckt, auf welchem um die Bestimmung akzeptabler Gebrauchsformen des Körpers in turnerischen, spielerischen und sportiven Praktiken gerungen wurde.
4.1 Überbürdete Körper in Bewegung Um die Kritik am (Schul-)Turnen im Kontext der Überbürdungsdebatte einordnen zu können, ist ein kursorischer Ausflug in die Geschichte des Turnens im 19. Jahrhundert vonnöten. Es geht in erster Linie auf die Anfang des 19. Jahrhunderts von Friedrich Ludwig Jahn mit Berliner Schülern im Freien durchgeführten gymnastischen Übungen zurück, die auf der Gymnastik des Philanthropen Johann Christoph Friedrich GutsMuths beruhten.45 Es gilt als unstrittig, dass »sich die Turnbewegung während der ersten Hälfte [des 19. Jahrhunderts] zu einem zentralen Bestandteil des organisatorischen Rückgrats der deutschen Nationalbewegung entwickelte.«46 Mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit war diese Teilhabe an der Nationalbewegung ausschlaggebend für die in der Folge der Karlsbader Beschlüsse von 1819 verfügte Schließung der Turnplätze von 1820. Erst die Cabinetsordre Friedrich Wilhelms IV. hob diese so genannte »Turnsperre« auf und führte das Turnen als obligatorisches Schulfach ein. Allerdings betraf die Sperre nicht alle Bereiche des Turnens und die einzelnen Staaten des Deutschen Bundes setzten sie unterschiedlich rigide um. Das Turnen blieb teilweise als Unterrichtsfach erhalten und kommerzielle Hallenturnanstalten wurden geduldet.47 Vor allem Letzteres führte dazu, dass sich das Turnen als Praktik zunehmend an Geräten und Einzelübungen ausrichtete und seinen kollektiven, eher gymnastisch-choreographischen Charakter einbüßte. Einer der schärfsten Kritiker dieser Fokussierung auf das Turnen an Geräten war Adolf Spieß. Er ordnete das Turnen in seiner zwischen 1840 und 1846 in vier Bänden veröffentlichten Lehre der Turnkunst in einer bis zu diesem Zeitpunkt unerreichten Systematik.48 Spieß kritisierte vor allem die Spezialisierung und daher disharmonische Ausbildung des Körpers im Turnen. 44 | Bourdieu, historische und soziale Voraussetzungen, S. 172. 45 | Vgl.: Eisenberg, English Sports, S. 96-110. 46 | Goltermann, Körper der Nation, S. 61. 47 | Vgl.: Eisenberg, English Sports, S. 121. 48 | Vgl.: Ebd., S. 141ff. Siehe auch: Pfister, Gertrud: The Role of German Turners in American Physical Education, in: International Journal of the History of Sport 26, 2009, S. 1893-1925, hier S. 1896f.
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Das Subjekt des Fußballs »Man […] begnügt sich mit den Gelenkübungen, unter welchem Namen eine Anzahl trefflicher, aber zu keinem Ganzen erweiterte Reihe von Uebungen bekannt ist. Viele Turner bleiben daher, bei oft erlangter Meisterschaft in verschiedenen Turnarten, ungeübt und ungeschickt in Darstellungen, wo der freie Leib nur Uebung hat.«
Leicht könne man erkennen, so Spieß weiter, »wie viel kunstvoller der ganze Leib durch solche Uebungen wird«.49 Zwei Aspekte sind am Spieß’schen Turnen hervorzuheben. Erstens zielte es auf eine Bearbeitung des gesamten Körpers. Zu diesem Zweck unterteilte Spieß die Freiübungen, d.h. Übungen ohne Geräte, zum einen hinsichtlich der einzelnen Praktiken und zum anderen hinsichtlich der jeweiligen Körperteile. Alle Praktiken u.a. Stehen, Gehen, Hüpfen, Springen, Laufen und Drehen, gliederte Spieß wortwörtlich von Kopf bis Fuß. Die Spieß’sche Systematik sezierte den menschlichen Körper und wies jedem einzelnen Glied spezifische Praktiken zu. Beispielsweise gab es allein für die »Fußübungen« im Stehen sechs Übungen, die verschiedene Teile des Fußes betrafen.50 Zweitens erhielt das Turnen nach Spieß eine nicht zu unterschätzende militärische Facette. Es war auf kollektive Übungen ausgerichtet, die auf das Kommando eines verantwortlichen Lehrers oder Vorturners durchgeführt werden sollten. Die geradezu chirurgische Einteilung des Körpers ergänzte den militärischen Charakter. Durch die kleinschrittige Aufteilung der Übungen sowie die Befehlsstruktur fühlten sich die Zeitgenossen an den Drill der militärischen Formalausbildung erinnert.51 Nach Aufhebung der Turnsperre und der Einführung des obligatorischen Turnunterrichts an preußischen (und spätestens nach der Reichsgründung an allen anderen) Schulen, avancierte das Spieß’sche Turnen zum hegemonialen – wenn auch nicht unumstrittenen – Modell der Turnpraxis in Schule und Verein. In den 1880er Jahren geriet diese Form des Turnens zunehmend in die Kritik. Das Befehl-Gehorsam-Prinzip und das Hallenturnen galten als ebenso schädlich, wie der Schulunterricht und die schlecht belüfteten, zu dunklen Klassenräume. Bewegungsspiele an der frischen Luft wurden daher in Gutachten, Schriften und Vorträgen zur Überbürdung immer wieder als notwendige Ergänzung zum Turnen empfohlen.
49 | Vgl.: Spieß, Adolf: Die Lehre von der Turnkunst. Erster Theil: Die Freiübungen, 2. unv. Aufl., Basel 1867 [1840], S. 3f., Zitate ebd., Hervorh. i. Orig. 50 | Vgl.: Ebd., S. 56f., Zitat S. 56. 51 | Vgl.: Eisenberg, English Sports, S. 143.
III. Bewegte Körper
Die Förderung der Bewegungsspiele propagierte die so genannte Spielbewegung. Sowohl zeitgenössisch52 als auch in der Sekundärliteratur53 galten und gelten die Schriften Emil Hartwichs und der so genannte »Spielerlass« Gustav von Goßlers als wichtigste Referenzen. Eingangs seiner zwischen 1881 und 1882 dreimal aufgelegten, sehr populären Broschüre Woran wir Leiden stellte Hartwich eine recht pessimistische Diagnose.
52 | So empfahlen Schenckendorff und Schmidt 1892 Hartwichs Broschüre als wichtigen Beitrag zur Spielbewegung: Schenckendorff, Emil von/Schmidt, Ferdinand August: Schriften über Jugend und Volksspiele, in: Dies. (Hg.), Allgemein unterrichtende Mitteilungen 1, 1892, S. 21-25; Vgl. zu Hartwich ferner: Hueppe, Volksgesundheit durch Volksspiele, S. 5; Ders.: Ueber die Spielbewegung in Deutschland und die Entstehung des Deutschen Fußballbundes, in: DFB (Hg.), 25 Jahre Deutscher Fußballbund, S. 5158, hier S. 54. Vgl. zu von Goßler: Eitner, Moritz: Die für die Einführung der Jugendspiele in den Schulen maßgebenden Grundsätze, in: Schenckendorff/Schmidt (Hg.), Allgemein unterrichtende Mitteilungen 1, 1892, S. 47-55, hier S. 47; Euler, Carl: Staatsminister Dr. Gustav von Goßler in seiner Wirksamkeit für die körperliche Erziehung, in: JfVJ 8, 1899, S. 1-11; Notthafft, Albrecht: Vergleichende Untersuchungen über Turnen und Bewegungsspiel und ihren Wert für die körperliche Erziehung, in: DVöG 30, 1898, S. 472-521, hier S. 486; Schenckendorff, Emil von: Die heutige Bewegung für Jugendund Volksspiele in Deutschland, in: Ders./Schmidt (Hg.), Allgemein unterrichtende Mitteilungen 4, 1895, S. 2-4, hier S. 3; Schmidt, Ferdinand August: Emil Hartwich und seine Bedeutung für die Förderung der Leibesübungen in Deutschland, in: Jahrbücher der deutschen Turnkunst 33, 1887, S. 14-24; Stoewer, R.: Das Turnspiel im deutschen Männerturnverein, in: DTZ 33, 1888, S. 665-669, hier S. 665; Vortrag des Stadtrat Dr. Karding auf dem 12. Schleswig-Holsteinischen Städtetage in Altona am 8. Juni 1907 über Pflege der Jugendspiele in den Städten, abgedr. in: Norddeutscher Fußball-Verband (Hg.), Was wir wollen, S. 38-48, hier S. 38. Vgl. zu Hartwich und von Goßler: Koch, Konrad: Ein Menschenalter deutscher Spielbewegung, in: KuG 11, 1902/1903, S. 2529, hier S. 26; Kohlrausch, Ernst: Bewegungsspiele, Leipzig 1899, S. 10; Hueppe, Ferdinand: Zur Einführung, in: DFB-Jahrbuch 9, 1912, S. 6-8, hier S. 6. 53 | Vgl. v.a.: Hamer, Spielbewegung; ferner: Denke, Heinz/Scherer, Ulrich: Turnspiel oder Sportspiel. Zur Diskussion im Zentralausschuß für Volks- und Jugendspiele 18911900, in: Schmidt, Dieter/Spitzer, Giselher (Hg.), Sport, S. 113-128, hier S. 115; Naumann, Marek: Zur Geburt des deutschen Fußballs aus dem Geiste des Turnens, in: Böhnisch, Lothar/Rautenberg, Michael/Tillmann, Angela (Hg.), Doppelpässe, S. 30-51; Oberschelp, der Fußball-Lehrer, S. 25f.; Sachse, Horst: Fußball in und um Leipzig. Von den Anfängen bis 1945, Leipzig 2000, S. 9; Thomas, Michael: Vom Turnspiel zum Sport. Die Anfänge des Fußballspiels in Magdeburg (1881-1897), in: Stadtarchiv Magdeburg (Hg.), Anpfiff in Magdeburg, S. 9-41, hier S. 12.
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Das Subjekt des Fußballs »Tausende von aufmerksamen Beobachtern sind überzeugt, daß die Ausbildung unserer Jugend eine zu einseitige ist; daß vor allem die Pflege und Berücksichtigung des Körpers zum großen Unheil unserer Nation seit vielen Jahrzehnten thatsächlich als Stiefkind und Aschenbrödel behandelt wird.« 54
Im Gegensatz zu den meisten anderen an der Debatte Beteiligten stellte er jedoch keine Reduktion der Unterrichtsstunden in den Mittelpunkt seiner Überlegungen, sondern den Körper. Hartwich war überzeugt, dass die Physiologie in der schulischen Erziehung bisher zu sehr vernachlässigt worden sei und er plädierte dafür sie zur Grundlage der gesamten Erziehung zu machen.55 Entsprechend sah er das »allereinfachste, billigste, wirksamste und allersittlichste Mittel« zur Behebung der in der Überbürdungsdebatte verhandelten Schäden darin, »den Menschen von Jugend auf durch rationelle Uebung seiner eigenen Leibes-Kräfte gesünder, stärker und zufriedener zu machen, d.h. fähiger, den Kampf um’s Dasein durchzukämpfen.«56 In seiner Argumentation beließ er es nicht bei einer sozialdarwinistisch gewendeten Ertüchtigung für das Leben. Ganz konkret zeigte er sich auch über die »Zahl der ›Untauglichen‹« besorgt. Zudem betonte er eine ethische Facette der Leibesübungen, denn nur durch »Turn- und Jugendspiele, die Leib und Seele erfrischen« könne man den ganzen Menschen in der Schule bilden. Hartwichs Forderungen liefen darauf hinaus, »dem modernen Dogma des ›alleinseligmachenden Geistes‹ folgendes ›Dogma‹ gegenüber[zustellen]: Die Pflege des Körpers und des Gemüthes muß wieder ebenbürtig der des Geistes werden!« Und genau darin lag, so sein zentrales Argument, das Problem. Die »homöopathische Dosis von Leibesübung« in der Schule, d.h. die zwei obligatorischen Turnstunden pro Woche, sei zu gering. Daher richtete er seinen Blick auf England, in dessen »herrlichen Spielen und Leibesübungen« er den zentralen Impuls gegen die Überbürdung sah.57 Hartwichs Position, das Schulturnen durch Bewegungsspiele zu ergänzen, bildete für das Sprechen über Bewegungsspiele und Turnen in den folgenden Jahrzehnten die konsensfähige und am weitesten verbreitete Haltung. Ein Jahr nach der Erstauflage von Woran wir Leiden erschien im Centralblatt für die gesammte Unterrichtsverwaltung in Preußen ein Rundschreiben des preu54 | Hartwich, Emil: Woran wir leiden. Freie Betrachtungen und praktische Vorschläge über unsere moderne Geistes- und Körperpflege in Volk und Schule, 2. Aufl., Düsseldorf 1882, S. 6. 55 | Vgl.: Eichelsheim, M. (Hg.): Reden über die vernachlässigte leibliche Ausbildung unsere Jugend von Emil Hartwich, Düsseldorf 1884, S. 5, nach: Hamer, Spielbewegung, S. 293. 56 | Hartwich, Woran wir Leiden, S. 10, Hervorh. i. Orig. 57 | Vgl.: Ebd., S. 16-26, Zitate S. 16f., S. 24, S. 22, S. 26, Hervorh. i. Orig.
III. Bewegte Körper
ßischen Kultusministers von Goßler.58 Auch er bezog sich explizit auf die »Ueberbürdung und Ueberanstrengung der Jugend«;59 schrieb sich also genau wie Hartwich in die Überbürdungsdebatte ein. Er forderte die Schulen dazu auf, das »Spiel als eine für Körper und Geist, für Herz und Gemüth gleich heilsame Lebensäußerung der Jugend […] in ihre Pflege zu nehmen und zwar nicht bloß gelegentlich, sondern in geordneter Weise.«60 Ähnlich wie Hartwichs Broschüre erfuhr auch von Goßlers Rundschreiben breite Resonanz. Tageszeitungen und die DTZ druckten den Spielerlass kurz nach dessen Erscheinen ab,61 so dass er einer verhältnismäßig großen Zahl der (bürgerlichen) Leserschaft zugänglich war. In der Kölnischen Zeitung äußerte der verantwortliche Redakteur die Hoffnung, dass »auch das beteiligte Publicum und die Gemeinden ihrerseits wieder der Staatsverwaltung helfend zur Seite stehen«62 werden. Bewegungsspiele erhielten nicht nur Eingang in Zeitungen, sondern fanden auch ihren Niederschlag im Büchermarkt. Vor allem zu Beginn der 1880er Jahre erschienen zahlreiche Spielbücher. Deren Erscheinungsdaten zeigen, dass Spielerlass und Woran wir leiden einen starken Anreiz zum Sprechen über den bewegten Körper bildeten. Erschienen zwischen 1870 und 1880 15 Spielbücher, so wurden in den folgenden fünf Jahren doppelt so viele veröffentlicht, wovon allein 13 auf das Jahr 1883, also zwei Jahre nach Woran wir Leiden und ein Jahr nach dem Spielerlass, entfielen. Zwischen 1886 und 1890 lässt sich ein leichter Rückgang (15 Publikationen) und ab 1891 (allein 8 Publikationen für dieses Jahr) wiederum ein deutlicher Anstieg verzeichnen. Etliche dieser Schriften, die unterschiedliche Spiele formal und inhaltlich beschrieben, trugen im Untertitel einen expliziten Verweis auf das »MinisterialReskript«.63 Die Spielbücher wurden in großer Zahl publiziert und verkauft. 58 | Inwieweit von Goßler mit diesem Rundschreiben auf Hartwichs Broschüre zurückgriff, ist ebenso unklar wie die Frage, ob er dessen wesentliche Ideen übernahm oder das Rundschreiben schon länger vorbereitet worden war. Vgl.: Hamer, Spielbewegung, S. 512-515. 59 | Vgl.: Goßler, Gustav von: Beschaffung von Turnplätzen, Betreibung von Turnübungen und Turnspielen im Freien, Einrichtung von Turnfahrten, in: Centralblatt für die gesammte Unterrichtsverwaltung in Preußen 24, 1882, S. 710-715, Zitat S. 714. 60 | Goßler, Beschaffung von Turnplätzen, S. 711. 61 | Vgl.: Hamer, Spielbewegung, S. 504, Fußnote 875. Die Kölnische Zeitung druckte den Erlass am 07.11.1882, die Vossische am 08.11.1882 und die DTZ am 18.11.1882. 62 | Kölnische Zeitung, 07.11.1882. 63 | Trapp, Eduard/Pinzke, Hermann: Das Bewegungsspiel. Seine geschichtliche Entwicklung, sein Wert und seine methodische Behandlung, nebst einer Sammlung von über 200 ausgewählten Spielen und 25 Abzählreimen. Auf Grund und im Sinne des Ministerial-Reskripts vom 27. Oktober 1882, 6., verm. Aufl., Langensalza 1897 [1884]. Die erste, zweite und dritte Auflage sind nicht mehr verfügbar. Vgl. ferner: Georgens,
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So freuten sich Eduard Trapp und Hermann Pinzke im Vorwort der zweiten Auflage darüber, dass die »ziemlich starke Auflage unseres Spielbuches doch so schnell vergriffen […] [war], daß schon nach Jahresfrist eine neue Auflage nötig wird.«64 Die Konjunktur des Überbürdungstopos rückte den Schülerkörper und dessen Gefährdung in das Interesse der Zeitgenossen. Der Körper in Bewegung wurde in diesem Zusammenhang deutlich innerhalb der drei Problematisierungsachsen situiert. Exemplarisch lässt sich dies an einer Eingabe des von Hartwich und anderen gegründeten Zentralvereins für Körperpflege in Volk und Schule an das Preußische Abgeordnetenhaus zeigen. Die Petenten beklagten eine Zunahme von »Kurzsichtigen« und Schülerselbstmorden, den hohen »Prozentsatz Untauglicher der zum einjährig freiwilligen Dienste Berechtigten« sowie eine zunehmende »Verweichlichung und unmännliche Schwäche« unter den Schülern höherer Lehranstalten. In diesen werde »in leider allzuvielen Fällen anstatt eines naturwüchsigen rüstigen Jünglings eine ›welke Treibhauspflanze‹ groß gezogen«.65 Indem der Schülerkörper innerhalb der drei Problematisierungsachsen situiert wurde, war dessen Überbürdung weder eine exklusiv pädagogische Frage, noch blieb sie auf ein ausschließlich schulisches Problem beschränkt. Sie geriet vielmehr zu einer Gefahr für den gesunden, männlichen und militärtauglichen Volkskörper. Angesichts dieser hohen Relevanz der Überbürdungsproblematik bildete der bewegte Körper seit den 1880er Jahren eine praktische Lösung verschiedener Problemdiagnosen. Indem bestimmte Eigenschaften des Turnens – Drill und ungesunde Räumlichkeiten – als ebenfalls schädlich qualifiziert wurden, ergab sich eine speJan Daniel: Das Spiel und die Spiele der Jugend. Ihre pädagogische Begründung und Notwendigkeit wie ihre praktische Durchführung bei Knaben und Mädchen auf den verschiedenen Altersstufen. Auf Grund der Anregung des kgl. preuss. Unterrichtsministers unter spezieller Berücksichtigung des Erlasses vom 27. Oktober 1882, Leipzig 1884; Krause, Wilhelm: Hinaus zum Spiel! Eine reichhaltige Sammlung von Bewegunggspielen im Freien für die Jugend. Mit Zugrundelegung der Bestimmungen, die im dem Erlass des Königl. Preuss. Unterrichts- und Kultusministers vom 27. Oktober 1882 ausgesprochen sind, als Hand- und Hilfsbuch für die gesamte Jugend, deren Erzieher und Freunde, Berlin 1883; Lausch, Ernst: 134 Spiele im Freien (Bewegungsspiele) für die Jugend (Knaben und Mädchen). Zum Gebrauch auf dem Turnplatze, bei Kinder- und Volksfesten, Spaziergängen u. s. w. Zur Unterstützung einer geordneten Körperpflege und harmonischen Erziehung. Auf Grund der Bestimmung des königl. preuß. Kultus- und UnterrichtsMinisteriums vom 27. Oktober 1882, Wittenberg 1883. 64 | Trapp/Pinzke, Bewegungsspiel, S. IV. 65 | Petition des Zentralverein für Körperpflege in Volk und Schule an das Preußische Abgeordnetenhaus vom 5.12.1882, abgedr. in: Hamer, Spielbewegung, S. 776-779, Zitate S. 776, S. 777.
III. Bewegte Körper
zifische Neubewertung körperlicher Bewegungen: Nicht allein das Turnen, sondern Turnen und Bewegungsspiele sollten den Schäden der Überbürdung gemeinsam Abhilfe schaffen.
4.2 »Der Anprall wird sich erneuern«: Der Zentralausschuss Die ›konjunkturellen Schwankungen‹ der Spielbücher – enormer Anstieg zwischen 1881 und 1885, signifikanter Rückgang ab 1886, erneuter Anstieg nach 1890 – entsprechen in etwa dem Auf und Ab der Spielbewegung. Trotz der Veröffentlichung verhältnismäßig vieler Bücher, die Bewegungsspiele inhaltlich und formal beschrieben, gelang bis Ende der 1880er Jahre keine »systematisch und allgemein betriebene Einführung der Spiele an den (höheren) Schulen«.66 In einem Überblicksartikel zu den Leibesübungen in der Überbürdungsliteratur von 1887 urteilte beispielsweise Ferdinand August Schmidt: »Grosse Worte, eine Unzahl von Vorschlägen, Beschlüssen von massgebenden Versammlungen, amtliche Erlasse – alles liegt vor, geändert hat sich aber auch hier vorläufig noch wenig.« Zugleich zeigte er sich jedoch überzeugt von einer Verstetigung der Spielbewegung durch die Überbürdungsdebatte. »[K]eine Frage: der Anprall wird sich erneuern, und immer wieder erneuern […] [und] die Mannen [werden] streiten für die Mehrung unseres Volkswohls und unserer Volkskraft durch vernunftgemässe körperliche und geistige Erziehung«.67 Schmidt behielt recht. Im Mai 1891 gründeten Mitglieder der DT (u.a. Schmidt und Ferdinand Goetz, Vorsitzender der DT) gemeinsam mit prominenten Vertretern der Spielbewegung (u.a. August Hermann, Konrad Koch und Hermann Raydt) den ZA in Görlitz. Personell setzte er sich aus Medizinern, Lehrern, Turnern, Turnlehrern und Politikern (von Bürgermeistern bis hin zu Abgeordneten) zusammen. Vorsitzender und Initiator war der nationalliberale Abgeordnete Emil von Schenckendorff. Mit der Gründung des ZA nahmen die Zahl der Veröffentlichungen und konkretere Bemühungen um eine flächendeckende Einführung der Bewegungsspiele wieder zu – und die Position der Spielbewegung erfuhr eine organisatorische Verstetigung. Im Folgenden werden zunächst die konkreten Initiativen des ZA erläutert und dann seine körperpolitische Position konturiert.
66 | Hamer, Spielbewegung, S. 515. 67 | Schmidt, Ferdinand August: Leibesübungen an den Schulen in der Überbürdungslitteratur, in: Jahrbücher der deutschen Turnkunst 33, 1887, S. 301-312, Zitate S. 302. Vgl. zur Enttäuschung über die an den Spielerlass gerichteten Erwartungen ferner: Hermann, August: Zur Geschichte der Volks- und Jugendspiele, in: Schenckendorff/ Schmidt (Hg.), Allgemein unterrichtende Mitteilungen 1, 1892, S. 26-31, hier S. 30f.
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Das Subjekt des Fußballs
Der ZA engagierte sich für die Schaffung von Funktionsräumen für Bewegungsspiele, die Ausbildung von Spielleiter_innen sowie Vereinheitlichungen von Regeln. Ferner lässt sich eine umfangreiche »publizistische Werbetätigkeit« verzeichnen.68 Als nach dem Spielerlass, der die »Beschaffung von Turnplätzen« sogar explizit im Titel getragen hatte, auch die »Spielplatzfrage«,69 d.h. die Frage nach der Schaffung von Funktionsräumen, vor allem aus Mangel an finanzieller Unterstützung70 gescheitert war, nahm sich der ZA dieser Aufgabe erneut an. Inwiefern dessen Initiativen zur Bereitstellung von Funktionsräumen für das Bewegungsspiel ausreichten, ist schwer zu ermessen.71 Beklagte sich etwa Gerstenberg 1902, in Hamburg mangele es »an geeigneten Spielplätzen«,72 so lobte Moritz Zettler den ZA im gleichen Jahr dafür, dass auf seine Initiative »viele Städte öffentliche Spielplätze angelegt haben.«73 Offenbar verdoppelte sich die Fläche der »in den Städten über 5000 Einwohnern vorhandenen Spielplätze […] von 9 1/2 auf 18 1/2 Millionen qm«,74 wie der Flensburger Stadtrat Ernst Karding in einem Vortrag bemerkte.75 Allerdings, so fuhr er fort, sei dies verglichen mit der Spielfläche pro Kopf in England immer noch sehr wenig. Der Vereinheitlichung und – gegebenenfalls – Übersetzung von Spielregeln widmete sich seit 1894 der Technische Ausschuß des ZA.76 Bereits ein Jahr nach dessen Gründung stellte Koch in der DTZ seinen Regelentwurf für das Fußballspiel zur Diskussion, welcher – mit einigen Abänderungen – 1906 bereits in siebter und 1921 in 15. Auflage erschien. Auch für andere Spiele wurden
68 | Eisenberg, English Sports, S. 264. 69 | Beispielsweise: Schenckendorff, Emil von: Die Ergebnisse der Sitzung des ZentralAusschusses am 30. Juni 1894 zu Thale, in: JfVJ 4, 1895, S. 301-303, Zitat S. 302. 70 | Vgl. hierzu ausführlich und mit Gegenbeispielen, die auf privater oder kommunaler Initiative beruhten: Hamer, Spielbewegung, S. 518-527. 71 | Vgl. als zeitgenössischen statistischen Überblick für 1895: Woidowsky-Biedau, Victor: Die Jugendspiele an den höheren Lehranstalten, Lehrerseminaren und Präparandenanstalten Deutschlands im Jahre 1894, in: JfVJ 4, 1895, S. 215-300, hier S. 221. 72 | Gerstenberg: Die Pflege der Leibesübungen auf den höheren Schulen Hamburgs und die neuen preußischen Lehrpläne. Teil 3: Spiele und Sport, in: KuG 11, 1902/1903, S. 171-174, Zitat S. 171. 73 | Zettler, Moritz: Methodik des Turnunterrichts, 3. veränd. und verm. Aufl., Berlin 1902, S. 267. 74 | Vortrag Dr. Karding, S. 45. 75 | Rechnerisch entspricht eine solche Fläche etwas mehr als 1000 Fußballfeldern. 76 | Vgl.: Eitner, Moritz: Die Bildung eines technischen Ausschusses, in: JfVJ 4, 1895, S. 308-312.
III. Bewegte Körper
einheitliche Regeln geschaffen.77 Da die Vertreter des ZA gerade im Wettkampf ein besonderes Potenzial zur Popularisierung der Bewegungsspiele sahen, sollten vor allem jene Spiele, »welche besonders zu Wettspielen geeignet sind«, durch die Vereinheitlichung ihrer Regeln gefördert werden.78 Damit die Spiele nicht nur nach den Buchstaben, sondern auch praktisch beherrscht würden, richtete der ZA ferner Ausbildungskurse ein, in denen Lehrer_innen zu Spielleiter_innen ausgebildet wurden. Den Sinn dieser Ausbildung beschrieb Raydt auf einer Versammlung des ZA im Mai 1904 wie folgt: »Wenn auch nicht unbedingt nötig, so ist es andererseits sehr wünschenswert, daß die mit der Spielaufsicht betrauten Lehrer sich inniger, als es durch theoretisches Studium der Spielregeln geschehen kann, mit dem Spielbetriebe vertraut machen. Dazu bieten die seit 12 Jahren in unserem Zentralausschuß veranstalteten Spielkurse die allerbeste Gelegenheit.«
Raydt vermeldete mit Stolz, dass bis 1903 insgesamt »7353 Personen, 5186 Männer und 2167 Frauen […] ausgebildet« worden seien.79 Während die Ausbildungstätigkeit und der Erfolg in der Spielplatzfrage nur ungenau zu ermitteln sind – 1906 soll es angeblich schon 10.000 Spieleiter_innen gegeben haben –,80 ist ein Großteil der Regelhefte sowie das weitere Schrifttum des ZA erhalten geblieben. Dieses sehr umfangreiche Korpus81 sowie die zahlreichen Einzelpublikationen der Protagonisten des ZA82 zeichnen sich durch eine intensive und ausführliche Thematisierung des Körpers in Bewegung aus. Anhand dieses Korpus wird im Folgenden die körperpolitischen Position des ZA für folgende Dimensionen skizziert: Zielgruppe, Zeitlichkeit und Epistemologie des Körpers. Zielgruppe: Diese war, wie schon die Bezeichnung Volks- und Jugendspiele verrät, denkbar breit. Neben Schülern der höheren Schulen, die noch die pri77 | Beispielsweise erschienen die Regeln des Schlagballspiels bis 1918 in 14, des Tamburinballs bis 1919 in neun und die des Grenzballs bis 1912 in sieben Auflagen. 78 | Vgl.: Eitner, Bildung eines technischen Ausschusses, S. 311, Zitat ebd. 79 | Vgl.: Referat Raydts zum Thema: Ein allgemein verbindlicher Spielnachmittag für Knaben- und Mädchenschulen, abgedr. in: KuG 13, 1904/1905, S. 99-106, Zitate S. 104. 80 | Vgl.: o.A.: Aufruf!, in: KuG 14, 1905/1906, S. 389-392, hier S. 390. 81 | Neben Broschüren und Regelheften erschienen das Jahrbuch für Jugend- und Volksspiele (seit 1896 Jahrbuch für Volks- und Jugendspiele) sowie monatlich die Zeitschrift für Turnen und Jugendspiel (seit dem Jahrgang 1902/1903 Körper und Geist). 82 | Allein die eifrigsten Mitglieder August Hermann, Konrad Koch, Hermann Raydt und Ferdinand August Schmidt veröffentlichten zwischen 1881 und 1918 über dreißig Monographien zum Bewegungsspiel sowie fast unzählige Aufsätze und Vorträge.
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Das Subjekt des Fußballs
märe Zielgruppe in der Überbürdungsdebatte gebildet hatten, sollten auch die »schulentlassene Jugend«,83 »die künftigen Mütter des Volkes«84 und das »Volk« im Allgemeinen die »segensreiche Bedeutung der Leibesübungen«85 kennenlernen. Über die negativen Auswirkungen einer Vernachlässigung des Körpers ließen die Mitglieder des ZA ihre Leser nicht im Zweifel. Koch benannte – ähnlich wie schon verschiedene Protagonisten der Überbürdungsdebatte – die Notwendigkeit des Spiels für eine harmonische Entwicklung des kindlichen Körpers und Geistes. Werde dem Kind diese »Lebensbedingung nicht hinreichend geboten, so ist zu fürchten, daß es körperlich und geistig in der Entwickelung zurückbleibt und zu einer Mißgestalt, zu einem Krüppel heranwächst, wie die junge Pflanze, der es an Licht und Luft fehlt.«86 Neben der Vernachlässigung des kindlichen Spieltriebs, galt den Mitgliedern des ZA auch die disharmonische, einseitige körperliche »Verbildung« von Berufstätigen als großes Problem. Das Bewegungsspiel, so Eduard Angerstein mit Bezug auf Handwerker, umfasse »den größten Teil der Muskulatur« und sei daher »keine einseitig ermüdende und somit körperlich verbildende [Tätigkeit], wie es häufig bei handwerklichen Berufsthätigkeiten der Fall ist.«87 Zeitlichkeit: Den Körper in Bewegung besprachen die Vertreter des ZA in allen drei zeitlichen Dimensionen, d.h. Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Der Bezug zur Gegenwart bestand vor allem in gegenwartsdiagnostischen Zustandsbeschreibungen, die sich mit kultur- und großstadtkritischen88
83 | Diskussionen wie man diese Zielgruppe erreichen könne waren u.a. für einen Spielkongress auf dem Städtetag in Dresden vorgesehen. Vgl. die Ankündigung in: KuG 11, 1902/1903, S. 388; Vgl. ferner: Reinmüller: Wie kann die aus der Schule entlassene Jugend zu den Volksspielen herangezogen werden?, in: Schenckendorff/Schmidt (Hg.), Allgemein unterrichtende Mitteilungen, 1, 1892, S. 100-103; Schenckendorff, Emil von: Unsere schulentlassene Jugend, in: JfVJ 18, 1909, S. 15-31. 84 | o.A.: Der gemeinsame Aufruf des Zentral-Ausschusses und der Deutschen Turnerschaft, in: JfVJ 4, 1895, S. 325-328, Zitat S. 327. 85 | Burmester, W.: Bericht über den Vortrag Denekes auf einem Vortragsabend der Hamburger Turnvereine, in: KuG 11, 1902/1903, S. 83. 86 | Koch, Konrad: Der erziehliche Wert der Jugendspiele, in: Schenckendorff/Schmidt (Hg.), Allgemein unterrichtende Mitteilungen 1, 1892, S. 5-7, Zitat S. 5f. 87 | Angerstein, sittliche und physiologische Bedeutung, S. 10. 88 | Vgl. u.a.: Knudsen, Knud Anton: Körperliche Erziehung, in: KuG 15, 1907, S. 177188; Koch, Menschenalter deutscher Spielbewegung; Reinmüller: Die Frage der Jugendspiele in der Großstadt, in: Schenckendorff/Schmidt (Hg.), Allgemein unterrichtende Mitteilungen, 1, 1892, S. 92-95; Schmidt, Ferdinand August: Sport und Volksgesundheit, in: DFB-Jahrbuch 7, 1910, S. 24-29.
III. Bewegte Körper
sowie eugenischen und degenerationstheoretischen89 Positionen verschränkten. Prognosen, die den Diagnosen explizit oder implizit beigeordnet waren, erzeugten Bezugnahmen auf die Zukunft. Diese waren ihrerseits – freilich wenig überraschend – ebenfalls eng mit Degenerationstheorien verbunden. So galt die Gegenwart als eine »Zeit der geistigen Überanstrengung und damit zusammenhängenden Nervosität«. Nur durch »körperliche Übungen« sei die ansonsten »unvermeidliche Degeneration« zu verhindern.90 Hinzu kamen Bezüge zur geopolitischen Lage91 und der Militärtauglichkeit.92 Letzterem trug der ZA durch einen eigenen Unterausschuss Rechnung, der sich ausschließlich mit Fragen der Steigerung der Wehrkraft durch körperliche und geistige Erziehung beschäftigte.93 Auch die Vergangenheit, bildete ein wichtiges Element. Zwei Eckpfeiler bestimmten die Geschichte des Körpers in Bewegung, wie sie die Mitglieder des ZA erzählten: die Antike und die Philanthropen inklusive Jahns. Mit »der Antike« war zumeist Griechenland gemeint. So wurde die deutsche Studentenschaft zur körperlichen Selbstbildung nach griechischen Vorbild aufgerufen. Sie sollten »den hellenischen Jünglingen nacheifernd, den Körper zum starken Träger einer gesunden Seele«94 gestalten. Dass der Topos der gesunden 89 | Vgl. u.a.: o.A., gemeinsamer Aufruf, S. 325f.; Sticker, G.: Die Gesundung des Volkes, in: JfVJ 10, 1901, S. 34-41; Sch.: Nationalökonomischer Wert der Gesundheitspflege, in: KuG 11, 1902/1903, S. 40. 90 | Puttkamer, C. Freiherr von: Die Wiedererstarkung des deutschen Volkstums und das Fest der Deutschen im Jahre 1900, in: JfVJ 7, 1898, S. 41-82, Zitate S. 45, Hervorh., J.E. Vgl. ferner zu Entartung und Bewegungsspiel: Reinmüller, Jugendspiele in der Großstadt, S. 94; Schenckendorff, Emil von: Die Förderung der Spielbewegung durch die deutsche Studentenschaft, in: JfVJ 4, 1895, S. 316-325; Schmidt, Sport und Volksgesundheit, S. 28. 91 | Vgl.: Hueppe, Volksgesundheit durch Volksspiele, S. 13; Hopf, Fr. E.: Die Bedeutung der Leibesübungen für Volksgesundheit und Wehrkraft, in: KuG 15, 1907, S. 273280; S. 289-293, hier S. 273. 92 | Vgl. u.a.: Angerstein, sittliche und physiologische Bedeutung, S. 11; Bernhardi, Deutschland und der nächste Krieg, v.a. S. 72f.; Kemény, Franz: Gegenwart und Zukunft der körperlichen Erziehung, in: KuG 12, 1903/1904, S. 151-155, hier S. 155; o.A., gemeinsamer Aufruf, S. 327; Witting, Jugend- und Volksspiele, S. 2; Pudor, Heinrich: Zur Ästhetik der Bewegungsspiele, in: JfVJ 10, 1901, S. 1-17, hier S. 1; Raydt, Hermann: Zur Einführung, in: JfVJ 18, 1909, S. III-VI; Vollert, Johannes: Wehrkraft und Volkserziehung, in: Zf TJs 1901, S. 209-213. 93 | Vgl. rückblickend: Lorenz, Hermann: Zur Einführung, in: Ders./Schenckendorff, Emil von (Hg.), Wehrkraft durch Erziehung, S. 1-4, hier S. 2f. 94 | Abgedr. in: Schenckendorff, Förderung durch die deutsche Studentenschaft, S. 316-318, Zitat S. 317. Vgl. zu weiteren positiven Bezugnahmen auf Griechenland
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Seele im gesunden Körper eine Abwandlung eines Spruchs des römischen Satirikers Juvenal war, störte im eklektischen Historismus des ZA überhaupt nicht. Folgt man Hermanns Geschichte der Volks- und Jugendspiele, so geschah zwischen dem Untergang des römischen Reiches und dem Ende des 18. Jahrhunderts nicht viel Gutes. Erst durch die Philanthropen, vor allem GutsMuths und Jahn, habe die »Leibesübung eine deutsche Gestaltung« gefunden und sei dem »Jugendspiel eine hohe Bedeutung verschafft« worden.95 Der Hinweis auf die »deutsche Gestaltung« ist wichtig. Bei den historischen Exkursen zum Bewegungsspiel – die auch nahezu allen Praxisanleitungen vorangestellt wurden96 – ging es zum einen darum, der Gegenwart durch eine positiv verklärte Vergangenheit den Spiegel vorzuhalten. Gleichzeitig dienten diese Exkurse aber auch dazu, das Bewegungsspiel in eine deutsche Tradition zu stellen, was insbesondere für »englische Spiele« wie dem Fußball alles andere als leicht war.97 Epistemologie des Körpers: Der gesunde Körper bildete den zentralen Referenzrahmen für die Argumentationen des ZA. Bewegungsspiele galten generell als gesundheitsförderlich. Vor allem Blutzirkulation, Blutbildung, Stoffwechsel und Atemtrakt wurden immer wieder erwähnt und blieben im Sprechen über das Bewegungsspiel zumindest bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs stabil.98 In der zweiten Phase der Spielbewegung erhielt der gesunde Körper durch die noch engere Verquickung von Physiologie und körperlicher Bewegung eine besondere Relevanz.
u.a.: Heeger, Schulturnen und Körperpflege, S. 14; Hopf, Bedeutung der Leibesübungen für Volksgesundheit und Wehrkraft, S. 274; Raydt, Hermann: Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper. Englische Schulbilder in deutschem Rahmen. Nach einer Studienreise aus der Bismarck-Schönhausen-Stiftung, Hannover 1889, S. 230; Reinmüller, schulentlassene Jugend, S. 103; Pudor, Ästhetik der Bewegungsspiele, S. 1. Einer der wenigen Bezüge auf die römische Antike bei: Hermann, Geschichte der Volks- und Jugendspiele, S. 27. 95 | Hermann, Geschichte der Volks- und Jugendspiele, S. 28. 96 | Siehe: Kapitel 8.2. 97 | Vgl. zur zeitgenössischen Tendenz von Suchbewegungen nach dem genuin Germanischen: Oexle, Otto Gerhard: Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Eine Problemgeschichte der Moderne, in: Ders. (Hg.), Krise des Historismus, S. 11-116, hier: S. 47f.; Hardtwig, Krise des Geschichtsbewußtseins. 98 | Vgl. u.a.: Angerstein, sittliche und physiologische Bedeutung, S. 10; Baumgarten, Physische Kraft; Clasen, Bewegungsspiele, S. 5; Hopf, Bedeutung der Leibesübungen für Volksgesundheit und Wehrkraft; Schmidt, Ferdinand August: Leitsätze über Turnen und Spiele, in: KuG 13, 1904/1905, S. 13-15; Zander, Richard: Die Leibesübungen und ihre Bedeutung für die Gesundheit, Leipzig 1900, S. 77-89.
III. Bewegte Körper
War diese Verbindung schon für die Überbürdungsdebatte charakteristisch gewesen, so verdichtete sie sich in den 1890er Jahren vor allem in den Arbeiten Ferdinand August Schmidts. Er gilt als Begründer der Sportmedizin und -physiologie in Deutschland und legte 1899 ein äußerst erfolgreiches Handbuch zur Anatomie, Physiologie und Hygiene der Leibesübungen vor.99 Überschwänglich lobte Richard Zander, dass es sowohl fachlich »unerreicht« dastehe als auch für Laien interessant sei. Schmidt gelänge es, die »dem Laien gewöhnlich langweiligen anatomischen Verhältnisse« interessant zu gestalten, indem er Physiologie und Hygiene mit Anatomie, Anthropologie, Ethnographie und praktischer Medizin sowie Statistik und Kunst geschickt zu verbinden wüsste.100 Zander brachte das umfangreiche publizistische Wirken Schmidts auf den Punkt. Schmidt verstand es, seiner Leserschaft die positiven Auswirkungen der Bewegungsspiele vor allem innerhalb eines popularisierten physiologischen Bezugsrahmens plausibel zu machen. Dies lässt sich auch an den Verkaufszahlen von Unser Körper ablesen. 1922 schrieb ihm sein Verlag, dass die aktuelle Auflage »bis auf ungefähr 400-500 Stück ausverkauft« sei und der »jetzige Vorrat […] je nach Anfrage noch 3, vielleicht auch 4 Monate reichen« wird.101 Schmidts Überlegungen waren auch in der Fachwelt anerkannt. So erhielt er vom »Galilei der neuen Ermüdungswissenschaft«,102 dem Turiner Physiologen Angelo Mosso, 1898 ein Ehrendiplom für seine Arbeiten.103 Gleichzeitig vermochte Schmidt jedoch diese theoretischen Überlegungen für ein breites Lesepublikum sehr einfach zu bündeln. Er verschränkte dabei das Konzept 99 | Schmidt, Ferdinand August: Unser Körper. Handbuch der Anatomie, Physiologie und Hygiene der Leibesübungen, Leipzig 1899. Vgl. zu Schmidt als Begründer der Sportmedizin: Möcker, Friedrich Heinrich: F.A. Schmidt. Geheimrat Prof. Dr. Ferdinand August Schmidt (Bonn) erster Sportphysiologe und Sportarzt. Wissenschaftlicher Begründer der Leibeserziehung, Borsdorf 2012. 100 | Zander, Richard: [Rezension zu:] Unser Körper. Handbuch der Anatomie, Physiologie und Hygiene der Leibesübungen von Dr. med. F.A. Schmidt, in: KuG 11, 1902/1903, S. 414-430, Zitate S. 414f. Vgl. u.a. für weitere lobende Erwähnungen Schmidts: Henning, Dietrich: Wesen und Wert der Leibesübungen, in: DTZ 48, 1903, S. 703-708; S. 753-756; S. 777-780, hier S. 754; Koch, Menschenalter deutscher Spielbewegung, S. 28; Wickenhagen, Hermann: III. Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Schulgesundheitspflege am 20., 21., und 22. Mai in Weimar, in: KuG 11, 1902/1903, S. 162-164. 101 | Stadtarchiv Bonn: Voigtländer Verlag an Schmidt, NL FA Schmidt, SN 146, Mappe 5. 102 | Rabinbach, Anson: Ermüdung, Energie und der menschliche Motor, in: Sarasin, Philipp/Tanner, Jakob (Hg.), Physiologie und industrielle Gesellschaft, S. 286-312, Zitat S. 287. 103 | Möcker, F.A. Schmidt, S. 85.
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der Ermüdung mit dem der Arbeitskraft in einem für die Bewegungsspiele spezifischen Zusammenhang. Erreicht der spielende Knabe »die Höchstgrenze der Atemsteigerung […], so tritt bei Fortsetzung der begonnenen Lauf bewegung bald ein Versagen der Lungenkraft, d.i. die Atemerschöpfung oder Atemlosigkeit ein.« Somit werde »der Höchstanstrengung ein natürliches Ende gesetzt und Überanstrengung leicht vermeidbar gemacht.«104 Neben der Ermüdung als ›natürlicher Gewährleistung‹ der Einhaltung des richtigen Maßes, popularisierte Schmidt das Bewegungsspiel ferner über sein Potenzial zur Steigerung der Arbeitskraft. Diese Aussagen verband er mit eingängigen Pauschalaussagen zum Lebensglück. Nur durch Bewegung in frischer Luft »erreicht man jene Lebensfülle, welche nicht nur die Leistungsfähigkeit in der täglichen Berufsarbeit erhöht, sondern auch edlen und reinen Lebensgenuß und Daseinsfreude schafft.«105 Schmidt propagierte ferner ein symbiotisches Körper-Geist-Verhältnis aus physiologischer Perspektive. In einer auf den Arbeiten William Townsend Porters auf bauenden Untersuchung an Bonner Volksschülern gelangte er zu dem Ergebnis, »daß eine gesunde körperliche Entwickelung Vorbedingung ist und Grundlage auch für gesunde und geistige Auffassungsgabe und Leistungsfähigkeit.«106 Schmidts hier zutage tretende Konzeption des Geistes als einer Art intellektueller Leistungsgröße war allerdings nur eine Facette des Sprechens über Körper und Geist. Indem das Konzept des Geistes sehr deutungsoffen und wenig klar definiert war, hielt die Juvenal’sche Wendung, »daß nur in einem gesunden Körper ein gesunder Geist wohnt«, Einzug in zahllose Monographien, Vorträge und Aufsätze. Dadurch erhielt das symbiotische Körper-Geist Verhältnis einen prominenten argumentativen Ort im Sprechen über Bewegungsspiele und konnte beispielsweise mühelos auf den Zusammenhang zwischen Bewegungsspiel und einer Erzeugung von Männlichkeit übertragen werden. So schwärmte Koch: »[D]as herrlichste Ergebnis der Leibesübungen [… besteht darin,] daß der Geist nicht bloß über Sehnen und Muskeln des Leibes vollkommen Herr wird, sondern auch über 104 | Schmidt, Ferdinand August: Bewegungsspiel und Lungenentwicklung, in: Ders./ Schenckendorff (Hg.), Allgemein unterrichtende Mitteilungen 1, 1892, S. 15-18, Zitate S. 15f. Vgl. ähnlich: Kohlrausch, Bewegungsspiele, S. 13. 105 | Ders.: Die volksgesundheitliche Bedeutung der Jugend- und Volksspiele, in: Ders./Schenckendorff (Hg.), Allgemein unterrichtende Mitteilungen 4, 1895, S. 1-2, Zitat S. 1. Vgl. ähnlich bereits: Angerstein, sittliche und physiologische Bedeutung. Ferner: Zander, Leibesübungen, S. 25-39; Guttmann, Max: Unterricht und Ermüdung, in: KuG 11, 1902/1903, S. 373-380. 106 | Vgl.: Schmidt, Ferdinand August: Gesunder Geist in gesundem Körper. Eine Erhebung an den Bonner Volksschulen, in: KuG 11, 1902/1903, S. 289-291, Zitat S. 291.
III. Bewegte Körper dessen Begehrlichkeiten und Leidenschaften, daß die Jugend mit einem Worte die Selbstzucht üben lerne, die im spätern Leben dem Manne not thut.«107
Für die körperlich-geistige Facette der Selbstbildung vom ›Knaben zum Mann‹ im Bewegungsspiel wählte Moritz Eitner auf der Schulkonferenz von 1890 besonders markige Worte. Das Bewegungsspiel werde »besonders auch für ›blasse verweichlichte Muttersöhnchen‹ […] ein Segen sein«.108 Anfang der 1890er verstetigte sich die Spielbewegung im ZA, der sich um die Verbreitung des Bewegungsspiels als Ergänzung zum Turnen bemühte. Durch die Schaffung von Funktionsräumen, die Ausbildung von Spielleiter_ innen und die Übersetzung der Regeln trug er zur Förderung des Bewegungsspiels auf struktureller Ebene bei. Für die Propagierung des Bewegungsspiels bildete der Körper den privilegierten Referenten. Diese körperpolitische Position des ZA zeichnete sich durch drei Merkmale aus. Die Zielgruppe, auf deren Körper zugegriffen werden sollte, wurde erstens deutlich erweitert. Zweitens wurde der bewegte Körper für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft relevant gemacht. Drittens überführte der ZA den physiologischen Bezugsrahmen, der schon in der Überbürdungsdebatte einen wichtigen Ausgangspunkt gebildet hatte, in ein popularisiertes Modell.
4.3 »Krieg bis aufs Messer«: Das Feld der Körperkultur »Das Gebiet der Körperkultur von heute gleicht einem Felde, das in seinen verschiedenen Teilen sehr ungleich bebaut ist: hier ein Streifen, der jahraus-jahrein und ohne Unterbrechung und Abwechselung mit demselben Samen besät wird (Einseitigkeit); dort ein Boden, der über und überdüngt wird (früher Radfahren, jetzt Fußball); weiter ganz oder teilweise brachliegende Flecken (Geräteturnen, Rudern, Scheibenschießen)«.109
Pointiert fasste Franz Kemény auf dem VIII. deutsch-österreichischen Mittelschultag von 1903 das zusammen, was seit den 1880er Jahren in zahlreichen europäischen Ländern geschehen war. Es hatte sich ein umfängliches Feld der Körperkultur110 herausgebildet, in welchem verschiedene Weisen, den Körper in Bewegung zu setzen, von unterschiedlichen Positionen aus, auf unter107 | Koch, erziehliche Wert der Jugendspiele, S. 7. 108 | Euler, Carl: Die Frage der Körperbildung, insbesondere der Jugendspiele auf der Berliner Schul-Konferenz, in: Schenckendorff/Schmidt (Hg.), Allgemein unterrichtende Mitteilungen 1, 1892, S. 43-46, Zitat S. 44. 109 | Kemény, Gegenwart und Zukunft der körperlichen Erziehung, S. 151. 110 | Da Sport im Kaiserreich (und auch anderen Ländern) als Kampfbegriff fungierte und Kemény ›Körperkultur‹ als Sammelbegriff anbietet, werde ich fortan diesen Begriff statt des stilistisch unschönen ›Feld des Körper-in-Bewegung-Setzens‹ verwenden.
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schiedliche Weisen besprochen, kritisiert, diskutiert und propagiert wurde.111 Um diese Positionen für das Kaiserreich näher in den Blick nehmen und ihre Verhältnisse zueinander bestimmen zu können, eignen Überlegungen, die Pierre Bourdieu an der Geschichte des Sports in England angestellt hat. Seine zentrale These lautet: Seit Mitte des 19. Jahrhunderts hat sich in England sukzessive ein Feld des Sports etabliert, das einer spezifischen Nachfrage entgegenkam. In diesem Feld wurden Auseinandersetzungen über »die monopolistische Durchsetzung einer legitimen Bestimmung von Sportpraxis wie der legitimen Funktion derselben«112 geführt. In diesem, wie auch in jedem anderen Feld, bilden sich verschiedene Positionen aus – Herrschende und Anwärter auf die Herrschaft. Während Erstere danach streben ihre Position zu erhalten, versuchen Letztere diese zu unterminieren und selbst an den Ort der Herrschaft zu gelangen. Die herrschende Position im Feld der Körperkultur des Kaiserreichs hatte zweifellos das Turnen inne. Ausdrücklich erkannte beispielsweise ein anonymer Autor in der Spiel und Sport von 1897 »die Hegemonie […] des Turnens vollkommen an«.113 Zentrale kollektive Akteurin des Turnens im Kaiserreich war die 1868 gegründete DT, neben der allerdings seit Mitte der 1880er Jahre auch andere Turnorganisationen bestanden.114 Neben ihren hohen Mitgliederzahlen (1913 waren es etwa 1,1 Millionen),115 ihrem Alter, das es ihr erlaubt hatte, sich als erste solche Organisation zu etablieren, und ihrer tiefen Verwurzelung innerhalb des im Kaiserreich bedeutsamen bürgerlichen Milieus, trug vor allem ihre diskurskontrollierende Position zu einer Verstetigung der hegemonialen 111 | Vgl. für Frankreich: Alkemeyer, Körper, Kult und Politik; Arnaud, Pierre: Mobilisierung der Körper und republikanische Selbstinszenierung in Frankreich (1879-1889). Ansätze zu einer vergleichenden deutsch-französischen Sportgeschichte, in: François, Étienne/Siegrist, Hannes/Vogel, Jakob (Hg.), Nation und Emotion, S. 300-320; Hare, Geoff: Football in France. A Cultural History, Oxford 2003; Vgl. für Russland, Italien, Österreich sowie die USA und Australien am Beispiel des Fußballs die einzelnen Aufsätze in: Eisenberg, Christiane (Hg.), Fußball, Soccer, Calcio. 112 | Vgl.: Bourdieu, historische und soziale Voraussetzungen, Zitate S. 172f. 113 | Pyrrhus: Turnen und Sport, in: Spiel und Sport 7, 1897, S. 58-60, Zitat S. 60. 114 | Nämlich die jüdische Turnerschaft, der nationalpolnische Sokól, einige wilde oder freie Turnvereine sowie der Arbeiterturnerbund. Vgl. für den allgemeinen Befund: Eisenberg, English Sports, S. 128f. Vgl. ausführlicher zu den einzelnen Organisationen: Wildmann, veränderbare Körper, für die jüdische Turnerschaft; Blecking, Diethelm: Die Geschichte der nationalpolnischen Turnorganisation ›Sokól‹ im Deutschen Reich 18841939, Münster 1987, für den Sokól; Teichler, Hans Joachim: ›Frisch, frei, stark und treu‹. Vom Arbeiterturnerbund zum Arbeiter Turn- und Sportbund, in: DTB (Hg.), 200 Jahre Turnbewegung, S. 100-107, für den Arbeiterturnerbund. 115 | Vgl. zu den Zahlen: Eisenberg, English Sports, S. 128f.
III. Bewegte Körper
Position im Feld bei.116 Zumindest bis Anfang der 1890er Jahre vermochte sie die Diskurse über den Körper in Bewegung zu kontrollieren, zu selektieren und zu kanalisieren. Durch ihr Zentralorgan, die DTZ, sowie die Herausgeberschaft unzähliger Lehrbücher, Broschüren und regionaler Veröffentlichungen konnte sie Grenzen ziehen: Grenzen zwischen dem was über den Körper in Bewegung gesagt und nicht gesagt werden konnte.117 Diese diskurskontrollierende Position im Feld bedeutete einen entscheidenden Vorteil gegenüber allen alternativen Vorschlägen: Was über den Körper in Bewegung gesagt und gehört werden wollte, musste durch dieses Nadelöhr. Obwohl die DT keineswegs einen monolithischen Block bildete, wie sich an zahlreichen Streitigkeiten zeigen ließe,118 vermochte sie dank dieser Kontrolle ihre herrschende Position im Feld der Körperkultur bis in die 1890er Jahre zu erhalten. Mit der Gründung des ZA verschoben sich dann Anfang der 1890er Jahre die Machtverhältnisse im Feld. Durch eine eigene Zeitschrift, einem eigenen Jahrbuch sowie zahlreicher kleinerer und größerer Schriften erhielt der ZA zunehmend eigene Anteile am Sprechen über den Körper in Bewegung – und zwar den spielerisch bewegten Körper. Wenngleich es Reibungen zwischen ZA und DT gab,119 standen sich beide Positionen gewissermaßen freundschaftlich gegenüber. Auf der konstituierenden Sitzung des ZA einigten sich die versammelten Mitglieder der DT und die Vertreter der Spielbewegung darauf, dass das Spiel »im wesentlichen ein angewandtes Turnen« sei.120 Auch teilten sie 116 | Vgl. zur DT im Kaiserreich: Goltermann, Körper der Nation, S. 182-324, v.a. S. 182-224. 117 | Vgl. zu diesen diskursanalytischen Überlegungen grundlegend: Foucault, Michel: Ordnung des Diskurses, 9. Aufl., Frankfurt a.M. 2003, S. 11. 118 | So stritt sich Planck nicht nur mit Fußballern, sondern liefert sich Ende der 1880er und Anfang der 1890er einen ausführlichen Streit mit Ferdinand Goetz, dem Vorsitzenden der DT. Vgl. u.a.: Boethke: Der Angriff Planck’s gegen Goetz und die Deutsche Turnerschaft, in: DTZ 35, 1890, S. 145-149; Nägele, Fr.: Zum Angriff Professor Planck’s gegen die Deutsche Turnerschaft, in: DTZ 35, 1890, S. 251-252; Planck, Karl: Erwiderung, in: DTZ 35, 1890, S. 235-236. 119 | Vgl. beispielsweise die Kritik Friedrich Nußhags an den Ausführungen Moritz Eitners über die Relevanz der Bewegungsspiele: Nußhag, Friedrich: Deutschlands Jugendspiele. Wider den Görlitzer Spiellärm, namentlich gegen den Urheber desselben Herrn Dr. Eitner, Gymnasialdirektor in Görlitz. Eine zeitgemäße kritische Untersuchung, Straßburg/Els. 1890. Zu Eitners zentralen Schriften, auf die sich Nußhag bezog, zählten: Eitner, Moritz: Die Jugendspiele. Ein Leitfaden bei der Einführung und Übung von Turn- und Jugendspielen, Kreuznach 1890; Ders.: Die Jugendspiele in Görlitz. Abdr. aus dem achten Jahresbericht zur Förderung von Handfertigkeiten und Jugendspiel, Görlitz 1890. 120 | Schenckendorff, Emil von: Bildung und Organisation des Zentral-Ausschusses, in: Ders./Schmidt (Hg.), Allgemein unterrichtende Mitteilungen 1, 1892, S. 103-108,
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die Verbreitung des Bewegungsspiels unter sich auf. Der ZA kümmerte sich um die Schulen, die DT um das Volk, indem sie ihre Vereine zur Gründung von Spielabteilungen ermunterte.121 Ferner bildete Spiel und Spielbewegung seit 1894 eine eigene Rubrik in der DTZ. Dort veröffentlichten vornehmlich Mitglieder des ZA Aufsätze über verschiedene Spiele, deren Regeln oder ihre Erfahrungen mit einzelnen Spielen. Pointiert fasste Alfred Böttcher 1894 die freundschaftliche Koexistenz zusammen. »Nie möge es im deutschen Lande heißen ›Hier Turnen – hier Spielen‹, sondern die innige Verbindung zwischen beiden, die von GutsMuths und Jahn geschaffen ist, muß aufrecht erhalten bleiben, wenn das eine oder das andere nicht Schaden erleiden soll.«122 Gleichwohl war die Position des ZA nicht deckungsgleich mit der der DT. Christiane Eisenberg hat gezeigt, dass sich der ZA wegen des zu »steifen und daher nicht jugendgemäßen Übungsbetriebs«123 vom Turnen distanzierte. Vor dem Hintergrund der Überbürdungsdebatte und der darin eingelagerten Neubewertung des bewegten Körpers vermag diese Deutung jedoch nicht in Gänze überzeugen. Unter dem Stichwort »Einseitigkeit« führten die Sprecher an der Position des ZA vielmehr die schon seit den 1880er Jahren geäußerte Kritik fort, dass gerade das Spieß’sche Turnen Körper und Geist nur einseitig bilde. Darin bestand der springende Punkt der Abgrenzung vom Turnen: Vordergründig enthielt diese durchaus Wendungen wie »steif« und »nicht jugendgemäß«. Grundlage war jedoch die physiologische Perspektive auf den (Schüler-)Körper, die das Turnen analog zum ›vergeistigenden Unterricht‹ setzte. So hatte beispielsweise Friedrich Ernst Clasen in seinem Spielbuch von 1882 das Turnen als »eine völlig mechanische Uebung des Muskelsystems«124 kritisiert. Diese Kritik blieb zumindest bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs relativ stabil.125 Spätestens seit Anfang der 1890er Jahre hatte sich also mit dem ZA eine neue Position im Feld der Körperkultur herausgebildet – und zwar eine Posihier S. 105. Sowohl Hermann als auch Schmidt bekräftigten diesen Anspruch in ihren Aufsätzen im gleichen Jahrgang: Vgl.: Hermann, Geschichte der Volks- und Jugendspiele, S. 29; Schmidt, Ferdinand August: Turnen und Spiel, in: Ders./Schenckendorff (Hg.), Allgemein unterrichtende Mitteilungen, 1, 1892, S. 12-15. 121 | Vgl.: Hamer, Spielbewegung, S. 567. 122 | Vgl.: Böttcher, Alfred: Zwei Turnerische Tagesfragen: a) Spielbewegung, b) Deutscher Turnlehrerverein. Vortrag, gehalten auf der XV. Versammlung des Nordwestdeutschen Turnlehrer-Vereins zu Alfeld am 30. September 1894, in: Monatsschrift für das Turnwesen 12, 1894, S. 325-339, hier S. 330-332, Zitate S. 331f. Ebd., S. 330-332, Zitate S. 331, S. 332. 123 | Eisenberg, English Sports, S. 264. 124 | Clasen, Bewegungsspiele, S. 6. 125 | Siehe etwa: Finkler: Die körperlichen Anlagen, ihre Entwicklung und Ausbildung, zitiert nach: Raydt, Siebenter Deutscher Kongreß für Volks- und Jugendspiele, S. 254;
III. Bewegte Körper
tion die seit Mitte der 1890er Jahre zwischen Turnen und einer weiteren neuen Position bestand, was Heinrich Schröer dem ZA 1899 als besonderes Verdienst anrechnete. »Der Zentral-Ausschuß hat bisher zwischen Turnen und Sport glücklich die Mitte gehalten. […] [Bleibt er in dieser Mittelstellung,] so kann es seiner Einwirkung gelingen, einerseits dem Turnen, wo es etwa versteift und entartet ist, frisches Leben und naturgemäßen Betrieb wieder zu verschaffen, andererseits den Spielbetrieb vor Auswüchsen, wie sie in Amerika und England häufig sind und auch bei uns einzureißen drohen, zu bewahren.«126
Schröers Ausführungen verweisen auf eine wesentliche Verschiebung im Positionengefüge des Feldes ab Mitte der 1890er Jahre. Bereits Anfang der 1890er Jahre hatten sich in einzelnen Turnvereinen, wie bei der Gründung des ZA vereinbart, eigene Spielabteilungen gegründet.127 Schon 1888 hatte R. Stoewer der DT die Aufnahme von Cricket und Fußball dringend empfohlen.128 Ein Jahr später fand 1889 anlässlich des Münchener Turnfestes ein Fußballspiel statt.129 Die Spielvereinigung des Allgemeinen Turnvereins (ATV) aus Leipzig spielte gegen den Orion Club aus England und der Berichterstatter vermeldete keinerlei negative Vorkommnisse. Offenbar hatte der Fußball bis Ende der 1880er Jahre kein Akzeptabilitätsproblem. Diese Akzeptanz schwand im Laufe der 1890er Jahre. So sahen sich Spielabteilungen in den Turnvereinen dem Vorwurf ausgesetzt, sich nicht mehr turnerisch, sondern nur noch sportlich zu betätigen. Deutlich wird dies an J.H. Wortmanns Bericht über das 1. Fußballwettspiel zwischen Leipziger Turnern und Leipziger Sportsleuten von 1893. Er hielt es für notwendig darauf hinzuweisen, dass die Mitglieder der Spielvereinigung des ATV »trotz aller Anfeindungen fleißige und überzeugungstreue Turner geblieben« seien. Anschließend suchte er alle etwaigen Befürchtungen zu zerstreuen. In der Spielvereinigung Schuschny, Heinrich: Die Frage der körperlichen Erziehung auf dem VIII. internationalen Kongresse für Hygiene und Demographie in Budapest, in: JfVJ 4, 1895, S. 45-55. 126 | Schröer, Heinrich: Turnspiel oder Sportspiel?, in: JfVJ 8, 1899, S. 55-58, S. 56. 127 | Vgl.: Pulwer, Otto: Turnen, Spiel und Sport, in: DTZ 40, 1895, S. 663-664. 128 | Vgl.: Stoewer, Turnspiel, S. 667. 129 | Laut Elisabeth Angermair soll dieses Spiel wegen Regens ausgefallen sein: Vgl.: Angermair, Elisabeth: Die Anfänge des Fußballspiels in München, in: Stadtarchiv München (Hg.), München und der Fußball, S. 11-50, hier S. 11. Allerdings wird in der Festzeitung und in Lion/Wortmanns Katechismus der Bewegungsspiele von diesem Spiel – wenn auch knapp – berichtet. Vgl.: Eder: Turnspiele, in: Festzeitung für das siebente deutsche Turnfest, München 1890, Nr. 10, S. 13; Lion, Carl Justus/Wortmann, J. H.: Katechismus der Bewegungsspiele für die deutsche Jugend, Leipzig 1891, hier S. 132f.
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Das Subjekt des Fußballs
gäbe es »Männer genug [...], die jeden Auswuchs und jede Neigung jüngerer Leute zu sportsmäßigem Gebahren im Keime ersticken«.130 Neben den Spielabteilungen gründeten sich ferner einzelne Fußballvereine, die unabhängig von den Turnvereinen bestanden. Ein ungenannter Autor erinnerte im DFBJahrbuch von 1909 an die Gründung des Karlsruher FC Phönix. Dieser wurde 1894, »wie so mancher andere bedeutende Fußballverein Deutschlands, von einigen Turnern [...] gegründet, da die Leitung der Karlsruher Turngemeinde das Fußballspiel nicht in ihren Spielplan aufnehmen wollte.«131 Während DT und ZA den Fußball als Spiel unter anderen innerhalb der Turnvereine und dem Curriculum des Schulturnens noch befürworteten – schließlich hatten sie dort auch die Kontrolle – übten beide an der Ausübung des Fußballs in eigenständigen Vereinen Kritik. Offenbar sahen sie ihre Deutungshoheit über den legitimen Gebrauch des Körpers im Feld der Körperkultur schwinden, wie sich anhand der Ausführungen des bereits erwähnten Böttcher zeigen lässt. »Jeder eifrige Turner muß sein Vergnügen auch im fröhlichen Spielbetriebe finden und diejenigen, welche gegenwärtig noch daran zu haben glauben, wenn sie ihren Fußball stoßen, müssen gewonnen werden, sich den Reihen der Turner anzuschließen, da die allseitige körperliche Entwickelung und Ausbildung mit allen den Vorteilen, die darin eingeschlossen liegen, durch das eine Spiel nicht gegeben werden kann.«132
Auch Hermann Wickenhagen äußerte 1892 seine Bedenken über Spielvereine und machte diese am Beispiel des Fußballs fest. »Bedenklich sind die Spezialitäten der Spielvereine, insofern sie zur Einseitigkeit erziehen. Wohin soll es führen, wenn man Fußballklubs u.s.w. das Wort reden wollte?«133 Einseitigkeit der Bewegung oder Ausbildung des Körpers war ein prominenter Vorwurf, den vor allem Koch immer wieder mit einer Warnung vor der »Entartung der Spiele zum Sport«134 verband. Der Sport bildete sich als 130 | Wortmann: 1. Fußballwettspiel zwischen Leipziger Turnern und Leipziger Sportsleuten, in: Zf TJs 2, 1893, S. 254f. 131 | o.A.: F.C. Phönix 1894 Karlsruhe, in: DFB-Jahrbuch 6, 1909, S. 7-10, Zitat S. 7. 132 | Ebd., S. 332, Hervorh. i. Orig. 133 | Wickenhagen, Hermann: Gymnasiastenvereinigungen zur Pflege der Leibesübungen, in: Schenckendorff/Schmidt (Hg.), Allgemein unterrichtende Mitteilungen 1, 1892, S. 77-79, Zitat S. 78. 134 | Koch, Konrad: Zur Geschichte des Fußballs, in: JfVJ 4, 1895, S. 88-96, Zitat S. 92. Vgl. ferner: Ders.: Sind Wettspiele zur Belebung des Jugendspiels zu empfehlen?, in: JfVJ 7, 1898, S. 112-119, hier S. 114f.; Ders.: Die Braunschweiger Schulspiele mit allgemein verbindlicher Beteiligung, in: KuG 15, 1907, S. 321-329, hier S. 322. Ferner: Mittenzwey, L.: Nichts zu viel!, in: DTZ 41, 1896, S. 860f.
III. Bewegte Körper
dritte Position im Feld der Körperkultur seit den 1890er Jahren zunehmend aus. Den Prozess dieser Herausbildung hat Eisenberg als einen »Kulturkampf« zwischen Turnern und Sportlern beschrieben.135 Die Wortwahl ist treffend. So schrieb Nawroth in der DTZ von 1901 einen Artikel mit dem vielsagenden Titel Turner, auf zum Streite! In diesem schimpfte er ausführlich über verschiedenste Sportarten und empfahl den Turnern über die Schädlichkeiten des einseitigen Sports aufzuklären, wo sie nur könnten.136 Auf der anderen Seite drohte beispielsweise E. M. Sch. in der Spiel und Sport von 1897: »Sollten [...] die turnerischen Kreise Deutschlands ihre unberechtigten Angriffe gegen das moderne Spiel und den Sport in Fach- und Tageblättern noch weiter fortsetzen, dann aber Krieg bis aufs Messer auf der ganzen Linie gegen die deutsche, nicht allein seligmachende Turnerei.«137
In der folgenden Nummer beschwichtigte ein Mitglied des Bremerhavener Fußballclubs und forderte Frieden. Für ihn, wie für E.M. Sch., bildete die Kritik der Turner am Sport nur eine Sonderform der Kritik am Fußball und er empfahl den Turnern Fußball zu spielen. »Ihr werdet sehen, welch‹ köstlicher Genuss die flotte Bewegung in ozonreicher, klarer Luft für die Lunge mit sich bringt, die erleichtert kräftig aufatmen kann, nach der Woche des Bureauaufenthalts, der den meisten von uns Städtern bescheert [sic] ist.«138
Während Turnen und Spielbewegung durch ihre jeweiligen Dachorganisationen recht einfach zu identifizieren sind, blieb die Position des Sports eher diffus. Freilich ließen sich zahlreiche Organisationen benennen, die sich dezidiert an dieser Position verorteten. Gleichwohl blieb die Definition dessen, was Sport ist, zeitgenössisch zumeist unklar – vor allem hinsichtlich solcher Praktiken, die, wie etwa der Fußball, heutzutage als »Sportspiele« bezeichnet werden. Insofern wird von einer definitorischen Bestimmung der Position »Sport« abgesehen. Dies würde zum einen zu weit in die Organisationsgeschichte führen und zum anderen die Komplexität des »meaning« des Fußballs139 ahistorisch einebnen. Entscheidend ist, dass sich im Rahmen der Neubewertung des Körpers seit den 1880er Jahren zwei neue Positionen im Feld herausbildeten, 135 | Vgl.: Eisenberg, English Sports, S. 250-261. 136 | Vgl.: Nawroth: Turner, auf zum Streite!, in: DTZ 46, 1901, S. 973-977, Zitat S. 976. 137 | Sch., E.M.: Die deutsche Turnerschaft und die athletischen Sports, in: Spiel und Sport 7, 1897, S. 3-5, Zitat S. 5. 138 | Ajax: Der deutsche Sport, in: Spiel und Sport 7, 1897, S. 57f., Zitat S. 58. 139 | Siehe: Teil IV.
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Das Subjekt des Fußballs
an denen über den bewegten Körper anders gedacht und gesprochen wurde als bisher.
Zwischenfazit: Positionengefüge Die Überbürdungsdebatte der 1880er Jahre bildet ein Musterbeispiel für die Diskursivierung des Körpers innerhalb des zuvor konturierten Raums des Sagbaren. Zugespitzt formuliert problematisierten diejenigen, die von Überbürdung sprachen, den Körper hinsichtlich seiner Gesundheit, seiner Männlichkeit und seiner Militärtauglichkeit. Nur vor dem Hintergrund des durch die Problematisierungsachsen bereitgestellten Klassifikationsrasters, anhand dessen gute von schlechten Körpern geschieden werden konnten, waren Diagnosen und die ihnen verbundenen Interventionsvorschläge (wie zum Beispiel das Bewegungsspiel) argumentativ stabilisierbar; und nur durch die enge körperliche Verschaltung von Volks- und Einzelkörper konnte eine gesellschaftliche Relevanz solcher Interventionen plausibilisiert werden. Zweifellos fand die Debatte in einem bestimmten sozialen Milieu, nämlich dem Bürgertum, statt. Es waren primär bürgerliche Männer, die über den Körper in Bewegung sprachen; es waren primär bürgerliche und männliche Körper, die in Bewegung versetzt werden sollten. Da aber die »aufstrebenden ›neuen Mittelschichten‹« und besonders die »schnell wachsende Schicht der Angestellten«140 das dominante Milieu der aktiv und passiv am Fußball beteiligten Akteure stellten, ist es genau diese Gruppe, deren Denken und Sprechen für die Analyse der Diskursivierung des Fußballs wesentlich ist. Die Debatte war ein wichtiges diskursives Ereignis im Sprechen über den Körper in Bewegung. Es wurde deutliche Kritik am turnerischen Gebrauch des Körpers geübt und das Bewegungsspiel als Ergänzung zum Turnen platziert. Mit dieser Neubewertung des bewegten Körpers ging die Herausbildung von zwei Positionen im Feld einher: Spielbewegung und Sport. Erstere verstetigte sich Anfang der 1890er im ZA; letztere bildete einer eher diffuse Position, die sich am deutlichsten in der Abgrenzung durch Turner und Spielbewegte zeigte. Vor dem Hintergrund der feldtheoretischen Prämissen handelte es sich bei den Auseinandersetzungen über Turnen, Spiel und Sport zweifellos um Macht- und Positionskämpfe. Gleichwohl wäre die Reduktion dieser Auseinandersetzungen auf reine Interessenpolitiken analytisch unzureichend. Es waren nicht allein quasi-politische Vorgänge im Feld, sondern in den Auseinandersetzungen wurde der bewegte Körper neu bestimmt. Der Diskursivierung einer spezifischen Art den Körper zu bewegen gilt das Interesse des nächsten Teils.
140 | Eisenberg, English Sports, S. 162.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
Akzeptabilitätsbedingungen und die Konturen
des Fußballers
»Mit Hartwichs Mahnruf und Goßlers Spielerlaß begann für Deutschland ein mächtiger Aufschwung der Volks- und Jugendspiele.«1 Mit dieser ›Urszene‹ eröffnete Ferdinand Hueppe seine Einführung in das DFB-Jahrbuch von 1912 und skizzierte anschließend knapp die Entwicklung des Fußballs im Kaiserreich. In dieser Skizze beschrieb er ihn nicht etwa als eines von vielen Spielen der 1880er Jahre. Vielmehr sei der Fußball das einzige Spiel, welches alle »Elemente eines richtigen männlichen nationalen Kampfspiels enthielt, wie es die Jugend einer kräftigen Nation fordert.« Fixpunkt seiner Erzählung war die Gründung des DFB im Jahre 1900. Indem der DFB reichsweit den Fußball organisierte, bildete er in Hueppes Augen die Bedingung der Möglichkeit den Fußball zu etablieren. Nur durch den DFB sei der Fußball als das nunmehr etablierte »deutsche Nationalspiel«2 denkbar. Hueppes Erzählung – von den frühen 1880er Jahren bis zur ›Vollendung‹ als deutsches Nationalspiel – legt eine organisationshistorische Untersuchung des Fußballs nahe. Von einer solchen Untersuchung wird jedoch allein schon deshalb abgesehen, weil Hueppes Suggestion einer flächendeckenden Akzeptanz des Fußballs im Jahre 1912 einer genauen Untersuchung nicht standhielte. Ferner würde ein solches Vorgehen den Fußball einseitig zugunsten eines ›bürokratischen Apparates‹ auflösen und auf diese Weise eine Vielzahl von Aussagen zu der Praktik unter den Tisch kehren. Schließlich wurde der Fußball im Kaiserreich nicht nur organisiert, sondern auch gespielt.3 Diese praktische Dimension formte den Referenzrahmen für Debatten über den Fußball, denn, so ein ungenannter Zeitgenosse in der Zeitschrift Spiel und Sport von 1894, »beim Match kommt alles zur Sprache, was sich für 1 | Hueppe, Zur Einführung, S. 6. 2 | Alle Zitate: Ebd., S. 6, S. 8. 3 | Vgl.: Diem, Carl: Friede zwischen Turnen und Sport, Leipzig/Berlin 1914;
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Das Subjekt des Fußballs
oder gegen das Fussballspiel sagen lässt«.4 Anhand solcher Diskursivierungen der Praktik sollen die Akzeptabilitätsbedingungen des Fußballs genauer bestimmt werden, die – wie bereits in der Einleitung bemerkt – doppelläufig gelagert waren und Fußball und Fußballer eng miteinander verschränkten. Diese Verschränkung beruhte auf dem durch die Problematisierungsachsen aufgespannten Raum des Sagbaren. Innerhalb dieses Raumes waren sowohl Argumente für und wider den Fußball als auch die befürchteten oder erhofften Effekte der Praktik auf den Fußballer denk- und sagbar. Zwei Beispiele sollen dies illustrieren. In seiner Praxisanleitung Der Fußballsport von 1911 klärte Adolf Hoch seine Leser ausführlich über die Vorzüge des Fußballs auf. »Fußball ist ein Kampfspiel, und das Moment des Kampfes ist es, was uns Deutsche fesselt.« Neben diesem behaupteten Passungsverhältnis zwischen Fußball und Nation galt ihm der »Kampf«, den das Fußballspiel darstelle, als Mittel »zur Kräftigung des Körpers und zum Besten unseres Volkes.«5 Im gleichen Jahr erläuterte Willi Wolfradt in einem Artikel des Rasensport, wie Propaganda für den Fußball zu betreiben sei. Auf »kleinen oder größeren Gesellschaft[en]« würde er für gewöhnlich mit Fragen wie »›Pfui, wie können Sie so ein rohes Spiel nur spielen?‹« konfrontiert. Daraufhin halte er in der Regel »ein förmliches Plädoyer zu gunsten [sic] des Fußballspiels«. Solche Plädoyers ließen sich auch in »Sportzeitungen, Jahrbüchern etc.« finden, doch mit diesen würde man nur »offene Türen einrennen, denn die Leser dieser Organe sind doch mit dem Wesen des Fußballspieles durchweg vertraut. Bis zu der großen Masse der Abseitsstehenden und Uneingeweihten dringt kaum je so […] [ein] Propagandaartikel.« Eine Möglichkeit zur Propaganda habe er schon aufgezeigt, nämlich die Vorzüge des Fußballs zu erläutern und negative Einschätzungen zu entkräften. Ferner käme es jedoch auch darauf an, dies auf dem Platz zu zeigen. »Jedes gute Spiel, gut auch vor allem im Punkte Fairness, wirbt, denn stets befinden sich Leute im Publikum, die, wie oben geschildert, auf Veranlassung von Bekannten einmal zu ›sowas‹ gegangen sind. Jeder Verstoß gegen die sportlichen Sitten schadet der Sache, das sollte jedem Spieler stets klar sein.« 6
Anhand der angeführten Beispiele wird die Doppelstruktur deutlich, die das Netz der Beziehungen zwischen Fußball, Fußballer und den Akzeptabilitäts4 | o.A.: Die Fußballbewegung in Deutschland und ihre Gegner. Teil II, in: Spiel und Sport 4, 1894, S. 1224-1227, Zitat S. 1224. 5 | Vgl.: Hoch, Adolf: Der Fußballsport, Leipzig 1911, S. 2-5, Zitate S. 2, S. 5, Hervorh. i. Orig. 6 | Vgl.: Wolfradt, Willi: Propaganda, in: Der Rasensport 9, 1911, S. 746f., alle Zitate ebd.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
bedingungen aufspannte und für die Untersuchung leitend sein wird. Qua spezifischer Eigenschaften der Praktik – im Beispiel aus Hochs Fußballsport war dies der Kampf – würden jene, die Fußball spielten, in diesem Geschehen bestimmte, positiv konnotierte Qualitäten ausbilden. Zudem bestand zwischen Fußball, Fußballer und Akzeptabilität ein bestimmtes Unterwerfungsverhältnis: Jeder einzelne Fußballer war in seinem Tun nicht nur deshalb den Spielregeln unterworfen, weil ohne sie kein Spiel möglich gewesen wäre, sondern auch, um das Ansehen der Praktik nicht zu beschädigen. In der folgenden Analyse stehen daher zugleich die Auseinandersetzungen für und wider den Fußball wie auch die darin eingefalteten Konturierungen des Fußballers als Subjekt des Fußballs im Zentrum. Beide Bereiche werden in ihren Beziehungen zum Raum des Sagbaren untersucht. Entsprechend ist die Untersuchung – auch aus Gründen der Übersichtlichkeit – zunächst anhand der drei Problematisierungsachsen (Kapitel 5-7) strukturiert. Angesichts des symbiotischen Verhältnisses zwischen Einzel- und Kollektivkörper wird der kollektiven Dimension abschließend ein eigener Analyseabschnitt (Kapitel 8) gewidmet. Am Ende jeder einzelnen Analyse werden die je spezifischen, auf die einzelnen Problematisierungen bezogenen Konturen des Subjekts des Fußballs synthetisiert und geschärft. Bevor eine solche Analyse unternommen werden kann, muss jedoch zunächst noch geklärt werden, wovon die Zeitgenossen sprachen, wenn sie »Fußball« sagten.
Wovon wurde gesprochen? Dreidimensionale Mehrdeutigkeit Fragt man nach dem Fußball im Kaiserreich, so steht man vor einem begrifflichen Problem. Der Begriff war dermaßen mehrdeutig, dass selbst die Zeitgenossen in der Frühphase des Fußballs »Wettspielverträge« abschließen mussten, um sich über die Form, in welcher sie sich messen wollten, zu verständigen.7 In einem augenzwinkernden Rückblick erinnerte Richard Kayser 1914 an die ›Wettspielreise‹ einer Berliner Auswahlmannschaft. Diese geriet in den frühen 1890er Jahren in einen Streit mit einer Frankfurter Auswahlmannschaft. Zwar hatten beide vor dem Beginn der Reise ein Fußballspiel vereinbart, sich aber nicht auf die Form verständigt. Als die Berliner dann in Frankfurt zum Association-Spiel antreten wollten, teilten ihnen die Frankfurter mit, dass sie sich auf ein Rugby-Spiel vorbereitet hätten.8
7 | Vgl.: Eisenberg, English Sports, S. 186, Zitat ebd. 8 | Vgl.: Kayser, Richard: Fußball in Berlin. Eine Erinnerung aus alten Tagen, in: Der Rasensport 12, 1914, S. 23f.
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Das Subjekt des Fußballs
Schematisch bestand die Mehrdeutigkeit des Fußballs auf drei Ebenen: die Bezeichnung der Praktik, die bezeichnete Praktik und die der Praktik zugewiesene Bedeutung.9 Bezeichnung der Praktik: 1894 sagte Konrad Koch, dass es »wenig hübsch« sei, wenn deutsche Jungen und Männer von »Association und Rugby« sprächen. Daher schlug er die Bezeichnungen »einfaches Spiel« (für Association) und »gemischtes Spiel« (für Rugby) vor, an denen er ziemlich verbissen festhielt.10 Die meisten anderen Mitglieder des ZA benutzten die Bezeichnungen »Fußball ohne Aufnehmen« (für Association) und »Fußball mit Aufnehmen« (für Rugby).11 Alfred Maul, Turnlehrer und Mitglied des ZA, bemühte sich in einem Bericht über Fußballwettspiele in Karlsruhe um begriffliche Klarheit und gab beide Bezeichnungen an: »Rugby Spiel (Fußball mit Aufnehmen)«.12 Die dem ZA fernstehenden Fürsprecher des Fußballs verwendeten bis etwa zur Jahrhundertwende entweder die englischen Bezeichnungen »Association« und »Rugby«, wenn sie die Spielform über die sie sprachen vereindeutigen wollten, oder sie sprachen einfach nur vom Fußball und es oblag dem Leser herauszufinden, welche Form denn nun gemeint war. Bezeichnete Praktik: Zeitgenössisch wurden verschiedene Spielformen als Fußball bezeichnet. Ihre »Familienähnlichkeit«13 bestand lediglich in einem irgendwie gearteten Ball-Fuß-Verhältnis. 1875 beschrieb Koch das Ziel des Spiels wie folgt: »Die Aufgabe jeder Gespielschaft ist, den Ball über die Querstange des feindlichen Males zu stoßen [...]. Der Ball darf nur zurück, d.h. auf das eigene Mal zu geworfen, nie nach vorn geworfen […] werden.«14 Diese Variante des Rugby-Fußballs15 sowie die nach den Regeln der Rugby-Union 9 | Mit dem Begriff ›Bedeutung‹ beziehe ich mich auf den des ›meaning‹ in der Arbeit von Elizabeth Shove, Mika Pantzar und Matt Watson, siehe unten. 10 | Vgl. zu den Begrifflichkeiten: Koch, Konrad: Die Wettkämpfe des Jahre 1894, in: JfVJ 4, 1895, S. 72-79, Zitat S. 74. Noch 1903 äußerte Koch sein Unbehagen darüber den »gebräuchlichen Ausdruck ›Rugby-Spiel‹ aufzunehmen«. Siehe: Ders.: Deutsche Kunstausdrücke des Fußballspiels, in: KuG 12, 1903/1904, S. 113-116. 11 | In der von Schenckendorff angestoßenen Debatte über einfachen oder gemischten Fußball verwendeten Keßler und Weck den Begriff Rugby. Koch nutzte konsequent die Begriff ›einfaches‹ und ›gemischtes Spiel‹, während alle anderen Befragten von ›Fußball mit‹ und ›Fußball ohne Aufnehmen‹ sprachen. Vgl.: Schenckendorff, Emil von/Versch.: Einfacher oder gemischter Fußball, in: Zf TJs 2, 1893/1894, S. 338-344. 12 | Maul, Alfred: Fußballwettspiel in Karlsruhe, in: Zf TJs 2, 1893/1894, S. 254. 13 | Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a.M. 2001, § 67. 14 | Koch, Fußball 1875, S. 5, Hervorh., J.E. 15 | Eigentlich muss man auch beim Rugby-Fußball noch zwischen Rugby-Union und Rugby-League unterscheiden. Vgl. zur Geschichte dieser Unterscheidung: Collins, Tony: Rugby’s great Split. Class, Culture and the Origins of Rugby League Football, London
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
gespielte Praxisform, waren laut verschiedener Retrospektiven die Formen, die zuallererst im Kaiserreich (und davor) in einigen größeren deutschen Städten gespielt wurden.16 Bereits ein Jahr vor Kochs Regeln des Martino-Catharineums hatte Josef Ambros eine andere Variante beschrieben.17 In dieser Form, die später als »Fußball im Kreise«18 bezeichnet wurde, war es das Ziel, den Ball aus einem Kreis mehrerer Mitspieler durch Fußkontakt hinauszubringen. Eine Beschreibung der heutzutage üblicherweise als ›Fußball‹ bezeichneten Spielform findet sich bei Wilhelm Rolfs, der 1882 unter dem Pseudonym F.W. Racquet eine Praxisanleitung für moderne englische Spiele veröffentlicht hatte. Er stellte den Association-Fußball ausgehend von den Regeln der englischen Football Association dar.19 Eine vierte Variante schilderte Schacht in der DTZ von 1894. An seinem Fußballspiel sollten zwischen 20 und 100 Spieler teilnehmen, die sich auf verschiedene Verteidigungs- und Angriffspositionen sowie auf feste Posten und Vorposten verteilten. Ziel dieses sehr komplex beschriebenen Spiels war es, den Ball ähnlich wie beim Rugby in eine Endzone oder über die Querstange eines Tores zu befördern.20 Wie und ob diese Praktik überhaupt ausgeübt wurde, ist anhand der Quellen nicht zu klären. Es wird in jedem Fall kein weiteres Mal erwähnt. 1998. Vgl. zur umfangreichen und komplexen Geschichte des Fußballs in England: Dunning, Eric: The Development of Modern Football, in: Ders. (Hg), Sociology of Sport, S. 133-151; Ders.: Soccer. The social Origins of the Sport and its Development as a Spectacle and Profession, London 1979; Ders./Sheard, Kenneth: Barbarians, Gentlemen and Players. A sociological Study of the Development of Rugby Football, 2. Aufl. London 2005; Esch, Jörn: Vom Volkssport zum Erziehungsinstrument. Zur Geschichte des Fußballs in England, in: fastforeword 1-08, S. 9-17, URL: http://ffw.denkraeume-ev. de/1-08/esch–1-08.pdf, letzter Zugriff: 14.08.2013; Mason, Tony: Großbritannien, in: Eisenberg, Christiane (Hg.), Fußball, Soccer, Calcio, S. 22-40; Russel, David: Football and the English. A social History of Association Football in England, 1863-1995, Preston 1997. 16 | Vgl.: Heineken, Erinnerungen; Hueppe, Entstehung des Deutschen Fußballbundes, S. 53f.; Künzle, Ludwig: Rugby-Erinnerungen, in: Rugby Jahrbuch 2, 1929, S. 50-53. 17 | Vgl.: Ambros, Josef: Spielbuch. 400 Spiele und Belustigungen für Schule und Haus, Wien 1874, S. 91. 18 | Trapp/Pinzke, Bewegungsspiel, S. 46. Vgl. auch: Krause, Hinaus zum Spiel, S. 20. Diese Variante war übrigens kein »Spiegelbild des fünf gegen zwei, wie es heutzutage jede Profimannschaft im Training spielt«, wie Oberschelp behauptet. Siehe: Oberschelp, der Fußball-Lehrer, S. 32. 19 | Vgl.: Racquet, F.W.: Moderne englische Spiele. Zum Zwecke der Einführung in Deutschland, Göttingen 1882. Vgl. zum Klarnamen von Racquet: Hamer, Spielbewegung, S. 515, Fußnote 886. Racquet, englische Spiele, S. 51, Zitat ebd. 20 | Vgl.: Schacht: Das Fußballspiel, in: Beilage zu Nr. 9 der DTZ 39, 1894, S. 147-148.
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Fußball bildete also Mitte der 1890er Jahre noch eine weite Kategorie, die verschiedene Varianten des regelhaften Zusammenspiels von Fuß, Hand und Ball versammelte. Diese Ausdehnung der Kategorie sowie die Varianz der Bezeichnungen ist insofern wichtig, als dass »Fußball« zu einem Sammelbegriff für ganz unterschiedliche Umgangsweisen mit dem Körper geriet. Auf diese Weise konnten Beobachtungen, die an einer der Praktiken gemacht wurden, mühelos auf die gesamte Kategorie ausgeweitet werden. Diese Dehnung betraf vor allem die Nichtunterscheidung von Rugby und Association. Ersteres erschien vielen Zeitgenossen als roh, wild und gefährlich. Da sowohl Rugby als auch Association als Fußball bezeichnet wurden, konnten solche negativen Einschätzungen die gesamte Kategorie betreffen. Zugeschriebene Bedeutung: In ihrer praxeologischen Untersuchung über die Dynamik sozialer Praktiken haben Elizabeth Shove, Mika Pantzar und Matt Watson die Trias »material, meaning and competences« als Bestandteile sozialer Praktiken herausgearbeitet. Mit dem Begriff »meaning« zielen sie dabei auf die einer Praktik zugewiesenen Bedeutung ab. Wenn eine Praktik mit einer außerhalb derselben stehenden Bedeutung versehen wird, so kann diese die gesamte Praktik geradezu umschließen.21 Im Falle des Fußballs entwickelte sich diese Umschließung an seinem unklaren Status als Spiel oder Sport. Denjenigen, die den Fußball ablehnten, galt er als Sport; den Fürsprechern aus den Reihen des ZA als positiv konnotiertes (und vom Sport zu bereinigendes) Bewegungsspiel; die außerhalb des ZA oder der DT stehenden Sprecher hatten kein Problem damit, dass der Fußball als Sport gelten konnte. Zeitgenössisch war alles andere als klar, worin sich Spiel und Sport unterschieden.22 Daher wird von einer starken Definition dessen, was Sport ist abgesehen.23 Beide Be21 | Vgl. am Beispiel des Nordic-Walking: Shove, Elizabeth/Pantzar, Mika/Watson, Matt: The Dynamics of Social Practice. Everyday Life and how it changes, Los Angeles 2012, S. 55. 22 | Vgl. zur Schwierigkeit einer solchen Trennung schon: Lion, Carl Justus: Turnen, in: Pädagogischer Jahresbericht 35, 1883, S. 922-944, hier S. 939f. Ferner u.a.: Schröer, Turnspiel oder Sportspiel?, S. 58; Witte, Ernst: Wettkampf und Kampfspiel, in: DTZ 1897 42, S. 757-759. Dort auch Hinweise auf weitere Quellen. 23 | Über das Für und Wider starker oder schwacher Definitionen lieferten sich die Historikerin Christiane Eisenberg und der Sporthistoriker Michael Krüger im Jahre 2004 eine kleinere Kontroverse. Vgl.: Krüger, Michael: Zehn Thesen zur Entwicklung der deutschen Sportgeschichte. Anmerkungen zu Christiane Eisenberg: Soziologie, Ökonomie und »Cultural Economics« in der Sportgeschichte. Plädoyer für eine Neuorientierung, in: Sport und Gesellschaft 1, 2004, S. 84-91; Eisenberg, Christiane: Gegenstandsbereich und politische Zielsetzung der Sportgeschichte. Anmerkungen zu Michael Krügers »Anmerkungen«, in: Ebd., S. 92-95. Auslöser war ein Artikel Eisenbergs, in dem es um eine Neuorientierung der Sportgeschichte ging. Siehe: Dies.: Soziologie, Ökonomie und
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
zeichnungen bildeten Kampf begriffe, mit denen auch am Fußball der akzeptable Gebrauch des Körpers und die Bedeutung dieses Gebrauchs ausgehandelt wurden. Obwohl der Umgang mit dem Körper beispielsweise im Association Fußball in Spiel und Sport theoretisch identisch war, konnte erstere Bedeutung mit einer positiven, den Gemeinsinn stärkenden, letztere mit einer negativen, egoistischen Konnotation versehen werden. Es genügte für Gegner des Fußballs, diesen als Sport zu bezeichnen, um alle negativen Zuschreibungen mitschwingen zu lassen; umgekehrt konnte der Fußball seitens des ZA mit relativ wenig Aufwand als ein das Turnen ergänzendes, positiv konnotiertes Spiel qualifiziert werden. An anderer Stelle haben Shove/Pantzar/Watson darauf aufmerksam gemacht, »that meanings ›travel‹ as practices are grouped, re-grouped and categorized in different ways.«24 Mit der Einführung des Fußballs innerhalb des Mikrokontextes des Braunschweiger Gymnasiums, seiner Ausübung in einigen »Engländerkolonien«25 seit den 1860er Jahren, seiner Prominenz als eine von vielen entbürdenden Praktiken in den 1880er Jahren sowie seiner zunehmenden Popularität seit den 1890er Jahren bis zur Gründung des DFB im Jahre 1900, bildet der Fußball ein historisches Musterbeispiel für solche (Re-)Gruppierungen und Kategorisierungen. Zu einem vorläufigen Abschluss kamen diese ›Bedeutungswanderungen‹ mit der Gründung des DFB. Zwar veröffentlichten auch Mitglieder der Spielbewegung in den DFB-Jahrbüchern, aber auch sie bezeichneten den Fußball fortan als Sport. Ferner trug die Gründung des DFB dazu bei, dass die Unklarheiten über die bezeichnete Praktik beseitigt wurden. 1904 gliederte dieser die einzelnen Rugby-Vereine, die noch an der Gründung des DFB beteiligt gewesen waren, aus.26 Spätestens ab 1904 war den meisten Zeitgenossen klar, dass sie »Association« meinten, wenn sie »Fußball« sagten. Für das Sprechen über den Körper in Bewegung und den damit verbundenen Aushandlungen von Gesundheit, Männlichkeit, Militärtauglichkeit sowie dem Status Quo der Nation erzeugte die Mehrdeutigkeit des Fußballs einen starken Anreiz zum Sprechen. So konnten Fußballgegner die Associationvariante relativ problemlos als besonders gefährlich charakterisieren und dabei »Cultural Economics« in der Sportgeschichte. Plädoyer für eine Neuorientierung, in: Ebd., S. 73-83. 24 | Shove/Pantzar/Watson, Dynamics of Social Practice, S. 61. 25 | Eisenberg, English Sports, S. 152. 26 | Vgl. zur Ausgliederung: Hueppe, Entstehung des Deutschen Fußballbundes, S. 56. Das Schattendasein des Rugby im Kaiserreich verdeutlicht: Paul: Gegen die Rugby-Propaganda, in: KuG 21, 1912/1913, S. 159-161, der sich hämisch darüber freute, dass ein »Propagandaspiel« des Deutschen Rugby-Verbandes zu einem »finanziellen Fiasko« geraten war, Zitate S. 159.
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auf Unfallstatistiken des Rugby rekurrieren – schließlich nannte man ja beides Fußball. Gleichzeitig konnten die Fürsprecher des Fußballs diesen Vorwürfen begegnen, indem sie sich als die ›wahren Kenner‹ gerierten, die darüber aufklären konnten, dass allein Rugby und viel mehr noch der American Football gefährlich seien – Association jedoch keineswegs. Zusammengefasst: Durch die dreidimensionale Mehrdeutigkeit des Begriffs, konnte »Fußball« für Spiel oder Sport, aber ebenso für Association, Rugby oder andere Praktiken stehen. Wenn im Folgenden (auch der Einfachheit halber) der Begriff Fußball verwendet wird, so geschieht dies immer in diesem mehrdimensionalen Spannungsverhältnis, in welchem der Begriff die Position einer Synekdoche einnahm. »Fußball« stand sowohl als Teil für das Ganze (Spiel oder Sport) als auch als Ganzes für einen Teil (Association, Rugby, andere Formen).
5. G efahr und D egener ation : F ussball und G esundheit In der Festzeitung zum Neunten Deutschen Turnfest von 1898, erschien unmittelbar nach einer Übersicht über die Sieger in einzelnen Wettübungen eine an den Auf bau von Kirchenfenstern erinnernde Zeichnung des Hamburger Künstlers Arthur Siedelist. Diese Zeichnung illustriert die Struktur des Feldes der Körperkultur aus turnerischer Perspektive. In fünf Fenstern sind »verschiedene Arten von Siegern« – so der Titel – abgebildet. An der Spitze dieser fünf Einzelfenster steht ein Turner mit dem Siegerkranz in der Hand vor einem Pauschenpferd. Im Hintergrund weht eine Fahne mit den vier F der DT, die das Turnermotto »Frisch, Fromm, Fröhlich, Frei« symbolisieren. Diesem Victor sind andere, unvollkommenere »Arten von Siegern«, stereotype Repräsentanten der zeitgenössisch verbreitetsten Sportarten sowie ihre jeweiligen Preise untergeordnet: Rudern (links-mittig), Radfahren (rechts-mittig), Fußball (links-unten) und Boxen (rechts-unten). Der Ruderer steht inmitten zahlreicher Pokale und der Radfahrer vor einer Art Medaillenspiegel. Die ›Preise‹ des Boxers und des Fußballers sind eher ironischer Natur. Ersterer hat ein breitgeschlagenes Gesicht; Letzterer zahlreiche Verletzungen an Kopf, Arm und Beinen. In Abb. 1 verdichteten sich zwei der zentralen Vorwürfe, die den Fußballern seitens der Turner gemacht wurden. Diese Vorwürfe sollen im Folgenden für die Frage nach dem Verhältnis zwischen Fußball und der Problematisierung von Gesundheit analytisch fruchtbar gemacht werden. Der erste Vorwurf betraf die Gefährlichkeit des Fußballs. Nicht nur an der Position des Turnens, sondern auch in zahlreichen Tageszeitungen wurde seit den frühen 1890er Jahren mehrfach diese Gefährlichkeit behauptet und vor allem durch den Rekurs auf Unfallstatistiken erhärtet. Die Gefährlichkeit blieb bis zum Beginn
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des Ersten Weltkriegs ein relativ stabiler Vorwurf, der, wie sich anhand verschiedener Fußballverbote zwischen 1892 und 1912 zeigen lässt,27 eine deutlich über die Streitigkeiten zwischen Turnern und Fußballern hinausweisende Facette des Akzeptabilitätsproblems bildete. Diese Facette wird in drei Schritten untersucht. Zunächst stehen die Streitigkeiten zwischen Turnern und Fußballern bezüglich der Frage nach Gefährlichkeit im Vordergrund. In den folgenden beiden Schritten werden die Reaktionen auf die breitere Streuung dieses Vorwurfs fokussiert. Zum einen nutzten die Fürsprecher des Fußballs Unfallstatistiken in Tageszeitungen, um sich als Experten zu positionieren. Zum anderen appellierten zahlreiche Sprecher in Praxisanleitungen und Zeitschriften an die Fußballer, ihre Körper auf eine ungefährliche Art und Weise zu gebrauchen.
Abb. 1: »Verschiedene Arten von Siegern« Der zweite Vorwurf, der vor allem seitens der Turnerschaft vorgebracht wurde, bezog sich auf die disharmonische und einseitige Körperbildung. Durch die degenerationstheoretisch zugespitzte Behauptung einer körperlich-geistigen ›Entartung‹ erhielt dieser Vorwurf eine besondere Brisanz. Auch in diesem Kontext formte seine Mehrdeutigkeit – hier als Spiel oder Sport – einen Anreiz 27 | Siehe unten.
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zum Sprechen, denn die disharmonische Körperbildung warfen die Turner auch anderen Sportarten vor, was an Abb. 1 vor allem am Ruderer (links-mittig) und Radfahrer (rechts-mittig) deutlich wird. Die über eine maximale Kontrastierung operierende Logik der Darstellung wies dem Turnen, für das auf dieser Zeichnung der einzelne Turnkörper steht, auch bezüglich der Harmonie der Ausbildung den höchsten Stellenwert zu. Die einseitige Ausbildung des Körpers im Rudern deuten die im Vergleich zum Turner sehr schmalen Hüften und kurzen Beine an; für das Radfahren die vergleichsweise schmale Brust, dünnen Arme und sehr ausgeprägten Waden. Es waren aber nicht nur Rudern und Radfahren, denen die Sprecher im Feld der Körperkultur eine disharmonische, »degenerierende« Verbildung des Körpers zur Last legten, sondern auch dem Fußball. Dies lenkt die Aufmerksamkeit auf die durch den Eintritt des Fußballs (und anderer Sportarten) in das Feld der Körperkultur zeitgenössisch neu gestellte Frage nach Praktiken und ihren Körpern,28 die in drei Schritten untersucht. Bereits an Abb. 1 ist deutlich geworden, dass die Turner ihren Anspruch, die einzige, den Körper wirklich ganzheitlich ausbildende Praktik zu vertreten, auch bildhaft verdichteten. Dieser Bildpolitik des Turnens und der Visualisierung degenerierender Auswirkungen des Fußballs gilt der erste Schritt. In den beiden folgenden Abschnitten werden die seitens der Fürsprecher des Fußballs behaupteten und funktional auf die Leistungsfähigkeit des Fußballers und seines Körpers bezogenen, gesundheitsförderlichen Facetten näher untersucht: Ergänzungssport und Training. Zusammengenommen bilden beide Aspekte – (Un-)Gefährlichkeit und (De-)Formierung – zwei Seiten einer Medaille. In beiden Fällen war der Körper wesentlicher Bezugspunkt der Aussagen. Im Kontext der (Un-)Gefährlichkeit war es seine potenzielle Verletzbarkeit in praxi. Bezüglich der (De-)Formierung stand ebenfalls die körperpraktische Dimension im Vordergrund – in diesem Fall jedoch vielmehr die Langzeitfolgen einer Teilnahme am Spiel: Degeneration des Körpers durch einseitigen Gebrauch oder aber gesundheitsförderliches Selbstverhältnis.
5.1 »Todesfall noch weniger«: Ist der Fußball gefährlich? In der Zeitung zur Weihnachtskneipe des Männer-Turn-Vereins München (MTV) erschien 1902 eine literarisch-bildhafte Polemik auf den Fußball (Abb. 2). Doppelt umrahmt von einer schwarzen und einer dunkelgrauen Linie finden sich in der unteren Hälfte der Text und in der oberen Hälfte eine den Inhalt der »Fussballade« illustrierende Zeichnung. Den untersten Teil der Ab28 | Vgl.: Hirschauer, Stefan: Praktiken und ihre Körper. Über materielle Partizipanden des Tuns, in: Hörning, Karl/Reuter, Julia (Hg.), Doing Culture, S. 73-91. Zu diesem Aspekt, siehe unten.
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bildung bilden die beiden Enden der äußeren dunkelgrauen Linie, an denen Fußballschuhe – zu erkennen an den Stollen und den Knöchelschützern –, die den inneren Rahmen einzudellen scheinen, sowie ein Fußball, der zentriert direkt am untersten Ende der Abbildung abgedruckt ist.
Abb. 2: Gefährlichkeit des Fußballs Die »Ballade« beginnt bei Tagesanbruch und erzählt von »zwanzig Mann«, die »ins Feld« ziehen. Dort »tobt« dann ein heißer »Kampf«, der erst beim Zug der Sonne nach Westen – sprich: dem frühen Abend – beendet ist. Nur einer der zwanzig hat diesen Kampf überlebt. Alle anderen brachte, so die Sprecherinstanz, »ein Ball« um. Obwohl es an keiner Stelle der »Ballade« expliziert wird, sollte es sich bei dem erzählten Kampf zweifellos um ein Fußballspiel handeln, was sowohl am Titel, der Zitation der seitens einiger Fürsprecher des Fußballs mehrfach bemühten Metapher des hin- und herwogenden Kampfes und vor allem an der bildlichen Darstellung deutlich wird.29 Während in der Ballade der zeitliche Bogen vom Beginn bis zum Ende des Spiels gespannt wird, bildet die Zeichnung im oberen Teil lediglich dessen Ende oder vielmehr Resultat ab. Im Hintergrund ist ein zerbrochenes Fußball29 | Siehe: Kapitel 7.2.
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tor zu sehen, an dessen linkem Pfosten eine vornübergebeugte Figur lehnt. Am rechten Pfosten liegt eine Figur auf dem Bauch und über den weiteren Teil der Zeichnung liegen vier weitere Figuren rücklings auf dem Boden. Neben dem zerbrochenen Tor und den reglos am Boden liegenden Figuren, verstärkt der offenbar schmerzhaft gebrochene Arm der Figur in der Bildmitte den äußerst brutalen Eindruck. Am linken Bildrand sind Waden und Füße zu sehen, wodurch der Bildraum in den Bereich des Imaginären ausgedehnt wird. Dadurch wird der Bildbetrachter relativ nah an diese Szene herangerückt. Zugleich entsteht die Suggestion, dass die Abbildung nur einen Ausschnitt des »Schlachtfeldes« zeige.30 Im rechten Teil ist schließlich der schwer verletzte »Held« abgebildet, der durch seine Größe im Vergleich zu den anderen Figuren eindeutig im Vordergrund steht. Verbunden am Kopf, den Arm in einer Schlinge und gestützt auf eine Krücke ist er der einzige, der diesen Kampf überlebt hat – und erinnert deutlich an die Darstellung des verletzten Fußballers auf Abb. 1. In der Zeitung zur Weihnachtskneipe wurde ein zeitgenössisch recht gängiger Topos bezüglich des Fußballs aufgegriffen: Gefährlichkeit. Diese war u.a. in der DTZ von 1895 Gegenstand einer kurzen Meldung über ein Unglück beim Fußballspiel gewesen, in welcher der Verfasser von einem Todesfall aus der Schweiz berichtete. Trotz ihrer Kürze ließ die Meldung bezüglich der Dramatik dieses Falls keinerlei Zweifel. Ein »hoffnungsvoller 13 Jahre alter Knabe [war] von dem Ball so unglücklich getroffen« worden, dass eine Notoperation erforderlich wurde. Diese hatte jedoch keinen Erfolg und so starb der »blühende Knabe […] unter fürchterlichen Schmerzen.«31 Durch die Charakterisierung als blühender und hoffnungsvoller Knabe blieben keine Fragen über etwaige Vorerkrankungen offen. Zudem knüpften beide Adjektive eine deutliche Verbindung zur Jugend als Zukunftskategorie, die im Kaiserreich prominent diskutiert wurde.32
30 | Vgl. die Analyse Heike Talkenbergers, die anhand des Gemäldes Die Kartenspieler von Theodor Rombouts zu einem ähnlichen Ergebnis hinsichtlich der durch das Bild abgeschnittenen Figuren gelangt. Talkenberger, Bilder als historische Quellen, S. 16f. 31 | o.A.: Unglück beim Fußballspiel, in: DTZ 40, 1895, S. 40. 32 | Vgl. u.a.: Brunotte, zwischen Eros und Krieg, S. 16f.; Dahlke, Birgit: Jünglinge der Moderne. Jugendkult und Männlichkeit um 1900, Köln/Weimar 2006, v.a. S. 20-26, S. 55f.; Herrmann, Ulrich: Der ›Jüngling‹ und der ›Jugendliche‹. Männliche Jugend im Spiegel polarisierender Wahrnehmungsmuster an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, in: GG 11, 1985, S. 205-216; Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte. 18661918. Band I. Arbeitswelt und Bürgergeist, 3. Aufl., München 1993, S. 112f.; Tenorth, Heinz-Elmar: Geschichte der Erziehung. Einführung in die Grundzüge ihrer neuzeitlichen Entwicklung, 4. Aufl., München/Weinheim 2008, S. 181.
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Die »Fußballade« verdichtete einen Topos, der zeitgenössisch intensiv anhand von amerikanischen und englischen Unfallstatistiken diskutiert wurde. So heißt es beispielsweise in der Fußlümmelei: »Die Todesfälle, die durch das Spiel in England allein schon herbeigeführt worden sind […], zählen allein schon nach Hunderten, wenn nicht Tausenden, ganz abgesehen von den übrigen Verletzungen vorübergehender und bleibender Art.«33 Auch den Fußballern waren solche Berichte und Statistiken bekannt. Mit feiner Ironie zog der Verfasser eines Spielberichts über die Partie Columbia versus Victoria in der Zeitschrift Der Fussball von 1895 beispielsweise folgendes Fazit: »Verletzungen, wie z.B. verwickelte Arm- und Beinbrüche, Schädelbrüche mit Gehirnerschütterung, Knieverletzungen etc. sind nicht zu konstatieren gewesen. Todesfall noch weniger.«34 Unfallstatistiken waren nicht nur Turnern und Fußballern bekannt. Auch in deutschen Tageszeitungen wurden offenbar mehrfach Statistiken aus England und den USA zitiert, anhand derer auch eine breitere Öffentlichkeit über die Gefährlichkeit des Fußballs informiert wurde.35 Insofern bildete die Gefährlichkeit des Fußballs eine Facette des Akzeptabilitätsproblems von größerer Reichweite, was sich an einem Abschnitt zur »Gefährlichkeit des Fussballspiels« aus Philipp Heinekens Das Fussballspiel von 1898 zeigen lässt. Heineken berichtete, dass ihm »Dutzende von Fällen bekannt« wären, »in welchen den Knaben von ihren Eltern auf Grund solcher Polemiken [in Zeitungen] das Spielen untersagt wurde«.36 Über einen solchen Fall klagte ein ungenannter Leserbriefschreiber in der Spiel und Sport von 1894. Seine Eltern hätten im Berliner Lokal-Anzeiger Unfallstatistiken gesehen und ihm daraufhin das Fußballspielen verboten. Genau wie auch die Eltern der meisten seiner Mitschüler seien seine Eltern ohnehin »dem Fußballspiele abgeneigt« gewesen und hätten dies »bis jetzt [nur] geduldet, da unsere Lehrer dafür eintraten.« Nachdem sie aber den Artikel gelesen hatten »verboten [sie] mir sofort das Fußballspielen«.37 33 | Planck, Fußlümmelei, S. 18f. Vgl. zu weiteren Hinweisen auf die Gefährlichkeit des Fußballs an der Position der DT: Nußhag, Friedrich: Ausartungen des Fußballspiels, in: DTZ 39, 1894, S. 302-303; Den Bericht über den Fußball in England in der DTZ 40, 1895, S. 277. 34 | Veritas: Columbia versus Victoria, in: Der Fussball 2, 1895, S. 149. 35 | Vgl. den knappen Hinweis auf diese Berichte in Tageszeitungen in: Eisenberg, Fußball in Deutschland, S. 187. Eine ausführliche Analyse der sehr breiten deutschen Presselandschaft liegt für diesen Untersuchungszeitraum außerhalb des Machbaren. Im weiteren Teil der Untersuchung werden vielmehr die Reaktionen seitens der Fürsprecher des Fußballs auf solche Berichte rezipiert, die indirekt Hinweise auf solche Berichte geben. 36 | Heineken, Das Fußballspiel, S. 223. 37 | O.N.: Eingesandt, in: Spiel und Sport 4, 1894, S. 344.
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Anders als an dieser Berliner Schule, an welcher einzelne Lehrer offenbar den Fußball förderten, wurde er andernorts durch die Schulen respektive ihrer übergeordneten Behörden wegen seiner Gefährlichkeit verboten. 1892 war es an einem Würzburger Gymnasium nicht mehr erlaubt Fußball zu spielen,38 knapp zwanzig Jahre später in der hessischen Kleinstadt Viernheim39 und im Januar 1912 sprach das bayerische Kultusministerium ein generelles Fußballverbot für Schüler unter 17 Jahren in ganz Bayern aus.40 Als Reaktion veröffentlichte der Münchener Rasensportverband eine Gutachtensammlung, in welcher u.a. praktische Ärzte, Psychiater, Hygieniker und Pädagogen gegen dieses Verbot votierten. Dieses wurde schließlich im Mai 1913 auf Anraten Dr. Henrichs, dem Direktor der königlich-bayerischen Zentralturnlehrerbildungsanstalt, zurückgenommen. Henrich, dessen Gutachten über die Gefährlichkeit des Fußballs ausschlaggebend für das Verbot gewesen war, räumte recht kleinlaut ein, dass er nunmehr »›von dem Werte des Fußballspiels‹« überzeugt sei. Hätte diese Erkenntnis früher bestanden, hätte es den »›bekannten Erlaß gegen die fußballsportliche Betätigung der Mittelschüler wohl überhaupt nicht gegeben‹«. Süffisant ergänzte Sturm, der über diesen Vorgang berichtete: »[D]as kommt davon, wenn die Behörden von ›Verspäteten‹ beraten sind.«41 Angesichts der Wortwahl Henrichs, der von dem Werte des Fußballspiels sprach, lässt sich vermuten, dass die Gutachtensammlung (Die erzieherischen Werte) einen gewissen Einfluss auf die Rücknahme des Verbots hatte. Solche belehrenden Maßnahmen bildeten eine Facette des Umgangs mit der vermuteten oder statistisch beglaubigten Gefährlichkeit des Fußballs. Eine weitere Facette bildete eine Mischung aus verbalen Angriffen gegen das Turnen und Überhöhung der gesundheitlichen Vorzüge des Fußballs. Diese Mischung konfrontativer und konstruktiver Argumentationen gestattete es den Fürsprechern des Fußballs ihre Position im Feld zu stärken und jene der Turner zu schwächen. In einer dritten Facette formte der Fußballer eine Adresse. In Mahnworten, Spielberichten und Praxisanleitungen wurden die Fußballer immer wieder angehalten, sich an die Regeln zu halten und nicht roh zu spielen, um ihre eigene Gesundheit, die ihrer Mitspieler und ihrer Gegner nicht zu gefährden. 38 | Vgl. das Gutachten Hans Ritter von Baeyers, abgedr. in: Münchener Rasensportverband (Hg.): Die erzieherischen Werte des Fussballspiels, München o.J. [1912], S. 25-27. 39 | Vgl.: o.A.: Ein Fußballverbot, in: KuG 18, 1910, S. 390. 40 | Vgl. hierzu und im Folgenden: Münchener Rasensportverband (Hg.), erzieherischen Werte. 41 | Sturm: Brauchen wir Training und Kampf?, in: DSA/DSV/DFB (Hg.), Sport in der Schule, S. 14-23, hier S. 22.
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»Den Spieß umdrehen«: gesundheitsschädliches Turnen, gesundheitsförderlicher Fußball Nicht nur Turner lasen Zeitungen, sondern auch Fußballer. Unter der Überschrift Den Spiess umgedreht erschien im August 1894 in Spiel und Sport ein Artikel, in welchem eine Unfallstatistik aus dem Baden-Badener Wochenblatt über das deutsche Turnfest des selben Jahres aufgegriffen wurde. Süffisant formulierte der Verfasser: »Dass auch Unfälle beim Turnen vorkommen, hätte man, nach dem Sturm der Entrüstung, der aus gewissen Fractionen der Turnerschaft gegen das Fussballspiel erhoben wurde und noch immer wird, nicht für möglich gehalten.« Der Hinweis auf »gewisse Fraktionen« unterstreicht, dass es nicht die Turnerschaft war, die den Fußball aus Gefahrengründen ablehnte. Wie bereits angesprochen gab es auch innerhalb der DT durchaus Fürsprecher des Fußballs. Entsprechend differenzierte der Verfasser zwischen diesen und der »Antifussball-Partei«, welche sämtliche »erreichbaren statistischen Alarmtabellen […] in den Dienst« nähme, um den Fußball »als ein höchst gefährliches Spiel, oder vielmehr Rauferei hinzustellen.« Dieser Versuch einer »Verhinderung des Weiterdringens des Fussballspiels in Deutschland« sei jedoch »glücklicherweise« fehlgeschlagen und auch »in Turnvereinen selbst hat das Spiel, dank der Einsicht und der Vernunft massgebender Männer, starke Wurzel gefasst.«42 Erst im Dezember des gleichen Jahres erschien in Spiel und Sport eine Gegendarstellung. Im Auftrag des Turnfest-Oberausschusses erläuterte Carl Partsch, dass lediglich zwei ernste »Verletzungen bei den Turnern […] zu verzeichnen« gewesen seien, und der Rest auf Publikum, »Arbeitspersonal u.s.w.« entfielen.43 Die Diskreditierung des Turnens vor dem Hintergrund von Unfallstatistiken bildete ein eher peripheres Phänomen. Noch 1910 hieß es zwar in der Broschüre Was wir wollen, »daß durch das Fußballspiel nicht annähernd so viel Unfälle vorkommen, wie z.B. bei dem Turnen«,44 aber eine beweishafte Statistik konnten die Verfasser nicht anführen. Sehr viel gängiger war die Verschränkung konfrontativer und konstruktiver Argumentationen, die vor allem über die Differenz zwischen staubigen Turnhallen und frischer Luft operierten. Mit einer gewissen Genugtuung referierte ein anonymer Autor in Spiel und Sport von 1896 Arbeiten Ferdinand August Schmidts und Angelo Mossos, die die Turnhallen scharf kritisierten. In seiner Wiedergabe eines Aufsatzes von Schmidt hielt er fest:
42 | Vgl.: o.A.: Den Spiess umgedreht, in: Spiel und Sport 4, 1894, S. 879f., alle Zitate ebd. Vgl. auch: o.A., Fussballbewegung und ihre Gegner. 43 | Vgl.: Partsch, Carl: Erklärung des Ober-Ausschusses des 8. deutschen Turnfestes, in: Spiel und Sport 4, 1894, S. 1356, alle Zitate ebd. 44 | Norddeutscher Fußball-Verband (Hg.), Was wir wollen, S. 13.
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Staubige und ungesunde Turnhallen bildeten bereits seit den 1880er Jahren einen prominenten Aspekt einer breiten Kritik am Turnen. Diese betraf »die Ventilation und die Reinlichkeit in unseren Turnhallen«, wie es Robert Heeger 1883 formulierte. Ventilation und Reinlichkeit bezogen sich zum einen darauf, dass der »Aufenthalt in Räumen mit verbrauchter, zugiger oder gar mit Miasmen und Staub erfüllter Luft höchst nachteilig für die Gesundheit Erwachsener« sei. Daraus folgerte Heeger: »[W]ie viel mehr dürfte dann das Turnen in solchen Räumen auf die Gesundheit des jugendlichen Organismus bedrohlich einwirken!«46 Heegers Argumentation bezog sich explizit auf bakteriologische Denkmodelle, wie an dem Bezug auf Miasmen deutlich wird. Generell blieb diese explizite Referenz allerdings eher selten. Viel häufiger wurde schlicht von Staub gesprochen, der schon um 1800 im Verdacht stand, Auslöser von Lungenschwindsucht zu sein.47 Diesen Verdacht entkräftete zwar die Entdeckung des Tuberkelbazillus durch Robert Koch dahingehend, dass das Bazillus und nicht der Staub ursächlich seien, aber fortan galt Staub als einer der wichtigsten Träger dieses Bakteriums. Im Tuberkulose-Merkblatt des kaiserlichen Gesundheitsamtes von 1900 heißt es: »Tuberkelbazillen werden aufgenommen: 1. durch Einatmen in der Luft: entweder von eingetrocknetem Auswurf Schwindsüchtiger im Staub, aufgewirbelt durch Wind, Luftzug, Ausfegen oder verschleppt an Schuhsohlen oder Kleidern«.48 Der Vorwurf, die Turnhallen seien zu staubig, zielte also auf ein mit dem Hallenturnen verbundenes, hohes Gesundheitsrisiko. 1902 sprach sich Christian Adolf Rümelin auf der Dritten Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Schulgesundheitspflege »unter fast allgemeinem Beifall […] gegen das
45 | Vgl.: o.A.: Das Turnen in den Turnhallen, in: Spiel und Sport 6, 1896, S. 1149-1150, Zitat S. 1149. 46 | Alle Zitate: Heeger, Schulturnen und Körperpflege, S. 20. Vgl. ferner: Angerstein, sittliche und physiologische Bedeutung, S. 10. Vgl. ähnlich bereits 1881: Petermann, Schäden, S. 48. 47 | Vgl.: Bertele, Georg August: Versuch einer Lebenserhaltungskunde, Landshut 1803, S. 132. 48 | Kaiserliches Gesundheitsamt: Das Tuberkulose-Merkblatt, abgedr. in: Holbrook, Martin Luther: Die Verhütung, hygienische Behandlung und Heilung von Lungenschwindsucht, München 1900, S. 183-194. Zitat S. 184f.
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jetzt übliche Turnen aus, das eher schädlich als nützlich sei« und rekurrierte in seiner Wortmeldung dabei vor allem auf die »staubige[n] Hallen«.49 Das Spiel im Freien und die Forderung nach »gesunde[n] Turnhallen«50 waren die beiden Optionen, die im Kontext der Kritik am Hallenturnen verhandelt wurden. Bereits Heeger hatte einen Vorschlag zur »Abhilfe gegen den lungengefährdenden Staub« unterbreitet: »Scheuern«. Er beschrieb ironisierend, wie ein Wischer zum Reinigen der Turnhalle genutzt werden müsse und wie sich die Turner die Füße abzutreten hätten, um Staubentwicklung möglichst zu minimieren. Ergänzend zum Vorschlag der Reinigung von Turnhallen bestand ein weiterer Vorschlag zur Lösung der »Staubfrage«51 darin, die Hallenböden mit staubbindenden Mitteln zu behandeln. An dieser Stelle wurde es dann fast komisch. Richard Zander berichtete, »der jetzt vielfach verwendete staubbindende Ölanstrich« habe dazu geführt, dass der »Fußboden recht glatt« geworden war. Dies hatte wiederum »mehrmals dazu Veranlassung gegeben, daß Schüler stürzten und Arm und Beinbrüche erlitten.«52 Es schien also fast egal zu sein, was die Turner gegen die gesundheitsgefährdenden Aspekte des Hallenturnens unternahmen. Entweder war es aus bakteriologischen Gründen gefährlich oder weil die Maßnahmen gegen den Staub zu gefährlichen Stürzen führten. In einer Erwiderung auf verschiedene Vorwürfe Carl Diems, der den Sport in den USA gerade deshalb lobte, weil er in frischer Luft stattfinde,53 reagierte der Vorsitzende des Deutschen Turnlehrervereins, Diebow, leicht gereizt. »Auch die deutschen Turnlehrer betrachten die Turnhalle nur als einen Notbehelf.«54 Die Erwähnung des Vorzugs von Bewegung an frischer Luft war offenbar ein ausreichender Hinweis darauf, dass es sich um eine Bezugnahme auf die 49 | Abel, Rudolf: Die dritte Jahresversammlung des Allgemeinen Deutschen Vereins für Schulgesundheitspflege am 20. bis 22. Mai 1902 in Weimar, in: Zeitschrift für Schulgesundheitspflege 15, 1902, S. 291-323. Vgl. zu den ›staubigen Turnhallen‹ ferner: Finkler, körperliche Anlagen; Hermann, August: Erinnerung an den verstorbenen Oberpräsidenten Dr. von Goßler, in: KuG 11, 1902/1903, S. 260-262. Vgl. zu den Tuberkulose-Assoziationen: Eisenberg, English Sports, S. 255. 50 | Siebert, Albert: Das deutsche Turnen, in: DTV (Hg.), Schulturnen und die Sportstudienkommission, S. 16-18, Zitat S. 17. 51 | Vgl.: Heeger, Schulturnen und Körperpflege, S. 20f., Zitate ebd. 52 | Zander, Richard, Bericht über den Vortrag Hermann Adolf Griesbachs Über den Stand der Schulhygiene in Deutschland im Rahmen der Verhandlungen der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte, in: KuG 12, 1903/1904, S. 393-394, Zitat S. 393. 53 | Vgl.: Diem, Carl: Sport und Körperschulung in Amerika. Bericht über die Sport-Studienreise nach den Vereinigten Staaten im August-September 1913, Berlin 1913, S. 7. 54 | Diebow: Einleitung, in: DTV (Hg.), Schulturnen und die Sportstudienkommission, S. 3-4, Zitat S. 3.
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Turnhallen handelte. Die Wendung, dass Bewegungsspiele, wie der Fußball, vor allem deshalb besonders gut seien, weil sie an der frischen Luft stattfänden, verwies also zumindest in der Wahrnehmung der Turner auf eine Kritik am Hallenturnen. Genau dieser Aspekt bildete den Kipppunkt zwischen konfrontativen Argumentation gegen das gesundheitsschädliche Hallenturnen zu konstruktiven Argumentationen für den gesundheitsförderlichen Fußball. Bereits Friedrich Ernst Clasen und Wilhelm Rolfs hatten in ihren Praxisanleitungen genau aus diesem Grund den Fußball hervorgehoben. Clasen beschrieb ihn als »Stahlund Stählbad der Gesundheit […] dem als Tiefenatmungskur kein zweites gleicht.«55 Den von Clasen neben der allgemeinen gesundheitsförderlichen Dimension erwähnten Einfluss auf das respiratorische System, griff auch Rolfs in seinen Betrachtungen über moderne englische Spiele auf. »Die Glieder werden geschmeidig, die Lunge gekräftigt, das Auge bleibt gesund«. Ferner nannte er Fußball ein »nerven- und sehnenstärkendes Spiel.«56 Beide, Clasen und Rolfs, situierten das Fußballspiel eindeutig innerhalb der Überbürdungsdebatte – und dies in zweierlei Hinsicht. Erstens bildete die Sorge um Überbürdung für beide den Anreiz zum Sprechen. Explizit formulierte dies Clasen: »Allgemein bricht sich die Ueberzeugung Bahn, daß die jetzige Art der Jugenderziehung zur Ueberbürdung der Schuljugend führt.«57 Zweitens platzierten sie Fußball und andere Bewegungsspiele als entbürdende Praktiken, geeignet den überbürdeten Schülerkörper zu kurieren. Bereits im Rahmen der Überbürdungsdebatte galt der Fußball also als gesundheitsförderlich, weshalb an Eltern, Lehrer, Behörden etc. appelliert wurde, diese Praktik zu fördern. Indem Fußball als eine Instanz der Genesung für die als überbürdet problematisierte männliche Schuljugend platziert wurde, erhielt er also eine gewisse gesellschaftliche Relevanz abseits des Spielfeldes. Clasen und Rolfs waren allerdings die beiden einzigen Autoren, die im Rahmen der durch die Überbürdung angereizten Konjunktur des Sprechens über Bewegungsspiele explizit gesundheitsförderliche Aspekte des Fußballs betonten. In den meisten Spielesammlungen galten Bewegungsspiele im Freien allgemein als gesundheitsförderlich, weil der Überbürdung entgegenwirkend – und häufig war das Fußballspiel eines davon.58 Selbst diejenigen, 55 | Clasen, Bewegungsspiele, S. 56. 56 | Racquet, englische Spiele, S. 48f. 57 | Clasen, Bewegungsspiele, S. 5. Vgl.: Racquet, englische Spiele, S. 4f. 58 | Vgl. u.a.: Kohlrausch, Ernst/Marten, Adolf (Hg.): Turnspiele nebst Anleitung zu Wettkämpfen und Turnfahrten für Lehrer, Vorturner und Schüler höherer Lehranstalten, Hannover 1884, S. 43-53, »Fußball mit Aufnehmen« und »Fußball ohne Aufnehmen«; Schettler, O.: J. C. F. GutsMuths’ Spiele zur Erholung des Körpers und Geistes. Gesammelt und Bearbeitet für die Jugend, ihre Erzieher und alle Freunde unschuldiger
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die das Fußballspiel beschrieben, erwähnten keine besonderen, dem Fußball eigenen gesundheitsförderlichen Dimensionen.59 Anfang der 1890er wurde dieser Aspekt jedoch wieder aufgegriffen und mäanderte in den folgenden Jahrzehnten durch das Sprechen über den Fußball.60 So schwärmte Fricke in seiner Praxisanleitung von 1890: »Beim Fußball atmet die Brust tiefer, da röten sich die Wangen, da rollt das Blut schneller durch die Adern, da giebt es auch bei kaltem Wetter keine zitternd und bebend stehende Spieler, da muß eben jeder sein ganzes Können in jeder Minute im Interesse der Gesamtheit und seiner selbst einsetzen.« 61
Auch im Dresdener Neuen Tageblatt von 1895 charakterisierte ein Reporter den Fußball als besonders gesundheitsförderlich, was die Redaktion der Zeitschrift Der Fussball erfreut zur Kenntnis nahm. Gerade der Fußball sei »besser als jeder andere [Sport] geeignet, dem ganzen Körper eine hygienisch vorteilhafte Bewegung zu verschaffen. Lungen, Brust, Füsse und Beine werden gekräftigt, schnelles Laufen, sichere Berechnung des Stosses werden geübt.«62 Fünfzehn Jahre später betonten die Verfasser von Was wir wollen, dass der Fußball »in offener und freier Luft gespielt wird. Jeder Mensch hat eine gute Gesundheit nötig, vor allem aber gesunde Lungen. Besonders wir Norddeutsche haben sie nötig. In unserem flachen Lande droht die Tuberkulosegefahr mit allen ihren Lebensfreuden, 6. Aufl., Hof 1884, S. 140-154, »Kreisfußball«, »englischer Fußball« und »Fußball ohne Aufnehmen«; Trapp/Pinzke, Bewegungsspiel, S. 56, allerdings als »Kreisfußball«. 59 | Vgl.: Koch, Konrad: Fußball. Regeln vom Spielplatze des Gymnasiums MartinoKatharineum zu Braunschweig. 2. umgearb. Aufl., Braunschweig 1885; Stößer: Regeln über das Fußballspiel für deutsche Verhältnisse nach eigener Erfahrung, abgedr. in: Bircher, Jugend- und Turn-Spiele. 60 | Vgl. neben dem im Folgenden zitierten: B.v.W.: Fussball, in: Sport im Bild 2, 1896, S. 348; Eberbach, Kurt von: Rasenspiele. Zweiter Band. Fussball, Leipzig o.J. [vermutlich 1902], S. 115; Heineken, Philipp: Die beliebtesten Rasenspiele. Eine Zusammenstellung der hauptsächlisten englischen Out Door Games zum Zwecke ihrer Einführung in Deutschland, Stuttgart 1893, S. 5; Koch, Geschichte des Fußballs, S. 89; Kohlrausch, Ernst/Raydt, Hermann: Ein allgemein verbindlicher Spielnachmittag für Knaben- und Mädchenschulen. Referate auf der Versammlung des Zentralausschusses in Quedlinburg am 19. Mai 1904, in: KuG 13, 1904-1905, S. 99-111, hier S. 107; Sturm: Für Fußball ohne und mit Aufnehmen, in: KuG 12, 1903-1904, S. 385-388, hier S. 386; Zettler, Moritz: Turnspiele für Knaben und Mädchen, 7. Aufl., Leipzig 1898, S. 103. 61 | Fricke, Ferdinand Wilhelm: Das Fußballspiel. Seine Geschichte, Vorzüge und dessen Betriebsweise auf deutschen Spielplätzen, Hannover-Linden 1890, S. 13. 62 | Zitiert nach: Der Fussball 2, 1895, S. 148.
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Schrecken.«63 Vor allem im Rahmen konstitutionshygienischer Denkmodelle, die Prävention und Intervention bei Krankheiten über eine Stärkung der individuellen Konstitution operationalisierten, galt der Fußball als präventive Praktik, welche vor allem die Lunge stärke. Schmidt plädierte gerade deshalb für Bewegungsspiele, weil »zur gesunden Entwicklung des nachfolgenden Geschlechtes« gängige hygienische Konzepte, wie etwa Trinkwasser- oder Nahrungsmittelüberwachung nicht ausreichten. Vielmehr müsse »reichliche Bewegung in freier Luft«64 – idealerweise in Form von Bewegungsspielen – hinzukommen. In seiner Form als Spiel an der frischen Luft konnte der Fußball also zum einen als Kontrastfolie gegen das Hallenturnen gesetzt werden. Zum anderen war es möglich, vor diesem Hintergrund seine besonderen gesundheitsförderlichen Eigenschaften als Argument für den Fußball zu akzentuieren. Das ›Umdrehen des Spießes‹ betraf daher weniger den relativ plumpen Gegenvorwurf, das Turnen sei statistisch gesehen vielleicht ebenfalls gefährlich. Vielmehr betonten die Akteure die gesundheitsschädlichen Eigenschaften des Hallenturnens, die sie vor allem vor dem Hintergrund bakteriologischer und konstitutionshygienischer Wissensordnungen stabilisierten. Den Unfallstatistiken in Tageszeitungen konnten die Fürsprecher des Fußballs jedoch nicht auf diese Weise begegnen.
Statistik, E xpertise und Anschauung 1893 brach in der Zeitschrift Spiel und Sport angesichts einer Statistik der englischen Westminster Gazette, die in mehreren deutschen Tageszeitungen zitiert wurde, geradezu ein Sturm der Entrüstung aus. Zwar freute sich etwa ein ungenannter Autor in der Rubrik English Chat dieser Zeitschrift, der »alarmist Paragraph of the Westminster Gazette about the number of fatal and severe accidents […] fortunately and most remarkably excited little or no comment«,65 aber in der folgenden Ausgabe findet sich dennoch eine Gegendarstellung zur Rezeption dieser Statistiken in den deutschen Tageszeitungen. Unter der Überschrift Ist das Fussballspiel gefährlich rügte M. Grampp, dass diese Statistiken den »weit verbreiteten Irrthum, dass das Fussballspiel gefährlich sei« bekräftigen würden. Sie seien geeignet, »bei den Laien das Interesse für das Fussballspiel zu ersticken und über das Fussballspiel den Stab zu brechen.«66 Zwei Wochen später widmete sich ein weiterer Autor ebenfalls diesem Thema. 63 | Norddeutscher Fußball-Verband (Hg.), Was wir wollen, S. 10. 64 | Schmidt, volksgesundheitliche Bedeutung, S. 1. Vgl. ferner: Reichenau, wachsende Feuerkraft, S. 135-137. 65 | o.A.: English Chat, in: Spiel und Sport 3, 1893, 29.4.1893, o.S., Hervorh. i. Orig. 66 | Grampp, M.: ›Ist das Fussballspiel gefährlich?‹, in: Spiel und Sport 3, 1893, S. 199f., Zitate S. 199.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
Ein Autor mit dem Pseudonym ›Kick«67 schrieb, Grampps Widerlegungen seien treffend gewesen. Da aber nun der Berliner Lokal-Anzeiger »ganz einfach den abgeleierten Paragraphen« abgedruckt hätte, habe auch er sich veranlasst gefühlt, Stellung zu beziehen. »Mit wenigen Ausnahmen haben sich die deutschen Zeitungen damit begnügt, die Unglücks-Statistik der ›Westminster Gazette‹ […] ohne jedwede Bemerkung abzudrucken.« Dass sei nicht nur deshalb verwerflich, weil sie damit einer »wichtigen nationalen Frage, denn das ist das Fussballspiel heute« entgegenträten, sondern auch, weil die Statistiken ohnehin völlig verzerrt wären. »437 schwere und leichte Unfälle«, das wolle man nicht leugnen, seien sicherlich nicht gut. Allerdings müsse man auch bedenken, »wie viele Millionen Fussball gespielt haben in den erwähnten drei Jahren!« Mithin, so sein Argument, sei weniger die absolute Zahl der Unfälle, als vielmehr der Durchschnittswert zu beachten, der gemessen an den absoluten Zahlen der Fußballer enorm gering ausfiele.68 Neben solchen Relativierungen wiesen zahlreiche Sprecher vor allem auf die fehlerhafte Bezugsgröße der Statistiken hin. Der Orthopäde Hans Ritter von Baeyer schilderte seine Erfahrungen mit dem Fußballverbot Anfang der 1890er in Würzburg. Man hatte »schon damals Angst vor den Verletzungen, von denen häufig in den Zeitungen zu lesen war. Es handelte sich hier aber fast ausschließlich um Nachrichten aus englischen Clubs, die das bei uns fast unbekannte rohe Rugby spielten.«69 Im DFB-Jahrbuch von 1908 stellte Walter Sanß mit Befriedigung fest, dass die Berichte über die Gefährlichkeit des Fußballs nachließen, und wies auch in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf die falsche Datenlage hin. »Die Berichte über die angebliche Gefährlichkeit des Fussballspiels, die fast sämtlich in der Benutzung statistischen Stoffes und Darstellung einzelner Vorfälle sich auf das amerikanische Rugby-Spiel beziehen, nehmen erfreulicherweise ab.«70 1912 tadelte auch Hans Oskar Simon in der Einleitung seines Leitfaden zum Fußballspiel »mangelhafte und irreführende Preßberichte [sic]«. Sie hätten dazu geführt, dass »Unkundige« die Gefah67 | Nicht selten verwendeten die Verfasser von Artikeln in den Sportzeitschriften Pseudonyme, da sie offenbar mit negativen Konsequenzen für ihr Tun rechneten. Vgl.: Eisenberg, Fußball in Deutschland, S. 189. 68 | Vgl.: Kick: Noch einmal ›Ist das Fussballspiel gefährlich?‹, in: Spiel und Sport 3, 1893, S. 215f., Zitate ebd., Hervorh. i. Orig. 69 | Gutachten Hans Ritter von Baeyers, abgedr. in: Münchener Rasensportverband (Hg.), erzieherischen Werte, S. 26. 70 | Sanß, Walter: Bericht der Schriftleitung über das Bundesjahr 1907/08, in: DFBJahrbuch 5, 1908, S. 9-12, Zitat S. 10. Allerdings gab es wohl immer noch solche Berichte, denn Sanss formulierte zugleich das Ziel, eine »Bearbeitung der deutschen Tagespresse, die Abfassung massgebender Artikel und Erklärungen durch die Bundesleitung [...] für die Zukunft ins Auge zu fassen.« Siehe: Ebd.
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ren und Unfälle des Rugby-Fußballs »der in Deutschland fast allein üblichen und daher kurzweg Fußball genannten Sportform zuschreiben.«71 Simons Hinweise auf »Unkundige« und die Übertragung von Unfallstatistiken des Rugby-Fußballs auf den in Deutschland üblicheren Association Fußball machen erneut auf die Relevanz der Mehrdeutigkeit des Fußballs aufmerksam. Während seine Gegner Unfallstatistiken des Rugby oder American Football zitierten und auf den Fußball als Ganzes übertrugen, positionierten sich seine Fürsprecher als Experten und nutzten diese vermeintlichen oder tatsächlichen Verwechslungen als Ausgangspunkt für Richtigstellungen. Bereits 1894 hatte sich ein anonymer Autor in einem vierteiligen Leitartikel in Spiel und Sport mit dem alten Thema beschäftigt. Eine deutschsprachige Zeitung aus New York hatte sich über den amerikanischen Fußball mokiert und die Berliner Post hatte diesen Artikel zustimmend abgedruckt. Die Post erwähnte jedoch nicht, so die Kritik, dass die Vorwürfe aus der New Yorker Zeitung »gegen Fussball, wie es in Amerika gespielt wird, gerichtet« gewesen seien.72 Auch in Sport im Bild kritisierte ein anonymer Autor Mitte der 1890er Jahre: »Man liest ab und an in den Tageszeitungen haarsträubende Berichte von amerikanischen Wettspielen, bei welchen dief urchtbarsten [sic] Verletzungen vorgekommen sein sollen. Diese Berichte sind wohl von Reportern geschrieben, welche das Spiel nur dem Namen nach kennen«.73
Markierte der anonyme Autor in Sport im Bild lediglich die Reporter als ›ahnungslos‹, so ging Paul Faber in der Einleitung seiner Praxisanleitung von 1907 einen Schritt weiter. Seiner Ansicht nach waren nicht nur Reporter, sondern das Gros der »Gegner eines der gesundesten Sports größtenteils Laien [...], die das Fußballspiel nicht kennen, ja meistens noch nie ein Wettspiel sich angesehen haben«.74 Nicht nur Faber, sondern mehrere Fürsprecher des Fußballs charakterisierten jene, die sich abfällig über den Fußball äußerten, mehr oder weniger direkt als Laien, Unkundige oder Ahnungslose und legten ihnen nahe, sich zunächst selbst ein Bild vom Fußball zu machen. Kurt von Eberbach wies seine Leser darauf hin, dass eine »ebenso weit verbreitete wie irrthümli71 | Simon, Hans Oskar: Leitfaden des Fußballspiels, Crefeld 1912, S. 3. Vgl. ferner zu den Statistiken: B.v.W., Fussball, S. 348; Blaschke, Georg: Die Propagandatätigkeit des Deutschen Fussballbundes, in: Der Rasensport 9, 1911, S. 162f. 72 | o.A.: Das alte Thema, in: Spiel und Sport 4, 1894, S. 45f.; S. 67f.; S. 92f.; S. 115f., Zitate S. 67, Hervorh. i. Orig. 73 | D.: Die Fussball Saison, in: Sport im Bild 1, 1895, S. 254, Hervorh. J.E. Vgl. ferner kritisch zur Verwendung falscher statistischer Grundlagen: o.A.: Ueber den Fussballsport in Deutschland, in: Der Fussball 2, 1895, S. 148. 74 | Faber, Paul: Der Fußballsport, Berlin/Leipzig/Paris 1907, S. 7.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
che Annahme [laute], dass das Fussballspiel ein roher, gesundheitsgefährdender Sport sei. Für jeden, der die Fussballregeln kennt und ein gutes Wettspiel einmal angesehen hat, klingt eine solche Behauptung einfach lächerlich.«75 Entsprechend forderte Martin Berner in einem Artikel über Das Fußballspiel und seine Gegner von 1910 ausdrücklich dazu auf, sich vom Fußballspiel durch eigene Anschauung überzeugen zu lassen. »[I]hr alle: Kommt und seht euch ein gutes Fußballspiel an – wo fehlte heute noch die Gelegenheit dazu? –, denn keiner verlangt von euch, daß ihr euer Urteil für schöne Worte hergebt.«76 Dass solche eigenen Anschauungen eine gewisse Wirkung hatten, kann anhand einer knappen Notiz aus der Monatsschrift des KFC von 1912/1913 erahnt werden. Im Rahmen eines »Kursus für Jugendpflege« hatte die zweite Mannschaft gegen die des Kölner Ballspiel Club gespielt. »Das Spiel nahm einen sehr fairen Verlauf, was besonders von den Lehrpersonen betont wurde.«77 Deutlichere Aufschlüsse darüber, wie sich Vorbehalte gegenüber dem Fußball, die auf Berichten über seine Gefährlichkeit beruhten, durch eigene Anschauung zerstreuten, bieten zwei andere Quellen. Paul Kron hatte in einer Hamburger Zeitung »eine Reihe Ergüsse, welche sich mit der Schädlichkeit des Fussballs beschäftigten« gelesen. Als er, so fährt er in einem Leserbrief an Sport im Bild von 1895 fort, zu Besuch in Berlin war, ging er mit einigen Freunden zu einem Fußballspiel. Dort wurde er »angenehm überrascht, denn von ›Roheit‹ konnte ich absolut nichts bemerken.« Er »freue« sich, »sagen zu dürfen, dass ich durch den Wettkampf Wien-Berlin aus einem ›Saulus‹ zu einem ›Paulus‹ geworden bin.«78 Auch sechzehn Jahre später bot die Anschauung eines Fußballspiels wohl noch das Potenzial zur Bekehrung. 1911 erschien im DFB-Jahrbuch der Bericht eines Oberstleutnant Löffler, der im Titel explizit dieses Moment anzeigte. In Wie ich zum Fußballspiel bekehrt wurde berichtete Löffler vom Besuch seines ersten Fußballspiels – einen Bericht, im Übrigen, den er 1911 in einer ähnlichen Form mündlich
75 | Eberbach, Rasenspiele, S. 114. Vgl. ferner: Bensemann, Walter: Die deutsche Schule und das Jugendspiel, in: Spiel und Sport 4, 1894, S. 267f., S. 295-297, hier S. 268; Fricke, Ferdinand Wilhelm: Das Fussballspiel in Hannover, in: Hannoverscher Anzeiger v. 23.2.1896, abgedr. in: Spiel und Sport 6, 1896, S. 260-261; Leserbrief Curt B.s in: Der Rasensport 7, 1909, S. 796; Marx, Turnen und Bewegungsspiel, S. 21f.; Schnell, Hermann: Handbuch der Ballspiele. Zweiter Teil: Das Fußballspiel, Leipzig 1900, S. 28f.; Raydt, Englische Schulbilder in deutschem Rahmen, S. 99. 76 | Berner, Martin: Das Fußballspiel und seine Gegner, in: DFB-Jahrbuch 7, 1910, S. 55-59, Zitat S, 59. 77 | Vgl.: o.A.: K.F.C. (Ligaersatz) gegen K.B.C. 1:1. Hallensportfest, in: Monatsschrift KFC 5, 1912/1913, S. 11-12, alle Zitate S. 11. 78 | Kron, Paul: Eingesandt, in: Sport im Bild 1, 1895, S. 350.
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auf dem 18. Bundestag des DFB abgegeben hatte.79 Bei diesem Spiel beobachtete er mehrere Verletzungen. Zwei Spieler rannten sich so an, »daß sich die Köpfe heftig trafen und der eine [...] den Platz verlassen musste«. Ein anderer Spieler schied wegen eines Wadenkrampfes aus und dann traf ein weiterer Spieler einen Gegner »durch verfehlten Stoß [...] am Schienbein« und brachte diesen dadurch »zur Strecke«. Angesichts dieser Beobachtungen »dachte ich an früher hier und da gelesene Äußerungen, daß der Fußballsport roh und gefährlich sei.« Durch Unterhaltungen mit Experten während der Halbzeit sowie durch seine Beobachtungen des weiteren Verlaufs wurde er jedoch »ein überzeugter Verehrer des deutschen Fußballspieles«.80 Diese beiden quasi-religiösen Bekehrungsberichte sind zweifelsohne rhetorisch stark überformt. Dennoch machen sie auf einen bedeutsamen Aspekt der Akzeptabilitätsbedingungen des Fußballs aufmerksam. Da Fußballspiele prinzipiell beobachtbar waren, konnten jene, die bisher nur aus Erzählungen oder der Zeitung vom Fußball gehört hatten, davon überzeugt werden, dass es sich nicht um ein gefährliches Spiel handelte – oder aber genau dies bestätigt sehen.
»Dass unser Spiel dennoch ein rohes Spiel ist« In einem Bericht über den fünften Spieltag der Fussball-Meisterschafts-Wettspiele in Hamburg monierte der Berichterstatter in Sport im Bild von 1896 das »rohe, oft gerügte Spiel« des Fußballclubs Alemannia. Dieses habe »wieder einen Unglücksfall hervorgerufen, indem [sic] sich Felix Zurhellen die Hand brach.« Diese Verletzung mache er auf »ausdrücklichen Wunsch des gegnerischen Vereins, des ›Borgfelder-Fussball-Club‹« öffentlich. Auch »andere Herren dieses Clubs« hätten ihm die »blauen Stellen etc., welche sie in dem Kampfe gegen die ›Allemannia‹ [sic] davon getragen haben« gezeigt.81 Gut fünfzehn Jahre bemerkte der Verfasser der Wettspiel Chronik des Karlsruher FV fast lakonisch: »Schwarze bekam durch einen Fehltritt leider sein altes Leiden gleich nach Beginn.«82 Diese beiden Beispiele verdeutlichen, dass es nicht völlig 79 | Vgl.: H.: 18. Deutscher Fußball-Bundestag in Dresden, in: Der Rasensport 9, 1911, S. 449f. 80 | Löffler: Wie ich zum Fußballspiel bekehrt wurde. Ein Ausschnitt aus dem deutschen Militärsport, in: DFB-Jahrbuch 8, 1911, S. 158-163, Zitate S. 160, S. 163. 81 | o.A.: 5. Tag der Fussball-Meisterschafts-Wettspiele des Hamburg Altonaer Fussball- und Cricket-Bundes, in: Sport im Bild 2, 1896, S. 713. 82 | Zitiert nach der handschriftlichen, nicht-paginierten Wettspiel-Chronik des Karlsruher FV, die für die Jahre 1910-1913 erhalten ist und sich im Besitz des Vereins befindet. Digitalisiert unter der URL: www.karlsruher-fv1891.de/museum.html, letzter Aufruf 2.7.2014. Archivalische Verzeichnung im Stadtarchiv Karlsruhe: Wettspiel-Chronik, 1910-1913: StadtAK 8/SpoA 5481.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
ungefährlich war, Fußball zu spielen. Angesichts solcher möglichen Unfälle verlangte Johannes Kirmse in einem Leserbrief an Sport im Wort von 1902, dass der DFB auf seinem kommenden Bundestag »eine Unfallversicherung ins Leben [riefe] […], um bei den, hier sei es gesagt, sehr selten vorkommenden Unfällen den betroffenen Clubs Mittel an die Hand zu geben, ihrem Mitgliede allerlei Unterstützung zu teil werden zu lassen.«83 Fünf Wochen später stimmte ihm Carl Wüst, Mitglied von Germania Berlin, zu. »Ein richtiger Fußballspieler wird von der Notwendigkeit einer solchen Massnahme vollständig überzeugt sein, denn er weiss, dass er Zufällen immer ausgesetzt ist.«84 Die Ausarbeitung dieses Themas wurde auf dem V. Bundestag des DFB im selben Jahr auch aufgegriffen und an einen Unterausschuss delegiert.85 Verletzungen von Spielern oder eine Unfallversicherung für die Mitgliedsvereine des DFB bildeten nicht nur eine sportliche Frage, sondern verschränkten sich unmittelbar mit der Facette des Akzeptabilitätsproblems, die das Gefahrenpotenzial betraf. Angesichts der Öffentlichkeit des Fußballspiels, das zum einen potenziell direkt beobachtet werden konnte und zum anderen mittelbar durch Berichte wie jenem aus Hamburg öffentlich wurde, appellierten seine Fürsprecher immer wieder an jeden Fußballer, möglichst nicht roh zu spielen. So sprach ein Autor mit dem sprechenden Pseudonym ›Vater‹ in der Spiel und Sport von 1896 eine ernste Mahnung aus. »Gerade jetzt häufen sich die Klagen, und die Strafen, welche über einzelne Spieler verhängt, müssen bei Laien den Eindruck hervorrufen, dass unser Spiel dennoch ein rohes Spiel ist, trotzdem es stets bestritten wird.«86 Knapp fünfzehn Jahre später war dieses Thema immer noch virulent. In seinen fußballsportlichen Betrachtungen von 1910 klagte W. Dopp in Der Rasensport: »Wer die Spielberichte einer FussballSaison verfolgt, der kann sich der Tatsache nicht verschliessen, dass wie ein roter Faden die Schlagwörter ›Fair‹ und vor allem ›Unfair‹ dieselben durchziehen.« Das sei ein großes Problem, denn »[w]ir wissen alle zur Genüge, in welcher Form nur die geringste Verfehlung bei irgend einem Wettspiele in der 83 | Kirmse, Johannes: Der Deutsche Fußball-Bund und seine Aufgaben!, in: Sport im Wort 3, 1902, S. 115-117, Zitat S. 116, Hervorh. i. Orig. Bereits 1894 sollen laut Eisenberg einige Vereine solche Versicherungen abgeschlossen haben. Vgl. Eisenberg, English Sports, S. 182, Fußnote 171. 84 | Wüst, Carl: Der Deutsche Fußball-Bund und seine Aufgaben!, in: Sport im Wort 3, 1902, S. 187. 85 | Vgl.: Thomas, Hans: Der V. Bundestag des Deutschen Fussball-Bundes. München 17. und 18. Mai 1902, in: Sport im Wort 3, 1902, S. 310f. Ob dieser Vorschlag schließlich umgesetzt wurde, ist anhand des Quellenkorpus nicht abschließend zu klären. 86 | Vater: Eine ernste Mahnung, in: Spiel und Sport 6, 1896, S. 1286. Vgl. ähnlich: Spectator: Die Meisterschafts- und Wettspiele des Deutschen Fussball- und CricketBundes, in: Sport im Bild 2, 1896, S. 732f.
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breiten Oeffentlichkeit, besonders von den uns nicht wohlwollenden Kreisen behandelt wird.« Daher sei es entscheidend, auch auf dem Spielfeld zu zeigen, dass es sich beim Fußball um eine »gesundheitsfördernde sportliche Betätigung« handle. Dopp richtete sein Plädoyer vor allem an zwei Adressen: den einzelnen Spieler und den Schiedsrichter.87 Letzterem oblag seit Anfang der 1890er Jahre die Überwachung aller Fußballregeln. Exemplarisch für eine Vielzahl von Praxisanleitungen formulierte Hermann Schnell in seinem Handbuch der Ballspiele von 1900, dass der Schiedsrichter mit »besonderer Entschiedenheit« einschreiten solle, »sobald es sich um rohes Spielen und die Verhütung von Unfällen handelt«.88 Ausdrücklich wies auch die Redaktion der Spiel und Sport von 1893 in einer Fußnote zu einem Bericht über ein besonders rohes Spiel darauf hin, dass der Schiedsrichter »Spieler, die sich in solcher Weise vergessen, von Wettspielen ausschließen« dürften und in »solchen Fällen ganz energisch vorgehen sollten.«89 Auch dem Kapitän kam in dieser Hinsicht eine besondere Aufgabe zu. »Um alles rohe Spielen zu verhüten, hat er die Pflicht, einen Spieler, der sich ungehörig benimmt, zu warnen, im Wiederholungsfalle oder in ernsteren Fällen jedoch sofort unnachsichtlich vom Spiele auszuschließen«,90 wie es die Verfasser der 87 | Vgl.: Dopp, W.: Fußballsportliche Betrachtungen, in: Der Rasensport 8, 1910, S. 689f., Zitate ebd. Vgl. ähnlich: Wolfradt, Willi: Sportliche Erziehung, in: Der Rasensport 9, 1911, S. 426f. 88 | Schnell, Handbuch der Ballspiele, S. 88. Vgl. ferner: Blaschke, Georg: Fußball, in: Simon, Hans Oskar (Hg.), Sportbuch, S. 126; Donalies, Hans: Sport und Militär. Ein Handbuch für militärischen Sportbetrieb, Berlin 1911, S. 151; Eberbach, Rasenspiele, S. 49; Faber, Fußballsport, S. 81f.; Heineken, Das Fußballspiel, S. 49, S. 201; Ders.: Lawn Tennis und andere Spiele. Herausgegeben von der Redaktion des Guten Kameraden, 2. Aufl., Stuttgart u.a. 1905, S. 103-105; Hoch, Fußballsport, S. 5; Kohlrausch, Bewegungsspiele, S. 129; Paul, Das Fussballspiel, S. 7f.; Pfeiffer, Karl: Das Fußballspiel. Unter besonderer Berücksichtigung der Fußballregeln des Deutschen Fußballbundes. Eine Anweisung, in kurzer Zeit regelrecht Fußball spielen zu lernen, 2. Aufl., Leipzig 1910, S. 23; Presinsky, Franz: Lawn Tennis sowie zehn der beliebtesten englischen Kugel- und Ballspiele, Leipzig 1907, S. 176; Schwalm, Karl: Bewegungsspiele in Einzelbeschreibungen für Schüler und Studierende, für Turner und Ausflügler, wie für gesellige Kreise. Heft 1: Fussball ohne Aufnehmen, Leipzig/Wien 1898, S. 51; Simon, Leitfaden, S. 10; Technischer Ausschuss (Hg.): Spielregeln des technischen Ausschusses. Im Auftrage des Zentral-Ausschusses der Volks- und Jugendspiele in Deutschland. Heft 2: Einfacher Fußball ohne Aufnehmen des Balles, 7. Aufl., Leipzig/Berlin 1906, S. 29. 89 | Fußnote zum Bericht: G.: Das Meisterschaftsspiel Frankfurt contra Thor- und F.C. v. J. 1890, in: Spiel und Sport 3, 1893, S. 84. 90 | Technischer Ausschuss (Hg.), Spielregeln, S. 29. Siehe auch: Eberbach, Rasenspiele, S. 45; Paul, Fussballspiel, S. 7; Schettler, GutsMuths’ Spiele, S. 151.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
Regeln des Technischen Ausschusses von 1906 formulierten. Es war seine Aufgabe »unnachsichtig […] gegen alles rohe Spielen«91 einzuschreiten. Die zentrale Adresse der Plädoyers und Appelle zum nicht gefährlichen, fairen Spiel bildete jedoch der Fußballer. In einem Artikel des DFB-Jahrbuchs von 1905-1907 wandte sich Hermann Raydt an die nunmehr vor allem außerhalb der Spielbewegung organisierten Fußballer. »Sieht nun ein nicht ganz so wohlgesinnter Zuschauer auch nur eine einzige Rempelei oder sonstige Rohheit, oder hört er auch nur von ihr erzählen, so wird solche meist mit Uebertreibung weitererzählt. Fünfzig gut gespielte Wettkämpfe vermögen den Eindruck eines einzigen rohen nicht wieder gut zu machen.« 92
Ähnlich wie Raydt klagte auch Franz Grundner im DFB-Jahrbuch von 1913. All die »Unfälle, Streitigkeiten, Auftritte und Strafen« seien »Schäden, die nach außen hin besonders unangenehm nachwirken«.93 Der Fußballer bildete jedoch nicht nur auf der vielleicht eher programmatischen Ebene der Zeitschriften und DFB-Jahrbücher eine Adresse von Appellen und Plädoyers an seine Fairness, sondern diese schrieben sich auch in die Praxisanleitungen ein. So verlangte etwa Simon in seinem Leitfaden: »Wichtiger als alles andere: immer anständig, vornehm, ritterlich (›fair‹) spielen – auch wenn die Gegner es nicht tun!«94 Auch Albert Otto Paul wandte sich diesbezüglich an die Leser seiner Praxisanleitung. Zum Abschluss seines knapp 50-seitigen Textes beschäftigte er sich mit dem »Verhalten der Spieler« und brach dies auf die Formel der Fairness herunter. »Spielet fair! In diesem einen Worte liegt alles, was von einem Spieler erwartet wird: Unbedingter Gehorsam gegen Spielleiter [d.i. der Kapitän] und Schiedsrichter, anständiges und zuvorkommendes Betragen gegen die anderen Spieler, und was die Hauptsache ist, offenes, feines Spiel. Es gibt Fälle, die der Schiedsrichter nicht bestrafen kann, vielleicht auch nicht einmal sehen kann, wo wir dem Spieler doch vorwerfen können, daß er unfair gespielt habe.« 95 91 | Eberbach, Rasenspiele, S. 45. 92 | Raydt, Hermann: Die Spielplatzfrage, in: DFB-Jahrbuch 3/4, 1905-1907, S. 96-98, Zitat S. 96. 93 | Grundner, Spielregeln und Spielfeld, S. 164. 94 | Simon, Leitfaden, S. 12. Vgl. neben den zitierten: Donalies, Sport und Militär, S. 142; Eberbach, Rasenspiele, S. 55, S. 114f; Heineken, Das Fußballspiel, S. 81; Schwalm, Fußball ohne Aufnehmen, S. 42f.; Pfeiffer, S. 13f.; Sparbier, Julius: FußballMerkblatt zur erfolgreichen Erlernung des Fußballspieles, Braunschweig o.J. [vermutlich 1912], S. 2. 95 | Paul, Fußballspiel, S. 43.
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Nicht nur weil der Schiedsrichter nicht alles sehen könne, wie Paul meinte, sondern auch weil Fußball »an und für sich kein zartes Spiel« sei und »es auch gar nicht sein« solle, verlangte Faber in seiner Praxisanleitung von 1907, dass vor allem die Regeln über »gefährliches Spiel [...] jedem Fußballspieler in Fleisch und Blut übergegangen sein«96 sollten. Diese geradezu wortwörtliche Einverleibung des fairen Spiels überführten die Verfasser der erzieherischen Werte des Fußballspiels fünf Jahre später ausdrücklich in den Gebrauch des Körpers. »Die Feinheit der Balltechnik, die Gewandtheit im Lauf, die Geschicklichkeit im Ausweichen [und] die Sicherheit im Schlag« bildeten einen Katalog der »Tugenden, die einen guten Spieler kennzeichnen«. Genau vor dem Hintergrund eines solchen körpertechnischen Tugendkatalogs sollten die bayerischen Unterrichtsbehörden von der Ungefährlichkeit des Fußballs überzeugt werden. »Je mehr diese Tugenden bei einer Mannschaft entwickelt sind, desto weniger Gefahren birgt das Spiel erfahrungsgemäss an sich, desto erzieherisch und gesundheitlich wertvoller wird es sich gestalten.«97 Während des Ersten Weltkrieges schrieb Kurt Doerry in der Sport im Bild einen ausführlichen Artikel darüber, wie der Körper im Spiel zu gebrauchen sei und wie nicht. »Das beste Mittel, die Anwendung unerlaubter Tricks zu verhindern«, wozu er auch verschiedene ›Rohheiten‹, wie das Anspringen des Gegners zählte, »ist die richtige Ausbildung der Jugend; von vornherein muß der junge Nachwuchs dazu angehalten werden, die Regeln des Spieles genau zu befolgen«.98 Gut fünfzehn Jahre zuvor hatte Schnell die Vermeidung von Gefahren in einem noch mikroskopischeren Zuschnitt auf den Fußstoß bezogen. Ihm galt es als »die erste Pflicht des Spielleiters […] eine gewissenhafte Beachtung dieser Regel«, d.h. dem Verbot Gegnern »ein Bein zu stellen, ihn mit Absicht zu treten, auf ihn zu springen, ihn mit den Händen festzuhalten oder zu stoßen«, einzufordern. Das sei aber noch nicht genug. Geradezu analog zu der Beobachtung Löfflers, dass ein Spieler seinen Gegner durch verfehlten Stoß am Schienbein traf, forderte er, dass jeder Spieler unbedingt zunächst das Stoßen richtig lerne. »Der anständige Spieler soll noch mehr thun, als von der Regel gefordert wird. Er soll z.B. seinen Gegner nicht nur nicht mit Absicht treten, sondern er soll sich nach Kräften bemühen ihn überhaupt nicht zu treten, auch nicht unabsichtlich. […] Gerade Anfänger 96 | Faber, Fußballsport, S. 34. 97 | o.A.: Zum Fussball-Erlass des Kultusministeriums. Von einem Schulmanne, in: Münchener Rasensportverband (Hg.), erzieherischen Werte, S. 6-9, alle Zitate S. 8. Vgl. ähnlich: Henning, Wesen und Wert, S. 780; Norddeutscher Fußball-Verband (Hg.), Was wir wollen, S. 10. 98 | Doerry, Kurt: Erlaubtes und Unerlaubtes beim Fußball, in: Sport im Bild 22, 1916, Nr. 1, o.S.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«? können den Ball noch nicht sicher mit dem Fuße treffen, stoßen vorbei und treffen statt seiner einen Gegner.« 99
Mit den Worten des französischen Ethnologen und Soziologen Marcel Mauss ging es Schnell und den anderen Sprechern um die Ausbildung von »Geschicklichkeit«. In Mauss’ Ausführungen über die Techniken des Körpers bildet Geschicklichkeit einen Wirksamkeitsgrad der »Dressur«. »Geschicklichkeit« sei die Eigenschaft von Menschen mit einem »Gespür für die Anpassung aller ihrer gut koordinierten Bewegungen an ihre Ziele […], die Übung besitzen und ›wissen was zu tun ist‹.«100 Die Geschicklichkeit im Umgang mit dem Körper solcherart auszubilden bildete im Kontext des Fußballs nicht nur einen gewissermaßen moralischen Imperativ, sondern zugleich, wie anhand der Ausführungen zur Gefährlichkeit mehrfach angesprochen, einen die Ungefährlichkeit des Fußballs beglaubigenden Umgang mit dem Körper. In ausdrücklichem Bezug auf Gefährlichkeit erklärte Karl Schwalm in seiner Praxisanleitung von 1898, dass durch die »entsprechende Vorbereitung und systematische Einübung […] die Zahl der Unfälle beim Fußballspiele gewiss nicht größer sein [wird] als bei jeder anderen derartigen Körperübung.«101 Zwei Jahre später monierte der Verfasser eines Spielberichts den rücksichtslosen Umgang in einem Wettspiel der »zweiten Mannschaft des F.C. ›Wacker‹ [Leipzig] und dem Halleschen F.C. ›Hohenzollern‹«. Eine solche trage »wahrhaftig nicht dazu bei, dem Fußballsport neue Freunde zu erwerben«. Diese Rücksichtslosigkeit im Umgang mit dem Gegner führte er jedoch nicht auf ein moralisches Versagen, sondern auf die »persönliche Ungeschicklichkeit des einen oder anderen« zurück.102 Acht Jahre später lobte Menken, Kapitän der dritten Mannschaft des KFC, in einem vereinsinternen Spielbericht seine Mannschaft dafür, dass sie »fair« spielte und sich »bemühte […], die Grenzen des Erlaubten immer innehaltend, dem Gegner ein gutes Beispiel zu geben.«103 Die Vermeidung von Gefährlichkeit betraf jedoch nicht nur den geschickten Gebrauch des Körpers, sondern schrieb sich auch in die Repräsentationen der Dingwelt des Fußballs ein. Mehrfach wiesen die Verfasser von Praxisanleitungen darauf hin, dass zwar besondere Fußballschuhe nicht zwingend 99 | Alle Zitate: Schnell, Handbuch der Ballspiele, S. 29f. 100 | Vgl.: Mauss, Marcel: Der Begriff der Technik des Körpers, in: Lepenies, Wolf/Ritter, Henning (Hg.), Marcel Mauss, S. 199-220, hier S. 208f., Zitate S. 208. 101 | Schwalm, Fußball ohne Aufnehmen, S. 10. 102 | o.A.: ›Lipsia‹ gegen ›Olympia‹ in Leipzig, in: Sport im Wort 1, 1900, S. 196f., Zitate ebd. 103 | Menken: Kölner B.C. III gegen K.F.C. 99 III 4:3, in: Monatsschrift KFC 1, 1908, S. 29.
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erforderlich seien, aber bestimmten Anforderungen genügen sollten, wie es Ernst Kohlrausch in seinen Bewegungsspielen von 1899 formulierte. »Spitze oder zu leichte Schuhe (Turnschuhe) sind wenig geeignet für das Fußballspiel, solche mit Eisennägeln oder gar Hufeisen durchaus zu verbieten.«104 Erstere waren vor allem deshalb nicht geeignet, weil in ihnen der Fuß offenbar nicht ausreichend geschützt war, wie sich an einer Anekdote Johannes Kirmses aus einem Jubiläumsband von 1927 zeigen lässt. Kirmse berichtete darüber, wie er in den späten 1880er Jahren mit weiteren »sportbegeisterten Jünglingen« Fußball spielte. »Mit Turnschuhen versuchten wir anfangs des Balles Herr zu werden, mußten aber bald die Turnschuhe ausziehen und festeren Schuhen Raum geben, wenn wir nicht noch sämtliche Zehennägel einbüßen wollten.«105 Zugleich durfte das Schuhwerk aber auch nicht zu einer Gefahr für Gegner und Mitspieler werden. In § 11 der von Heineken seiner Praxisanleitung beigegebenen Gesetze der Association heißt es, dass kein »Spieler Nägel auf den Schuhen tragen« dürfe. »Jeder Spieler, der bei Uebertretung dieser Regel entdeckt wird, soll von dem Wettspiele ausgeschlossen werden.«106 Formulierten Heineken und andere107 die richtige Schuhwahl als Gesetz oder Regel, so überführte von Eberbach dies in seiner Schilderung eines gewissermaßen prototypischen Spielverlaufs äußerst geschickt in den Bereich der Normalität. »Schon in der Ausrüstung haben die Spieler sich jedes Verstosses gegen die Bestimmungen enthalten und vorschriftsmässiges Schuhwerk angelegt, durch welches Verletzungen nicht hervorgerufen werden können.«108 Von Eberbach plädierte nicht, er appellierte nicht und er argumentierte auch nicht. Vielmehr setzte er das Anlegen des vorschriftsmäßigen Schuhwerks als Normalität, indem er seine Schilderung im Präsens organisierte und nicht den Hauch eines Zweifels über mögliches Fehlverhalten aufkommen ließ. Sehr viel interessanter sind allerdings die Ausführungen der Zeitgenossen über Schienbeinschützer. In keiner der untersuchten Praxisanleitungen wurden diese als notwendige Utensilien genannt. Obwohl er seinen Lesern ihre materielle Beschaffenheit kurz schilderte, bezeichnete etwa Schwalm sie explizit als »entbehrlich«,109 und Faber galten sie lediglich als eine mögliche Ergänzung.110 In seinem Spiel-Buch für Turn-Vereine und Schulen von 1905 ging 104 | Kohlrausch, Bewegungsspiele, S. 130. 105 | Pauckert, Kurt: 30 Jahre Gau Nordwestsachsen im Verband mitteldeutscher Ballspielvereine, Leipzig 1927, S. 199. 106 | Heineken, Rasenspiele, S. 56. 107 | Vgl. zum Schuhwerk ferner: Schnell, Handbuch der Ballspiele, S. 34; Technischer Ausschuss (Hg.), Spielregeln, S. 13; Pfeiffer, Fußballspiel, S. 11. 108 | Eberbach, Rasenspiele, S. 23. 109 | Schwalm, Fußball ohne Aufnehmen, S. 20. 110 | Vgl.: Faber, Fußballsport, S. 113.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
Theodor Wohlrath einen Schritt weiter und lehnte Schienbeinschützer ausdrücklich ab. »Zu verwerfen ist das Tragen von Holzschienen an den Unterschenkeln, es können dadurch leicht Verletzungen schlimmer Art vorkommen, wenn die Spieler im Eifer zu dicht aneinandergeraten.«111 Wohlraths Haltung bildete jedoch eine absolute Ausnahme. Diejenigen, die ihre Entbehrlichkeit begründeten, argumentierten auf einer Umkehrung dieses Gefahrenmodells. Nicht weil sie gefährlich sein könnten, sondern weil deutsche Fußballer in ihrer Spielweise den Gegner nicht gefährden sollten, galten Schienbeinschützer als ablehnenswert. In seiner Praxisanleitung von 1893 verwies Heineken ausdrücklich auf ihre Entbehrlichkeit. »Schienenbeinschützer [sic] wird man in Deutschland nicht gebrauchen, da vorauszusetzen ist, dass anständig und nicht roh gespielt wird.«112 Fast zwanzig Jahre später begründete Karl Pfeiffer ihre Entbehrlichkeit in Bezug auf die im Feld der Körperkultur gängige Verschränkung des Rohheitstopos mit dem Rugbyfußball.113 Zwar könne man durchaus Schienbeinschützer tragen, doch beim »Assoziationsfußball, der weniger Möglichkeit zu Ausschreitungen bietet wie Rugby, wird jetzt zumeist ohne Schienbeinschützer gespielt«.114 Die Begründungsmuster Heinekens und Pfeiffers waren deutlich unterschieden. Heineken setzte voraus – und legte damit seinen Rezipienten dies möglicherweise implizit nahe –, dass deutsche Fußballer nicht roh spielten. Pfeiffer hingegen erklärte, der (Association-)Fußball ließe kaum rohes Spiel zu. Das Argument war aber bei beiden identisch: Schienbeinschützer waren entbehrlich, weil nicht roh gespielt würde. Was Heineken andeutete, formulierte Grampp in seinem bereits zitierten Artikel über die Frage, ob Fußball gefährlich sei oder nicht, sehr viel deutlicher. »Bekanntlich trägt der Engländer beim Fussballspiel Schienbeinschützer, sowie Schuhe, welche an den Knöcheln gepolstert sind, und was dergleichen Schutzvorrichtungen mehr sind. Da glaubt sich ein jeder natürlich genügend gesichert und tritt einfach drauf los.« Er könne mit »Genugthuung« feststellen, »dass man in den meisten Orten, wo in Deutschland Fussball gespielt wird, dieser Schutzvorrichtungen entbehrt.« Denn genau dadurch würde dem Fußballer das »falsche Gefühl der Sicherheit […] genommen [und] er befleissigt sich daher einer vorsichtigen und anständigen Spielart.«115 Sieben Jahre später freute sich Schnell, dass diese »Panzer, die das Schienbein gegen feindliche Fußtritte verteidigen sollen, [...] erfreulicher111 | Wohlrath, Theodor: Spiel-Buch für Turn-Vereine und Schulen. 27 Ballspiele wie Fußball, Schleuderball, Faustball, Schlagball, Wanderball, Stoßball, Lawn-Tennis u.s.w., Stuttgart 1905/1906, S. 79. 112 | Heineken, Rasenspiele, S. 69. 113 | Vgl.: Kapitel 6. 114 | Pfeiffer, Fußballspiel, S. 11. 115 | Grampp, ›Ist das Fussballspiel gefährlich?‹, S. 199.
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weise in den letzten Jahren mehr und mehr abgekommen und bei Spielern von guter Erziehung in der That auch überflüssig«116 seien. Die Akzeptabilitätsbedingungen waren zumindest diesem Teil der Dingwelt des Fußballs »inskribiert«, wie es der französische Soziologe Bruno Latour ausdrückt. Schuhe und vor allem Schienbeinschützer dehnten das Verhältnis zwischen Dingen und Praktik auf das Verhältnis des Fußballers zu seinem Selbst aus. Die Unterlassung einer Handlung (gefährliches Spiel) wurde, in der Diktion Latours, »in eine andere Art von Ausdruck«, nämlich die Entbehrlichkeit von Schienbeinschützern, »übersetzt«.117 Schienbeinschützer bildeten somit ein dingliches Scharnier zum Ethos des Fußballers. Durch die richtige Erziehung zum Fußballer und der ihr beigeordneten Ausbildung eines spezifischen Verhältnisses zu sich selbst, welches rohes Verhalten gegenüber dem Gegner verunmöglichen sollte, konnten Schienbeinschützer entbehrlich werden. Die Gefährlichkeit des Fußballs bildete in vielerlei Hinsicht einen Anreiz zum Sprechen. Im Rahmen verschiedener Argumentationslinien verhandelten Turner und Fürsprecher des Fußballs ihre Positionen im Feld der Körperkultur. Indem die Gefährlichkeit des Fußballs jedoch zugleich über den Rekurs auf Unfallstatistiken aus England und den USA Eingang in deutsche Tageszeitungen fand, bildete sich eine Facette des Akzeptabilitätsproblems, die über das Feld hinausreichte. Nicht nur Turner, sondern auch Unterrichtsbehörden, einzelne Schulen und Eltern konnten auf diese Weise zu Fußballgegnern werden – wenn sie es nicht schon waren. Für die Fürsprecher des Fußballs zog dies zweierlei Konsequenzen nach sich. Erstens konnten sie sich als Experten gegenüber Laien gerieren. Diese Expertise schrieb sich auch in Praxisanleitungen zum Fußball ein, in denen den Rezipienten gewissermaßen Argumente an die Hand gegeben wurden, um auch selbst entsprechende Vorhaltungen entkräften zu können. Zweitens appellierten die Fürsprecher des Fußballs sowohl in Praxisanleitungen als auch auf der Ebene von Sport- oder Fußballperiodika an jeden einzelnen, sich im Spiel auf eine adäquaten Weise zu zeigen. Faires Spiel wurde von jedem Fußballer gefordert, um die Akzeptabilität des Fußballs performativ zu stabilisieren.
116 | Schnell, Handbuch der Ballspiele, S. 35f. 117 | Vgl. Latour, Bruno: Über technische Vermittlung. Philosophie, Soziologie und Genealogie, in: Belliger, Andréa/Krieger, David J. (Hg.), ANThology, S. 483-528, hier S. 494f., Zitat S. 494. Ich danke Roman Eichler für diesen Hinweis.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
5.2 »Schule freier schöner Körperhaltung«: Der Fußball und seine Körper Das Sprechen über den Fußball betraf nicht allein dessen potenziell gesundheitsgefährdenden Effekte durch die Verletzbarkeit des Körpers, sondern auch andere Auswirkungen auf den Körper des Individuums. In einer Gegenüberstellung zwischen Fußball und anderen sportiven Praktiken unterschied Carl Cords beispielsweise zwischen verschiedenen praktikspezifischen Körperlichkeiten. Radfahren erzeuge eine »geradezu tierische Haltung mit dem katzbucklich [sic] gekrümmten Rückgrat«, bei den sportlichen »Zweikämpfen«, wie »Tennis, Fechten, Boxen, Ringen«, gäbe es keine »vollendete Harmonieentfaltung der Körperbewegung« und auch beim Hockey böte der »gebückt laufende Spieler« mit seinen »aneinandergepresseten, vorgestreckten Armen […] keinen erfreulichen Anblick.«118 Fünf Jahre später bemängelte Ernst Würtemberg den »Schwindsuchtradler«, aber ebenso den »hüftsteifen Seemannsgang mancher Fußballer«. Generell böten aber gerade die Rasenspiele, allen voran der Fußball, »eine gute Schule freier schöner Körperhaltung, anmutsvoller Bewegung« und der »bildenden Kunst Motive und Gestalten« als Vorlagen.119 Dieser knappe Exkurs in ästhetisierende Differenzmarkierungen zwischen Fußball und anderen sportiven Praktiken lenkt das Augenmerk auf die zeitgenössische Rezeption von Praktiken und ihren Körpern. Die Formulierung schließt an eine griffige Formulierung des Soziologen Stefan Hirschauer an, der davon ausgeht, dass der Körper zwar »immer eine Konstruktion spezifischer Diskurse« ist, er jedoch aber immer auch »relativ zu je spezifischen Praktiken« existiert.120 Anders als in der Soziologie ist es für diese historische Arbeit jedoch nicht möglich, die Relationen zwischen Körpern und ihren Praktiken mittels (auto-)ethnographischer oder ähnlicher Verfahren näher zu bestimmen. Vielmehr kann die je praktikenspezifische Existenz des Körpers nur ausgehend von Quellenmaterial untersucht werden. Für die vorliegende Studie wird hierzu vor allem auf textuelle und bildliche Repräsentationen fußballund turnspezifischer Körperlichkeiten zurückgegriffen. Gefragt wir danach, wie der Fußballkörper, jenseits seiner potenziellen Verletzbarkeit, im Feld der
118 | Cords, Carl: Die Freude am Fussballspiel, in: Vereinsnachrichten BFC 5, 1905, S. 81-83; S. 91-94, Zitate S. 83, S. 91f. Vgl. mit ähnlich abschätzigem Urteil zum Hockey: Robin Hood: Fussball in England und anderswo, in: Der Rasensport 7, 1909, S. 586-590, hier S. 588. 119 | Würtemberg, Ernst: Sport und Kultur, in: DFB-Jahrbuch 7, 1910, S. 9-23, Zitate S. 19. Vgl. ferner: Schmidt, Ferdinand August: Leibesübung und Kunst, in: DFB-Jahrbuch 8, 1911, S. 32-38. 120 | Hirschauer, Praktiken und ihre Körper, S. 75.
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Körperkultur verhandelt wurde und wie Fußballer adressiert wurden, ein Verhältnis zu ihrem Körper und ihrem Selbst einzurichten. Dies bedarf einer Erläuterung. Wie bereits anhand der Ausführungen Cords und Würtembergs angeklungen ist, boten die kategorisch verschiedenen Bewegungen von Körpern in unterschiedlichen Praktiken ein gewisses Projektionspotenzial. Beide diskreditierten nicht-fußballerische Praktiken gerade wegen ihrer jeweiligen, spezifischen Bewegungsformen und deren Auswirkungen auf den Körper. Eine ähnliche Kritik ließ sich auch am Fußball üben. 1903 erschien in der Leipziger Rundschau der Leserbrief eines »Aristokraten«, der, laut der Redaktion, in den »ersten Sportkreisen« Leipzigs verkehrte. Ihm galt der fußballerische Gebrauch des Körpers eindeutig nicht als besonders anmutsvoll. »Wenn man sieht, wie die Anhänger dieses Auch-Sportes in graziösen Wendungen, die mit sprechender Deutlichkeit an die Anmut eines Elefanten erinnern das Bein zum Stoss erheben, da muß man doch unwillkürlich an die Bewegungen eines Hausknechts denken, der gerade einen Gast zur Beförderung an die frische Luft in die Rückseite des menschlichen Daseins treten will.«121
Knapp zehn Jahr zuvor hatte ein ungenannter Autor in der Straßburger Zeitung ebenfalls moniert, dass der Fußball »vorzugsweise auf die Entwickelung der unteren Extremitäten gerichtet« sei. Bei Betrachtung von Fußballspielen dränge »sich unwillkürlich die Frage auf, warum beabsichtigt man gerade die Füsse in dieser Weise auszubilden, warum muss unsere Jugend abgerichtet werden, gewandte Fusstritte austeilen zu können?«122 Seitens der Turner, die ihrerseits behaupteten, die einzige den Körper wirklich harmonisch bewegende und ausbildende Praktik zu vertreten, wurde sowohl im textuellen als auch im visuellen Register harsche Kritik an der spezifischen Art und Weise den Körper im Fußball zu gebrauchen geübt. Diese Kritik verdichtete sich im Vorwurf der Einseitigkeit der Körperbildung, die wiederum über das symbiotische Körper-Geist-Verhältnis degenerationstheoretisch zugespitzt werden konnte. Dieser Aspekt wird im Folgenden zunächst anhand bildhafter Repräsentationen individuierter Fußball- und Turnkörper untersucht. Da bestimmte Praktiken je bestimmte Körper aufrufen, wird in den beiden anschließenden Abschnitten danach gefragt, wie Fußballer adressiert wurden, sich bestimmte Fußballkörper, d.h. für den Vollzug eines Fußballspiels befähigte Körper, zu geben. Diese Adressierungen betrafen zum einen Formen der 121 | o.A.: Aus der Vorschule für Hausknechte, abgedr. in: Sport im Wort 4, 1903, S. 600f., Zitat ebd. 122 | Abgedr. in: o.A.: Ein Ignorant, in: Spiel und Sport 4, 1894, S. 1396f., Zitat S. 1396.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
körperlichen Ausarbeitung, zum anderen aber auch die Ausformung eines bestimmten Verhältnisses zu sich und seiner Lebensführung, welches als zwingend galt, um einen Zustand körperlicher Mitspielfähigkeit123 zu erreichen oder aufrecht zu erhalten.
Körperbilder Bereits in der deutschen Turnkunst von 1816 hatten Friedrich Ludwig Jahn und Ernst Eiselen den Anspruch einer harmonischen, ganzheitlichen Menschenbildung formuliert und dezidiert körperlich zugespitzt. »Die Turnkunst soll die verloren gegangene Gleichmäßigkeit der menschlichen Bildung wieder herstellen, der bloß einseitigen Vergeistigung die wahre Leibhaftigkeit zuordnen«.124 Diesen programmatischen Anspruch trugen Turner sowie einige Sprecher an der Position der Spielbewegung während des gesamten Untersuchungszeitraums immer wieder vor.125 »Jeder Einseitigkeit fremd, hat die Turnerei sich stets die allseitige Durchschulung des Körpers zum Ziele gesetzt«,126 wie es Carl Partsch 1887 formulierte. In einer dem Fußball gegenüber durchaus wohlwollenden Gegenüberstellung von Turnen und Bewegungsspiel verwies der Karlsruher Turnlehrer August Marx darauf, dass allein das Turnen die Möglichkeit zum »wohlabgewogenen Stufengang« böte. Im Gegensatz dazu wiederholten sich »in einem Spiele die immer gleichen Schwierigkeiten«. Mithin bilde einzig »das Turnen [...] nach und nach alle wichtigen Muskeln des Körpers aus«.127 Sieben Jahre zuvor hatte Theodor Kleber von einem so ausgebildeten turnerischen Körper in einer Gegenüberstellung von Turnen und Sport geschwärmt. »Betrachten wir [...] einmal unsere Turner (selbstverständlich nicht die Anfänger!), welche herrlichen Gestalten bekommen wir da zu 123 | Vgl. zu diesem Konzept: Brümmer, Mitspielfähigkeit; Alkemeyer, Thomas/Budde, Gunilla/Freist, Dagmar (Hg.): Einleitung, in: Dies. (Hg.), Selbst-Bildungen, S. 9-30, hier S. 18. 124 | Eiselen, Ernst/Jahn, Friedrich Ludwig: Die Deutsche Turnkunst. Zur Einrichtung der Turnplätze, Berlin 1816, S. 209. 125 | Vgl. neben den i.F. zitierten u.a.: Ambros, Spielbuch, S. 8; Hueppe, Ferdinand: Turnen und Sport. Ueber Stand und Entwickelung einiger Grundlehren der deutschen Turnkunst im Turnen der Erwachsenen, in: DTZ 33, 1888, S. 585-588; S. 601-603, v.a. S. 602.; Schröer, Heinrich: Eine neue Aufgabe der Deutschen Turnerschaft, in: DTZ 39, 1894, S. 525-526; Siebert, deutsche Turnen, S. 16-18; Sparbier, Julius: Sind wir noch Jünger Jahns?, in: KuG 12, 1903-1904, S. 129-136; Zettler, Moritz: Die Bewegungsspiele. Ihr Wesen, ihre Geschichte und ihr Betrieb, Wien/Leipzig 1893, S. 26f. 126 | Partsch, Carl: Ueber Turnen und Sport. Ansprache an die Sieger in den turnerischen Wettkämpfen auf dem Kreisturnfeste des II. deutschen Turnkreises zu Hirschberg, in: Beilage zu Nr. 40 der DTZ 32, 1887, o.S. 127 | Marx, Turnen und Bewegungsspiel, S. 16.
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sehen, einen leichten, geschmeidigen und doch kräftigen Körper [...]. Alles ist wohlgefällig vom Scheitel bis zur Sohle.«128 Ein solcher von Kopf bis Fuß wohlgefälliger, harmonisch ausgebildeter Körper wurde an der Position des Turnens nicht nur beschrieben, sondern auf Turnfesten129 und Abbildungen auch gezeigt. Exemplarisch für eine Vielzahl solcher Abbildungen soll eine der 75 Fotografien aus Friedrich Röschs Praxisanleitung zu den grundlegenden Übungen des deutschen Turnens von 1910 näher untersucht werden.130 Für die Untersuchung dieser Abbildungen spricht Röschs ausdrücklich formulierter Anspruch, den Normalfall turnerischer Körperhaltungen abzubilden. Anders als in den meisten anderen Turnbüchern der letzten Zeit, die »einige wirkungsvolle Bilder« enthielten, wollte er »das Einfache darstellen.«131 Auf der ersten seiner Fotografien (Abb. 3) ist ein aufrecht stehender Mann in »Grundstellung« zu sehen. Diese Stellung des Körpers beschrieb Rösch sehr ausführlich und kleinteilig. »Fersen geschlossen, Füße schräg auswärts im r. Winkel zu einander. Fersen, Waden und Kniee berühren sich gegenseitig. Oberkörper aufrecht, Bauch eingezogen. Brust vorgewölbt, Schultern zurück, Hals lang, Kopf frei getragen. Wenn die Arme unbelastet, hängen sie, wohl deutlich, aber nicht krampfhaft gestreckt, seitwärts abwärts. Wenn die r. Hand den Stab trägt, so berührt die Hand den Oberschenkel vorn, der Unterarm ist etwas um den Stab herumgewunden. Der Stab ruht in der Schulterrinne, nicht auf dem Oberarme.«132
Hinsichtlich der Körperhaltung ist dieser präzisen Beschreibung nichts hinzuzufügen. Bei Abb. 3 handelt es sich jedoch nicht allein um die Fotografie einer Körperstellung, sondern um einen sehr sorgsam inszenierten Turnkörper. Die Sorgsamkeit der Inszenierung lässt sich anhand von Röschs Vorwort erahnen, in welchem er »dem geduldigen Photographen«133 ausdrücklich dankte. Sie wird aber ebenfalls an der Komposition der Fotografie deutlich. Erstens sticht der markante Kontrast zwischen schwarzem Hintergrund und weißer Turnkleidung hervor. Dieser Kontrast im Verbund mit der enganliegenden Oberbekleidung akzentuiert den deutlich definierten, muskulösen Oberkörper. Ein 128 | Kleber, Theodor: Turnen und Sport, in: DTZ 32, 1887, S. 734-735, Zitat S. 734. 129 | Vgl. zur Aufführung von Turnkörpern (allerdings eher kollektiver Turnkörper) einschlägig: Goltermann, Körper der Nation, hier v.a. S. 151-181. 130 | Zeichnungen von Turnerkörpern veröffentlichte u.a. bereits Ernst Eiselen im Jahre 1845: Vgl.: Eiselen, Ernst (Hg.): Abbildungen von Turnübungen, Berlin 1845. 131 | Rösch, Friedrich: Die grundlegenden Übungen des deutschen Turnens in 76 Bildern, Karlsruhe 1910, S. III. 132 | Ebd., S. 1. 133 | Ebd., S. V.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
zweites Merkmal bildet der Gürtel. Fast in der Mitte der Fotografie unterteilt er den Turnkörper in zwei Hälften – muskulösen Ober- und geschlossenen Unterkörper. Zwischen zwei Turnerkreuzen und fast zentriert ist auf dem Gürtel »Heil«, also der zweite Teil des Turnergrußes »Gut Heil« zu lesen.
Abb. 3: Körperideal des Turnens Das dritte und markanteste Merkmal der Abbildung ist der Stab. Solche Stäbe waren für die sogenannten Stabübungen notwendig, die Otto Heinrich Jäger Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt hatte.134 In der zitierten Beschreibung hatte Rösch den Stab allerdings nur als Option benannt, nicht vorgeschrieben. Daher ist dieses Artefakt weniger hinsichtlich seiner turnerischen Funktion, als vielmehr in seiner Relevanz für die Bildgestaltung interessant. Der Stab bildet eine parallele Hilfslinie zwischen der linken vertikalen Bildkante und dem Turnkörper. Parallel zu Nasen- und Brustbein sowie zu den Waden und Fersen 134 | Vgl. zu Jäger und den Stabübungen: Krüger, Michael: Otto Heinrich Jäger – der ›Rothstein des Südens‹. Zur Debatte um das Jaegersche Wehrturnen in Württemberg, in: Sportwissenschaft 19, 1989, S. 172-193.
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unterstreicht er die gerade, aufrechte Haltung des Turners. Somit bildete der Stab die geometrische Referenz des symmetrischen, aufrechten vom Scheitel bis zur Sohle wohlgefälligen Turnkörpers, wie sich im Anschluss an den bereits zitierten Kleber formulieren lässt. Abseits der Turnfeste und ihrer primär kollektiv-choreographischen Aufführungen von Turnkörpern, überführten Abbildungen wie Abb. 3 das Körperideal des Turnens über die rein textuelle Ebene hinaus also in eine individuierte Ordnung des Sichtbaren. Nicht der kollektiv-choreographische, sondern ein einzelner, idealisierter Turnkörper wurde hier abgebildet, der den Betrachter_innen zudem die im zeitgenössischen Männlichkeitsideal gesetzte »Trias von Gleichgewicht, Proportion und Mäßigung«135 wortwörtlich vor Augen führte. Innerhalb des Bildquellenkorpus dieser Arbeit gibt es nur eine einzige, in Stil und Gestaltung vergleichbare Darstellung eines Fußballkörpers (Abb. 4). In Alfred Rahns Das Fußballspiel findet sich die Fotografie des charakteristischen Typus eines Fußballspielers. Dieser Typus wäre jedoch vor dem Hintergrund des vorliegenden Bildkorpus ohne Bildunterschrift nicht ohne Weiteres als solcher erkennbar gewesen. Die Fotografie wurde im Kontext von Rahns Ausführungen über die Regulation des Körperkontakts abgedruckt und unterhielt in ihrer Kontextualisierung eine ähnlich enge Beziehung zur Problematisierung von Männlichkeit, wie die Fotografie Röschs. Während Rahn nahezu allen anderen Regeln Abbildungen beigegeben hatte, die die Spezifika der einzelnen Regeln visualisierten, tritt der leicht bekleidete, muskulöse Männerkörper eher unvermittelt auf. Die Beziehung zur Männlichkeit ergibt sich aus Rahns Erläuterungen über das Abdrängen des Gegners mit dem Körper. Viele würden dies für ein Signum von Rohheit und Gefahr halten. Wer aber »eine Wiedergeburt aller Mannestugenden wünscht, der kann sich nicht damit befreunden, dem Fußballspiel das letzte Merkmal gesunder Urwüchsigkeit zu nehmen.«136 Für Rahn oder den Verlag vereinte der abgebildete ›Fußballer‹ diese Mannestugenden offenbar auf sich. Fast vollständig nackt, bekleidet nur mit einer knappen Unterhose, ist ein muskulöser Männerkörper vor schwarzem Hintergrund abgebildet, der in Stilisierung und Körperhaltung an Statuen und Darstellungen von Diskuswerfern der antiken olympischen Spiele erinnert. Insofern ist Maren Möhrings Befund, dass man »in Gymnastik und Körperkultur, anders als im Sport beständig auf antike Körperbildung«137 verwies, zumindest zu revidieren. Zwar 135 | Mosse: Bild des Mannes, S. 47. Vgl. im Rekurs auf Mosse mit Schwerpunkt auf die bildhafte Ästhetisierung von Männlichkeit im Anschluss an die zeitgenössische Winckelmann-Rezeption: Brunotte, zwischen Eros und Krieg, S. 23. 136 | Rahn, Alfred: Der Fußball. Mit einer Einleitung und einem Schlußwort von Anton Fendrich, Stuttgart 1914, S. 48. 137 | Möhring, Marmorleiber, S. 175.
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gab es keine weiteren bildhaften Verdichtungen der antiken Körperbildung, aber im Sprechen über Fußballer- und andere Sportkörper wurden mehrfach griechische Athletenkörper als Bezugspunkte aufgegriffen. Beispielsweise druckte die Spiel und Sport von 1896 einen Artikel Leopold Ewers Über das Training der griechischen Athleten ab, in welchem er in den höchsten Tönen von dieser Form der Körper- und Selbstbildung schwärmte.138
Abb. 4: Fußballkörper 1 Im Vergleich zwischen Abb. 3 und 4 stechen die Unterschiede ins Auge. Erstens blickt der Fußballspieler den Betrachter nicht an, sondern sein Kopf ist vom Objektiv angewandt und die Augen richten sich auf einen Punkt am 138 | Ewer, Leopold: Einige Bemerkungen über das Training der griechischen Athleten, in: Spiel und Sport 6, 1896, S. 431f. Vgl. ferner: Hueppe, Turnen und Sport, S. 587, S. 601, S. 603; Raydt, Englische Schulbilder in deutschem Rahmen, S. 127f., S. 230; Würtemberg, Sport und Kultur, S. 19. In ausdrücklichem Bezug auf den Fußball: Auenhag, Lulu von: Das Fußballspiel und seine Gefolgschaft, in: DFB-Jahrbuch 7, 1910, S. 50-54, hier S. 50; Norddeutscher Fußball-Verband (Hg.), Was wir wollen, S. 6; Schwalm, Fußball ohne Aufnehmen, S. 7f.
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Boden. Zweitens sind die Geometrien anders verteilt. Allein der waagerecht ausgestreckte linke Arm unterhält eine horizontale, parallele Beziehung zum oberen Bildrand. Die anderen Parallelen sind in der Körperstellung zu finden und nicht vertikal oder horizontal, sondern diagonal organisiert: rechter Arm zu linkem Bein, linkes zu rechtem Schienbein. Hinzu kommen einige rechte Winkel, die jedoch mit Ausnahme des linken Arms zum Brustkorb nicht unmittelbar verbunden sind. Zum einen bildet der rechte Oberschenkel eine gedachte aufgesetzte Vertikale zum rechten Ellenbogen und zum anderen die beiden Füße eine ebensolche Vertikale zwischen rechter Ferse und linker Fußinnenseite. Diese in Geometrie, Belichtung und Kontrastsetzung ebenso sorgsam inszenierte Fotografie eines Fußballkörpers setzte diesen ebenfalls als harmonischen und muskulösen Männerkörper in Szene, wie die Fotografien aus Röschs Praxisanleitung den Turnkörper. Durch die bildliche Analogie zum antiken griechischen Athletenkörper rückte sie den Fußballkörper zudem in unmittelbare Nähe zu diesem zeitgenössisch mehrfach postulierten Körperideal.139 Die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Turn- und Fußballkörpern sind zwar deutlich, verweisen aber auf keinen signifikanten, praktikspezifischen Unterschied. Ein solcher Unterschied lässt sich anhand der sehr viel üblicheren Zeichnungen individuierter Fußballkörper, wie sie in zahlreichen Praxisanleitungen abgedruckt wurden, aufzeigen. Diese eher funktionalen Abbildungen, mittels derer zentrale Techniken des Fußballkörpers visualisiert werden sollten, stehen zumindest dem Anspruch nach in einer engeren Beziehung zu Röschs Fotografien, die zwar zweifellos einen sorgsam inszenierten Idealkörper zeigten, aber ebenfalls Körpertechniken vermitteln sollten. Eine exemplarische Zeichnung eines Fußballkörpers stammt aus Fabers Fußballsport.140 Laut der Bildunterschrift zeigt Abb. 5 den Spannstoß II. Im Gegensatz zu dem ebenfalls bei Faber abgebildeten Spannstoß I, der nicht sehr schwierig sei, da sich bei diesem der »Ball […] in der Luft befindet, macht er, wenn der Ball am Boden rollt, dem Laien und Anfänger erhebliches Kopfzerbrechen. Der Ball wird mit dem Spann getroffen, wobei der Fuß vollständig gestreckt
139 | Vgl. anhand der (Nackt-)Körperkultur: Möhring, Marmorleiber, v.a. S. 169f.; Dies., moderne Apoll; Wedemeyer-Kolwe, Bernd: ›Der neue Mensch‹. Körperkultur im Kaiserreich und der Weimarer Republik, Würzburg 2004, S. 369f. 140 | Weitere Abbildungen individuierter Fußballkörper finden sich in: Clasen, Bewegungsspiele, S. 60 (Abbildung des Fallstoßes bei der Rugby-Variante); Heineken, Rasenspiele, S. 70 (Abbildung des Fallstoßes bei der Rugby-Variante); Presinsky, Lawn Tennis sowie zehn der beliebtesten englischen Kugel- und Ballspiele, S. 170, S. 195 (Je eine Abbildung des ›Kick-Off‹ beim Association- und Rugby-Fußball). Zahlreiche Zeichnungen in: Eberbach, Rasenspiele u.a. S. 32f.
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sein muß.«141 Viel mehr hatte Faber zu dieser ausdrücklich als schwierig erklärten Technik nicht zu sagen. Der beschriebene Fuß-Ball-Kontakt wie auch die Streckung des Fußes lassen sich auch auf der Bildebene wiederfinden. Im deutlichen Unterschied zum Text rollt der Ball jedoch nicht über den Boden, sondern wird soeben vom Fuß getroffen und bewegt sich sogleich in Richtung eines außerhalb des Bild liegenden Punktes, wie der leicht geschwungene Pfeil am linken unteren Bildrand anzeigt.
Abb. 5: Fußballkörper 2 Hinsichtlich der Körperhaltung und Bildgestaltung stechen die Unterschiede zu den bisher untersuchten Fotografien deutlich ins Auge. Der Fußballer berührt den durch einige Schlangenlinien und Striche angedeuteten Boden lediglich mit dem linken Fußballen, der rechte Fuß ist in der Luft. Die halbgeschlossene Hand des linken, angewinkelten Armes weist nach unten, die rechte Hand ist etwa auf Höhe des Brustbeins. Ähnlich wie der Fußballer auf Abb. 4 blickt auch dieser nicht in Richtung des Bildbetrachters, sondern der Kopf ist dem linken Bildrand zugewandt. Anders als Abb. 3 und 4 handelt es sich ferner nicht um eine Fotografie, sondern um eine Zeichnung. Mit schwarzem Stift gezeichnet, relativ viel Weißraum und lediglich einigen schattierenden Schraffuren, ist Abb. 5 im Vergleich zu den Fotografien geradezu unspektakulär. In dieser eigens für den Fußballsport angefertigten Zeichnung beschränkte sich der Zeichner H. Borck eindeutig darauf, die Körpertechnik des Spannstoßes zu visualisieren. Weder lassen sich deutliche Gesichtszüge erkennen, noch sind irgendwie ausgeprägte Muskeln verzeichnet. In dieser unspektakulären Funktionalität der Zeichnung liegt das Interessante der Abbildungen 141 | Faber, Fußballsport, S. 39.
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individuierter Fußballkörper. Es ging offenbar nicht darum, ein spezifisches Körperideal zu vermitteln, sondern vielmehr darum eine idealtypische Fußballbewegung zu zeigen. Gerade deshalb, so die Vermutung, war auch die für die Darstellungen recht übliche Seitenansicht relevant, denn dadurch sollte der Betrachter die gesamte Körperbewegung im Verhältnis zum Ball besser nachvollziehen können.
Abb. 6: Fußballkörper 3 Auch Hermann Schnell führte den Lesern der Zeitschrift für Turnen und Jugendspiel (Zf TJs) von 1896 eine idealtypische Bewegung anhand einer Abbildung vor – allerdings keiner Zeichnung, sondern einer Fotografie.142 In seinem Aufsatz über die Spielregeln des technischen Ausschusses erläuterte er die 142 | Weitere Fotografien finden sich in: Pfeiffer, Fußballspiel u.a. S. 16, S. 18, S. 2022. Identische Fotografien verwendeten Alfred Rahn (Vgl.: Rahn, Der Fußball, S. 32, S. 71) und die Produzenten des dem DFB-Jahrbuch von 1913 beigefügten Lehrbuch des Fußball (Vgl.: DFB-Jahrbuch 10, 1913, S. 161-289 u.a. S. 216, S. 220.
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Relevanz solcher Abbildungen. Gerade weil es schwierig sei, ein »Spiel aus Büchern zu lernen« und nicht jeder »Gelegenheit habe, es von guten Spielern spielen zu sehen«, wären Fotografien besonders wichtig. Durch diese »können wichtige Augenblicke, häufig wiederkehrende Thätigkeiten und Kunstgriffe festgehalten werden, die mit ihrer Hülfe leichter verstanden werden als durch alle Worte.«143 Eine solche, häufig wiederkehrende Tätigkeit bildete seiner Meinung nach der Stoß rückwärts über den Kopf, welchen er anhand einer Fotografie (Abb. 6) zeigen wollte. In Seitenansicht zeigt Abb. 6 einen Jungen in Turnkleidung. Im Bildhintergrund sind zwei Mädchen in Kleidern zu sehen, was – vermutlich unabsichtlich – die geschlechtliche Dimension des Fußballs, der für Mädchen als ungeeignet galt, bildlich reproduzierte.144 Der abgebildete Körper unterscheidet sich deutlich von dem Turnkörper aus Röschs Praxisanleitung. Erstens ist er, genau wie in Abb. 5, nicht in Front-, sondern in Profilansicht abgelichtet. Zweitens steht auch er nicht fest mit beiden Füßen auf dem Boden. Nur der linke Fuß hat Bodenkontakt, während der rechte hoch in der Luft, mit der Fußspitze fast auf Kinnhöhe ist. Auch ohne Hilfslinien wird drittens deutlich, dass der Rücken des Jungen gebeugt ist und auch seine Arme keine Parallelen bilden. Anders als der stramm stehende Turner, der den Bildbetrachter geradezu dazu zwingt seinen Blick auf den Körper in Vorderansicht zu richten, lässt diese Fotografie fast keine Rückschlüsse auf Proportionen zu, sondern zeigt vielmehr einen Körper in Bewegung. Gerade diese Fotografie ist jedoch weniger wegen ihrer Unterschiede zum Turnkörper interessant, die im Grunde an jeder Abbildung von Fußballkörpern hätten demonstriert werden können, als vielmehr hinsichtlich ihrer Verarbeitung. Zwei Jahre nach seinem Erscheinen tauchte dieses Foto in Form einer Karikatur auf dem Titelblatt der Fußlümmelei wieder auf (Abb. 7). Ausdrücklich wies Karl Planck in einer Fußnote auf das Foto als Vorlage hin.145 Allerdings wich die Karikatur in mindestens zwei Punkten von der fotografischen Vorlage ab. Im Unterschied zum Foto hatte der Zeichner einen Ball eingefügt, was die Figur als Fußballer vereindeutigte. Zweitens ist die Perspektive etwas anders. Auf dem Foto wurde der Fußballer in Profilansicht abgelichtet, auf der Karikatur hingegen, in leicht schräger Vorderansicht. Auf diese Weise wird der Blick 143 | Schnell, Hermann: Zu den Spielregeln des technischen Ausschusses, in: Zeitschrift für Turnen und Jugendspiel, 1896, S. 114-115, Zitat S. 114. Vgl. zum folgenden auch: Eiben, Jörn: Ist der Fußballer im Bilde? Körpergeschichte und Bildquellen, in: BodyPolitics 2, Heft 3, 2014, S. 45-70. 144 | Zur geschlechtlichen Dimension des Fußball, siehe: Kapitel 6. 145 | Vgl. Planck, Fußlümmelei, Fußnote S. 7. Vgl. ebenfalls mit Hinweis auf den Vorlagencharakter dieses Fotos: Möller, Karl: Die gescholtene Photographie, in: Körper und Geist (KuG) 11, 1902/1903, S. 57-61.
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unter einen Schuh und in das Gesicht eröffnet. Im Unterschied zur Fotografie, die keine Rückschlüsse auf etwaige Fußballschuhe zulässt, können durch den Blick unter die Sohle des rechten Schuhs Stollen erkannt werden, welche neben dem Ball zur Vereindeutigung beitragen.
Abb. 7: Titelblatt »Fusslümmelei« In einer Passage, in der sich ausführlich mit dem Fußballkörper beschäftigte, kam Planck mehrfach auf das Titelbild zu sprechen und verwies dabei neben der Körperhaltung auch auf das Gesicht. »Das Einsinken des Standbeins ins Knie, die Wölbung des Schnitzbuckels [Mundart für: deformierter Rücken], das tierische Vorstrecken des Kinns erniedrigt den Menschen zum Affen, selbst wenn die Haltung nicht den Grad abstoßender Häßlichkeit erreicht, den uns unser Titelbild versinnbildlicht.«
Neben dieser, vor allem durch den Rekurs auf die Figur des Affen, degenerationstheoretisch grundierten Kritik am Fußballkörper nannte er zudem den unsicheren Stand. »Noch ein Tupf mit dem kleinen Finger der Linken, und das prächtige Gebilde stürzt rücklings zu Boden oder kollert in kläglichen Sprün-
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
gen dahin, um sich auf den Beinen zu halten.«146 Das Titelblatt der Fußlümmelei bildete also einen deutlichen Kontrast zum fest und sicher stehenden, harmonisch durchgebildeten Turnkörper ab. Im Wechselspiel von Text und Bild führte Planck seinen Lesern kleinschrittig die verschiedenen negativen Facetten des Fußballkörpers buchstäblich vor Augen. Plancks Kritik an den Auswirkungen des Fußballs auf die Körper seiner Akteure bildete keinen Einzelfall. Innerhalb des zeitgenössischen Felds der Körperkultur erzeugte vor allem die Doppeldeutigkeit des Fußballs als Spiel und Sport eine produktive Differenz für solche Vorwürfe. Während zahlreiche Sprecher an der Position der Spielbewegung dem Fußball als Spiel durchaus wohlwollend gegenüberstanden, galten die dem Sport zugeordneten körperlichen Praktiken eindeutig als disharmonisch.147 Beispielsweise rief Kleber den Sportlerkörper als Antitypus zum Turnkörper auf, um genau diese negativen Effekte des Sports aufzuzeigen. »Eingefallene Wangen, stark hervortretende Backenknochen – die Folgen des ›Training‹ – eine Brust von riesigem Umfang. Muskeln von fast Fingerdicke, aber der ganze Körper durch die nur einseitige Ausbildung nicht von jener dem Auge wohltuenden Ebenmäßigkeit.«148 Harsch kritisierte auch Franz Kemény das »Sportunwesen«. Aus diesem rührten »Übertreibungen, Einseitigkeiten und Verirrungen und als deren natürliche Folge ernste physische Schäden, welche die Wurzel des aufkommenden Schößlings angreifen«. Gleichzeitig stimmten sie »die noch zum Teil befangene öffentliche Meinung sehr zu Ungunsten der [Spiel-]Bewegung«.149 In die gleiche Richtung argumentierte Schröer. Der Sport sei »keineswegs unbedenklich. Er hat nicht die harmonische Menschenbildung, ja nicht einmal die harmonische und allseitige Bildung des Körpers im Auge.«150 Diese Vorwürfe verdichteten sich in einer Karikatur des MTV aus dem Jahr 1903. Auch in diesem Jahr hielten seine Mitglieder eine Weihnachtskneipe ab und auch in diesem Jahr enthielt die dazugehörige Zeitung eine Karikatur zum Fußballspiel (Abb. 8). Mehr als 2/3 der Karikatur nimmt die Figur im Bildvordergrund ein, deren gesamter Körper, genau wie bei Planck, in leicht schräger Vorderansicht abgebildet ist.
146 | Alle Zitate: Planck, Fußlümmelei, S. 6f. 147 | Vgl.: Diebow, Einleitung, S. 3-4; Kappel, D.: Turnen und Radfahren, in: DTZ 35, 1890, S. 458; Pawlik, Ernst: Turnen und Sport, in: DTZ 35, 1890, S. 72; Schmidt, volksgesundheitliche Bedeutung, S. 1; Pudor, Ästhetik der Bewegungsspiele, S. 16f. Explizit zum Fußball: Pialecki, Eugen: Vorschläge zur Reform des Fußballspieles, in: KuG 15, 1907, S. 161-170, hier S. 162f. 148 | Kleber, Turnen und Sport, S. 734. 149 | Kemény, Gegenwart und Zukunft der körperlichen Erziehung, S. 151. 150 | Schröer, eine neue Aufgabe, S. 525.
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Auffällig sind die im Vergleich zur Darstellung der unteren Extremitäten deutlich kleineren Arme und sehr kleinen Hände. Daneben fallen die dunkle Schattierung des unteren Wadenbereichs, die den Eindruck einer starken Behaarung vermittelt, sowie die überproportionierten Kinn- und Stirnpartien auf. Auf der mittleren Bildebene ist eine zweite Figur, die dem Betrachter ihren muskulösen Rücken zuwendet und offenbar kurz vor der »erzählten Zeit«151 des Bildes den Ball, der im oberen rechten Bilddrittel abgebildet ist, geschossen hat. Direkt unter dem Ball zeichnen sich schemenhaft mindestens sechs beinund fußähnliche Glieder am Bildhintergrund ab.
Abb. 8: »entarteter Fußballkörper«
151 | Mit Erzählzeit wird in der Erzähltheorie die zeitliche Dauer bezeichnet, »die ein Erzähler für das Erzählen seiner Geschichte benötigt […]. Die erzählte Zeit meint demgegenüber die Dauer der erzählten Geschichte.« Zit. n.: Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, 4. Aufl., München 2003, S. 31, Hervorh. i. Orig.
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Die Karikatur selbst gibt wenig Anhaltspunkte dafür, dass es sich um einen Fußballer handeln könnte, denn weder die Schuhe noch die Oberbekleidung entsprechen der um 1900 üblichen Bekleidung eines Fußballers. Zwar ähneln die blasenförmigen Aussparungen für die Fußknöchel Merkmalen zeitgenössischer Fußballschuhe, aber durch das Fehlen von Stollen an den Unterseiten der Schuhe wird der Fußballschuh, anders als bei Planck, als signifikantes Merkmal des Fußballers nur partiell zitiert. Achselhemden als Oberbekleidung für Fußballer sind in dem gesamten Bildquellenkorpus nie zu sehen. Allerdings, und dies expliziert die Bildunterschrift, war es auch nicht das Ziel des Zeichners eine wirklichkeitsgetreue Darstellung von Fußballern zu geben, sondern auf die zukünftige Degeneration des Menschen durch den Fußball aufmerksam zu machen. Schließlich handelt es sich um den »Footballanthropos communis im 21. Jahrhundert«. Um auf die zukünftige Degeneration zu verweisen war es unerheblich, ob die Fußballschuhe alle relevanten Merkmale dieses funktionalen Kleidungsstücks aufwiesen, und sogar notwendig, dass der Oberkörper von einem Achselhemd bekleidet war. Der Verweis auf die »Entartung der Beine, Füsse […] sowie die Verkümmerung der Arme und Hände« machte es nicht erforderlich, den Schuhen des Fußballmenschen Stollen hinzuzufügen; wohl aber durch das Achselhemd die Verkümmerung der Arme sichtbarer zu machen, als es durch das übliche kurzärmlige Hemd möglich gewesen wäre. Darüber hinaus ist das Achselhemd für die Darstellung der Figur auf der mittleren Bildebene wichtig. Sie spiegelt die Rückenpartie der Figur aus dem Bildvordergrund und erlaubt einen Blick auf den überproportionierten muskulösen Rücken, welcher das Achselhemd geradezu zu verschlucken scheint. Damit wurde die Kritik am Körper des Fußballs im Übrigen anschlussfähig für Kritik an den Körpern anderer Sportarten. Das Achselhemd war ein übliches Bekleidungsstück bei Ruderern, Boxern und (Leicht-)Athleten, denen man die, im Vergleich zum Fußballer, disharmonische Verbildung des oberen Körperbereichs zur Last legte. Abschließend lässt sich die bildhafte Kritik am Fußballkörper auf zwei Aspekte zuspitzen. Erstens markierten die abgebildeten Fußballkörper – und zwar sowohl in ihrer karikierten Form (Abb. 7, 8) als auch in den eher funktionalen Abbildungen aus Praxisanleitungen (Abb. 5) beziehungsweise erläuternden Aufsätzen (Abb. 6) – in ihrer Fußstellung einen deutlichen Unterschied zu Inszenierungen des Turnkörpers. In allen vier Fällen berührt lediglich ein Fuß den Boden, während der Turnkörper aus Röschs Praxisanleitung zum Turnen (Abb. 3) fest auf beiden Füßen steht. Selbst die einzige Abbildung Röschs, auf welcher der Turner auf einem Bein stehend abgelichtet ist (Abb. 9), erweckt durch ihre sorgsam inszenierte, bildinterne Geometrie den Eindruck einer äußerst stabilen Körperhaltung. Die bildhafte Kritik des Fußballkörpers kaprizierte sich somit auf einen »Verstoß gegen die natürliche Ordnung des
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Körpers«, die in der Wahrnehmung der Turner vor allem durch Stabilität auszeichnete.152
Abb. 9: Stabilität auf einem Bein Zweitens schrieben beide Karikaturisten den Fußballkörper in zeitgenössische Degenerationstheorien ein, die im Feld der Körperkultur auch außerhalb der bildhaften Kritik zirkulierten und vor allem über die Differenz zwischen harmonischem Turnen und einseitigem Sport operierten. Nicht nur die bildlich akzentuierte »Entartung« der oberen und unteren Extremitäten des Footballanthropos, sondern vor allem durch den in beiden Abbildungen eröffneten Blick ins Gesicht, wird die deutliche Korrespondenz zu zeitgenössischen, bio- und anthropometrischen Wissensordnungen, die Degenerationsphänomene u.a. im Gesicht suchten (und fanden), augenscheinlich.153 Planck verwies auf das vorgestreckte Kinn und in der Karikatur des MTV sind Stirn- und Kinnpartien deutlich überproportioniert. Interessanterweise musste man in beiden Fällen auf Zeichnungen zurückgreifen – fotografische ›Beweise‹ solcher ›Physiognomien‹ ließen sich offenbar schwerlich erbringen. Im Unterschied zu den kämpferischen Texten, in denen sich die Fürsprecher des Fußballs gegen Vorwürfe aus den Reihen der Turner zur Wehr setzten, fand die visuelle Kritik am Fußballkörper kein bildhaftes Echo. Karikaturen von Turnkörpern, mittels derer Fußballer auf ähnliche Weise Kritik übten, wie Planck oder der Zeichner des MTV, konnten nicht ermittelt werden. Auch Schnell ließ sich von der Adaption seiner Fotografie nicht beeindrucken, son152 | Vgl. hierzu: Alkemeyer, Thomas: Füße und ihre Subjekte. Ein Plädoyer dafür, das Konzept der Subjektivierung vom Kopf auf die Füße zu stellen, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 21, Heft 1, 2012, S. 24-40, Zitat S. 35. 153 | Vgl.: Becker, Peter: Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis, Göttingen 2002, v.a. S. 294ff.; Ders.: Physiognomie aus kriminologischer Sicht. Von Lavater und Lichtenberg bis Lombroso und A. Baer, in: Theile, Gert (Hg.), Anthropometrie, S. 93-124.
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dern gab diese seinem 1900 erschienen Handbuch der Ballspiele bei, ohne ihre Verarbeitung zur Karikatur auch nur zu erwähnen.154 Die Bildpolitik des Fußballs beschränkte sich vielmehr darauf, den Bildbetrachtern funktional auf die Praktik bezogene Körper zu zeigen, die bestimmte, als praktikspezifisch gesetzte Körperbewegungen visualisierten.
Einseitige Turner, vielseitige Fußballer: Körperbildung jenseits des Fußballspiels Während sich für das visuelle Register keine konfrontativen Gegenbilder finden, reagierten die Fußballer sehr wohl im textuellen Register. Bereits in der Überbürdungsdebatte war dem Turnen vorgeworfen worden, einseitig zu sein. Das Turnen vernachlässige den »natürlichen Bewegungstrieb der Jugend«155 und sei vielmehr eine »Gliederpuppengymnastik«,156 war seit den 1880ern ein geläufiger Vorwurf. 1895 sorgte diese physiologische Kritik am Turnen für einen Sturm der Entrüstung in der DTZ. Anlass war eine Studie Mossos, die als Die körperliche Erziehung der Jugend 1894 ins Deutsche übersetzt worden war.157 In dieser Studie kritisierte er das deutsche Turnen u.a. dafür, dass es den Körper physiologisch nicht hinreichend berücksichtige. Mossos über 150seitige Arbeit widmete der Kritik am deutschen Turnen insgesamt weniger als 20 Seiten, aber das genügte offenbar. Friedrich Wilhelm Karl Wassmannsdorff, Zeitgenosse Adolf Spieß‹, echauffierte sich über Mossos abschätziges Urteil zu Spieß als »Verderber des deutschen Turnens«158 und Carl Euler machte sich über Mossos mangelnde Kenntnisse der Verhältnisse im Feld der Körperkultur des Kaiserreichs lustig.159 Andere Sprecher schlugen moderatere Töne an und versuchten zwischen Mosso und dem Turnen zu vermitteln.160 154 | Vgl. Schnell, Handbuch, S. 94. 155 | Schmidt, volksgesundheitliche Bedeutung, S. 1. 156 | Hueppe, Turnen und Sport, S. 601. 157 | Vgl.: Mosso, Angelo: Die körperliche Erziehung der Jugend, Leipzig 1894 [Orig. 1893]. 158 | Wassmannsdorff, Friedrich Wilhelm Karl: Professor Mosso’s Forderung, das deutsche Turnen der Gegenwart habe zu den Idealen GutsMuths und Jahns zurückzukehren, in: DTZ 40, 1895, S. 1137-1140, Zitat S, 1137. Ferner hatte sich Wassmannsdorff schon zuvor in einem offenen Brief über Mossos Einschätzungen zu Spieß geärgert. Vgl.: Ders.: o.T., in: DTZ 40, 1895, S. 763f. 159 | Vgl.: Euler, Carl: Professor Angelo Mosso und das deutsche Turnen, in: DTZ 40, 1895, S. 566-569; S. 621-624. Vgl. ferner: o.A.: Auch eine Antwort an Mosso, in: DTZ 40, 1895, S. 773-774. 160 | Vgl.: Boethke: Das deutsche Turnen und die Wissenschaft. Ein Wort der Verständigung, in: DTZ 40, 1895, S. 1012-1014. Noch 1900: Weber, G.H.: Die Angriffe auf unser heutiges Schulturnen und ihre Abwehr, in: DTZ 45, 1900, S. 473-477.
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Seitens der Fürsprecher des Fußballs innerhalb und außerhalb der Spielbewegung stieß diese Kritik am Turnen auf Zustimmung. Erfreut zitierte Johannes Vollert in der Zf TJs von 1895 einen Artikel J.J. Findlans, Lehrer an der Rugby Public School, der am deutschen Schulturnen bemängelte, es »betrachte den Körper als ein separates Glied, oder vielmehr eine Anzahl besonderer Instrumente, die einzeln geübt werden müßten«.161 Andere kritisierten den »langweilige[n]«162 oder »mechanische[n] Drill«.163 In Sport im Bild von 1897 betonte ›Swort‹, dass es »eben nicht jedermanns Sache [ist] nach des Tages Last und Mühen sich abends an Barren und Reck zu quälen.«164 Der Bezug auf Reck und Barren verdeutlicht, dass aus Sicht der Sportler nicht mehr nur die seitens der Spielbewegung primär kritisierten Ordnungs- und Freiübungen, sondern auch das Geräteturnen gegen Ende des 19. Jahrhunderts zum Gegenstand der Kritik wurde. In einem Aufsatz Über Unterricht und Erziehung bemängelte Hueppe am Geräteturnen aus rassenhygienischer Perspektive, dass dieses »uns in seiner Bewegung des Hängens an, des Stützens und Stehens auf den Händen von dem physiologischen und anthropologischen Ausgange [des Menschen] oft recht bedeutend entfernt.« Damit werfe das Geräteturnen den Menschen zurück auf den Status des Primaten.165 Sieben Jahre nach Plancks Kritik, der Fußball erniedrige den Menschen zum Affen, trat also dieser Phänotyp degenerationstheoretischer Argumentationen als Vorwurf gegenüber dem Turnen wieder auf. Ausführlich und vehement schimpfte Georg Wenderoth in Der Rasensport von 1909 auf das Schulturnen. Dieses ignoriere neuere physiologische und biologische Erkenntnisse. Außerdem sei es absurd zu glauben, eine »gleichmässige Ausbildung des Körpers durch Bewegungen, die von den gewohnten verschieden sind und der Natur zuwiderlaufen« erreichen zu wollen.166 Ferner übte Wenderoth ausdrücklich Kritik am Harmoniekonzept des Turnens.
161 | Vollert, Johannes: Bemerkenswerte Worte eines englischen Schulmannes über das deutsche Turnen, in: Zf TJs 3, 1894/1895, S. 93f., Zitat S. 94 162 | Zander, Rez. zu Schmidt, S. 422. 163 | RMA [Robert Austerlitz]: Ein Brief über das Fußballspiel, in: Beilage zur Bohemia Nr. 359, 1893, S. 1-2, Zitat S. 1. Zur Auflösung dieses Kürzels: Die Redaktion: Ehre wem Ehre gebührt, in: Spiel und Sport 4, 1894, S. 189. 164 | Swort: Turnen und Sport, in: Sport im Bild 3, 1897, S. 93. 165 | Vgl.: Hueppe, Unterricht und Erziehung, S. 537f., Zitat S. 538. 166 | Wenderoth, Georg: Erziehung zum Sport, in: Der Rasensport 7, 1909, S. 522-524, alle Zitate S. 522. Vgl. zu weiteren kritischen Bezugnahmen im Kontext physiologischer Wissensordnungen: Koch, Menschenalter, S. 28; Norddeutscher Fußball-Verband (Hg.), Was wir wollen, S. 8f.; Schröer, eine neue Aufgabe, S. 525.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«? »Dieses System, das so wenig Rücksicht auf die natürlichen Anlagen nimmt und alles in gewisse starre Formen wie in eine Zwangsjacke sperrt, ist das deutsche Schulturnen […]. Auf dieses Pedanterie [gemeint ist das Befehlsprinzip] tut sich das Turnen sehr viel zugute und nennt sie ›gleichmäßige Ausbildung des Körpers‹ und ›Erziehung zur Disziplin‹.«167
Mit diesem konfrontativen Diskursfaden verwob sich ein konstruktiver, in welchem der Fußball gegenüber dem Turnen als die eigentlich harmonische Praktik positioniert wurde. Martin Hahn, Professor für Hygiene an der Universität Königsberg, behauptete in einem Gutachten über die gesundheitlichen Vorzüge des Fußballs, dass dessen »gleichmässige Übung der Körpermuskulatur […] einen grossen Vorzug gegenüber dem Turnen« bilde.168 In einem Aufsatz über Fußball ohne und mit Aufnehmen hatte auch Sturm knapp zehn Jahre zuvor eine solche Behauptung aufgestellt und anhand einer Art quantitativen Erhebung über die Bewegungen beim Geräteturnen und Association zu erhärten versucht. Für beide Praktiken ermittelte er eine »mehrmillionenfache Ziffer« einzelner Bewegungen. Allerdings beanspruchten die »einzelnen Geräteübungen […] in den meisten Fällen nur eine geringe Teilzeit einer Minute«. Diesem ›Minimalaufwand‹ stellte er einzelne, »an Muskelenergie gleichwertige Körpertätigkeiten« beim Fußball gegenüber. »Läufe, Wettläufe, Stoßen des Balles (im Grunde eine Schwungübung der Beine), Losrennen, rasches Anhalten, blitzschnelle Wendungen und Sprünge, Gleichgewichtsübungen inmitten des Laufs und mit Stand, energische Drehungen, Dehnungen, Streckungen und Beugungen des Oberleibes, Schwünge der Arme und Beine etc.«169
In diesen Argumentationen für den Fußball blieb es jedoch nicht bei der Behauptung, dass er den Körper harmonischer oder gleichmäßiger ausbilde. Vielmehr geriet die gleichmäßige Ausbildung des Körpers zu einer spezifischen, den einzelnen Fußballer betreffenden Adressierung. Im Gegensatz zu dem Vorwurf der Gefährlichkeit betraf dies jedoch weniger die Akzeptabilität des Fußballs hinsichtlich einer potenziell negativen Rezeption, sondern vielmehr eine praktikspezifische Anforderung, wie es Koch in einem Überblicksartikel von 1900 formulierte. »Eine gleichmäßige Ausbildung des Körpers ist auch für einen guten Fußballspieler im höchsten Grade nötig. Unsere deutschen Spieler haben das bei ihren verschiedenen Zusammentreffen mit den fremd-
167 | Wenderoth, Erziehung zum Sport, S. 522. 168 | Abgedr. in: Münchener Rasensportverband (Hg.), erzieherischen Werte, S. 17-19, Zitat S. 17. 169 | Sturm, Fußball ohne und mit Aufnehmen, S. 387.
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ländischen Riegen deutlich erkannt.«170 Mit dieser so postulierten Kausalität zwischen Erfolgen im Wettspiel und einer gleichmäßigen Ausbildung des Körpers traf Koch im Kern das, was zahlreiche Sprecher an der Position des Sports von den Fußballern immer wieder forderten. In Praxisanleitungen sowie Vereinsschriften und Sportperiodika wurden die Rezipienten immer wieder dazu aufgefordert, neben dem Fußball auch anderen Praktiken nachzugehen. In seiner Praxisanleitung zum Fussballspiel von 1910 verlangte etwa Pfeiffer: »Neben der Ausbildung im Fußballspiel sollte auch die allgemeine körperliche Ausbildung nicht vernachlässigt werden. Aus vernünftiger Ausübung des Sportes werden Körper und Geist in gleicher Weise Vorteil ziehen.«171 Was Pfeiffer an dieser Stelle eher als Allgemeinplatz formulierte, bildete in den meisten anderen Praxisanleitungen eine sehr viel eindeutiger funktionale Aufforderung. »Treibe auch anderen Sport, um Dich leistungsfähiger zu machen«, forderte beispielsweise Julius Sparbier in seinem Fußball-Merkblatt. Sowohl das Laufen als auch die Ausbildung des Oberkörpers galten ihm als zwingend erforderlich. Zum Oberkörper äußerte er sich etwas ausführlicher. »Vernachlässige Deinen Oberkörper nicht; körperliche Wucht ist für einen Fußballspieler unerläßlich; viele Mannschaften sind nicht standfest und schwer genug und leisten darum weniger. Vorzüglich geeignet sind gute Frei-, Hantel- und Stabübungen, Diskuswerfen, Steinstoßen, Gerätturnen; von andern Spielen Schleuderball wegen des Fangens und Faustball wegen des Ballschlagens.«172
Sparbier, der der Position der Spielbewegung zuzurechnen ist, forderte von den Fußballern also nicht nur eine Ausbildung des Oberkörpers, sondern legte ihnen zu diesem Zweck auch ganz bestimmte Praktiken nahe. Als gäbe es keine Differenzen zwischen Fußballern und Turnern empfahl er in geradezu eklektischer Zusammenstellung verschiedene Übungen des Turnens und der Leichtathletik sowie zwei ältere Turnspiele. In diesem Kontext überschrieben die Verfasser von Praxisanleitungen die innerhalb der Streitigkeiten zwischen Turnern und Fußballern eröffneten Dichotomien. Bereits 1898 hatte Heineken in seiner Praxisanleitung zum Fußballspiel »Dauerläufe« und »turnerische Uebungen«173 nahegelegt. Auch Faber empfahl knapp zehn Jahre später neben der »Athletik« und »andere[m] Bewegungssport« auch »sämmtliche [sic] tur-
170 | Koch, Konrad: Das Fußballspiel im Jahre 1900, in: JfVJ 10, 1901, S. 283-286, Zitat S. 284. Vgl. ähnlich: Bensemann, deutsche Schule und das Jugendspiel, S. 295f. 171 | Pfeiffer, Fußballspiel, S. 11. 172 | Alle Zitate: Sparbier, Fußball-Merkblatt, S. 5, Hervorh. i. Orig. 173 | Heineken, Das Fußballspiel, S. 214.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
nerische Übungen zu veranstalten, damit der Körper gleichmäßig angestrengt wird.«174 Nicht nur auf der Ebene der Praxisanleitungen, sondern auch im Vereinsschrifttum wurden Fußballer dazu angehalten, anderen Praktiken nachzugehen. Dabei bildete das Turnen allerdings eher ein peripheres Phänomen, wie sich anhand des KFC zeigen lässt. Zwar gab es dort eine Turnabteilung, diese wurde in der Monatsschrift jedoch nur dann erwähnt, wenn es wieder an der Zeit schien, die Fußballer zum Turnen aufzufordern. 1911 appellierte der Vorstand an die Fußballer Kommt Turnen!!!175 Wenige Monate später beantragte der Vorstand den »Besuch der Turnabende [...] für die Mitglieder der 1., 2. und 3. Mannschaft« obligatorisch zu machen. Dieser Antrag wurde mit großer Mehrheit angenommen, wobei der Berichterstatter sich darüber beklagte, dass sich leider »keiner der Spieler an der Diskussion beteiligt habe.«176 Bereits im darauffolgenden Jahr mussten die Spieler an diese Verpflichtung erinnert werden177 und auf der Jahresversammlung klagte der Turnwart Streck: »Der Besuch der Turnabende ist recht kläglich, speziell die Mitglieder der I.-III. Mannschaft glänzen durch Abwesenheit.«178 Wenn auch unklar bleibt, warum die Fußballer den Turnübungen überwiegend fernblieben, so zeigten sie eine recht deutliche Widerständigkeit am Turnen teilzunehmen. Vorstand oder Turnwart mochten zwar appellieren oder sie zur Teilnahme verpflichten, aber damit war noch lange nicht gewährleistet, dass die Fußballer auch teilnahmen. In diesem Kontext werden interessante Ungleichzeitigkeiten in den Relationen zwischen Turnen und Fußball deutlich. Auf einer weltanschaulichen Ebene führten Turner und Fußballer zwar einen Kampf um Positionen, diese Kluft überbrückten jedoch die Verfasser von Praxisanleitungen, indem sie das Turnen als körperliche Ergänzung zum Fußballspiel empfahlen. Zudem richtete ein Fußballverein eine eigene Turnabteilung ein, die jedoch seitens seiner Mitglieder nahezu gar nicht genutzt wurde. Ob dies nun aus ideologischen Gründen geschah und ob sich dies für mehrere Fußballvereine zeigen lässt, kann anhand des vorliegenden Quellenmaterials nicht beantwortet werden. Was sich jedoch zeigt ist, dass die Dichotomie zwischen Turnen und Fußball keineswegs so scharf war, wie es manche Quellen vermuten lassen. Diese Dichotomie mochte auf einer weltanschaulichen Ebene bestehen, in bestimmter,
174 | Faber, Fußballsport, S. 69. 175 | Der Vorstand: Kommt turnen!!!, in: Monatsschrift KFC 4, 1911/1912, S. 12. 176 | Müller, C.: Protokoll der ordentlichen Versammlung, in: Monatsschrift KFC 4, 1911/1912, S. 52-54, Zitat S. 52. 177 | Der Vorstand: Turnen!, in: Monatsschrift KFC 5, 1912/1913, S. 39. 178 | Müller, C.: Protokoll der ordentlichen Versammlung, in: Monatsschrift KFC 5, 1912/1913, S. 57-59, Zitat S. 57.
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funktional auf den Fußball bezogener Hinsicht war es jedoch durchaus möglich, Fußballern das Turnen zu empfehlen. Auf Seiten der Fußballer lassen sich ähnliche Widerstände gegenüber der Leichtathletik verzeichnen. Auch diese wurde als Ergänzung empfohlen und auch diese wurde eher kaum berücksichtigt. So appellierte ein ungenannter Verfasser in der Vereinszeitung des AFC an »unsere jungen Spieler«, die seit dem Beginn des Ersten Weltkriegs zunehmend die erste Mannschaft des Vereins bildeten. »Das Laufen gehört nun aber doch zum Fußballspielen, genau so, wie man einen Ball und zwei Tore dazu gebraucht.« Daher sollten die jungen Spieler unbedingt auch der Leichtathletik zu einem gewissen Grad nachgehen. Allerdings schränkte der anonyme Verfasser dies deutlich ein und ordnete die leichtathletischen Übungen für Fußballer dem Fußball unter. »Ihr braucht nicht zu ›befürchten‹, daß man Euch mit Laufübungen zu Leichtathleten heranbilden will.« Es gelte lediglich an die körperliche Ausbildung der Fußballer »die letzte Feile anzulegen.«179 Ähnliche Appelle finden sich auch in den anderen untersuchten Vereinsschriften.180 So wandten sich die beiden Obmänner für den Sommersport im KFC An unsere Mitglieder. »Die Eigenschaften, die den Fußballern so dringend not tun, wie Energie, Schnelligkeit und Ausdauer, sollen im Sommersport für die kommende Saison gepflegt werden.« Daher sei es eine »unbedingte Notwendigkeit, sich regelmäßig an den sommerlichen Uebungen zu beteiligen«. Dieses eher rationale Argument ergänzten die beiden Verfasser mit einer recht deutlichen Drohung. Es sei nicht nur körperlich notwendig, sondern es könnte sein, »daß diejenigen, die im Sommer nicht trainieren, evtl. bei der Aufstellung zu Beginn der Saison zurückstehen müßten.«181 Solche Appelle an die Vereinsmitglieder wiederholten sich in der Monatsschrift des KFC auch in den folgenden Sommern.182 Da die Fußballsaison in der Regel im Frühsommer beendet war, handelte es sich bei diesen Appellen auch um Werbung für die Leichtathletik. Offensiv vertrat dies Findeisen, erster Spielwart des KFC und somit verantwortlich für die Mannschaftszusammen179 | ie.: Unser Fußball-›Training‹, in: Vereinszeitung AFC 9, Januar/Februar 1915, S. 8f., Zitate S. 8. 180 | Neben den folgenden Ausführungen über den KFC siehe zum BFC: G.W.: Fußball, in: Vereins-Nachrichten BFC 11, September 1911, S. 5-7; o.A.: Athletik. Ein dringendes Wort an alle Vereinskameraden, in: Vereins-Nachrichten BFC 12, Mai 1912, S. 6-8. 181 | J.A./Limbach, H.: An unsere Mitglieder!, in: Monatsschrift KFC 2, 1909/1910, S. 105f. 182 | Vgl.: Die Athletik Kommission: An unsere Leichtathleten!, in: Monatsschrift KFC 4, 1911/1912, S. 66; Die Spielkommission: An unsere aktiven Spieler!, in: Monatsschrift KFC 6, 1913/1914, S. 87f.; Pfadfinder: Die Leichtathletik, in: Monatsschrift KFC 3, 1910/1911, S. 92f.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
setzungen. Nach Pfingsten sei die Fußballsaison beendet und »sämtlichen aktiven Spieler [ist es] unbedingt verboten, bis zur Eröffnung der neuen Saison (Ende August?) Fußball zu spielen.« Dies sei zum »Schutze der Leichtathletik […] eben erforderlich.«183 Die Appelle, der Leichtathletik nachzugehen, bildeten jedoch nicht nur Schutzmaßnahmen. Zum einen verblieben sie nicht allein auf Vereinsebene. Im Rasensport verlangten Felix Boxhammer und K. Schnellwald Fußballer treibt Athletik!184 Martin Brustmann und Johannes Runge forderten auch im DFBJahrbuch dazu auf.185 Zum anderen finden sich auch in der Monatsschrift des KFC Hinweise an einzelne Fußballer ihre Körper leichtathletisch auszuarbeiten. Diese Hinweise erschienen nicht am Ende der Saison, sondern wurden in konkretem Bezug auf unmittelbar vergangene Spiele gegeben, in denen die Verfasser bestimmte Mängel festgestellt hatten. Obwohl die zweite Mannschaft gegen die erste Mannschaft des Kölner Sportverein mit 10:0 gewonnen hatte, glaubte der Berichterstatter des KFC, dass »R. Schenck […] z.Zt. übertrainiert« sei. Die »schweren Spiele in der ersten Mannschaft [haben ihn] zu stark mitgenommen« und deshalb müsse er »das Leder für die Sommerzeit vollständig ruhen lassen«. Statt auch im Sommer Fußball zu spielen verwies ihn der Berichterstatter »auf den Leichtathletikbetrieb.«186 Nach einer 0:7 Niederlage in einem Freundschaftsspiel gegen Clapton Orient aus London, kritisierte »Pfadfinder«: Der »Neuling Bremke scheint sich zu machen. Mit dem Laufen aber haperts auch noch sehr; sein Gegner, der linke Außenstürmer, nebenbei bemerkt 28 Jahre alt, schlug ihn im Laufen glänzend.« Dieser »Mangel muß behoben werden«, weshalb es für Bremke notwendig sei »sich während des Sommers mit Eifer der Leichtathletik zu widmen.«187
»Wie ein Mönch«: Training als Lebensführung Neben den Hinweisen auf Turnen, Leichtathletik und andere ergänzenden Praktiken, mittels derer die Fürsprecher des Fußballs die Behauptung einer gleichmäßigen, harmonischen Ausbildung des Körpers argumentativ stabilisieren konnten, brachten sie auch ein zweites Argument vor: das Training. 183 | Findeisen: Für unsere aktiven Spieler!, in: Monatsschrift KFC 2, 1909/1910, S. 101f. 184 | Vgl.: Boxhammer, Felix/Schnellwald, K.: Fussballer treibt Athletik! Ein Mahnwort an unsere Verbandskameraden, in: Der Rasensport 7, 1909, S. 232f. 185 | Brustmann, Martin: Fussball und Athletik, in: DFB-Jahrbuch 3/4, 1905-1907, S. 110-113; Runge, Johannes: Ergänzungssport, in: DFB-Jahrbuch 10, 1913, S. 288-289. 186 | Verus: KFC 99 II gegen Kölner Sportverein I 10:0, in: Monatsschrift KFC 7, 1914/1915, S. 86f., Zitat S. 87. 187 | Pfadfinder: KFC 99 I gegen Clapton FC 0:7, in: Monatsschrift KFC 4, 1911/1912, S. 71-73, Zitate S. 73.
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Zeitgenössisch bildete das Training nicht nur einen oder mehrere Termine, an denen man seinen Körper für eine gewisse Zeit übte, sondern den Bezugspunkt eines ganzen Bündels an Regeln und Maximen, anhand derer Fußballer und andere Sportler ihr Leben ausrichten sollten, um eine angemessene Lebensführung einzurichten. Explizit differenzierte beispielsweise Adolf Hoch in seiner Praxisanleitung von 1911 zwischen Übung und Training. Ersteres bezeichnete den Erwerb bestimmter Körpertechniken, also ungefähr das, was auch heutzutage noch unter Training verstanden wird. »Training [hingegen] fordert eine solide Lebensweise, überhaupt weist es dem Spieler das, was er tun muß, um etwas leisten zu können.«188 Knapp zwanzig Jahre zuvor hatte Robert Austerlitz, Torwart des Prager Fußballclubs Regatta, dies als einen besonderen gesundheitsförderlichen Vorzug formuliert. In einem Brief über das Fußballspiel, der 1893 in der Bohemia erschien, schrieb er: »Während der Turner sich nicht die geringste Enthaltung eines jeden körperlichen Genußes, und darunter ist nicht nur Essen und Trinken gemeint, auferlegen muß, lebt der Sportsmann im Training wie ein Mönch, d.h. wie ein Mönch leben soll. Welch wolthuende Wirkung hat so ein Leben auf den jungen Mann! Reizlose Kost, keine geistigen Getränke, kein Tabakrauchen, keine Nachtschwärmereien; bei Tagesanbruch schon aus dem Bette, kalte Douchen und Bäder, Dauerlaufen, das Alles erzeugt eine Summe von Thatkraft und Selbstbewusstsein, welche man nicht nur für den augenblicklichen Zweck, sondern für sein ganzes Leben erworben hat.«189
An diesen Ausführungen fallen zwei Differenzlinien auf. Erstens setzte Austerlitz die sportliche Lebensweise gegen die turnerische, die sich durch keinerlei Enthaltsamkeit auszeichne. Diesen Kontrast überführte er zweitens in einen allgemeineren Zusammenhang. Der Sportler zeichne sich dadurch aus, dass er sich gesund ernähre, keine Genussmittel gebrauche und früh schliefe. Er bildete also den Gegenentwurf zu zivilisations- und kulturpessimistisch grundierten Negativfolien. Dieses idealisierte Selbstverhältnis spitzte Austerlitz schließlich auf eine ebenso idealisierte Figur zu: den Mönch als Repräsentanten eines asketischen Lebensentwurfs. All diese positiven Eigenschaften, so Austerlitz‹ Suggestion, beruhten auf der für das Training notwendigen Lebensführung. Seit Anfang der 1890er Jahre nahm das Training einen prominenten Platz im Sprechen über den Fußball ein. In diesem Zusammenhang sind drei Facetten zu unterscheiden. Erstens gab es eher allgemeine Ausführungen zum Training und dessen positive Effekte auf eine gesundheitsförderliche Lebensführung, die als Argumente für den Fußball operationalisiert werden konnten. 188 | Vgl.: Hoch, Fußballsport, S. 26-29, Zitat S. 28. 189 | RMA, Brief über das Fußballspiel, S. 1.
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Zweitens gaben Praxisanleitungen und Aufsätze in Vereinsschriften umfangreiche Anweisungen dazu, wie jeder Fußballer ein dem Training angemessenes Verhältnis zu seiner Lebensführung und sich selbst einrichten sollte. Drittens lassen sich schließlich auf Vereinsebene und zum Teil in Sportperiodika Appelle identifizieren, die dies von Fußballern einforderten. An der Position der Spielbewegung sticht die Unterscheidung zwischen Spiel und Sport im Kontext des Trainings deutlich hervor. Bis Ende der 1890er Jahre wurde das Training kategorisch abgelehnt,190 wie sich anhand der Ausführungen des Turnlehrers Marx zeigen lässt. Der »Sport [...] trägt in die froheste menschliche Thätigkeit, das Spiel, die Dressur und den Zwang hinein; an die Stelle der fröhlichen Übung und Erholung, die sich selbst Zweck ist, tritt die einseitige, öde Trainierung, an die Stelle der freudigen, sorglosen Hingabe an das augenblickliche Spiel tritt eine nervöse Überspannung im Hinblick auf das einzige vor Augen stehende Ziel: den Sieg im bevorstehenden Wettkampf.«191 Allerdings änderte sich diese ablehnende Haltung an der Position der Spielbewegung ungefähr ab der Jahrhundertwende. Die dem Sport, vor allem dem Individualsport, eigentümliche Eigenschaft, Leistungen nicht nur zu messen, sondern auch zu verzeichnen,192 erlaubte es Medizinern, Physiologen und Hygienikern zunehmend Daten über körperliche Leistungsfähigkeit auswerten zu können. Hinzu kamen weitere Orte der Vermessung des sportiven Körpers. Bei den olympischen Spielen der Neuzeit, »bei deutschen Sportfesten und neuerdings als ständige Einrichtung auch im Verband Berliner Athletikvereine zwecks Erlangung guten statistischen Materials« erhoben Ärzte solche Daten über den bewegten Körper.193 Auf der Dresdener Hygieneausstellung von 1911 wurde schließlich ein eigenes Sportlaboratorium eingerichtet. In diesem nahmen Physiologen und Hygieniker »[a]nthropometrische und ergographische«, »elektrographische«, »[p]hysiologisch-chemische und mikroskopische Untersuchungen«, »Röntgenuntersuchungen« sowie »Untersuchungen des Chemismus und der Mechanik der Atmung« an Athleten vor, die zuvor verschiedene sportliche Übungen absolviert hatten.194 190 | In der Wettturnordnung der DT war es nach § 13 sogar verboten. Vgl.: Stürenburg, Heinrich: Turnfeste und unsere Wettturnordnung, in: DTZ 39, 1894, S. 234-238; S. 251253; S. 272-275, hier S. 274. 191 | Marx, Turnen und Bewegungsspiel, S. 24. Vgl. ähnlich: Schröer, eine neue Aufgabe. 192 | Vgl. grundlegend: Guttmann, Allen: From Ritual to Record. The Nature of Modern Sports, aktual. Neuaufl., New York 2004, v.a. S. 15-56. 193 | Mallwitz, Arthur: Sporthygiene, in: DFB-Jahrbuch 7, 1910, S. 80-86, Zitat S. 85. 194 | Ders.: Die Sportabteilung der Internationalen Hygiene-Ausstellung, in: DFBJahrbuch 8, 1911, S. 193-199, Zitat S. 194. Vgl. als Überblick über die Sportabteilung:
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Diese Produktion von Wissen über den menschlichen Körper in sportiver Bewegung führte vor allem bei den Medizinern im ZA zu einer Art Sinneswandel. Hatte Schmidt das »sportsmäßige Trainieren der Körperkräfte zu Höchstleistungen« 1895 als »Liebhaberei einzelner Begüterter« abgekanzelt und dessen Wert bezweifelt,195 so differenzierte er in Unser Körper wenige Jahre später und unterschied zwischen »[h]ygienischem« und »sportlichem Tränieren«.196 Schmidt zitierte zahlreiche einschlägige Studien über den bewegten Körper, die auf den genannten Datenerhebungen beruhten. Offenbar verpuffte die Produktion von Wissen über den Körper in Bewegung also nicht, sondern führte zu einer Wende in seiner Bewertung. Zwar galt ihm das sportliche Training immer noch als ungesund, weil »über den Rahmen einer gesunden Leibeszucht hinausgehen[d]«, aber dem hygienischen Training erkannte er eine unbedingt gesundheitsförderliche Seite zu. Der dem hygienischen Training eigene »gesunde Gedanke, zur allseitigen Leistungsfähigkeit sich auszubilden, soll für die körperliche Erziehung der Jugend die oberste Richtschnur sein.«197 Diese von einem der Wortführer zu Fragen physiologischer und medizinischer Aspekte der Leibesübungen vollführte Wendung hin zu eher dem Sport zugerechneten Prinzipien, markiert den Beginn einer Öffnung des ZA, sich dem Sport u.a. dem Fußball, anzunähern. Auch andere Mediziner erkannten das Training ungefähr ab 1900 als besonders gesunde Form der Lebensweise an. Adolf Greeff versicherte im ZA-Jahrbuch von 1898, er habe sich davon »überzeugt, daß die für das sportliche Training eingeführte Lebensweise […] überaus wertvoll und nützlich ist; nützlich nicht etwa nur im Sinne des sportlichen Zwecks, sondern nützlich für die Gesundheit, für den Charakter, für den ganzen Menschen!«198 Albrecht Notthaft argumentierte ähnlich. Er meinte in seinen vergleichenden Untersuchungen über Turnen und Bewegungsspiele herausgefunden zu haben, dass das Training eine »weitere Stütze [...] im Kampfe gegen den Wirtshaussumpf« bilde. Da Training »wenigstens bei den Wettspielen [...] ganz unerlässlich« sei, wäre eine »temporäre Sistirung der Freuden, welche Venus, Bacchus und Gott Tobak«199 bereiteten, eine unmittelbare Folge. Die Bekämpfung des Alkoholismus nannte auch Schmidt in einem gleichnamigen Aufsatz von 1910 als besonderen Vorzug der für das Training erforderlichen Lebensweise. Wenn auch die »Art dieses Tränierens z.B. hinsichtlich Dinçkal, Nocan: Das gesunde Maß an Schädigung. Die Inszenierung von Sport als Wissenschaft, in: Historische Anthropologie 17, 2009, S. 17-37. 195 | Schmidt, volksgesundheitliche Bedeutung, S. 1. 196 | Ders., Unser Körper, S. 301. 197 | Alle Zitate: Ebd. 198 | Greeff, Adolf: Bewegungsbedürfnis und Bewegungstrieb, in: JfVJ 7, 1898, S. 2441, Zitat S. 33, Hervorh., J.E. 199 | Notthafft, Vergleichende Untersuchungen, S. 507.
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der Kost, im gesundheitlichen Sinne oft recht anfechtbar war«, so wäre der »Genuß aller geistigen Getränke entweder stark eingeschränkt oder überhaupt gänzlich untersagt«.200 Ähnlich argumentierte Paul Bräuel im DFB-Jahrbuch von 1913. Dem Schüler fiele im Spiel jede »Verminderung seiner Leistungsfähigkeit« sofort auf und zwinge ihn »den Gründen nachzugehen.« Diese »Erkenntnis von dem Zusammenhange zwischen Lebensführung und Leistungsfähigkeit« wirke doch sicherlich »nachhaltiger […] als ein Wort des Lehrers, der von den Gefahren des Alkoholgenusses spricht.«201 Das Training bildete somit ein System der »Disziplin mit Normalisierungseffekt«:202 ›normaler‹ Gebrauch von Genussmitteln und ein ›normales‹ Verhältnis zur Sexualität. Dabei handelte es sich um Effekte, die auch Sporthygieniker in den DFB-Jahrbüchern von 1911 und 1912 betonten.203 Bereits an den Ausführungen Notthafts und Bräuels ist die funktionale Beziehung zwischen Training und Fußball angeklungen. Ungesunder Alkoholgenuss wirke sich merklich auf die Leistungsfähigkeit im Spiel aus. Da man im Spiel schließlich etwas leisten wolle, würde man nichts tun, was diese Leistungsfähigkeit negativ beeinflusse. Indem das Training eine gesunde Lebensweise sei und es zugleich eine unbedingte Voraussetzung für Erfolge im Fußballspiel bilde, wäre also eine kausale Beziehung zwischen Fußball und gesunder Lebensführung geradezu zwingend. Dies betonte auch ein ungenannter Autor in der Sport im Bild von 1895. Fußball sei nicht nur ein »herrliches Spiel«, sondern auch eine »sittliche Triebfeder«, denn wer es ernsthaft betreiben wolle, »der muss sich notgedrungen an ein regelmässiges Leben gewöhnen.«204 In einem Gedicht im Rasensport von 1909 brachte ein Autor mit dem Pseudonym ›Puck‹ dieses regelmäßige Leben hinsichtlich des Rauchens auf die griffige Formel: »Ein Sportsmann raucht nicht Zigaretten, sonst wird aus seinem Training Mist.«205 Diese funktionale Beziehung zwischen Training, Fußball und gesunder Lebensführung wurde nicht nur seitens seiner Fürsprecher behauptet, sondern schrieb sich nachdrücklich in jene Texte ein, die den Fußballer adressierten – Praxisanleitungen, Sportperiodika und Vereinsschriften. 200 | Schmidt, Ferdinand August: Die Bekämpfung des Alkoholismus durch Volksspiele und Sport, in: Pädagogische Abhandlungen. Neue Folge 15, 1911, S. 1-15, Zitat S. 2. 201 | Bräuel, Paul: Sport und Schule, in: DFB-Jahrbuch 10, 1913, S. 78-85, Zitate S. 82. 202 | Foucault, Michel: Die Anormalen, Frankfurt a.M. 2007, S. 74. 203 | Vgl.: Mallwitz, Arthur: Deutsches Reichskomitee für die wissenschaftliche Erforschung des Sports und der Leibesübungen, in: DFB-Jahrbuch 9, 1912, S. 129-142; Schottelius, Ernst: Sport und Hygiene, in: DFB-Jahrbuch 8, 1911, S. 96-103. 204 | o.A.: Die Fussball-Saison, in: Sport im Bild 1, 1895, S. 254. 205 | Puck: Gehacktes, in: Der Rasensport 7, 1909, S. 205.
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Schon 1893 hatte Philipp Heineken diese funktionale Beziehung als zwingend gesetzt. »Um bei einem grösseren Wettspiele, sei es ein Wett- oder Gesellschaftsspiel, etwas Tüchtiges leisten zu können, sollte man sich womöglich vorher darauf eingerichtet haben. Mit dem technischen Ausdruck bezeichnet man dies als ›Trainieren‹.« Im Folgenden beschrieb er einen umfassenden Anforderungskatalog der diesbezüglichen »Verhaltungsmassregeln für den Körper.« Zunächst sei der Körper zu »purgieren, damit der Magen, die Eingeweide und Muskeln von allen fremden Stoffen befreit werden.« Generell sei »eine ununterbrochen betriebene mässige Lebensweise« erforderlich, um diesen Zustand der körperlichen Reinheit aufrecht zu erhalten. Hierzu gab er anschließend zahlreiche Hinweise, die sich vom Zeitpunkt des Aufstehens und Zubettgehens, über den Spaziergang vor dem Frühstück, die Art der Nahrung für Frühstück, Mittag- und Abendessen bis hin zu verschiedenen, über den Tag verteilten Übungen erstreckten. Allerdings, so schränkte er ein, wären diese Regeln sowohl für Berufstätige als auch für Schüler schwerlich in Gänze einzuhalten. Darauf käme es auch nicht zwingend an, eine gewisse Achtsamkeit in der Lebensweise sei jedoch in jedem Fall unabdingbar. Dies betraf vor allem die Ernährung. »Man sollte sich soviel wie möglich aller Mehl- und fetten Speisen enthalten« und stattdessen »mehr Fleischnahrung und Eier« zu sich nehmen. Auch »Spirituosen und Wein, dürfen während der Zeit des Trainings nicht genossen werden, an Bier ist nur ½ Liter am Tage erlaubt. Wasser darf nicht mehr als ein Liter täglich eingenommen werden.«206 Fast zwanzig Jahre später gab auch Simon den Lesern seines Leitfaden des Fußballspiels ganz ähnliche Hinweis, wobei er jedoch im Unterschied zu Heineken vor allem eine graduelle Änderung der Lebensführung betonte. »Folgende Trainingsratschläge dürften sich als nützlich erweisen: allmähliche, nicht plötzliche Steigerung der sportlichen Betätigung; allmähliche Aenderung gesundheitswidriger Gewohnheiten (Essen, Trinken, Rauchen); unbedingter Verzicht auf Alkohol vor, bei und sofort nach dem Spiel; tunlichste Vermeidung des Alkohols überhaupt; frühzeitig zu Bett, früh aufstehen [...]; nicht sofort nach einer Mahlzeit spielen; nach dem Spiel baden und umziehen; nicht zuviel spielen; in Zweifelsfällen einen sportverständigen Arzt fragen.«207
Zwischen den frühen 1890er Jahren und dem Beginn des Ersten Weltkriegs, das unterstreichen die ausführlich zitierten Beispiele, blieben die Anforderungen an die Lebensführung des Fußballers relativ stabil. Gleichwohl markieren Heinekens und Simons Hinweise einen Extrempunkt. Dermaßen rigide Vorschriften vom Frühstück bis zum Zubettgehen machten die wenigsten. In 206 | Vgl.: Heineken, Rasenspiele, S. 338-341, alle Zitate ebd. 207 | Simon, Leitfaden, S. 13.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
einem Artikel über den vom Berliner Ballspielklub angestellten englischen Trainer McPherson heißt es etwa, dass man durchaus einen »Schoppen« trinken oder Tabak rauchen dürfe, sich dies jedoch »allmählich« abgewöhnen sollte.208 Auf programmatischer Ebene verlangten die allermeisten in erster Linie einen »soliden Lebenswandel«, wie es Paul stellvertretend für zahlreiche weitere Sprecher formulierte.209 Sowohl an Heinekens als auch an Simons Ausführungen fallen die deutlichen Korrespondenzen zwischen dem Training und den innerhalb der Hygienebewegung propagierten Modellen einer gesunden Lebensführung auf. Ernährung, sexuelle Abstinenz, Genussmittel, Schlafenszeiten oder innere und äußere Reinigung des Körpers bildeten Themen, mit denen sich die Akteure in der Hygienebewegung ausführlich befassten. In knappen Regeln, Geboten, Winken oder Maximen formuliert, vermittelten die Produzenten der einzelnen Vereinsschriften ihren Lesern genau diese Regeln in einem übersichtlichen Format. Die Vereinszeitung des AFC druckte im Winter 1915 Des Sportsmanns Lebensregeln, die der Sporthygieniker und Mediziner Arthur Mallwitz formuliert hatte. Diese betrafen – ähnlich wie die Hinweise Heinekens und Simons – die Lebensführung in einem umfassenden Sinne. Grundsätzlich solle die »zielbewusste Lebensweise […] das ganze Jahr hindurch« anhalten. Dazu gehörten das Verbot von »Alkohol, Tee, Kaffee, Tabak«, Forderungen nach sexueller »Abstinenz« und ausgiebigem Schlaf, Hinweise zur Ernährung und vorgeschriebene Ruhe bei Verletzungen.210 Ähnliche Hinweise finden sich auch in den religiös gerahmten zehn Geboten für Rasenspieler, die Berner formuliert hatte und die ebenfalls in der Vereinszeitung des AFC erschienen, sowie den Winken für Fußballspieler, die die Herausgeber der Monatsschrift des KFC von einem ungenannten englischen Arzt und ehemaligem Fußballspieler übernahmen.211 208 | Vgl.: o.A.: McPherson bei der Arbeit, in: Der Rasensport 7, 1909, S, 415f., Zitate ebd. 209 | Paul, Das Fussballspiel, S. 37. Vgl. ferner: Auenhag, Lulu von: Sport und Sportlichkeit. Ein ethisches Problem im Sport, in: DFB-Jahrbuch 8, 1911, S. 17-24; Bauwens, Camillus: Einiges vom Ruder- und Fußball-Training und vom Kölner Club für Wasserport, in: Monatsschrift KFC 4, 1911/1912, S. 139-140; Faber, Fußballsport, S. 68, S. 7073; Hoch, Fußballsport, S. 28; Moger, George Henry: Wie man Wettspiele gewinnt, in: Monatsschrift KFC 1, 1908, S. S. 31-33; o.A.: Wie ein Fußballspieler trainieren soll, in: Monatsschrift KFC 1, 1908, S. 140-141; Pfeiffer, Fußballspiel, S. 11; Werner, F.: Wege zum Erfolg!, in: Vereins-Nachrichten des B.F.C. Preußen, e.V. 1913, Juni, S. 4f. 210 | Vgl.: o.A.: Des Sportsmanns Lebensregeln, in: Vereinszeitung AFC 9, November/ Dezember 1915, S. 18-19, Zitate S. 18. 211 | Vgl.: o.A.: Zehn Gebote für Rasenspieler, in: Vereinszeitung AFC 10, November/Dezember 1916, S. 8; o.A.: Winke für Fußballspieler, in: Monatsschrift KFC 4, 1911/1912, S. 138-139.
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In diesen beiden Vereinsschriften sowie den Vereins-Nachrichten des BFC finden sich jedoch nicht nur adaptierte Trainingshinweise. Vielmehr verfassten auch verschiedene Mitglieder eigene Artikel zum Bereich des Trainings, in denen sie aktiven Fußballern Vorschläge zur trainingsgemäßen Lebensweise unterbreiteten. In der Monatsschrift des KFC von 1908 erschien beispielsweise ein Artikel zur Atemhaltung als vorzügliches Stärkungsmittel der Lunge. »Man hält die Hände, wie es der Befehl ›Hüften fest‹ vorschreibt, holt mit geschlossenem Mund recht langsam, ruhig und tief Luft, behält sie so lange innen, bis man ›nicht mehr kann‹ und atmet sie dann aus.«212 Interessanterweise schloss der ungenannte Autor dieser Hinweise unmittelbar an einen Befehl aus der Turnlehre Hugo Rothsteins an.213 Ähnlich wie im Kontext der ergänzenden Übungen spielte auch hier die Dichotomie zwischen Turnen und Fußball offenbar dann keine Rolle, wenn es um einzelne Körperübungen ging. Die Atemhaltungskur, so fuhr der Verfasser in der Monatsschrift fort, solle man »10-20 mal hintereinander, morgens und abends regelmäßig« machen. Auf diese Weise würde die Lunge gestärkt, die Brust gekräftigt und man trage »überhaupt wesentlich zur Gesundung des Körpers bei.«214 Zwei Jahre später kam Paul Marum ebenfalls auf die Lunge zu sprechen. Diese und auch das »Herz können wir uns selbst nicht trainieren.« Deshalb sollten sich die Fußballer »frei halten von Excessen. Also behüten wir unser Herz vor dem giftigen Alkohol und unsere Lungen vor dem Tabakrauch. Das sind die Grundbedingungen für ein Training.«215 Anders als in dem zwei Jahre älteren Artikel glaubte Marum also nicht daran, dass man an der Lunge arbeiten könne, sondern appellierte vielmehr an ein gesundes Leben als präventives Selbstverhältnis. Insofern ist der »Prozess der Individualisierung und Subjektivierung präventiver Praktiken« den Martin Lengwiler und Jeanette Maradárasz für die »Zwischenkriegszeit« veranschlagen, zumindest für das Training zurückzudatieren.216
212 | o.A.: Atemhaltung als vorzügliches Stärkungsmittel der Lunge, in: Monatsschrift KFC 1, 1908, S. 127-128. Zitat S. 127. 213 | Vgl. zu dem Kommando ›Hüften fest‹: Rothstein, Hugo: Die gymnastischen Freiübungen nach dem System P. H. Ling’s, 2. Aufl., Berlin 1855, S. 37f. Noch in den Turnübungen in Rudolf Klapps Funktionelle Behandlung der Skoliose von 1907 war dieses Kommando für die ›tiefen Rumpfbeugen vorwärts‹ vorgesehen. Vgl.: Klapp, Rudolf: Funktionelle Behandlung der Skoliose, Jena 1907, S. 93. 214 | o.A., Atemhaltung, S. 127. 215 | Marum, Paul: Das Training für Leichtathleten und Fußballspieler, in: Monatsschrift KFC 4, 1911/1912, S. 98-100, Zitate S. 99 216 | Vgl.: Lengwiler/Madarász, Präventionsgeschichte als Kulturgeschichte, S. 17-22, Zitat S. 22.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
Deutlich wird dies an Marums Vorschlag, wie das Training in den Alltag eingeschrieben werden könnte. Ähnlich wie Heineken knapp zwanzig Jahre zuvor erkannte auch er die Schwierigkeiten an, die die Trainingsvorschriften für Berufstätige bieten konnten. Doch anders als Heineken machte er auf eine bestimmte Zeitzone im Alltag aufmerksam, die genutzt werden könne: die Zeit zwischen Beruf und Privatleben. »Morgens zum Geschäft und des Abends vom Geschäft gehen in einem Tempo von ca. 6-7km pro Stunde lockert die Muskeln der Oberschenkel, treibt das Blut in Wallung und erhitzt das Fett, das zwischen den Muskeln sitzt und treibt dieses aus.« Allerdings schränkte Marum ein, dass dies lediglich eine Option von vielen sei. Anders als die professionellen Fußballer in den USA und England, sind »[w]ir als Amateure [...] vollständig auf uns selbst angewiesen und ist auch der Erfolg, den man sich von unserem Training versprechen kann, abhängig von dem Interesse, welches jeder persönlich für die Sache hegt.«217 Es war also dem einzelnen Fußballer zu einem gewissen Grad selbst überlassen, wie weit er sich dem Regime des Trainings unterwarf, wie weit er im Alltag trainingsgemäßen Gebrauch von freier Zeit mache. Und genau diese Individualität der Unterwerfung bildete vor allem auf Vereinsebene einen prominenten Ausgangspunkt für Adressierungen der Fußballer. Geradezu paradigmatisch rief der AFC seine Mitglieder im Winter 1915 zu Mehr Ernst im Sport auf. »Den meisten fehlt die Einsicht, den kleinen Lastern zu entsagen. Körperliche Schwäche bleibt stets zurück.« Und gerade weil sich auch kleine Laster unmittelbar in den Körper einschrieben, müsse dem »Mißbrauch, der besonders in jungen Jahren zu finden ist«, entgegengesteuert werden, denn: »Ernstes sportliches Streben ist [...] ohne strenge Selbstzucht nicht möglich.«218 Auch in den Vereinsnachrichten des BFC klagte man über diesen Mangel. Felix Linnemann, Vorsitzender des BFC, konstatierte anlässlich des 17. Stiftungsfestes, dass die Fußballer im vergangenen Jahr »großen Eifer in sportlicher Beziehung« gezeigt hätten. Im Herbst habe dieser Eifer aber deutlich nachgelassen. »Das eifrige Training, dem wir in der vorigen Saison einen großen Teil unserer Erfolge zu verdanken haben [sic], hörte gänzlich auf.«219 Ähnliches bemängelte auch ein ungenannter Autor im DFB-Jahrbuch. In einem Überblick über die deutsche Saison monierte er eine gewisse Stagnation. Diese sei darauf zurückzuführen, dass sich die Spieler nicht genügend auf Wettspiele vorbereiteten. »Unsere Spieler müssen eben lernen, ihren Kör217 | Marum, Paul: Das Training für Leichtathleten und Fußballspieler, in: Monatsschrift KFC 4, 1911/1912, S. 98-100, Zitate S. 99. 218 | o.A.: Mehr Ernst im Sport, in: Vereinszeitung AFC 9, November/Dezember 1915, S. 17f. 219 | Linnemann, Felix: Zum 17. Stiftungsfeste, in: Vereins-Nachrichten BFC 11, 1911, S. 2-3, Zitat S. 2.
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per systematisch durch eine vernünftige Lebensweise Sonntag für Sonntag zu höchsten Leistungen zu befähigen, damit endlich der tote Punkt überwunden wird.«220 Auch in der Monatsschrift des KFC finden sich immer wieder Kritiken, die auf die mangelnde körperliche Vorbereitung und die unsolide Lebensweise verwiesen. Als Leitmotiv dieser Kritiken kann das Resümee Willi Rassenbergs in einem Bericht über die süddeutsche Reise des KFC gelten, auf welcher die Kölner gegen eine Karlsruher Mannschaft angetreten waren und deutlich verloren hatten. »Die Mannschaft hat das Trainieren bitter nötig.«221 Neben den Appellen lassen sich anhand der Vereinsschriften auch fragmentarische Einsichten in idealisierte oder tatsächliche Unterwerfungen unter das Regime des Trainings rekonstruieren. In der Vereinszeitung des AFC erschien im Winter 1915 ein kurzer Artikel unter der Überschrift Zur Nachahmung empfohlen. Darin wurde auf einen jungen Spieler hingewiesen, der sich zu weitgehenden Zugeständnissen an eine enthaltsame Lebensführung verpflichtet hatte. »Freiwillig und unaufgefordert hat sich einer unserer jüngeren Spieler verpflichtet: 1. Nicht zu rauchen. 2. Keinen Alkohol zu genießen. 3. Nach jeder Richtung hin streng und solide zu leben. Die Verpflichtung ist noch ausführlicher gehalten. Wir begrüßen diese Absicht, die voll und ganz unsere Anerkennung findet und fordern zur Nacheiferung auf.«222
Allerdings blieb dieser junge Spieler ungenannt. Namentlich hob ein ungenannter Verfasser in derselben Ausgabe einen Spieler der zweiten Mannschaft hervor. »Nagel-Heyer ist zu erwähnen. Bei seiner ernsten Auffassung vom Sport sind seine Leistungen nicht verwunderlich.«223 Vermutlich legte auch der Berliner Otto Thiel eine solche ernste Auffassung an den Tag. Dies suggeriert zumindest ein Nachruf auf Thiel in den Vereins-Nachrichten des BFC vom Juni 1913. Zunächst hatte man ihn für körperlich zu schwach gehalten, um in 220 | o.A.: Die deutsche Saison 1908/1909, in: DFB-Jahrbuch 6, 1909, S. 91-104, Zitat S. 94. 221 | Rassenberg, Willi: Die süddeutsche Reise, in: Monatsschrift KFC 1, 1908, S. 39. Vgl. ferner: Beowulf: K.F.C. 99 I gegen Düsseldorfer F.C. I 4:2, in: Monatsschrift KFC 4, 1911/1912, S. 33f.; Linnemann, Felix: 1. Mannschaft, in: Vereins-Nachrichten BFC 12, Januar 1912, Januar, S. 5-9; o.A., Hallensportfest; o.A.: Uebersicht, in: VereinsNachrichten BFC 12, Januar 1912, S. 1-2; Pfennig: Mühlheimer F.C. I gegen K.F.C. 99 III 2:2, in: Monatsschrift KFC 1, 1908, S. 18. 222 | o.A.: Zur Nachahmung empfohlen!, in: Vereinszeitung AFC 9, November/Dezember 1915, S. 23. 223 | o.A.: Fußball, in: Vereinszeitung AFC 9, November/Dezember 1915, S. 9-13, Zitat S. 12.
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der ersten Mannschaft zu spielen. Seit 1909 war er dann aber zu einem festen Bestandteil geworden, denn »dank seiner großen Energie vervollkommnete er sich bald in so starkem Maße, daß die Besetzung unserer Mannschaft ohne Thiel als linker Flügelstürmer undenkbar war.« Auch nachdem er 1913 wegen einer Influenza mit dem Fußball hatte aufhören müssen, so lobte der Verfasser des Nachrufs, »massierte er sich regelmäßig, um nach seiner Genesung sofort wieder spielen zu können.«224 Thiel hatte also die Anforderung, auch abseits des Platzes im Sinne einer Steigerung oder Erhaltung seiner Leistungsfähigkeit an seinem Körper gearbeitet – selbst als er durch die Erkrankung nicht mehr hatte spielen können. Wenngleich diese Einblicke zweifellos idealisiert sind und fragmentarisch bleiben, so erlauben sie deutliche Rückschlüsse darüber, wie sehr sich die Sprecher in den Vereinsschriften konkrete Umsetzungen ihrer Appelle erhofften. Unabhängig davon, ob irgendeiner der Fußballer abseits des Platzes ›wirklich‹ so lebte – ein sittliches und enthaltsames Leben bildeten den Maßstab eines idealen Fußballers, an dem jeder einzelne tendenziell gemessen werden konnte.
Kontur 1: Fußballer und ihre (gesunden) Körper Die Diskursivierung des Fußballs unterhielt enge Beziehungen zur zeitgenössischen Problematisierung von Gesundheit. Diese Achse bot ein breites Spektrum, innerhalb dessen Argumente für und wider den Fußball stabilisiert werden konnten. So bezog die vornehmlich bildhafte Kritik am Fußballkörper ihr Repertoire aus degenerationstheoretischen Modellen, die vermutete Gefährlichkeit des Fußballs beruhte auf der Annahme eines verletzbaren Körpers und (konstitutions-)hygienische Wissensordnungen formten den Ausgangspunkt für Behauptungen eines durch den Fußball erzeugten gesundheitsförderlichen Selbstverhältnisses. Wenngleich auch die Bakteriologie eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Differenzierung von ungesunden staubigen Turnhallen und gesundem Fußball an frischer Luft spielte, so waren es doch vornehmlich die drei zuvor genannten Fäden des Diskursstranges, anhand derer eine Kontur des Fußballers als Subjekt des Fußballs umrissen werden kann. Gefährlichkeit, (dis-)harmonische Körperbildung und das Training als gesundheitsförderliches, präventives Selbstverhältnis waren es, die sich deutlich in jene Texte einschrieben, in denen Individuen als Fußballer adressiert und beobachtet wurden. Die Gefährlichkeit des Fußballs bildete einen prominenten Anreiz zum Sprechen und fand Eingang in Tageszeitungen, Fachzeitschriften und Pra224 | Schukat, Paul: Otto Thiel, in: Vereins-Nachrichten BFC 13, Juni 1913, S. 1-3, Zitate ebd., Hervorh., J.E.
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xisanleitungen, in denen vermeintliche und tatsächliche Gefahren ausführlich thematisiert wurden. Dieser Topos war ein starkes Argument gegen den Fußball und eröffnete im gleichen Augenblick einen Raum, innerhalb dessen sich seine Fürsprecher als Experten positionieren konnten. Zugleich bildete Gefährlichkeit einen Bezugspunkt für Beobachtungen und Adressierungen von Fußballern. Ein gesundheitsgefährdender Gebrauch des Körpers im Spiel bildete nicht nur ein potenziell sportliches Problem – etwa durch Sanktionen des Schiedsrichters oder Verletzungen wichtiger Spieler –, sondern durch die prinzipielle Öffentlichkeit des Fußballs vor allem auch eine mögliche Facette des Akzeptabilitätsproblems. Ungefährlichkeit müsse sich im Vollzug zeigen, alles andere sei unglaubwürdig. Diesbezüglich lassen sich bestimmte Adressierungen verzeichnen. Fußballer wurden in Spielberichten für faires Spiel gelobt und für unfaires, gesundheitsgefährdendes Spiel gerügt. Zumeist betrafen diese Adressierungen nicht primär eine Verletzung des sportlichen Ethos, sondern kaprizierten sich auf die Akzeptabilität. Dieser Komplex lässt sich auch in Praxisanleitungen finden, schrieb sich in Repräsentationen der Dingwelt ein und betraf die Ausbildung eines besonderen, ungefährdenden Körpergebrauchs im Spiel. Beruhte die Gefährlichkeit des Fußballs vornehmlich auf statistischen Erhebungen sowie Einzelbeobachtungen, so setzte eine weitere Kritik am praktikspezifischen Gebrauch des Körpers an. Die Art und Weise der Körperbewegung im Fußball ziehe eine Privilegierung des unteren Körperbereichs nach sich, was mittelfristig in physisch-psychischer Degeneration münden werde. In diesem Kontext ist eine funktionale Beziehung zwischen Fußball und Fußballer zu verzeichnen. Eine disharmonische, einseitige Verbildung galt seinen Fürsprechern allein deshalb als ausgeschlossen, weil eine allseitige Ausbildung als Erfolgsbedingung für das Fußballspiel gesetzt wurde. Diese funktionale Beziehung wiederholte sich im Kontext des Trainings. Ein richtiger Fußballer könne kein ungesundes Leben führen, denn ein solches führe zu Einbußen der Leistungsfähigkeit. Im Sinne der Erhaltung seiner Leistungsfähigkeit war jeder Fußballer zumindest aufgefordert, ein als gesund markiertes Selbstverhältnis einzurichten. Auch diese Beziehung wiederholte sich. Sie war der Ausgangspunkt von Argumentationen für den Fußball und schrieb sich in jene Texte ein, die Fußballer adressierten. Die drei Fäden, die das Verhältnis zwischen Fußball, Fußballer und Gesundheit austarierten, verwoben sich zu einer programmatisch-normativen Struktur, die die Beobachtung von Fußballspielen und -spielern organisierte und Interventionen in den fußballspezifischen Gebrauch des Körpers stabilisierte. Konzipiert man die auf dieser Struktur beruhenden Mahnungen, Appelle und Monita nicht als Indikator für Devianz, sondern als die eine Seite eines Aushandlungsprozesses darüber, was es bedeutet Fußballer zu sein, so wird eine Kontur des Fußballers als Subjekt des Fußballs deutlich: ganzheit-
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lich ausgebildet, einem gesundheitsförderlichen, präventivem Selbstverhältnis verpflichtet und die Ungefährlichkeit der Praktik durch besonderes Geschick beglaubigend.
6. T ypologien und M odellierung : F ussball und M ännlichkeit »[I] Fass du, die Kraft der deutschen Jugend Als Sichr’ung deiner Zukunft auf, Gib deinen Söhnen Mut und Tugend Zu ungehemmtem Siegeslauf. Lass unsern Fussballsport gedeihen, Der stolz und trutzig macht den Mann, Und sorge, dass in diesen Reihen Ein jeder Deutsche etwas kann.
[III] Das heisst kein eitles nutzlos’ Streben, Nein, dem Entschlusse folgt die Tat, Gestählt der Körper für das Leben. Und droht dem Reiche einst Verrat, Dann sende sorglos deine Jugend Hinaus zum Kampf, sie fechtet gut, Der Fussballsport hat Mut und Tugend Gewurzelt fest in Mark und Blut.«225
[II] Bring’ unsern Fussballsport zu Ehren, Vergrössere sein Wirkungsfeld, Ein Volk soll seine Söhne lehren, Dass Mut allein beherrscht die Welt. Mit heller Freude sollst du sehen Den heissen Kampf auf grünem Feld, Fürwahr, da muss die Welt vergehen, Eh’ deiner Söhne Kraft zerschellt. 225
Im DFB-Jahrbuch von 1905-1907 veröffentlichte der Dresdener Fritz Müller das von ihm auf die Melodie Ernst Moritz Arndts Sind wir vereint zur guten Stunde gedichtete DFB-Lied. In drei Strophen wendet sich eine textuell nicht konkretisierte Instanz an eine übergeordnete Ebene, die durch ein »artikuliertes Du«226 organisiert ist. An diesem Lied, das im Übrigen eines von sehr vielen Liedern zum Fußballspiel227 und keineswegs die offizielle Hymne des DFB war, interessieren allerdings weniger dessen lyrische Qualität als viel225 | Müller, Fritz: D.F.B.-Lied, in: DFB-Jahrbuch 3/4, 1905-1907, S. 128. 226 | Burdorf, Dieter: Einführung in die Gedichtanalyse, 2. Aufl., Stuttgart 1997, S. 203. 227 | Im Liederbuch für Fußballspieler von 1908 finden sich über 30 »Sport- und Fußball-Lieder sowie über 100 weitere »Kommers-, Gesellschafts- und Volkslieder«. Vgl.: Verband süddeutscher Fußballvereine (Hg.): Liederbuch für Fußballspieler, Pforzheim 1908. Ich danke der Haus der Geschichte Baden-Württemberg und insbesondere Frau Gisela Orlopp für die freundliche Überlassung einer Kopie.
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mehr die verschiedenen, das Sprechen über Männlichkeit und Fußball betreffenden Aspekte. Zu Beginn des Liedes wird die »deutsche Jugend« als Zielgruppe des Fußballs benannt und im dritten Vers über den Begriff »Söhne« als männliche deutsche Jugend geschlechtlich vereindeutigt. Die geschlechtliche Dimension sowie die implizierte Altersbegrenzung nach unten – es war die Jugend, nicht die Kinder – decken sich mit den in anderen Quellen genannten Exklusionsprinzipien von Alter und Geschlecht. Das Geschlecht des Fußballs im Kaiserreich war eindeutig als männlich bestimmt. Nur selten wurde dies jedoch auch so ausdrücklich gesagt, wie in Ernst Kohlrauschs Bewegungsspiele von 1899. »Für Mädchen ist Fußball natürlich ungeeignet.«228 In den allermeisten Fällen wurde, wann immer von Fußball die Rede war, schlichtweg von Jungen, Knaben oder Männern gesprochen. Diese Selbstverständlichkeit lässt sich anhand des von Kohlrausch verwendeten Adjektivs ›natürlich‹ verdeutlichen. Begründungen für den Ausschluss qua Geschlecht, und das ist angesichts der hohen Relevanz naturwissenschaftlich-medizinischer Wissensordnungen und entsprechender Argumentationszusammenhänge besonders interessant, operierten exklusiv vor der übertragenen Bedeutung des Adjektivs. Der Ausschluss von Frauen wurde nicht qua Natur, nicht vor dem Hintergrund medizinisch-biologischer Argumentationen begründet, sondern ausschließlich als natürlich im Sinne von selbstverständlich. Bezeichnend für diese Selbstverständlichkeit ist ein Abschnitt aus Anton Fendrichs Der Sportmensch. Im Abschnitt über den Fußball ist eine Fotoseite eingefügt. Die Vorderseite (blättert man von links nach rechts) zeigt einen Mann beim Kopf ball, die Rückseite vier tanzende junge Frauen.229 Zugespitzt formuliert: Männer spielten Fußball, Frauen tanzten. Allerdings war die Teilnahme von Frauen an Fußballspielen nicht undenkbar. In einer Replik auf Karl Plancks Fußlümmelei wies Philipp Heineken darauf hin, dass auch in Deutschland »Fussball schon längst auch von Mädchen gespielt wird und dass sie sich ganz wohl dabei befinden.«230 Leider finden sich keinerlei weitere Hinweise, die diese Behauptung stützen könnten. Offenbar fanden Menschen weiblichen Geschlechts bereits in der Frühphase des Fußballspiels in Deutschland kaum eine Position im Diskurs. Beispielsweise beschrieb Friedrich Winter in Turnen und Spiel in der Mädchenschule von 1912
228 | Kohlrausch, Bewegungsspiele, S. 25, Hervorh., J.E. Vgl. zu weiteren Hinweise auf die geschlechtliche Dimension: Pialecki, Vorschläge zur Reform, S. 162; Racquet, englische Spiele, S. 48. 229 | Vgl.: Fendrich, Anton: Der Sport, der Mensch und der Sportmensch, Stuttgart 1914, Bildseite zwischen S. 64 und S. 65. 230 | Heineken, Das Fußballspiel, S. 228.
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zwar zahlreiche »Ball- und Laufspiele«, aber Fußball war nicht darunter.231 Lediglich in zwei Artikeln wurde über fußballspielende Frauen berichtet. Beide Artikel waren in der Sport im Bild abgedruckt, beide zeichneten sich durch eine deutliche Abwehrhaltung gegenüber dem Fußballspiel für Frauen aus und beide behandelten fußballspielende Frauen in England. In einem Artikel über Weibliche Fußball- und Hockeyspieler von 1897 wurden Fußballspiele von Frauen als »Auswüchse«232 herabgesetzt und zwei Jahre zuvor riet ›Vox‹ in einem Aufsatz über Die Damen und das Fussballspiel ausdrücklich von einer Teilnahme ab. »[W]ir wollen den Damen den guten Rat geben, das Fussballspiel dem männlichen Geschlecht zu überlassen und sich mit den vielen anderen für Damen passenderen Spielen zu begnügen.«233 Die meisten Sprecher waren sich bezüglich des geeigneten Alters beziehungsweise einer Altersuntergrenze für die Teilnahme am Fußball ebenso einig wie hinsichtlich der geschlechtlichen Exklusivität. So benannten Wilhelm Rolfs, Karl Möller und Julius Sparbier das vierzehnte Lebensjahr als Grenze, ab welcher man Fußball spielen dürfe.234 Diese Altersbegrenzung verband sich mit einem ausgeprägten Zukunftsbezug, der beispielsweise im DFB-Lied ins Auge sticht. Die Kraft der deutschen Jugend solle die Zukunft sichern; der Fußballsport solle gedeihen, damit mehr Deutsche stolze und trutzige Männer würden; die Söhne des Volkes, also die männliche Jugend, solle durch den Fußball lernen, dass nur der Mut die Welt beherrsche. Die Jugend als Zukunftskategorie und vor allem die Altersbegrenzung stehen in einem engen Verhältnis zur Adoleszenz. Dieses, um 1900 in zahlreichen Ländern populäre Konzept, galt als Schlüssel zur Re-Virilisierung der Nation. Eine »›richtig‹ gelebte Jugend« galt als »zivilisatorisches Bollwerk« gegen die »effeminierenden Tendenzen« und nervlichen Gefährdungen von Männern235 – und eine solche richtig verlebte Jugend sollte das Fußballspiel ermöglichen. So bezeichnete
231 | Vgl.: Winter, Friedrich: Turnen und Spiel in der Mädchenschule, Berlin/Leipzig 1912. Siehe auch: Krieg, I.: Die Pubertät in ihren Beziehungen zum Turnen und zum Sport, in: Saenger, Alfred (Hg.), Entwicklung und Erziehung, S. 64-76, hier S. 72. Krieg spricht knapp vom Fußball, der für Jungen unter Aufsicht empfehlenswert sei. Von dem Verhältnis zwischen Mädchen und Fußball spricht er nicht. 232 | o.A.: Weibliche Hockey- und Fussballspieler, in: Sport im Bild 3, 1897, S. 87. 233 | Vox: Die Damen und das Fussballspiel, in: Sport im Bild 1, 1895, S. 334. 234 | Vgl.: Möller, Karl: Ein deutsches Nationalspiel, in: KuG 12, 1903/1904, S. 97104, hier: S. 98; Racquet, englische Spiele, S. 48; Sparbier, Julius: Spielbetrieb und Spielfertigkeit. Vortrag, gehalten beim Altonaer Spielkurs, in: KuG 14, 1905/1906, S. 74-78, hier S. 75. 235 | Vgl.: Krämer/Mackert, wenn Subjekte die Krise bekommen, S. 273-276, Zitate S. 274.
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Moritz Zettler den »Spielplatz […] [als] Bildungsort für den künftigen Mann«236 und August Marx erhoffte sich vom Fußball und anderen Bewegungsspielen ein »Geschlecht, stark genug auch den Anforderungen ernster Zeiten gewachsen zu sein«.237 Konrad Koch hielt es für »das rechte Spiel, um aus Jünglingen Männer zu machen«238 und 1913 führte Carl Diem im DFB-Jahrbuch am Beispiel des Fußballs vor, wie die Zukunft sein könnte. »Dann werden die jungen Sprossen mitwirken der Menschheit Mission zu vollenden, eben Kultur zu schaffen, d.h. wie oben, den Menschen in Freiheit setzen und ihm dazu behilflich sein, seinen ganzen Begriff zu erfüllen; denn der Mensch ist das Wesen, welches will.«239
Die Notwendigkeit einer Erzeugung männlicher Eigenschaften für Jungen war in diesen Aussagen kollektiv und national bestimmt. Die gesamte männliche Jugend sollte für einen nationalen Fortschritt sorgen und sich anhand des zeitgenössischen Kriterienbündels hegemonialer Männlichkeit ausrichten. Einige Attribute dieses Kriterienbündels werden im DFB-Lied genannt: Mut und Tugend, Stolz und Trutz, Kraft, gestählter Körper und Entschlussfreudigkeit. Kräftig, abgehärtet, beherrscht, willensstark, entschlussfreudig, mutig und anti-individualistisch; dieses zeitgenössische Kriterienbündel hegemonialer Männlichkeit wiederholte sich permanent im Sprechen über den Fußball und einiger anderer Bewegungsspiele – vor allem die sogenannten Kampfspiele, zu denen neben Fußball noch Schlagball, Barlauf, Faust- und Tamburinball zählten.240 Zwar wurden nicht ständig die gleichen Worte verwendet und an anderen Stellen ergänzten die Sprecher hin und wieder weitere Attribute. Den Typus eines körperlich und geistig gesunden Mannes aber, der sich beherrschen kann und zugleich den Mut und die Fähigkeit zu kämpfen hat, griffen die Sprecher im Feld der Körperkultur immer wieder auf. Im Unterschied zum Sprechen über Fußball und Gesundheit war der Diskursstrang, der das Verhältnis zwischen Fußball und Männlichkeit organisierte, vornehmlich konstruktiv. Es herrschte in dieser Beziehung ein rela236 | Zettler, Bewegungsspiele, S. 20. Vgl. ähnlich: Schmidt, Ferdinand August: Sport und Volksgesundheit, in: DFB-Jahrbuch 7, 1910, S. 24-29, hier S. 28. 237 | Marx, Turnen und Bewegungsspiel, S. 30. 238 | Koch, Konrad: Über den Fortgang der Spiele und verwandten Leibesübungen im Jahre 1898, in: JfVJ 8, 1899, S. 170-175, Zitat S. 172. 239 | Diem, Ist Sport Kultur?, S. 43, Hervorh., J.E. 240 | Vgl.: Kohlrausch, Ernst/Raydt, Hermann: Ein allgemein verbindlicher Spielnachmittag für Knaben- und Mädchenschulen. Referate auf der Versammlung des Zentralausschusses in Quedlinburg am 19. Mai 1904, in: KuG 13, 1904/1905, S. 99-111, hier S. 103.
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tiver Frieden zwischen Turnern, Fußballern, Sportlern und Spielbewegten. In einer Rezension zu dem Aufsatz Ferdinand Hueppes über Unterricht und Erziehung formulierte Ferdinand August Schmidt: »Turnen und Sport, wenn recht betrieben, [bilden] beide in ihrer Art frische, kräftige und brauchbare Männer«.241 Interessanterweise findet sich diese Aussage expressis verbis nicht in dem genannten Aufsatz; für Schmidt reichten offenbar die von Hueppe dort entwickelten Gedanken, um eine solche Einschätzung treffen zu können. Angesichts dieses weitgehenden Konsens werden im Folgenden lediglich die Faktoren untersucht, die das Sprechen über Männlichkeit und Fußball strukturierten: Typologie und praktische Modellierung.
6.1 »Jammerlappen«, »Muttersöhnchen«: Beunruhigende Typologien Eine Eigenschaft des Diskursstranges, welcher das Verhältnis zwischen Fußball und dem Kriterienbündel hegemonialer Männlichkeit organisierte, bestand in seiner hohen Produktivität von figürlich verdichteten Antitypen, die vom Stubenhocker über den Jammerlappen und das Muttersöhnchen bis hin zu einem dezidiert effeminierten Typus reichten. Im Rekurs auf den Stubenhocker plausibilisierte etwa Heineken die Relevanz von Rasenspielen. Der »Knabe« – als Zwischenstufe zwischen Kind und Mann – könne in seiner Entwicklung prinzipiell nur drei Wege einschlagen. Von diesen galt lediglich einer, nämlich jener auf welchem er die »Liebe zur Bewegung im Freien nicht verloren hat«, als ungefährlich. Ihm gegenüber standen der »Stubenhocker« und der »genusssüchtige Frühreife«. Letztere, »welche die Erwachsenen spielten, sind, wenn auch gegen ihren Willen, sehr bald auch zu jungen Greisen geworden«. Den Stubenhockern prophezeite er, dass sie »in den Stürmen des Lebens nicht zu gebrauchen« seien.«242 Explizit in Bezug auf den Fußball stellte Heineken dem Stubenhocker den Fußballspieler gegenüber. »Man wird es den jungen Fussballspielern bald anmerken, dass sie an Mut, Entschlossenheit, Frohsinn und – was die Hauptsache ist – an körperlicher Kraft und blühender Gesundheit ihre Altersgenossen (insbesondere Stubenhocker) bald weit übertreffen.«243 Dem Fußballer, der im Spiel verschiedene Attribute hegemonialer Männlichkeit erworben hatte, stand in dieser Aussage also der Stubenhocker als antitypische Figur gegenüber. Eine solche typologische Differenz spitzte Hueppe in einem Aufsatz über Volksgesundheit durch Volksspiele von 1898 anhand einer Gegenüberstellung 241 | Schmidt, Ferdinand August: [Rezension zu:] Hueppe, Unterricht und Erziehung, in: KuG 14, 1905/1906, S. 373-377, Zitat S. 374, Hervorh., J.E. 242 | Vgl.: Heineken, Rasenspiele, S. VIf., alle Zitate ebd. 243 | Ebd., S. 18.
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zweier tödlicher Fußballunfälle rassentheoretisch zu. In einer ausführlichen Fußnote zur Gefährlichkeit kontrastierte er »echt germanische« und »slavisch-orientalische Auffassung von Gefahr«. Aufhänger waren zwei Unfälle beim Fußball mit jeweils tödlichem Ausgang. Bei einem Rugbyspiel in Virginia, so die erste Erzählung, sei ein Spieler tödlich verletzt worden. Aus diesem Grund sollte das Spiel verboten werden. Daraufhin meldete sich die Mutter des Verstorbenen zu Wort und erklärte, dass das Verbot keineswegs im Sinne ihres Sohnes gewesen wäre, denn seine »Freunde wissen, wie sehr er für die männlichen Sports schwärmte, ohne welche ein höherer Menschentypus nie erreicht werden kann«.244 Die Authentizität der Episode ist zumindest fragwürdig. Der Name des Verstorbenen, Gammon, hatte zeitgenössisch eine mit Spiel und Sieg verbundene Konnotation,245 was darauf hindeutet, dass es sich wohl eher um den sprechenden Namen einer Figur in einer Geschichte, als um einen ›Tatsachenbericht‹ handelte. Diesem Beispiel einer germanischen Auffassung von Gefahr stellte Hueppe die Geschichte eines Vaters aus Leipzig gegenüber, dessen Sohn bei einem Fußballspiel in Prag an einer »Darmzerreißung« gestorben sei. Daraufhin habe der Vater ein Verbot des Fußballs von den Behörden gefordert. Hueppes Resümee: »Keine Spur von einer höheren volklichen Auffassung, nur die blinde Furcht als Ratgeberin!«246 Auch diese Erzählung Hueppes erscheint eher unglaubwürdig. In keiner der Schriften zur Gefährlichkeit des Fußballs finden sich Hinweise auf den Tod eines deutschen Jungen – lediglich der bereits zitierte knappe Bericht über den Tod eines Jungen in der Schweiz. Es ist jedoch keineswegs das Ziel, diese oder andere Aussagen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Der vermutete Mangel an Authentizität macht auf etwas anderes aufmerksam, nämlich die typologische Produktivität des Sprechens über Männlichkeit. Es war schlichtweg irrelevant, ob die Geschichten Hueppes stimmten. Die Typen, von denen er berichtete, konnten erkannt werden. Hueppe bemühte in seinen rassentheoretischen Erwägungen explizit Anti- und Idealtypus von Männlichkeit. Letzterer verschränkte sich in amerikanischer Mutter und ihrem verstorbenem Sohn. Der Sohn wirkte durch seine Mutter über den Tod hinaus auf die Beibehaltung des Fußballspiels in Virginia zum Wohle des »volklichen« Fortschritts. Den Antitypus dazu bildete der Vater des verstorbenen Fußballers. Ängstlich, besorgt und vor allem ohne »volkliches« Bewusstsein hob er an, dem Volk einen Bärendienst zu erweisen, indem er das männliche Spiel verbieten lassen wollte. Eine Facette der typologischen
244 | Hueppe, Volksgesundheit durch Volksspiele, Fußnote, S. 12. 245 | Vgl.: Art. »Gammon«, in: A New English Dictionary on Historical Principles, Oxford 1888-1928, Bd. IV, Sp. 41. 246 | Hueppe, Volksgesundheit durch Volksspiele, Fußnote, S. 12.
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Produktivität bestand also darin, dass sie (zumindest) im Sprechen Antitypen erzeugen und erkennbar machen konnte. Für einen ungenannten Verfasser in der Spiel und Sport von 1893 entsprachen jene, die dem Fußball fernblieben, einem dezidiert effeminierten Typus. In der Zf TJs des gleichen Jahres war ein Bericht Alfred Mauls erschienen, in dem er seine Beobachtungen eines Rugby-Spiels wiedergab, welches »wegen seiner Roheit allgemeines Missfallen« erregt habe.247 Darüber echauffierte sich der ungenannte Autor in Spiel und Sport. Die »Geschmäcker« seien nun mal verschieden »und was dem einen sehr roh erscheint, ist dem anderen nur allzu sanft.« Der Fußball sei auf jeden Fall »kein läppisches Mädchenspiel«. Damit wiederholte er nicht etwa die Exklusion qua Geschlecht, sondern zog eine Grenze innerhalb der Gruppe derjenigen, die zum Fußball zugelassen waren. »Wem die Courage, Energie und Ausdauer fehlt, deren das Fussballspiel bedarf, der spiele nicht«. Diejenigen, die Fußball spielten, erziehe er jedoch zu solchen Männern, »wie wir sie heute brauchen«.248 Diese so gesetzte Differenz zwischen fußballabstinenten ›Mädchen‹ und jenen, die durch das Spiel zu wahren Männern würden, wiederholte Martin Berner 17 Jahre später auf fast identische Weise. »Der Zaghafte und Ängstliche bleibe lieber gleich fern. Für ihn taugt zumal kein Fußballspiel. Denn es ist zwar nicht roh und gefährlich, wie es verschrien ist, aber ein Fangeballspiel, wie es kleine Mädchen treiben, will es erst recht nicht sein.«249 Was die zitierten Sprecher über die figürlich verdichteten Antitypen andeuteten, überführten andere in ausdrückliche Adressierungen von Eltern und Lehrern. In einem Artikel aus dem DFB-Jahrbuch von 1910 lamentierte Arthur Mallwitz über die Eltern. Sportärzte wüssten, dass es nicht leicht sei »körperlich zurückgebliebene Jünglinge zu starken, gesunden Männern zu erziehen«. Ihnen sei aber ebenso bewusst, »daß dieser Weg durchaus gangbar und aussichtsreich ist.« Was die Sportärzte wüssten, hätten jene Eltern jedoch noch nicht erkannt, die zu »besorgt« seien und »deren ›Einzigster‹ oft nur gar zu sehr einem Treibhauspflänzchen ähnlich sieht!«250 Ein Jahr darauf begann Robert Hefner einen Artikel über Schule und Spiel mit einem verklärenden Rückblick auf seine eigene Zeit als Fußballer. Er gedenke dieser Zeit »in heißer, dankbarer Freude. Ohne sie wäre ich ein Stubenhocker und Muttersöhnchen geblieben.«251 Vor dem Hintergrund dieser implizierten Transformation vom Stubenhocker und Muttersöhnchen zum richtigen Mann plädierte er 247 | Maul, Alfred: Fußballwettspiel in Karlsruhe, in: Zf TJs 2, 1893/1894, S. 254. 248 | Vgl.: o.A.: o.T., in: Spiel und Sport 3, 1893, S. 478, Zitat ebd. 249 | Berner, Fußballspiel und seine Gegner, S. 57. Vgl. ferner: Paul, Das Fußballspiel, S. 6. 250 | Mallwitz, Arthur: Sporthygiene, in: DFB-Jahrbuch 7, 1910, S. 80-86, S. 84. 251 | Hefner, Robert: Schule und Spiel, in: DFB-Jahrbuch 8, 1911, S. 91-95, Zitat S. 91.
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anschließend an Schulbehörden und Lehrer den Fußball in jeder Schule zu fördern. Während das von Mallwitz erwähnte Treibhauspflänzchen als Figur eher Seltenheitswert hatte, tauchten der »Stubenhocker«,252 das »Muttersöhnchen«253 und andere, ebenfalls individuierte und negativ konnotierte Zukunftsformeln mehrfach auf – und zwar immer dann, wenn es darum ging deutlich zu machen, was denen, die nicht am Fußball teilnähmen, mittelfristig blühe. In einer ironisierenden Passage aus seinem Brief über das Fußballspiel wandte sich Robert Austerlitz an die Eltern. »Vorläufig können die besorgten Eltern vollkommen beruhigt sein; ihr Muttersöhnchen wird in seinen freien Stunden nie einen Fusstritt erhalten oder sich gar – Gott behüte! – den Arm verrenken; ob er sich hingegen in derselben Zeit nicht auf andere Weise etwa seinen ganzen Körper verrenkt?«254
Eine Antwort auf diese rhetorische Frage erschien Austerlitz offenbar nicht notwendig. Deren düstere Suggestion, die vor dem zeitgenössisch geteilten kultur- und zivilisationskritischen Imaginationshorizont im Grunde nur das Maß der ›Verrenkung‹ – vom Stubenhockertum, über das Lesen unangemessener Literatur255 bis hin zu sexuellen Ausschweifungen256 – offen ließ, genügte. Diesen Modus einer beunruhigenden Adressierung über den Rekurs auf figürlich verdichtete Antitypen bemühten auch andere Fürsprecher des Fußballs gut zwanzig Jahre später. Nachdem sie verschiedene Vorzüge aufgezählt hatten, wandten sich die Verfasser von Was wir wollen an »Eltern, Lehrer und Erzieher« und appellier252 | Neben den im Folgenden zitierten: Frankenberg, Richard: Über Vorzüge und Gefahren der Wettspiele. Vortrag gehalten im Altonaer Turnlehrerverein, in: KuG 15, 1907, S. 225-230; S. 244-248, hier S. 228; Koch, Konrad: Fußball, das englische Winterspiel, in: Pädagogisches Archiv 19, 1877, S. 161-176, hier S. 164; Münchener Rasensportverband (Hg.), erzieherischen Werte, S. 3. 253 | Neben den im Folgenden zitierten: Henning, Wesen und Wert, S. 780. 254 | RMA, Brief über das Fußballspiel, S. 2. 255 | Vgl. zur unangemessenen Lektüre: Norddeutscher Fußball-Verband (Hg.), Was wir wollen, S. 15. Dort wurden die Eltern aufgefordert statt des Fußballs die »Schundromane, die Rik Carter und Kriminalromane« zu bekämpfen, »die eine Seuche für unser Jungdeutschland bilden, die die Seelen unserer Jugend schmutzig machen und sie geistig in Gedanken und Taten hinabziehen in den tieffsten Schmutz.« Zitat ebd. 256 | Vgl. zu ›sexuellen Ausschweifungen‹ und ihre Abwehr durch die Teilnahme am Fußballspiel: Lämmermeyer, A.: Zwei sehr wichtige Gründe für den Sport, in: DSA/DSV/ DFB (Hg.), Sport in der Schule, S. 27-30, hier S. 29; Mallwitz, Deutsches Reichskomitee, S. 141; Schottelius, Sport und Hygiene, S. 103; Würtemberg, Sport und Kultur, S. 17.
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ten: »[L]aßt eure Kinder Fußball spielen, ihr handelt wohl daran und werdet die Früchte ernten.« Im Anschluss daran entkräfteten sie – fast schon prototypisch – die Gefährlichkeit des Fußballs. Dieser Vorwurf käme in der Regel von jenen, »die das Fußballspiel meist nur vom Hörensagen kennen«. Abgesehen von der angeblich nicht tragfähigen Grundlage dieser Behauptung, sollten sich die Leser zudem folgende Frage stellen: »Sollte es deutsche Väter und Mütter geben, die einen solchen Jammerlappen aus ihrem Sohn machen wollen, daß er sich vor einer Beule oder Schramme fürchtet?« Diese Frage konnte angesichts der negativen Implikation im Grunde nur verneint werden – eine solche Furcht konnten ›deutsche Eltern‹ doch nicht wirklich hegen. Sie beließen es jedoch nicht dabei, die Eltern lediglich anzusprechen, sondern kehrten die Gefährlichkeit des Fußballs in ein mythisiertes, anthropologisches Produktionsprinzip von Männlichkeit um. Nur der Antitypus zu dieser Männlichkeit, der Jammerlappen, fürchte sich vor Gefahr – »echte Jungen wollen nicht in Watte gewickelt werden«, sondern kämpfen. Die Zeiten, in denen sich der »junge Germane [...] Kraft und Gewandtheit im Waffenspiel, im Schwerttanz, auf der Jagd nach Bär und Ur« erwarb, seien vorbei, so die eher skurrile, in eine mythisierte germanische Vorzeit verweisende Begründung. Daher müssten sich die Jungen einen neuen Ort zum Kampf suchen. »Für sie ist der Kampfplatz das Fußballfeld, das gibt ihm [sic] Kraft und Energie, läßt ihn [sic] stark, gesund und lebensfroh werden.«257 Vier Jahre später suchte Alfred Rahn in der Einleitung seines Fußballsport eine besorgte Mutter in einer Art fiktivem Zwiegespräch vom Wert des Fußballs zu überzeugen. »›Warum aber gerade mit den Beinen und Füßen? Das ist so gewöhnlich!‹ – wirft eine empfindsame, um das Wohl ihres Sohnes allzu besorgte Mutter ein.« Dem könne man entgegenhalten, dass »die völlige Streichung der Hände als Spielorgane bei allen Fußballspielern die Umsteuerung in ihren ganzen Nervenbahnen und eine allmähliche Beruhigung der aggressiven Tendenzen des Oberkörpers zur Folge« habe. Auf dieser – gelinde gesagt ungewöhnlichen – These baute Rahn dann sein Plädoyer für den Fußball auf. »Also, verehrte Frau, wenn Sie aus Ihrem etwas verzärtelten Jungen nicht nur einen Kerl, sondern auch einen ordentlichen, wohlerzogenen Kerl machen wollen, der auch im Ernstfall durch lange Übung die Fähigkeit erworben hat, den Arm ruhig unten zu behalten und nicht gleich drauf zu schlagen, dann lassen Sie ihn Fußball spielen.«258
257 | Vgl.: Norddeutscher Fußball-Verband (Hg.), Was wir wollen, S. 13-16, Zitate ebd. 258 | Rahn, Der Fußball, S. 11.
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Gerade weil also im Spiel der Gebrauch der Arme und Hände verboten war und dies durch das Spiel eingeübt werden könne, würde aus dem verzärtelten Jungen irgendwann ein beherrschter Mann. Die typologische Produktivität bestand aus zweierlei Facetten. Zum einen wäre der Antitypus ohne das Kriterienbündel hegemonialer Männlichkeit nicht denkbar gewesen und vice versa. Zum anderen erzeugte die häufige Verwendung von Antitypen eine Adresse. Eltern, Lehrer, Erzieher und andere waren angehalten, sich für das Fußballspiel auszusprechen, und deutsche Jungen dazu Fußball zu spielen, andernfalls drohe ›Verweichlichung‹ oder schlimmeres. Indem der Antitypus stets mit einem Fernbleiben vom Fußball in eine enge Beziehung gesetzt wurde, galt die Absenz nicht nur vor dem Hintergrund der Problematisierung von Gesundheit als absurd, sondern zugleich auch als Schädigung der männlichen Nation und ihrer Zukunft. Auch wenn die Argumentationsfiguren variierten – von den ganz simplen Aufzählungen der Attribute von Männlichkeit, über ängstliche Eltern bis hin zu kompensatorischen, mythisierend-anthropologischen Begründungsmustern: Das Prinzip einen unmittelbaren Handlungsbedarf durch die typologische Produktivität zu erzeugen, bildete ein wichtiges Muster, um die Behauptung einer männlichkeitserzeugenden Dimension des Fußballs argumentativ zu stabilisieren. Diese Dimension betraf vor allem zwei Facetten – Mut und Selbstbeherrschung – und konstituierte das Fußballspiel als Ort einer Modellierung von Männlichkeit.
6.2 »Werft die Münze in den Tiegel«: Die Modellierung von Männlichkeit im Spiel 1911 setzte sich Lulu von Auenhag im DFB-Jahrbuch mit dem Verhältnis von Sport und Sportlichkeit auseinander. Im Laufe ihrer Erörterungen kam sie auf »Gefährlichkeit und Roheit« zu sprechen. Diese lägen ihrer Meinung nach eher im »Pseudosport«, aber selbst wenn auch im richtigen Sport Gefährlichkeiten und Rohheiten vorkämen, »so wollen wir uns dessen freuen,« denn: »Nur im Feuer stählt sich das Eisen, und ein fester Charakter will gut geschmiedet sein. Hier ist mit zarten Puppenspielen nichts auszurichten. Werft die Münze in den Tiegel! Hart sollen die Klingen sich treffen. Laßt die Funken sprühen. Wir wollen keine Memmen haben, wir brauchen Männer!«259
Auch von Auenhag bemühte mit der »Memme« einen Antitypus zum zeitgenössischen Kriterienbündel hegemonialer Männlichkeit und schrieb sich entsprechend in den Bereich der beunruhigenden Typologien ein. Des Wei259 | Zitate: Auenhag, Sport und Sportlichkeit, S. 17, S. 22, Hervorh. i. Orig.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
teren galt ihr das Fußballspiel – in Anlehnung an einen Aphorismus Johann Wolfgang von Goethes – als Tiegel, in welchem Jungen zu Männern geprägt würden. Am Rande sei bemerkt, dass der Rekurs auf diesen Aphorismus ein weiteres Mal die dezidiert bürgerliche Dimension des Sprechens über Fußball unterstreicht. Des Weiteren – und dieser Aspekt soll im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen – bündelte die Allegorie des Tiegels die zeitgenössisch gängige Konzeption des Fußballs als »Strukturübung« in Männlichkeit. Anhand dieses Konzepts Pierre Bourdieus hat der Soziologe Michael Meuser die Aneignung eines »männlichen Geschlechtshabitus« näher beleuchtet. Dabei hat er auf den eminent produktiven Charakter riskanter Praktiken respektive »Risikohandelns« aufmerksam gemacht. Indem männliche Jugendliche an solchen Praktiken partizipieren, so Meusers Schlussfolgerung, eignen sie sich »die generativen Regeln der – allerdings ›angemessenen‹ – Herstellung sozialer Situationen an.«260 Eine solche Aneignung versprachen auch die Fürsprecher des Fußballs im Deutschen Kaiserreich und griffen dabei erneut auf dessen Gefährlichkeit zurück. Anders als im Kontext der Gesundheit ging es jedoch nicht darum, die Gefährlichkeit des Fußballs zu entkräften. Zwar galt ein gefährlicher Gebrauch des Körpers auch in diesem Kontext als verwerflich, doch die dem Spiel immanente Gefahr firmierte zugleich als generatives Prinzip bestimmter Attribute hegemonialer Männlichkeit: Mut und Selbstbeherrschung. Dieser Bereich des Sprechens über Fußball und Männlichkeit unterhielt enge Beziehungen zu zeitgenössisch sehr gängigen Konzeptionen des Verhältnisses zwischen innen und außen des Individuums. Exemplarisch seien hier die Überlegungen Wilhelm Roux‹ genannt, der diese Verhältnis bereits Anfang der 1880er Jahre aus darwinistischer Perspektive beleuchtet hatte.261 Am Ende seiner Betrachtungen über den Kampf der Theile im Organismus folgerte er:
260 | Vgl. grundlegend: Meuser, Michael: Riskante Praktiken. Zur Aneignung von Männlichkeit in den ernsten Spielen des Wettbewerbs, in: Bilden, Helga/Dausien, Bettina (Hg.), Sozialisation und Geschlecht, S. 163-178, Zitate S. 164, S. 166, S. 165, S. 175. In ausdrücklichem Bezug auf Fußball und Männlichkeit: Ders.: It’s a Men’s World. Ernste Spiele männlicher Vergemeinschaftung, in: Ders./Klein, Gabriele (Hg.), ernste Spiele, S. 113-134. Vgl. ferner: Ders.: Strukturübungen. Peergroups, Risikohandeln und die Aneignung des männlichen Geschlechtshabitus, in: Flaake, Karin/King, Vera (Hg.), Männliche Adoleszenz, S. 309-323. 261 | Vgl. zu Roux: Bühler, Benjamin: Lebende Körper. Biologisches und anthropologisches Wissen bei Rilke, Döblin und Jünger, Würzburg 2004, S. 48-59; Gradmann, Bazillen, Krankheit, Krieg, S. 82; Stoff, degenerierte Nervenkörper, S. 227f.
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Roux‹ erklärtes Ziel in dieser Arbeit war es, eine auf den Prinzipien der Mechanik beruhende Erweiterung der Zweckmässigkeitslehre anzustellen;263 und eine seiner Schlussfolgerungen betraf, wie im obigen Zitat ausgeführt, das Prinzip der Bewährung in äußeren Bedingungen. Diese Bewährung verweist ihrerseits wiederum zurück auf eines der wesentlichen Prinzipien von Strukturübungen, nämlich die spielerische Einübung von Mitspielfähigkeit für die »ernsten Spiele des Wettbewerbs«.264 Eine solche spielerische Einübung hatte Hermann Raydt 1889 in seinen Beobachtungen englischer Schulspiele formuliert. In diesen Spielen u.a. Fußball, sei zu beobachten, »wie musterhaft« es der Schüler verstünde, »die Leidenschaften, welche in ihm aufsteigen wollen, zu beherrschen«. Das formative Moment der Selbstbeherrschung durch Versuchung führte er kurz darauf als eine Art Allgemeinplatz ein. Die »Wahrheit, daß derjenige Mann, höher zu schätzen ist, welcher sich in Versuchungen bewährt hat, als der, welchem es gelungen ist, denselben stets ängstlich aus dem Wege zu gehen, läßt sich gerade auf diesen Fall anwenden.«265 Die Ausformung und Aneignung männlicher Attribute bildete also nicht nur, wie bereits anhand der figürlich verdichteten Antitypen deutlich geworden ist, eine Art Grundbedingung von Männlichkeit, sondern wurde zugleich funktional auf das spätere Leben als Mann bezogen. Im Folgenden wird der zweite Faden jenes Diskursstranges, anhand dessen das Verhältnis zwischen Fußball und Männlichkeit argumentativ stabilisiert wurde, näher untersucht und dabei der Fokus auf die Modellierung mutiger und beherrschter Männer durch den Fußball als Strukturübung gerichtet. Sowohl Mut als auch Selbstbeherrschung hatten mit dem Antitypus als negativem Korrelat je identische logische Bezugspunkte. Das zentrale generative Prinzip für den Erwerb von Mut vermuteten einige Fürsprecher in der dem Fußball immanenten Gefahr Verletzungen zu erleiden. Jammerlappen, Muttersöhnchen und weitere Antitypen entstünden hingegen erst durch die Vermeidung dieser Gefahr. Generatives Prinzip der Selbstbeherrschung bildete die Gefährlichkeit der im Spiel geweckten Leidenschaften, welche dem fuß-
262 | Roux, Wilhelm: Der Kampf der Theile im Organismus. Ein Beitrag zur Vervollständigung der mechanischen Zweckmässigkeitslehre, Leipzig 1881, S. 238. 263 | Vgl.: Bühler, lebendige Körper, S. 53f. 264 | Meuser, riskante Praktiken, S. 164. 265 | Beide Zitate: Raydt, Englische Schulbilder in deutschem Rahmen, S. 128.
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ballabstinenten Stubenhocker oder dem »in Watte gepackten« Jungen wohl nie widerfahren würden.
Die »erziehliche Gefahr«: Strukturübungen des Mutes Fußball, darin waren sich seine Fürsprecher einig, bedeutete Kampf. In ihrem Referat über einen allgemein verbindlichen Spielnachmittag auf einer Versammlung des ZA von 1904 zählten Ernst Kohlrausch und Raydt Fußball zu den »bedeutenderen Kampfspiele[n]«.266 In seinem Ko-Referat über die Erziehung zur Selbstständigkeit auf dem siebten Deutschen Kongreß für Volks- und Jugendspiele von 1905 begann Raydt sein Lob auf Kampfspiele mit einer Hervorhebung des Fußballspiels267 und Georg Blaschke nannte es 1913 ein »Kampfspiel, das der germanischen Kampfnatur entspricht«.268 Vor allem in diesem Kontext verbanden sich seine Gefährlichkeit und seine Charakterisierung als Kampf zu einem bestimmten Argument für den Fußball. Durch die dem Spiel immanente Gefahr würde Mut erzeugt. In seinen sozial- und rassenhygienischen Ausführungen zu Volksgesundheit durch Volksspiele benannte Hueppe die Gefahr als Weckruf für die »in uns schlummernden Kräfte«. Es sei »eben für einen gesunden Menschen ein unabweisliches Bedürfnis, den Mut zu bethätigen, einer gewissen Gefahr entgegenzutreten. Das ist männlich, das ist deutsch.«269 Dem stimmte Richard Zander in seinen Vorträgen über Leibesübungen von 1900 mit Verweis auf Hueppe und ausdrücklichem Bezug zur Gefährlichkeit zu.270 Ohne eine so pointiert nationale Färbung wie Hueppe rekurrierte auch Wilhelm Dorn auf das Verhältnis zwischen Gefahr und Mut, welches er während seiner Zeit an englischen Schulen beobachtet hatte. Er lobte, dass »der Engländer [...] der Ausbildung des Körpers einen sehr weiten Raum in der Schule« gewähre. In diesem Kontext hob er zu einer Kritik am Schulturnen an. Anders als in Deutschland betriebe man in England »nicht in erster Linie Übungen des Turnens, das mit seinem Drillmässigen der Individualität des Einzelnen nicht genügend Spielraum« beließe, sondern Spiele. Diese seien nicht nur besonders gesundheitsförderlich, sondern »stählen ferner den Mut des Knaben angesichts körperlicher Gefahren und lehren ihn, ohne Murren manchen Schmerz zu ertragen.«271 Mit einer nahezu identischen Aussage hatte Johannes Vollert bereits zehn Jahre zuvor 266 | Ders./Kohlrausch, allgemein verbindlicher Spielnachmittag, S. 107. 267 | Vgl.: Referat Raydts, abgedr. in: Ders., Siebenter Deutscher Kongreß für Volksund Jugendspiele, S. 222-225, hier S. 224. 268 | Blaschke, Fußball, S. 124. 269 | Alle Zitate: Hueppe, Volksgesundheit durch Volksspiele, S. 12, S. 14. 270 | Vgl.: Zander, Leibesübungen, S. 142. 271 | Dorn, Wilhelm: Meine Erfahrungen an englischen Schulen, abgedr. als Beilage zum Jahresbericht der Ober-Realschule Heidelberg, Heidelberg 1904, S. 1-50, alle Zita-
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einen englischen Lehrer zitiert. Die Schüler »entwickeln Mut angesichts einer körperlichen Gefahr«.272 Fußball als eines der Kampfspiele erwies sich also durch das ihm eigene Kampfprinzip als gefährlich und mithin muterweckend. Angesichts seiner Charakterisierung als Kampfspiel konnten diese Ausführungen über das Verhältnis zwischen Gefahr und Mut zwar anschlussfähig für das Sprechen über den Fußball sein, potenziell aber auch andere Spiele betreffen. Eine deutliche Beziehung zwischen Fußball, Mut und Gefahr stellte hingegen Sparbier her. In einem Vortrag vor Lehrern, die 1905 an einem der Spielkurse des ZA in Altona teilnahmen, plädierte er dafür, dass der Fußball unbedingt auf den »Erziehungsplane« gehöre. Schließlich gäbe es »bei keinem anderen Spiele eine so energische Betätigung jugendlicher Wagelust und mutigen Drauflosgehens« wie beim Fußball.273 Fünf Jahre zuvor hatte Koch das Verhältnis zwischen Mut und Gefahr ausführlich bestimmt. In einem seiner Hauptwerke, Die Erziehung zum Mute durch Turnen, Spiel und Sport von 1900, erläuterte er das Konzept der »erziehliche[n] Gefahr« des Fußballs. Das Kapitel über Spiele begann er mit dem Barlauf. Es handle sich dabei zwar um ein sehr schönes Spiel und die Gegner könnten bei demselben kollidieren, jedoch läge darin keine »erziehliche Gefahr«. Im Fußball und Schleuderball hingegen würde genau diese zugelassen, »damit die Übenden sie ins Auge fassen und sie zu überwinden lernen zur Stärkung ihres Mutes«.274 Explizit in Bezug auf Fußball und in einer Umkehrung der Gefährlichkeit erläuterte er: »Gegner berufen sich auf seine Gefährlichkeit. Vielleicht könnte man diese mit mehr Recht als eine Empfehlung für ihn geltend machen. Das männliche Geschlecht will männliche Spiele, um sich auszutoben, will Gefahren, nicht bloß ideelle, sondern wirkliche Gefahren bestehen, will seine Mannhaftigkeit damit beweisen, daß es Schmerzen nicht scheut und nötigenfalls verbeißen kann.«275
Koch kehrte an dieser Stelle den Vorwurf also um. Gefahr im Fußball sei kein Problem. Vielmehr beglaubigten und erzeugten das Bestehen von Gefahren im Spiel sowie die Möglichkeit, Schmerzen zu erleiden und zu ertragen, eine muterprobte Mannhaftigkeit. Ferner sei Fußball auch nicht gefährlicher als
te S. 41. Vgl. ferner die positive Rezension Möllers. Möller, Karl: [Rezension zu:]: Dorn: Erfahrungen an englischen Schulen, in: KuG 13, 1904/1905, S. 284-286. 272 | Vollert, bemerkenswerte Worte, S. 94. 273 | Vgl.: Sparbier, Spielbetrieb und Spielfertigkeit, Zitate S. 76. 274 | Koch, Konrad: Die Erziehung zum Mute durch Turnen, Spiel und Sport. Die geistige Seite der Leibesübungen, Berlin 1900, S. 89. 275 | Ebd., S. 95f.
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Schleuderball. Dennoch sei die Gefahr »groß genug, um den Spielern Gelegenheit zu geben, ihren Mut zu zeigen.«276 An wenigen Stellen scheint dieses Verhältnis zwischen Mut, Gefahr, Männlichkeit und Fußballer auch in jenen Texten auf, die Fußballer implizit oder explizit adressierten. Das betrifft zum einen die Differenz zwischen Fußballern und Nicht-Fußballern, wie sich an einem Vortrag Richard Frankenbergs vor Altonaer Turnlehrern über die Vorzüge und Gefahren von Wettspielen von 1907 zeigen lässt, in welchem er sich vor allem auf den Fußball bezog. »Nur energische, entschlossene, mutige Männer können beim Wettspiel Erfolge erzielen. Stubenhocker, Angstmeier, Drückeberger sind nirgends schlechter am Platze als beim Wettspiel.«277 Gut zehn Jahre zuvor hatte ein gewisser ›Girr‹ gedichtet: »Niemals dürfen wir versagen,//Ängstlich oder mutlos sein«.278 Auch in den Praxisanleitungen Fabers und Sparbiers wurde Mut als zwingende Voraussetzung jeden Fußballspielers gesetzt. So ließ Faber die Leser seines Textes wissen, dass ein »feiger Spieler […] das Spiel beiseite lassen« solle, denn »er wird nie ein richtiger Fußballer werden.«279 In beiden Fällen wiederholte sich eine Abwertung derjenigen, die dem Fußball fernblieben. Sparbier formuliete es als Imperativ: »Sei kein Weichling und verstelle Dich nicht, wenn du zufällig einen Tritt oder Stoß bekommst, besonders nicht zu dem Zwecke, die schlechten Leidenschaften der Zuschauer zu wecken oder vom Schiedsrichter einen Freistoß zu erschwindeln; Fußball ist ein männliches Kampfspiel; zeige männlichen Mut und Entschlossenheit; verbeiße den Schmerz über ein Fußballweh.«280
Was ›Girr‹, Faber und Sparbier als Anforderungen an den einzelnen Fußballer formulierten, meinte der ungenannte Verfasser eines Spielberichts von 1902 in seiner negativen Ausformung beobachtet zu haben. Er berichtete über ein Spiel zwischen Magdeburg und Halle. »Nach der Pause verliessen zwei Spieler der Hallenser angeblich wegen erhaltener Verletzungen das Spielfeld«. Sie hielten den Magdeburgern vor, besonders rücksichtslos gespielt zu haben. Daran mochte der ungenannte Verfasser nicht glauben und warf den Hallensern vor, dass »Mutlosigkeit […] dieses Verhalten am besten kennzeichnen« würde. Abschließend ergänzte er, »dass man dadurch in Weissenfels«, wo das Spiel statt-
276 | Ebd. 277 | Frankenberg, Vorzüge und Gefahren, S. 228. 278 | Girr: Hoch dem ›Fussball‹, in: Der Fussball 2, 1895, S. 143. 279 | Faber, Fußballsport, Zitate S. 35f. 280 | Sparbier, Fußball-Merkblatt, S. 2, Hervorh. i. Orig.
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gefunden hatte, »dem Fussballsport wenig genützt hat.«281 Die Demonstration mangelnden Mutes bildete an dieser Stelle somit nicht nur einen Indikator von Unmännlichkeit, sondern zugleich schlechte Werbung für den Fußball. Sechs Jahre später monierte ein ebenfalls ungenannter Autor im DFB-Jahrbuch, »daß das Können der deutschen Mannschaften auf einem gewissen toten Punkte angelangt ist.« Dies hätten nicht zuletzt die Spiele gegen ungarische und englische Auswahlmannschaften gezeigt. Bei dem Spiel gegen Ungarn habe man »eine gewisse Verweichlichung der Spielweise« sehen können, die sich vor allem daran zeige, »daß ein kunstgerechtes Rempeln und Sperren in den Grenzen des Erlaubten nicht gepflegt wird.« Anhand seines Urteils über die Spielweise gegen die englische Auswahlmannschaft wird der hier angedeutete schmale Grat zwischen Rohheit und mutigem Spiel noch deutlicher. In englischen Zeitungen wurde »hervorgehoben, daß der beste und charakteristischste Zug des Spieles das gänzliche Fehlen jedes ungehörigen und unfairen Spieles war«, was für ihn »wiederum ein Beweis« war, »daß unsere Mannschaft vielleicht etwas zu weich gespielt hat.«282
»Gelegenheit zu Rohheiten«: Strukturübungen in Selbstbeherrschung Selbstbeherrschung,283 ohne welche »wahre Männlichkeit«284 nicht vollständig wäre, wie es Dietrich von Hülsen im DFB-Jahrbuch von 1912 formulierte, war neben Mut das zweite prominente Attribut des zeitgenössischen Kriterienbündels hegemonialer Männlichkeit innerhalb des Quellenkorpus. Mal wurde explizit von Selbstbeherrschung gesprochen, mal galt sie als eine Facette von Sittlichkeit oder Tugendhaftigkeit; immer aber wurde sie als positive Eigenschaft des Mannes beziehungsweise als notwendig zu erwerbende Eigenschaft des Jungen für sein späteres Leben als Mann hervorgehoben. Bereits im Vorwort zu seiner Spielesammlung Hinaus zum Spiel von 1883 hatte Wilhelm Krause verschiedene Vorzüge der Bewegungsspiele im Allgemeinen aufgezählt und dabei neben der »Gewöhnung an Geselligkeit, Gehorsam [und] Geistesgegenwart« auch die »Selbstbeherrschung« erwähnt.285 281 | Vgl.: Sitta: Magdeburger F.C. Viktoria (1896) schlägt den F.C. v. J. 1896 Halle a. S., um den Ehrenpreis der Spielbereinigung in Weissenfels mit 9:1, in: Sport im Wort 3, 1902, S. 514f., alle Zitate ebd. 282 | Alle Zitate: o.A., deutsche Saison 1908/1909, S. 92. 283 | Vgl. zum folgenden Gedankengang auch die Ausführungen in: Eiben, Jörn: To play by the Book. Der Fußballer in Praxisanleitungen, in: Haasis, Lucas/Rieske, Constantin (Hg.), historische Praxeologie, S. 105-121, hier v.a. S. 108-110. 284 | Hülsen, Fußballsport und Wehrfähigkeit, S. 126. 285 | Krause, Hinaus zum Spiel, S. 5. Vgl. zur Ausbildung von Selbstbeherrschung durch Bewegungsspiele neben den im Folgenden zitierten: ferner: Koch, Konrad: o.T.
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Gut zehn Jahre später lobte Koch in diesem Zusammenhang die Spiele an englischen Schulen u.a. den Fußball. Das englische Spielwesen, so strich er in seinem gleichnamigen Aufsatz von 1895 heraus, erziehe zu »freiwillige[r] Unterordnung und strenge[r] Selbstzucht«, die »von höchstem Werte für die Charakterentwicklung« seien.286 Eine ausführliche Aufzählung zahlreicher Attribute hegemonialer Männlichkeit in Verbindung mit dem Fußballspiel findet sich auch in Ernst Würtembergs Artikel über Sport und Kultur. »Ausdauer und Geduld, Selbstbeherrschung, Selbstzucht üben, veredelt den Charakter. Charakterfehler, Ecken und Kanten schleift der junge Mensch nirgends besser ab als im Spiel, in der ständigen Reibung mit seinesgleichen.«287 Mit solchen und ähnlichen Aufzählungen von Vorzügen des Bewegungsspiels im Allgemeinen oder dem Fußballspiel im Besonderen mochte man zwar deren Relevanz für eine Erziehung zum richtigen Mann behaupten – ein zwingendes Argument bildeten solche Aufzählungen jedoch nicht. Zudem, darauf verwiesen auch seine Fürsprecher, sei es mit der Selbstbeherrschung nicht immer so weit her. Der Gegenpol zur Selbstbeherrschung verdichtete sich in den Topoi Rohheit und übertriebene Leidenschaft. Im Unterschied zur potenziellen Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit durch rohe Spielweise, die als Argumente für die Gefährlichkeit angeführt wurden, firmierten Rohheiten zugleich als Indikatoren für eine mangelnde Selbstbeherrschung. Besonders deutlich wird dies in den Stellungnahmen der »Fachmänner«, die Emil von Schenckendorff 1893/1894 gebeten hatte, sich über das Für und Wider des Rugby-Fußballs zu äußern.288 Fritz Keßler, Vorstand der Königlichen Turnlehrer-Anstalt in Stuttgart, antwortete, dass er nur »Fußball ohne Aufnehmen üben« lasse, da nach seinem »Dafürhalten« Rugby zu gefährlich und roh sei. Ähnlich argumentierten Karl Schröter und Hugo Rühl.289 Moritz Eitner antwortete, ähnlich wie auch Koch, Kohlrausch und Gustav Weck, dass Rugby nicht roh sei. Es könne »allenfalls behauptet werden, dasselbe könne durch rohe Menschen in Roheit ausarten.«290 Nicht die Praktik sei also roh, sondern höchstens ihre ohnehin schon rohen Mitspieler. in: DTZ 40, 1895, S. 101-102; Möller, Karl: Die körperliche Erziehung der Schuljugend durch Turnen und Jugendspiele, in: KuG 13, 1904/1905, S. 17-27; Zander, Leibesübungen, S. 22f. 286 | Koch, englisches Spielwesen, S. 31. 287 | Würtemberg, Sport und Kultur, S. 17f. Vgl. ferner: Henning, Wesen und Wert, S. 780. 288 | Schenckendorff/Versch., einfacher oder gemischter Fußball, S. 338. 289 | Vgl.: Ebd. S. 338-340, Zitate S. 338. 290 | Vgl.: Ebd. S. 340-344, Zitat S. 343. Die Beteiligten kamen letztlich zu keinem eindeutigen Ergebnis und das Thema der Rohheiten in Bezug auf die Frage ›Rugby oder Association‹ tauchte immer wieder mal auf. Vgl. u.a.: Koch, Konrad: Das Fußballspiel,
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Andere Mitglieder des ZA gingen noch einen Schritt weiter. Galt der Fußball im DFB-Lied als Möglichkeit ›Mut und Tugend fest im Blut zu verwurzeln‹, so befürchteten andere, dass er auch Leidenschaften und Wildheit im Individuum verstetigen könne. Hermann Schnell warnte, dass die »Begierde, unter allen Umständen Sieger in einem Wettspiel zu bleiben, auch bei uns schon wiederholt Anlaß zu rohen Ausschreitungen gegeben haben.«291 Frankenberg griff diese Befürchtung in seinem Vortrag über Vorzüge und Gefahren der Wettspiele auf. Er strich die durch Wettspiele angereizte »Steigerung der Spielfertigkeit bis zur höchsten Stufe der Vollendung« heraus. Als Beispiel dienten ihm Fußballspieler, bei denen er beobachtet haben wollte, dass sie, »um jedes Anrempeln der Gegner [...] zu vermeiden, den sich ihnen entgegenstellenden Spieler einfach übersprangen.«292 Unabhängig davon, ob es sich um eine eher hölzerne Formulierung oder eine merkwürdige (weil recht unwahrscheinliche) Beobachtung gehandelt haben mag: Frankenberg war eindeutig kein ausgewiesener Gegner des Fußballs und meinte die Vermeidung von Rohheiten durch Ausbildung einer besonderen Geschicklichkeit beobachtet zu haben. Und gerade weil er die Wettspiele für einen wichtigen Teil der Erziehung hielt, erläuterte er im zweiten Teil seines Vortrags die »Klippen und Abwege [...], die auf diesem Gebiete Gefahren oder Verirrungen bringen können.« Geradezu prototypisch hob er anschließend zu einem kurzen Referat über Unfälle in den USA und Großbritannien an, um vor diesem Hintergrund drei Gefahrenkomplexe zu benennen: Gesundheit, Sitte und soziale Gefahren. Ersterer deckte sich mit den bereits angeführten Gefahren für die körperliche Unversehrtheit; sittliche und soziale Gefahren bezogen sich auf die geweckten Leidenschaften. Die »Sucht nach dem Sieg«, erläuterte Frankenberg, könne dermaßen übermächtig werden, »daß der Spieler nicht mehr Herr seiner selbst ist.« Diese sittliche Gefährdung führe dann zu einer sozialen Gefahr. Es sei möglich, dass »die Ausübung des Amtes als Spieler zur Hauptsache, zum Brennpunkt ihres Innenlebens« geriete, und Fußballer »leicht ihren wirklichen Beruf darüber vernachlässigen«.293 Bezüglich der sittlichen Gefahr argumentierte Karl Möller in einem Aufsatz über die Frage nach einem geeigneten deutschen Nationalspiel ganz ähnlich. Wesentlicher Vorzug des Fußballspiels sei, »daß es die Spieler zum kühnen Draufgehen, zum mutigen Einsetzen der ganzen Persönlichkeit, auch bei heftigem Anprall erzieht«. Allerdings läge genau darin auch eine Gefahr, denn in: JfVJ 8, 1899, S. 210-214; Paul, Das Fussballspiel, S. 6-9; Rauch, Else von: Anleitung für das Lawn Tennis, Cricket-, Fußball-, Deutsches Ball- und Base-Ball-Spiel, Berlin 1905, S. 82; Sturm, Fußball ohne und mit Aufnehmen. 291 | Schnell, Handbuch der Ballspiele, S. 29. 292 | Frankenberg, Vorzüge und Gefahren, Zitate S. 225, S. 227. 293 | Ebd., Zitate S. 245, S. 247.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
der Junge werde »allzu sehr vom Zuge dieses Spiels mit fortgerissen; die Leidenschaft, die in der Hitze des Gefechts von dem jugendlichen Spieler Besitz ergreift, bleibt als etwas Dauerndes haften«.294 Derartigen Sorgen um einen Verlust der Selbstbeherrschung im Spiel, die sich bis auf das gesamte Leben auswirken könne, hielten Koch und Martin Berner ein juridisches Argument entgegen: Der Fußball zwinge durch seine Regeln zur Wahrung der Beherrschung. Koch hatte dies in einem Überblicksartikel über die Entwicklung des Fußballs im Jahre 1897 kurz erwähnt. Gerade bei jungen Leuten sei es nicht verwunderlich, wenn der eine oder andere in einem solchen Kampfspiel die Beherrschung verlöre. Daher sollten Spielleiter und Schiedsrichter strengstens darauf achten, dass die Regeln eingehalten würden.295 Sehr viel deutlicher wurde in diesem Zusammenhang Berner in einem Beitrag über das Fußballspiel und seine Gegner. Er ärgerte sich über einen Lexikonartikel, welcher dem Fußball Rohheiten und Ausschreitungen zur Last legte. Diesem »lächerliche[n] Bild« hielt er entgegen, dass jede regelwidrige Handlung vom »Schiedsrichter sofort geahndet« werde.296 Während diese beiden Positionen – ›Fußball kann zu einem Verlust von Selbstbeherrschung führen und verrohen‹ versus ›dies ist durch strenge Regel nicht möglich‹ – unvereinbare Standpunkte bildeten, beschritten die meisten Fürsprecher einen argumentativen Mittelweg, dessen Fluchtpunkt die Behauptung einer dem Fußball immanenten Gefahr bildete. Im Unterschied zur erziehlichen Gefahr, die über das Ertragen von Schmerzen zum generativen Prinzip von Mut stilisiert wurde, galt die permanent vorhandene Gefahr von Regelüberschreitungen und Beherrschungsverlust im Spiel als Eckpfeiler der Ausbildung von Selbstbeherrschung. Damit schrieben sich seine Fürsprecher in ein wesentlich älteres, zeitgenössisch aber immer noch wirksames Modell, Männlichkeit und Selbstbeherrschung zu denken, ein. In der zeitgenössischen Rezeption der Arbeiten Johann Joachim Winckelmanns (1717-1768), die laut der Historikerin Ulrike Brunotte eine prominente Position einer bestimmten, nämlich ästhetisierten, Facette hegemonialer Männlichkeit im 19. Jahrhundert bildeten, hoben die Zeitgenossen im Kaiserreich dessen Laokoon-Interpretation hervor. »Nach Winckelmann zeigt Laokoon noch im verzweifelten Todeskampf mit den Schlangen keine ›Wut‹, sondern ist voller Selbstbeherrschung«.297 294 | Vgl.: Möller, Karl: Ein deutsches Nationalspiel, in: KuG 12, 1903/1904, S. 97104, hier S. 103, Zitate Ebd. 295 | Vgl.: Koch, Konrad: Das Fußballspiel, in: JfVJ 7, 1898, S. 205-208, hier S. 207. 296 | Berner, Fußballspiel und seine Gegner, Zitate S. 57f. 297 | Brunotte, zwischen Eros und Krieg, S. 23. Vgl. einschlägig zur Winckelmann-Rezeption in ihrem Verhältnis zu Männlichkeit: Mosse, Bild, S. 41-54.
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Paradigmatisch in Bezug auf den Fußball formulierte Willi Wolfradt in einem Artikel über Sportliche Erziehung in der Zeitschrift Der Rasensport von 1911, dass »jede rohe Ausschreitung im Spiel sich durch Schädigung der eigenen Partei sofort rächt.« Deshalb würden »Selbstzucht und Selbstbeherrschung gerade durch die Gelegenheit zu Roheiten entwickelt. So ist aus praktischen Gründen ein Gebot der Fairneß entstanden, daß jeder echte Sportsmann zu erfüllen bestrebt ist«.298 Fünfzehn Jahre zuvor hatte der bereits zitierte ›Vater‹ in seinem Mahnwort aus der Spiel und Sport genau so argumentiert. Im Unterschied zu »anderen Spielen«, bei denen »alles vermieden wird, was Leidenschaften entfachen kann«, fordere der Fußball »diese geradezu heraus und erwarte von seinen Jüngern, dass sie sich bezähmen und sich jederzeit bewusst sind, dass sie Männer sind resp. werden wollen«.299 Diese These zum Verhältnis zwischen möglicher Gefahr und der Erziehung zur Selbstbeherrschung vertrat auch Albert Otto Paul. Eingangs seiner Praxisanleitung von 1905 ließ er seine Leser wissen, dass gerade im Fußball »leicht erregbare Temperamente im Spieleifer Ausschreitungen begehen« könnten. Allerdings stünden dem die strengen Regeln sowie Kapitän und Schiedsrichter gegenüber, die die Einhaltung der Regeln gewährleisteten. Genau dieses Spannungsverhältnis sei erzieherisch. »In diesem Gegensatze liegt ein erziehliches Moment, das nicht unbeachtet bleiben soll: Dadurch, daß man eine leicht erregbare Natur einer solchen Versuchung aussetzt und ihr andererseits strenge verbietet, dieser Versuchung zu erliegen, lehrt man sie Selbstbeherrschung.« 300
Auch Felix Plaut, Privatdozent für Psychiatrie an der Universität München, betonte in einem Gutachten, dass dieses Spannungsverhältnis eine »Erziehung des Willens« leiste. »Bei zweckmässiger Leitung wirkt das [Fußball-]Spiel, gerade weil es zwingt, starke Leidenschaften in jedem Moment beherrschen zu lernen, in hohem Grade der Zügellosigkeit entgegen«.301 Während Frankenberg und andere befürchteten, im Fußball würden Leidenschaften geweckt, die schwerlich wieder einzuhegen wären, und während Berner und andere dieser Befürchtung die strengen Regeln entgegensetzten, betonten u.a. Wolfradt und Plaut dieses Spannungsverhältnis als formatives Moment von Selbstbeherrschung. Genau hier müsse Selbstbeherrschung durch Bewährung gegenüber gefährlichen Leidenschaften entstehen. 298 | Wolfradt, Sportliche Erziehung, S. 426. 299 | ›Vater‹, ernste Mahnung. 300 | Vgl.: Paul, Das Fussballspiel, S. 6-9, Zitate S. 6f., S. 9. 301 | Abgedr. in: Münchener Rasensportverband (Hg.), erzieherischen Werte, S. 28f., Zitat S. 28.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
Was die Fürsprecher des Fußballs auf einer primär programmatisch-argumentativen Ebene als Vorzüge der Praktik anführten, formatierte eine weitere Facette der Beobachtung von Fußballspielen, die sich jedoch nicht so deutlich in den Spielberichten niederschlug, wie etwa der Diskursstrang, der das Verhältnis zwischen Fußball und Gesundheit betraf. Hermann Wickenhagen freute sich 1895, dass er bei den 1894 stattgefundenen Wettspielen schleswig-holsteinischer Schüler in Oldesloe »ritterliche Mäßigung einerseits, vollsten Kraftaufwand andererseits« beobachtet habe. Diese Wahrnehmung der charakterlich-erzieherischen Dimension von Fußballwettspielen bestätigten ihm die anwesenden Lehrer in einem Fragebogen. Keiner der 31 Befragten habe einen »Mangel an Kameradschaftlichkeit, Streitsucht, Roheit bei den Wettspielen« festgestellt.302 In einem Bericht über den Fußball-Städtewettkampf Berlin-Leipzig hob auch Hermann Raydt zu einem ausführlichen Lob auf die Vorzüge des Fußballs an, zu denen er auch den Erwerb völliger Selbstbeherrschung zählte. Allerdings bemängelte er an diesem konkreten Spiel, dass es »zeitweilig zu erregt« gewesen sei. »[E]s wurde nicht immer ›fair‹ gespielt, wie der technische Ausdruck lautet.«303 Ähnlich wie im Kontext des Trainings und der ergänzenden Übungen waren die meisten Spielberichte defizitär orientiert. Nur selten wurde ausdrücklich auf praktische ›Beweise‹ von Selbstbeherrschung hingewiesen. Wenn Selbstbeherrschung zur Sprache kam, dann meistens in ihrer Negation als Beherrschungsverlust. Dies deutete der Verfasser eines knappen Berichts über ein Spiel zwischen zwei Leipziger Mannschaften in der Spiel und Sport von 1893 an. Zwar wolle er von einer »eingehende[n] Kritik« absehen, »da einzelne Spieler noch zu jung sind, um das Werthvolle einer sachlichen Kritik schon mit der Ruhe eines erfahrenen Spielers verdauen zu können«. Gleichzeitig unterließ er es aber nicht, die solchermaßen infantilisierten Fußballer zu ermahnen. Die Kritik »sei bis zum nächsten Spiele vertagt und wir hoffen, dass sich bis dahin auch mancher ›junger [sic] Fuchs‹ das ausmerzt, was er heute im Feuer des Kampfes unfreiwillig verschuldet. Kaltes Bluth thut immer gut!«304 Aber auch erfahrene Spieler konnten offenbar die Beherrschung verlieren, was der Verfasser eines Berichts über ein Spiel zwischen den beiden Berliner Mannschaften Victoria und Preussen in der Zeitschrift Sport im Wort von 1900 rügte. Das Spiel sei generell wenig »angenehm« gewesen, aber dass »ein alter Spieler wie Kralle sich hinreissen liess einen Gegner zu schlagen und zu bedrohen, ist ebenso bedau302 | Wickenhagen, Hermann: Wettspiele schleswig-holsteinischer Schüler in Oldesloe 1894, in: JfVJ 4, 1895, S. 142-147, Zitate S. 142, S. 145. 303 | Raydt, Hermann: Fußball-Städtewettkampf Berlin-Leipzig, in: KuG 14, 1905/ 1906, S. 382-384, Zitate S. 382, S. 384. 304 | o.A.: Fußballwettspiel in Leipzig, in: Spiel und Sport 3, 1893, S. 163f., Zitat S. 164.
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erlich wie tadelnswert und ohne Frage ein Mangel an Erziehung.«305 Auch vier Jahre zuvor war ein ungenannter Frankfurter Fußballer in einem Spiel gegen eine Stuttgarter Mannschaft handgreiflich geworden und »hatte einem Stuttgarter Spieler vor zahlreichem Publicum einige Ohrfeigen verabreicht.«306 Unbeherrschtheiten blieben ein relativ konstantes Thema innerhalb des gesamten Untersuchungszeitraums, der sich wie schon in den eher programmatischen Ausführungen, nicht selten im Rohheitstopos als Indikator unbeherrschten Spielens verdichtete. In der handschriftlichen Wettspielchronik des KFV, in welcher nur sehr kurze Bemerkungen zu den einzelnen Spielen verzeichnet wurden und die vermutlich nur einem sehr beschränkten Adressatenkreis in dieser Form zugänglich war, vermerkte der unbekannte Verfasser allein für den Monat Dezember des Jahres 1911 drei rohe Spiele307 und in der Monatsschrift des KFC von 1915/1916 rügte ›Alaaf‹, dass »unter einem Teil der Fußballspieler noch ein kleines Geschlecht lebt.« Dies machte er an dem »Rufen und Schreien der Spieler des Ballspielclubs«, gegen den die KFCler gespielt hatten, fest. Dieses Geschrei habe »keine Ruhe aufkommen« lassen und »steckte leider auch den einen oder anderen unserer Spieler an«. Zudem hätten sich gegen Ende des Spiels »einige Rempeleien« zugetragen.308 Die von ›Alaaf‹ angedeutete ›Ansteckung‹ hatte Wolfradt in seinem bereits zitierten Artikel etwas deutlicher formuliert. Es sei nicht weiter verwunderlich, dass »hier und dort ein Spieler, der eben alles andere, nur kein Sportsmann ist, roh alle Fairneß außeracht [sic] läßt.« Irgendwann würde solch ein »Bursche« jedoch sicherlich disqualifiziert und, so fährt Wolfradt in geradezu eugenischer Diktion fort, »für immer unschädlich« gemacht. Viel problematischer sei jedoch die meist erfolgende Reaktion der Gegenspieler. »Das schlimme, wenn auch menschlich begreifliche, dabei ist nur, daß der betroffene Gegenspieler sich in seiner Wut zu revanchieren beginnt, und der Schluß ist eine allgemeine Balgerei. Da fehlt eben die sportliche Erziehung; nicht bei dem Patron, der
305 | Spectator: ›Preussen‹ gegen ›Victoria‹, in: Sport im Wort 3, 1902, S. 174f., Zitat S. 174. 306 | Die Redaction: Unangenehme Mitteilungen, in: Spiel und Sport 6, 1896, S. 1207. 307 | Chronik Karlsruher FV, November 1911-Januar 1912. 308 | Vgl.: Alaaf: KSC 99 I gegen Kölner Ballspielclub I 3:1, in: Monatsschrift KFC 9, 1916/1917, S. 21-22. In dieser Saison hatte sich der KFC in KSC umbenannt. Vgl. zu weiteren Beobachtungen von Rohheiten: Spund: ›Hamburg-Altona‹ gegen ›Bremer Sport-Club‹, in: Sport im Wort 2, 1901, S. 652; Wagner, Gerhard: Sport-Club ›Germania‹, Hamburg, gegen B.F.C. Preussen, in: Sport im Wort 2, 1901, S. 166.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«? mit dem rohen Spiel anfing, sondern bei dem, der nicht die Selbstbeherrschung besaß, unanständiges Benehmen mit anständigem zu beantworten.« 309
Genau eine solche sportliche Erziehung legten 1914 offenbar die Spieler des I. Fußball-Klub aus Pforzheim in einem Spiel gegen die Tottenham Hotspurs an den Tag. Für den Mai hatten die Pforzheimer die Londoner zu einem Spiel eingeladen, um den Spielern und »dem Publikum ein erstklassiges Spiel vor Augen zu führen.« Allerdings kam es nach dem Spiel zu tumultartigen Szenen, bei denen das Pforzheimer Publikum den Londoner Spielern zu Leibe rückte. In ihrer Auf klärung dieser Vorfälle, die durch die englische und deutsche Presse gegangen waren, wiesen die Pforzheimer Funktionäre darauf hin, dass die Londoner recht »unfair« gespielt hätten. »Zum Beispiel war ein mit Konsequenz durchgeführter Trick der Engländer der, über den Ball hinweg auf die Beine des Gegners zu schlagen und in unmerklicher Weise atemnehmende Rippenstöße auszuteilen.« Allerdings, und das interessiert an dieser Stelle sehr viel mehr, »ließen sich unsere Spieler zu keinerlei Tätlichkeiten hinreißen, auch dann nicht, als der hünenhafte Torwächter Joyce den Spieler Meier, der ohne Ball war, ohne jede Veranlassung und in spielwidriger Weise um den Körper fasste und gegen die Barriere warf.«310
Kontur 2: Mutige und beherrschte Männer Wer weiblichen Geschlechts war, sollte nicht Fußball spielen; Menschen männlichen Geschlechts hingegen schon. So einfach lautete die zeitgenössische Formel für das Geschlecht des Fußballs. Der Diskursstrang, der das Sprechen über Fußball, Fußballer und Männlichkeit strukturierte, war jedoch etwas komplexer, als die auf der binären Geschlechterordnung beruhenden Schließung des Fußballs zugunsten Menschen männlichen Geschlechts. Innerhalb des geschlechtlich geschlossenen Raums, den der Fußball im Kaiserreich bildete, sollten Fußballer zwei Attribute hegemonialer Männlichkeit erwerben. Ähnlich wie im Kontext der Gesundheit bildete Gefahr auch hier einen Ausgangspunkt. Dieser formte jedoch keine Facette des Akzeptabilitätsproblems, auf dessen Grundlage jeder einzelne Fußballer verantwortlich dafür wurde, die Ungefährlichkeit der Praktik zu beglaubigen. Vielmehr avancierte Gefahr zum privilegierten Referenten, mittels dessen das Fußballspiel auf zweierlei Weise als Strukturübung gerahmt wurde. Erstens bildete sie das generative Prinzip von Mut. Indem jeder einzelne die Angst vor schmerzhaftem Körperkontakt überwinde, so die Argumentation, würde der Mut geübt. Zweitens 309 | Alle Zitate: Wolfradt, Sportliche Erziehung, S. 426. 310 | Hoffmann, E./Lichtenberger, A./Müller, E.: Zur Aufklärung, in: Der Rasensport 12, 1914, S. 483.
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galt auch die immanente Gefahr des Beherrschungsverlusts als produktiv. Da jeder im Spiel potenziell die Beherrschung verlieren könne, galt diese Form der Bewährung in äußeren Umständen als Strukturübung in Selbstbeherrschung. Diese Kontur des Fußballers als mutigem und beherrschtem Mann korrespondierte zum einen mit dem zeitgenössischen Kriterienbündel hegemonialer Männlichkeit und bildete zum anderen einen Bewertungsmaßstab des Tuns jedes einzelnen Fußballers. Wenngleich nicht dermaßen deutlich ausgeprägt wie im Kontext der Gesundheit, so lassen sich dennoch Bezüge auf Mut und Selbstbeherrschung in den Spielberichten finden. Beherrschung und Mut meinten die Zeitgenossen an einzelnen Fußballern ebenso beobachten zu können, wie deren Antipoden Feigheit und Beherrschungsverlust. In ihrer Negation wiederholten sich Teile des Kriterienbündels in verschiedenen figürlich verdichteten Antitypen, deren Suggestivkraft darin bestand, Eltern, Lehrern und anderen vor Augen zu führen, was denen blühe, die sich furchtsam von Bewährungen in äußeren Umständen fernhielten. Jammerlappen und Muttersöhnchen bildeten insofern Modi beunruhigender Adressierungen und Konturen des ›Nicht-Fußballers‹. Letzteres trug dazu bei, die Kontur des Fußballers zu schärfen. Mutige und selbstbeherrschte Fußballer standen in dieser Logik mutlosen, effeminierten, körperlich zurückgebliebenen und sexuell potenziell anormalen Jungen gegenüber – diese Antitypen könnten aber, so die Suggestion, im Tiegel des Fußballspiels zu ›wahren Männern‹ geprägt werden.
7. »E in starkes B and «: F ussball und M ilitärtauglichkeit »Es braust ein Ruf, wie Donnerhall! Bei Gott, das klingt wie ernster Schall! Das Spiel hört auf, der Kampf setzt ein; ›Wir wollen ganze Männer sein!‹ Lieb Vaterland, magst ruhig du sein, Jetzt formen sich zum Ernst die Reih’n Fest stets und treu ein deutsches Volk zu sein!
Wir zeigen, was das Spiel gelehrt, Daß deutsches Blut sich noch bewährt! Wie Eisen steh’n wir Hand in Hand, Es gilt des Deutschen Vaterland! – Lieb Vaterland, magst ruhig du sein, Jetzt formen sich zum Ernst die Reih’n Fest stets und treu ein deutsches Volk zu sein!« 311 311
Diese Verse erschienen unter der Überschrift In ernster Stunde! auf dem Titelblatt des Rasensports vom 5. August 1914, also wenige Tage nach Beginn des Ersten Weltkriegs. Grundlage bildete das im Kaiserreich sehr bekannte Lied
311 | o.A.: In ernster Stunde!, in: Der Rasensport 12, 1914, Titelblatt, Nr. 32.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
Die Wacht am Rhein Max Schneckenburgers von 1840.312 In der älteren Historiographie wären diese Zeilen sicherlich in Beziehung zum »rauschhaften Augusterlebnis« gesetzt worden. Diese These einer reichsweiten Kriegseuphorie ist bereits vor einiger Zeit dahingehend entkräftet worden, dass sie primär ein Phänomen des (groß-)städtischen Bürgertums war.313 Angesichts der sozialen Dimension des Fußballs als primär bürgerliches und städtisches Phänomen überrascht es allerdings wenig, dass in diesen Versen eine fast schon spürbare Euphorie anklingt. Vermutlich ergriff eine solche Euphorie auch einige Mitglieder des KFC. Zumindest heißt es in dessen Monatsschrift, dass viele der »Clubgenossen« bei »Erscheinen dieser Clubzeitung« bereits zur »Fahne geeilt« seien. Dieser Hinweis stammt aus einem knappen Artikel, in welchem sich der Vorstand unter der Überschrift Das Vaterland ruft! an die Clubmitglieder wandte. »In diesen schicksalsschweren Stunden, in denen es sich um das Bestehen des deutschen Vaterlandes, deutscher Kulturarbeit und deutschen Wesens handelt, werden diejenigen unserer Freunde, die draußen vor dem Feinde stehen, dort das, was sie in der Schule des K.F.C. gelernt haben, eiserne Disciplin und Kameradschaft, in die Tat umsetzen.« 314
Im Unterschied zum euphorischen Ton aus dem Rasensport hob der Vorstand des KFC in seinem Appell an die Clubmitglieder die geradezu existenziell bedrohliche Lage für »Vaterland«, »deutsches Wesen« und »deutsche Kultur« hervor. Herauszupräparieren, ob der Erste Weltkrieg seitens der Fürsprecher des Fußballs vornehmlich euphorisch oder ernst wahrgenommen wurde, ist vermutlich schwierig und in jedem Fall nicht Ziel der Untersuchung. An den zitierten Passagen interessieren vielmehr die Hinweise auf Beziehungen, die zwischen Fußball und Krieg sowie zwischen Fußballer und Soldat innerhalb
312 | Vgl. zur Prominenz der Wacht am Rhein im Kaiserreich: Grosch, Nils: ›Heil dir im Siegerkranz!‹ Zur Inszenierung von Nation und Hymne, in: Fischer, Michael/Senkel, Christian/Tanner, Klaus (Hg.), Reichsgründung 1871, S. 90-102. Der Vorlagencharakter wird an den jeweils letzten drei Versen deutlich. 313 | Vgl. zu diesem Aspekt explizit: Verhey, Jeffrey: Der ›Geist von 1914‹ und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000, S. 190f. Ferner zur Entkräftung des ›Augusterlebnisses‹: Ullrich, Volker: Die nervöse Großmacht. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs 1871-1918, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1997, S. 263ff. Vgl. ferner mit regionalem Schwerpunkt: Geinitz, Christian: Kriegsfurcht und Kampfbereitschaft. Das Augusterlebnis in Freiburg. Eine Studie zum Kriegsbeginn 1914, Essen 1998. 314 | Der Vorstand: Das Vaterland ruft!, in: Monatsschrift KFC 6, 1913/1914, S. 128129, Zitate S. 128.
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jenes Diskursstranges eingerichtet wurden, welcher das Sprechen über Fußball und Militärtauglichkeit strukturierte. Neben der deutlich soldatischen Grundierung des Männlichkeitskonzepts (»Wir wollen ganze Männer sein«), fällt zunächst auf, dass mit dem Beginn des Krieges – zumindest laut dem Lied – das Spiel aufhöre und der Kampf beginne. Das ist insofern bemerkenswert, als Fußball und auch andere Spiele und Sportarten immer wieder als Kampf oder Krieg geschildert wurden. Zweitens galt der Fußball in beiden Passagen als Bildungsraum für Soldaten. Im Lied heißt es, dass der Fußball etwas »gelehrt« habe, was nun, da der Kampf beginne, gezeigt werden könne. Auch in der Monatsschrift findet sich dieses Bildungskonzept. Jene Vereinsmitglieder, die nun bereits im Kriege seien, würden zeigen, was sie »in der Schule des KFC gelernt« hätten. Im Unterschied zum Lied konkretisierte der Vorstand des KFC jedoch diese Lehrinhalte mit den Begriffen Disziplin und Kameradschaft. Kurz nach dieser Passage ergänzte er zudem die körperliche Ausarbeitung zum Soldaten im und durch den Fußball, die im Krieg geradezu einem Lackmustest unterzogen würde. »Ihr Jungens, […] jetzt gilt es zu zeigen, daß die körperliche Ertüchtigung, die Ihr bei uns erstrebt und erlangt habt, Euch und unserm Volke zu Nutzen kommt!«315 Dieses enge, vornehmlich bildungsräumliche Verhältnis zwischen Fußball und Militär strich auch der Offizier Dietrich von Hülsen in einem Artikel über Fußballsport und Wehrfähigkeit im DFB-Jahrbuch von 1912 heraus und bezeichnete den Fußball als »Vorschule der Dienstpflicht«. Am Ende seiner Ausführungen fasste er die Beziehungen zwischen Fußball und Militär zusammen. »Ein starkes Band umschlingt Fußballsport und Wehrfähigkeit, ein Band, das sich um so mehr festigen wird, als der Fußballsport im Heeresgetriebe seinen Einzug hält.«316 Bevor die diskursive Knüpfung dieses Bandes näher untersucht wird, soll zunächst ein Blick auf die Verhältnisse zwischen Fußball und Militär vor und während des Ersten Weltkrieges geworfen werden, um das Band auf institutioneller Ebene und in seiner Ausformung zu bestimmen.
7.1 Lose Fäden feste knüpfen: Verflechtungen von Fußball und Militär Formal wurde der Fußball, neben zahlreichen weiteren Bewegungsspielen, erst 1910 durch zwei Turnvorschriften (je eine für die Infanterie und die Marine) Teil des Militärs.317 In der Vorschrift für die Infanterie heißt es zu den Spielen, dass diese »gerade in den ersten Wochen zur Hebung der Gewandt315 | Ebd., S. 129. 316 | Hülsen, Fußballsport und Wehrfähigkeit, Zitate S. 126, S. 128. 317 | Vgl.: o.A.: Turnvorschrift für die Infanterie, Berlin 1910, S. 65-69; o.A.: Turnvorschrift für die Kaiserliche Marine, Berlin 1910, S. 102-105.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
heit und Beweglichkeit der Rekruten beitragen.«318 Abgesehen davon waren die Ausführungen ausschließlich funktional auf die jeweiligen Anforderungen der einzelnen Praktiken bezogen. Im Militär-Wochenblatt von 1911 begrüßte ein ungenannter Autor die Turnvorschrift, denn sie bringe »frischeres Leben in unseren militärischen Turnbetrieb«. Allerdings beklagte er, dass man ihr bisher nur zögerlich folge, weil man durch »sportsmäßige Uebertreibung Gefahren für die Disziplin befürchte«. Dem sei keineswegs so und man solle den »Versuch wagen, durch Spiele, Wettkämpfe, Wettbewerbe nicht nur die körperliche Ausbildung zu fördern«, sondern diese auch als ein »außerordentlich wirksames Erziehungsmittel zur Disziplin« wahrzunehmen. Er selbst hatte in seinem Bataillon Wettkämpfe in allerlei Spielen und Sports u.a. auch Fußball, durchführen lassen und sei von dem Ergebnis begeistert gewesen.319 Mit explizitem Bezug auf den Fußball schilderte Löffler in seinem bereits zitierten Bekehrungsbericht die Versuche seiner Einführung. »Anfangs ohne sachverständige Anleitung, ohne einen Stamm gut ausgebildeter Spielleiter, sahen sich die Truppenteile bei der Einführung und Ausführung der Spiele auf die kurzen Bemerkungen der Turnvorschrift, auf ausführlichere Beschreibungen und auf die erste Hilfe einzelner Lehrer aus Sportvereinigungen, im übrigen aber auch ihre eigenen Versuche und Erfahrungen angewiesen.« 320
Löfflers Ausführungen zeigen, dass sich im Militär ein ähnlicher Prozess wie an den Schulen der frühen 1880er Jahre vollzog: Ergänzend zum Turnen wurden Bewegungsspiele eingeführt. Der Unterschied zwischen 1910 und den frühen 1880er Jahren bestand darin, dass es bereits eine Vielzahl von Praktikern (»einzelne Lehrer aus Sportvereinigungen«) und ein umfangreiches Korpus an Praxisanleitungen (»ausführlichere Beschreibungen«) gab. Trotz dieses umfangreichen Korpus erschienen 1911 jedoch drei Praxisanleitungen, die sich entweder im Titel oder im Vorwort321 ausdrücklich auf die Turnvorschrift bezogen und somit eine gewisse Signifikanz für den militärischen Sportbetrieb behaupteten. Ziel war es »Anleitung durch praktische Ratschläge« zu geben, wie es Walter Busolt formulierte. In Bezug auf die Spiele im Allgemeinen erklärte er, dass diese »unmittelbar die körperliche Gewandtheit und geistige 318 | o.A., Turnvorschrift für die Infanterie, S. 3. 319 | Vgl.: G.: Das Turnen im Heere, in: Militär-Wochenblatt 96, 1911, Sp. 1415-1417, Zitate Sp. 1415f. 320 | Löffler, Wie ich zum Fußballspiel bekehrt wurde, S. 158, Hervorh., J.E. 321 | Vgl.: Busolt, Walter: Anleitung für den Betrieb des Turnens und der Spiele in der Armee nach der Turnvorschrift vom 3. Mai 1910, Berlin 1911; Kohlrausch, Ernst: Militärisches Spielbuch. Bearbeitet auf Grundlage der neuen Turnvorschrift für die Infanterie, Leipzig 1911. Im Vorwort: Donalies, Sport und Militär, S. 7.
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Gewecktheit« förderten sowie den »Willen«, sich dem gemeinsamen »Zweck unterzuordnen.« Busolt schilderte nicht näher, wie einzelne Spiele – etwa der Fußball – auszuführen seien, sondern verwies nur auf die Spielregeln des technischen Ausschusses.322 Auch Hans Donalies wollte mit seiner Praxisanleitung »die künftige Ausgestaltung unseres Militärsports unterstützen«,323 setzte sich aber deutlich ausführlicher mit dem Fußball auseinander, dem er ohnehin einen hohen Stellenwert beizumessen schien. Er widmete ihm die mit Abstand umfangreichste Sektion und das Titelbild zierten ikonische Insignien des Fußballs: ein Tor und ein Fußballschuh. Das feste Band zwischen Fußball und Militär wurde also ab 1910 durch die offizielle Einführung des Fußballs auf institutioneller Ebene geknüpft – einige Fäden hatte es jedoch schon deutlich früher gegeben. Laut einem Artikel im English Chat der Spiel und Sport sollte 1893 angeblich eine Einführung des Fußballspiels in einem Berliner Regiment kurz bevorstehen. Allerdings sind weitere Einzelheiten unbekannt und es finden sich weder Hinweise zur Umsetzung noch zu dem fraglichen Regiment.324 Im selben Jahr bemühte sich auch Paul Jestram, der seinen Militärdienst in Thorn ableistete, in dem dortigen Artillerie-Regiment »Fussball einzuführen«, wie die Spiel und Sport in der Paraphrase eines Briefs Jestrams zu berichten wusste. »Mehr und mehr interessieren sich schon, wie wir aus seinem Brief ersehen, sowohl Vorgesetzte als auch Kollegen für unseren schönen Sport.« Neben diesem geglückten Versuch freute die Redaktion zudem, dass Jestram schrieb, die Spiel und Sport »circulier[e] sehr viel in seinem Regiment« und würde »stets mit großer Spannung erwartet und gelesen.«325 Sieben Jahre später berichtete die Sport im Wort über den Kaiser als Förderer des Fußball-Spiels. Aufhänger war ein Artikel aus der Magdeburgischen Zeitung über die Kaisertage in Altengrabow, einem Truppenübungsplatz etwa 50km entfernt von Magdeburg. In diesem Artikel berichtete der Reporter über ein »unter Teilnahme der Schwadronchefs betriebene[s] Fussballspiel der Mannschaften«. Das Fußballspiel sei »erst jüngst auf persönliche Initiative des Kaisers bei den Truppen eingeführt« worden. Am Schluss der Meldung führte der Verfasser schließlich die Vorzüge des Fußballs für die »körperliche und geistige Spannkraft der Männer« an. Angesichts dieser Meldung jubelte die Redaktion der Sport im Wort, dass dem Kaiser »unser heissester Dank« dafür gebühre, »mit alten Vorurteilen gebrochen und unserem edlen Sport die Aussicht auf
322 | Vgl.: Busolt, Anleitung, S. 38, Zitate ebd. 323 | Donalies, Sport und Militär, S. 7. 324 | Vgl.: o.A.: English Chat, in: Spiel und Sport 3, 1893, 14.1.1893, o.S. 325 | Vgl.: J.G.: o.T., in: Spiel und Sport 3, 1893, 316f., alle Zitate ebd.
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eine glänzende Entwickelung eröffnet« zu haben.326 Bereits 1900 bestanden also nicht mehr nur einzelne Fäden, die auf Initiative Einzelner geknüpft wurden, sondern der Kaiser selbst hatte, zumindest in Altengrabow, den Fußball eingeführt. Ob es sich dabei um eine dauerhafte Einrichtung oder eher um eine vorübergehende Förderung handelte, lässt sich anhand der Quellenlage nicht beurteilen. Flächendeckend wurde der Fußball mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit (noch) nicht in das Militär eingeführt, auch wenn der Artikel diesen Eindruck erweckt. Auch in anderen Regimentern wurde deutlich vor 1910 Fußball gespielt. Laut Donalies’ Überblick zur Entwickelung unseres Militärsports aus dem DFBJahrbuch von 1911 spielten die Mannschaftsdienstgrade der Marine bereits seit 1896 und die des Heeres seit 1907 Fußball.327 Zumindest Letzteres kann angesichts der geschilderten Bemühungen Jestrams in Thorn und des Fußballspiels in Altengrabow nicht stimmen und muss deutlich rückdatiert werden. Unabhängig von der genauen Datierung kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass bereits vor den Militär-Turnvorschriften zumindest einzelne Fäden des Bandes zwischen Fußball und Militär geknüpft wurden. Trotz dieser bereits vor 1900 bestehenden Beziehungen lassen sich ab 1910 sehr viel engere Verbindungen zwischen Fußball und Militär konstatieren. Seit diesem Jahr enthielten die DFB-Jahrbücher mindestens einen, meist mehrere Artikel von Offizieren.328 Ferner verfassten hochrangige Generäle – Generalfeldmarschall von Haeseler, Admiral von Prittwitz-Gaffron und Kriegsminister von Falkenhayn329 – Widmungen, die den DFB-Jahrbüchern vorangestellt waren. Spätestens zu Beginn des Ersten Weltkrieges war das Band zwischen Fußball und Militär auch jenseits der institutionellen Ebene, jenseits von Vorschrif326 | Vgl.: J. Sch.: Der Kaiser als Förderer des Fußball-Spiels. Ein Soldaten-Wettspiel auf persönliche Initiative Sr. Majestät, in: Sport im Wort 1, 1900, S. 350, alle Zitate ebd., Hervorh. i. Orig. 327 | Vgl.: Donalies, Hans: Die Entwickelung unseres Militärsports, in: DFB-Jahrbuch 8, 1911, S. 145-157, hier S. 145f. Siehe ferner: Ders., Sport und Militär, S. 88-92. 328 | 1910: Sichhart: Der Fußballsport im deutschen Heere, in: DFB-Jahrbuch 7, 1910, S. 63-69. 1912: Hülsen, Fußballsport und Wehrfähigkeit. 1911: Donalies, Entwickelung; Löffler, Wie ich zum Fußballspiel bekehrt wurde. 1913: Kortegarn, Walter: Betrachtungen zur Fußballmeisterschaft des Gardekorps, in: DFB-Jahrbuch 10, 1913, S. 91-97; Maltzahn, Curt von: Unsere Flotte und ihr Sportbetrieb, in: DFB-Jahrbuch 10, 1913, S. 98-103; Münter, Max: Volkstüchtigung, in: DFB-Jahrbuch 10, 1913, S. 56-66; Reichenau, Walter von: Im gesunden Leib eine gesunde Seele, in: DFB-Jahrbuch 10, 1913, S. 44-47; Ders.: Der Spielgedanke, in: DFB-Jahrbuch 10, 1913, S. 161f. 329 | Von Haeselers und von Prittwitz Gaffrons Widmungen finden sich in: DFB-Jahrbuch 7, 1910, S. 7-8. Von Falkenhayns Widmung findet sich in: DFB-Jahrbuch 10, 1913, S. 13-15.
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ten und lobenden Worten gefestigt. Peter Tauber hat in seiner Dissertation ausführlich und kenntnisreich, wenn auch mit kleineren inhaltlichen Schwächen, ausgeführt, dass der Fußball im Ersten Weltkrieg die »den Sportalltag der Soldaten prägende Sportart« wurde.330 Dieser Befund lässt sich anhand eines Artikels Carl Diems in der Sport im Bild von 1917 bestätigen. »Besonders ist es das deutsche Volksspiel, das Fußballspiel, das sich der Liebe unserer Feldgrauen erfreut.«331 Einen interessanten Einblick in den Fußball während des Krieges gibt ein Artikel des Romanautors Bernhard Kellermann, der seit Beginn des Ersten Weltkrieges als Kriegsberichterstatter in Diensten des Berliner Tageblatts stand.332 In seinem Artikel von 1915 schilderte er zunächst die Trostlosigkeit des Stellungskrieges. »Etwas aber gibt es was den Soldaten wieder auf die Beine stellt, nachdem er Wochen und Monate im Graben lag: das ist der Sport. Heute wird noch viel zu wenig Gewicht darauf gelegt.« Er war »bei einer Feldfliegerabteilung, wo sie in jeder freien Stunde Fußball spielten« und dabei fiel ihm die »prächtige Laune und Haltung der Leute« auf. Ihm selbst sagte vor allem das bunte Durcheinander auf dem Spielfeld zu, welches einen deutlichen Kontrast zum Grau und Braun des Krieges setze. »Sie spielten, wohlgemerkt, nicht in Feldgrau, sondern in farbigen Trikots! Und gerade darauf kam es an! Für die Augen, die seit Monaten nichts als Lehm, Stacheldrähte und Feldgrau, keine Farben mehr sahen, für diese Augen (selbst für die meinen) waren diese buntgestreiften Trikots, dieses wimmelnde Blau, Rot, Grün, Gelb eine Erlösung, ein Fest!« 333
Entgegen der vor dem Ersten Weltkrieg mehrfach gemachten Vorhaltungen ob der bunten Kleidung von Fußballern,334 fand Kellermann im Krieg also durch 330 | Vgl. ausführlich: Tauber, Peter: Vom Schützengraben auf den grünen Rasen. Der Erste Weltkrieg und die Entwicklung des Sports in Deutschland, Münster u.a. 2008, Zitat S. 35. Eine dieser inhaltlichen Schwächen besteht darin, dass Tauber behauptet, der Fußball habe »soziale Schranken teilweise durchbrochen« und in den Arbeitervierteln hätten die Jungen auf den Straßen Fußball gespielt. Dabei verweist er auf Eisenberg, English Sports, die an den von Tauber angegeben Stellen jedoch eindeutig eine »ausgeprägte Fußballabstinenz der Arbeiter« konstatiert. Vgl.: Eisenberg, English Sports, S. 181-191, Zitat S. 182. Vgl. zu sportlichen Wettkämpfen »an der Heimatfront und im Feldheer« während des Ersten Weltkriegs ferner: Ebd., S. 315-322. 331 | Diem, Carl: Sport im Krieg, in: Sport im Bild 23, 1917, S. 100f., Zitat S. 100. 332 | Vgl.: Art. »Bernhard Kellermann«, in: Neue deutsche Biographie, Berlin 1953-laufend, Bd. 11, S. 470f, hier S. 471. 333 | Alle Zitate: Kellermann, Bernhard: Sport und Krieg, in: Berliner Tageblatt, abgedr. in: Vereinszeitung AFC 9, November/Dezember 1915, S. 16-17, Hervorh. i. Orig. 334 | Vgl. Kapitel 8.1.
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das bunte Durcheinander eine Art ›sinnliche Erlösung‹ vom Grau und Braun des Krieges. Kellermanns Bericht, der in der Vereinszeitung des AFC abgedruckt wurde, bildet jedoch einen Einzelfall. Vom Krieg erfuhren die Leser der Vereinsschriften in der Regel durch Feldpostbriefe und Postkartengrüße.335 So schrieb Helmut Pohl an die Monatsschrift des KFC, dass »Zoll um Zoll mit vielem Blut erkauft werden« müsse.336 Fußballer, die nun als Soldaten am Krieg teilnahmen, unterrichteten jedoch nicht nur ihre Vereinskameraden über ihre Kriegserlebnisse, sondern versuchten auch im Krieg über das sportliche Geschehen ›in der Heimat‹ auf dem Laufenden zu bleiben. Anhand zweier Feldpostbriefe aus der Monatsschrift des KFC wird ersichtlich, dass sowohl Otto Marum als auch Theo Humbach die Monatsschrift zumindest noch im Herbst 1914 erhielten, worüber sich beide ausdrücklich freuten.337 Andere Fußballer wurden offenbar nicht über den heimatlichen Sportbetrieb informiert. Im Rasensport von 1914 schrieb W. Winkelmann einen Appell an die deutschen Fußballer und bat darum, »uns doch Nachrichten aus der Heimat über sportliche Ereignisse zu geben.« Für ihn und die anderen »8 versammelten Fußballer des V.B.B.«, d.h. dem Verband Berliner Ballspielvereine, seien solche Nachrichten »ein gutes Zeichen aus der Heimat.« Neben der Bitte um Kriegsnachrichten forderte er daher dazu auf, ihnen »die Ausgaben des Rasensport seit der Mobilmachung und sonstige Fußballnachrichten« zu schicken.338 Aus diesen Fußballnachrichten hätten Winkelmann und andere erfahren, dass sich vieles verändert hatte und doch alles gleich geblieben war. In den Vereinsperiodika konstatierten verschiedene Autoren einen Bruch, der durch den Beginn des Ersten Weltkrieges markiert worden sei. »Auch hier, wie bei allem, der starre Gegensatz. Spielbetrieb vor Kriegsausbruch – Spielbetrieb im Kriege«,339 wie es Robert Kinkhorst in der Mai/Juni Ausgabe der Vereinszeitung des AFC von 1915 formulierte. Dieser Gegensatz bestand jedoch nicht auf der Ebene des Spielbetriebs per se, sondern vielmehr auf sportlicher Ebene. Trotz des Krieges wurde Fußball gespielt, worüber die Sport im Bild – die Sportzeitschrift, welche für diese Arbeit für den Zeitraum zwischen 1914 und 335 | Vgl. zu Feldpostbriefen in der sporthistorischen Forschung, wenn auch eher methodologisch: Bahlke, Steffen/Cachay, Klaus/Mehl, Helmut: »Echte Sportler«, »Gute Soldaten«. Die Sportsozialisation des Nationalsozialismus im Spiegel von Feldpostbriefen, München/Weinheim 2000. 336 | Feldbriefe unserer Mitglieder!, in: Monatsschrift KFC 7, 1914/1915, S. 19-24, hier S. 19. 337 | Vgl.: Ebd., S. 22f. 338 | Vgl.: Winkelmann, W.: Ein Appell an die deutschen Fußballer, in: Der Rasensport 12, 1914, S. 641, Zitate ebd. 339 | Kinkhorst, Robert: Jahresbericht des Spielausschusses 1914/15, in: Vereinszeitung AFC 9, Mai/Juni 1915, S. 14-16, Zitat S. 14.
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1917 vorliegt – auch ausführlich berichtete.340 Während auf dieser Ebene die Spiele im Grunde genau so kommentiert wurden wie zuvor, lamentierten die Vereinsschriften über einen Rückgang der sportlichen Qualität, den sie vor allem darauf zurückführten, dass viele Mitglieder der Herrenmannschaften ihren Kriegsdienst absolvierten. So bemängelte Willi Rassenberg personelle Fluktuation. An den bisherigen acht Spielen des KFC hätten »nicht weniger als 24 Spieler«341 teilgenommen. In einem Überblick über die Ergebnisse der Spiele im Herbst 1914 beklagte ein ungenannter Verfasser in der Vereinszeitung des AFC nicht nur, dass der »Krieg alles [...] verändert« habe, sondern konkretisierte diese Veränderung anschließend als sportliches Problem. »Niederlagen gegen Gegner, die wir sonst kaum zu fürchten brauchten, haben wir ertragen müssen.«342 Auch der Diskursstrang, welcher das Sprechen über die Beziehungen zwischen Fußball und Militärtauglichkeit strukturierte, veränderte sich kaum. In dem bereits zitierten Überblick aus der Vereinszeitung des AFC heißt es, »daß heute das Endziel der Sportbewegung, die Erziehung zur Wehrkraft mehr denn je in den Vordergrund gerückt ist«. In ähnlicher Diktion verlangte Fr. Schlüter in einem Aufsatz über englische oder deutsche Sportauffassung von 1917, dass man dem englischen Sport »den deutschen Volkssport entgegensetzen [müsse], der die Wehrhaftmachtung des ganzen Volkes, von alt und jung durch den Sport als oberstes Ziel habe.«343 Auf institutioneller Ebene wurde das Band zwischen Fußball und Militär bereits in Ansätzen zu Beginn der 1890er Jahre geknüpft und durch die Turnvorschriften von 1910 formalisiert. In den vier Jahren bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs gab es nicht nur die Möglichkeit einem Fußballverein beizutreten, bildete der Fußball nicht nur eines von vielen empfohlenen Bewegungsspielen für die Schule, sondern er formte auch einen Bestandteil der körperlichen Ausbildung von Rekruten zu Soldaten. Der Erste Weltkrieg bildete in den Wahrnehmungen der Zeitgenossen zwar eine Zäsur hinsichtlich der Spiel340 | Vgl. u.a.: M.H.: Der Fußball-Wettkampf Nord-Süd in Berlin, in: Sport im Bild 23, 1917, S. 21f.; o.A.: Allerlei, in: Sport im Bild 20, 1914, S. 1034; ; o.A.: Der Kampf um den Kronprinzenpokal, in: Sport im Bild 23, 1917, S. 220f.; o.A.: Fußball-Kriegsmeisterschaft in Leipzig, in: Sport im Bild 21, 1915, S. 94; o.A.: Fußball-Städtekampf Wien-Berlin, in: Sport im Bild 21, 1915, S. 154; o.A.: Vom Fußball-Wettkampf BerlinSüddeutschland, in: Sport im Bild 22, 1916, S. 594. 341 | Rassenberg, Willi: Unser Spielbetrieb in der I. Hälfte der Saison 1914/1915, in: Monatsschrift KFC 7, 1914/1915, S. 35-38, Zitat S. 36. 342 | o.A.: Unsere erste Mannschaft, in: Vereinszeitung AFC 9, Januar/Februar 1915, S. 10-11, Zitat S. 10. 343 | Zit. n.: Burgaß, Ernst: Zeitschriftenschau, in: KuG 26, 1917/1918, S. 139f., hier S. 140.
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stärke einzelner Mannschaften, führte jedoch nicht zu einer Unterbrechung des Spielbetriebes – weder in der ›Heimat‹, noch an Front oder Etappe. Der Krieg bildete vielmehr eine Art Motor der Verbreitung des Sports im Allgemeinen und des Fußballs im Speziellen,344 wodurch beide schließlich zu Massenphänomenen in der Weimarer Republik wurden. Im Folgenden stehen jedoch weniger die angedeuteten sportlichen Kontinuitäten und Diskontinuitäten im Vordergrund, sondern vielmehr die diskursiven Kontinuitäten und Diskontinuitäten, welche das Sprechen über Fußball, Militär und Krieg, über Fußballer und Soldaten zum Teil seit den 1880er Jahren strukturierten.
7.2 Fußballer und Soldaten, Fußball und Krieg: zweierlei Analogien 1917 entschied die Stuttgarter Stadtverwaltung, alle der Stadt gehörigen Sportplätze zu Kartoffeläckern umzunutzen, was nicht nur seitens der Fußballer auf Empörung stieß, sondern auch durch das »stellvertretende Generalkommando im Hinblick auf die Bedeutung der Tätigkeit der Fußballvereine« kritisiert wurde.345 Diese Episode unterstreicht einmal mehr die Festigkeit des Bandes zwischen Fußball und Militär auf institutioneller Ebene und deutet die dem Fußball seitens der Militärs zugewiesene Relevanz an. Diese bestand auf zwei Ebenen. Erstens die relative Analogie zwischen Fußballer- und Soldatenkörpern, welche seitens der Fürsprecher des Fußballs behauptet und im Krieg einem Lackmustest unterzogen wurde. Zweitens die auf semantischer Ebene und hinsichtlich des Positionengeflechts eines Fußballspiels erzeugten Analogien zwischen Fußball und Krieg, die den Fußball bereits vor dem Ersten Weltkrieg als Raum der Ausbildung von Soldaten schufen.
»Ein kräftiges soldatisches Geschlecht«: Fußballer- und Soldatenkörper Der Militärdienst galt vielen Zeitgenossen als der Ort, an welchem eine drohende Schwächung des Volkskörpers gerade noch aufgehalten würde. In den Worten des Kriegsministers Josias von Heeringen vor dem Reichstag im Februar 1911: »[M]eine Herren, verkennen Sie nicht die Vorteile, die das Heer auch in jeder anderen Beziehung hat. […] Gesundheit wird in vielen Kreisen [sic] erst durch das Heer hineingetragen.«346 Ähnlich formulierte es Walter Kortegarn im ZA-Jahrbuch von 1911. »Die körperliche Betätigung hat stets in
344 | Vgl. einschlägig: Tauber, Schützengraben. 345 | Vgl.: o.A.: Abbau von Spielplätzen, in: Sport im Bild 23, 1917, S. 222. 346 | Verhandlungen des Reichstags, zwölfte Legislaturperiode, 133. Sitzung, 23.2.1911, Sp. 4873A.
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der Armee einen starken Rückhalt gefunden.«347 Das Militär war aber nicht nur eine Instanz der Wahrung gesunder Körper, sondern verlangte auch körperlich gut vorbereitete Rekruten. In diese Forderungen schrieben sich einige der Fürsprecher des Fußballs ein, die diesen als Ort der Ausarbeitung des soldatischen Körpers markierten. Die körperliche Dimension betraf sowohl die Vorbereitung des Körpers vor Beginn des Militärdienstes als auch während der Ausbildungszeit. Auf dem siebten deutschen Kongreß für Volks- und Jugendspiele referierte der Militärarzt Hugo Meisner ausführlich über die Beziehungen zwischen Heer und Schule. In diesem Zusammenhang wiederholte er die bereits in der Diskussion über ländliche und städtische Rekruten vorgebrachten Argumente. Da »das Land die meisten Tauglichen« liefere, solle man sich daran ein Beispiel nehmen. »Spiel und Wanderung im Freien« galten ihm aus diesem Grund als notwendige Mittel zur körperlichen Vorbereitung der städtischen Jugend, die das gesunde Landleben zu entbehren hätte.348 Innerhalb des Militärs war die Jugend als künftige Soldaten bereits seit den 1890er Jahren Gegenstand von Diskussionen. Unter dem Kürzel Bg. erschien im Militär-Wochenblatt von 1893 ein Artikel Ueber militairische Jugenderziehung, in dem der Autor die »Heranbildung des Knaben zu einem tüchtigen Mitbürger des Volks in Waffen, des nationalen Staates und Heeres« anmahnte. Zu diesem Zweck schlug er Unteroffiziere als Volksschullehrer vor.349 Darauf reagierte ein ungenannter Autor in der übernächsten Nummer. Die Problemdiagnose sei korrekt gewesen, der Vorschlag mit den Unteroffizieren jedoch nicht praktikabel. Stattdessen solle man seinen Blick auf die körperliche Ausbildung richten und sich dabei ein Beispiel an England nehmen. Dort würde »nach alter Tradition ein ungemein hoher Wert auf die körperliche Erziehung der Jugend gelegt, und niemand wird leugnen wollen, daß hierdurch nicht allein der physische, sondern auch der moralische Habitus der Englischen Nation einen großen Kraftzuwachs erfährt.«350 Bereits 1889 hatte Hermann Raydt die »Heranbildung eines kräftigen soldatischen Geschlechts« als besondere Leistung der englischen Schulspiele betont.351 Im Laufe der 1890er Jahre tauchte der Zusammenhang zwischen Spielen und Wehrfähigkeit als Indikator für die Volksgesundheit hin und wie347 | Kortegarn, Walter: Die Jugendpflegebestrebungen und das Heer, in: JfVJ 20, 1911, S. 33-38, Zitat S. 35. 348 | Vgl.: Meisner, Hugo: Über die Beziehungen zwischen Heer und Schule, in: Raydt, Siebenter Deutscher Kongreß für Volks- und Jugendspiele, S. 202-213, Zitate S. 210. 349 | Vgl.: Bg.: Ueber militärische Jugenderziehung, in: Militär-Wochenblatt 78, 1893, Sp. 145-150, Zitat Sp. 146. 350 | o.A., Nochmals über ›Militärische Jugenderziehung‹, Sp. 199. 351 | Raydt, Englische Schulbilder in deutschem Rahmen, S. 70.
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der auf.352 Allerdings blieb es dabei. Allein Grampp rekurrierte in seinen Erörterungen der Frage, ob das Fußballspiel gefährlich sei, auf die körperliche Ausbildung von Soldaten durch den Fußball. »Bei keinem anderen Sport, mit Ausnahme des Radfahrens vielleicht, werden die Beine so gekräftigt als beim Fussballspiel, was wiederum schon im Hinblick auf den Militairdienst nicht im geringsten zu verachten ist, denn gerade an die Beine werden beim Soldaten ausserordentliche Anforderungen gestellt. Auch wird man durch das Fussballspiel gegen die Witterung abgehärtet und erlangt eine gute Ausdauer in der Ertragung der körperlichen Anstrengungen.« 353
Abgesehen von dieser, den Fußball gegenüber anderen Praktiken privilegierenden Aussage zur soldatischen Körperbildung, blieb es bei der Indikatorfunktion von Tauglichkeitsstatistiken für einen diagnostizierten Rückgang der Volksgesundheit, welche außerhalb des Militärs im Sprechen über Bewegungsspiele und Militärtauglichkeit zum Tragen kam. Erst die Autoren von Was wir wollen verwiesen 1910 erneut auf die körperliche Vorbereitung des Jungen für den Militärdienst durch den Fußball. In einem Appell an die Eltern forderten sie, die Jungen Fußball spielen zu lassen. »Eltern! wollt ihr eurem Sohne den Dienst im Heere, für Krieg und Frieden erleichtern, so sorgt dafür, daß er einen gesunden, ausdauernden Körper mitbringt.«354 Für den gleichen Zeitraum, d.h. die Zeit ab etwa 1910, ist ebenfalls eine Häufung von Aussagen über das Verhältnis zwischen der Ausbildung vom Rekruten zum Soldaten und einer Steigerung oder Verstetigung der körperlichen Leistungsfähigkeit von Soldaten durch den Fußball zu verzeichnen. 1909 formulierte Ferdinand Neuber auf dem zehnten deutschen Kongress für Volks- und Jugendspiele, dass die körperliche Eignung für den Militärdienst noch lange keinen Soldaten mache. Dessen Körper müsse »erst für den Krieg ausgebildet und erzogen werden« und zu diesem Zweck leiste der Fußball besonders gute Dienste. Wenig später erläuterte er dies angesichts der Anforderungen des »heutigen Krieges«. Dieser »fordert einen gesunden, starken, widerstandsfähigen Körper, mit gesunden leistungsfähigen Organen.«355 In einem Artikel über Sport und Wehrfähigkeit von 1910 ergänzte Wilhelm Scheibert, der »moderne Krieg« verlange sowohl einen »eisernen Körper« als auch »eiserne Nerven«. Beide würden im Training ihre militärisch notwendige »Spannkraft« erhalten. Zudem stärke der Fußballer im Training sein »Herz«, welches auf 352 | Vgl. u.a.: Schmidt, Volksspiele im Freien, S. 96; Witting, Jugend- und Volksspiele, S. 2. 353 | Grampp, Ist das Fussballspiel gefährlich?, S. 199. 354 | Norddeutscher Fußball-Verband (Hg.), Was wir wollen, S. 16. 355 | Gekürzter Abdruck in: Ebd., S. 26-35, Zitate S. 26, S. 29.
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Märschen besonders beansprucht würde.356 Ein ungenannter Autor befasste sich im Rasensport schon ein Jahr vor den Turnvorschriften mit dem Fußball als sinnvoller Facette soldatischer Körperbildung. Mittlerweile würde in zahlreichen Einheiten Fußball gespielt, was »vor 12 oder 15 Jahren« noch lächerlich geklungen hätte. Wer zu dieser Zeit »die Forderung gestellt hätte, die Soldaten des Heeres und der Marine müssten zur Erhaltung und Erhöhung der Wehrfähigkeit Spiele in freier Luft ausführen, der wäre zweifellos ausgelacht worden.« Das Militär verlange jedoch »gesunde, kräftige und widerstandsfähige Leute mit entwickelter Muskulatur gut arbeitenden Herzen und Lungen und scharfen Augen.« All diese Anforderungen an den Soldatenkörper würden »durch die Ausführung echter Kampfspiele an freier Luft erfüllt. Gerade die Ballspiele kräftigen Herzen und Lungen, sie stärken die Muskulatur der Beine und Füsse, sind somit das beste und billigste Mittel, die Marschtüchtigkeit des Soldaten zu steigern.«357 Ob nun der Schüler- oder der Rekrutenkörper gebildet werden sollte – zwischen fußballerischer und soldatischer Körperbildung wurde eine relative Analogie behauptet. »Alle Leibesübungen treibenden Vereine sind insofern militärisch, als sie dem Körper die Befähigung zum Kampfe des Lebens zu geben trachten,« wie es von Hülsen 1915 formulierte. In einer Umkehrung des Militärs als ›Schule der Männlichkeit‹, fuhr er fort: »Haben wir Jünglinge zu Männern gemacht, dann sind es auch Soldaten. [...] man schafft Soldaten, indem man Männer bildet.«358 Freilich überschritt diese Analogie nicht das auch außerhalb der Problematisierung von Militärtauglichkeit diskutierte Verhältnis zwischen dem Fußball und einem gesunden Körper. Die Problematisierungen von Gesundheit und Militärtauglichkeit operierten somit vor einem identischen Körpermodell. Gleichwohl bildete das körperlich zugespitzte Verhältnis zwischen Fußballer und Soldat den Ausgangspunkt für drei Facetten des Sprechens über Militärtauglichkeit. Die erste Facette bildete die bereits eingangs angedeutete Logik des Krieges als Lackmustest. Was Neuber 1909 noch als potenzielle Anforderungen an den Soldatenkörper im Krieg ausgeführt hatte, schien der Weltkrieg zu beglaubigen. Eine solche Beglaubigung, so suggerierte es A. St. in der Sport im Bild von 1915, konnte beispielsweise zu einer ›Bekehrung‹ führen. Ein dem Verfasser »bekannter Universitäts-Professor war sportfeindlich gesinnt« und führte als »Beweisgründe« u.a. Rohheit und den undeutschen Charakter an. 356 | Vgl.: Scheibert, Wilhelm: Sport und Wehrkraft, in: DFB-Jahrbuch 7, 1910, S. 3538, Zitate S. 35, S. 36. 357 | o.A.: Zur Einführung der Rasenspiele in das deutsche Heer, in: Der Rasensport 7, 1909, S. 574. 358 | Hülsen, Dietrich von: Die militärische Jugenderziehung, in: Vereinszeitung AFC, September/Oktober 1915, S. 25.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
Beide Vorwürfe bildeten Konstanten im Sprechen über den Fußball, so dass davon auszugehen ist, dass der Professor sich (auch) gegen den Fußball ausgesprochen hatte. Jene Studenten, mit denen er wegen seiner Sportfeindlichkeit die hitzigsten Debatten führte, hatten sich allesamt zu Kriegsbeginn freiwillig gemeldet. Damit nicht genug: Viele von ihnen erwarben das eiserne Kreuz und hätten ihn somit »von der körperlichen Ueberlegenheit und der weit größeren Kriegstüchtigkeit der Sporteifrigen überzeugt.«359 Bereits ein Jahr zuvor meinte Willi Rassenberg anhand der Feldpost der KFCler mit »Genugtuung« feststellen zu können, »daß unsere langjährige Friedensarbeit nicht ohne Erfolg gewesen ist.«360 Im gleichen Jahr schrieb er in einem Rückblick, dass der Krieg »dazu berufen [war], unseren amtlichen und militärischen Stellen klar vor Augen zu führen, wie wertvoll die körperliche Ausbildung des Einzelnen durch die Ausübung der Rasenspiele ist«.361 In Körper und Geist von 1916 argumentierte Martin Berner vor dem Hintergrund des Lackmustests ebenfalls für den Sport und gegen Auslassungen Werner Sombarts. Dieser hatte sich 1915 in seinen patriotischen Besinnungen u.a. abfällig über Fußball und Sport als »Zwillingsbruder des Komfort«362 geäußert. Berner hielt dem entgegen, dass der Sport, insbesondere der Fußball, Körper und Geist der Jugend stähle und Deutschland eine solche Jugend im Krieg, das wüsste er aus seinen Kriegserfahrungen, und erst recht im Frieden brauche.363 1915 situierte auch der Reserveleutnant H. Dammann den Krieg als Beweis für die besondere körperliche Tauglichkeit von Sportlern. In seinem Artikel mit dem sprechenden Titel Wie sich der Sport jetzt in seiner Wirkung auf den Körper bemerkbar macht lobte er nicht nur Fußballer und Sportler, sondern auch ausdrücklich die Turner. Diese und Sportler unterschieden sich seiner Erfahrung nach deutlich von jenen, die solchen Praktiken nicht nachgingen, vor allem hinsichtlich ihrer »Freudigkeit« körperliche Strapazen zu ertra359 | Alle Zitate: A. St.: Sport und Krieg, in: Sport im Bild 21, 1915, S. 465. 360 | Rassenberg, Unser Spielbetrieb, S. 35. 361 | Ders.: Fußball. Ein Rückblick auf den Spielbetrieb unserer ersten Mannschaft seit Kriegsbeginn, in: Monatsschrift KFC 8, 1915/1916, S. 108-112, Zitat S. 108. 362 | Sombart, Werner: Händler und Helden. Patriotische Besinnungen, München 1915, S. 103. 363 | Vgl.: Berner, Martin: Warum unser Sport im Kriege und nach dem Kriege bleiben muß?, in: KuG 24, 1916, S. 102-105, hier S. 102. Berners Erfahrenheit mit dem Krieg beglaubigte die Redaktion der Körper und Geist in einer Fußnote, in der es heißt, dass der »Sportschriftsteller Dr. Martin Berner, […] zurzeit im Argonner Walde vor dem Feinde steht«, siehe: Ebd., Fußnote, S. 102. Vgl. ferner zur Logik des Lackmustest: Blaschke, Georg: WIR!, in: Vereinszeitung AFC 9, September/Oktober 1915, S. 27; ie., Unser Fußball-›Training‹; o.A.: Der Wert des Sports für die Kriegsausbildung, in: Sport im Bild 21, 1915, S. 66f.
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gen.364 Die Konjunktion von Turnern und Sportlern bildete die zweite Facette des Sprechens über Militärtauglichkeit im Feld der Körperkultur, nämlich die an der Position des Sports behauptete Gemeinsamkeit zwischen Turnen und Sport. Diese Gemeinsamkeit lässt sich auf bestimmte Interventionen in das Feld der Körperkultur zurückführen, die dort eine, wenn auch kurzlebige, neue Position schufen: die obligatorische, militärisch-körperliche Vorbildung von Jungen. Bereits mit der Gründung des Jungdeutschlandbundes im Jahre 1911 war eine Dachorganisation entstanden, die eine Vielzahl von »mehr oder weniger paramilitärischen Jugendorganisationen« bündelte, eine militärnahe Körperbildung der Jugend propagierte und der sich neben der DT auch einige »besonders mitgliederstarke Sportverbände« u.a. der DFB, anschlossen. Diese Organisation blieb jedoch nicht viel mehr als eine relativ leere Hülle, die ihren Mitgliedern zwar besondere finanzielle und propagandistische Vorzüge gewährte, jedoch nicht den »Sport zu einem Instrument des Militärs« machte.365 Die Sportverbände profitierten eher vom Jungdeutschlandbund als umgekehrt, weshalb die Mitgliedschaft des DFB auch in keiner Weise als problematisch wahrgenommen wurde. Zumindest finden sich sowohl im DFB-Jahrbuch als auch der Monatsschrift des KFC wohlwollende Kenntnisnahmen.366 Dies änderte sich Anfang 1916. Zu dieser Zeit bereitete das Kriegsministerium eine Gesetzesvorlage vor, die die »zwangsweise militärische Ausbildung der Jugend«367 instituieren sollte. Dies wurde zumindest an der Position des Sports als gravierender Eingriff in dessen Herrschaftsbereich wahrgenommen, was den Ausgangspunkt für eine behauptete Gemeinsamkeit zwischen Turnen und Sport in der körperlichen Ausbildung zum Soldaten bildete. Andeutungsweise findet sich dies in Ferdinand Hueppes rassenhygienischen Überlegungen zu Deutschlands Wehrkraft und Wehrfähigkeit von 1916, in denen er »Spiel, Turnen und Sport« als Gegenmaßnahme zur »Entartung der bedrohten Erbwerte« positionierte. Alle drei träfen »den Kern eines jeden wahrhaft nationalen Unterrichts- und Erziehungswesens.«368 Verblieb diese Äußerung 364 | Vgl.: Dammann, H.: Wie sich der in der Heimat betriebene Sport jetzt in seiner Wirkung auf den Körper bemerkbar macht, in: Vereinszeitung AFC 9, August/Juli 1915, S. 14-16, Zitat S. 15. 365 | Vgl.: Eisenberg, English Sports, S. 268f., Zitate ebd. 366 | Vgl.: Blaschke, Georg: Die Behörden und der Fußballsport, in: Ebd., S. 115-122, hier S. 115; o.A.: Der Bund Jungdeutschland, in: Monatsschrift KFC 4, 1911/1912, S. 24-25; Sorber, Theodor: Jugendsport. Ein Ausschnitt aus der Entwicklung der Berliner Verbandsarbeit, in: DFB-Jahrbuch 9, 1912, S. 95-98, hier S. 95. 367 | Vgl.: Eisenberg, English Sports, S. 315-318, Zitat S. 315. Dort auch weiterführende Literatur. 368 | Hueppe, Ferdinand: Deutschlands Wehrkraft und Wehrfähigkeit, Berlin 1916, S. 60f., Hervorh., J.E.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
vornehmlich im Bereich der Rassenhygiene und hätte problemlos auch ihren Ort vor 1915/1916 gefunden, so fand Berner in seinem bereits zitierten Aufsatz sehr viel deutlichere Worte hinsichtlich der Gesetzesvorlage des Kriegsministeriums. »Der wirkliche Krieg ist so groß, so hart, so gewaltig, so zermürbend, daß man keine Schulausgabe von ihm herausgeben kann. Wichtiger, viel wichtiger als diese Kriegsspielerei wäre eine tüchtige körperliche Ausbildung dieser Jugend, wie sie solche bei Turnen und Sport so unübertrefflich erwerben kann.« 369
Der seit über zwanzig Jahren schwelende Streit zwischen Turnen und Sport erschien nicht nur Berner an dieser Stelle obsolet. Ein ungenannter Verfasser richtete in der Vereinszeitung des AFC ein Jahr vor Berner Ein Wort zur militärischen Jugendvorbildung an die Leser. Sie habe »tiefe Unruhe in die Sport- und Turnvereine getragen«. Dies sei vor allem deshalb verständlich, weil sich die Sportler seit Jahrzehnten, die Turner bereits seit einem ganzen Jahrhundert der Jugend widmeten und beide Positionen bereits beachtliche finanzielle Mittel aufgewendet hätten. Die Logik des Lackmustests andeutend schloss er, dass der Sport »seine Feuerprobe bestanden [hat], das wissen wir.«370 In einem Literaturüberblick von 1917 wies Ernst Burgaß auf einen Artikel der Zeitschrift Spiel- und Sport-Artikel-Industrie hin, der ebenfalls die »engste Bundesgenossenschaft«371 zwischen Turnen und Sport unterstrich. Dieser versuchte Schulterschluss stieß an der Position des Turnens auf keine Resonanz. Die an der Position des Sports vor allem durch die Konjunktion von Turnen und Sport angedeuteten Gemeinsamkeiten in der Ausbildung soldatischer Körper erweist sich somit eher als passageres Phänomen, das auf den Zeitraum um 1916 beschränkt blieb – was nicht zuletzt daran lag, dass der Gesetzesentwurf scheiterte.372 Dennoch verdeutlichen diese fragmentarischen Einblicke den Selbstanspruch derjenigen an der Position des Sports versammelten Sprecher, die sich zu diesem Entwurf äußerten. Die Hinweise auf Gemeinsamkeiten zwischen Turnen und Sport indizieren den Versuch einer Schließung des Feldes der Körperkultur gegenüber der politischen Intervention des Kriegsministeriums; ein Versuch einer Schließung seitens der Fürsprecher des Sports, der ihr Selbstverständnis als Vertreter einer mittlerweile nicht mehr marginalen Position unterstreicht.
369 | Berner, Warum unser Sport bleiben muß, S. 104, Hervorh., J.E. 370 | o.A.: Ein Wort zur militärischen Jugendvorbildung, in: Vereinszeitung AFC 9, Mai/ Juni 1915, S. 13-14, alle Zitate S. 13. 371 | Burgaß, Ernst: Zeitschriftenschau, in: KuG 25, 1917, S. 15. 372 | Vgl.: Eisenberg, English Sports, S. 316.
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Die dritte Facette des Sprechens über Militärtauglichkeit betrifft eine Erosion der Bedeutung des Turnens für die soldatische Körperbildung. 1908 hatte der Korvettenkapitän Ernst Oldwig von Natzmer die körperliche Förderung für die Mannschaften und Unteroffziere der Marine hervorgehoben. Der Fußball sei bei seinen Seeleuten beliebt und käme ihrem Bewegungsbedürfnis entgegen. In diesem allerersten Artikel über das Fußballspiel im Militär-Wochenblatt bezeichnete er es als »wesentliche[n] Faktor in der Ausbildung unserer Seeleute«.373 Zwei Jahre nach von Natzmer berichtete von Sichhart über die körperlichen Vorzüge des Fußballs für das Heer. Im Gegensatz zu der »ermüdenden Schule schematischer Freiübungen«, so lobte von Sichhart, würde im Fußball der »Körper [...] von selbst gelenkig, biegsam und elastisch«. Im Fußball lerne der einzelne Soldat seine »Glieder zu gebrauchen und gelangt im wahrsten Sinne des Wortes ›spielend‹ zu ihrer vollkommenen Beherrschung, wie sie unsere Vorschrift verlangt«.374 Im Folgenden erläuterte von Sichhart seine Gewichtungen zwischen Turnen und Sport. Zwar räumte er ersterem ebenfalls einen gewissen Wert als »Vorschule« für das Militär ein, allerdings wies er ihm den letzten Platz seiner Präferenzen zu. »Eine solche Vorschule besitzen wir in den Rasenspielen, der Leichtathletik und dem Turnen. Diese Reihenfolge bezeichnet zugleich meine Wertschätzung, und wenn ich schon den Rasenspielen den Vorrang gegeben habe, dann nenne ich unter ihnen an erster Stelle als das zweifellos beste und geeignetste: das einzig schöne und immer neue Anregungen bietende Kampfspiel ›Fußball‹.« 375
Diese explizite Zurückweisung des Turnens zugunsten des Fußballs war ein markanter Bruch. Seit Jahn hatten die Fürsprecher des Turnens dieses immer wieder als Militärtauglichkeit förderliche Praktik charakterisiert. »Jeder Turner soll zum Wehrmann reifen, ohne verdrillt zu werden«, wie es Jahn und Eiselen 1816 formuliert hatten.376 1879 führte Heinrich Stürenburg in Wehrpflicht und Erziehung aus, dass das Schulturnen den »Verkrümmungen und Versteifungen« des Körpers »die sicherste Abhülfe« böte.377 Gut zwanzig Jahre später erläuterte auch Moritz Zettler in der dritten Auflage seiner Methodik des Turnunterrichts die besonderen Leistungen des Turnens für den Soldatenkör373 | Natzmer, Ernst Oldwig von: Das Fußballspiel, in: Militär-Wochenblatt 93, 1908, Sp. 3364-3367, Zitat Sp. 3366. Vgl. ausführlich zum Fußball in der Marine ferner: Blaschke, Georg: Der Fußballsport in der deutschen Kriegsmarine, in: DFB-Jahrbuch 7, 1910, S. 70-79. 374 | Sichhart, Fußballsport im deutschen Heere, S. 66. 375 | Ebd. 376 | Eiselen/Jahn, Deutsche Turnkunst, S. XVII. 377 | Stürenburg, Heinrich: Wehrpflicht und Erziehung, Berlin 1879, S. 32.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
per. Das Turnen als den Körper ganzheitlich durchbildende Praktik sei geeignet »gute, tüchtige Soldaten« heranzubilden, wie »bereitwilligst von Offizieren jeden Ranges zugestanden wird.«378 Den Aspekt der ganzheitlichen harmonischen Körperbildung betonte auch Julius Sparbier und wandte sich zugleich gegen den Drill der Freiübungen. »Wenn wir aber dem Heere harmonisch ausgebildete Menschen liefern, geistig und körperlich gleich gut entwickelt, dann erweisen wir ihm einen viel höheren Dienst, als wenn wir mit vieler Mühe und vieler Langeweile Griffe gekloppt und Schwenkungen eingeübt hätten.«379 Trotz Sparbiers und Zettlers Äußerungen lässt sich im Anschluss an Svenja Goltermann konstatieren, dass die seitens der Turner behauptete Sonderstellung in der Ausbildung von Soldaten im Laufe der 1880er Jahre verloren ging. Goltermann verweist auf eine bemerkenswerte Gegenläufigkeit der Entwicklungen in Turnen und Militär seit dieser Zeit. Während sich das Turnen zunehmend militarisierte, verbürgerlichte sich das Militär.380 Allerdings schied das Turnen keineswegs aus der körperlichen Ausbildung von Rekruten aus. In der Turnvorschrift für die Infanterie beschäftigten sich dessen Verfasser ausführlicher (auf mehr als 40 Seiten) mit dem Turnen als mit allen anderen Übungen. Nichtsdestotrotz verweisen von Sichharts Aussagen sowie die von Goltermann beobachtete Entwicklung auf eine zunehmende Erosion der hegemonialen Position des Turnens, die auch mit einer Aufwertung des Fußballs einherging. Beispielsweise hatte die Redaktion der Vereinszeitung des Altonaer Fußball-Club 1916 darum gebeten »über die Brauchbarkeit der von uns betriebenen Sportzweige« zu berichten. General Ferdinand von Quast antwortete, dass sich »die durch diese Schule gegangenen und jetzt in großer Zahl im Felde stehenden Mitglieder der Sportvereine durch zähe Ausdauer besonders hervortun.« Und ein Major Balan schrieb: »Der Sportjünger erfaßt schnell die neuen Aufgaben und verwertet seine geschulten Kräfte besser in den sonst ungewohnten Leibesübungen, die für jeden Soldaten unerläßlich sind. Dadurch steigt sein Selbstvertrauen, er gewinnt Mut und Entschlossenheit und wird schnell ein guter Soldat.« 381
Der Bedeutungsverlust des Turnens rührte vor allem daher, dass die rein körperliche Ausbildung der Rekruten zu Soldaten und die Erziehung zum Ge378 | Zettler, Methodik, S. 32. 379 | Sparbier, Jünger Jahns?, S. 133f. 380 | Vgl.: Goltermann, Körper der Nation, S. 300f. Vgl. zeitgenössisch kritisch zu dieser Entwicklung u.a.: März, Chr.: Turnkunst oder militärischer Drill, in: DTZ 39, 1894, S. 543. 381 | Alle Zitate: o.A.: ›UNSER‹ die Zukunft, in: Vereinszeitung AFC 10, Januar/März 1916, S. 5, Hervorh. i. Orig.
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horsam als nicht mehr ausreichend galten. Diese Veränderung der Konzeption eines idealen Soldaten betraf jedoch nicht nur das Turnen, sondern ebenfalls den Fußball. Eine Behauptung seiner Vorzüge für die körperliche Ausbildung des Jungen oder Mannes für den Militärdienst bildete daher auch kein starkes Argument für den Fußball. Es waren vielmehr die drei genannten Facetten der relativen Analogie zwischen Fußball- und Soldatenkörper, die diesen Aspekt der Problematisierung von Militärtauglichkeit strukturierten. An diesen drei Facetten wird zum einen deutlich, dass der Erste Weltkrieg keinen Bruch im Sprechen über die körperliche Gesundheit des Soldatenkörpers darstellte, sondern dieses vielmehr verdichtete und als Lackmustest beglaubigte. Des Weiteren konnte anhand der versuchten Schließung des Feldes der Selbstanspruch an der Position des Sports illustriert werden. Dort behauptete man zumindest für einen kurzen Zeitraum, dass Turnen und Sport im Prinzip die gleichen Vorzüge für die Ausbildung von Soldatenkörpern hätten, positionierte sich gegenüber dem Turnen als gleichwertig und suchte auf diese Weise politischen Eingriffen in das Feld zu begegnen.
Ein »nach allen Regeln des Anstandes geführter Krieg«: Fußball und Krieg In einem Feldpostbrief an den KFC schilderte der Außenstürmer Peter Albers seine Feuertaufe bei Lüttich. Zunächst wurde ein »Freund« durch »einen Schuss in den linken Oberarm« verwundet. Anschließend wurde Albers’ Gruppe »von links aus einem Dorfe« unter Beschuss genommen. »In den folgenden 3 Minuten habe ich einen Flankenlauf gemacht, wie noch nie zuvor und auch nicht in meiner besten Zeit; denn es galt mein Leben zu retten und auch das Wichtigste: Meldung zu bringen.«382 In seinem Brief an den AFC rekurrierte der Mittelstürmer Adolf Jäger nicht auf den Flankenlauf, sondern den Kopfball, um den Lesern sein Erleben eines Beschusses von See zu beschreiben. »Kurz vor M… erhielten wir plötzlich Feuer von der See. Engl. Schiffsgeschütze (30,5), das waren so kleine Zuckerhüte, die uns da um die Ohren sausten. (Für Kopfstöße nicht zu gebrauchen!!!).«383 Albers und Jäger bemühten in ihren Beschreibungen von Kriegserfahrungen Vokabeln aus dem um 1914 bereits etablierten ›Fußball-Jargon‹. Durch diese rezipientenadäquaten Wendungen, rückten die Leser näher an das Kriegsgeschehen heran. Albers und Jäger wählten jedoch nicht irgendwelche Fußballvokabeln, sondern semantische Marker positionsspezifischer körperlicher Fähigkeiten – den für Außenstürmer üblichen Flankenlauf und den für Mittelstürmer als besonders wichtige Körpertechnik geltenden Kopfball. Auch 382 | Albers, Peter: Meine Feuertaufe bei Lüttich, in: Monatsschrift KFC 6, 1913/1914, S. 144-147, Zitate S. 146f. 383 | Feldpostbrief von Adolf Jäger, in: Vereinszeitung AFC 9, Januar/Februar 1915, S. 14-16, Zitat S. 14.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
im Krieg, das zeigen diese beiden fragmentarischen Einblicke, waren Fußballer also immer noch Fußballer – vor allem dann, wenn sie an Fußballer schrieben. Diese beiden Feldpostbriefe indizieren einen markanten Bruch im Sprechen über Fußball und Krieg.384 Während der Erste Weltkrieg auf diskursiver Ebene keine Zäsur für das Verhältnis zwischen Fußball- und Soldatenkörper bildete, so kehrte er das Verhältnis zwischen Fußball und Krieg um. Mit Ausbruch des Krieges konnte man »sagen, daß der Krieg ein lebensgefährlicher Sport ist«, wie es in einem Brief des Oldenburger Seminarlehrers Gerhard Sandstede vom April 1915 heißt.385 Zuvor war das Verhältnis jedoch meist umgekehrt. Nicht der Krieg war dem Fußball ähnlich, sondern der Fußball dem Krieg und diese Analogisierung formte ein sehr viel stärkeres Argument für den Fußball aus, als die körperliche Ausbildung zum Soldaten. Pointiert formulierte dies Donalies in seinem Überblicksartikel zur Entwickelung unseres Militärsports von 1911. Das Spiel verlange von jedem Einzelnen »durch planvolles Zusammenarbeiten mit dem Nebenmann rechts und links und hinten und vorn, durch strenges Unterordnen unter die Vorschriften bei durchaus selbstständigem Bewegen innerhalb des zugewiesenen Platzes auf ein gemeinsames Ziel mit aller Kraft hinzuwirken, auf den Endzweck aller Anstrengungen in Verteidigung und Angriff: den Sieg über den Gegner.«386 In diesen Ausführungen zur Einzigartigkeit des Fußballspiels für die Ausbildung soldatischer Eigenschaften rekurrierte Donalies eindeutig auf die bereits um 1900 beobachteten Veränderungen des modernen Krieges: die Gleichzeitigkeit von Disziplin und Selbstständigkeit als notwendige Eigenschaften eines jeden Soldaten. Donalies’ Duktus deutet ferner an, warum gerade der Fußball vielfach als idealer Raum des Erwerbs dieser beiden Eigenschaften angesehen wurde. Der Fußball galt als dem modernen Krieg in vielerlei Hinsicht ähnliches Geschehen und diese Analogisierung schrieb sich sowohl in Spielberichte als auch Praxisanleitungen ein.387 Im Kontext der Spielberichte bildete der »Kampf« den Fluchtpunkt nahezu jeder Nacherzählung von Fußballspielen. Direkt nach dem »Anstoss […] entwickelte sich ein lebhafter Kampf«, wie es exemplarisch in einem Bericht über 384 | Vgl. hierzu auch: Eiben, to play by the Book, S. 112-115. 385 | Vgl.: Wiechmann, Gerhard: ›Man kann sagen, daß der Krieg ein lebensgefährlicher Sport ist‹. Oldenburgische Lehrer und Seminaristen erleben den Weltkrieg 19141918, Oldenburg 2003. Das Zitat findet sich im Brief Sandstedes vom 15.04.1915 im Nds. StAO 165-1-169. Ich danke Gerhard Wiechmann für seine Hinweise dazu. 386 | Donalies, Entwickelung unseres Militärsports, S. 155. 387 | Vgl. inspirierend, wenn auch sehr knapp zum Verhältnis von modernem Krieg und Fußball: Koller, Christian: Von der englischen Eliteschule zum globalen Volkssprt: Entstehung und Verbreitung des Fußball bis zum Ersten Weltkrieg, in: Bouvier, Beatrix (Hg.), Sozial- und Kulturgeschichte des Fußballs, S. 14-36, hier S.34f.
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das Spiel zwischen den beiden Berliner Mannschaften Victoria und Germania heißt. Rekurse auf den Kampf sind insofern nicht verwunderlich, als kriegerische, kämpferische und soldatische Semantiken im Kaiserreich sehr verbreitet waren. Sei es der permanent ausgerufene »Kampf ums Dasein«, der Kampf der Theile im Organismus,388 der »Existenzkampf der Kulturmenschheit«389 oder eben der »Fußballkampf«:390 Wenn es darum ging komplexere Vorgänge in der Gesellschaft, der Gemeinschaft, dem Volk, dem Berufsleben oder auf dem Fußballplatz zu beschreiben, griffen viele Zeitgenossen auf kriegerische oder kämpferische Semantiken zurück. Der Fußball wurde in Spielberichten jedoch nicht nur als Kampf gerahmt, sondern einzelne Sequenzen auch dezidiert militarisiert. So führte die Mannschaft Victoria 1896 einen »Ansturm«391 auf das Tor des Gegners und die Spieler der Auswahlmannschaft des VBB gewannen gegen jene des Norddeutschen Fußball-Verbandes »mehr und mehr an Terrain«.392 In einem Spiel der deutschen gegen eine englische Auswahlmannschaft beobachtete ›Pylades‹ 1909 »ein richtiges kleines Bombardement des deutschen Tors«393 und im Spiel gegen Beiertheim »belagerte [der KFV] fortwährend«394 das Tor. Es ließen sich zahlreiche weitere Beispiele anführen. Die militärisch kriegerische Semantik prägte ganz eindeutig die Berichterstattung über das Fußballspiel. Auch die Verfasser von Praxisanleitungen griffen auf solche Semantiken zurück. In allen seit 1882 verfassten Texten findet sich das Konzept des »Feindes«. In den Bewegungsspielen von 1882 erläuterte Friedrich Ernst Clasen das Ziel des Spiels. Dieses bestünde darin, »den Ball über die Querleiste des feindliches Males zu stoßen.«395 Gut zehn Jahre später bezeichneten die Verfasser der Bestimmungen des Fußballvereins zu Jena es als Aufgabe der »Vorderspieler, direkt das feindliche Mal zu bedrohen«.396 Dem Verfasser einer Artikelserie über die Kunst des Association-Fußballspielens galt der Torwart als »verantwor388 | Roux, Kampf der Theile. 389 | Grabowsky, Norbert: Die Zukunftsreligion und Zukunftswissenschaft auf Grundlage der Emanzipation des Mannes vom Weibe. Zugleich ein unentbehrliches Handbuch für all jene, die sich mit den Fragen der Emanzipation des Weibes vom Manne beschäftigen, Leipzig 1897, S. 38. 390 | Hülsen, Fußballsport und Wehrfähigkeit, S. 126; Koch, Kunstausdrücke, S. 114; o.A.: Fußballwettspiel in Kopenhagen, in: KuG 11, 1902/1903, S. 87-88, Zitat S. 87. 391 | o.A.: ›Germania‹ contra ›Victoria‹, in: Sport im Bild 2, 1896, S. 329. 392 | Slem., A.: Berlin schlägt Nord-Deutschland im Kronprinzen-Pokalspiel mit 2:1, in: Der Rasensport 9, 1911, S. 908-912, hier S. 908. 393 | Pylades: England schlägt Deutschland 9-0, in: Der Rasensport 7, 1909, S. 199f. 394 | Chronik Karlsruher FV, November 1911-Januar 1912. 395 | Clasen, Bewegungsspiele, S. 56. 396 | o.A.: Bestimmungen des Fußballvereins zu Jena. Zugleich eine Anleitung zur Erlernung des ›Fußballspieles ohne Aufnehmen des Balles‹ (Association), Jena 1893, S. 6.
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tungsvollste[r], schönste[r] und ehrenvollste[r] Posten«, da sich auf ihn »der ganze Angriff, die ganze Macht der Feinde« konzentriere.397 Ähnlich wie die Jenenser bezeichnete Kurt von Eberbach in seiner Praxisanleitung die Stürmer als die »hauptsächlichsten Träger des Angriffs auf das feindliche Thor«398 und auch Alfred Rahn setzte 1914 die Stürmer in ein unmittelbares Verhältnis zum »feindliche[n] Tor«.399 Diese Zitate ließen sich fast beliebig vermehren. In allen Praxisanleitungen wurde das Feindkonzept bemüht, um die Beziehungen zwischen den beiden Mannschaften sowie einzelner Positionen in ihren Verhältnissen zu den jeweiligen Gegenpositionen zu bestimmen. Einen weiteren prominenten Aspekt bildete das Konzept des umkämpften Territoriums, welches häufig bemüht wurde, um das Spielprinzip zu erklären. So erläuterte Wilhelm Rolfs 1882 die Grundidee eines Fußballspiels wie folgt: »Zwei Parteien von gewöhnlich je elf Kämpfern befinden sich im Kriegszustande«. Ziel sei es, »einen grossen Lederball vermittelst der Füsse auf feindliches Gebiet und womöglich in das Heiligtum des Feindes [...] zu bringen.«400 Lion/Wortmann verglichen den Fußball im Katechismus der Bewegungsspiele von 1891 mit dem »Kampf um eine Festung, aus welcher der eingeschlossene Feind verzweiflungsvoll immer wieder Ausfälle zu machen und den Ring der ihn umklammernden Feinde zu durchbrechen sucht.«401 Ganz ähnlich beschrieb Heineken 1898 das taktische Prinzip des Fußballs. »[E]iner der ersten Grundsätze des Spieles ist wie im Kriege der, den Kampf stets ins feindliche Lager zu tragen.«402 Ebenso wie für das Feindkonzept ließen sich auch für die territoriale Dimension eine ganze Palette weiterer Zitate anführen. Diese territoriale Dimension bestand jedoch nicht nur in Erläuterungen über das Prinzip des Raumgewinns. Vielmehr formte sie vor allem hinsichtlich der Verhältnisse der Positionen zueinander einen Referenzpunkt für militärische Analogisierungen, der sich in der Dublette von Ordnung und Unterordnung verdichtete. Die Aufrechterhaltung der taktischen Ordnung galt angesichts der Dynamik eines Fußballspieles als konstitutiv für das Zusammenspiel. Entsprechend verlangte von Eberbach, dass sich jeder Spieler nach Phasen der Unordnung »wieder an seinen Platz, d.h. in ein richtiges Verhält-
397 | o.A.: Die Kunst des Association-Fussballspielens, in: Der Fussball 1, 1894, Nr. 1, S. 3. 398 | Eberbach, Rasenspiele, S. 31. 399 | Rahn, Der Fußball, S. 87. 400 | Racquet, englische Spiele, S. 50. Vgl.: Eisenberg, Fußball in Deutschland, S. 205f.; Dies., English Sports, S. 192. 401 | Lion/Wortmann, Katechismus der Bewegungsspiele, S. 127. 402 | Heineken, Das Fußballspiel, S. 64-66.
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nis zu den anderen Spielern begeben«403 solle. Auch Karl Schwalm formulierte die Aufrechterhaltung von Ordnung als konstitutiv und verband dies mit einer Dimension der Raumbeherrschung. »Im Verlaufe des Kampfes gerathen die Spieler unausbleiblich durcheinander. Um nun das Spielfeld wieder allseitig zu sichern, soll jede passende Gelegenheit zur Herstellung der ordnungsgemäßen Stufenfolge verwendet werden.«404 Da nahezu alle Verfasser von Praxisanleitungen405 diese ordnungsgemäße Stufenfolge anhand flächiger, vogelperspektivischer Abstraktionen des Fußballraums erläuterten, formt dieser spezifische Typus der Bildquelle einen besonders relevanten Untersuchungsbereich. Mit wenigen Ausnahmen zeigen alle diese Abbildungen ein Rechteck, welches durch verschiedene Linien in die einzelnen Binnenräume eines Fußballfeldes unterteilt und mit Symbolen für die einzelnen Spielerpositionierungen versehen war. Ferner zeichnen sich nahezu alle diese Abbildungen dadurch aus, dass sie den Moment vor Beginn des Spiels abbilden, den Moment, an welchem laut Schwalm noch »eine offene Feldschlacht vor[liegt]«.406 Abb. 10 hatte zwei Funktionen innerhalb der Praxisanleitung Schwalms. Erstens gaben Kleinbuchstaben (a-k) und griechische Buchstaben (α-δ) die Positionen verschiedener, den Fußballraum begrenzender Dinge an, welche er zunächst erläuterte. Diese Dinge und die zwischen ihnen verlaufenden, die Raumgrenzen des Fußballs markierenden Linien spannten den Raum des
403 | Eberbach, Rasenspiele, S. 56. Vgl. ferner: Faber, Fußballsport, S. 27; Heineken, Das Fußballspiel, S. 80; Kohlrausch, Bewegungsspiele, S. 125; Technischer Ausschuss (Hg.), Spielregeln, S. 11. 404 | Schwalm, Fußball ohne Aufnehmen, S. 43, Hervorh., J.E. 405 | Vgl.: Blaschke, Fußball, S. 124; Clasen, Bewegungsspiele, S. 58; Eberbach, Rasenspiele, S. 19; Heineken, Rasenspiele, S. 10; Ders., Das Fußballspiel, S. 26; Ders., Lawn-Tennis und andere Spiele, S. 91; Hoch, Fußballsport, S. 21; Koch, Fußball 1895, S. 880; Kohlrausch, Bewegungsspiele, S. 123; Lion/Wortmann, Katechismus der Bewegungsspiele, S. 14; o.A., Bestimmungen des Fußballvereins zu Jena, S. 4; Paul, Das Fussballspiel, S. 30; Pfeiffer, Fußballspiel, S. 124; Poetzsch, P.: Merkbüchlein der Spielregeln für Barlauf, Schlagball, Fussball, Schleuderball und Faustball, Weissenfels 1895, nicht paginierter Anhang; Presinsky, Lawn Tennis sowie zehn der beliebtesten englischen Kugel- und Ballspiele, S. 163; Rauch, Anleitung, S. 93; Schacht, Fußballspiel, S. 148; Schettler, GutsMuths’ Spiele, S. 144; Schnell, Handbuch der Ballspiele, S. 41; Simon, Leitfaden, S. 7; Stößer, Regeln über das Fußballspiel, S. 69; Technischer Ausschuss (Hg.), Spielregeln, S. 9; Verein für Volkswohl: Anleitung und Regeln zum Fußballspiel ohne Aufnehmen (Association Fußball), Halle 1900, S. 4; Wohlrath, SpielBuch, S. 80; Zettler, Bewegungsspiele, S. 143; Ders., Turnspiele, S. 103f. 406 | Schwalm, Fußball ohne Aufnehmen, S. 12, Hervorh. i. Orig.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
Fußballs als »territorialen Container« auf.407 Schematische Abbildungen des Fußballraums in den Praxisanleitungen überführten diesen Raum in eine visuelle Ordnung, die ihren Rezipienten Orientierung über ihn und seine Grenzen vermittelten.
Abb. 10: Positionengeflecht und Fußballraum
407 | Kajetzke, Laura/Schroer, Markus: Space Studies, in: Möbius, Stephan (Hg.), Kultur, S. 196-215, Zitat S. 199. Vgl. ferner als Überblick zum »spatial turn«: BachmannMedick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 284-328; Döring, Jörg/Thielemann, Tristan (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008. Vgl. in kritischer Perspektive auf den ›spatial turn‹ für die Geschichtswissenschaften die Essays von Anette Schlimm, David Kuchenbuch und Timo Luks: Kuchenbuch, David/Luks, Timo/Schlimm, Anette (2008): Rezensionsforum Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, in: fastforeword 2, 2008, S. 20-30, online: http://ffw.denkraeume-ev.de/2-08/kuchenbuch-luks-schlimm/index.html, letzter Zugriff: 21.02.2014.
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Zweitens schilderte Schwalm anhand der Abbildung das Positionengeflecht eines Fußballspiels – die ordnungsgemäße Stufenfolge, die sich jedoch, wie Schwalm bemerkte, »schon mit dem Abstoß [ändert]; fast jeder nachfolgende Stoß bedingt eine weitere Verschiebung der Parteien«.408 Zwischen dieser schematischen Darstellung einer Aufstellung vor Beginn des Spiels und der Verschiebungen der Parteien bestand also eine deutliche Spannung, die sich im Anschluss an raumtheoretische Positionen als Gleichzeitigkeit von Container- und fluidem Raum bezeichnen lässt.409 In diesem Kontext wiederholte sich die Orientierungsfunktion solcher Abbildungen. Zwar verschob sich das Positionengeflecht im Vollzug eines Fußballspiels permanent, brachten die »Wechselfälle des Spiels [...] gar bald und oft die Spieler durcheinander, doch jederzeit sollen sie, um ein gutes Zusammenspiel in jeder Partei zu ermöglichen, bestrebt sein, diese Ordnung wieder herzustellen,«410 wie es Zettler auf den Punkt brachte. Die Aufrechterhaltung der Ordnung beruhte jedoch nicht nur auf einer Selbst-Verortung im Fußballraum, sondern ebenfalls auf der Unterordnung unter den Kapitän, Spielführer, -leiter, Spielkaiser, Kaiser oder Captain – die Bezeichnungen variierten.411 Dieser sollte »jeden Mann seiner Truppe kennen und dessen besondere Fähigkeiten auszunutzen bestrebt sein.«412 Seine Aufgabe war vor allem die Leitung der Fußballmannschaft im Spiel. »Der Spielkaiser steht in der Mitte seines Feldes, um das Spiel gut überblicken zu können. Er erteilt die Befehle, ermuntert durch Zurufe und greift überall ein, wenn für seine Partei Gefahr im Verzuge ist«, wie es Antonie von Robolsky 1905 in dezidiert
408 | Zitate: Schwalm, Fußball ohne Aufnehmen, S. 23, S. 25. 409 | Vgl.: Meyer, Robert/Prinz, Janosch/Schetter, Conrad: Ein Spiel im Container? Zum Zusammenhang von Raum und Fußball, in: Peripherie. Zeitschrift für Politik und Ökonomie in der Dritten Welt 30, 2010, S. 82-100. 410 | Zettler, Turnspiele, S. 104f. Vgl. ähnlich: Schacht, Fußballspiel, S. 148; Heineken, Lawn-Tennis und andere Spiele, S. 95. 411 | Vgl. zu den verschiedenen Bezeichnungen, die zum Teil auch in einem Atemzug genannt wurden: Clasen, Bewegungsspiele, S. 57; Eberbach, Rasenspiele, S. 17; Heineken, Rasenspiele, S. 9; Ders., Das Fußballspiel, S. 80; Ders., Lawn-Tennis und andere Spiele, S. 94; Lion/Wortmann, Katechismus der Bewegungsspiele, S. 123; Pfeiffer, Fußballspiel, S. 17; Racquet, englische Spiele, S. 50; Kohlrausch/Marten, Turnspiele, S. 51; Raydt, Englische Schulbilder in deutschem Rahmen, S. 98; Schacht, Fußballspiel, S. 147; Schettler, GutsMuths’ Spiele, S. 145; Schwalm, Fußball ohne Aufnehmen, S. 23f., S. 42; Technischer Ausschuss (Hg.), Spielregeln, S. 12; Zettler, Turnspiele, S. 104. 412 | Eberbach, Rasenspiele, S. 46.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
militärischer Terminologie formulierte.413 Die Beschreibungen Robolskys verweisen auf eine charakteristische Verquickung der strategischen Funktion des Kapitäns mit seiner taktischen Position, welche zahlreiche dieser Texte schilderten. Obwohl alle Spieler aufgefordert waren, die taktische Ordnung aufrechtzuerhalten, oblag dies dem Kapitän im besonderen Maße. Nachdem er die Aufstellung der Spieler geschildert hatte, legte etwa Ernst Kohlrausch nahe, dass »diese Aufstellung möglichst inne« zu halten sei. Zwar dürften die Spieler »ihre Rollen vertauschen«, aber dies sollte »der Führer [...] anordnen.«414 Ferner war er es, der im Spiel zu bestimmen hatte, auf welche Weise die Mannschaft spielen sollte. »Jede Partei wählt sich einen Spielwart, dessen Anordnungen bezüglich des Zusammenspiels die ganze Partei sich fügen muss«, wie es Karl Pfeiffer formulierte.415 Aufgrund dieser strategischen Funktionen sollte er, so die einhellige Meinung, dort spielen, wo er »die beste Übersicht habe«,416 und das bedeutete in der Regel die taktische Position des mittleren Läufers, welche ihm Schwalm unter Bezugnahme auf die bereits untersuchte Abb. 10 nahelegte. »Die Parteiführer treten in der Regel als mittlere Deckmänner (MM) an; dieser Platz ist sehr wichtig und zur Leitung des Kampfes am geeignetsten.«417 Die Konzeptionen des Fußballs als Kampf, der Verhältnisse zwischen den gegnerischen Mannschaften als feindschaftlich, die Logik der territorialen Gewinne als Spielprinzip und die Dublette von räumlich-positionaler Ordnung und Unterordnung unter einen ›Führer‹ als wesentlichem Organisationsprinzip einer Fußballmannschaft formten die Praktik zu einer weit ausgedehnten
413 | Zitat: Rauch, Anleitung, S. 74. Vgl. ferner zur militärischen Terminologie: Heineken, Rasenspiele, S. 68; Pfeiffer, Fußballspiel, S. 23. 414 | Kohlrausch, Bewegungsspiele, S. 124. Vgl. ferner zum Kapitän als (an-)ordnende Instanz: Heineken, Das Fußballspiel, S. 80; Lion/Wortmann, Katechismus der Bewegungsspiele, S. 124; Schwalm, Fußball ohne Aufnehmen, S. 23, S. 43; Wohlrath, SpielBuch, S. 80f. 415 | Zitat: Pfeiffer, Fußballspiel, S. 14. Vgl. ferner: Eberbach, Rasenspiele, S. 46; Faber, Fußballsport, S. 76; Heineken, Rasenspiele, S. 68; Ders., Das Fußballspiel, S. 80, S. 212; Hoch, Fußballsport, S. 17; o.A.: Foot-Ball, Hamburg 1876; Presinsky, Lawn Tennis sowie zehn der beliebtesten englischen Kugel- und Ballspiele, S. 167; Schwalm, Fußball ohne Aufnehmen, S. 42; Sparbier, Fußball-Merkblatt, S. 2. 416 | Heineken, Rasenspiele, S. 53. 417 | Schwalm, Fußball ohne Aufnehmen, S. 24. Auf S. 46 wiederholte er, dass diese Position besonders geeignet sei. Vgl. ferner zur Positionierung des Kapitäns in Abhängigkeit von seiner strategischen Funktion: Clasen, Bewegungsspiele, S. 58; Eberbach, Rasenspiele, S. 46; Hoch, Fußballsport, S. 17; Lion/Wortmann, Katechismus der Bewegungsspiele, S. 124f.; Pfeiffer, Fußballspiel, S. 20, S. 23; Racquet, englische Spiele, S. 50; Technischer Ausschuss (Hg.), Spielregeln, S. 12; Wohlrath, Spiel-Buch, S. 80.
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Projektionsfläche für Analogiebildungen zwischen Fußball und Krieg.418 Eine solche Projektion vom Fußball auf den Krieg nahm beispielsweise Raydt in seinen Beobachtungen englischer Schulspiele von 1889 vor. Diese erinnerten ihn an einen »nach allen Regeln des Anstandes geführte[n] Krieg«. Aus diesem Grund stellten diese Spiele »stets die Eigenschaften auf die Probe und üben sie, welche ein Mann im Kriege gebraucht«.419 Mehr als zwanzig Jahre später griff auch von Hülsen auf die Beschreibung des Fußballs als Kriegsgeschehen zurück und verglich ihn mit dem genuin militärischen Übungsraum für Soldaten, dem Manöver. »Der Fußballkampf ist gewissermaßen ein kleines Manöver. [...] Wie im Manöver die einzelnen Heeresabteilungen miteinander wirken, um den Erfolg zu schaffen, so bekämpfen auf dem Fußballfeld die elf Spieler der Mannschaft zusammen den Gegner, um den Sieg davonzutragen.« 420
Ernst Würtemberg fasste das bisher Gesagte 1910 treffend zusammen. In diesem »Krieg im Kleinen« lernten die Spieler »Gehorsam [...] [und] willige Unterordnung unter die selbstgewählten Führer«.421 Die militärischen, kriegerischen und kämpferischen Semantiken waren zum Teil sicherlich der Allgegenwart solcher Redeweisen geschuldet. Zugleich machten sie den Fußball aber auch zu einem Raum der soldatischen Vor- und Ausbildung, der nicht nur auf einen metaphorischen Raum beschränkt blieb. Fußball war Kampf und als solcher sollte er junge Männer und Jungen für einen möglichen Krieg, wenigstens aber für den Militärdienst befähigen. Zudem glich der Fußball- einem Kriegsraum und erlaubte somit das Einüben von Unterordnung und der Aufrechterhaltung von Ordnung innerhalb eines komplexen und dynamischen Geschehens. Auf diese Weise konnte der Fußball als Ausbildungspraktik gerahmt werden, welche als »Krieg im Kleinen« aus Individuen Soldaten bilde. Deutlich wird dies an den Beschreibungen des Fußballs aus den Reihen des Militärs. Mehrfach zogen sie Schilderungen des modernen Krieges hinzu, um die spezifischen Leistungen des Fußballs für die Ausbildung von Soldaten darzulegen. Scheibert gelangte anhand von Beschreibungen des russisch-japanischen Krieges, der ihm als Prototyp des modernen Krieges galt, zu der notwendigen Gleichzeitigkeit von Disziplin und Selbstständigkeit. Gerade der Fußball fordere diese »straffe Unterordnung« bei gleichzeitig eigenständiger
418 | Vgl. zu dieser Analogie ebenfalls: Eisenberg, English Sports, S. 192. 419 | Raydt, Englische Schulbilder in deutschem Rahmen, S. 128. 420 | Hülsen, Fußballsport und Wehrfähigkeit, S. 126f. 421 | Würtemberg, Sport und Kultur, S. 18.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
Beurteilung der jeweiligen Situation.422 Geradezu mikroskopisch schilderte von Sichhart die »Feldschlacht«. Hier müsse der »Mann im dichtesten Kugelregen nach altem bewährtem preußischem Siegesrezept ›heran an den Feind, koste es was es wolle‹. Hierzu dienen ihm kurze, blitzartig ausgeführte Sprünge, bei denen nur absolute Schnelligkeit gegen die feindlichen Kugeln schützen kann.«423 Gerade deshalb sei das Fußballspiel, welches Körper und Geist des Soldaten auf genau die gleiche Weise beschäftige, ideal. Auch Neuber eröffnete einen Aufsatz zum Wandel der Kriegsanforderungen und deren Rückwirkung auf die Leibesübungen mit einer Schilderung des modernen Feuergefechts. »Wo es dem Schützen, der Gruppe möglich erscheint vorwärts zu kommen, da wird blitzschnell aufgesprungen, vorwärts gestürzt […]. Je näher der Angreifer der feindlichen Stellung kommt, desto lebhafter wird das Feuer, desto betäubender der Kampflärm und erschütternder die Eindrücke von Tod und Vernichtung. Die Führer – soweit sie noch gefechtsfähig sind – liegen inmitten ihrer Mannschaften, unfähig mit ihrer Stimme auch nur dem nächsten sich verständlich zu machen; jeder Schütze ist auf sich selbst angewiesen«.424
Vergleicht man diese Passage mit Ausführungen Kohlrauschs über das Fußballspiel, dann tritt die Nähe zwischen der Beschreibung des Gefechts und des Fußballs hervor. In einem Aufsatz des ZA-Handbuchs Wehrkraft durch Erziehung von 1905 beschrieb Kohlrausch die Relevanz der Jugendspiele zur Förderung der Wehrkraft. Innerhalb der Gruppe der Ballspiele, d.h. Schleuder-, Grenz-, Faust-, Korb-, Raff- und Fußball, wies er dem Fußball die höchste Bedeutung zur Förderung der Wehrkraft zu. »Kein anderes verlangt so ausgiebigen und zeitweilig schneidigen Lauf, so kurzen Entschluß und plötzliche Bewegungen, so sicheres und schnelles Beurteilen und Benutzen der augenblicklichen Spiellage, so feines und sicheres Zusammenwirken der Parteien.«425 Auch wenn in dieser Passage keine Kugeln flogen oder Menschen starben, so vermittelt sie die gleiche Dynamik, den gleichen Eindruck von Unmittelbarkeit, wie die Beschreibungen Neubers. Ferner wird an beiden Beschreibungen deutlich, dass der (soldatische) Körper im Krieg wie im Fußball lediglich als ausführendes Organ des disziplinierten und selbstständigen Soldaten galt. 422 | Vgl.: Scheibert, Sport und Wehrkraft, S. 36, Zitate ebd. 423 | Sichhart, Fußballsport im deutschen Heere, S. 66. 424 | Neuber, Ferdinand: Der Wandel der Anforderungen des Krieges in den letzten fünfzig Jahren und dessen Rückwirkung auf die Leibesübungen, in: JfVJ 21, 1912, S. 2231, Zitat S. 26f. 425 | Kohlrausch, Ernst: Jugendspiele zur Förderung der Wehrkraft, in: Lorenz, Hermann/Schenckendorff, Emil von (Hg.), Wehrkraft durch Erziehung, S. 156-171, Zitat S. 163.
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Im Vergleich zu diesen Resonanzen zwischen Fußball und Militär nahmen sich die Beschreibungen der Relevanz des Turnens eher hölzern aus. In der gleichen Publikation beschrieb Alfred Böttcher das Schulturnen unter dem Gesichtspunkte der Wehrkraft. In Bezug auf die Förderung der Militärtauglichkeit durch das Turnen heißt es dort: Für den »Heeresdienst [...] muß sich der strengen Disziplin, welche die Massen beherrscht, zur Erzielung des Erfolges der besonnene Mut und die beharrliche Willenskraft des einzelnen Mannes hinzugesellen, damit dieser auch in schwierigeren Lagen der Geistesgegenwart und kaltblütigen Umsicht nicht verliert und auch ohne Befehl im rechten Augenblicke die rechte Handlung auszuführen weiß.«426 In beiden Beschreibungen werden im Grunde die gleichen Aspekte verhandelt: Geistesgegenwart, Selbstständigkeit und diszipliniertes Zusammenwirken. Vielleicht war Kohlrausch ein begabterer Schreiber als Böttcher, und es kann hier auch nicht das Ziel sein, die Turner des Kaiserreichs lächerlich zu machen; aber die unterschiedliche Dynamik der Beschreibungen ist augenfällig. Vielleicht war das Turnen genauso geeignet, Soldaten vor- und auszubilden, aber als Projektionsfläche für den modernen Krieg taugte es offenbar nicht. Die zitierten Passagen verweisen auf die hohe Bedeutung der kriegerischkämpferischen Semantiken, die das Fußballspiel zu einem »Krieg im Kleinen« machten. Die Konzeptionen von »Fußballkampf« oder »Fußballschlacht«427 waren nicht nur Beschreibungsmuster, sondern platzierten den Fußball als idealen Übungsraum für den kommenden Soldaten. Da dieser Soldat nicht früh genug für den Militärdienst vorbereitet werden könne, forderten Neuber und Scheibert explizit die Verbreitung von Spiel und Sport; und der Fußball war die Praktik, an der Scheibert und von Sichhart diese Forderung entwickelten. Christiane Eisenberg hat darauf hingewiesen, dass das »Kriegsbild, das einer ›Fußballschlacht‹ zugrunde lag«, eine große Ähnlichkeit zu den Beschreibungen des modernen Krieges hatte. Gleichwohl greift ihre Schlussfolgerung zur Omnipräsenz militärischer Semantiken zu kurz. Ihrer Meinung nach hatten die »militärischen Metaphern [...] im Fußball die Funktion das Zusammenspiel zu fördern.«428 Das ist sicherlich eine korrekte Einschätzung, aber die geschilderten Analogisierungen weisen darüber hinaus. Sie erzeugten den Fußball als dem Militär angemessene, weil dem Krieg ähnliche oder sogar prinzipiell analoge Praktik, wie Donalies den inhaltlichen Teil seines Handbuchs für den militärischen Sportbetrieb schloss. In diesem Handbuch, 426 | Böttcher, Alfred: Das Schulturnen unter dem Gesichtspunkte der Wehrkraft, in: Ebd., S. 143-155, Zitat S. 152. 427 | Koch, Konrad: Wie kann Fußball ein deutsches Spiel werden?, in: Beilage zu Nr. 28 der DTZ 39, 1894, S. 549-550, Zitat S. 549. 428 | Vgl.: Eisenberg, English Sports, S. 191f., Zitate S. 192.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
in dem der Fußball einen herausgehobenen Stellenwert hatte, parallelisierte er Sport und Krieg. »[D]er frohe Kampf des Sportplatzes [...] beruht auf keinen anderen Prinzipien als der ernste Kampf, in welchem die Völker auf blutigen Schlachtfeldern um die Palme des Erfolges und die Ehre ihres Vaterlandes ringen.«429 Als »Krieg im Kleinen« sollte der Fußball seine Akteure zu disziplinierten und selbstständigen Soldaten bilden. Gleichzeitig geriet er im Vergleich zum Turnen zur geeigneteren Praktik für das Militär. Mit den Verschiebungen in Militärtechnik und -taktik um 1900 ging eine zunehmende Erosion der Bedeutung des Turnens für die Ausbildung soldatischer Eigenschaften, vor allem der Gleichzeitigkeit von Disziplin und Selbstständigkeit, einher. Der »Fußballkampf« war militärisch zeitgemäßer als das »drillmäßige« Turnen. Im Gegensatz zum Gleichklang von Befehl und Gehorsam auf dem Turnplatz, welcher dem Krieg von 1870/71 angemessen gewesen war, konnte der disziplinierte, aber auch selbstständige Soldat, der im Fußball gelernt hatte innerhalb gewisser Regeln zum Wohle des Ganzen zu operieren, nicht mehr reiner Befehlsempfänger sein – ganz abgesehen davon, dass er diese Befehle im Gefechtslärm wohl auch nicht gehört hätte.
Kontur 3: Der Fußballer als Soldat und der Soldat als Fußballer Im Unterschied zu den bisher untersuchten Verhältnissen zwischen Fußball und Gesundheit respektive Männlichkeit bildeten die Relationierungen von Fußball und Militärtauglichkeit keine eigene Beobachtungsoptik von einzelnen Spielern aus. Im Gegenteil: Als Kampf war der Fußball in nahezu allen Spielberichten bereits gesetzt. Fußball war Kampf, darüber bestand weder in Spielberichten noch in Praxisanleitungen auch nur der Hauch eines Zweifels. In diesem, dem modernen Krieg analogen Kampf, sollten Fußballer zum einen körperliche Eigenschaften entwickeln, die sie für den modernen Krieg benötigten. Der Beginn des Ersten Weltkriegs markierte in diesem Kontext den Beginn einer ›Beweisaufnahme‹ für die militärische Eignung von Fußballkörpern. Zum anderen, und das war das stärkere Argument für den Fußball, galt er als dem modernen Krieg angemessene Praktik. Diskursiv wurde der Fußball als Raum erzeugt, innerhalb dessen Fußballer im Spannungsverhältnis von Ordnung und Unterordnung zu flexiblen Soldaten geformt würden. In diesem Zusammenhang entfaltete die konstitutive Gleichzeitigkeit von Containerraum und fluiden Räumlichkeiten des Fußballs ein hohes Projektionspotenzial. Sie zwangen jeden Einzelnen, sich den Befehlen des Kapitäns zu fügen, zugleich die taktische Ordnung aufrecht zu erhalten und relativ flexibel zu agieren. Während die Analogisierung von Fußball- und Soldatenkörpern vor 429 | Donalies, Sport und Militär, S. 173.
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allem im Kontext der Logik des Lackmustests den Kriegsbeginn überdauerte, bildete der Kriegsbeginn für diesen Punkt eine deutliche Zäsur. Vor dem Krieg galten dieser und der Fußball als analoges Geschehen, mit Beginn des wirklichen Krieges ›hörte jedoch das Spiel auf und der Kampf setzte ein‹. Nun bildete der Fußball einen Ausgleich zum Krieg und – wie sich an den Feldpostbriefen Albers’ und Jägers zeigen ließ – der Krieg ein Analogon des Fußballs, nicht umgekehrt. Solche fragmentarischen Einblicke verweisen auf die Dublette des Subjekts des Fußballs im Kontext der Militärtauglichkeit. Konturierten ihn seine Fürsprecher als soldatisches Subjekt, so verarbeiteten Soldaten, die Abseits der Schlachtfelder Fußballer waren, ihre Erfahrungen des Krieges in fußballerischer Semantik und im Rekurs auf Analogien zwischen Krieg und Fußball.
8. »P ro patria est, dum ludere videmur «: F ussball , N ation und G egenwart Am Ende der allgemein unterrichtenden Mitteilungen des ZA von 1895 erschien ein von Hermann Raydt verfasster Mahnruf an das deutsche Volk. Raydts Ausführungen über die unbedingte Notwendigkeit einer Förderung der Bewegungsspiele gipfelten in einer Zuspitzung ihrer patriotischen Relevanz. »Alle aber, die ihre Zeit für die Förderung der Leibesübungen in freier Luft opfern, alle, welche nach ihren Kräften Mittel zu deren Förderung anwenden, werden das freudige Bewußtsein gewinnen, daß sie an einem wahrhaft patriotischen Werke mitarbeiten: Pro patria est, dum ludere videmur. (Es ist für das Vaterland, wenn wir zu spielen scheinen.)« 430
Ein Engagement zur Förderung der Leibesübungen im Freien zeugte also – ebenso wie die Teilnahme am Spiel selbst – von der Wahrnehmung patriotischer Aufgaben, was sich in zahlreichen Aussagen im Feld der Körperkultur in der Formel »pro patria est, dum ludere videmur« verdichtete.431 Formelhaft ist damit ein wesentlicher Aspekt des Verhältnisses zwischen Fußball und Nation angedeutet. 430 | Raydt, Hermann: Pflegt allerorts die Spiele und Leibesübungen in freier Luft! Ein Mahnruf an das deutsche Volk, in: Schenckendorff/Schmidt (Hg.), Allgemein unterrichtende Mitteilungen 4, 1895, S. 16. 431 | Vgl. u.a.: Aufruf des ZA an die deutsche Studentenschaft, S. 318; Bloch, John: Mehr Luft!, in: Spiel und Sport 4, 1894, S. 211f., hier S. 212; Hopf, Bedeutung der Leibesübungen für Volksgesundheit und Wehrkraft, S. 274; o.A.: I. deutscher Congress für Jugend- und Volksspiele, Teil II, in: Spiel und Sport 4, 1894, S. 150-152, hier S. 151; Raydt, Spielplatzfrage, S. 98; Würtemberg, Sport und Kultur, S. 9.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
Diesem Verhältnis gilt das Interesse der folgenden Überlegungen. Anders als in den vorangegangenen Abschnitten orientiert sich die Untersuchung nicht an einer der drei Problematisierungsachsen. Wenngleich sich die Topoi in der folgenden Analyse durchaus ähneln, steht nicht der Einzelkörper, sondern das Verhältnis zwischen Fußball und dem kollektiven Bezugsrahmen 432 im Zentrum. Der Diskursstrang, der dieses Verhältnis organisierte, fächerte sich in drei disparate Fäden auf, deren Gemeinsamkeit in der Verknüpfung mit dem nationalen Kollektiv bestand. Diese drei Fäden und ihre unterschiedlichen Konstellierungen von Fußball, Fußballer und nationalem Kollektiv sollen im Folgenden näher untersucht werden. Im Fokus stehen also die Verhältnisse, die zwischen Fußball, Fußballer und Kollektiv eingerichtet wurden und den Fußball zu einer bewegten Projektionsfläche für die Beschaffenheit der Nation formten. Der erste Faden betraf wahrnehmbare Dissonanzen zwischen Fußball und ›deutscher Nation‹. Sein Status als englisches Spiel firmierte als ein Grund, die Einführung des Fußballs abzulehnen, denn englische Spiele galten als unangemessene Beschäftigung für die ›deutsche Jugend‹. Wenngleich im Grunde überhaupt nicht klar war, worum es sich bei der deutschen Nation überhaupt handeln könne, waren sich die meisten Sprecher sicher, dass sie wahrnehmbar sei. Genau an diesem Punkt brach sich das Sprechen über den Fußball mit dem über die Nation, denn seine Regeln sowie seine ›Fachsprache‹ waren in England ausgearbeitet und vielfach auch in dieser sprachlichen Verfasstheit im Kaiserreich adaptiert worden. Entsprechend beschäftigte sich vor allem der ZA intensiv mit der Fußballsprache. Beispielsweise bemängelte August Marx: »Es wirkt halb komisch, halb widerwärtig, schon die kleinsten Knirpse beim Spiel fortwährend mit forwards, half back-centre, goalkick etc., kurzum lauter englischen Brocken um sich werfen zu hören, die sie glücklich den Anglomanen der Prima abgelernt.«433 Hinzu kam, dass die fußballerische Funktionskleidung ebenfalls überwiegend aus England kam, wo bereits in den 1870er Jahren ein Markt für solche Güter entstanden war. Im Gegensatz zur einheitlich weißen Kleidung der Turner, trugen Fußballer im Kaiserreich oft farbige Oberbekleidung; im Gegensatz zur Turnsprache, bei der sich bereits Eiselen und Jahn intensiv darum bemüht hatten diese »Deutsche Sache in Deutscher Sprache«434 zu fassen, nutzten die Fußballer, vor allem in den frühen 1890er Jahren, primär englische oder englisch-deutsche Begriffe. Die beiden anderen Fäden waren in gewisser Hinsicht eng verbunden und an die Bedingungen der Gegenwart gekoppelt. Anschaulich brachte Martin 432 | Siehe auch: Kapitel 2. 433 | Marx, Turnen und Bewegungsspiel, S. 23. 434 | Eiselen/Jahn, Turnkunst, S. XIX. Eiselen und Jahn setzten sich auf über 25 Seiten mit einer adäquaten deutschen Turnsprache auseinander.
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Berner 1912 die zeitgenössische Konjunktur diagnostischer und prognostischer Aussagekomplexe auf den Punkt. »Unsere Zeit scheint verworren, und ihre Zeichen sind für den, der sie erst miterlebt, schwer zu deuten. Heute spricht man vom Jahrhundert des Kindes, morgen nennt man dasselbe Jahrhundert der Arbeit, der Maschine, des sozialen Gewissens. Das eine scheint festzustehen: daß wir am Aufbau einer neuen Kultur tätig sind. Altes muß in Haufen weichen vor den Errungenschaften der Technik, zum andern sind die neuen Formen noch nicht immer gefunden.« 435
In den Augen Berners gab es also wenig Klarheit darüber, wie mit den Veränderungen umzugehen sei und wie sie sich zukünftig auswirken würden. Worauf sie sich auswirken würden, galt jedoch den meisten Sprechern im Feld der Körperkultur als sicher: die als organische Gemeinschaft imaginierte Nation. Diese Imagination erzeugte zwei Interventionsfelder, welche die beiden anderen Fäden des Sprechens über Fußball und Nation strukturierten. Das erste Interventionsfeld unterhielt enge Beziehungen zur Problematisierung von Gesundheit. Die als organische Gemeinschaft imaginierte Nation verdichtete sich in der physischen Entität des »Volkskörpers«. Dieser war durch die Bedingungen der Gegenwart ebenso bedroht, wie die Einzelkörper, welche die Glieder dieser physischen Kollektiventität bildeten. Diagnostische Aussagekomplexe über die Beschaffenheit der Gegenwart und die ihnen beigeordneten Prognosen erzeugten einen Interventionsbedarf zur Regeneration des Volkskörpers. Diese Regeneration konnte jedoch nur der einzelne leisten, schließlich setzte sich der Volkskörper aus Einzelkörpern zusammen. Nur indem der Einzelne durch Teilnahme am Fußballspiel seinen Körper pflege, könne also auch der Volkskörper der Nation genesen. Die organizistische Konzeption der Nation war zugleich anschlussfähig für Projektionen auf die Gemeinschaft. Die Nation als »vorgestellte politische Gemeinschaft«,436 wie es Benedict Anderson treffend formuliert, bildete im Feld 435 | Berner, Martin: Fußballsport und Staat, in: DFB-Jahrbuch 9, 1912, S. 108-114, Zitat: S. 110. 436 | Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, 2. erw. Aufl. d. Neuausgabe von 1996, Frankfurt a.M. 2005, S. 15. Vgl. zur Nation als »Verarbeitung […] [der] Transformation der Lebensbildungen«, also als zeitgenössisch adäquate Antwort auf die Gegenwart das Nachwort Thomas Mergels in der zitierten Ausgabe Andersons. Mergel, Thomas: Benedict Andersons Imagined Communities. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, in: Ebd., S. 281-306, Zitat S. 284. Anderson, der »unorthodoxe Marxist« (Ebd., S. 282) buchstabierte diese Veränderungen vor dem Hintergrund des modernen Kapitalismus aus, auf welchen ich im Folgenden nicht weiter eingehen werde.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
der Körperkultur – und darüber hinaus – eine physische Entität, die auf spezifische Weise dem Fußball in Form einer disziplinatorischen Dimension analogisiert werden konnte. Im Fußball, konzipiert als »Spielorganismus«, sollte der Fußballer jenes Verhältnis zu sich einüben, welches die organische Gemeinschaft von ihm verlangte – eine Gleichzeitigkeit von Unterordnung und Individualität.
8.1 »Buntfarbige Narrenjacken« und »sprachlicher Unfug«: Dissonanzen zwischen Fußball und Nation 1916 setzte sich Wilhelm Rolfs mit der Frage Sollen wir noch englische Spiele spielen? auseinander. Der Zeitpunkt war gut gewählt, denn in diesem Jahr hätten die olympischen Spiele, von Rolfs als »Mißgeburt« bezeichnet, in Berlin stattfinden sollen, wenn nicht zwei Jahre zuvor der Erste Weltkrieg begonnen hätte. Angesichts der »gewaltigen Ereignisse, in deren Mitte wir stehen«, erhoffte sich Rolfs Gehör für sein »Lebensideal« zu finden: In »meinem Vaterlande eine der deutschen Geisteszucht gleichwertige Körperzucht nach rein vaterländischen Gesichtspunkten hin erblühen zu sehen.«437 Sein Votum für moderne englische Spiele, die er 1882 unter dem Pseudonym F.W. Racquet veröffentlicht hatte, verteidigte er mit dem Hinweis darauf, dass diese ursprünglich nötig gewesen seien, »um überhaupt zu einem lebendigeren Verständnis von der hohen Bedeutung der Körperzucht für unser deutsches Volkstum zu gelangen«. Seitdem aber habe sich »ohne Überlegung und Rücksicht auf unsere nationale Würde« der Sport in Deutschland derart ausgebreitet, dass das Deutsche der Körperkultur nun vollends verloren sei. Als Fazit seiner Ausführungen verwarf er die englischen Spiele, allen voran den Fußball, da sie »[s]chädlich, überflüssig und jedes vaterländische Gefühl verletzend« seien. Dazu gehörten der »schimpfliche sprachliche Unfug« und die Orientierung daran, »wie sich unser englische Vetter für jeden seiner Sports besonders kleidet«.438 Wäre Rolfs der einzige, der sich über diese sicht- und hörbaren Dissonanzen zwischen »Vaterland« und Sport ärgerte, so könnte man seine Aussage vielleicht vernachlässigen; wären solche Aussagen auf die Zeit des Ersten Weltkriegs beschränkt geblieben, so könnten sie vielleicht als Zeichen eines durch den Krieg übersteigerten Patriotismus gelten. Die kritische Haltung zu den Sicht- und Hörbarkeiten des Sports, die sich auch auf den Fußball kaprizierte, war jedoch wesentlich älter. Bereits 1885 hat437 | Vgl.: Rolfs, Wilhelm: Sollen wir noch englische Spiele spielen?, in: KuG 24, 1916, S. 64-72, Zitate S. 65f. 438 | Vgl.: Ebd., Zitate S. 66f. Vgl. zur besonderen Bekleidung für jeden Sport die Erinnerungen Wilhelm Windelbands in: Graf, Alfred (Hg.): Schülerjahre. Erlebnisse und Urteile namhafter Zeitgenossen, Berlin 1912, S. 110.
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te sich Wilhelm Gemoll auf der siebenten Direktoren-Versammlung in der Provinz Schlesien gegen die Aufnahme englischer Spiele in den Turnunterricht ausgesprochen. Er insistierte, dass wenigstens die höheren Schulen die »deutsche Eigenart, wie überall, so auch im Spiel festhalten« sollte, weshalb er gegen die Aufnahme englischer Spiele sei. »Das Leben bringt die fremden, namentlich die englischen Spiele schon rechtzeitig unseren Schülern nahe, dafür sorgt schon die Nachahmungssucht des Fremden und der Selbstentäußerungstrieb, welche unausrottbar, wie es scheint, in unserem Volke stecken.« 439
Die Stichwörter »Nachahmungssucht« und »Selbstentäußerungstrieb« als geradezu pathologische Erscheinungen verweisen auf eine bestimmte Facette des Nationalismus. Dessen hörbare Dimension hat Anja Stukenbrock vor dem Hintergrund des Sprachnationalismus ausgearbeitet. Sprache, so ihr Argument in Anlehnung an Ernest Gellner, bilde einen zentralen Naturalisierungsmechanismus der Nation. Sprache werde immer dann »ein ontologisch primärer Stellenwert im Hinblick auf die Konstituierung der Nation« zugeschrieben, wenn die Nation »nicht als Willensgemeinschaft, sondern als Kulturgemeinschaft definiert wird.«440 Der Nationalismus des Kaiserreichs, das hat Thomas Nipperdey gezeigt, war »kein Staatsnationalismus […], sondern ein Kultur- und Sprachnationalismus«. Das Primat dieses Nationalismus bestand in der Berufung auf »gemeinsame Herkunft und gemeinsames geschichtliches Schicksal, gemeinsame Kultur und gemeinsame Sprache.«441 In einer solchen, sprachlich und kulturell gerahmten nationalen Gemeinschaft, bedeutete der Gebrauch von Fremdwörtern ein unfehlbares Anzeichen für »Fremdgierigkeit«, die im Verständnis der »Sprachnationalisten« am Ende des 19. Jahrhunderts den ersten Schritt in die Verknechtung der deutschen Nation bedeutete.442 Auch knapp 20 Jahre nach Gemolls Votum gegen englische Spiele bildete die wahrnehmbare Dissonanz zwischen Fußball und Nation einen prominenten Ansatzpunkt für Kritik. So hieß es 1903 in einer regionalen Turnzeitung, 439 | Gemoll, Wilhelm: Koreferat zum Thema: In welcher Art ist das Turnen an den höheren Lehranstalten zum Nutzen für die körperliche und sittliche Erziehung der Jugend fruchtbringend zu machen und welche Hindernisse stehen der Förderung dieses Unterrichtsgegenstandes im Wege?, in: Verhandlungen der Direktoren-Versammlungen in den Provinzen des Königreiches Preußen 22, 1885, S. 26-38, Zitate S. 37f. 440 | Vgl.: Stukenbrock, Anja: Sprachnationalismus. Sprachreflexion als Medium kollektiver Identitätsstiftung in Deutschland 1617-1945, Berlin 2005, S. 48-50, Zitate S. 50. 441 | Nipperdey, Machtstaat, S. 252. 442 | Vgl.: Stukenbrock, Sprachnationalismus, S. 345f., Zitat S. 345.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
dass Lübecker und Kieler Fußballer »in der buntfarbigen Narrenjacke der Sportfexen und mit halbverdorbenen fremdländischen Ausdrücken um sich werfend« unangenehm aufgefallen seien.443 Farbige Bekleidung und die Fußballsprache verschränkten sich zu einer Facette des Akzeptabilitätsproblems, die vor allem wahrnehmbare Dissonanzen zwischen Fußball und Nation betraf. Im Umgang mit diesen Vorwürfen unterschieden sich die Fürsprecher des Fußballs an den Positionen der Spielbewegung und des Sports deutlich voneinander, was in zwei Schritten näher untersucht wird.
»Kasperle« und »Reinheit der Kleidung« »Wie oft haben sich die älteren Fußballspieler den Vorwurf gefallen lassen müssen: ›Na, ihr seht ja aus in euren bunten Hemden, wie die reinsten Kasperle‹; wie oft hört man in den verschiedensten Kreisen über das merkwürdige Aussehen von Fußballspielern in Bezug auf Reinheit der Kleidung reden.«
Diese Aussage entstammt einem Artikel zum Thema Propaganda aus dem DFB-Jahrbuch von 1909, in welchem der ungenannte Verfasser dazu riet, die Frage der Fußballkleidung ernst zu nehmen. Es sei »nur möglich […], das Publikum für sich zu gewinnen, wenn der Sportbetrieb äußerlich nett aussieht.«444 In diesem ausdrücklich auf Werbung für den Fußball zielenden Artikel finden sich die zentralen Facetten des Sprechens über Fußballbekleidung, die zum Teil seit den 1880er Jahren im Feld der Körperkultur diskutiert wurden: farbige Bekleidung und Sauberkeit. Hinsichtlich der farbigen Bekleidung scheint ein weiteres Mal die Mehrdeutigkeit des Fußballs auf. 1887 schimpfte Carl Partsch auf den Sport als »dem deutschen Boden fremde Pflanze«, deren Fremdartigkeit man u.a. am »farbenprächtige[n] Aeußere[n]« erkennen könne.445 Deutsche Jungen in Nachahmung englischen Wesens könnten keine wirklichen Deutschen werden, weshalb Fritz Eckhardt in einer Rede über Sport und Deutschtum von 1905 appellierte: »Darum, du Jünger des Sports, gedenke, daß du ein Deutscher bist, 443 | Vgl.: o.A.: Eingesandt ›Zur Abwehr‹, in: Sport im Wort 4, 1903, S. 613, Zitat ebd. 444 | Vgl.: o.A.: Propaganda, in: DFB-Jahrbuch 6, 1909, S. 138-143, alle Zitate S. 140f. Vgl. neben den im Folgenden zitierten: Auenhag, Fußballspiel und seine Gefolgschaft; Diem, Carl: Das Recht des Sports auf Werbearbeit, in: DFB-Jahrbuch 8, 1911, S. 40-42; Horowitz, E./Kubaseck, Hugo/Neumann, O.: Vorwort, in: DFB-Jahrbuch 3/4, 1905-1970, S. 1-2; Markus, Karl: Innere Erziehung, in: DFB-Jahrbuch 8, 1911, S. 50-59; Nordhausen, Richard: Sport und Öffentlichkeit, in: DFB-Jahrbuch 8, 1911, S. 43-49. 445 | Partsch, Turnen und Sport; Vgl. ferner: Kleber, Turnen und Sport; o.A., Deutsche und englische Leibesübungen; Schröer, eine neue Aufgabe. Explizit auf den Fußball bezogen: Planck, Fußlümmelei.
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und bleibe bei allem Sportbeginnen deutsch in Tat, Gesinnung und Wort!«446 Was Partsch, Eckhardt und andere447 am Sport im Allgemeinen bemängelten, konnte sich auch unmittelbar auf den Fußball beziehen. In seinem Bericht über ein Fußballspiel zwischen einer Leipziger und einer Berliner Städteauswahl von 1906 kritisierte Raydt ausdrücklich die »buntscheckige Tracht« der Berliner Fußballmannschaft und verschränkte diese mit einem Hinweis auf die »Abneigung unserer turnerischen Kreise gegen alles Auffallende«.448 Sechs Jahre später reagierte Karl Bühn in seinem Gutachten aus den erzieherischen Werten von 1912 mit Unverständnis auf solche Vorwürfe. »Ein Parteispiel verlangt doch eine möglichst scharfe Unterscheidung der Kleidung bei beiden Mannschaften. Und ist dann ein Trikot mit farbigen Streifen etwas so Schlimmes?«449 Die Beobachtungen Raydts und die Ausführungen Bühns unterstreichen den springenden Punkt der meisten Erörterungen über farbige Fußballkleidung. Im Vollzug eines Fußballspiels war eine deutlich sichtbare Unterscheidung der Mannschaften notwendig. Schon in den Praxisanleitungen der 1880er Jahre wurde dies diskutiert. So erklärte Rolfs, dass es »vorteilhaft ist, wenn beide Parteien sich durch entsprechende Kleidung […] kenntlich machen« und riet zu dem in England gebräuchlichen »Flanellanzug«.450 Anders Friedrich Ernst Clasen: In seiner Praxisanleitung lehnte er die in England üblichen, »je nach den Parteien verschiedenfarbige[n] Flanellanzüge« ausdrücklich ab. Diese würden »das Spiel unnötig verteuern.« Stattdessen seien je Mannschaft verschiedenfarbige Bänder als Unterscheidungsmerkmale zu benutzen.451 Ähnliches rieten Lion/Wortmann in ihrem Katechismus der Bewegungsspiele knapp zehn Jahre später. Man solle »die Einführung des Spiels nicht durch die Anschaffung besonderer Anzüge« erschweren. »Ärmere Schüler stößt man dadurch zurück«. Außerdem wäre der Fußball »wahrlich keinen Pfifferling wert, wenn nur englische, phantastische Firlefanzereien und auffällige Tricotanzüge die Lockpfeifen bilden müßten.«452 Jenseits des ökonomischen Aspekts, der bei Clasen noch das alleinige Argument gebildet hatte, 446 | Eckhardt, Fritz: Sport und Deutschtum. Aus einer Festrede im Verein für vaterländische Festspiele in Dresden, in: KuG 14, 1905/1906, S. 293-296, Zitat S. 295. 447 | Vgl.: o.A.: Deutsche und englische Leibesübungen, in: Akademische Turnzeitung 11, 1894/1895, S. 396-400; Kleber, Turnen und Sport, S. 734; Schröer, eine neue Aufgabe, S. 525. 448 | Raydt, Fußball-Städtewettkampf, S. 384. 449 | Vgl.: Gutachten Karl Bühns, abgedr. in: Münchener Rasensportverband (Hg.), erzieherischen Werte, S. 43-45, alle Zitate S. 45. 450 | Racquet, englische Spiele, S. 49f. 451 | Vgl.: Clasen, Bewegungsspiele, S. 57, Zitate ebd. 452 | Lion/Wortmann, Katechismus der Bewegungsspiele, S. 122.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
deuteten Lion/Wortmann in ihrer Praxisanleitung eine Dimension an, die in den folgenden Jahrzehnten die Debatte prägen sollte. Die Frage nach einer adäquaten Fußballkleidung bildete einen neuralgischen Punkt an beiden Positionen der Fürsprecher des Fußballs. Irgendwie mussten sich die Mannschaften voneinander unterscheiden – darin waren sich alle einig. Die Frage lautete vielmehr, wie dies zu tun sei. In seiner Praxisanleitung von 1898 eröffnete Karl Schwalm eine ganze Palette materieller Möglichkeiten zur Unterscheidung: verschiedenfarbige »Kappen – oder Embleme, resp. Monogramme auf diesen Kleidungsstücken – oder gut anliegende Armbinden u.dgl.m. (nur nicht flatternde Schärpen)«.453 In den Spielregeln des technischen Ausschusses hieß es acht Jahre später, dass »Arm- und Leibbinden nicht deutlich genug sichtbar« seien. Daher legten die Verfasser »Schärpen oder farbige (nicht zu bunte) Hemden«454 nahe. Schärpen, Kappen, Monogramme, Armbinden und ähnliches setzten sich nicht durch. Genau wie Rolfs 1882 galt den meisten Verfassern von Praxisanleitungen eine »einheitliche Kleidung«455 als sinnvoll. Und genau an diesem Punkt verschob sich das Problem von einer funktionalen zu einer ästhetischen Frage, wie bereits an dem eindeutig uneindeutigen Hinweis auf »farbige (nicht zu bunte) Hemden« aus den Spielregeln des technischen Ausschusses anklang. Gut zehn Jahre vor Erscheinen dieser Regeln hatte Konrad Koch den Großteil der deutschen Fußballer dafür getadelt, dass sie in der »verrufenen Tracht des Zirkusclowns«456 spielten. In einem anderen Artikel wies er bezüglich der Kleiderwahl auf das Vorbild der Fußballer des ATV Leipzig hin. Diese unterschieden sich durch ihre »einfache, aber zweckmäßige und schmucke Tracht« deutlich von der Sportkleidung »unserer exzentrischen, sportliebenden Stammesvettern« in England.457 Auf dem zwischen den 1870ern und dem Beginn des Ersten Weltkrieges expandierenden Sportartikelmarkt des Kaiserreichs458 453 | Schwalm, Fußball ohne Aufnehmen, S. 21. 454 | Technischer Ausschuss (Hg.), Spielregeln, S. 13f. Hervorh., J.E. Vgl. ähnlich: Koch, Konrad: Einfacher Fußball (Fußball ohne Aufnehmen, engl. Association). Im Auftrage des technischen Ausschusses für Volks- und Jugendspiele, in: DTZ 40, 1895, S. 879-881, hier S. 880. 455 | Heineken, Lawn Tennis und andere Spiele, S. 94. Vgl. neben den im Folgenden zitierten: Donalies, Sport und Militär, S. 140; Pfeiffer, Fußballspiel, S. 10; Rahn, Der Fußball, S. 79. Siehe auch den knappen Artikel zur Fussball-Dressfrage: o.A.: FussballDressfrage, in: Spiel und Sport 7, 1897, S. 45. 456 | Vgl.: Koch, Geschichte des Fußballs, S. 92, alle Zitate S. ebd. 457 | Vgl.: Ders., Wie kann Fußball ein deutsches Spiel werden? alle Zitate S. 549. 458 | Bereits Mitte der 1870er Jahre vertrieb die Braunschweiger Firma Dolffs & Helle Fußbälle. Vgl.: Koch, Fußball 1877, S. 167. Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs lassen sich knapp zwanzig weitere Händler identifizieren. Vgl. die Inserate in: Faber, Fußball-
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waren es jedoch vornehmlich englische Sportprodukte, die den Zeitgenossen angeboten wurden. Per Inserat hatte die englische Firma Feltham & Co. bereits Mitte der 1890er Jahre »[t]üchtige Vertreter in den Hauptstädten Deutschlands«459 gesucht und noch 1911 sah sich der DFB genötigt, den »deutschen Fußballspielern« den »Bezug deutscher Erzeugnisse« nahezulegen, statt dem »deutschen Nationalvermögen« Geldmittel durch den »Bezug ausländischer Erzeugnisse« zu entziehen.460 Vor den Vorlieben der ›exzentrischen Engländer‹ und ihren Fußballprodukten warnte auch Hermann Schnell in seinem Handbuch der Ballspiele. In den knapp vierseitigen Ausführungen über Spielkleidung wird sein Ringen mit der Frage einer hinreichend unterscheidenden und zugleich ästhetisch angemessenen Spielkleidung fast greif bar. Auch er kam nicht umhin anzuerkennen, dass die »beiden Parteien während des Spiels stets bunt durcheinander gemischt sind« und deshalb die »Notwendigkeit deutlicher Parteiabzeichen« bestünde. Allerdings habe dies »in England zu den unglaublichsten Farbzusammenstellungen« geführt. Gerade die »›Farbenpracht‹ manches Klubsweaters« sei es, auf die der »Widerwille, den viele Leute namentlich aus den gebildeten Bevölkerungsklassen gegen das Fußballspiel hegen«, zurückzuführen sei. Um diesem Widerwillen zu begegnen sei »zweckmässige und geschmackvolle Spielkleidung« dringend zu empfehlen. Ähnlich wie die Verfasser der Spielregeln des technischen Ausschusses blieb auch Schnell bei vagen Hinweisen. Seines Erachtens wären »bei der kleinen Zahl unserer deutschen Klubs« nicht zu viele Farben nötig.461 Ob nun der Ausschluss finanzschwacher Schüler, ›clowneske‹ Farbzusammenstellungen oder die Erregung von Widerwillen bei einer unklar umrissenen Gruppe – die bisher angeführten Aussagen von Fürsprechern an der Position der Spielbewegung unterstreichen, dass farbige Fußballkleidung tendenziell gegen den Fußball gewendet werden konnte. Dies lässt sich auch an einem knappen Abriss der Geschichte des Berliner Fussball-Club ›Frankfurt‹ von 1895 erahnen. »Bei dem grossen Berliner Publikum herrschte nur die eine Meinung vor, dass es mit erwachsenen Leuten, welche auf dem Felde im bunten Tricot einem Balle nachliefen, nicht mehr ganz richtig sein könne.«462 Nicht nur das Berliner Publikum, sondern auch Fürsprecher des Fußballs an der sport, S. 130-137. Ferner den Katalog des Spezial-Versandhaus für Rasen-Sportartikel. o.A.: Lawn-Tennis, Fussball, Hockey. Hans Rückeshaeuser jr. Spezial-Versandhaus für Rasen-Sportartikel, Mainz 1909, sowie die zahlreichen Inserate in den Sportperiodika. 459 | Vgl. beispielsweise das Inserat in: Spiel und Sport 3, 1893, S. 314. 460 | Vgl.: o.A.: Deutsche Sportartikel, in: Der Rasensport 9, 1911, S. 195. 461 | Vgl.: Schnell, Handbuch der Ballspiele, S. 34-37, Zitate S. 34, S. 36. 462 | o.A.: Die Geschichte des Berliner Fussball-Club ›Frankfurt‹, in: Der Fussball 2, 1895, S. 140.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
Position des Sports nahmen die Fußballbekleidung kritisch unter die Lupe. In einem Überblick zum Fußballsport in Chemnitz von 1902 bemerkte A. Vetter, dass dort derzeit nur »5 bis 6 Jugendmannschaften [spielen], die sich weniger durch ihre Spielleistungen von einander unterscheiden, als durch die verschiedenen, an einen Karneval erinnernden Kostüme.«463 Knapp zehn Jahre zuvor war die Frage der Bekleidung in einem Leserbrief zum Thema geworden – allerdings in einem anderen Zuschnitt. Auch der Briefschreiber rekurrierte auf die »vielfarbigen Tricots«. So gekleidet würden die »junge[n] Sportsmen« nicht etwa den direkten Weg zum »Exerzierplatz« im Norden Berlins wählen, wo die Fußballspiele stattfänden, sondern »den ganzen Tag dort lustwandeln.« Damit nicht genug: Man sieht auch »diese Tricotfreunde ihr Sportinteresse bethätigen, indem sie jeden erreichbaren Gegenstand, Cigarrenreste, Papierknäuel etc. benutzen, um sich im Fussballspiel zu üben, natürlich um auch ebenso häufig Anstoss bei dem hierbei belästigen Publicum zu erregen.« Weder vor noch nach dem Spiel, so seine Forderung, dürften sich Fußballer in Fußballkleidung im öffentlichen Raum bewegen. Vielmehr sollten sie sich direkt nach dem Spiel in ihren »Umkleidezimmern wieder zu gewöhnlichen Menschenkindern umwandeln«.464 Dieser Leserbrief, dem ein weiterer Leserbriefschreiber in der übernächsten Nummer beipflichtete,465 ist in dreierlei Hinsicht interessant. Erstens verweist er auf eine gewissermaßen passagere Existenz des Fußballers. Idealerweise sollten Fußballer nur im Fußballraum und in der Fußballzeit existieren, anschließend jedoch wieder zu ›Menschen‹ werden, woran sich die Angesprochenen offenbar nicht hielten. Zweitens steht er in markantem Kontrast zu den Trainingshinweisen. Während sich in diesen das Fußballer-Sein auf das gesamte Leben erstreckte, sollten Fußballer in der sie als solche kenntlich machenden Bekleidung, keinesfalls im öffentlichen Raum das Fußballspielen üben. Drittens zeigt der Leserbrief, dass die Fürsprecher des Fußballs an der Position des Sports deutlich kritischer bezüglich der Bekleidung waren, als jene an der Position der Spielbewegung oder des Turnens. Dabei war es eher selten das Auftreten als Fußballer in der Öffentlichkeit per se, als vielmehr Fragen der Einheitlichkeit der Kleidung, ihrer Sauberkeit, Form und Farbzusammenstellung. Hinsichtlich der Einheitlichkeit hob etwa ›Spectator‹ in einem Spielbericht von 1896 die Mannschaft Stern aus Berlin hervor. In ihrem Spiel gegen Vorwärts Berlin hätte sich Stern »wie immer [durch] einen gleichmässigen und recht vorteilhaft aussehenden Dress« ausgezeichnet. Im Gegensatz dazu waren »die Spieler der anderen Partei weit weniger regelmässig gekleidet [...]; bei 463 | Vetter, A.: Fußballsport in Chemnitz, in: Sport im Wort 3, 1902, S. 167. 464 | o.A.: Leserbrief, in: Spiel und Sport 3, 1893, S. 360-362, alle Zitate S. 360, S. 362. Vgl. zur Kritik an Fußballer im öffentlichen Raum auch: o.A., Propaganda, S. 141. 465 | Vgl.: Alla: Zur Costümfrage, in: Spiel und Sport 3, 1893, S. 384.
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einem derselben hingen sogar die weissleinenen ›Unaussprechlichen‹ [d.s. Unterhosen] in langen Fetzen an den Beinen herab.« In dezidierter Bezugnahme auf die Akzeptabilität lobte er anschließend den Vorstand des Deutschen Fussball- und Cricket-Bundes dafür, dass er beschlossen habe, »im nächsten Jahre allen Club-Mannschaften das Tragen einer gleichen Spielkleidung streng« vorzuschreiben. Dadurch sei ein »weiterer Schritt gethan, das Fussballspiel in seinem Ansehen zu heben.«466 Fünfzehn Jahre später war das Problem einheitlicher Bekleidung offenbar noch nicht in Gänze gelöst. Zumindest mahnte Martin Berner in einem Artikel über Werbearbeit im Sport, auf keinen Fall »in bunt gewürfelten Kostümen anzutreten.« Ähnlich wie ›Spectator‹ rekurrierte auch er anschließend auf die öffentliche Wahrnehmung. Uneinheitliche Kleidung »beleidigt die deutsche Ordnungsliebe und das ästhetische Empfinden.« In seinem Artikel beschäftigte Berner sich auch mit der Farbzusammenstellung. Letzteres band er ebenso wie die Einheitlichkeit der Kleidung an das ästhetische Empfinden der Zeitgenossen zurück. Jeder Fußballclub stünde in diesem Zusammenhang bereits bei seiner Gründung vor einem wichtigen Problem für seine weitere Werbearbeit, denn »[a]ufdringliche und häßliche Spieltrachten sind leider an der Tagesordnung.« Ähnlich wie die Kritiker an der Position der Spielbewegung bemängelte auch er, die Zuschauer könnten den Eindruck gewinnen, »daß die auffallenden Gewebe fast wichtiger scheinen als die Menschen unter ihnen«.467 Ordnung und Sauberkeit der Kleidung bildeten ebenso wie die Einheitlichkeit schon in den 1890ern ein wahrnehmbares Problem. Im Auftrag des Vorstandes des Deutschen Fussball- und Cricket-Bundes ließ Julius Graefe bereits 1893 – also drei Jahre vor dem von ›Spectator‹ gelobten Beschluss – die Vereinsvorstände wissen, dass die »Mannschaften einzelner Bundesclubs nicht in der uns angezeigten Sportskleidung gespielt und durch ihre nachlässige und unsaubere Kleidung sowohl in Sportskreisen als auch beim Publikum Aergernis erregt« hätten. Entsprechend sei es die »Pflicht« der Vorstände »auf schmucke und gleichmässige Kleidung […] zu dringen.«468 Ebenso wie die Frage der Einheitlichkeit blieb auch die der Sauberkeit bis weit in die 1910er Jahre ein virulentes Thema. So heißt es in den 11 Merksteinen des K.F.C.-aners von 1912/1913 in Punkt 6: »Halte Deine Sportkleidung sauber, damit Du Deinen 466 | Specator: Die Meisterschafts- und Wettspiele des Deutschen Fussball- und Cricket-Bundes, in: Sport im Bild 2, 1896, S. 812. Vgl. ähnlich und ebenfalls unter positiver Bezugnahme auf Stern: N.B.: Bundeswettspiel Stern contra Eintracht, in: Spiel und Sport 6, 1896, S. 1000-1002. 467 | Vgl.: Berner, Martin: Werbearbeit im Sport, in: DFB-Jahrbuch 8, 1911, S. 71-78, alle Zitate S. 73f. 468 | Graefe, Julius: Bekanntmachungen, in: Spiel und Sport 3, 1893, S. 477, Hervorh. i. Orig.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
Farben Ehre machst.«469 Die vereinspatriotische Relevanz sauberer Spielkleidung ergänzte Hans Hofmann um eine hygienische Begründung. Hofmann, Mitglied des KFC und Verfasser eines Artikels über die Kleidung der Spieler, der sowohl im DFB-Jahrbuch als auch in der Monatsschrift des KFC abgedruckt wurde, erklärte, dass »die verschwitzte und verkrustete Wolle […] wesentlich die Hautatmung« unterbinde, »ohne welche ein Sportsmann nicht arbeiten kann wie er soll.«470 Hofmanns Hauptanliegen war jedoch das Passungsverhältnis zwischen der Fußballbekleidung und den Wahrnehmungen der Zeitgenossen.471 Im Abschnitt über die »Oberkörperbekleidung« fasste er noch einmal alle bisher angesprochenen Aspekte unter dem Vorzeichen der Akzeptabilität zusammen. »Nichts hat dem Fußballsport vielleicht soviel geschadet bei jenen Kreisen, die zu gewinnen uns allein schon der Geldbeutel nötigt, als die schrecklich systemlose Wahl der Blusen, Hemden usw. bei schlechtberatenen kleinen Vereinen.« Das sei ein großes Problem, denn »wenn wir der großen Welt ein neues Kulturideal predigen wollen, sollten wir es ihr nach ihren bisherigen Idealen schmackhaft zu machen versuchen.« Als Beispiel für eine gute, nicht-systemlose Farbzusammenstellung erinnerte Hofmann an die Trikots Holstein Kiels. Kiel war in der Vorsaison deutscher Meister geworden, weshalb er vermutlich auf eine hohe Bekanntheit des Vereins rechnen konnte. Ihre Trikotfarben (rot und blau) wirkten zwar »im Zimmer schäuerlich [...] auf grünem Rasen [aber] so außerordentlich kräftig, gesund und kleidsam«. Neben der Farbzusammenstellung setzte er sich ferner mit der Form der Oberbekleidung auseinander. Die »Gelehrten« seien sich noch nicht einig darüber, ob »lockere Bluse« oder »anliegendes Hemd« einen »gesundheitlichen Mehrwert« bildeten. Ersteres sei jedoch seiner Meinung nach schon allein deshalb vorzuziehen, weil die »Bluse auch schon mal eine kleine Rückgratverkrümmung, einen zurückgebliebenen Arm mit liebreichen Falten umspielt und verhüllt«, während das engere Hemd »mehr nach dem Idealkörper verlangt, als er bisher noch anzutreffen ist.«472 Hofmann sprach aus Erfahrung. Vier Jahre zuvor hatte Camillus ›Peco‹ Bauwens den Mitgliedern des KFC Jerseys statt Hemden vorgeschlagen. Die 469 | Pfadfinder: Die 11 Merksteine des K.F.C.-aners, in: Monatsschrift KFC 5, 1912/1913, S. 16. Vgl. ähnlich: Sparbier, Fußball-Merkblatt, S. 2. 470 | Hofmann, Hans: Etwas über die Kleidung der Spieler, in: Monatsschrift KFC 6, 1913/1914, S. 107-111, hier S. 111. Identisch: Ders.: Etwas über die Kleidung der Spieler, in: DFB-Jahrbuch 10, 1913, S. 281-288. Vgl. ferner: Eberbach, Rasenspiele, S. 55; o.A., Winke für Fußballspieler, S. 138f. 471 | Vgl. ähnlich: o.A.: Spielaufsicht, in: DFB-Jahrbuch 5, 1908, S. 126-131, hier S. 126. 472 | Hofmann, Kleidung der Spieler, S. 110f.
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Farben der KFC-Mannschaften seien völlig in Ordnung, denn Rot und Weiß seien »die würdigen Vertreter der Colonia Aggripinensis [sic]«. Allerdings verbessere sich der »Gesamteindruck der Mannschaft […] besonders das Bild der selben nach vollendetem Wettkampf« durch engangliegende Jerseys.473 Offenbar schaffte sich der KFC diese auch an. In einem Spielbericht aus dem folgenden Jahr heißt es: »Esch, dessen rundes Bäuchlein beim Laufen so schön unter dem Jersey wackelt, gab verschiedene gefährliche Centerbälle.«474 Hofmanns Hinweise auf den noch nicht überall anzutreffenden Idealkörper formten also nicht nur einen Allgemeinplatz, sondern beruhten auf konkreten Erfahrungen. Esch hatte zwar keine Rückgratverkrümmungen oder einen »zurückgeblieben Arm«, aber sein »rundes Bäuchlein« stand dem seitens der Fürsprecher des Fußballs propagierten idealen Fußballkörper deutlich sichtbar gegenüber. Interessanterweise taucht an dieser Stelle die Frage nach dem Fußballkörper, die im Kontext der Problematisierung von Gesundheit ganz anders gestellt wurde, wieder auf. Im Gegensatz zu den vollmundigen Versprechungen einer harmonischen Ausbildung des Körpers durch den Fußball wies Hofmann seine Leser und Esch seine Zuschauer auf die eben nicht gänzlich harmonisch und gleichmäßig ausgebildeten Körper mancher Fußballer hin. Dies sollte Hofmanns Meinung nach durch eine auf bestimmte Weise beschaffene Oberbekleidung kaschiert werden. Unter dem Stichwort Bekleidung, vornehmlich der Oberbekleidung, verhandelten Fußballgegner und -fürsprecher seine sichtbaren (Nicht-)Passungen mit dem zeitgenössischen Geschmack. In diesem Zusammenhang konnten einzelne Mannschaften (ATV Leipzig, Stern Berlin, Holstein Kiel) als positive Beispiele für besonders gelungene Farbzusammenstellungen fungieren. An der Position des Sports wurde deutlich kritischer über die Spielkleidung gesprochen, als an jener der Spielbewegung. Rekurrierten Fürsprecher und Gegner an anderen Positionen im Feld der Körperkultur vornehmlich auf die (zu) bunten Farbkombinationen, so waren die Beobachtungen in Spielberichten und den als Allgemeinplätzen formulierten Aussagen in programmatischen Artikeln feiner justiert. Es war offenbar nicht nur die »verrufene Tracht des Circusclowns«, die Hofmann, Berner und andere als problematische Außenwirkung wahrnahmen, sondern auch ihre Form und Sauberkeit. In allen angeführten Beispielen wird die Sorge über eine antizipierte, auf diese Aspekte bezogene öffentliche Meinung deutlich. Die Bekleidung mochte den zitierten Sprechern auch persönlich nicht gefallen, Fluchtpunkt nahezu aller Argu473 | Vgl.: Bauwens, Camillus: Zur Frage einer anderen, zweckmäßigeren Fußballbekleidung, in: Monatsschrift KFC 2, 1909/1910, S. 126, alle Zitate ebd. 474 | Humbach, Theo: K.F.C. 99 I gegen Fußballmannschaft der 8. Komp. des 16. Inf.Reg. in Mühlheim a. Rhein 6:2, in: Monatsschrift KFC 3, 1910/1911, S. 60-61, hier S. 61.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
mentationen war jedoch der ›Schaden‹, den der Fußball durch unangemessene Kleidung nehmen könne. Zumindest aus der Perspektive der zitierten Sprecher und ihrer antizipierten oder direkt adressierten Rezipienten sah es die öffentliche Meinung offenbar nicht vor, dass Jungen und junge Männer mit halbnackten Waden und in verdreckter Kleidung jenseits bestimmter Räume sichtbar wurden, geschweige denn, in allzu bunter und uneinheitlicher Kleidung Fußball spielten.
»Lächerliches Kauderwelsch« 1895 erschien im English Corner des Fussball eine knappe Notiz über die wunderliche Fußballsprache im Kaiserreich und der Schweiz. »We have before us reports of a recent Footballspiel from Mühlhausen in Elsass, from Basel and from Zürich, says a Westminster Gazette writer. They are all so riddled with English words and phrases, for which the German language can find no adequate synonyms, that they look like German exercises by an English schoolboy who has thrust in an English word wherever he could, not bethinking himself of any German equivalent.« 475
Über eine solche Durchsetzung der Fußballsprache mit englischen Worten und Phrasen konnte ein englischer Journalist nur den Kopf schütteln – und nicht nur er. Diese knappe Notiz nahm Ferdinand Wilhelm Fricke zum Anlass, einen Leserbrief für die folgende Ausgabe zu schreiben. Er habe sie erfreut zur Kenntnis genommen, da auch »in unserem Kreise des Oefteren die Frage erörtert worden ist, ob nicht unser Fussball-Deutsch einiger Verbesserung fähig ist.« Zahlreiche weitere Fußballer, die er auf seinen Reisen getroffen habe, stimmten mit ihm überein, dass das »englisch-deutsche Kauderwälsch« lächerlich sei.476 Fricke stand mit seiner Kritik nicht allein. Seit 1885 agitierte der Allgemeine Deutsche Sprachverein (ADSV) recht erfolgreich und mit zeitweise über 10.000 Mitgliedern gegen Fremdwörter in der deutschen Sprache. In diese Kategorie fielen auch die englischen Begriffe im Fußball, die schon früh als zumindest unpassend wahrgenommen wurden. Rolfs entschuldigte sich in einer Fußnote, dass er »leider ausser Stande« sei, »das treffende englische Wort ›kick‹ mit einem passenden deutschen zu übersetzen«, weshalb er es fortan beibe-
475 | o.A.: Football in Germany, in: Der Fussball 2, 1895, S. 63. 476 | Vgl.: Leserbrief eines F. in H., in: Der Fussball 2, 1895, S. 69, Zitate ebd., Hervorh. i. Orig. Diktion, Duktus und Inhalt machen es mehr als wahrscheinlich, dass es sich bei F. aus H. um Ferdinand Wilhelm Fricke handelte. Vgl. zum ›Kauderwelsch‹ ferner: Koch, Fußballspiel 1899.
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hielte.477 Noch vor Wilhelm Dungers Brandrede Wider die Engländerei in der deutschen Sprache von 1899478 hatte sich vor allem Koch über die englische Fußballsprache mokiert. Für die Frage Wie kann Fußball ein deutsches Spiel werden? setzte er sich daher intensiv mit der Fußballsprache auseinander. Eine seiner wichtigsten Thesen lief darauf hinaus, dass der Fußball im Grunde kein genuin englisches Spiel wäre, sondern schon sehr viel früher, nämlich in der italienischen Renaissance gespielt worden sei.479 Allerdings wären »Kunstausdrücke und Regeln« in England und englischer Sprache ausgearbeitet worden, weshalb das Spiel als ein »englisches« zu gelten habe. Das von ihm aufgeworfene Problem, wollte er vor genau diesem Hintergrund lösen. »Von größter Wichtigkeit dafür, daß unser Spiel vollständig deutsch wird, ist die Einführung guter deutscher Kunstausdrücke für alles, was dabei zu benennen ist.«480 Mit diesem Problem beschäftigte sich Koch intensiv und verfasste zwischen 1894 und 1903 mehrere Aufsätze zu diesem Thema. Gemeinsam mit Max Vogel, der 1893 Regeln für das Fußballspiel ohne Aufnehmen des Balles 481 in der DTZ veröffentlicht hatte, wurde Koch 1894 vom technischen Ausschuss des ZA beauftragt, deutschsprachige Regeln für den Fußball aufzustellen.482 Diesen Auftrag verband Koch mit der Übersetzung der englischen Fußballausdrücke, die er ein Jahr darauf in der DTZ unter einer Überschrift, die aber auch wirklich alle zeitgenössisch möglichen Bezeichnungen des (Association) Fußballs enthielt – Einfacher Fußball (Fußball ohne Aufnehmen, engl. Association) –, vorstellte. Für die einzelnen taktischen Positionen schlug er jeweils zwei Bezeichnungen vor, von denen die jeweils nicht eingeklammerten auf Vorschlägen Hermann Peters beruhten. Dieser hatte auf Kochs ersten Versuch einer Verdeutschung der englischen Begriffe (Wie kann Fußball ein deutsches Spiel werden) mit harscher Kritik reagiert und Kochs Positionsbezeichnungen bemängelt. Peter selbst hatte mit hoher Wahrscheinlichkeit an den Bestimmungen des Fußballvereins zu Jena 483 von 1893 mitgewirkt – zumindest 477 | Vgl.: Racquet, englische Spiele, Fußnote **, S. 52. Anders Stößer in seinen Regeln über das Fußballspiel von 1883, denen er die englischen Begriffe in Klammern beigab. Vgl.: Stößer, Regeln über das Fußballspiel, passim. 478 | Dunger, Hermann: Wider die Engländerei in der deutschen Sprache. Ein Vortrag gehalten auf der 11. Hauptversammlung des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins, in: Zeitschrift des allgemeinen deutschen Sprachvereins 14, 1899, Sp. 241-251. 479 | Vgl. v.a.: Koch, Fußball in Altertum und Neuzeit. 480 | Vgl.: Ders., Wie kann Fußball ein deutsches Spiel werden?, alle Zitate S. 549 481 | Vgl.: Vogel, Max: Regeln für das Fussballspiel ohne Aufnehmen des Balles. Das englische ›Association‹-Spiel, in: DTZ 38, 1893, S. 472-473. 482 | Vgl.: Eitner, Moritz: Die erste Sitzung des technischen Ausschusses in Leipzig am 7. Oktober 1894, in: JfVJ 4, 1895, S. 312-316, hier S. 314. 483 | Vgl.: o.A., Bestimmungen des Fußballvereins zu Jena.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
verwies er mehrfach darauf, dass »wir in Jena [...] in einigen Punkten anderer Meinung wären«484 als Koch – und legte die Vorteile der Jenenser Regeln und Wortschöpfungen gegenüber dem Entwurf Kochs dar. Diese Beanstandungen setzte Koch um und schlug entsprechend »Vorderspieler (Stürmer)«, »Mittelspieler (Markmänner)«, »Hinterspieler (Malwärter)« und »Malspieler (Thorwächter)« vor. Daneben entwickelte er verschiedene »Kunstausdrücke«, die die englischen Begriffe für einzelne Aspekte des Fußballspiels ersetzten sollten. So schlug Koch »Freistoß«, »Strafstoß« und »Eckstoß« als Begriffe für die auch heute noch so bezeichneten Situationen vor. Über den weiteren Text, der nicht nur Regeln sondern auch verschiedene Praxisanweisungen enthielt, verteilten sich weitere, eingedeutschte Begriffe. Beispielsweise sollte »Stoßen« gleichzeitig die englischen Begriffe Kick und Pass ersetzen und »Ackern oder Treiben« das Dribbling.485 Kurz nach Erscheinen dieses Artikels nahm Peter Stellung zu Kochs Entwurf. Zunächst wies er nach, dass Koch lediglich die englischen Regeln aus The Footballmanual und The Association Football Handbook – und dazu auch noch fehlerhaft – übersetzt hätte, man also »besser von ›übersetzten‹ als von ›festgestellten‹ Regeln reden« sollte. Süffisant ergänzte er, dass also die von Koch »aufgeworfene Frage, wie das Fußballspiel ein deutsches Spiel werden könne« auch ganz einfach zu beantworten sei, nämlich »dadurch, daß man es in Deutschland spielt.« An dem Entwurf lobte er jedoch, dass es Koch gelungen sei, passende deutsche Ausdrücke zu finden, denn: »Es ist widerlich zu hören, wenn auf deutschen Plätzen von deutschen Spielern fremde Brocken verwendet werden, so Goal für Mal, Freikick für Freistoß.«486 Die Verwendung »fremder Brocken« bemängelte auch F. Hartmann. Er habe, so schrieb er an die Sport im Wort, »die mit Désert unterzeichneten Veröffentlichungen« gesammelt und einer kritischen Betrachtung unterzogen. Nach »genauer Durchsicht« könne er nun mitteilen, »dass durchschnittlich auf je 1 1/2 Zeilen ein nicht deutsches Wort kommt!« Zwar sei es gewiß nicht leicht, entsprechende deutsche Begriffe zu finden, »aber wer über die nötigen deutschen Sprachkenntnisse verfügt, dessen Pflicht sollte es sein, durch gute Beispiele schlechte Sitte zu verbessern.«487 Ohne solch akribische Beweisführungen schalt Ernst Witte, ehemaliger Schüler und Lehrer am Martino-Katharineum, die Praxisanleitung Kurt von Eberbachs für die »skandalöse Gleich-
484 | Vgl.: Peter, Hermann: ›Wie kann Fußball ein deutsches Spiel werden?‹ Einige Bemerkungen zu dem Aufsatze Professor Dr. Koch’s, in: DTZ 39, 1894, S. 828, Zitat ebd. 485 | Vgl.: Koch, Einfacher Fußball, alle Zitate S. 880. 486 | Peter, Hermann: Einige Bemerkungen zu dem Entwurfe von Normalregeln für das Fußballspiel ohne Aufnehmen des Balles, in: DTZ 40, 1895, S. 978-980, Zitat S. 980. 487 | Hartmann, F.: Rein-Deutsch, in: Sport im Wort 1, 1900, S. 351.
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gültigkeit« im »Gebrauch der Fremdwörter«.488 Das ist insofern zumindest verwunderlich, als von Eberbach, wie zahlreiche weitere Verfasser von Praxisanleitungen, seinem Buch eine Art Vokabelliste beigefügt hatte, in der die wichtigsten englischen Ausdrücke mit einer deutschen Übersetzung versehen wurden.489 Obwohl also zahlreiche Praxisanleitungen ihre Leser auch dazu befähigten, die ›richtigen‹ Ausdrücke zu verwenden, und diese Texte zudem ebenso wie Spielberichte potenziell einer Sprachkritik anheim fallen konnten, änderte sich an der Fußballsprache wenig. In einem Fußball-Schwank von 1904 glänzte etwa die Figur Wimmel dadurch, dass sie alle spieltaktischen Positionen des Fußballs korrekt aufzuzählen wusste. »The forwards, die 5 Stürmer, die das Goal angreifen, the half backs, oder die drei Markmänner, für Angriff und Vertheidigung, the backs, die zwei Malwächter und the goalkeeper, der das goal oder Tor verteidigen muß.«490 Zwar tauchten in dieser Aufzählung die von Koch vorgeschlagenen deutschen Begriffe auf, aber eben auch die englischen. Selbstkritisch räumte Koch in einem erneuten Vorschlag für Deutsche Kunstausdrücke des Fußballspiels, der 1903 sowohl in der Zeitschrift des ADSV als auch in Körper und Geist veröffentlicht wurde, ein, dass seine früheren Versuche womöglich »farblos und gekünstelt« gewesen seien.491 Zwei Jahre später bildete dieser Vorschlag auch die Grundlage für die Fußballtafel des Sprachvereins, die dieser »zum Preise von 1 M.« anbot. Die Tafel sollte in Klassenund Vereinszimmern aufgehängt und bei Wettspielen aufgestellt werden und die ›Verdeutschung‹ der Fußballsprache fördern, wie Friedrich Wappenhans berichtete.492 Neben Wappenhans, seines Zeichens Mitglied des ADSV, hatte Koch zahlreiche prominente Akteure aus dem Feld der Körperkultur um Rat gebeten – und zwar sowohl Mitglieder des ZA (u.a. Hermann, Schmidt, Sturm 488 | Witte, Ernst: [Rezension zu:] Kurt von Eberbach. Rasenspiele, 2. Band. Fußball, in: KuG 11, 1902/1903, S. 299. Vgl. zu Witte: Hoffmeister, Kurt: Zeitreise durch die Braunschweiger Sportgeschichte, Nordersted 2010, S. 24. 489 | Vgl.: von Eberbach, Rasenspiele, S. 124-126. Vgl. ferner: Faber, Fußballsport, S. 114; Heineken, Das Fußballspiel, S. 229-232; Paul, Das Fußballspiel, S. 44f.; Schnell, Handbuch der Ballspiele, S. 32; Schwalm, Fußball ohne Aufnehmen, S. 52-54. 490 | Braune, Edmund: Der Fussball-König. Schwank in 1 Akt, Mühlhausen i.Th. 1904, S. 24. 491 | Koch, Kunstausdrücke, S. 114. Vgl. identisch: Ders.: Deutsche Kunstausdrücke des Fußballspieles, in: Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins 18, 1903, Sp. 169-172. 492 | Vgl.: Wappenhans, Friedrich: Die neue Fußballtafel des Sprachvereins, in: Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins 20, 1905, S. 67f., Zitat S. 67. Vgl. zu den ›Verdeutschungstafeln‹ ferner: Eisenberg, Fußball in Deutschland, S. 186; Dies.: Deutschland, in: Dies. (Hg.): Fußball, Soccer, Calcio, S. 94-129, hier S. 98.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
und Witte) als auch Mitglieder des DFB (Boxhammer, Heineken und Perls).493 In diesem neuen Versuch nahm Koch verstärkte Rücksicht auf die Praktikabilität der Ausdrücke. Zum einen sollten sich die Ausdrücke für »passende Abkürzungen« eignen, damit man sich während des Spiels möglichst rasch verständlich machen könne; zum anderen sollten sie sich »auch während des eiligen Laufens aussprechen [...] und durch hohe Vokale« gut hören lassen. An seinem Vorschlag für den englischen Begriff Pass wird dies deutlich. »[Z]weckmäßiger als das meistgebräuchliche ›Passen‹ mahnt der Ruf: ›Abgeben!‹ denjenigen, der selbstsüchtig den Ball zu lange für sich behält, ihn einem Mitspieler zuzuspielen; das kurzgehaltene ›Ábgeben!‹ ertönt schnell, scharf, das gedehnte ›Ábgèbén!‹ gibt dem Spieler, der immer noch zaudert, nachdrücklichen Unwillen kund.« 494
Kochs Vorschlag setzte sich nicht durch. Im gesamten Quellenkorpus – von DFB-Publikationen bis auf die Vereinsebene – wird durchgängig der Begriff »Passen« verwendet.495 Der Grund dafür findet sich in einer Reaktion auf Kochs Vorschläge, die in der Körper und Geist abgedruckt wurde. Der Verfasser erklärte, das »einsilbige, scharfe ›Paß!‹« sei ein »unübertrefflicher Zuruf«, was man von Kochs Vorschlag nicht behaupten könne.496 Selbst Kochs Berücksichtigung einer phonetischen Differenzierung situationsspezifischer Anforderungen machte den Begriff also nicht praktischer. In der Praktikabilität und der Gebräuchlichkeit der Begriffe bestand das entscheidende Problem. Bereits in seiner Praxisanleitung zum Fußballspiel von 1898 hatte Heineken klargestellt, dass er im Folgenden nur die »in Deutschland gebräuchlichsten« Ausdrücke verwenden würde. Bei den Begriffen, »wo es deren verschiedene Übersetzungen gab«, wollte er die »sinnentsprechendste […], die sich aus der Praxis auf dem Spielfelde ergab« wählen.497 Interessanterweise verwendete Heineken jedoch keineswegs ausschließlich englische Begriffe. Die Positionsbezeichnungen entsprachen denen Kochs. In Klammern ergänzte er die englischen.498 Deutsche Positionsbezeichnungen forderte auch der Schriftlei493 | Vgl.: Koch, Kunstausdrücke, S. 113f. 494 | Ebd., S. 114f. 495 | Vgl. u.a.: Hunder, Paul: Die Ballbehandlung, in: DFB-Jahrbuch 10, 1913, S. 190197, hier S. 190; Moger, Wie man Wettspiele gewinnt, S. 32; o.A.: B.F.C. Preussen – Bolklubben Frem, Kopenhagen, in: Vereinsnachrichten BFC 5, 1905, S. 34-35, hier S. 34; o.A., deutsche Saison 1908/1909, S. 98; Schmitz, Caspar: Berliner Notizen aus alter Zeit, in: DFB (Hg.), 25 Jahre Deutscher Fußballbund, S. 102-114, hier S. 105. 496 | Vgl.: Beese: Deutsche Kunstausdrücke für das Fußballspiel, in: KuG 12, 1903/1904, S. 371, Zitate ebd. 497 | Heineken, Das Fußballspiel, S. 9. 498 | Vgl. Ebd., S. 53-78. Vgl. ähnlich: Pfeiffer, Fußballspiel, S. 18-23.
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ter der Monatsschrift des KFC. In einer kurzen Notiz mahnte er die Berichterstatter »Fremdwörter (Backs, Halfs) zu vermeiden«.499 Allerdings sucht man bei Heineken, im Vereinsschrifttum und den meisten Praxisanleitungen vergeblich nach »Treiben/Ackern«500 oder »Abgeben«; Heineken verwendete konsequent »Dribbling« und »Passen«. Der »Stoß« hingegen fand Berücksichtigung. Zwar lediglich im Sinne eines Schusses aufs Tor, jedoch vermieden Heineken und die meisten anderen Verfasser von Praxisanleitungen die Wendung »Kick«.501 In dieser pragmatischen Herangehensweise bestand der wesentliche Unterschied zwischen den Fürsprechern des Fußballs an der Position der Spielbewegung und jenen an der Position des Sports. Noch in der sechsten Auflage von Schmidts Wettkämpfe, Spiele und turnerische Vorführungen von 1911 schimpfte er auf das »jämmerliche Kauderwelsch«, welches er in Sportzeitschriften ausgemacht habe.502 Anders als die Mitglieder des ZA, die penibel darauf achteten die korrekten Bezeichnungen zu verwenden, bedienten sich die Verfasser von Praxisanleitungen und Spielberichten an der Position des Sports der gebräuchlichen Begriffe, die auch englische Begriffe sein konnten. Insofern ist Christiane Eisenbergs Einschätzung, dass sich die Wendung vom »unbefangene[n] Kosmopolitismus« des Fußballs nach 1900 in Richtung eines »übersteigerten Nationalismus« an der »Abkehr von der englischen Sportsprache« ablesen ließe, nicht ohne Weiteres zuzustimmen.503 Einige Begriffe wie Stürmer statt Forward oder Freistoß statt Freikick setzten sich relativ schnell durch; andere nicht. Zu letzteren gehörte das Training. Nur in wenigen Praxisanleitungen versuchten die Verfasser den Begriff zu vermeiden und verwendeten »Vorübungen«.504 In den allermeisten Texten wurde »Training« verwendet, denn, so Adolf Hoch, »›Training‹ läßt sich nicht durch Übung wiedergeben, denn Übung ist nur ein Teil des Trainings.«505 Noch während des Ersten Welt499 | o.A.: Briefkasten, in: Monatsschrift KFC 5, 1912/1913, S. 34. 500 | Ausnahme: Paul, Das Fussballspiel, S. 38. 501 | Vgl. zur Verwendung von ›Stoß‹ ferner: Faber, Fußballsport, S. 37-40; Heineken, Lawn-Tennis und andere Spiele, S. 98, passim.; Simon, Leitfaden, S. 11; Sparbier, Fußball-Merkblatt, S. 5; Technischer Ausschuss (Hg.), Spielregeln, S. 32-34; Wohlrath, Spiel-Buch, S. 81-83. 502 | Schmidt, Ferdinand August: Wettkämpfe, Spiele und turnerische Übungen bei Jugend- und Volksfesten, 6. Aufl. Berlin/Leipzig 1911, S. 89. 503 | Vgl.: Eisenberg, Einführung, in: Dies. (Hg.), Fußball, Soccer, Calcio, S. 7-21, hier S. 14, Zitate ebd. 504 | Vgl.: Schnell, Handbuch der Ballspiele, S. 94; Schwalm, Fußball ohne Aufnehmen, S. 55; Technischer Ausschuss (Hg.), Spielregeln, S. 32. 505 | Hoch, Fußballsport, S. 26. Vgl. zur Unterscheidung von Training und Üben, die eben nicht nur sprachlicher Natur war: Brandt, Wolfgang: ›Turner üben, Sportler trainieren‹, in: Braun, Angelika (Hg.), Beiträge zur Linguistik und Phonetik, S. 308-334.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
krieges suchte Robert Kinkhorst, Schriftleiter der Vereinszeitung des AFC, nach »gut deutschen Übersetzungen des Wortes ›Training‹«.506 Es gingen wohl keine Vorschläge ein, zumindest erinnerte er in der folgenden Nummer erneut daran,507 erhielt aber auch in den kommenden Monaten keine Antwort. Indirekt reagierte Joseph Waitzer im Kontext des leichtathletischen Trainings genau ein Jahr später. »Wir haben kein deutsches Wort für Training.«508 An einer Passage aus der Chronik des KFV, die in der vorliegenden handschriftlichen Fassung eindeutig nicht zur Publikation gedacht war, wird deutlich, dass sich nicht nur englische Begriffe, sondern auch ihre phonetischen Flektionen in Reflexionen einzelner Spiele einschrieben. Im Spiel gegen Phönix Karlsruhe im Januar 1912 schoss Gottfried Fuchs ein Tor. Dieses »wurde aber wegen Händs (War aber kein Händs) vom Unparteiischen nicht gegeben.«509 Nicht Handspiel oder Hand, sondern die englische Betonung ›Händs‹ war also zumindest diesem Verfasser gebräuchlich. Die Praktikabilität der Begriffe (›Pass‹), die Gewöhnung an bestimmte Worte für ganz bestimmte Spielsituationen (›Händs‹) oder zentrale sportliche Konzepte (›Training‹) waren ebenso ausschlaggebend für das Beharren auf englischen Bezeichnungen wie auch die Aufnahme übersetzter Begriffe. Im Gegensatz zur Kleidung interessierten sich die an der Position des Sports versammelten Fürsprecher des Fußballs wenig bis gar nicht für diese Dissonanzen zwischen Fußball und Nation. Fragen einer angemessenen Kleidung konnten verhältnismäßig unabhängig vom konkreten Vollzug der Praktik geklärt werden. Es war lediglich wichtig, dass sich die beiden Mannschaften sichtbar voneinander unterschieden. Wenn es denn für den ›Geschmack der Zeit‹ angemessener und der Verbreitung des Fußballs zuträglich war, so konnte man offenbar auch an der Position des Sports Zugeständnisse machen. Wenn es aber darum ging, unpraktische Begriffe, die für die Dynamik der Praktik inadäquat waren, oder unpassende Übersetzungen für praktikspezifische Konzepte einzuführen, dann stießen die Versuche Kochs und anderer an ihre Grenzen. Insofern unterschieden sich Mitglieder des ZA und Sprecher an der Position des Sports also deutlich. Hinsichtlich der Dissonanzen zwischen Fußball und Nation versuchten erstere den englischen Sport in ein deutsches Spiel umzugestalten, indem sie ihm ›deutsche Formen‹ gaben. Damit suchten sie vor allem den Turnern entgegenzukommen, mit denen sie ohnehin enge Beziehungen unterhielten. Die Fürsprecher des Fußballsports waren in diesem Punkt sehr pragmatisch. Eine Anpassung an vermeintlich nationale 506 | Endnote Kinkhorsts, in: ie., Unser Fußball-›Training‹, S. 9. 507 | Vgl.: Kinkhorst, Robert: Aus dem Verein, in: Vereinszeitung AFC 9, März 1915, S. 15. 508 | Waitzer, Joseph: Training, in: Vereinszeitung AFC 10, Januar/März 1916, S. 21-22. 509 | KFV I gegen F.C. Phönix I, in: Chronik Karlsruher FV, Januar 1912-März 1912.
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Bedürfnisse konnten sie sich nur insoweit vorstellen, als sie damit einer antizipierten öffentlichen Meinung entgegenkamen und auf diese Weise zu einer Verbreitung des Fußballs (und einer Aufstockung der Vereinskasse) beitrugen.
8.2 Der fußballerisch bewegte Volkskörper In einem Überblick zu den Spielen im Auslande konstatierte Raydt 1895, dass sich in den »Ländern rings um Deutschland […] in der letzten Hälfte dieses Jahrhunderts immer mehr und mehr ein kräftiges Nationalgefühl« entwickelt habe. Mit dieser Entwicklung sei eine »erweiterte Pflege der Leibesübungen Hand in Hand« gegangen. Diese Gleichzeitigkeit galt ihm als indikativ für ein enges Verhältnis zwischen Nationsentwicklung und Körperbildung. »Man fühlt es eben überall, ich möchte sagen instinktiv, daß zu der kräftigen Entwickelung der Nation ein gesunder Geist in einem gesunden Körper notwendig ist, und man weiß, daß ein solcher am ehesten einem Volke ersteht, wenn in ihm die Leibesübungen allgemeine Sitte werden.« 510
In diesen Ausführungen verschränkte Raydt zwei zentrale Aspekte des Sprechens über die Nation als physische Entität. Der erste Aspekt betrifft das symbiotische Verhältnis zwischen Körper und Geist, welches sich beispielhaft an der Umbenennung der Zf TJs zeigt, die seit dem Jahrgang 1902/1903 Körper und Geist511 hieß. Im Feld der Körperkultur hatte das formelhafte »mens sana in corpore sano« eine enorme Konjunktur. Fast 2000 Jahre nachdem sich der Satiriker Juvenal mit dieser Wendung über seine Mitbürger amüsiert hatte, formte sie im Feld der Körperkultur eine Art Beschwörungsformel von Plausibilität. »›Mens sana in corpore sano,‹ sagt ein altes lateinisches Sprichwort«, wie Josef Ambros die Leser seines Spielbuchs von 1874 wissen ließ und genau deshalb sei es an der Zeit »das Spiel in sein uraltes Recht« wieder einzusetzen.512 Knapp zehn Jahre später führten Emil Hartwich und Robert Heeger die Formel in die Überbürdungsdebatte ein513 und von Schenckendorff behauptete 1895 in einer Aufforderung zur Förderung
510 | Raydt, Hermann: Die Spiele im Auslande, in: Schenckendorff/Schmidt (Hg.), Allgemein unterrichtende Mitteilungen 4, 1895, S. 5-6, alle Zitate S. 5. 511 | Vgl.: o.A.: Unsere Aufgabe, in: KuG 11, 1902/1903, S. 1-7 und das erläuternde Vorwort zur Namensänderung von Karl Möller: Möller, Karl: Körper und Geist!, in: Ebd., S. 7f. 512 | Ambros, Spielbuch, S. 8. 513 | Vgl.: Hartwich, Woran wir Leiden, S. 9; Heeger, Schulturnen und Körperpflege, S. 4, S. 32.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
der Spiele unter Studenten, dass sie mittlerweile als weitverbreitete Erkenntnis anzusehen sei.514 Auch an der Position des Sports fand das formelhaft zugespitzte Kausalverhältnis zwischen Körper und Geist seinen Niederschlag. In einem Artikel über den Einfluss des Sports auf die Gesundheit von 1896 heißt es: »›Mens sana in corpore sano‹ ist einer der zutreffendsten Aussprüche, der namentlich den Eltern nicht oft genug wiederholt werden kann«.515 Solche Wiederholungen finden sich in nahezu allen Formaten, in denen über den Fußball gesprochen wurde. Der Verein Teutonia aus Bremen erklärte es zu seinem Vereinsmotto516 und in den appellativen Schriften des Münchener Rasensport- und des Norddeutschen Fußball-Verbandes bildete es einen argumentativen Anker.517 Selbst in relativ abseitigen Texten, wie jenem über einen neuen Londoner PolizeiRichter aus der Spiel und Sport von 1893, wiederholte sich die Formel. Richard Lane sei »ein brillanter und enthusiasmirter Fussballspieler« gewesen, was wieder ein »schlagender Beweis dafür [ist], dass körperliche Tüchtigkeit und Gewandtheit mit geistiger Fähigkeit in engster Verbindung stehen. Mens sana in korpore sane [sic].«518 Gut fünfzehn Jahre später rief Hofmann genau diese Formel auf, um die Mitglieder des KFC davon zu überzeugen, den Bau eines vereinseigenen Sportplatzes finanziell zu unterstützen. Nicht immer hätten die Sportvereine erkannt, dass der Leitsatz des Sports »mens sana in corpore sano« laute. Dies hätte sich aber mittlerweile geändert. Daher, so seine moralisierende Argumentation, würde es ihn wundern, wenn die Mitglieder des KFC nicht willens wären sich an den Kosten zu beteiligen, schließlich sei es ja für Körper und Geist des Volkes wichtig, durch einen solchen Bau neue Anhänger des Fußballs zu gewinnen.519 Was anhand der Konjunktur des Juvenal’schen Diktums skizziert wurde, hat der Historiker Anson Rabinbach in seiner Studie Motor Mensch in einen allgemeineren Zusammenhang gestellt. Für das 19. Jahrhundert sei eine Tendenz zu verzeichnen, »das Psychologische mit dem Physischen gleichzusetzen und den Körper als den Ort ausfindig zu machen, wo gesellschaftliche Deformatio-
514 | Vgl.: Schenckendorff, Förderung durch die deutsche Studentenschaft, S. 318322, hier S. 322. 515 | Allegro: Der Einfluss des Sports auf die Gesundheit, in: Sport im Bild 2, 1896, S. 40f., Zitat S. 41. 516 | Vgl.: -dt: o.T., in: Spiel und Sport 3, 1893, S. 327f. 517 | Vgl.: Münchener Rasensportverband (Hg.), erzieherischen Werte, S. 3; Norddeutscher Fußball-Verband (Hg.), Was wir wollen, S. 4, S. 16. 518 | o.A.: o.T., in: Spiel und Sport 3, 1893, S. 15f. 519 | Vgl.: Hofmann, Hans: An unsere Mitglieder!, in: Monatsschrift KFC 2, 1909/1910, S. 20-23, Zitat S. 21.
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nen und Verrückungen am leichtesten beobachtet werden können.«520 Rabinbachs Befund verweist auf den zweiten Aspekt der Ausführungen Raydts. Im Unterschied zur Problematisierung der Gesundheit des Individuums betraf das symbiotische Verhältnis von gesundem Geist und gesundem Körper eindeutig eine kollektive Dimension. Freilich sollte körperlich-geistige Ertüchtigung auch dem Individuum zugute kommen. Dieses bildete jedoch in der Logik der organisch-zellularen Dependenz einen integralen Bestandteil des ›Volkskörpers‹, wie es Rolfs 1914 auf den Sport zuspitzte. Der Sport sei dazu da, »daß wir jedes einzelne Glied unseres Volkskörpers erfassen und kräftigen und dadurch das Ganze einer größeren Leistungsfähigkeit und Widerstandskraft zuführen.«521 Und genau vor diesem Hintergrund bildete ein gesunder Geist in einem gesunden Körper die Formel »eines glücklichen Zustandes aller Einzelnen und damit des Volkes«,522 wie es von Schenckendorff 1909 formulierte. In den folgenden Abschnitten wird die Rezeption des Volkskörpers im Feld der Körperkultur in zwei Schritten untersucht. Der erste Schritt gilt den im Feld erstellten Diagnosen über den Zustand des Volkskörpers in seinem Verhältnis zur Gegenwart, den als ursächlich angenommenen Veränderungen sowie dem vor diesem Hintergrund stabilisiertem Argument für einen ›Blick nach England‹. Angesichts der bereits erläuterten Vorbehalte gegen die Aufnahme vermeintlich ›englischer Praktiken‹ in den Kanon der Bewegungsspiele im Kaiserreich, bot eine behauptete Analogie zwischen Veränderungen in Deutschland und England eine gewisse Plausibilität für die Einführung des Fußballs. In einem zweiten Schritt werden die Praxisanleitungen näher beleuchtet. Ähnlich wie in einer Vielzahl programmatischer Aufsätze hatten Diagnosen der Gegenwart auch in diesen Texten Konjunktur. Hinzu kamen historische Exkurse, die den Rezipienten der Praxisanleitungen meist in sehr kursorischer Weise die Geschichte der Bewegungsspiele respektive des Sports im Allgemeinen oder des Fußballs im Besonderen schilderten. Beide Bausteine der Praxisanleitungen werden hinsichtlich ihrer »verhaftenden« Effekte untersucht.
Diagnosen des »beschädigten Volkskörpers« und der Blick nach England Im Feld der Körperkultur erwies sich die Verschränkung der symbiotischen Konzeption von Körper und Geist mit der organisch-zellularen Dependenz von Individuum und Kollektiv als äußerst produktiv. Verdichtet in diagnostischprognostischen Aussagen argumentierten die Fürsprecher der Bewegungs520 | Rabinbach, Motor Mensch, S. 33, Hervorh. J.E. 521 | Rolfs, Wilhelm: Turnen, Sport und deutsche Körperzucht, in: KuG 22, 1913/1914, S. 282-286, Zitat S. 283. Vgl. ähnlich: Blaschke, Georg/Rahn, Alfred: Vorwort, in: DFBJahrbuch 10, 1913, S. 6-8. 522 | Schenckendorff, Unsere schulentlassene Jugend, S. 18.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
spiele mehrfach vor dem Hintergrund nationaler Krisenszenarien, die eine »Schädigung des Volkskörpers« bis hin zu nationaler Degeneration betreffen konnten. Ein solches Szenario findet sich in dem gemeinsamen Aufruf von ZA und DT. Spiele und Turnen trügen dazu bei, Tuberkulose, körperlichen Schäden durch ungesunde Arbeitsverhältnisse sowie nervlicher Überspannung abzuhelfen oder ihnen vorzubeugen. Im Gegensatz zu einem unbestimmten, positiv besetzten ›Früher‹ drohten jedoch auch weitere Gefahren. »Aber noch andere Schäden an unserem Volkskörper gilt es heute mehr als je zu bekämpfen! Oder ist es nicht so, daß unsere Jugend in ödem Wirtshausleben, in läppischen Vergnügungen, in nichtssagenden Unterhaltungen oder gar in entnervenden sinnlichen Genüssen ihr Bestes an Kraft und Gemüt zu verlieren droht? Ist es nicht so, daß ihr Idealismus, ihre Herzenswärme und Herzensfrische so vielfach verkümmert ist? Daß die Arbeitskraft und Arbeitsfreude, daß die Wehrhaftigkeit immer ernstlichere Einbuße erleidet?« 523
Die Antworten auf diese Suggestivfragen waren ebenso eindeutig wie die Beantwortung der Schuldfrage: Ja, die Jugend verbringe ihre freie Zeit eindeutig auf die falsche Weise und dadurch schwänden fraglos Arbeitskraft, Arbeitsfreude und Wehrhaftigkeit. Schuld seien die Veränderungen der Gegenwart, gegen die man sich durch Teilnahme am Bewegungsspiel nicht nur stemmen könne, sondern müsse. C. von Puttkamer gelangte zu ganz ähnlichen Diagnosen des Volkskörpers. »Nervosität, der Mangel an reiner Luft« und der »aufreibende Kampf ums Dasein« würden zwangsläufig zu »Degeneration« führen.524 Während ZA und DT im gemeinsamen Aufruf ein unbestimmtes ›Früher‹ als positiven Kontrast setzten und von Puttkamer die Schäden aus »unserer Zeit«525 ableitete, konkretisierten u.a. Arthur Mallwitz und Koch die Charakteristika des ›besseren Gestern‹ gegenüber dem ›schlechteren Heute‹. Früher habe es noch nicht die »vielen naturfeindlichen Neuerungen des Kulturlebens«526 gegeben; in den »alten Zeiten« hätte sich »jeder Junge regelmäßig stundenlang im Freien«527 getummelt. All dies sei mittlerweile, vor allem in den (Groß-) Städten, nicht mehr möglich. Gerade deshalb, so August Marx‹ Analyse, habe sich das Bewegungsspiel in Norddeutschland bedeutend besser eingebürgert, denn dort träten die »unerfreulichen Folgen des grossstädtischen Lebens« noch stärker zutage als im Süden.528 523 | o.A., gemeinsamer Aufruf, S. 327. 524 | Vgl.: Puttkamer, Wiedererstarkung des deutschen Volkstums, S. 45, Zitate ebd. 525 | Ebd. 526 | Mallwitz, Sporthygiene, S. 81. 527 | Koch, Fußballspiel 1898, S. 206. 528 | Vgl.: Marx, Turnen und Bewegungsspiel, S. 19, Zitat ebd.
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Als ursächlich für die Bedrohung des Volkskörpers galten Urbanisierung, Industrialisierung und das ›Kulturleben‹. In einem Aufsatz über den Zusammenhang zwischen Volksgesundheit und Sport aus dem DFB-Jahrbuch von 1910 fasste Schmidt diese drei Aspekte zusammen: »In unheimlichem Maße wachsen unsere Städte an. Immer größer wird der Bruchteil der Bevölkerung, welcher sich dauernd in die Werksäle der Industrie, an die Kontore und in die Schreibstuben gebannt sieht. Nicht zu Unrecht sind Befürchtungen laut geworden, daß die Zunahme der Bevölkerungsdichtigkeit in der Großstadt nicht minder wie die allzureichliche Gelegenheit zu entnervenden Genüssen unser Geschlecht mit Entartung bedrohe.« 529
In den meisten Fällen verbanden sich pessimistische Einschätzungen zu Großstadt und Arbeitsverhältnissen. Da das bäuerliche Leben, wie vor allem an den Debatten über die Militärtauglichkeit deutlich wurde, zeitgenössisch eine natürliche und gesunde Lebensform repräsentierte und daher als unproblematisch galt, deckten die Lamenti über ungesunde Arbeitsverhältnisse das gesamte Spektrum (groß-)städtischer Verhältnisse ab.530 In dem gemeinsamen Aufruf betonten die Verfasser die positiven Einflüsse »regelmäßiger Leibesübungen« für jene, die »so oft ihre volle Arbeitszeit im Fabriksaal, in der Werkstube, im Kontor, am Studiertisch zuzubringen« haben.531 Auch Richard Witting bekräftigte, dass sowohl »geistige Gehirnarbeit« in Schule, Kontor und Büro, als auch »mechanische Arbeit in der Fabrik und in der Werkstatt«532 durch das Spiel erleichtert würden. Sehr allgemein argumentierte Richard Nordhausen mit dem »erwürgenden Druck des heutigen Erwerbslebens«. Er bräuchte »Sachverständigen« nicht zu erklären, dass allein der Sport angesichts dieses Drucks die Möglichkeit biete, »die Leiber leidlich gesund zu erhalten und so die Zukunft notdürftig zu retten.«533 Die Verfasser von Was wir wollen erklärten es zur Pflicht von Staat und Gesellschaft, »falscher Arbeitsregelung und […] falscher Erholung« entgegenzuwirken und boten zu diesem Zweck den Fußball an.534 Die angeführten Aussagen unterstreichen, wie konsequent die zellularorganische Dependenz gedacht wurde. Zweifellos entstammten die meisten 529 | Schmidt, Sport und Volksgesundheit, S. 28. 530 | Vgl. zu den Bauern: Stutzke, Erich: Die Stellung des Fußballsports zu den Erwerbsständen, in: DFB-Jahrbuch 9, 1912, S. 143-151, hier S. 146; Würtemberg, Sport und Kultur, S. 14. 531 | Vgl.: o.A., gemeinsamer Aufruf, S. 327, Zitat: Ebd. Vgl. ferner: Koch, Geschichte des Fußballs, S. 89. 532 | Witting, Jugend- und Volksspiele, S. 2. 533 | Nordhausen, Sport und Öffentlichkeit, S. 48. 534 | Vgl.: Norddeutscher Fußball-Verband (Hg.), Was wir wollen, S. 3.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
Aussagen im Feld der Körperkultur bürgerlichen Federn, aber im Kontext der Gefährdung des Volkskörpers wurde auch die (Industrie-)Arbeiterschaft mehrfach mitgenannt. Insofern bildete die Beschädigung des Volkskörpers den Fluchtpunkt einer integrativen Ideologie, in deren Namen jeder angerufen war, zur Regeneration beizutragen. Entsprechend appellierte etwa das preußische Kultusministerium in einem Rundschreiben von 1911 an alle Regionalverwaltungen, vor dem Hintergrund der »Veränderung der Erwerbsverhältnisse« die Leibesübungen zu fördern.535 Während manche Sprecher im Feld von einer Arbeiterschaft und Bürgertum zuträglichen körperlichen Wohltat träumten, bildete die Kritik am ›Kulturleben‹ den weitaus prominenteren Aspekt im Sprechen über Volkskörper und Gegenwart. So meinte Max Münter einen Schrei nach Spiel und Sport vernehmen zu können. »Ein Schrei nach Spiel und Sport, nach vielseitiger körperlicher Betätigung im Freien, macht sich hörbar, seit einigen Jahren auch in deutschen Landen als allernatürlichste Abwehrerscheinung gegen die schädigenden Einflüsse hochmodernen Kultur- und Zivilisationslebens«.
Letztlich, so die düstere Prognose, würden sich diese schädigenden Einflüsse als »Menschenverödung« und körperliche Degeneration niederschlagen.536 Gut fünfzehn Jahre zuvor hatten auch die Verfasser des Aufrufs an die deutsche Studentenschaft die Gefährdungen durch das ›Kulturleben‹ angeführt. In der Zeit der napoleonischen Besetzung hätten die deutschen Studenten aktiv an der Hervorbringung eines »neuen Geschlechts« mitgewirkt. Gegenwärtig sähe sich die Nation wieder einem gefährlichen Feind gegenüber, »der am Marke unseres Volkslebens zehrt«. In diesem Fall war es jedoch keine konkrete Person, sondern »der entnervende Einfluß des modernen Kulturlebens!« Diese »Zeichen einer beginnenden körperlichen Entartung unseres Volkes« machten es daher erforderlich, dass die Studenten an den Spielkursen des ZA teilnähmen, »um die Spiele in die Verbindungen hinein zu tragen oder um freie Vereinigungen für dieselben zu schaffen.«537 Eine ähnliche Diagnose erstellten René du Bois-Reymond und Mallwitz in ihrem Aufruf des akademischen 535 | Vgl.: Rundschreiben des Ministers der geistlichen, Unterrichts- und MedicinalAngelegenheiten vom 18.11. an alle königl. Regierungen, in: GStA PK, XVI HA, Rep. 30, Nr. 2819: Königl. Preußische Regierung zu Bromberg, Acta, betreffend Volks- und Jugendspiele Vol. I. 536 | Vgl.: Münter, Volkstüchtigung, S. 56. Identisch: Ders., Offizierskorps und Körperkultur, Sp. 3125. 537 | Vgl.: Aufruf des ZA an die deutsche Studentenschaft, S. 316-318, alle Zitate ebd., Hervorh. i. Orig.
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Sportbundes. Im Unterschied zu dem gut fünfzehn Jahre älteren Aufruf des ZA bildeten alle Akademiker den Adressatenkreis – nicht nur die Studentenschaft. Zunehmend würde deutlich, »daß wir klaren und sehenden Auges und fester Hand den Schädlichkeiten, welche die fortschreitende Kultur neben reichem Segen mit sich bringt, entgegentreten müssen, Körper und Kraft des geistigen Arbeiters verkümmern unter den jetzigen Verhältnissen«.538 Kultur bildete auch den Fluchtpunkt einer harschen Kritik, die Ludwig Curtius vor dem Hintergrund einer rassen- und degenerationstheoretischen Lesart Nietzsches im DFB-Jahrbuch von 1913 vorbrachte. Dabei dehnte er seinen Adressatenkreis auf den »modernen Menschen« aus. Wie schon die Verfasser des gemeinsamen Aufrufs knapp zwanzig Jahre zuvor, so operierte auch seine Gegenwartsdiagnose im Modus der Suggestivfragen. »War nur Überarbeitung schuld an der Degeneration des modernen Menschen? Oder nicht seine unüberlegte Lebensführung, seine Unmäßigkeit in Essen und Trinken, sein skrupelloser Leichtsinn im geschlechtlichen Genuß, seine Furcht vor Sonne, Wasser und Wind, sein Leben im Bureau und Caféhaus, Kneipe und Salon, seine Gewöhnung an feine Gifte als tägliche Reizmittel?« 539
Reiz- und Genussmittel, ausschweifende bis anormale Sexualität und Naturflucht bildeten in wechselnden Konstellationen Negativfolien, die sich über das ›moderne Kulturleben‹ und seine Auswirkungen auf den Volkskörper legten. Hopf wandte den »hauptsächlichsten Schädigungen unseres Volkskörpers« seine Aufmerksamkeit zu und kam zu dem Ergebnis, dass es »drei Übel« seien, die »Völker zugrunde« richteten: »Weingeist, Tuberkulose, Geschlechtskrankheiten.« Im Gegensatz zur Tuberkulose, der durch präventive, konstitutionshygienisch inspirierte Maßnahmen wie etwa den Leibesübungen vorgebeugt werden könne, galten ihm Weingeist und Geschlechtskrankheiten als voneinander abhängig und nur durch eine erhöhte Achtsamkeit auf den Körper zu vermeiden. »Wer seinen Körper liebt und ihn hütet, wer nach den Stunden, die ihn im Berufe festgehalten haben, an die frische Luft eilt, dem Licht und der Sonne entgegen, wer auf dem grünen Rasen den Ball treibt [und anderen Praktiken nachgeht] […] dem droht keine Gefahr von Weingeist.«
538 | Bois-Reymond, René du/Mallwitz, Arthur: Aufruf des akademischen Sportbundes, in: DFB-Jahrbuch 7, 1910, S. 277, Hervorh. i. Orig. 539 | Curtius, Ludwig: Geschichtliche Beziehungen zwischen Geistes- und Körperkultur, in: DFB-Jahrbuch 10, 1913, S. 18-31, Zitat S. 29.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
Und wer dem Weingeist nicht verfalle, der könne die Beherrschung nicht verlieren und sich Prostituierten hingeben. Dies sei vor allem für den Volkskörper wichtig, da Geschlechtskrankheiten sich »auch noch nach Jahren auf Ehefrau und Kinder übertragen und so zur Erzeugung eines krankhaft veranlagten Geschlechts führen«.540 Aus diesen volksgesundheitlichen Überlegungen heraus sprach sich Hopf ausdrücklich für eine Förderung der Leibesübungen und Bewegungsspiele, wie u.a. den Fußball, aus. Am Ende ihrer kulturkritischen Ausführungen legte auch Lulu von Auenhag die Förderung des Volkskörpers durch den Sport nahe und erklärte der Kultur den Kampf. »Ein erfrischender Jungborn ist für den erschlafften Volkskörper gefunden: Zurück zur Natur! Zum Kampf gegen die Kultur!«541 Volk und Nation wurden ebenso als physische Entitäten aufgefasst, wie ihre Bedrohungen. Insofern konnten alle bisher untersuchten Problematisierungen des Individualkörpers auch den Volkskörper betreffen. Die von Curtius angeführte falsche Ernährung konnte tendenziell den einzelnen Fußballer betreffen und seine körperliche Leistungsfähigkeit beeinträchtigen, wie es Heineken in seinen Trainingsratschlägen formuliert hatte. Gegenüber den Versuchungen des Weingeistes propagierte Hopf eine Beherrschung der Leidenschaften, die auch als besonderer er-männlichender Vorzug des Fußballs verhandelt wurde. Der ZA verwies in seinem Aufruf auf einen möglichen Rückgang der Wehrkraft, wie er auch im Kontext der körperlichen Ausbildung des Soldaten fruchtbar gemacht werden konnte. In jedem Fall machten die Diagnosen über eine Schädigung des Volkskörpers eine Regeneration unausweichlich – und motivierten einen Blick nach England. Da Industrialisierung, Urbanisierung und ›Kulturleben‹ als ursächlich galten, richteten einige Akteure im Feld der Körperkultur gerade deshalb ihre Aufmerksamkeit auf England, weil dieses als der Ort galt, der diese Veränderungen bereits ›erlitten‹ habe. »In England ist die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit solcher Schulspiele bei der Beschaffenheit unseres jetzigen Culturlebens schon zur vollen Herrschaft gelangt«,542 wie es Koch 1878 bezüglich des erziehlichen Werths der Schulspiele betont hatte. Ähnlich argumentierte Hartwich. Zwischen Schülerselbstmorden und einem »gesteigerten Verkehrsund Kulturleben« bestünde eine kausale Beziehung. Allein in England sei dies nicht der Fall, da »es ein kräftiges Gegengewicht in seinen herrlichen Spielen-
540 | Vgl.: Hopf, Bedeutung der Leibesübungen für Volksgesundheit und Wehrkraft, S. 276f., alle Zitate ebd. 541 | Auenhag, Sport und Sportlichkeit, S. 24. 542 | Koch, Konrad: Der erziehliche Werth der Schulspiele. Ein Bericht, im Auftrage des Herrn Schulrath Gravenhorst, in: Programm des Gymnasiums Martino-Catharineums zu Braunschweig, Braunschweig 1878, S. 15-29, hier S. 29.
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und Leibesübungen habe«.543 In der Gartenlaube von 1890 diagnostizierte Carl Falkenhorst, dass »Unser Zeitalter« an »Nervenschwäche« leide. Zurückzuführen sei dies auf das »Fortschreiten unserer Kultur« und der dadurch veränderten »Lebensweise«. Daher können »wir auf dem Gebiete der gesunden Jugenderziehung, der Körperpflege und der Jugendspiele von England ungemein viel« lernen.544 Knapp zwanzig Jahre später berichtete auch Robert Hessen seinen Lesern davon, wie der Sport in England sei. »Kein Sport, mag er noch so belustigend sein, kann für vollkommen gelten, sobald er die Gesundheit nicht energisch fördert.« Diesem Allgemeinplatz im Feld der Körperkultur folgte eine abschätzige Besprechung der »kümmerlichen Erfindungen des italienischen Volksgeist[es]« sowie dem französischen Croquet. Stattdessen solle man seinen Blick nach England richten, »wo unsere wahren Wohltäter sitzen.« Dort habe der Sport wahre Wunder am »Volkskörper« vollbracht und spätestens seit dem frühen 19. Jahrhundert »seine veredelnden Eigenschaften« entfaltet.545 Die Lerneffekte durch den Blick nach England betrafen auch den Fußball. In der Spiel und Sport von 1893 schwelgte ein ungenannter Autor in Erinnerungen an ein Fußballspiel zwischen Leipziger Fußballern und dem English Football Club (EFC) aus Berlin. »Wir sehen, Dank lang jähriger Erfahrung, gleich den Engländern in dem Bewegungsspiele ein Volksbildungsmittel von weittragendster Bedeutung, ein Mittel unser Volk der Bierbank und Kneipenluft zu entziehen und sie [sic] idealen Zielen in Gottes schöner Natur zuzuführen.«
Abschließend erklärte er die inhaltliche Gemeinsamkeit der Turn- und Sportvereine. Das »Ziel selbst ist das gleiche, wir marschiren getrennt, doch schlagen wir vereint für das heiß geliebte Vaterland! Gut Heil dem wackeren E.F.C.«546 Richtete sich dieser Hinweis auf das englische Vorbild primär auf den Weg aus der Kneipenluft in die Natur, so überführte vor allem Koch den Blick nach England in das weitreichendere Spannungsfeld von Urbanisierung, Industrialisierung und Schädigungen des Volkskörpers. Der Fußball sei in England vor allem deshalb so populär, weil sich dort »die Übelstände unserer heutigen Großindustrie und der gewaltig gewachsenen Großstädte am frühesten und
543 | Alle Zitate: Hartwich, Woran wir Leiden, S. 26, Hervorh. i. Orig. 544 | Vgl.: Falkenhorst, Carl: Jugendspiel, in: Die Gartenlaube 1890, S. 219-221, Zitate S. 219, S. 221. 545 | Vgl.: Hessen, Sport, S. 5-15, Zitate S. 11f. 546 | Vgl.: nn.: Erinnerungen an das Fussballwettspiel der Spielv. des A.T. Leipzig und des Berliner E.F.C., in: Spiel und Sport 3, 1893, S. 174-176, alle Zitate S. 176.
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am meisten« bemerkbar gemacht hätten.547 Da man diese Entwicklungen nun aber auch in Deutschland beobachten könne, sei es angemessen den Umgang der Engländer mit den Veränderungen der Gegenwart nachzuahmen und das Fußballspiel entsprechend zu popularisieren – allerdings auf deutsche Art. In seinem Aufsatz zur Geschichte des Fußballs im ZA-Jahrbuch führte er die aktuelle Relevanz des Fußballs weiter aus. »Die tief eingreifende Veränderung im Volksleben, die in unseren Tagen die Jugend und besonders die männliche wieder zu ihren eine Zeit lang anscheinend vergessenen Belustigungen im Freien zurückkehren läßt, ist ersichtlich der Pflege keines anderen Spiels und keiner anderen Leibesübung in annähernd so hohem Grade zu gute gekommen, wie der des Fußballs.« 548
Anschließend betonte er, dass der Fußball in England angesichts der geschilderten Entwicklungen zu »einer großartigen Volkswohlfahrtseinrichtung geworden« sei.549 Was Koch 1895 und 1902550 ein weiteres Mal zum Gegenstand seiner Untersuchungen machte, hatten Raydt und Wilhelm Dorn ebenfalls als Argument für englische Spiele angeführt: England hätte jene Prozesse bereits durchlaufen, die sich gegenwärtig im Kaiserreich bemerkbar machten.551 Genau aus diesem Grund, so ließ auch Rolfs die Leser seiner Praxisanleitung von 1882 wissen, würde von »Medizinern, Pädagogen und Turnern [...] neuerdings auf die grosse Bedeutung der englischen Nationalspiele für die körperliche Ausbildung unserer Jugend hingewiesen.«552 Rolfs’ Begründung der Bedeutung englischer Bewegungsspiele für die Gegenwart ist nicht nur indikativ für den ›Blick nach England‹, sondern auch für eine in zahlreichen Praxisanleitungen zu verzeichnende Tendenz zu Gegenwartsdiagnosen.
547 | Vgl.: Koch, Fußball in Altertum und Neuzeit, S. 6f., S. 39, Zitat S. 39. Positive Rezensionen schrieben Heitmann und Schröer, die beide Kochs Verdienst darin sahen, dass er den Fußball eines englischen Ursprungs entkleidet habe: Heitmann, A.: [Rezension zu:] Koch: Die Geschichte des Fußballs im Altertum und in der Neuzeit, in: Zf TJs 3, 1894/1895, S. 235f.; Schröer, Heinrich: [Rezension zu:] Koch: Die Geschichte des Fußballs im Altertum und in der Neuzeit, in: Monatsschrift Turnwesen 13, 1895, S. 308. 548 | Koch, Geschichte des Fußballs, S. 88. 549 | Ebd.; Vgl. ferner mit identischem Wortlaut: Koch, o.T., S. 101. 550 | Vgl.: Koch, Menschenalter deutscher Spielbewegung, S. 25. 551 | Vgl.: Dorn, Erfahrungen an englischen Schulen; Raydt, Englische Schulbilder in deutschem Rahmen. 552 | Racquet, englische Spiele, S. V, Hervorh., J.E.
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Verhaftungen: Gegenwartsdiagnosen und historische E xkurse in Praxisanleitungen Geradezu paradigmatisch für das bisher Gesagte verschränkte Heineken in den beliebtesten Rasenspielen von 1893 das symbiotische Körper-Geist-Konzept mit einer Gegenwartsdiagnose.553 Der Einleitung war das »Motto: Mens sana in corpore sano« vorangestellt. Es folgte eine umfangreiche Gegenwartsdiagnose. »In unserer schnelllebenden Zeit werden an jeden einzelnen so viele Anforderungen an Körper und Geist gestellt, wie nie zuvor. Unser Kulturleben und der damit verbundene grosse vielgenannte Kampf ums Dasein verlangt ein starkes, ausdauerndes Geschlecht, das mit Mut und Kraft des Körpers wie des Geistes ausgerüstet ist, um die hohen Aufgaben, welche an dasselbe herantreten, bewältigen zu können.« 554
Durch Verwendung der ersten Person Plural bestimmte er in dieser Passage die Gegenwart als eine das Kollektiv betreffende Gestalt. Symptomatisch für die zellular-organische Dependenz war jeder Einzelne in diese Kollektivgegenwart eingefaltet, die Heineken als zwei Aggregatzustände bestimmte: schnelllebende Zeit und Kulturleben. Beide waren eng mit allgemeinen Anforderungen an den Einzelnen verbunden. Mit seiner Diagnose schrieb sich Heineken in zeitgenössisch gängige Charakterisierungen der Gegenwart ein und verband diese mit einer Relevanz der Bewegungsspiele. Ebenso gängig war auch die diagnostisch-prognostische Form seiner Aussagen. Neben Heineken schilderten auch weitere Verfasser von Praxisanleitungen ihren Lesern die Beschaffenheit der Gegenwart. Dieser Befund ist zumindest irritierend, hatten doch die meisten dieser praktischen Texte den erklärten Anspruch, zur Teilnahme am Fußball zu befähigen oder Anleitung zur Anleitung zu geben. Zum Verständnis des Vollzugs eines Fußballspiels, seiner Regeln und der jeweiligen positionsspezifischen Anforderungen trugen gegenwartsdiagnostische Passagen vermutlich genau so wenig bei, wie die in einer Vielzahl dieser Texte ebenfalls enthaltenen historischen Exkurse über Bewegungsspiele und Fußball. Gegenwartsdiagnosen und historische Exkurse, die in zahlreichen Praxisanleitungen enthalten waren, erzeugten auf je unterschiedliche Art und Weise eine »Bindung an Unterordnung«, wie im Folgenden in Anlehnung an Judith Butler argumentiert wird. Im Zentrum steht das dadurch angeregte »leidenschaftliche Verhaftetsein mit der Existenz«.555 Diese Verhaftungen wurden durch gegenwartsdiagnostische und historische Passagen je unterschiedlich organisiert. 553 | Vgl. hierzu auch: Eiben, to play by the Book, S. 115-120. 554 | Alle Zitate: Heineken, Rasenspiele, S. V. 555 | Vgl.: Butler, Psyche der Macht, S. 12-15, S. 121, Zitate S. 12, S. 121.
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Die bei Heineken formulierte enge Bindung des Individuums an die Bedingungen der Gegenwart bildete im gesamten Untersuchungszeitraum die stabilste Form der Verbindung zwischen diagnostisch-prognostischen Aussagekomplexen und dem Einzelnen. Eduard Trapp und Hermann Pinzke wiesen auf die »strebsamen resp. schwächlichen Jünglinge« hin, »welche den Forderungen der Wirtschaft und Industrie jährlich zum Opfer fallen«. Diese ›Opferzahl‹ könnte »bedeutend verringert werden«, wenn die »Bewegungsspiele sich einbürgerten«.556 In anderen Praxisanleitungen wurde die Zielgruppe vor allem durch die Behauptung eines natürlichen, universellen Bewegungstriebes in Beziehung zur Gegenwart gesetzt. »Ein natürlicher Ausfluß des dem Menschen innewohnenden mächtigen Thätigkeitstriebes ist die Lust und Freude am Spiel«,557 wie es Moritz Zettler 1893 formulierte. Diesen Trieb auszuleben erschwere jedoch die Gegenwart. 1874 beklagte Ambros in seinem Spielbuch, dass die »Aeltern« gegenwärtig »die Bewegungen ihrer Kinder ungebührlich und willkürlich« einschränkten und »dadurch das Kind an Leib und Seele« schädigten – und diese Einschränkung würde in der Schule fortgesetzt.558 Die Schule galt auch Clasen als hemmender Faktor, weil dort »unseren Kindern [...] körperliche Bewegung fast völlig versagt« würde.559 Im Vorwort zu Wilhelm Krauses Hinaus zum Spiel lobte ein Dr. Jonas, dass Krauses Werk »gerade zur rechten Zeit« erscheine. Kinder wollten und sollten spielen und lernten dies idealiter auf ›natürliche‹ Weise. Aber »leider sind heutzutage die Verhältnisse nicht allerorten natürlich, zumal nicht in Berlin.« Gerade dort gebe es »nicht den nötigen Raum zum Spiel.«560 Urbanisierung formte auch in Kurt von Eberbachs und Karl Schwalms Praxisanleitungen den Ausgangspunkt von Gegenwartsdiagnosen. In Eberbachs Rasenspiele heißt es, dass die Bewegungsspiele »ein heilsames Gegengewicht [zu] den zersetzenden Wirkungen der Großstadtluft«561 bilden. Vier Jahre zuvor hatte Schwalm beklagt, dass es in den »großen Städten und Industrieorten« kaum noch Freiräume gäbe und der »Großstädter heute schon eine ganz ansehliche Eisenbahnfahrt in den Kauf nehmen muss, wenn er sich und seinen Angehörigen den Genuss freien Sonnenlichtes und reiner Feld- und Waldluft verschaffen will.« Impliziert war also ein ›zurück zur Natur‹. Dass dies in den immer weiter wachsenden Städten nicht ohne Weiteres möglich sei, könne »kein gesunder Zustand sein«, weshalb auch innerstädtischer Freiraum 556 | Trapp/Pinzke, Bewegungsspiel, S. 12. 557 | Zettler, Bewegungsspiele, S. 1. Vgl. ferner: Heineken, Rasenspiele, Vf.; Lion/ Wortmann, Katechismus der Bewegungsspiele, S. 3f. 558 | Vgl.: Ambros, Spielbuch, S. 2-6, Zitat S. 2. 559 | Clasen, Bewegungsspiele, S. 5. 560 | Begleitwort Dr. Jonas in: Krause, Hinaus zum Spiel, S. 3. 561 | Eberbach, Rasenspiele, S. 3.
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geschaffen werden müsse, um den Städtern die gesundheitsförderlichen Bewegungsspiele zu ermöglichen.562 In den bisherigen Ausführungen blieb die Rezipientengruppe unklar. Die meisten Verfasser wiederholten im Prinzip Allgemeinplätze, die sowohl innerhalb als auch außerhalb des Feldes zirkulierten: Schulkritik, Kritik an der Urbanisierung oder der »Kampf ums Dasein«. Auch Hans Oskar Simon stellte in der deutschen Jugend Sportbuch wenig überraschende Diagnosen, verband diese aber mit einer direkten Ansprache der Rezipienten. »Deutschlands bedeutsame Entwicklung auf allen Gebieten konnte nicht ohne Rückwirkung auf die Volksgesundheit bleiben.« Ersichtlich sei dies zum einen daran, dass die »Zahl der Wehrfähigen [...] gesunken« sei. Neben dieser abstrakten statistischen Größe könne man den Rückgang der Volksgesundheit aber auch im unmittelbaren Umfeld beobachten. »[I]hr braucht nur um euch zu schauen auf die vielen Engbrüstigen, Kurzsichtigen, Hohlwangigen auch unter euren Kameraden«. Die direkte Ansprache der Rezipienten bildet eine Ausnahme im Quellenkorpus, gibt jedoch zugleich einen Anhaltspunkt dafür, warum in Texten, die zur Teilnahme an Praktiken befähigen sollten, über Urbanisierung, Schule und andere Hemmnisse des »Bewegungstriebes« lamentiert wurde. »Noch ist es Zeit, ihr deutschen Knaben; nutzt sie! Denn die Jugend ist die Zukunft. Eure Schwäche ist Deutschlands Schwäche. […] Unsere Zeit kennt ein Mittel, euch kraftvoll und mannhaft werden zu lassen, das euch kein Opfer aufzwingt, nein, das euch in Fülle das bietet, wonach jedes Jungenherz sich sehnt: Leben und Lust und Kampf und Kameradschaft. Dieses Mittel: es ist der Sport.« 563
Sehr deutlich und sehr direkt rief Simon in dieser und weiteren Passagen die männliche deutsche Jugend dazu auf, ihre Körper und ihr Selbst zum Wohle der Nation durch den Sport zu bearbeiten. In keiner anderen Praxisanleitung wurden die Rezipienten so ausdrücklich angesprochen und dabei in ein Verhältnis zur Gegenwart gesetzt. Vermutlich fungierten die Belehrungen über den Zustand der Gegenwart als argumentative Stützen, um gegebenenfalls Eltern, Lehrer und andere von der Bedeutung der Praktik zu überzeugen. Gleichwohl ließen sie aber auch keinen ihrer Leser im Zweifel darüber, dass die Beschaffenheit der Gegenwart einen Handlungsdruck erzeuge, der die Teilnahme an Bewegungsspielen zum Dienst am Wohle des Ganzen mache. Obwohl also die Rezipienten fast nie direkt angesprochen wurden, Fußball zu spielen oder auf andere Weise zum Kollektiv beizutragen, so formten die geschilderten Gegenwartsdiagnosen mit ihrem formulierten Handlungsdruck 562 | Vgl.: Schwalm, Fußball ohne Aufnehmen, S. 3f., alle Zitate ebd. 563 | Alle Zitate: Simon, Hans Oskar: An Deutschlands Jugend, in: Ders. (Hg.), Sportbuch, S. 1-4, Zitat S. 2.
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eine subtile Adressierung, die in ihrer ›Zurückhaltung‹ vielleicht sogar wesentlich wirksamer war. Die historischen Passagen weisen in eine etwas andere Richtung. In einigen Praxisanleitungen bildete die griechische Antike eine positive Referenz. Für die Spielbewegung mag dies wenig überraschen, schließlich bildete die Antike, wie an anderer Stelle ausgeführt, auch in anderen Textgattungen den zentralen Bezugspunkt.564 So hoben Trapp/Pinzke die »Griechen« gerade deshalb hervor, weil sie »nicht bloß wie in Sparta, wehrtüchtige Männer zu erziehen [bezweckten], sondern [auch] den Körper zu üben und ihm eine schöne Form zu geben.«565 Knapp dreißig Jahre später galt diese ›Wahrheit‹ auch an der Position des Sports. Berner benannte die »Wertschätzung der Körperform« bei den »Hellenen« als Ursprung des Sports.566 Ein Hinweis auf die Bedeutung solcher und ähnlicher Passagen findet sich in O. Schettlers Spielesammlung von 1884. Auch er hatte einzelnen Spielen »geschichtliche oder ethnographische Notizen« beigegeben. Deren »Wert«, so hoffte er, »beruhet darauf, daß sie es den Erziehern nahe legen, die verschiedenen Vorstellungsmassen in den Köpfen der ihr anvertrauten Jugend auf eine [...] nachdrückliche Art in Verbindung zu bringen.«567 Durch die historischen Passagen sollten sich die Teilnehmer der Praktik also in Körperlichkeiten der Vergangenheit einreihen können und diese Körperlichkeiten standen in deutlichem Kontrast zu den bedrohten Gegenwartskörpern. Die historischen Narrative in den Praxisanleitungen, die sich vornehmlich mit dem Fußball beschäftigten, waren anders gelagert. Ihre Verfasser erkannten zwar an, dass es korrekt sei »den Ursprung des Fußballspieles im Altertum zu suchen«,568 aber der zentrale historische Ort war nicht mehr die griechische Antike, sondern England. Laut Heineken sei das Spiel im 3. Jahrhundert n. Chr. durch römische Truppen dorthin gelangt und seitens der englischen Bevölkerung aufgenommen und bewahrt worden. Im weiteren Verlauf seiner Erzählung übersprang Heineken gut 1000 Jahre und gelangte schnell zu der 564 | Siehe: Kapitel 3.2. 565 | Trapp/Pinzke, Bewegungsspiel, S. 3f. Vgl. ferner: Kohlrausch, Bewegungsspiele, S. 7f, Zitat S. 7. Vgl. ausführlich: Zettler, Bewegungsspiele, der dem 40seitigen Teil zum »Betrieb der Spiele« eine über 200seitige »Geschichte des Spiels« voranstellte. 566 | Vgl.: Berner, Martin: Vom Wesen und Wert des Sports, in: Simon, Hans Oskar (Hg.), Sportbuch, S. 5-27, Zitat S. 8. 567 | Schettler, GutsMuths’ Spiele, S. 4. 568 | Heineken, Das Fußballspiel, S. 11. Neben den im Folgenden zitierten findet sich eine ausführliche Geschichte des Fußballs, die Heineken unter dem Pseudonym ›Clarenna‹ verfasste, ferner in einer Aufsatzreihe in der Zeitschrift Der Fussball. Siehe: Clarenna: Fussball seine Geschichte und Taktik seit 2000 Jahren, in: Der Fussball 2, 1895, Nr. 42-52; Der Fussball 3, 1896, Nr. 1-26. Siehe ferner: Rahn, Der Fußball, S. 15-25.
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ersten urkundlichen Erwähnung des Fußballs in einem Verbot Edwards III. im Jahre 1349. In England, aber auch in Frankreich und Italien, sei dann im Laufe des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit Fußball gespielt worden, bis dieses durch das »Ueberhandnehmen des Puritanertums« fast »ausgestorben« wäre.569 Ähnlich lückenhafte Geschichten des Fußballs seit der Antike mit deutlichem Fokus auf England erzählten auch Schwalm und von Eberbach, während sich Fricke und Albert Otto Paul auf England beschränkten.570 Allein Schnell suchte, ähnlich wie Koch in seiner Geschichte des Fußballspiels im Altertum und der Neuzeit, nachzuweisen, dass Fußball auch an anderen Orten als England gespielt worden sei.571 Trotz der unterschiedlichen Akzente waren sich alle genannten Sprecher einig, dass die Aufnahme des Fußballs in das Curriculum der englischen Public Schools Mitte des 19. Jahrhunderts und die Gründung der Football Association (dem weltweit ersten nationalen Fußballdachverbandes) im Jahre 1863 zu den mit Abstand wichtigsten Etappen der Geschichte dieses Sports zählten. Paul Fabers Einschätzung dieser Gewichtung in seinem Fußballsport von 1907, in dem er »Geschichte und Entwicklung des Fußballsports« sogar ein ganzes Kapitel widmete, verweist deutlich auf eine mögliche Funktion dieser historischen Passagen. Nach einem knappen Abriss über den »Ursprung der Spiele« und einer längeren Passage zum »Fußball in England« eröffnete er einen ausführlichen organisationsgeschichtlichen Teil zum »Fußball in Deutschland« mit einem Verweis auf ›Lehren‹ aus der Geschichte. »Wie aus der Geschichte des englischen Fußballsports zu ersehen ist, war seine Bedeutung erst durch den Zusammenschluß verschiedener Vereine und die Festsetzung bestimmter Regeln eine große geworden.«572 Ähnlich wie Faber unterstrichen zahlreiche Verfasser von Praxisanleitungen an der Position des Sports ihren Lesern die historisch hohe Relevanz von verbandsmäßigen Zusammenschlüssen. Die Bedeutung von Verbänden für die Entwicklung des Fußballs galt seit Mitte der 1890er sowohl an der Position des Sports573 als auch darüber hinaus574 als ›common sense‹.
569 | Vgl.: Heineken, Das Fußballspiel, S. 11-13, Zitate S. 13. 570 | Vgl.: Eberbach, Rasenspiele, S. 7-11; Fricke, Das Fußballspiel, S. 7-11; Paul, Das Fussballspiel, S. 3-5; Schwalm, Fußball ohne Aufnehmen, S. 7f. 571 | Vgl.: Schnell, Handbuch der Ballspiele, S. 2-19. 572 | Vgl.: Faber, Fußballsport, S. 9-24, Zitate S. 9, S. 13. Ähnlich: Heineken, Das Fußballspiel, S. 18-23. 573 | Vgl.: Eberbach, Rasenspiele, S. 121; o.A.: Jahresbericht des Fussball-Vereins ›Stuttgart‹, in: Der Fussball 2, 1895, Nr. 19, S. 146f. 574 | Vgl. u.a.: Frankenberg, Vorzüge und Gefahren der Wettspiele, S. 226f.; Koch, Menschenalter, S. 28;
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Wenngleich längst nicht alle Texte gegenwartsdiagnostische oder historische Passagen enthielten, so verweisen die angeführten Beispiele doch auf einen besonderen Subjektivierungsmechanismus.575 In den historischen Passagen wurde zum einen die Möglichkeit eröffnet – und durch den beifälligen Ton auch nahegelegt –, sich in bestimmte, Körperlichkeiten der Vergangenheit einzureihen. Zum anderen unterstrichen vor allem die historischen Erzählungen zum Fußball, dass die Unterordnung unter einen Verband die sicherste Möglichkeit böte, dem Fußball ungestört nachzugehen. Gegenwartsdiagnostische Passagen erzeugten Verhaftungen mit dem Fußballspiel und unterhielten enge Beziehungen zur verkörperten Nation. Nicht antike Körperlichkeiten oder verbandsmäßige Zusammenschlüsse, sondern die Bedingungen der Gegenwart standen in diesem Kontext im Vordergrund. In Form gegenwartsdiagnostischer Aussagen wurden zumindest die Rezipienten auf das Engste mit dem Fußballspiel oder anderen Praktiken verwoben. Die Bedingungen der Gegenwart waren zwar irreversibel, nicht aber ihre Auswirkungen auf den Einzelnen. Dieser konnte sich, durch Teilnahme am Fußball, gegen diese Auswirkungen stemmen. Im gleichen Atemzug wurde dieser Einzelne aber auch unterworfen. Da die negativen Bedingungen der Gegenwart durch die symbiotische Verschaltung von Individuum und Kollektiv mittelfristig alle betreffen würden, konnte sich dieser Einzelne nicht nur gegen diese Gegenwart stemmen, er musste es auch.
8.3 Der »Spielorganismus« als »Vorschule für das Leben« Der Volkskörper und seine Zellen bildeten als Raum einer notwendigen Intervention nicht nur eine Projektionsfläche für die Relevanz des Fußballs hinsichtlich der körperlich-geistigen Regeneration von Individuum und Kollektiv. Das Verhältnis von organischem Volkskörper und dem Einzelkörper als dessen Zelle bildete zugleich einen prominenten Bezugspunkt für das Sprechen über Gemeinschaft, wie sich anhand der Überlegungen Ferdinand Tönnies’ zeigen lässt. Im Unterschied zur »Gesellschaft als mechanisches Aggregat und Artefact«, so Tönnies 1887, sei die »Gemeinschaft selber als ein lebendiger Organismus« zu verstehen.576 In diesem Zusammenhang boten Fußball und andere Bewegungsspiele eine geradezu ideale Projektionsfläche für die Erziehung zum Leben in der 575 | Vgl. zu diesem Gedankengang: Foucault, Michel: Das Subjekt und Macht, in: Dreyfus, Hubert L./Rabinow, Paul (Hg.), Michel Foucault, S. 243-261, hier S. 247, wo er von »Subjektivierungsmechanismen« spricht. 576 | Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und Socialismus als empirischer Culturformen, Leipzig 1887, S. 5, zit. n.: Etzemüller, social Engineering, S. 23.
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Gemeinschaft. Eduard Angerstein erläuterte dies hinsichtlich der sittlichen und physiologischen Bedeutung der Bewegungsspiele. Diese böten »der Jugend eine Vorschule für das Leben«, indem sie »zum bürgerlichen Gemeinsinn« erzögen. Im Spiel fühle der Junge, »daß er ein organisches Glied der Spielgemeinschaft ist. Allein, ohne diese, ist er nichts; erst indem er in ihr und mit ihr thätig ist, findet er seine Freude. Aber er merkt auch, daß ein einzelner als Glied durch ungehörige Thätigkeit den ganzen Spielorganismus stören kann.«577 Angerstein deutet den dritten Faden an, der den Zusammenhang zwischen Fußball und Nation strukturierte. Für das Leben in der Gemeinschaft wie auch für die Teilnahme an einem Fußballspiel, darin waren sich zahlreiche Sprecher einig, kam es darauf an, dass sich der Einzelne einem ›Ganzen‹ (etwa dem »Spielorganismus«) unterordne, innerhalb dieses ›Ganzen‹ jedoch zu einem gewissen Grad seine Individualität geltend mache.578 Dieses Spannungsverhältnis verweist auf die disziplinatorische Dimension des Fußballs, deren Prinzip in einem ersten Schritt untersucht wird. Um den Rahmen, innerhalb dessen der Fußball als »Vorschule für das Leben« gelten konnte, zu bestimmen, wird die disziplinatorische Dimension anschließend in ihrer Ausdehnung und Begrenzung näher untersucht.
»Ein wohldiszipliniertes Spiel«
Abb. 11: kollektiv-choreographische Körper Die disziplinatorische Dimension lässt sich anhand eines Vergleichs zwischen den unterschiedlichen kollektiv-körperlichen Regimen des Turnens und des Fußballs illustrieren. Abb. 11 stammt aus Simons Sportbuch und zeigt, laut der Bildunterschrift, »turnerische Freiübungen deutscher Studenten.« Im Bildvor577 | Alle Zitate: Angerstein, sittliche und physiologische Bedeutung, S. 8. 578 | Zu ganz ähnlichen Befunden, wie den im Folgenden auszuführenden, kommt Frank Becker – allerdings für die politische Kultur der Weimarer Republik. Vgl.: Becker, Amerikanismus, S. 124-154.
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dergrund ist der auf einem tischähnlichen Sockel stehende Riegenführer in Rückenansicht zu sehen. Er war für die Erteilung von Kommandos und die Überwachung dieser Übungen zuständig. Die von einem Punkt oberhalb der turnenden Studenten angefertigte Fotografie wird in ihrer totalen Perspektive durch ein Gebäude am oberen linken Bildrand sowie der L-förmig von diesem Gebäude verlaufenden Baumreihe begrenzt. Dieser geschlossene Raum ist mit mehr als einhundert Körpern gefüllt, die alle nahezu identische Körperhaltungen eingenommen haben. Bis zur hinteren Begrenzung der Fotografie und über den linken Bildrand hinausgehend reicht die symmetrische Anordnung der Turnkörper fast so weit wie der Blick des Betrachters.
Abb. 12: »diszipliniertes Durcheinander« Die Zeichnung eines ›aufregenden Moments‹ (Abb. 12) aus der Spiel und Sport von 1896 steht in ihrer Repräsentation kollektiv bewegter Körper in scharfem Kontrast zu der Fotografie aus Simons Sportbuch. Mit Ausnahme einiger Schraffuren, die den Boden und den Schattenwurf auf diesem Boden andeuten, gibt es keine weiteren Hinweise auf räumliche Begrenzungen. Das Geschehen findet im wahrsten Sinne des Wortes im Freien statt. Zu sehen sind zwölf Figuren, jeweils sechs in weißer und sechs in schwarz-weiß schraffierter Oberbekleidung. Der Blick nahezu aller Figuren ist auf den im Zentrum des Bildes befindlichen Ball gerichtet, der sich vermutlich aus dem Bildhintergrund in Richtung des Betrachters bewegt. Augenfällig an dieser Abbildung ist der Eindruck relativer Unordnung, welcher sowohl durch die fehlende räumliche Begrenzung als auch das Arrangement der Figuren zueinander evoziert wird. Kein einziger der Figurenkörper unterhält eine symmetrische Beziehung zu einem der anderen, sondern jeder der gezeichneten Körper ist in einer anderen Position und Körperhaltung abgebildet. Im Unterschied zu Abb.
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11 handelt es sich somit nicht um eine kollektiv-choreographische, sondern um eine dynamisch-individuierte Konstellation von Körpern. Von dieser schwärmte von Auenhag in den höchsten Tönen. »Es lässt sich nicht schildern, diese bunte Mannigfaltigkeit der Spielformationen, dieser scheinbar unübersehbare Wirrwarr der ineinander geschobenen Spielparteien, dieses Nebeneinander einzelner blitzschnell wechselnder Kampfszenen […] Und wo der flüchtige Betrachter ein regelloses Chaos sieht, da erkennt der Sachkundige den taktischen Zweckgedanken, der über dem Ganzen schwebt und der jeder einzelnen Spielphase sein Gepräge gibt.« 579
Was von Auenhag als »Gepräge« bezeichnete, hatte Heineken knapp zwanzig Jahre zuvor ausdrücklich auf die disziplinatorische Dimension des Fußballs zugespitzt. Um den Lesern seiner Rasenspiele zu erläutern, warum der Fußball in England so beliebt sei, bat er sie, ihn »an einem nasskalten Novembernachmittag ins Freie« zu begleiten und ein Fußballspiel zu betrachten. »Im Anfang scheint es, als ob die Spieler alle planlos durcheinander liefen, bald aber entdecken wir, dass dieser anscheinende Wirrwarr ein wohldiszipliniertes Spiel ist.«580 Ähnlich wie von Auenhag wies also auch Heineken darauf hin, dass die Relationen der Spieler zueinander für jeden Betrachter nach einer gewissen Zeit als geordneter Zusammenhang erkennbar würden. Die Konstellationen von Turn- und Fußballkörpern unterschieden sich also nicht etwa im Vorhandensein respektive der Abwesenheit von Disziplin, sondern in ihren Disziplinarmodellen. Diese Unterscheidung lässt sich am Fehlen eines ›Dirigenten‹ auf Abb. 12 unterstreichen. Steht der dem Betrachter abgewandte, aus einer erhöhten Position kommandierende und überwachende Riegenführer auf Abb. 11 geradezu prototypisch für das von Michel Foucault in Überwachen und Strafen formulierte »unübersehbare Auftreten der Machtausübenden«,581 so löste sich diese fixierte Machtposition innerhalb der Fußballmannschaft auf. Wie an anderer Stelle ausgeführt galt der Kapitän als »Feldherr« der Fußballmannschaft. Er stand jedoch weder auf einer erhöhten Position, noch kommandierte er einen choreographierten Gleichklang von Körpern, sondern einen dynamischen Zusammenhang, in dem es nicht einen Alleinherrscher geben konnte. Vielmehr war er ebenso wie die anderen zehn Spieler dem »einheitlichen Spielgedanken« unterworfen, wie es Walter von Reichenau formulierte. Im Rahmen des Spielgedankens funktioniere das Spiel
579 | Auenhag, Lulu von: Das Fußballspiel und seine Gefolgschaft, in: DFB-Jahrbuch 7, 1910, S. 50-54, Zitat S. 53. 580 | Heineken, Rasenspiele, S. 5. 581 | Foucault, Überwachen und Strafen, S. 283.
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»ohne einen Führer«. Daher müsse »jeder Einzelne [...] für alle denken, seine Schlüsse und sein Handeln auf die Mannschaft einrichten.«582 Der »Spielgedanke« lässt sich als Netz von Machtbeziehungen fassen, welches eine jede Fußballmannschaft für die Zeit eines Fußballspiels durchzog und wesentlich feiner gewoben war, als die eindeutig vertikale Machtstruktur der Freiübungen. Dieses feinere Netz setzte ein spezifisches Disziplinarmodell ins Werk, das in der bereits angesprochenen komplexen Gleichzeitigkeit von Unterordnung und Individualität bestand. Jenseits der militärischen Dimension galt diese auch als adäquater Umgang mit den Bedingungen der Gegenwart, wie Rolfs eingangs seiner modernen englischen Spiele erläuterte. »Umsicht, rascher und doch erfolgverheissender Entschluss, kräftiges Eingreifen, Kaltblütigkeit, Geduld, Energie und Ausdauer für den Einzelnen – Disziplin für das Ganze, das sind die Bedingungen, die diesen Spielen zu Grunde liegen«. In dieser Gleichzeitigkeit bestünden nicht nur Vorteile für das Militär und Unterschiede zum Turnen, sondern vor allem auch eine adäquatere Befähigung der Jugend für den Umgang mit den Veränderungen der Gegenwart. Wer sehen wolle, was diese Spiele »imstande sind zu leisten, der vergleiche die englische Jugend mit der unsrigen und finde eine Antwort auf die Frage, wie sie in den Kampf ums Dasein anders gestählt eintritt, als unsere abgehetzten und abgelernten Abiturienten.«583 Gut dreißig Jahre später galt dieses Passungsverhältnis zwischen Fußball und Gegenwart noch immer. In seiner Praxisanleitung von 1914 analogisierte Alfred Rahn den Fußball mit »unserer Zeit«. »Unsere ganze Zeit mit ihrer Intensität und ihrem Draufgängertum, ihrer Vereinigung von Intelligenz und Energie, von kühler Vorsicht und alles riskierendem Mut und vor allem mit ihrem Zeichen der organisatorischen Zusammenarbeit hat im Fußballsport ihren symbolischen Ausdruck gefunden.« 584
Trotz aller Unterschiede formte die Gleichzeitigkeit von Individualität und Unterordnung in beiden Fällen das der Gegenwart angemessenere Spannungsverhältnis. Genau zwischen diesen beiden Polen war die »Bildung des Gemeinsinns« durch den Fußball für das Leben in der Gemeinschaft gelagert, wie Fricke 1890 behauptete. »Beim Fußball lernt jeder sich als Glied der Gemeinschaft zu fühlen, und jeder ist stets bestrebt sein Thun auf den Vorteil der Partei zu beziehen.«585
582 | Reichenau, Spielgedanke, S. 161. 583 | Racquet, englische Spiele, S. 3. 584 | Rahn, Der Fußball, S. 12. 585 | Fricke, Das Fußballspiel, S. 13f.
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»Kanonen« und »Schablonen« Bereits Ambros erklärte in seinem Spielbuch von 1874, dass das Spiel im Allgemeinen »zu den Tugenden des geselligen Zusammenlebens« erzöge. »Das Kind lernt seine Kameraden achten und lieben; es lernt Unterordnung, Gerechtigkeit, Wahrheit, Offenheit, Aufrichtigkeit, Anhänglichkeit, Freundlichkeit, Nachgiebigkeit und Besonnenheit pflegen«.586 Was Ambros 1874 als quasi automatischen Vorgang fasste, verschob sich seit den 1880er Jahren zumindest im Sprechen über den Fußball. So formulierte Clasen: »Noch einmal sei hingewiesen auf die Notwendigkeit für jeden Einzelnen, stets nur im Interesse der ganzen Partei zu spielen, nie auf eigenen Faust, denn nicht der einzelne kann den Sieg erringen, sondern nur die Partei als Ganzes. Eine schwache, aber gut disciplinierte Partei pflegt den Sieg davonzutragen über eine schlecht disciplinierte Schar übermächtiger, an sich geschickterer Gegner.« 587
Anders als Ambros’ Spielbuch, das sich im Stile philanthropischer Lehrbücher vornehmlich an Eltern und Erzieher wandte, firmierte die Unterordnung des Einzelnen unter die Ziele eines übergeordneten Kollektivs (»Interesse der eigenen Partei«) in den meisten Praxisanleitungen und Texten zum Fußballspiel als Imperativ für Fußballer. Dieser verdichtete sich zur Unterordnung unter beziehungsweise Einordnung in das ›Ganze‹. In seinen Regeln über das Fußballspiel für deutsche Verhältnisse, die ein Jahr nach Clasens Text erschienen, verlangte Stößer, »daß jeder sich als Teil des Ganzen fühle und als solcher immer das Wohl des Ganzen mehr als seinen persönlichen Ruhm im Auge habe.«588 Der Topos dieses harmonischen Verhältnisses zwischen Individuum und Kollektiv blieb während des Untersuchungszeitraums konstant. Immer wieder wurde darauf »hingewiesen, dass sich jeder Spieler als einen Teil des Ganzen betrachten muss, und dass nur durch Zusammenarbeiten der einzelnen Glieder ein schönes Spiel erzielt werden kann.«589 Was Heineken in zellular-organischer Rhetorik fasste, konkretisierte sich im Kontext des Regelfolgens. Mit ausdrücklichem Bezug auf das Verhältnis zwischen Gesetz und Gemeinschaft formulierte dies Rahn. »›Gesetze müssen sein.‹ Warum? – Weil sie überhaupt erst eine Gemeinschaft ermöglichen!« Gesetze waren, so sein Brückenschlag zum Fußball, nicht nur für die Gemeinschaft generell wich586 | Ambros, Spielbuch, S. 9. 587 | Clasen, Bewegungsspiele, S. 64. 588 | Stößer, Regeln über das Fußballspiel, S. 69. 589 | Heineken, Das Fußballspiel, S. 79f. Vgl. neben den im Folgenden zitierten: Eberbach, Rasenspiele, S. 55; Koch, Fußball 1895, S. 880; o.A.: Der erziehliche Wert des Fußballspiels, in: Monatsschrift KFC 4, 1911/1912, S. 149-150; Schwalm, Fußball ohne Aufnehmen, S. 9, S. 28; Trapp/Pinzke, Bewegungsspiel, S. 32.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
tig, sondern auch konstitutiv für das Fußballspiel. »Es würde unmöglich sein, Fußball zu spielen, wenn nicht das Spielgesetz vorhanden wäre.«590 Ähnlich wie die meisten anderen Verfasser von Praxisanleitungen erläuterte er auf den folgenden knapp dreißig Seiten dann die einzelnen Regeln des Fußballspiels. Während Rahn die Beziehung zwischen Fußballregeln und gemeinschaftsermöglichenden Gesetzen unterstrich, lässt sich anhand einer Maxime aus P. Poetzschs Merkbüchlein von 1895 das Verhältnis zwischen Fußballregeln, Individuum und Kollektiv näher bestimmen. Im Abschnitt über den Fußball formulierte Poetzsch die unbedingte Relevanz von regelkonformem Spiel. »Wer gegen die Regeln verstößt, schadet seiner Partei und dient dem Gegner«.591 Einen solchen Schaden konnte laut den Praxisanleitungen Karl Pfeiffers und von Eberbachs vor allem derjenige Spieler anrichten, der gegen die Abseitsregel verstieß. Diese könne »einen unvorsichtigen Spieler im wichtigsten Augenblick des Spieles abseits bringen und den Verlust eines Tores veranlassen«.592 Schärfer drückte es von Eberbach aus. »Ein Abseitsspieler ist eine tote Kraft; er scheidet vielleicht für den wichtigsten Moment des Spieles aus und trägt somit vielleicht die Schuld an der Niederlage seiner Partei.«593 Abgesehen von diesen Ausführungen über das Regelfolgen blieb der Imperativ der Unterordnung zwar ein konstanter Topos, aber ohne konkreten Bezugspunkt. Das bedeutete jedoch nicht, dass die Zeitgenossen nicht glaubten, ein diesem Imperativ entsprechendes oder widersprechendes Verhalten im Spiel beobachten zu können. So lobte der Berichterstatter eines Spiels der beiden Berliner Vereine Victoria und Germania im Jahre 1896: »Ich kenne wenige Vereine bei welchem das Zusammenspiel, die Seele der Kombination so ausgebildet ist, wie bei Victoria’s Mannschaft. Da giebt es ein System, da herrscht kein wildes Durcheinander; das Bewusstsein eines Ganzen, welches einer erstklassigen Mannschaft ihr Gepräge geben soll, kommt hier in hervorragender Weise zum Ausdruck.« 594
Ähnlich wie Heineken bei seinem imaginären Besuch eines Fußballspiels in England konnte auch der Berichterstatter aus der Sport im Bild seinen Lesern die Beobachtung einer guten Ordnung schildern, die ihm als indikativ für ein alle Spieler beseelendes »Bewusstsein eines Ganzen« galt. Knapp zwanzig Jah590 | Rahn, Der Fußball, S. 28. 591 | Zitate: Poetzsch, Merkbüchlein, S. 1, S. 20. Vgl. ähnlich: Faber, Fußballsport, S. 42. 592 | Pfeiffer, Fußballspiel, S. 27. 593 | Eberbach, Rasenspiele, S. 28. 594 | Spectator: ›Victoria‹ schlägt ›Germania‹ mit 3:2, in: Sport im Bild 2, 1896, S. 764, Hervorh. i. Orig.
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re später nahm auch Richard Girulatis, Trainer einer Berliner Auswahl, ein solches Verhalten im Spiel gegen eine Pariser Auswahl wahr. In dem Spiel, welches die Berliner gewannen, trat in seinem Urteil die »Haupttugend des Fußballspielers, die Selbstlosigkeit, […] in jeder Phase des Spiels leuchtend hervor«.595 Ähnlich wie in den anderen Reflexionen in Spielberichten fand das Unterordnungsverhältnis zwischen Fußballer und dem ›Ganzen‹ jedoch vornehmlich in seiner negativen Ausformung Eingang. In seinem Bericht über das 1. Fußballwettspiel zwischen Leipziger Turnern und Leipziger Sportsleuten von 1893 kritisierte Wortmann die »Sucht einzelner Spieler unter den Turnern, nämlich Alles allein zu machen und aus Eitelkeit persönliche Erfolge zu erringen«.596 Was Wortmann interessanterweise an den fußballspielenden Turnern beobachtet hatte, bildete offenbar auch zwanzig Jahre später immer noch eine wahrnehmbare Abweichung vom Imperativ der Unterordnung. Im Rasensport von 1912 schalt Willi Wolfradt den »Ruhmgeiz«. Den Ruhmgeizigen käme es nicht »darauf an, Sport zu treiben, Leib und Seele zu erfrischen, sondern sie wollen es bestätigt haben, dass sie wichtig sind, wollen sich fühlen, dürsten nach Beifall mehr als nach der erhebenden Befriedigung des Sportes«.597 Ob es nun der ›Durst nach Beifall‹ war oder andere Gründe angeführt wurden – mangelnde Unterordnung unter das Ganze galt als Problem. In einem Bericht über das Spiel der vierten Mannschaft des KFC gegen die zweite der Ehrenfelder Spielvereiningung mahnte Helligrath am Schluss seiner Ausführungen: »Wir müssen uns stets vor Augen halten, daß nicht die Spieltüchtigkeit der einzelnen, sondern vor allem ein harmonisches Zusammenwirken aller, das Sichverstehen, die Stärke einer Mannschaft ausmachen und einen dauernden Erfolg verbürgen kann.«598 Entsprechend bildete Egoismus ein diesem Imperativ des harmonischen Zusammenhangs korrespondierendes Exklusionsprinzip. Ausdrücklich forderte Julius Sparbier die Spielleiter in seinem FußballMerkblatt dazu auf, »kein selbstsüchtiges Spiel«599 zu dulden. Schon auf der ersten Seite seiner Winke über das Fußballspiel von 1897 ließ auch Paul Hartig seine Leser wissen, dass ein »selbstsüchtiger Spieler, und wenn er noch so geschickt wäre, [...] in keiner Mannschaft geduldet werden [soll], denn er schätzt
595 | o.A.: Ein Urteil des Trainers Girulatis, in: Der Rasensport 12, 1914, S. 394. 596 | Wortmann, Fußballwettspiel Leipziger Turner-Sportsleute, S. 255. 597 | Wolfradt, Willi: Die Ehrgeizigen, in: Der Rasensport 10, 1912, S. 249f., Zitat S. 250. 598 | Helligrath: K.F.C. 99 IV gegen Ehrenfelder Sp. V. II 4:2, in: Monatsschrift KFC 2, 1909/1910, S. 5. 599 | Sparbier, Fußball-Merkblatt, S. 6.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
den Beifall der Zuschauer höher, als den Sieg seiner Partei.«600 In fast identischer Diktion formulierte G.O. Smith dies gut fünfundzwanzig Jahre später. »Ein selbstsüchtiger Spieler, so hervorragend er auch sein mag, darf daher in einer Mannschaft nicht geduldet werden«.601 Jenseits der Spielberichte bildete die mangelnde Unterordnung unter das Ganze in der Monatsschrift des KFC den Aufhänger für einige belehrende Artikel. Bereits im ersten Jahrgang druckte die Schriftleitung einen Artikel zur Frage Wie man Wettspiele gewinnt von George Henry Moger. Seine Ausführungen endeten damit, dass »Egoismus an vielen verlorenen Spielen Schuld ist«.602 Als sei dieser Hinweis auf die negativen Folgen egoistischen Spiels nicht genug, griff Hans Passauer in der folgenden Ausgabe auf den Artikel Mogers zurück, um seine Klubkameraden zu ermahnen, sich weder im Spiel noch im Vereinsleben egoistisch zu verhalten.603 Zudem druckte die Monatsschrift in den Jahrgängen 1911/1912 und 1912/1913 überzeichnete Portraits der so genannten »Kanone« ab. »Was eine ›Kanone‹ ist, brauche ich wohl dem Leser nicht erst klar zu machen. Man trifft sie überall an, auf der Bühne, im Konzertsaal und – was uns hier am meisten interessiert – im Sport.« Haupteigenschaft der »Kanone« war eine durch »natürliche Veranlagung« begünstigte »körperliche Leistungsfähigkeit«. Diese ordnete »der mit ›Kanone‹ Bezeichnete« jedoch nicht dem Wohl des Ganzen unter, sondern erwarte »anders behandelt und höher eingeschätzt zu werden als sein Clubkamerad.« Allerdings: »Disciplin kennt er nicht.«604 Ein ähnliches Portrait hatte Carl Cords in den Vereins-Nachrichten des BFC von 1905 über den ›Crack‹ gezeichnet, der sich in seinen negativen Attributen kaum von der Kanone unterschied.605 Ob nun als ›Kanone‹ oder ›Crack‹ bezeichnet – Selbstsucht, Egoismus oder Ruhmgeiz verdichteten sich typologisch zu einer erkenn- und benennbaren Abweichung vom Imperativ der Unterordnung. Obwohl dieser Imperativ eindeutig den privilegierten Referenzhorizont der disziplinatorischen Dimension des Fußballs bildete, formierte sich auch ein Gegenpol. In einer Nachbetrachtung des Spiels der deutschen gegen die unga600 | Hartig, Paul: Winke über das Fußballspiel ohne Aufnehmen des Balles, Leipzig 1897, S. 1. Vgl. ähnlich: Pfeiffer, Fußballspiel, S. 14; Schwalm, Fußball ohne Aufnehmen, S. 42. 601 | Smith, G.O.: Die Stürmerreihe, in: DFB-Jahrbuch 10, 1913, S. 197-209, hier S. 203. 602 | Vgl.: Moger, Wie man Wettspiele gewinnt, Zitat S. 33. 603 | Vgl.: Passauer, Hans: Ein Mahnwort, in: Monatsschrift KFC 1, 1908, S. 42-45. 604 | o.A.: ›Kanonentum‹, in: Monatsschrift KFC 4, 1911/1912, S. 150-152, Zitate S. 150f. Vgl. ähnlich: X.: Kanonen, in: Monatsschrift KFC 5, 1912/1913, S. 187-189. Ebenfalls abgedruckt in: Vereins-Nachrichten BFC 13, Oktober 1913, S. 2-4. 605 | Vgl.: Cords, Carl: Der Crack, in: Vereins-Nachrichten BFC 5, 1905, S. 26-28.
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rische Olympiaauswahl bemängelte Hofmann im DFB-Jahrbuch, dass »die Stürmer infolge ihres übertriebenen Zusammenspiels und ihrer Fehlschüsse bis Halbzeit keinen Erfolg mehr erringen« konnten.606 In seinem Leitfaden von 1911 bezeichnete Simon dieses Zuviel als »Überkombination«. Zwar laute der erste »Grundsatz der Taktik: den Ball immer an denjenigen abgeben, welcher am günstigsten steht«, aber zugleich dürfe darüber nicht die Eigeninitiative vergessen werden. »Wer frei steht, nutze es ohne Zögern aus. Kombination ist gut, Ueberkombination verwerflich.«607 Vor diesem Schema verarbeitete Hofmann in der Monatsschrift des KFC eine 0:3 Niederlage gegen des KFC gegen den Bonner FV. »Das Spiel war das, was man in der Kunst ›akademisch‹ nennt: schön regelmäßig und nach der Schablone, Fehler wurden eigentlich nicht gemacht; aber es ermangelte auch jede Originalität, jedes frische Drauflosgehen, das kecke Zufassen, das allein den Erfolg verbürgt.« 608
Die ›Selbstlosigkeit‹ auf der sich das »Zusammenspiel gründet«,609 wie es Rahn in seiner Praxisanleitung formulierte, konnte also zu einem gewissen Grad ebenfalls übertrieben werden. Wenngleich eher marginal, so verweisen diese wenigen Beispiele auf den anderen begrenzenden Pol der disziplinatorischen Dimension. Vom Fußballer wurde ein Mittelweg gefordert, der zwischen vollständiger Unterordnung und allzu starkem Individualismus beschritten werden sollte.610 Dieser Mittelweg verlief zwischen den beiden Extrempunkten der ›Kanone‹ und der ›Schablone‹, welche jeweils aus der Beobachtung von Fußballspielern abgeleitete, negative Korrelate dieser Anforderungen bildeten. Egoistisches Spielen gereichte der Mannschaft ebenso zum Nachteil wie Überkombination. Dies brachte Pfeiffer auf den Leitsatzes: »Beim Spiel selbst ordne jeder Spieler seine Fähigkeiten dem allgemeinen Besten seiner Partei unter«.611 Anschließend wiederholte auch er, dass Egoismus oder Selbstsucht einzelner Spieler ein Problem für das 606 | Hofmann, Hans: Bericht über die Fußballwettkämpfe bei den Olympischen Spielen 1912 in Stockholm, in: DFB-Jahrbuch 9, 1912, S. 58-69, Zitat S. 65. 607 | Simon, Leitfaden, S. 11. 608 | Hofmann, Hans: K.F.C. 99 I gegen Bonner F.V. I 0:3, in: Monatsschrift KFC 3, 1910/1911, S. 19-21, Zitat S. 20. Vgl. ähnlich: Pfadfinder: Fußballclub M.-Gladbach I gegen Kölner F.C. 99 I 0:1, in: Monatsschrift KFC 2, 1909/1910, S. 2-4. 609 | Rahn, Der Fußball, S. 68. 610 | Vgl. zu diesem Mittelweg neben den im Folgenden zitierten: Koch, Konrad: Der deutsche Idealismus und die Leibesübungen, in: JfVJ 18, 1909, S. 1-14, hier S. 10; Münchener Rasensportverband (Hg.), erzieherischen Werte, S. 23f. 611 | Pfeiffer, Fußballspiel, S. 14.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
Ganze bedeuteten. Zentral für die zeitgenössische Konzeption des Verhältnisses zwischen Individuum und Kollektiv im Fußballspiel ist jedoch sein Hinweis darauf, dass jeder seine Fähigkeiten dem allgemeinen Besten unterordnen solle. Es handelte sich also nicht um eine einseitige Übermächtigung des Einzelnen durch ein privilegiertes Ganzes, sondern dieses war auf jeden Einzelnen angewiesen, wie Raydt 1889 den Lesern seiner Ausführungen über englische Schulbilder erläutert hatte. An einem Fußballspiel hatte er beobachtet, »wie jeder an seinem Teile und nach seiner Kraft zum Gelingen des Ganzen beiträgt«.612 Diese Gleichzeitigkeit bildete einen entscheidenden Vorteil gegenüber Turnen und Individualsport, wie es Hueppe 1898 für die Bewegungsspiele formulierte. »Wir lernen unsere Persönlichkeit voll entfalten, aber wir lernen sie auch aus eigener Erkenntnis, aus Selbstzucht unterordnen unter das große Ganze«. Weder Turnen noch Individualsport könnten diese Gleichzeitigkeit bieten. Bei Ersterem reiche die »Körpererziehung [...] nicht aus, weil sie der Entwickelung der Persönlichkeit nicht genügt.« Der Individualsport wiederum, »soweit er die Persönlichkeit einseitig betont, genügt auch nicht.«613 Die Dublette von Unterordnung und Individualität führte auch Ferdinand August Schmidt als Vorzug der »feiner ausgebildeten Kampfspiele«, wie dem Fußball, an. Solche Spiele verlangten »einerseits strenge Unterordnung des Einzelnen unter die Zwecke des Ganzen«, erforderten »andererseits aber auch der Geltendmachung der Individualität gewissen Spielraum gewähren und die persönliche Leistungsfähigkeit des Einzelnen hervortreten lassen.«614 Was Schmidt und Hueppe als Vorzug der Bewegungsspiele im Allgemeinen angeführt hatten, bezogen die Verfasser von Was wir wollen ausdrücklich auf den Fußball. Er »vereint Mannschaften zum gemeinsamen Werke, schließt sie kameradschaftlich zusammen und bietet doch jedem einzelnen unerschöpfliche Gelegenheit, zu zeigen, was er selber vermag.«615 Die Gleichzeitigkeit von Individualität und Unterordnung innerhalb des disziplinatorischen Spektrums formte, in der organisch-zellularen Metaphorik Kochs, die besondere, für die Gemeinschaft erziehende Funktion des Fußballs aus. »Das große Ganze kann nur gedeihen, wenn zu dessen Besten jeder einzelne seine volle Pflicht und Schuldigkeit tut, und diese fordert von ihm, daß er auf den Gebrauch sei612 | Raydt, Englische Schulbilder in deutschem Rahmen, S. 99. 613 | Alle Zitate: Hueppe, Volksgesundheit durch Volksspiele, S. 16f., Hervorh. i. Orig. 614 | Schmidt, Ferdinand August: Welche Vorteile und Nachteile sind mit den Wettspielen der Spielvereinigungen verbunden, in: JfVJ 9, 1900, S. 119-129, Zitat S. 121. 615 | Norddeutscher Fußball-Verband (Hg.), Was wir wollen, S. 9. Vgl. ferner: Münchener Rasensportverband (Hg.), erzieherischen Werte, S. 3; Wenderoth, Georg: Sport und Erziehung, in: DFB-Jahrbuch 7, 1910, S. 30-34, hier:S. 33; Zander, Leibesübungen, S. 22f.
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Das Subjekt des Fußballs ner Geistesgaben, auf Urteilskraft und Entschlußfähigkeit nicht verzichtet, sondern im Dienste der Gemeinschaft sich auch dieser Gaben gehörig bedient.« 616
Kontur 4: Das Subjekt der Gegenwart Die bisher untersuchten Problematisierungen betrafen primär das Verhältnis zwischen Fußball, Akzeptabilität und dem einzelnen Fußballer. Der zuletzt untersuchte Diskursstrang überführte diesen einzelnen Fußballer in einen dezidiert kollektiven Zusammenhang. Fußball formte eine Oberfläche, auf der Relationen zwischen Individuum und Kollektiv austariert wurden. Diese Oberfläche durchzogen drei Fäden. Der erste Faden organisierte wahrnehmbare (Nicht-)Passungsverhältnisse zwischen Fußball, Fußballer und Nation. Seinen Fluchtpunkt bildeten hörund sichtbare Dissonanzen. Fußball, an der Position der Spielbewegung als positive Ergänzung im Feld der Körperkultur propagiert, musste, um die Nation zu bereichern, eine ›deutsche Form‹ erhalten. Dies betraf vor allem die Sprache. Immer wieder wurden Fußballer angehalten, sich deutscher Begriffe zu befleißigen. Seitens der Fußballer und der Sprecher an der Position des Sports lässt sich demgegenüber eine gewisse Widerständigkeit verzeichnen, die jedoch nicht etwa aus einer trotzigen Haltung rührte. Vielmehr galten zumindest einige der vorgeschlagenen Begriffe schlichtweg als inadäquat für die Praktik und ihren Vollzug. In diesem Kontext tritt eine Art praktische Kennerschaft der Fußballer zutage. Hinsichtlich der Sichtbarkeiten herrschte eine deutlichere Übereinstimmung zwischen Spielbewegung und Sport. An beiden Positionen wurde mehrfach die Frage einer dem antizipierten zeitgenössischen Geschmack entsprechenden Fußballbekleidung verhandelt. Auffällig ist, dass sich die Sprecher an der Position des Sports wesentlich intensiver und in Form einer feiner justierten Optik damit befassten. Sicht- und Hörbarkeiten des Fußballs formten sowohl den Aufhänger für eine mögliche Facette des Akzeptabilitätsproblems des Fußballs als auch einen Maßstab, anhand dessen die Beobachtung von Fußballern im Vollzug der Praktik organisiert wurde. Der zweite Faden verschränkte die physische Gestalt der Nation mit dem Konzept der zellular-organischen Dependenz von Individuum und Kollektiv. Durch die Bedingungen der Gegenwart, so diagnostizierten zahlreiche Sprecher im Feld der Körperkultur, wären bereits viele Glieder des Volkskörpers geschwächt und mittelfristig würde dies zur Degeneration der Nation führen. Diese Diagnosen erzeugten eine hohe Plausibilität für den Fußball und andere, als ›englisch‹ geltende Praktiken, da England als Blaupause für jene Prozesse galt, die das Kaiserreich durchmache und die zur Schwächung der Nation führten. Indem die Diagnosen in Praxisanleitungen zum Fußballspiel wieder616 | Koch, Erziehung zur Selbstständigkeit, S. 217.
IV. Das »deutsche Nationalspiel«?
holt wurden, streute die negative Bestimmung des Status Quo wesentlich weiter und verhaftete jeden einzelnen Fußballer auf das Engste mit der Praktik. Der Zustand des Volkskörpers war nicht unheilbar, sondern jeder Einzelne konnte (und musste) durch Teilnahme am Fußball zu dessen Regeneration beitragen. Historische Passagen ergänzten diese Unterwerfung zum Wohle des Kollektivs um eine ermächtigende Facette. Die historistisch geprägten Ausflüge in die Vergangenheit bewegter Körper suggerierten die Möglichkeit, praktischen Zugang zu spezifischen Körperlichkeiten zu erlangen, die dem degenerierenden, kulturell deformierten Gegenwartskörper als überlegen galten. Die Unterwerfung des Fußballers unter die Pflicht, seinen Teil zur Regeneration des Volkskörpers beizutragen, wurde auf diese Weise mit einer produktiven Facette verschränkt, in der die Bedingungen der Unterwerfung nicht nur dem Volks-, sondern auch dem Individualkörper zugute kamen. In einem ähnlichen semantischen Register wiederholte sich die Verschränkung von Individuum und Kollektiv hinsichtlich der gemeinschaftsbildenden Eigenschaften des Fußballs. Als organisches Ganzes formte die Nation nicht nur einen der Regeneration bedürftigen Volkskörper. Auch die Nation als Gemeinschaft konnte in Form eines organischen Zusammenhangs gefasst werden – eine Konzeption, die aus naheliegenden Gründen im Feld der Körperkultur Konjunktur hatte, drängte sie sich doch für Projektionen vom bewegten Körper auf die Nation und umgekehrt geradezu auf. Auf ähnliche Weise wie im Kontext der Männlichkeit und vor allem der Militärtauglichkeit galt das Fußballspiel, konzipiert als Spielorganismus, seinen Fürsprechern als Bildungsraum, innerhalb dessen Fußballer ein spezifisches Selbstverhältnis einrichteten, das sie für das Leben in der Gemeinschaft benötigten. Dieses Selbstverhältnis war zwischen zwei Polen gelagert. Die Pole spannten die disziplinatorische Dimension des Fußballs auf und betrafen zugleich genau jenes Spannungsverhältnis, welches das Individuum als Glied der Gemeinschaft in sich instituieren sollte: eine Gleichzeitigkeit von Unterordnung unter die Ziele eines übergeordneten Kollektivzusammenhangs und dem Einbringen individueller Qualitäten und Fähigkeiten, um diese Ziele zu erreichen. In diesem Kontext galt der Fußball als dem Turnen und den Individualsportarten überlegener Raum der Selbstbildung von Mitgliedern der nationalen Gemeinschaft. In seiner Form als Organismus war er der Gemeinschaft ähnlicher und die Anforderungen, die er an seine Mitspieler stellte, entsprachen eher jenen, die die Gemeinschaft von ihren Gliedern verlangte. Das Subjekt des Fußballs war in dieser Kontur somit dreifach mit den Bedingungen der Gegenwart verwoben: im Sprachgebrauch und der Kleiderwahl dem Geschmack der Zeit entsprechend, durch den Fußball einen Dienst am Volkskörper leistend und in Form einer Gleichzeitigkeit von Disziplin und Eigeninitiative zur Teilhabe an der Gemeinschaft ermächtigt, war das Subjekt des Fußballs als Subjekt der Gegenwart konturiert.
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V. »König Fußball« und das Kaiserreich: Schluss »Fußball ist unser Leben, denn König Fußball regiert die Welt.«
Fast genau 100 Jahre nachdem Konrad Koch und August Hermann ihre Schüler in Braunschweig hatten Fußball spielen lassen, versammelte sich die deutsche Fußball-Nationalmannschaft der Herren in einem Tonstudio. Ein Jahr vor der Fußball-Weltmeisterschaft 1974 schmetterten sie dort die obigen Zeilen in ein Mikrofon. Ob »König Fußball« 1973 wirklich die Welt regierte, ist zumindest fraglich. Fraglos genoss (und genießt) die Praktik in der Bundesrepublik und darüber hinaus jedoch eine außerordentlich große Popularität. Im Deutschen Kaiserreich war es mit dieser Popularität hingegen noch nicht so weit her. »König Fußball« hatte noch lange nicht auf dem Thron Platz genommen. Vielmehr lassen sich für diesen Zeitraum ein Akzeptabilitätsproblem und Aushandlungen der Akzeptbabilitätsbedingungen des Fußballs konstatieren. Anhand dieses Problems sowie der Aushandlungsprozesse, so die Ausgangsüberlegung dieser Studie, sollte eine Geschichte bewegter Körper im Kaiserreich geschrieben werden. Analytisch wurde das Akzeptabilitätsproblem innerhalb des zeitgenössischen Feldes der Körperkultur verortet, d.h. einem Raum der Auseinandersetzungen über den legitimen Gebrauch des Körpers. Innerhalb dieses Feldes bildete das Turnen die herrschende Position, an welcher wesentliche Charakteristika des Akzeptabilitätsproblems formuliert und als orthodoxe Intervention operationalisiert wurden. Einen markanten Kritikpunkt bildete die Gefährlichkeit des Fußballs für Leib und Leben. Diesen stabilisierten die Fußballgegner vor allem im Rekurs auf Unfallstatistiken aus englischen und amerikanischen Tageszeitungen, die sowohl in den Organen der DT als auch den deutschen Tageszeitungen zirkulierten. Gerade dieser Komplex reichte deutlich über einen Dissens zwischen Turnern und Fußballern hinaus, wie sich anhand der Fußballverbote zeigen ließ, die von Eltern, Lehrern und Behörden in je unterschiedlichem Zuschnitt ausgesprochen wurden. In enger Bezie-
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Das Subjekt des Fußballs
hung zur Gefahr für Leib und Leben stand der Vorwurf der Rohheit. Dieser beruhte auf dem sichtbaren Kontrast zwischen dem ungeordnet und undiszipliniert wirkenden Durcheinander eines Fußballspiels und den geordneten, choreographischen Kollektivpraktiken des Turnens. Neben der kollektivkörperlichen Dimension wurde auch der Einzelkörper zur Zielscheibe der Kritik. In diesem dritten Komplex formte der markante Unterschied zwischen turnerischem und fußballerischem Gebrauch des Körpers den Ausgangspunkt. Die Privilegierung der unteren Extremitäten widersprach dem turnerischen Anspruch einer harmonischen und ganzheitlichen Körperbildung, was in degenerationstheoretisch grundierter Kritik kulminierte. Der vierte Vorwurf betraf die Nicht-Passung zwischen Fußball und deutscher Nation. Er beruhte vor allem auf der wirkmächtigen Vorstellung der Nation als einer Sprach- und Kulturgemeinschaft. In diesem Zusammenhang waren es vor allem die sichtund hörbaren Dissonanzen zwischen Fußball und Nation, anhand derer der Vorwurf organisiert war. Fußballsprache und -kleidung wurden als deutlicher Kontrast zum Deutschen wahrgenommen und kritisiert. Zwischen den 1880er und 1890er Jahren bildeten sich zwei neue Positionen im Feld heraus, die diesen turnerischen »Diskurs zur Verteidigung der Orthodoxie«1 überhaupt erst nötig machten. Anfang der 1880er Jahre entstand die Spielbewegung, die vor allem das Schulturnen harsch kritisierte. Gut zehn Jahre später fand sie ihren institutionellen Ort im ZA, der sowohl inhaltlich als auch personell enge Beziehungen zur DT unterhielt. An der Position der Spielbewegung versammelte sich eine Fraktion der Fürsprecher des Fußballs, die diesen als Ergänzung zum Turnen vorschlugen. Etwa für Mitte der 1890er Jahre lässt sich die Herausbildung der dritten Position taxieren: der Sport. Dort versammelte sich die andere Fraktion der Fürsprecher. Anders als die Spielbewegung schlugen sie den Fußball nicht als Ergänzung zum Turnen vor, sondern situierten ihn als dem Turnen gleichberechtigte Praktik im Feld. Im Kontext des Fußballs blieb diese Position allerdings zunächst eher unscharf. Zwar gab es schon zu Beginn der 1890er Jahre erste verbandsmäßige Zusammenschlüsse außerhalb der DT, eine deutliche Markierung erfuhr der Fußballsport jedoch erst im Januar 1900 durch die Gründung des DFB. Zuvor verorteten sich die meisten Sprecher zumeist selbst an dieser Position, indem sie vom Fußballsport sprachen, in Sportperiodika veröffentlichten oder sich gegen Kritik am Sport zur Wehr setzten. Trotz solcher Selbstverortungen seiner Fürsprecher blieb der Status des Fußballs unklar. Im Unterschied zu Praktiken wie Radfahren, Rudern oder Leicht- und Schwerathletik, die schon früh konstitutive Merkmale des Sports, wie Leistungsmessung und Streben nach Höchstleistungen auswiesen, konnte Fußball sowohl Spiel als auch Sport bedeuten. Gerade deshalb war er anschlussfähig für beide Positionen. 1 | Bourdieu, einige Eigenschaften von Feldern, S. 109.
V. »König Fußball« und das Kaiserreich
Die Akzeptabilitätsbedingungen des Fußballs, so eine zentrale Überlegung, wurden zwischen den genannten drei Positionen ausgehandelt. Eine Seite dieser Bedingungen bildete das bereits umrissene Akzeptabilitätsproblem, welches sich aus verschiedenen Attributen zusammensetzte: gefährlich für Leib und Leben, verrohend und degenerierend, Dissonanz zwischen Fußball und Nation. In diesem Zusammenhang bildete der Fußball einen inakzeptablen Gebrauch des Körpers. Die andere Seite der Aushandlungsprozesse seiner Akzeptabilität bildete der Umgang mit diesem Akzeptabilitätsproblem seitens der Fürsprecher des Fußballs. Der Umgang mit dem Problem war auf drei Ebenen gelagert. Auf der ersten Ebene findet sich das Zusammenspiel von argumentativer Entkräftung und Konfrontation. Die Gefährlichkeit des Fußballs für Leib und Leben entkräfteten seine Fürsprecher dahingehend, dass die englischen und amerikanischen Unfallstatistiken den Rugby-Fußball beziehungsweise American Football betrafen. In diesem Zusammenhang gereichte dem Fußball seine Mehrdeutigkeit zum Vorteil. Seine Fürsprecher konnten relativ plausibel behaupten, dass die Vorbehalte auf einer inadäquaten statistischen Grundlage beruhten und sich auf diese Weise zugleich als Experten positionieren. Ferner suchten einige Fürsprecher die direkte Konfrontation mit dem Turnen. Sie griffen auf Unfallstatistiken des Turnens zurück und machte sich Argumente aus medizinisch-physiologischen Wissensordnungen zu eigen. So galt das Hallenturnen aus bakteriologischer Perspektive als gesundheitsschädlich und das Geräteturnen in physiologischer Hinsicht als rückständig. Auf der zweiten Ebene sind die konstruktiven Diskursstränge angesiedelt, in denen das Turnen nicht direkt angegriffen wurde. Vielmehr destabilisierten und unterminierten sie dessen herrschende Position, indem sie dem Fußball besondere Vorzüge zuschrieben, die das Turnen nicht böte. In diesem Kontext lassen sich vier Bereiche identifizieren, die zeitgenössisch prominente Problematisierungen bildeten und für die seine Fürsprecher den Fußball als ideale Lösung anführten. 1) gesunde Lebensführung: Der Erfolg einer Fußballmannschaft beruhe auf einem bestimmten, als ideal markierten körperlichem Zustand jedes einzelnen Spielers, so die Fürsprecher des Fußballs. Um diesen Zustand zu erreichen galt zweierlei als erforderlich. Jeder Fußballer sollte sich ergänzenden Übungen unterziehen und sich dem Regime des Trainings unterwerfen. Ergänzende Übungen konnten zum einen als Gegenargument zum Vorwurf der disharmonischen und potenziell degenerierenden Verbildung des Fußballkörpers angeführt werden. Indem auch turnerische Übungen zur Ergänzung vorgeschlagen wurden, überschritt dieser Bereich zum anderen die in den Auseinandersetzungen zwischen Turnen und Fußball eröffneten Dichotomien. Das Training unterhielt außerdem enge Beziehungen zu (konstitutions-)hygienischen Wissensordnungen, die einen prominenten Bereich auf der
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Problematisierungsachse »Gesundheit« bildeten. Weitestgehender Verzicht auf Genussmittel, sexuelle Abstinenz, eine möglichst gesunde Ernährung und maximale Ausnutzung des Tages für körperliche Übungen bildeten Eckpfeiler dieses präventiven Selbstverhältnisses. In beiden Kontexten wurde der Fußballer als Empfänger gesundheitsförderlicher Effekte situiert, die über die Behauptung einer funktionalen Beziehung zwischen gesundheitsförderlicher Lebensführung und Erfolg im Fußballspiel ihre Plausibilität bezogen. Jedoch blieb es nicht allein bei der Behauptung, sondern die Leistungsfähigkeit jedes einzelnen Fußballers stand in jedem Spiel auf dem Prüfstand. Es wurde zwar nicht ständig danach gefragt, ob und inwieweit man Ergänzungssport betreibe oder sich dem Training unterwerfe. Doch indem beides als Voraussetzung für fußballerisch leistungsfähige Körper gesetzt wurde, konnte prinzipiell immer genau dieser Grad der gesunden Lebensführung praktisch überprüft werden. Eine gesunde Lebensführung bildete somit zugleich behaupteten Effekt und beobachtungsleitenden Blick auf den Fußballer. 2) Ermännlichung: Die Teilnahme am Fußball galt als gefährlich. Dieser Vorwurf wurde zum einen durch Rekurs auf die fehlerhafte Grundlage der Unfallstatistiken entkräftet. Zum anderen wurde die Gefahr in einer produktiven Wendung als formatives Moment bestimmter männlicher Attribute behauptet: Mut und Selbstbeherrschung, die beide wesentliche Bestandteile des zeitgenössischen Kriterienbündels hegemonialer Männlichkeit waren. Der Fußball firmierte in diesem Kontext als Strukturübung, die ihre Plausibilität aus der dynamischen Konstellation sich bewegender Körper bezog. In dieser dynamischen Konstellation, dies erkannten seine Fürsprecher durchaus an, konnten Körper schmerzhaften Kontakt haben. Auf diese Weise lerne jedoch auch jeder Einzelne die Furcht vor Schmerzen zu überwinden und somit Mut zu entwickeln. Ähnlich verhielt es sich mit der Selbstbeherrschung. Freilich könne der Einzelne in der Dynamik eines Fußballspiels die Beherrschung verlieren, doch gerade durch die Gefahr des Beherrschungsverlustes werde zugleich die Wahrung der Selbstbeherrschung geübt. Diese Argumentation für den Fußball als ermännlichende Praktik schärften seine Fürsprecher, indem sie relativ plump konstruierte, fußballabstinente Antitypen aufriefen, von denen, so eine kulturpessimistische Implikation, es ohnehin schon viel zu viele gebe. Ähnlich wie der körperliche Zustand formten auch Mut und Selbstbeherrschung eine mögliche Justierung der Beobachtung von Fußballspielen aus, die jedoch bei weitem keinen so deutlichen Niederschlag im Quellenmaterial fand. 3) Soldaten für den modernen Krieg: Militärtechnisch unterschied sich der deutsch-französische Krieg von 1870/71 deutlich von den Kriegen nach 1900, was auch deutsche Militärkreise registrierten. Dank der medialen Präsenz des russisch-japanischen Krieges und der Burenkriege erfuhren auch die nichtmilitärischen Zeitgenossen davon. Der moderne Soldat sollte in der Lage sein, innerhalb eines bestimmten Rahmens relativ flexibel und selbstständig, statt
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nur auf Befehl zu handeln. In diesem Kontext knüpften Militär und Fußball ein festes Band, dessen Fäden zwei Analogien bildeten: Fußball und Krieg, Fußballer und Soldat. Die Analogie zwischen Fußball und Krieg beruhte auf der Rezeption des Fußballs als dynamisches kollektiv-körperliches Geschehen, das sich in einem klar begrenzten Raum vollzog, innerhalb dieses Raumes jedoch fluide, passagere Räume bildete. Diese räumliche Gleichzeitigkeit verdoppelte sich in den permanent wechselnden positionalen Konstellationen und der entsprechend erforderlichen, immer wieder neu gegebenen Notwendigkeit, die Ordnung wiederherzustellen. Seine räumliche und positionale Dynamik fassten die Zeitgenossen in dezidiert militärisch-kriegerischer Semantik, die den Fußball zu einem »Krieg im Kleinen« machte. In diesem kriegsähnlichen Geschehen erblickten seine Fürsprecher einen besonderen Vorzug für die Ausbildung von Eigenschaften, die der Soldat für den modernen Krieg benötige. Im »Fußballkrieg« lerne der Fußballer Unterordnung unter einen Führer bei gleichzeitiger individueller Initiative. Genau darin läge der Vorteil gegenüber anderen Praktiken. Der soldatische Körper könne ebenso gut im Turnen oder anderen sportiven Praktiken geübt werden, der Soldat aber am besten im Fußball. Der Erste Weltkrieg schien diese Vorzüge zu beglaubigen. 4) Glied der Gemeinschaft: Durch die angeführten Effekte des Fußballs auf den Fußballer konnte dessen besondere Relevanz für das Kollektiv, imaginiert als Volkskörper, relativ mühelos argumentiert werden. Indem er durch den Fußball lerne, gesund zu leben und durch die Praktik notwendige Eigenschaften eines »wahren Mannes« und Soldaten erwerbe, trüge der Fußballer wesentlich zur Gesundung, Ermännlichung und militärischen Ertüchtigung des Volkskörpers bei. Es war aber nicht nur das Kollektiv als Gestalt, welches in organisch-physischer Metaphorik gefasst wurde, sondern auch die Beziehungen zwischen den Individuen. Bildete das Kollektiv einen Volkskörper, so formte die Gemeinschaft dessen Organismus. Ähnlich wie im Kontext der Militärtauglichkeit bildete auch hier das dynamische Geschehen eines Fußballspiels eine besondere Projektionsfläche für Analogiebildungen. Im Unterschied zum modernen Soldaten, dessen Konstituierung als Wechselspiel von Unterordnung unter einen Führer, Individualität und räumlicher Ordnung gesetzt wurde, formte die disziplinatorische Dimension des Fußballs ein anderes generatives Prinzip. Das Disziplinarmodell figurierte den Fußballer zwischen den Polen der Unterordnung unter die Ziele eines Ganzen und der notwendigen Eigeninitiative. »Schablone« und »Kanone« firmierten in diesem Zusammenhang als Pointierungen der Überschreitung des richtigen Maßes von Unterordnung respektive Individualität. Genau zwischen diesen beiden Extrempunkten war jene ideale Zelle des Gemeinschaftsorganismus gelagert, deren Formung die Fürsprecher des Fußballs versprachen – und als funktionales Korrelat von Fußballspielen setzten.
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Bereits auf dieser Ebene ist die enorme Relevanz der Öffentlichkeit des Fußballs deutlich geworden. Während etwa das Verhältnis zwischen Leistungsfähigkeit und gesunder Lebensführung oder die Gleichzeitigkeit von (Unter-)Ordnung und Initiative vornehmlich über eine funktionale Kausalität stabilisiert wurden, bot der Fußball als öffentliche Praktik eine höchst produktive Projektionsfläche für Imaginationen des Krieges, der Gemeinschaft und der Ausbildung von Männlichkeit im dynamischen Vollzug kollektiv bewegter Körper. Genau in diesem Kontext ist die dritte Ebene gelagert, die zwei Facetten des Akzeptabilitätsproblems betraf, die sich nicht oder nur teilweise argumentativ entkräften ließen. 1) Gefährlich und roh: Die Gefährlichkeit des Fußballs entkräfteten die Fürsprecher des Fußballs dahingehend, dass sie auf inadäquaten statistischen Grundlagen beruhe. Ferner benannten sie die Gefahr als formatives Moment von Mut und Selbstbeherrschung. Gleichwohl bildete die Gefährlichkeit des Fußballs auch für die Fürsprecher ein prominentes Problem. Dieses bestand zwar weniger in lebensgefährlichen Verletzungen, als vielmehr in den kleinen Blessuren und Fehltritten im wahrsten Sinne des Wortes, doch genau diese galten als Indikatoren für Rohheit. Ob nun der Fußball den Menschen verrohe oder rohe Menschen den Fußball, blieb dabei offen. Ein gesundheitsgefährdender Gebrauch des Körpers konnte aber in jedem Fall als Ausdruck von Rohheit rezipiert werden. Angesichts der prinzipiellen Öffentlichkeit des Fußballs nahmen Appelle zur Vermeidung eines solchen Körpergebrauchs eine mindestens ebenso prominente Position innerhalb des Quellenkorpus ein, wie der Vorwurf selbst. Diese Appelle richteten sich an alle drei Instanzen der Regelwahrung, d.h. Schiedsrichter, Kapitän und den einzelnen Fußballer. Schiedsrichter überwachten die formale Einhaltung der Regeln und Kapitäne waren gehalten, unfaire Spieler nicht in ihren Mannschaften zu dulden. Jeder einzelne Spieler sollte aber mehr tun, als die Regeln von ihm verlangten. Er sollte nicht nur keine Regeln übertreten, sondern auch fair spielen. Diese innere Haltung flankierten die Repräsentationen der Dingwelt des Fußballs sowie die Hinweise zur körpertechnischen Ausbildung. Schuhe sollten bestimmten Anforderungen entsprechen, damit sich niemand verletze, und Schienbeinschützer galten als obsolet, da ohne sie ein gefährlicher Gebrauch des Körpers unwahrscheinlich würde. Gerade Anfänger waren zudem aufgefordert, zunächst einen gewissen Grad an Geschicklichkeit auszubilden, bevor sie an Fußballspielen teilnähmen – und zwar nicht, um den Erfolg der Mannschaft zu gewährleisten, sondern um im Spiel keine Rohheit zu zeigen. Diese normative Struktur stand in einer engen Beziehung zu den behaupteten Vorzügen des Fußballs. Rohes Spiel konterkarierte die behauptete Selbstbeherrschung und Verletzungen standen den gesundheitsförderlichen Eigenschaften diametral entgegen. In dieser Hinsicht wurde jeder einzelne Fußballer im Namen
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der Akzeptabilität dazu aufgefordert, im Spiel zu zeigen, was die Fürsprecher versprachen. 2) Undeutsch: Es ließ sich relativ plausibel behaupten, dass England als Muster für jene Prozesse zu gelten habe, die sich derzeit im Kaiserreich beobachten ließen. Urbanisierungs- und Industrialisierungsprozesse sowie die ihnen beigeordneten, mit einer Mischung aus Optimismus und Pessimismus diagnostizierten Effekte, hätte England bereits durchlaufen und dort habe sich der Fußball als eine Möglichkeit des Umgangs damit bewährt. Was in England gut war, könne auch im Kaiserreich nicht schlecht sein, so das Argument. Während also ein Passungsverhältnis zwischen Fußball und Gegenwart recht simpel argumentiert werden konnte, ließ sich die wahrnehmbare Dissonanz zwischen Fußball und Nation nicht wegdiskutieren, was auch seine Fürsprecher anerkannten. In der als Kultur- und Sprachgemeinschaft imaginierten Nation bildete der Fußball einen deutlich wahrnehmbaren, hör- und sichtbaren Missklang. Die hörbare Dimension betraf Fußballregeln und -fachsprache, die beide in England gebildet worden waren. Vor allem an der Position der Spielbewegung, prominent vertreten durch Koch, wurden zahlreiche Vorschläge unterbreitet, die Regeln und Fachsprache vom ›Englischen‹ zu bereinigen. Wenngleich vor allem die ›Praktiker‹ an der Position des Sports einige Begriffe nicht übernahmen, fand doch das Gros der vorgeschlagenen Übersetzungen seinen Niederschlag in Praxisanleitungen und Spielberichten. Lediglich für Training, pass und dribbling setzten sich die Vorschläge nicht durch. Für Ersteres gab es keinen adäquaten Begriff und »treiben« oder »abgeben« waren zu unpraktisch im wortwörtlichen Sinne. Die sichtbare Dissonanz zwischen Fußball und Nation betraf vor allem die Oberbekleidung. Während Einigkeit darüber herrschte, dass verschiedenfarbige Trikots zur notwendigen, deutlich sichtbaren Unterscheidung der Mannschaften konstitutiv für ein Fußballspiel waren, blieb die Frage der Farbzusammenstellung ein virulentes Thema. Zu bunte Kleidung markierte den Fußball ebenso deutlich als dem »deutschen Boden fremde Pflanze«, wie ihn das »englische Kauderwelsch« als Symptom der »Fremdsucht« erscheinen ließen. In beiden Fällen galt das, was Hans Hofmann 1913 in Bezug auf die Kleidung formuliert hatte. »Alles Neue«, so auch der Fußball, müsse »sich zunächst an die Sinne wenden.«2 Bildete der Fußballer auf der konstruktiven Ebene vor allem einen Empfänger positiv konnotierter Effekte, die die Praktik auf jeden einzelnen habe, so wurde er auf letztgenannter Ebene zu einem aktiven Träger der Akzeptabilitätsbedingungen. Im Namen der Akzeptabilität war jeder einzelne Fußballer aufgefordert, seinen Körper auf bestimmte Weise auszubilden, um ihn auf eine bestimmte Weise (nicht) gebrauchen zu können, bestimmte Begriffe nicht zu verwenden und bei der Kleiderwahl Rücksicht auf den nationalen Ge2 | Hofmann, Kleidung der Spieler, S. 110.
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schmack zu nehmen. In dieser normativen Struktur ging der einzelne Fußballer ebensowenig auf, wie in den auf anderer Ebene behaupteten positiven Effekten. Gleichwohl schrieb sie sich in den gesamten Bereich der Texte ein, die um den Fußball im Kaiserreich zirkulierten. In dieser Hinsicht formte die normative Struktur das organisierende Prinzip der »tropologischen Inauguration des Subjekts« des Fußballs unter den Vorzeichen der Akzeptabilität. Im Rekurs auf die theoretische Position Judith Butlers bedeutet das, dass der Fußballer in allen Formen seiner Adressierung potenziell immer zu einer »Rückwendung auf sich selbst oder gar gegen sich selbst« und sein Tun aufgerufen werden konnte.3 Zusammengenommen bildeten beide Ebenen jenen Bereich, in dem das Subjekt des Fußballs seine Konturen erhielt. Auf der konstruktiven Ebene umrissen verschiedene Diskursstränge den Fußballer als eine Instanz, welche in, für und durch die Praktik positiv konnotierte Eigenschaften, Haltungen und Fähigkeiten ausbildete. Vor allem hinsichtlich jener Argumente, die über eine funktionale Beziehung zwischen Fußball und Fußballer stabilisiert waren, wie etwa Lebensführung oder gemeinschaftsdienlicher Antiindividualismus, wurde deutlich, dass dies nicht auf einer abstrakten, dem Fußball äußeren Ebene verblieb, sondern auch konkrete Beobachtungen von Fußballspielen prägte. Auf der anderen Seite wurde das Subjekt des Fußballs als aktiver und öffentlich sichtbarer Träger der Akzeptabilitätsbedingungen der Praktik konturiert. Auch diese Inauguration des Subjekts verblieb nicht in einem abstrakten Bereich. Vielmehr organisierte auch sie die Art und Weise, wie Fußballspiele beobachtet und das Tun jedes einzelnen Fußballers bewertet wurden. »Der Fußballer« im Sinne einer konkreten biographischen, physischen, psychischen und biologischen Entität war mit dem Subjekt des Fußballs also nicht identisch. Letzteres bildete vielmehr jenen Bereich in dem ersterer als Fußballer erkannt und adressiert werden konnte. Dank der Frage nach den Akzeptabilitätsbedingungen ließen sich die Bedingungen fixieren, innerhalb derer Fußball und Fußballer in das Spiel des Wahren und Falschen eintraten. Die Diskursivierung des Fußballs fungierte in diesem Zusammenhang als Sonde, um eine bestimmte zeitgenössische Erfahrung der Gegenwart auszuleuchten. Diese Erfahrung, d.h. das Geflecht von Wissen, Normativitäten und Subjektivitäten, verarbeiteten die Zeitgenossen u.a. anhand des Fußballs. Die Ausdehnung dieses Geflechts wurde durch eine bestimmte diskursive Formation reguliert. Ihre Systematik, d.h. das organisierende Prinzip der Streuung von Aussagen, bildete ein Archiv, das durch drei Achsen aufgespannt wurde. Jede dieser Achsen war relativ eigenlogisch und steckte einen je spezifischen Bereich des Sag- und Denkbaren ab. Im Kontext der Diskursivierung des Fußballs organisierten die Achsen zeitgenössische Problematisierungen von Ge3 | Vgl.: Butler, Psyche der Machte, S. 9, Zitate ebd., Hervorh. i. Orig.
V. »König Fußball« und das Kaiserreich
sundheit, Männlichkeit und Militärtauglichkeit des Individuums und seines Körpers. Indem das Individuum sehr eng mit dem Volkskörper verbunden war, geriet der Fußball zu einer Projektionsfläche für die nationale Gemeinschaft der Gegenwart. Den Gegenwartsbezug stabilisierten diagnostische und prognostische Bezüge auf eine oder mehrere dieser Problematisierungen, die den Individual- und Kollektivkörper als interventionsbedürftig erzeugten. Eine dieser Interventionen bildete der Fußball, der jedoch nicht willkürlich gesetzt wurde. Vielmehr konnten seine Fürsprecher gerade vor dem Hintergrund der einzelnen Problematisierungsachsen, den Fußball als zeitgemäßen, gegenwartsadäquaten Raum der Selbstbildung plausibel behaupten. Anhand der Diskursivierung des Fußballs konnte auf diese Weise die zeitgenössische Problematisierung der Gegenwart im Kontext der Rezeptionen fußballerisch bewegter Körper untersucht werden. Um die Frage nach den Akzeptabilitätsbedingungen des Fußballs und den darin eingelagerten Zugriffen auf den Fußballer beantworten und überhaupt auf diese Weise stellen zu können, wurde zum Teil theoretisch recht weit ausgeholt. Allerdings war es nicht der Anspruch, der Vielzahl verdienstvoller programmatischer Entwürfe zur theoretischen Dimension des Subjekts einen weiteren hinzuzufügen. Durch die Quellenanalyse mit Fokus auf die Produktivität von Diskursen galt es vielmehr, den theoretischen Konzepten »zu empirischem Fleisch zu verhelfen«, wie es Wiebke Wiede in einem aktuellen Überblick zu Subjekt und Subjektivierung für die historiographische Arbeit formuliert.4 Das Stichwort »Subjektivierung«, unter dem seit einigen Jahren Fragen der Subjektgenese diskutiert werden, verweist auf einen in der vorliegenden Studie unterbelichteten Bereich. Selbstkritisch ist in dieser Hinsicht zu bemerken, dass zwar praktikentheoretische Prämissen für die Untersuchung des Fußballs geltend gemacht wurden, die Selbst-Bildung in praxi jedoch unberücksichtigt blieb. Eine solche praxeologische Perspektive auf die Subjektivierung von Fußballern wäre zweifellos interessant und böte als Genealogie des Fußballers reizvolle Ansätze für eine »[Sport-]Geschichte der Gegenwart«.5 Inwiefern eine solche Analyse dazu beitrüge, die Praktik in ihrer Historizität zu erfassen, wäre allerdings jeweils konkret zu klären. Weitere (selbst-)kritische Bemerkungen betreffen den Untersuchungszeitraum und das Quellenkorpus. Der Untersuchungszeitraum restituiert eine klassische politikgeschichtliche Zäsur, die für die Diskursivierung des Fußballs nicht ohne Weiteres haltbar ist. Bestimmte Topoi, vor allem die Projektionen auf die (Volks-)Gemeinschaft, blieben auch in der Weimarer Republik
4 | Vgl.: Wiede, Subjekt und Subjektivierung, S. 18. 5 | Foucault, Überwachen und Strafen, S. 43.
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und darüber hinaus stabil, wie u.a. Rudolf Oswald gezeigt hat.6 Eine feinere Analyse der Bezüge zwischen Fußball und Gemeinschaft sowie der Nuancen zwischen Volksgemeinschaft und Gemeinschaft würde vermutlich zu einer historiographisch gewinnbringenden Neuperiodisierung beitragen. Diese Perspektive war durch den engen Fokus auf die Akzeptabilitätsbedingungen jedoch verstellt. Eine andere Perspektive verstellte die Quellenauswahl. Für eine Diskursanalyse der Akzeptabilitätsbedingungen eignen gedruckte Quellen in besonderem Maße, da ihnen eine größere Reichweite gegenüber einer Vielzahl ungedruckter Quellen unterstellt werden kann. Inwiefern sich die Aushandlungsprozesse jedoch konkret auswirkten, blieb unterbelichtet. Solche konkreten Auswirkungen passen weder in die theoretische Anlage der Arbeit noch zum Erkenntnisinteresse. Dennoch könnten Mikrostudien, die auf ungedrucktem Material wie Tagebüchern oder ähnlichem beruhen, mit hoher Wahrscheinlichkeit ein ergiebiges Korrektiv für die zum Teil nur hypothetisch formulierten Befunde dieser Studie bieten – entsprechende Korpora müssten allerdings zunächst aufgetan werden. Diese (selbst-)kritischen Reflexionen sollen allerdings weniger einer abschließenden Selbstkasteiung dienen, als vielmehr einige offene Fragen für weitere Forschungen im Bereich des Fußballs andeuten. Mikrostudien auf Grundlage archivalischer Quellen könnten ein interessantes Korrektiv zu den hier vorgelegten Ergebnissen bilden. Ausgehend von den Projektionen zwischen Fußball und Gemeinschaft ließen sich ferner beispielsweise Fragen nach der Periodisierung des Volksgemeinschaftskonzepts stellen. In einer dezidiert praxeologisch zugeschnittenen Subjektanalyse könnte eine Genealogie des Fußballers geschrieben und dabei auf Kontinuitäten und Diskontinuitäten abgestellt werden. Die vorliegende Studie kann aber auch den Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen bilden, die sich für das Verhältnis zwischen Akzeptabilität und Subjekt des Fußballs interessieren. So wäre es ein hochinteressantes Unterfangen, die Frage nach den Verschränkungen zwischen Akzeptabilität und Subjekt für den so genannten »Frauenfußball«7 zu stellen. Carina Sophie Linnes 2011 erschienene Studie über den »Frauenfußball« in BRD und DDR8 bietet erste Ansätze. Eine andere Möglichkeit wäre der Blick über den natio6 | Vgl.: Oswald, Fußball-Volksgemeinschaft. 7 | Nach wie vor ist ein, meines Erachtens völlig antiquierter, ›gender gap‹ in der Bezeichnungspraxis des Fußballs zu konstatieren. Es wird beispielsweise nicht zwischen der Fußball-Weltmeisterschaft der Männer und der Frauen unterschieden, sondern die offiziellen Bezeichnungen lauten ›FIFA Fußball-Weltmeisterschaft‹ und ›FIFA Frauen-Fußballweltmeisterschaft‹. Ähnliches gilt für die ›Bundesliga‹ und die ›Frauen-Bundesliga‹. 8 | Vgl.: Linne, Carina Sophie: Freigespielt. Frauenfußball im geteilten Deutschland, Berlin 2011.
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nalen Tellerrand. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts spielten die Menschen nicht nur im deutschen Kaiserreich Fußball, sondern auch in anderen europäischen und außereuropäischen Ländern. Christiane Eisenberg gebührt das Verdienst, in ihrem Sammelband Fußball, Soccer, Calcio einen Ansatz für solche Untersuchungen gegeben zu haben.9 Anhand der dort versammelten Aufsätze könnte eine histoire croisée, Vergleichs- oder Transfergeschichte10 eines transnationalen Subjekts des Fußballs unternommen werden. Ein kursorischer Blick in einige Praxisanleitungen aus Frankreich und den USA deutet zumindest darauf hin, dass diese praktischen Texte in Form, Duktus und Aufbereitung des Fußballs signifikante Gemeinsamkeiten zu jenen aus dem Kaiserreich aufweisen.11 Generell wäre zu prüfen, ob sich das analytische Layout dieser Studie auch für andere Untersuchungsgegenstände eignet. Voraussetzung wäre ein Quellenkorpus, in dem sich sowohl praktische Texte als auch irgendwie geartete Beobachtungen von Praxis versammeln. Im jeweiligen Falle wäre dann zu klären, ob Fragen nach Akzeptabilität gestellt werden müssten, oder ob auch andere Foki gewählt werden könnten, um gleichzeitig die Konturen eines Subjekts und die Spezifika einer historischen Konfiguration auszuleuchten. Für die vorliegende Studie hat sich die Frage nach der Akzeptabilität in jedem Fall als analytisch ergiebig erwiesen. Dank dieses Fokus konnten sowohl Fußball als Fußballer in ihrer Historizität bestimmt werden. Gerade weil also »König Fußball« vor über 100 Jahren nicht die Welt und schon gar nicht das Deutsche Kaiserreich regierte, ließen sich jene diskursiven Dynamiken analysieren, die Fußball und Fußballer inmitten der Aushandlungen über die Gegenwart platzierten.
9 | Vgl.: Eisenberg, Fußball, Soccer, Calcio. 10 | Vgl. als Überblick: Werner, Michael/Zimmermann, Bénédicte: Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: GG 28, 2002, S. 607-636; Paulmann, Johannes: Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer. Zwei Forschungsansätze zur europäischen Geschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts, in: HZ 267, 1998, S. 649-685. 11 | Vgl. für Frankreich: Daryl, Philippe: Encyclopédie des Sports. Jeux de Balle et de Ballon, Football, Paume, Lawn-Tennis, Paris 1894; Saint-Clair, G. de/Saint-Chaffray, E.: Football. Rugby, Paris 1894. Für die USA: Reed, Herbert: Football for Public and Player, New York 1913; Yost, Fielding H.: Football for Player and Spectator, Ann Arbor 1905.
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Dank
Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um die leicht überarbeitete Version meiner Dissertationsschrift. An dieser Stelle möchte ich mich bei jenen bedanken, die mich während der Entstehung dieser Schrift auf die eine oder andere Art und Weise unterstützt haben. Allen voran ist mein Erstgutachter und »Doktorvater« Thomas Etzemüller zu nennen. Er hat diese Studie von Anfang an mit klarer, freundlicher und stets konstruktiver Kritik begleitet. Ferner war er immer bereit, auch kurzfristig über Texte, Thesen und Fragen zu diskutieren. Zugleich, und das zeichnet seine Betreuung meines Erachtens aus, hat er mir die nötigen Freiräume gewährt. Er hat es auf bewundernswerte Weise geschafft, meine Studie inhaltlich, methodisch und theoretisch zu verbessern, ohne rigide steuernd einzugreifen. Meinem Zweitgutachter, Malte Thießen, sei ebenso herzlich gedankt. Auch er hat mich intensiv begleitet und mir dabei immer wieder außerordentlich hilfreiche Hinweise gegeben. Danken möchte ich ihm aber eigentlich viel lieber dafür, dass er mich in den letzten Jahren mit seiner Freundlichkeit und seinem Enthusiasmus immer wieder motivieren konnte – oft, ohne es zu merken. Ich möchte mich ausdrücklich bei der Hans-Böckler-Stiftung bedanken. Sie hat mich drei Jahre lang mit einem Promotionsstipendium gefördert und durch zahlreiche Weiterbildungsmöglichkeiten dazu beigetragen, dass ich meinen Horizont inhaltlich und politisch enorm erweitern konnte. Des Weiteren hat die Stiftung einen großzügigen Beitrag für die Publikation dieser Studie geleistet, wofür ich ebenfalls sehr dankbar bin. Aus dem gleichen Grund danke ich der Geschwister Böhringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften sowie dem DFG-Graduiertenkolleg 1608/1 »Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive« an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Dem Graduiertenkolleg danke ich ebenfalls dafür, dass es mich als Kollegiaten aufgenommen hat. Der Büroplatz außerhalb der eigenen vier Wände hat vermutlich nicht wenig dazu beigetragen, dass ich diese Studie konzentriert anfertigen konnte. Viel mehr möchte ich aber den Mitgliedern des Gra-
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duiertenkollegs dafür danken, dass meine Studie (und ich) in einem lebhaften und intellektuell enorm herausfordernden Diskussionszusammenhang wachsen durften. Stellvertretend für viele der beteiligten Hochschullehrer_innen möchte ich an dieser Stelle Thomas Alkemeyer und Dagmar Freist danken, die beide bereits in einem sehr frühen Stadium Interesse an meinen Überlegungen gezeigt und gewinnbringende Hinweise gegeben haben. Den Kollegiat_innen, von denen ich einige mittlerweile (oder schon sehr viel länger) zu meinen Freund_innen zählen darf, bin ich ebenfalls für Diskussionen, Debatten und (spät-)abendliche Gespräche dankbar. Stellvertretend seien die Mitglieder des »Lektorat-Kollektivs« – Gerrit Vorjans, Lucas Haasis, Constantin Rieske, Annika Raapke und Alice Detjen –, deren Kommentare zur inhaltlichen Kohärenz beigetragen haben, genannt. Ihnen sowie, ebenfalls stellvertretend, Kristina Brümmer, Roman Eichler, Claudia Oltmanns und David Adler danke ich für inhaltliche Diskussionen und – viel wichtiger – ihren freundschaftlichen Beistand. Rechtschreibung und Interpunktion hat Michael Vauth überprüft. Ihm bin ich ebenso dankbar, wie Jens Gründler, Timo Luks und Malte Unverzagt, die große Teile der Arbeit gelesen und kritisch kommentiert haben. In den letzten Jahren hat diese Studie einen großen Teil meines Lebens beansprucht. Ich danke meinen Familien, dass sie mich ausgehalten haben. Meinem fantastischen Freundeskreis danke ich ebenfalls. Ihr habt mich in den letzten Jahren nicht nur er-, sondern auch getragen. Euch alle zu nennen würde zu viel Platz beanspruchen, Einzelne von euch hervorzuheben würde andere zu Unrecht vernachlässigen. Allein vier Namen möchte ich nennen. Bernd, Katharina, Olaf und Steffi: Ihr habt mich jeweils für einige Zeit bei euch aufgenommen, damit ich meine Recherchen durchführen konnte – Danke! Seit du in meinem Leben bist, hast du mit deiner unglaublichen Freundlichkeit, Liebe und Rücksicht an meiner Seite gestanden. Danke, Anika. Oldenburg im August 2015
Abkürzungsverzeichnis
Periodika APuZ: Aus Politik und Zeitgeschichte DTZ: Deutsche Turn-Zeitung DVöG: Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege GG: Geschichte und Gesellschaft HZ: Historische Zeitschrift JfVJ: Jahrbuch für Volks- und Jugendspiele KuG: Körper und Geist Monatsschrift KFC: Monatsschrift des Kölner-Fussball-Club 1899 e.V. Vereinsnachrichten BFC: Vereinsnachrichten des Berliner Fussball-Clubs ›Preussen‹ Vereinszeitung AFC: Vereinszeitung des Altonaer Fußball-Club von 1893 ZfG: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft ZfH: Zeitschrift für historische Forschung Zf TJs: Zeitschrift für Turnen und Jugendspiel Vereine- und Verbände AFC: Altonaer Fußball-Club ATV: Allgemeiner Turnverein (Leipzig) BFC: Berliner Fussball-Club ›Preussen‹ DFB: Deutscher Fußball-Bund DSA: Deutsche Sport-Behörde für Athletik DSV: Deutscher Schwimm-Verband DT: Deutsche Turnerschaft DTB: Deutscher Turner-Bund DTV: Deutscher Turnlehrer-Verein KFC: Kölner-Fussball-Club MTV: Männer-Turn-Verein München ZA: Zentralausschuss zur Förderung der Volks- und Jugendspiele
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: „Verschiedene Arten von Siegern“, abgedr. in: Festzeitung für das neunte Deutsche Turnfest 1898, S. 138 Abb. 2: Gefährlichkeit des Fußballs, Stadtarchiv München, ZS 534/2 (gedruckt mit freundlicher Genehmigung) Abb. 3: Körperideal des Turnens, abgedr. in: Rösch, grundlegende Übungen, o.S., Bild 1127 Abb. 4: Fußballkörper 1, abgedr. in: Rahn, Der Fußball, S. 48 Abb. 5: Fußballkörper 2, abgedr. in: Faber, Fußballsport, S. 40 Abb. 6: Fußballkörper 3, abgedr. in: Schnell, Spielregeln des technischen Ausschusses, S. 115 Abb. 7: Titelblatt „Fusslümmelei“ Abb. 8: „entarteter Fußballkörper“, Stadtarchiv München, ZS 534/2 (gedruckt mit freundlicher Genehmigung) Abb. 9: Stabilität auf einem Bein, abgedr. in: Rösch, grundlegende Übungen, o.S., Bild 25 Abb. 10: Positionengeflecht und Fußballraum, abgedr. in: Schwalm, Fußball ohne Aufnehmen, S. 14 Abb. 11: kollektiv-choreographische Körper, abgedr. in: Simon (Hg.), Sportbuch, S. 7 Abb. 12: „diszipliniertes Durcheinander“, abgedr. in: Spiel und Sport 6, 1896, S. 976
Quellen- und Literaturverzeichnis U ngedruck te Q uellen Niedersächsisches Landesarchiv Standort Oldenburg (Nds. StAO) Nds. StAO 165-1-169 Geheimes Staatsarchiv preußischer Kulturbesitz (GStA PK) XVI HA, Rep. 30, Nr. 2819 Schularchiv der Gelehrtenschule des Johanneums Nr. G II, K. 6, l 1 Stadtarchiv Bonn NL FA Schmidt, SN 146, Mappe 5 NL FA Schmidt, SN 146, Mappe 7 Stadtarchiv Karlsruhe StadtAK 8/SpoA 5481
G edruck te Q uellen -dt: o.T., in: Spiel und Sport 3, 1893, S. 327-3281 A. St.: Sport und Krieg, in: Sport im Bild 21, 1915, S. 465 Abel, Rudolf: Die dritte Jahresversammlung des Allgemeinen Deutschen Vereins für Schulgesundheitspflege am 20. bis 22. Mai 1902 in Weimar, in: Zeitschrift für Schulgesundheitspflege 15, 1902, S. 291-323 1 | Die gedruckten Quellen sind alphabetisch sortiert. Alle gedruckten Quellen ohne angegebenen Verfasser sind chronologisch sortiert. Texte, die unter Pseudonymen oder Kürzeln veröffentlicht wurden, werden unter Angabe des jeweiligen Pseudonyms oder Kürzels geführt. Bei solchen, deren Urheber unter seinem Klarnamen bekannt ist, wird dieser in eckigen Klammern angegeben.
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Adler, Alfred (Hg.): Über den Selbstmord, insbesondere den Schülerselbstmord, Wiesbaden 1910 Ajax: Der deutsche Sport, in: Spiel und Sport 7, 1897, S. 57-58 Alaaf: KSC 99 I gegen Kölner Ballspielclub I 3:1, in: Monatsschrift KFC 9, 1916/1917, S. 21-22 Albers, Peter: Meine Feuertaufe bei Lüttich, in: Monatsschrift KFC 6, 1913/1914, S. 144-147 Alexi: Zur Frage der Ueberbüdung der Schuljugend auf den Schulen, in: DVöG 13, 1881, S. 407-416 Alla: Zur Costümfrage, in: Spiel und Sport 3, 1893, S. 384 Allegro: Der Einfluss des Sports auf die Gesundheit, in: Sport im Bild 2, 1896, S. 40-41 Altschul, Theodor: VI. Section für Schulgesundheitspflege, in: DVöG 27, 1895, S. 264-276 Ambros, Josef: Spielbuch. 400 Spiele und Belustigungen für Schule und Haus, Wien 1874 Angerstein, Eduard: Die sittliche und physiologische Bedeutung der Bewegungsspiele, in: Schenckendorff/Schmidt (Hg.), Allgemein unterrichtende Mitteilungen, 1, 1892, S. 7-11 Art. »Aufgaben«, in: Sander, Ferdinand: Lexikon der Pädagogik. Handbuch für Volksschullehrer, Leipzig 1883, Sp. 21-22 Art. »Gammon«, in: A New English Dictionary on Historical Principles, Oxford 1888-1928, Bd. 4, Sp. 41 Art. »Überbürdung«, in: Rolfus, Hermann/Pfister, Adolph: Real-Encyclopädie des Erziehungs- und Unterrichtswesens nach katholischen Prinzipien. Ergänzungsband, Mainz 1884, Sp. 356-364 Art. »Überbürdung«, in: Sander, Ferdinand: Lexikon der Pädagogik. Handbuch für Volksschullehrer, Leipzig 1883, Sp. 192 Auenhag, Lulu von: Das Fußballspiel und seine Gefolgschaft, in: DFB-Jahrbuch 7, 1910, S. 50-54 —: Sport und Sportlichkeit. Ein ethisches Problem im Sport, in: DFB-Jahrbuch 8, 1911, S. 17-24 B.v.W.: Fussball, in: Sport im Bild 2, 1896, S. 348 Baumgarten, Otto: Physische Kraft, in: KuG 14, 1905/1906, S. 129-135 Bauwens, Camillus: Zur Frage einer anderen, zweckmäßigeren Fußballbekleidung, in: Monatsschrift KFC 2, 1909/1910, S. 126 —: Einiges vom Ruder- und Fußball-Training und vom Kölner Club für Wasserport, in: Monatsschrift KFC 4, 1911/1912, S. 139-140 Beese: Deutsche Kunstausdrücke für das Fußballspiel, in: KuG 12, 1903/1904, S. 371 Bensemann, Walter: Die deutsche Schule und das Jugendspiel, in: Spiel und Sport 4, 1894, S. 267-268; S. 295-297
Quellen- und Literatur verzeichnis
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Dagmar Freist (Hg.) Diskurse – Körper – Artefakte Historische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung März 2015, 408 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2552-3
Kristina Brümmer Mitspielfähigkeit Sportliches Training als formative Praxis 2014, 290 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2932-3
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Praktiken der Subjektivierung Sabine Kyora (Hg.) Subjektform Autor Autorschaftsinszenierungen als Praktiken der Subjektivierung 2014, 360 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2573-8
Thomas Alkemeyer, Gunilla Budde, Dagmar Freist (Hg.) Selbst-Bildungen Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung 2013, 378 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1992-8
Thomas Pille Das Referendariat Eine ethnographische Studie zu den Praktiken der Lehrerbildung 2013, 262 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2289-8
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