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German Pages 402 Year 2015
Nina Reusch Populäre Geschichte im Kaiserreich
Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen History in Popular Cultures | Band 16
Editorial In der Reihe Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen | History in Popular Cultures erscheinen Studien, die populäre Geschichtsdarstellungen interdisziplinär oder aus der Perspektive einzelner Fachrichtungen (insbesondere der Geschichts-, Literatur- und Medienwissenschaft sowie der Ethnologie und Soziologie) untersuchen. Im Blickpunkt stehen Inhalte, Medien, Genres und Funktionen heutiger ebenso wie vergangener Geschichtskulturen. Die Reihe wird herausgegeben von Barbara Korte und Sylvia Paletschek (geschäftsführend) sowie Hans-Joachim Gehrke, Wolfgang Hochbruck, Sven Kommer und Judith Schlehe.
Nina Reusch hat an der Universität Freiburg promoviert. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Historiographiegeschichte und Geschichtskulturen sowie Geschlechtergeschichte.
Nina Reusch
Populäre Geschichte im Kaiserreich Familienzeitschriften als Akteure der deutschen Geschichtskultur 1890–1913
Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Die Gartenlaube. Illustriertes Familienblatt 1898, Titelillustration. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Staatsbibliothek Berlin Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3182-1 PDF-ISBN 978-3-8394-3182-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Vorwort | 7 1. Einleitung | 9
Untersuchungsgegenstand: Familienzeitschriften als Akteure der Geschichtskultur | 9 Theoretische Ansätze: Geschichtskultur und Zeitschriftenforschung | 11 Die Quellen: Illustrierte Familienzeitschriften | 21 Forschungsprogramm | 25 Thesen und Aufbau der Arbeit | 40 2. Die deutsche Geschichtskulturlandschaft des 19. Jahrhunderts Ein Überblick | 43 3. Familienzeitschriften im 19. Jahrhundert | 51
Technologische Voraussetzungen der Entwicklung der Massenpresse | 51 Das Genre Familienzeitschrift | 55 Historische Entwicklung des Genres im Kontext der Presselandschaft | 58 Die Zeitschriften des Quellenkorpus | 61 Verleger, AutorInnen und LeserInnen von Familienzeitschriften | 74 4. Geschichte in Familienzeitschriften im Überblick Themen, Epochen, Formen | 93
Geschichtsschreibung formal: ein Überblick | 93 Geschichte im zeitlichen Verlauf: Epochale Schwerpunkte und Historizitätskonstruktionen | 102 5. Geschichtskulturen in Familienzeitschriften im Kontext gesellschaftlicher Strukturen | 115
Ethnokulturelle und räumliche Zugehörigkeit | 116 Klasse/Stand | 147 Geschlecht | 179 Konfession und Religion | 209 Geschichtskulturen im Kontext gesellschaftlicher Struktur: Zusammenfassung | 244
6. Familienzeitschriften im Kontext der deutschen Geschichtskulturlandschaft | 249
Popularisierung und populäre Geschichte: Theoretische Ansätze | 250 Wie schreibt man populäre Geschichte? | 256 Kontexte populärer Geschichte | 289 Familienzeitschriften im Kontext der deutschen Geschichtskulturlandschaft: Zusammenfassung | 335 7. Populäre Geschichte in Familienzeitschriften 1890-1913 Resümee | 339 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren historischer Artikel in Familienzeitschriften | 347 Abkürzungsverzeichnis | 363 Quellen- und Literaturverzeichnis | 365
Vorwort
Viele Menschen haben diese Arbeit begleitet und einen Teil zu ihrer Entstehung beigetragen. Mein besonderer Dank gilt Sylvia Paletschek, die meine Forschung durch alle Phasen hindurch konstruktiv, ermutigend und engagiert betreut hat und die an ihrem Lehrstuhl eine Atmosphäre schafft, in der es Spaß macht zu forschen und zu arbeiten. Mein großer Dank gilt weiterhin Doris Lechner. Ohne unsere Zusammenarbeit, die gegenseitige Schreibmotivation und ihren sorgfältigen Blick auf Zusammenhänge und Details wäre diese Arbeit nicht die geworden, die sie jetzt ist. Für Anregungen und inhaltlichen Austausch im Rahmen der DFGForscherInnengruppe 875 »Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen der Gegenwart« danke ich Elisabeth Cheauré, Barbara Korte, Judith Schlehe, Miriam Sénécheau, Sven Kommer, Heinrich Anz und Regine Nohejl. Besonders danken möchte ich auch meinen KollegInnen aus der Nachwuchsgruppe sowie der Arbeitsgruppe Populäre Wissenskulturen: Imke von Helden, Evamaria Sandkühler, Kristina Wacker, Melanie Fritscher, Konstantin Rapp, Marlene Gerdes, Franziska Schaudeck und Simon Hassemer haben meine Arbeit in ihren verschiedenen Stadien begleitet, mit mir diskutiert und mich ermutigt. Für Korrekturen, inhaltliche Anstöße, Austausch und Zusammenarbeit danke ich außerdem Marie Reusch, Antje Harms, Christa Klein, Marie Muschalek, Andrea Althaus, dem Kolloquium von Sylvia Paletschek und der Arbeitsgruppe Gender. Cornelia Brink, Leslie Howsam und Frank Bösch haben einzelne Aspekte meiner Arbeit mit mir diskutiert und mir wichtige Anregungen gegeben, auch ihnen gilt mein Dank. Willi Oberkrome danke ich für die umsichtige Begutachtung der Arbeit. Marco Markgraf und Christian Kercher haben mich beim Aufbau der Datenbank und der quantitativen Auswertung unterstützt, ihnen beiden gilt mein herzlicher Dank. Für ihre Unterstützung bei der Umsetzung meiner Dissertation in
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ein Buch danke ich meiner Korrektorin Annalena Ehrenfeld und Christine Jüchter vom transcript Verlag. Dörthe Reusch, Jürgen Reusch und Marga Müller möchte ich dafür danken, dass sie meine Dissertation immer unterstützt und mit Interesse begleitet haben. Meinen FreundInnen und MitbewohnerInnen danke ich für all den Rückhalt während der Entstehung dieser Arbeit, vor allem aber dafür, dass ich mit ihnen auch ein Leben jenseits der Wissenschaft hatte. Meine Forschung und der Druck dieses Buches wurden durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft gefördert. Danken möchte ich auch dem Deutschen Historischen Institut Washington D.C. und dem Institut für Zeitgeschichte München, die mir die Teilnahme an ihren außerordentlich hilfreichen Workshops ermöglichten, sowie der Graduiertenschule Humanities der Universität Freiburg, die die Infrastruktur für Nachwuchs-Arbeitsgruppen bereitstellt. Nicht zuletzt gilt mein Dank all den MitarbeiterInnen der Bibliotheken und Archive, die mir stets freundlich und kompetent zur Seite standen und meine Recherchen ermöglichten.
1. Einleitung
U NTERSUCHUNGSGEGENSTAND : F AMILIENZEITSCHRIFTEN ALS AKTEURE DER G ESCHICHTSKULTUR »War es noch zur guten alten Zeit... damals... vor fünfzig Jahren? Die Jugend meint es fast, da die Großmutter erzählt, daß sie die ersten Nummern der Gartenlaube beim Schein der Rüböllampe gelesen habe. Die Gasbeleuchtung war damals in Privathäusern noch nicht gebräuchlich, Petroleumlampen waren noch nicht bekannt, ja es war damals noch die gute alte Zeit. Der Großvater aber schüttelt das Haupt. Für ihn liegt die gute alte Zeit viel weiter zurück als fünfzig Jahre. [...] Vor fünfzig Jahren! Da rollten schon auf weiten Strecken die Eisenbahnzüge, da trug schon der elektrische Funke Nachrichten blitzschnell von Land zu Land, da war der Dampf schon bezwungen [...].«1
Mit diesen Worten nahm 1902 ein Autor der Familienzeitschrift Gartenlaube einen Rückblick auf die Fortschritte und Erfindungen der letzten 50 Jahre vor. Am Beispiel der beiden Großeltern, die uneins über die Frage nach der ›guten alten Zeit‹ waren, griff die Gartenlaube verschiedene Themen auf, die um das Verhältnis von Gegenwart und Geschichte kreisten. In der Erzählung der Großeltern wurde die ›alte Zeit‹ lebendig, die Alten waren Zeugen der Geschichte, im Gegensatz zur Jugend, die frühere Zeiten nur aus den Erzählungen der Ahnen kannte. Mit diesem Motiv rekurrierte der Autor auf das kommunikative Gedächtnis: Es war persönlich erfahrene Geschichte, die hier mündlich weitergegeben wurde, aber auch Einzug in das gedruckte Medium der Zeitschrift fand.
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Anonym, Vor fünfzig Jahren. Ein Gartenlaube-Rückblick auf Fortschritte und Erfindungen, in: GL 1902, S. 246.
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Mit den beiden unterschiedlichen Erzählungen der Großeltern von der ›guten alten Zeit‹ bediente der Artikel zwei Narrative, die die zeitgenössische populäre Geschichtskultur in hohem Maße durchzogen: Die Thematisierung von Eisenbahn, Telegrafie und Dampfkraft knüpfte historische Entwicklung an technischen Fortschritt und feierte das 19. Jahrhundert als Epoche der Modernisierung. Die Erzählung der Großmutter vom Lesen im Schein der Rüböllampe dagegen verwies auf eine häusliche Situation und damit auf die alltägliche Lebenswelt der Vergangenheit. Beides waren Motive, die in der Populärhistorie regelmäßig aufgegriffen wurden. Beide Narrative machten Geschichte erfahrbar und konkret: Der technische Fortschritt wurde von den ZeitgenossInnen des 19. Jahrhunderts interessiert verfolgt und – etwa in Form von Eisenbahnfahrten – auch selbst erlebt. Die häusliche Situation knüpfte in noch höherem Maße an die Lebenswelt der ZeitgenossInnen an, konnte doch die Geschichte des alltäglichen, häuslichen Lebens direkt mit der zeitgenössischen Gegenwart verglichen und an sie angebunden werden. Die Gartenlaube nahm zugleich eine Selbsthistorisierung vor, indem sie darauf aufmerksam machte, dass sie schon von den Großeltern in ihrer Jugend gelesen worden sei – die Zeitschrift selbst fungierte hier als Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Das Beispiel vereint relevante Aspekte der deutschen Geschichtskultur des späten 19. Jahrhunderts. Geschichte, das wird hier deutlich, war in der alltäglichen Lebenswelt allgegenwärtig, einerseits als kommunikatives Gedächtnis, andererseits in ihrer medialen Verhandlung. Die Popularisierung von Geschichte in Zeitschriften fügte sich in eine breite Geschichtskulturlandschaft des späten Wilhelminischen Kaiserreichs ein, in der das Interesse für Geschichte auch außerhalb von Fachkreisen außerordentlich groß war. Geschichte wurde im Kaiserreich nicht allein von wissenschaftlich arbeitenden HistorikerInnen geschrieben, sondern Geschichtswissen wurde an verschiedensten Orten und durch zahlreiche Institutionen vermittelt – in Schulen, Museen und Massenmedien, bei öffentlichen Festakten oder durch Denkmäler. Geschichte war ein allgegenwärtiges und gesellschaftlich relevantes Feld, über das politische Kämpfe ausgefochten wurden und auf dem Identitätskonstruktionen aufbauten. Geschichte war aber auch ein Feld, das gute Unterhaltung und spannende Geschichten bot. Diese Arbeit beschäftigt sich mit der medialen Verhandlung von Geschichte und untersucht Familienzeitschriften im Wilhelminischen Kaiserreich als Akteure und Medien der Geschichtskultur. Diese Zeitschriften entstanden Mitte des 19. Jahrhunderts und gelten als erste deutsche Massenmedien. Sie setzten sich aus unterhaltenden wie bildenden Inhalten zusammen und zeichneten sich unter anderem durch ein äußerst vielseitiges Geschichtsprogramm aus. Damit waren sie von konstitutiver Bedeutung für die deutsche Geschichtskulturlandschaft:
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Familienzeitschriften waren einerseits aktiv an der Formung von Geschichtskulturen beteiligt, fungierten andererseits als Repräsentationen eben dieser. Im Sinne der Erkenntnis, dass Geschichte immer in der Gegenwart gemacht wird, untersuche ich die Geschichtsschreibung von Familienzeitschriften im Kontext ihres gesellschaftlichen Umfeldes und als Teil der Geschichtskulturlandschaft des deutschen Kaiserreichs. Dieses Forschungsprogramm wird durch drei Fragekomplexe strukturiert: Mein erster Fragekomplex steckt die Rahmenbedingungen dieser Arbeit ab und ist notwendig, um sich in der Historiographie von Familienzeitschriften zu orientieren: Wer schrieb hier Geschichte und für wen wurde sie geschrieben? Welche Themen wurden behandelt und auf welche Darstellungsformen dabei zurückgegriffen? Der zweite Fragekomplex nimmt das Verhältnis von Geschichte und Gesellschaft in den Blick: Wie strukturierte die zeitgenössische Sozialstruktur Genese und Inhalte historischen Wissens? Und wie gingen Familienzeitschriften mit sozialen Ungleichheiten in Geschichte und zeitgenössischer Gegenwart um? Der dritte Fragekomplex zielt auf eine Verortung der Familienzeitschriften in der Geschichtskulturlandschaft ab: Was waren die Charakteristika populärer Geschichte in Familienzeitschriften? Wie funktionierte die Generierung historischen Wissens? In welchen geschichtskulturellen Traditionen standen die Familienzeitschriften und wie gestalteten sich die Austauschverhältnisse mit anderen geschichtskulturellen Bereichen? Mit diesem Forschungsprogramm arbeite ich zum einen die zeitgenössischen gesellschaftlichen Strukturen heraus, die relevant für die Historiographie waren und die sich wiederum selbst durch Geschichtsschreibung konstituierten und reproduzierten. Zum anderen ordne ich die Zeitschriften, ihre Geschichtsverständnisse, methodischen Herangehensweisen und Inhalte in die zeitgenössische Geschichtskulturlandschaft ein.
T HEORETISCHE ANSÄTZE : G ESCHICHTSKULTUR UND Z EITSCHRIFTENFORSCHUNG Die vorliegende Arbeit versteht sich als empirischer Beitrag zur Erforschung von Geschichtskulturen. Das Analysemodell der Geschichtskultur wurde Anfang der 1990er Jahre in der Geschichtsdidaktik entwickelt. In einem programmatischen Text definiert Jörn Rüsen Geschichtskultur als »praktisch wirksame Artikulation von Geschichtsbewußtsein im Leben einer Gesellschaft«2 und verbindet damit
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Rüsen, Jörn: »Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art, über Geschichte nachzudenken«, in: Klaus Füßmann/Heinrich Theodor Grütter/Jörn Rüsen
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die didaktische Kategorie des Geschichtsbewusstseins mit einer Analyse der verschiedenen Institutionen, Medien und Funktionen der Geschichte. Für die empirische Forschung brauchbarer, da deutlicher in ihrer Benennung, ist die jüngere Definition von Fernando Sanchez-Marcos: »The scope of historical culture is to advocate the examination of all the layers and processes of social historical conciousness, paying attention to the agents who create it, the media by means of which it is disseminated, the representations that it popularizes and the creative reception on the part of the citizens. If culture is the way in which a society interprets, transmits and transforms reality, historical culture is the specific and particular way in which a society relates to its past. When we study historical culture, we investigate the social production of historical experience and its objective manifestation in a community’s life. This production is usually carried out by different social agents, often at one and the same time, by means of different media.«3
Der Fokus der Geschichtskulturforschung richtet sich nach Sanchez-Marcos auf verschiedene Faktoren, die zusammen das Feld der Geschichtskultur formen: Die ProduzentInnen und RezipientInnen der Geschichte, die mediale Form, in der historische Inhalte verbreitet werden, und schließlich die Inhalte selbst. Neben diesen wirken außerdem politische, ökonomische und soziale Strukturen, aber auch Denkweisen, Normen und Selbstverständnisse in die Wissensproduktion ein. Auch die wissenschaftliche Historiographie ist in diesem Verständnis ein Teil der Geschichtskultur, ist sie doch ebenso wie populäre Zugänge durch ihre AutorInnen- und RezipientInnenschaft, ihre spezifischen Medien, ihre Darstellungsformen und ihren gesellschaftlichen Kontext geprägt.4 Historisches Wissen wird nicht allein von ExpertInnen hergestellt und durch diese selbst oder durch professionelle VermittlerInnen an die Masse von Laien vereinfacht weitergegeben. Vielmehr wird historisches Wissen in einem Prozess hergestellt, transformiert und verhandelt, an dem verschiedenste AkteurInnen be-
(Hg.), Historische Faszination. Geschichtskultur heute, Köln: Böhlau 1994, S. 3-26, hier S. 5. 3
Sánchez Marcos, Fernando: Historical Culture (2009), www.culturahistorica.es/San chez_marcos/historical%20-culture.pdf.
4
Vgl. Bergenthum, Hartmut: »Geschichtswissenschaft und Erinnerungskulturen. Bemerkungen zur neueren Theoriedebatte«, in: Günter Oesterle (Hg.), Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, S. 121-162.
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teiligt sind.5 Die Geschichtskulturforschung betont – in Abgrenzung zu topdown-Modellen der Wissensdistribution – stets die kreative Rolle der RezipientInnen im Prozess der Wissensgenerierung.6 Dieser Ansatz stammt aus der Forschung zur Wissens- und Wissenschaftspopularisierung, die seit Mitte der 1980er, vor allem aber in den letzten 20 Jahren in verschiedenen theoretischen Überlegungen und empirischen Untersuchungen die Verbreitung meist naturwissenschaftlichen Wissens im 19. Jahrhundert untersucht und dabei eine klare Trennung zwischen wissenschaftlichem und populärem Wissen in Frage gestellt und dekonstruiert hat.7 Die Geschichtskultur hat zahlreiche benachbarte Begriffe und Konzepte. Gemein ist all den sich punktuell unterscheidenden Ansätzen, dass sie Inhalte, Praxen und Medien der Geschichte immer in ihrem gesellschaftlichen und historischen Kontext untersuchen. Das enger an die Kulturwissenschaften gebundene Konzept der Erinnerungskultur wurde in den 1990er Jahren von Jan und Aleida Assmann formuliert und seitdem in zahlreichen theoretischen und empirischen
5
Vgl. Kretschmann, Carsten: »Einleitung. Wissenspopularisierung – ein altes, neues Forschungsfeld«, in: Ders. (Hg.), Wissenspopularisierung. Konzepte der Wissensverbreitung im Wandel, Berlin: Akademie-Verlag 2003b, S. 7-21, hier S. 9f.
6
Vgl. Sánchez Marcos (2009).
7
Vgl. Samida, Stefanie: »Inszenierte Wissenschaft. Einführung in die Thematik«, in: Dies. (Hg.), Inszenierte Wissenschaft. Zur Popularisierung von Wissen im 19. Jahrhundert, Bielefeld: transcript 2011a, S. 11-26; Kretschmann, Carsten: Wissenspopularisierung. Konzepte der Wissensverbreitung im Wandel, Berlin: Akademie-Verlag 2003a; Ash, Mitchell G.: »Wissenschaftspopularisierung und Bürgerliche Kultur im 19. Jahrhundert«, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 322-334; Schwarz, Angela: Der Schlüssel zur modernen Welt. Wissenschaftspopularisierung in Großbritannien und Deutschland im Übergang zur Moderne (ca. 1870-1914), Stuttgart: Steiner 1999; Daum, Andreas W.: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit 18481914, München: Oldenbourg 1998; Cooter, Roger/Pumfrey, Stephen: »Seperate Spheres and Public Places. Reflections on the History of Science Popularization and Science in Popular Culture«, in: History of Science (1994), S. 237-267; Whitley, Richard: »Knowledge Producers and Knowlegde Acquirers. Popularisation as a Relation between Scientific Fields and Their Publics«, in: Terry Shinn/Richard Whitley (Hg.), Expository Science. Forms and Functions of Popularisation, Dordrecht: Reidel 1985, S. 3-30.
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Studien weiterverfolgt.8 Der Ansatz baut unter anderem auf der Theorie des kommunikativen Gedächtnisses auf, die in den 1920er Jahren von Maurice Halbwachs entwickelt wurde.9 Das Konzept der Erinnerungskultur betont die Prozesshaftigkeit des Erinnerns, die sich immer in der Gegenwart vollziehe, und zeigt den Zusammenhang von Erinnerung und kollektiver Identitätsbildung auf, der immer auch im Kontext politischer (De-)Legitimierung stehe. Erinnerungskulturforschung nimmt häufig den funktionalen Gebrauch von Vergangenheit in den Blick.10 So widmet sich ein Großteil der empirischen Forschung zum 19. und 20. Jahrhundert der Konstruktion nationaler Geschichte und nationaler Identitäten. Prominentestes Beispiel sind die Projekte der Erinnerungsorte, die Pierre Nora für Frankreich erstellte und die mittlerweile in verschiedenen Ländern erschienen sind.11 Der Frage nach nationalen Identitäten gehen auch Arbeiten zur Mythenforschung nach.12 Der Begriff der Public History, oft auch synonym als angewandte Geschichte bezeichnet, beschreibt »jede Form von öffentlicher Geschichtsdarstellung« außerhalb der Wissenschaft,13 in weitestem Sinne also die Wechselwirkungen von
8
Assmann, Aleida/Assmann, Jan: »Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis«, in: Klaus Merten/Siegfried J. Schmidt/Siegfried Weischenberg (Hg.), Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft, Opladen: Westdt. Verlag 1994, S. 114-140; Cornelißen, Christoph: »Was heißt Erinnerungskultur? Begriff – Methoden – Perspektiven«, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 54 (2003), S. 548-563; Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart, Weimar: Metzler 2005.
9
Halbwachs,
Maurice:
Das
kollektive
Gedächtnis,
Frankfurt/Main:
Fischer-
Taschenbuch-Verlag 1985. 10 Vgl. Cornelißen (2003), S. 555. 11 Nora, Pierre: Erinnerungsorte Frankreichs, München: Beck 2005; für Deutschland vgl. Franҫois, Etienne/Schulze, Hagen: Deutsche Erinnerungsorte, München: C. H. Beck 2002. 12 Vgl. Münkler, Herfried: Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin: Rowohlt 2009; Altrichter, Helmut/Herbers, Klaus/Neuhaus, Helmut: Mythen in der Geschichte, Freiburg im Breisgau: Rombach 2004; Frindte, Wolfgang/Pätzolt, Harald: Mythen der Deutschen. Deutsche Befindlichkeiten zwischen Geschichten und Geschichte, Opladen: Leske und Budrich 1994. 13 Bösch, Frank/Goschler, Constantin: »Der Nationalsozialismus und die deutsche Public History«, in: Dies. (Hg.), Public History. Öffentliche Darstellungen des Nationalsozialismus jenseits der Geschichtswissenschaft, Frankfurt/Main, New York: Campus 2009b, S. 7-23, hier S. 10.
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Geschichte und Öffentlichkeit.14 Dieses Konzept ist bisher meist an die Zeitgeschichte gebunden; insbesondere die Erinnerung an den Nationalsozialismus ist ein dominantes Thema.15 Relevant sind in dieser Forschung zudem die Entwicklungen audiovisueller Medien und die darin erscheinenden Geschichtsformate.16 Stefanie Samida plädiert allerdings für eine Öffnung des Konzepts auch auf Epochen jenseits des 20. und 21. Jahrhunderts sowie für eine diachrone Perspektive auf Public History, die auch deren interdisziplinäre Erweiterung mit sich bringen würde, und formuliert so Public History als historisch-empirische Kulturwissenschaft.17 Trotz der Abgrenzung gegenüber der Fachwissenschaft, die im Ansatz der Public History formuliert wird, wird auch in der Historiographiegeschichte punktuell die Geschichtswissenschaft als Geschichtskultur verstanden. Schon seit den 1990ern wurde dieser Zusammenhang formuliert.18 Neuere Forschungen, die das Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Geschichtskultur in den Blick nehmen, arbeiten zunehmend vergleichend und transnational.19
14 Vgl. Zündorf, Irmgard: Zeitgeschichte und Public History. Version 1.0, Docupedia Zeitgeschichte (2010), http://docupedia.de/zg/Public_History?oldid=84652; Horn, Sabine/Sauer, Michael: Geschichte und Öffentlichkeit. Orte – Medien – Institutionen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009. 15 Vgl. Bösch, Frank/Goschler, Constantin: Public History. Öffentliche Darstellungen des Nationalsozialismus jenseits der Geschichtswissenschaft, Frankfurt/Main, New York: Campus 2009a. 16 Vgl. Rüdiger, Mark: »Goldene 50er« oder »Bleierne Zeit«? Geschichtsbilder der 50er Jahre im Fernsehen der BRD 1959-1989, Bielefeld: transcript 2014; Bruns, Claudia: »Welchen der Steine du hebst«. Filmische Erinnerung an den Holocaust, Berlin: Bertz + Fischer 2012. 17 Vgl. Samida, Stefanie: Public History als Historische Kulturwissenschaft. Ein Plädoyer, Version 1.0, Docupedia Zeitgeschichte 2014, http://docupedia.de/zg/Public_ History_als_Historische_Kulturwissenschaft?oldid=92663. 18 Vgl. Bergenthum (2005); Hölscher, Lucian: »Geschichte als ›Erinnerungskultur‹«, in: Kristin Platt (Hg.), Generation und Gedächtnis. Erinnerungen und kollektive Identitäten, Opladen: Leske + Budrich 1995, S. 146-168; Hardtwig, Wolfgang: Geschichtskultur und Wissenschaft, München: Dt. Taschenbuch-Verlag 1990a. 19 Vgl. Conrad, Christoph/Conrad, Sebastian: Die Nation schreiben. Geschichtswissenschaft im internationalen Vergleich, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002; Berger, Stefan/Conrad, Christoph/Marchal, Guy P.: Writing the Nation Series. National Historiographies and the Making of Nation States in 19th and 20th Century Europe, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2008-2012.
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Das Konzept der populären Geschichte schließlich beschäftigt sich mit spezifisch populären Repräsentationen von Geschichte.20 Barbara Korte und Sylvia Paletschek definieren populäre Geschichtsrepräsentationen als »Darstellungen in textueller, visueller, audiovisueller sowie performativer Form […], die Wissen über historische Vergangenheit in einer verständlichen, attraktiven Weise präsentieren und ein breites Publikum erreichen, das aber nicht unbedingt ein Massenpublikum sein muss.«21
Hier steht weniger der Prozess im Vordergrund, sondern das populäre Produkt wird als ein für sich stehendes Genre und eine eigene Wissensform betrachtet.22 Dass diese auch immer der Marktlogik unterworfen ist, machen Wolfgang Hardtwig und Alexander Schug in ihrem Sammelband »History Sells!« deutlich,23 wurde aber auch schon von Dieter Langewiesche formuliert.24
20 Vgl. Hardtwig, Wolfgang/Schütz, Erhard/Becker, Ernst W. (Hg.): Geschichte für Leser. Populäre Geschichtsschreibung in Deutschland im 20. Jahrhundert, Stuttgart: F. Steiner 2005; Korte, Barbara/Paletschek, Sylvia: History goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres, Bielefeld: transcript 2009a; Pirker, Eva U. et al.: Echte Geschichte. Authentizitätsfiktionen in populären Geschichtskulturen, Bielefeld: transcript 2010; Korte, Barbara/Paletschek, Sylvia: Popular History Now and Then. International Perspectives, Bielefeld: transcript 2012; Cheauré, Elisabeth/Paletschek, Sylvia/Reusch, Nina: Geschlecht und Geschichte in populären Medien, Bielefeld: transcript 2013. Die Forschung für diese Arbeit war eingebunden in die interdisziplinäre DFG-Forschergruppe 875 »Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen der Gegenwart« der Universität Freiburg, die verschiedenste Formen der Geschichtspopularisierung in unterschiedlichen Zeiten und Räumen analysiert. 21 Korte, Barbara/Paletschek, Sylvia: »Geschichte in populären Medien und Genres. Vom historischen Roman zum Computerspiel«, in: Dies. (2009b), S. 9-60, hier S. 13. 22 Vgl. ebd., S. 13; Paletschek, Sylvia: »Introduction: Why Analyse Popular Historiographies?«, in: Dies. (Hg.), Popular Historiographies in the 19th and 20th Centuries. Cultural Meanings – Social Practices, Oxford: Berghahn 2011b, S. 1-18, hier S. 4. 23 Hardtwig, Wolfgang/Schug, Alexander: History Sells! Angewandte Geschichte als Wissenschaft und Markt, Stuttgart: Steiner 2009. 24 Vgl. Langewiesche, Dieter: Zeitwende. Geschichtsdenken heute, Kapitel: Die Geschichtsschreibung und ihr Publikum. Zum Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Geschichtsmarkt, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008b, S. 85-102.
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Auch in der Untersuchung spezifisch populärer Geschichtskulturen ist der Bezug auf das 20. Jahrhundert dominant. Sowohl übergreifende Studien zur Geschichtskultur des 19. Jahrhunderts25 als auch intensive Auseinandersetzungen mit populären Formen der Geschichtsschreibung dieser Epoche sind bisher rar. Eine Untersuchung populärer Geschichtsvermittlung im 19. Jahrhundert und ihrer Medien wurde bisher von Sylvia Paletschek vorgenommen, die einen Sammelband zu populärer Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert herausgegeben hat,26 sowie von Martin Nissen, der sich populären Monographien und den Interaktionen zwischen Autoren und Verlegern widmet.27 In Wolfgang Hardtwigs Sammelband »Geschichte für Leser«, der populäre Geschichtsschreibung im 20. Jahrhundert untersucht, finden sich auch Beiträge, die sich mit dem 19. Jahrhundert auseinandersetzen: Till Kössler untersucht die populäre Geschichte der Sozialdemokratie28 und Siegfried Weichlein gibt einen Überblick über die katholische Populärhistorie.29 Für den englischsprachigen Raum haben unter anderem Billie Melman und Leslie Howsam grundlegende Werke zur Geschichtskultur des 19. Jahrhunderts vorgelegt30 und ein von Stefan Berger, Chris Lorenz und Billie Melman herausgegebener Sammelband widmet sich populären Historiographien im internationalen Vergleich.31 Daneben gibt es verschiedene empirische Studien zu spezifischen erinnerungs- und geschichtskulturellen Themen des 19. Jahrhunderts, die im Analyseteil dieser Arbeit zitiert werden.
25 Vgl. als Ausnahme Hardtwig, Wolfgang: Deutsche Geschichtskultur im 19. und 20. Jahrhundert, München: Oldenbourg 2013; Metzger, Franziska: Geschichtsschreibung und Geschichtsdenken im 19. und 20. Jahrhundert, Bern, Stuttgart, Wien: Haupt 2011. 26 Paletschek, Sylvia: Popular Historiographies in the 19th and 20th Centuries. Cultural Meanings – Social Practices, Oxford: Berghahn 2011a. 27 Vgl. Nissen, Martin: Populäre Geschichtsschreibung. Historiker, Verleger und die deutsche Öffentlichkeit (1848-1900), Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2009. 28 Kössler, Till: »Zwischen Milieu und Markt. Die populare Geschichtsschreibung in der sozialistischen Arbeiterbewegung«, in: Hardtwig/Schütz/Becker (2005), S. 259-285. 29 Weichlein, Siegfried: »›Meine Peitsche ist die Feder‹. Populäre katholische Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert«, in: Hardtwig/Schütz/Becker (2005), S. 227-258. 30 Melman, Billie: The Culture of History. English Uses of the Past 1800-1953, Oxford: Oxford Univ. Press 2006; Howsam, Leslie: Past into Print. The Publishing of History in Britain 1850-1950, London: The British Library 2009. 31 Berger, Stefan/Lorenz, Chris/Melman, Billie: Popularizing National Pasts. 1800 to the Present, New York: Routledge 2012a.
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Als zweiten theoretischen Ansatz neben der Geschichtskultur greift diese Arbeit auf Forschungen zu Zeitschriften als spezifischen Massenmedien des 19. Jahrhunderts zurück. Geschichte wird immer medial transportiert und ist in der Moderne in der Regel an Massenmedien geknüpft. Medien existieren allerdings nicht allein als Vermittler und Träger historischer Inhalte, sondern konstituieren diese oftmals erst. Der Inhalt der Geschichtsschreibung ist abhängig von und beeinflusst durch ihre mediale Form.32 Gleichzeitig stehen auch die Medien selbst in einem historischen Kontext, der bei ihrer Analyse immer mitzudenken ist. Fabio Crivellari benennt die wechselseitige Durchdringung von Geschichte und Medien in einer einfachen Formel von der Historizität von Medien einerseits, der Medialität von Geschichte andererseits.33 So gilt es, Geschichtsdarstellungen in Zeitschriften daraufhin zu befragen, inwieweit sie in Form und Inhalt durch ihr Erscheinungsmedium beeinflusst waren. Die jeweiligen Konventionen des Mediums, aber auch Genres und Formate sind relevante Kategorien der historiographischen Analyse. Genres als »Spielregeln in der Interaktion zwischen Produzenten, Produkten und Konsumenten«34 geben den Rahmen vor, innerhalb dessen Geschichte dargestellt wird. Genres signalisieren den KonsumentInnen, was sie vom jeweiligen Produkt zu erwarten haben, und waren daher gerade in der marktgebundenen populären Geschichte unabdingbare Faktoren, die Produktion, Konsumption und Inhalte von Geschichtsdarstellungen regelten.35 In der folgenden Arbeit werden Familienzeitschriften als eigenes Genre verstanden, das einen formalen Rahmen für äußerst vielfältige Formen der Geschichtsschreibung schuf. Im deutschsprachigen Kontext gibt es im Gegensatz zur englischsprachigen Forschung wenig theoretische Überlegungen zum Umgang mit Zeitschriften als historischen Quellen. Zeitschriften werden in der Regel als Grundlage empirischer Untersuchungen herangezogen oder als Teile der Presseentwicklung des 19. Jahrhunderts verhandelt, selten aber als eigenes Genre genauer in den Blick
32 Vgl. Erll, Astrid: »Medium des kollektiven Gedächtnisses. Ein (erinnerungs-)kulturwissenschaftlicher Kompaktbegriff«, in: Dies. (Hg.), Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifität, Berlin: de Gruyter 2004, S. 3-22, hier S. 5; Berek, Mathias: »Medien und Erinnerungskultur. Eine notwendige Beziehung«, in: Hardtwig/Schug (2009), S. 54-63. 33 Vgl. Crivellari, Fabio et al.: »Einleitung. Die Medialität der Geschichte und die Historizität der Medien«, in: Dies. (Hg.), Die Medien der Geschichte. Historizität und Medialität in interdisziplinärer Perspektive, Konstanz: UVK 2004, S. 9-45, hier S. 29. 34 Korte/Paletschek (2009b), S. 16. 35 Vgl. ebd., S. 16f.
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genommen. Dies geschieht deutlich mehr im angloamerikanischen Raum, in dem die Periodical Studies ein florierender und institutionalisierter Forschungszweig sind. Hier entstanden neben zahlreichen empirischen Untersuchungen grundlegende theoretische Überlegungen, so etwa in einem Theorieband der Victorian Periodicals Review von 1989, der nichts an Aktualität eingebüßt hat.36 Darin definiert Margaret Beetham Zeitschriften als »mixed genre«,37 dessen Spezifika vor allem in der Gleichzeitigkeit von Fragmentiertheit und Einheitlichkeit bestünden. Die periodische Presse sei zugleich Unikat wie Serie, zugleich kurz- wie langlebig. Die einzelne Ausgabe stehe für sich und büße an Aktualität ein, sobald die nächste erscheine. Gleichzeitig aber gehöre jede einzelne Ausgabe zu einer Gesamteinheit, die über Jahrzehnte hinweg in einer gewissen Beständigkeit erscheinen könne.38 James Mussell charakterisiert Zeitschriften vor allem über ihr Verhältnis von Inhalt und Form: »What changes in each article and issue are the words on the page; what stays the same are a range of formal features, from the genre of articles, the order in which they appear, to type, mastheads and layout. It is form that organizes content, allows it to be in the world and structures what it means.«39
Die Form der Zeitschrift strukturiert nach Mussell deren Inhalt, und so sei die Bedeutung einer gedruckten Seite nicht auf das reduzierbar, was darauf geschrieben stehe.40 Daher wirkt sich die spezifische Form, in der Zeitschriften zugänglich sind, nicht allein auf den Leseeindruck der ZeitgenossInnen, sondern auch auf die möglichen Forschungsmethoden aus. Im Gegensatz zu Zeitschriften
36 Vgl. Victorian Periodicals Review 22.3 (1989). 37 Beetham, Margaret: »Open and Closed: The Periodical as a Publishing Genre«, in: Victorian Periodicals Review 22.3 (1989), S. 96-100. 38 Vgl. ebd., S. 96-99. Vgl. zur Relevanz der Materialität von Printmedien auch Studien zur Buchgeschichte: Howsam, Leslie: Old Books and New Histories. An Orientation to Studies in Book and Print Culture, Toronto: Univ. of Toronto Press 2006; Howsam, Leslie: »What is the Historiography of Books? Recent Studies in Authorship, Publishing and Reading in Modern Britain and North America«, in: The Historical Journal 51 (2008), S. 1089-1101; Mussell, James: Science, Time and Space in the Late Nineteenth-Century Periodical Press. Movable Types, Introduction: »Movable Types«, Aldershot: Ashgate 2007, S. 1-24. 39 Mussell, James: The Nineteenth-Century Press in the Digital Age, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2012, S. 30. 40 Vgl. ebd.
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aus dem angloamerikanischen Raum sind deutsche Zeitschriften in der Regel (noch) nicht digitalisiert und müssen daher am Standort eingesehen und gegebenenfalls selbst digitalisiert werden. Das hat Vor- wie Nachteile: Volldigitalisierte Zeitschriften können mit Schlagwortverfahren durchsucht werden, was es möglich macht, gezielt nach Informationen zu suchen. Demgegenüber müssen nicht digitalisierte Zeitschriften manuell durchgesehen werden, wobei die meist vorhandenen Inhaltsverzeichnisse gebundener Jahresausgaben eine Orientierung bieten. Das Durchsuchen einer gesamten Zeitschrift in allen Jahrgängen nach bestimmten Schlagworten etwa ist nicht oder nur mit großem Aufwand möglich und wird in dieser Arbeit nicht betrieben. Das manuelle Verfahren erlaubt hingegen, die Zeitschrift in ihrer Materialität zu erfahren und die einzelnen Artikel im Zusammenspiel mit der gesamten Ausgabe zu untersuchen.41 Es entsteht ein anderer Leseeindruck, wenn man Artikel in ihrer Platzierung in der Zeitschrift neben anderen Texten und Illustrationen wahrnimmt; wenn man die Zeitschrift als Ganzes betrachtet, anstatt nur einen einzelnen Artikel. Dabei gilt es allerdings zu bedenken, dass die in Bibliotheken vorhandenen gebundenen Jahresausgaben eine Linearität der Zeitschrift suggerieren, die real nicht vorhanden war, erwarben die LeserInnen die Zeitschrift doch Woche für Woche ausgabenweise.42 In den Jahresbänden fehlt zudem oft der Beilagen- und Anzeigenteil und damit ein wichtiger Bestandteil der Zeitschrift:43 Werbung und Anzeigen prägen die Leseerfahrung und liefern zudem nicht zu unterschätzende Hinweise auf die angenommene LeserInnenschaft, so dass eine Zeitschrift ohne diese Beilagen letztlich nicht vollständig ist. Die formalen Spezifika des Genres Familienzeitschrift gelten auch für die darin erscheinenden Geschichtsdarstellungen: Wir haben es hier mit einer äußerst heterogenen und fragmentierten Quelle der Geschichtskultur zu tun – kein zusammenhängendes, durchgängiges Werk, das eine breite Argumentation entfalten kann, wie etwa eine Monographie oder auch ein wissenschaftlicher Aufsatz, sondern ein Sammelsurium aus Illustrationen und Texten von etwa zwei bis drei, selten mehr als fünf Seiten Länge, die miteinander nicht argumentativ oder thematisch verbunden waren und auch nicht aufeinander aufbauen konnten. Jeder Text musste für sich stehen, musste auf den wenigen Seiten seine gesamte Darstellung aufbauen, war aber gleichzeitig dennoch eingebettet in die jeweilige Ausgabe und das gesamte Programm der Zeitschrift, die trotz allem Fragment-
41 Vgl. ebd., S. 30; Beetham (1989), S. 96-97. 42 Vgl. Mussell (2012), S. 34. 43 Vgl. Beetham (1989), S. 96.
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charakter trotzdem eine Einheit und ein spezifisches Genre mit einem Programm und einem Wiedererkennungswert bildete.
D IE Q UELLEN : I LLUSTRIERTE F AMILIENZEITSCHRIFTEN Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandenen illustrierten Familienzeitschriften, von denen zwischen 1850 und 1914 über 200 gegründet wurden, eignen sich aus verschiedenen Gründen als Quellen geschichtskultureller Forschung: Zum Ersten zeichnen sie sich durch eine relativ hohe Verbreitung aus: Ihre Auflagenzahl von etwa 50.000 bis über 300.000 war in ihrer Zeit exzeptionell und machte sie zum ersten Massenmedium. Zudem war die LeserInnenschaft relativ heterogen: Das Gros der LeserInnen wird zwar im kleinen und mittleren Bürgertum angenommen, erstreckte sich aber auch auf ArbeiterInnen, Großbürgertum und Adel und kann in der Stadt wie auf dem Land vermutet werden. Die Zeitschriften waren als Blätter für die ganze Familie und für alle Schichten der Bevölkerung konzipiert und verbanden einen Bildungsauftrag mit kurzweiliger Unterhaltung. So setzten sie sich zusammen aus Fortsetzungsromanen und einem Bildungsteil, der verschiedenste Bereiche aus Naturwissenschaften, Medizin, Länderkunde und Geschichte behandelte und maßgeblich zur Popularisierung wissenschaftlichen und allgemeinen Wissens beitrug. Ein wichtiges Charakteristikum des Genres, und zu nicht geringem Maße für dessen Beliebtheit verantwortlich, waren zudem seine Illustrationen, die reizvolle Einblicke in vertraute und fremde Welten boten. Ob ihrer weiten Verbreitung und ihres Bildungsanspruchs spiegelten Familienzeitschriften nicht allein die Geschichtskulturen ihrer Zeit, sondern waren aktiv an deren Konstruktion beteiligt, bildeten sich doch jede Woche Hunderttausende von LeserInnen der verschiedenen Zeitschriften mit deren Geschichtsartikeln weiter.44 Zum Zweiten eignen sich Familienzeitschriften als Quellen der Geschichtskultur, weil sie ein außerordentlich vielseitiges Geschichtsprogramm hatten. Etwa jede zweite bis dritte Ausgabe konnte einen längeren Artikel über Geschichte
44 Vgl. zu Familienzeitschriften Graf (2003); Gebhardt, Hartwig: »Illustrierte Zeitschriften in Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts. Zur Geschichte einer wenig erforschten Pressegattung«, in: Buchhandelsgeschichte (1983), S. 41-65; Barth, Dieter: »Das Familienblatt. Ein Phänomen der Unterhaltungspresse des 19. Jahrhunderts«, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens (1975), S. 121-316.
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aufweisen.45 Die Mischungen aus Texten und Illustrationen behandelten historische Epochen von der Steinzeit bis in die zeitgenössische Gegenwart, untersuchten deutsche wie französische, russische oder chinesische Geschichte und reichten von kleinteiligen Lokalstudien bis zu globalen Synthesen. Familienzeitschriften beschäftigten sich mit ›großer Politik‹ und Militärgeschichte, aber auch mit historischen Kochrezepten und der Organisation von Arbeit in Stadt und Land, sie publizierten Biographien bekannter Männer und Frauen, reproduzierten Historiengemälde, rezensierten historische Werke oder berichteten von Ausstellungseröffnungen. Dabei versammelten sie verschiedenste Einflüsse populärer und akademischer Geschichtsschreibung und transformierten sie zu einer eigenen Historiographieform. Die Geschichtsartikel der Familienzeitschriften bezogen sich auf akademische Forschung und Debatten, standen in Traditionen der Kultur- und Sittengeschichte der Jahrhundertmitte oder orientierten sich am Historischen Materialismus. Hier popularisierten Militärangehörige die Geschichtsinterpretation des Generalstabs und Geistliche verfassten Artikel zur Kirchengeschichte. Diese Vielfalt historiographischer Zugänge ergibt für die Analyse zweierlei: Erstens sind Familienzeitschriften ein Instrument, mit dem auf Grundlage eines klar abgrenzbaren Quellenkorpus ein Einblick in die Breite der deutschen Geschichtskulturlandschaft des Kaiserreichs genommen werden kann – die Geschichtskulturlandschaft verdichtete sich hier. Zweitens verlangt die Untersuchung immer wieder nach kontextualisierenden Rückgriffen auf andere Felder der Geschichtskultur in ihren Wechselwirkungen mit Familienzeitschriften – die hier verdichtete Geschichtskultur ist also in ihren breiteren geschichtskulturellen Kontexten zu untersuchen. Der dritte Grund, der die untersuchten Zeitschriften zu einer fruchtbaren Quelle geschichtskultureller Forschung macht, ist die relative Milieugebundenheit von Familienzeitschriften wie von Geschichtskulturen. Vergleiche zwischen verschiedenen Zeitschriften sind damit immer auch Vergleiche zwischen verschiedenen milieugebundenen Geschichtskulturen. So kann die Analyse katholische und protestantische Geschichtsschreibung nebeneinanderstellen und sozialdemokratische, liberale und konservative Geschichtsbilder untersuchen. Neben den Unterschieden der verschiedenen milieugebundenen Geschichtskulturen werden so auch deren Gemeinsamkeiten deutlich, die auf nationale, (west-)europäische und medial gebundene Formen der Geschichtsschreibung hinweisen.
45 Der Begriff des Artikels beinhaltet in dieser Arbeit sowohl Texte als auch Illustrationen. Wenn im Kontext der Familienzeitschriften (oder auch in allgemeineren populären Kontexten) von Geschichtsschreibung die Rede ist, ist diese ebenso als übergreifender Begriff zu verstehen, der auch visuelle Darstellungen mit einbezieht.
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Als Quellenkorpus wurden fünf Familienzeitschriften ausgewählt, die verschiedene politische, konfessionelle oder vergeschlechtlichte Publika ansprachen: Die zunächst links-, später nationalliberale Gartenlaube (1853-1944), zwei konservativ-konfessionelle Zeitschriften – das protestantische Daheim (1864-1943) und die katholische Alte und Neue Welt (1867-1945) – die sozialdemokratische Neue Welt (1876-1886, 1892-1919), sowie die Frauenzeitschrift Sonntags-Zeitung fürs Deutsche Haus (18981919). Familienzeitschriften wurden in der historischen Forschung bisher zur empirischen Untersuchung verschiedenster kulturhistorischer Fragestellungen herangezogen, allerdings noch nie eingehend unter dem Aspekt der Geschichtskultur untersucht. Ausführlich sind von den untersuchten fünf Zeitschriften allein die Gartenlaube und das Daheim erforscht. Die Gartenlaube wurde in ihrer Bedeutung für nationale und regionale Identifikationsprozesse analysiert46 und diente als Grundlage diverser Studien, die kulturelle oder gesellschaftspolitische Phänomene am Beispiel der Zeitschrift untersuchten.47 Einen ersten Überblick über die Geschichtsschreibung der Gartenlaube hat Sylvia Paletschek vorgelegt.48
46 Koch, Marcus: Nationale Identität im Prozess nationalstaatlicher Orientierung. Dargestellt am Beispiel Deutschlands durch die Analyse der Familienzeitschrift Die Gartenlaube von 1853-1890, Frankfurt/Main u.a.: Lang 2003; Belgum, Kirsten: Popularizing the Nation. Audience, Representation and the Production of Identity in Die Gartenlaube 1853-1900, Lincoln, Nebraska: University of Nebraska Press 1998; Zaumseil, Franka: Zwischen Nation und Region. Die Zeitschrift Gartenlaube in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, Hamburg: Diplomica-Verlag 2007. 47 Gruppe, Heidemarie: »Volk« zwischen Politik und Idylle in der Gartenlaube 18531914, Bern, Frankfurt/Main, München: Lang 1976; Koch, Angela: DruckBilder. Stereotype und Geschlechtercodes in den antipolnischen Diskursen der Gartenlaube (1870-1930), Köln: Böhlau 2002; Otto, Ingrid: Bürgerliche Töchtererziehung im Spiegel illustrierter Zeitschriften von 1865 bis 1915. Eine historisch-systematische Untersuchung anhand einer exemplarischen Auswertung des Bildbestandes der illustrierten Zeitschriften Die Gartenlaube, Über Land und Meer, Daheim und Illustrirte Zeitung, Hildesheim: Lax 1990; Wildmeister, Birgit: Die Bilderwelt der Gartenlaube. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des bürgerlichen Lebens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Würzburg: Bayerische Blätter f. Volkskunde 1998; Gall, Alexander: »Authentizität, Dramatik und der Erfolg der populären zoologischen Illustration im 19. Jahrhundert. Brehms Tierleben und die Gartenlaube«, in: Samida (2011), S. 103-126. 48 Paletschek, Sylvia: »Popular Presentations of History in the Nineteenth Century. The Example of Die Gartenlaube«, in: Dies. (2011c), S. 34-53.
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Das Daheim wurde von Dieter Barth in Zusammenhang mit der Verlagsgeschichte des Verlags Velhagen und Klasing erforscht,49 diente aber im Gegensatz zur Gartenlaube nur selten als Grundlage weiterer empirischer Forschungen.50 Die Neue Welt wurde von Brigitte Emig in einer Monographie zu sozialdemokratischer Kulturpolitik untersucht51 und Angela Graf hat zum Verleger der Neuen Welt, J.H.W. Dietz geforscht.52 Der Benziger-Verlag und seine Familienzeitschrift Alte und Neue Welt wurden vor allem von Angehörigen der Familie Benziger selbst thematisiert, sind aber darüber hinaus nicht erforscht.53 Ebenso rar sind die Hinweise auf den Vobach-Verlag, der die Sonntags-Zeitung herausgab und in der Forschung bisher kaum beachtet wurde. Neuere Publikationen beziehen sich ausnahmslos auf die zwei Seiten, die Annemarie Kirschstein 1937 in ihrem Überblick über Familienzeitschriften zum Verlag und der SonntagsZeitung veröffentlichte;54 eine kurze Verlagsgeschichte von 1923 liefert weitere Informationen.55 Die Überblicksdarstellungen von Dieter Barth, Andreas Graf und Hartwig Gebhardt zur Entwicklung der Familienzeitschriften im Kontext der Presselandschaft des 19. Jahrhunderts waren über die Einzelstudien hinaus eine wichtige Grundlage dieser Arbeit.56 Zur Untersuchung der AutorInnen werden als weitere Quellen gedruckte autobiographische Texte oder weitere Egodokumente untersucht. Für die Analyse der geschichtskulturellen Kontexte werden zeitgenössische historiographische Publikationen populärer und akademischer Art herangezogen. Zur konkreten
49 Barth, Dieter: »Das Daheim und sein Verleger August Klasing. Eine kultur- und zeitgeschichtliche Untersuchung über ein deutsches Familienblatt des 19. Jahrhunderts«, in: Hanns Klasing (Hg.), Beiträge zur Geschichte der Familie Klasing. Neue Folge, Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2002, S. 117-182. 50 Vgl. als Ausnahme Otto (1990). 51 Emig, Brigitte: Die Veredelung des Arbeiters. Sozialdemokratie als Kulturbewegung, Kapitel 19: Die Neue Welt als Anti-Gartenlaube, Frankfurt/Main: Campus 1980, S. 244-269. 52 Graf, Angela: J. H. W. Dietz (1843-1922). Verleger der Sozialdemokratie, Bonn: Dietz 1998. 53 Vgl. Benziger, Karl J.: Geschichte der Familie Benziger von Einsiedeln, Schweiz. Für die Familie dargestellt von Dr. Karl J. Benziger, New York: Benziger Brothers 1923. 54 Kirschstein, Eva-Annemarie: Die Familienzeitschrift. Ihre Entwicklung und Bedeutung für die deutsche Presse, Charlottenburg: Lorentz 1937, S. 142-143. 55 »25 Jahre W. Vobach & Co.«, in: Der Buch- und Zeitschriftenhandel. Organ des Central-Vereins Deutscher Buch- und Zeitschriftenhändler 44 (1923), S. 125-126. 56 Graf (2003); Barth (1975); Gebhardt (1983).
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Generierung historischen Wissens in Familienzeitschriften ist das Quellenmaterial äußerst rar: Die einzigen noch vollständig bestehenden Verlagsarchive sind die des Daheim-Herausgebers Velhagen und Klasing im Stadtarchiv Bielefeld57 sowie des katholischen Benziger-Verlags im Fram-Museum Einsiedeln.58 Verlagsarchivalien zur Gartenlaube wurden fast vollständig während des Zweiten Weltkriegs vernichtet.59 Ebenso sind die Archivalien des J.H.W. Dietz-Verlags und des Vobach-Verlags nicht mehr beziehungsweise nur noch äußerst lückenhaft existent.60 Die Familienzeitschriften selbst sind in gebundenen Jahresbänden fast vollständig im Bibliotheksverbund zugänglich.61
F ORSCHUNGSPROGRAMM Zeitliche und räumliche Eingrenzung Den Kontext der Untersuchung stellt die deutsche Geschichtskultur des Wilhelminischen Kaiserreichs. Das heißt, es werden vorwiegend Zeitschriften untersucht, die im deutschen Staatsgebiet herausgegeben wurden. Da eine der Zeitschriften des Quellenkorpus in der Schweiz erschien, wird eine Schweizer Per-
57 Dort finden sich Informationen über die Rechnungs- und Buchführung des Daheim, AutorInnenverträge sowie Korrespondenzen. 58 Im Archiv finden sich Korrespondenzen, Manuskript-Verzeichnisse sowie HolzstichOriginale und -Reproduktionen der Alten und Neuen Welt. 59 Vgl. Barth (1975), S. 123. Lediglich einzelne Korrespondenzen und Unterlagen zu Personalia sind im Nachlass Adolf von Kröners im Deutschen Buch- und Schriftmuseum Leipzig vorhanden. 60 Zum Dietz-Verlag vgl. Graf (1998), S. 13. Die Zeitschrift wurde mehrfach auf SPDParteitagen thematisiert, deren Protokolle als zusätzliche Quellen hinzugezogen wurden. Das Verlagsarchiv des Vobach-Verlags konnte Annemarie Kirschstein für ihre 1937 erschienene Untersuchung deutscher Familienzeitschriften einsehen; der heutige Verbleib des Archivs ist unbekannt. Vgl. Kirschstein (1937), S. 142f. 61 Die Zeitschriften sind vorhanden in der Universitätsbibliothek Freiburg, der Staatsbibliothek Berlin und den Universitätsbibliotheken Dresden und Leipzig, sowie in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart, dem Deutschen Literaturarchiv Marbach und der Bibliothek der Erzdiözese Freiburg. Die Gartenlaube ist zudem von den Jahrgängen 1853 bis 1899 als Scan online auf Wikisource gestellt und teilweise mit Texterkennung erfasst. Die Jahrgänge 1900-1912 der Neuen Welt wurden von der Friedrich Ebert-Stiftung als Scans digitalisiert und online gestellt.
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spektive immer wieder vergleichend hinzugezogen; doch wird auch diese Zeitschrift als Teil der deutschen Geschichtskultur verstanden, wurde sie doch in Deutschland viel gelesen. Die Zeitschriften werden für den Zeitraum 1890 bis 1913 untersucht.62 Der relativ kurze Untersuchungszeitraum ermöglicht eine detaillierte Momentaufnahme eines relevanten Teils deutscher Geschichtskultur in der Spätphase des Kaiserreichs. Im Vordergrund steht die Breite der deutschen Geschichtskulturlandschaft, ihre verschiedenen Milieus, Institutionen und Historiographieformen, die ihren Weg in Familienzeitschriften fanden und mit ihnen interagierten, weniger jedoch Chronologie und Wandel. Die Wahl des Untersuchungszeitraums ist verschiedenen Faktoren geschuldet. Die Wilhelminische Epoche war eine Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs, die gleichzeitig durch beharrende Kräfte geprägt war. Hochindustrialisierung, demographischer Wandel, Urbanisierung und Technisierung vollzogen sich vor dem Hintergrund eines beträchtlichen Stadt-Land-Gefälles: Dem modernisierten städtischen Leben standen auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch äußerst traditionelle agrarische Lebensformen auf dem Land entgegen, die sich durch das 19. Jahrhundert hindurch nur wenig gewandelt hatten. Neben der Kontextualisierung im Wilhelminischen Zeitalter verfolgt diese Arbeit daher auch eine Einbettung der untersuchten Quellen in die langen Entwicklungslinien des 19. Jahrhunderts – die Transformation der agrarischen in eine industrialisierte Gesellschaft, die Herausbildung einer Konsumgesellschaft und die Entwicklung des Pressemarkts, die föderale Nationsbildung, Säkularisierung und konfessionelle Konflikte, Klassen- und Geschlechterverhältnisse bilden neben der konkreten Verortung im Wilhelminischen Zeitalter den historischen Hintergrund der Untersuchung. Diese langen Linien sind zuweilen von größerem Einfluss auf Historiographie und Pressemarkt als der konkrete Wandel der zeitgenössischen Gegenwartsgesellschaft und machen daher einen gewichtigen Teil der historischen Kontextualisierung aus. Ein bedeutender Umbruch zumindest für urbane Regionen der Wilhelminischen Zeit war die Veränderung der deutschen Wissenslandschaft. Die seit den 1850er Jahren im Entstehen begriffene Massenkultur entfaltete sich seit den 1890er Jahren vollständig. Arne Schirrmacher und Margit Szöllösi-Janze verorten in dieser Zeit einen Übergang vom bürgerlich geprägten Wissensmodell des
62 Der Erste Weltkrieg dient hier als politische, gesellschaftliche und geschichtskulturelle Zäsur, die das Ende des Untersuchungszeitraums markiert. Da Zeitschriften in Jahresbänden in ihrer gebundenen Form gewisse Einheiten darstellten, wurde der Jahrgang 1913 als letzter Gesamtjahrgang der Untersuchung verwendet.
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19. Jahrhunderts zur modernen Wissensgesellschaft,63 die sich durch die »Diffusion wissenschaftlichen Wissens in alle gesellschaftlichen Bereiche, die kontinuierliche Erweiterung seiner Leistungen, die Durchlässigkeit der Systemgrenzen und die ökonomische Funktion von Wissen als unmittelbarer Produktivkraft«64 ausgezeichnet habe. In diesem Kontext war auch die deutschsprachige Presselandschaft um 1900 durch ein Nebeneinander von Wandel und Tradition geprägt. Die universal angelegten Familienzeitschriften (universal sowohl in ihrem Anspruch, eine Zeitschrift für alle Teile der Bevölkerung zu sein, als auch in ihren transportierten Inhalten, die äußerst breite Themenfelder abdeckten) erhielten zur Jahrhundertwende massive Konkurrenz auf einem Zeitschriftenmarkt, der sich zunehmend zu Spartenzeitschriften mit klarer definierten Zielpublika segmentierte und in dem sich eine neue Konzernbildung durchsetzte.65 Zugleich eroberte mit der Illustrierten ein Genre den Markt, das auf den neuen Möglichkeiten der Fotoreproduktionstechnik aufbauend seinen Fokus auf Illustrationen legte und statt der Vermittlung von Allgemeinwissen auf bildlich transportierte Tagesaktualität setzte.66 Familienzeitschriften, die in der zweiten Jahrhunderthälfte klarer Marktführer im Zeitschriftenbereich gewesen waren, konnten ihre LeserInnen auch in dieser sich verändernden Presselandschaft noch halten, war doch die Bindung eine durchaus emotionale, wie spätere Erinnerungen von LeserInnen zeigen.67 Doch spätestens nach dem Ersten Weltkrieg setzte der unaufhörliche Niedergang dieser Pressegattung ein, die nach dem Zweiten Weltkrieg vollends verschwand. Zur Untersuchung von Familienzeitschriften ist die Umbruchsperiode um 1900 interessant, da sich hier in Inhalt und Format sowohl die alten universalen Traditionen niederschlugen, die immer Basis der Zeitschriften blieben, als auch Anpassungen an die neuen Bedingungen des Pressemarktes vollzogen wurden:
63 Vgl. Schirrmacher, Arne: »Nach der Popularisierung. Zur Relation von Wissenschaft und Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert«, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 73-95; Szöllösi-Janze, Margit: »Wissensgesellschaft in Deutschland. Überlegungen zur Neubestimmung der deutschen Zeitgeschichte über Verwissenschaftlichungsprozesse«, in: Geschichte und Gesellschaft 20 (2004), S. 277-313. 64 Szöllösi-Janze (2004), S. 286. 65 Vgl. Graf, Andreas: Die Ursprünge der modernen Medienindustrie. Familien- und Unterhaltungszeitschriften der Kaiserzeit 1870-1918 (2003), http://www.zeitschriften. ablit.de/graf/default.htm, S. 19-21; Koszyk, Kurt: Geschichte der deutschen Presse, Berlin: Colloquium Verlag 1966, S. 276. 66 Vgl. Graf (2003), S. 64-75. 67 Vgl. Was die Gartenlaube meiner Kindheit war, in: GL 1928, S. 21-23, 48-49, 70-71.
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Fotografie wurde um 1900 als Illustrationsmedium eingeführt, die Zeitschriften entwickelten auf tagesaktuellen Fotos aufbauende Beilagen, und auch die Anzeigen- und Werbeteile wurden größer und größer. Die Frauenzeitschrift SonntagsZeitung war mit ihrer Ausrichtung auf ein weibliches Publikum ein Beispiel einer neuartigen Spartenzeitschrift, glich allerdings zugleich in ihrem Aufbau den klassischen Familienzeitschriften, so dass auch sie für die Gleichzeitigkeit von Tradition und Umbruch auf dem Pressemarkt steht. Nicht zuletzt waren auch Familienzeitschriften als Massenmedien der Moderne selbst erst durch den gesellschaftlichen und technologischen Wandel industrialisierter Gesellschaften möglich geworden. Die Gleichzeitigkeit von gesellschaftlichem Umbruch und beharrenden Faktoren wirkte sich um die Jahrhundertwende auch auf Geschichtskulturen aus. Die Geschichtsschreibung musste mit den Spannungsverhältnissen umgehen, die Modernisierung und Tradition in ihrer Gleichzeitigkeit mit sich brachten. Dies zeigte sich etwa, indem AutorInnen einerseits in einer kulturkritischen Argumentation regionale Traditionen romantisierten und deren Aussterben beklagten, andererseits begeistert einem Fortschrittsnarrativ folgten und die Errungenschaften der Moderne feierten. Geschichtskulturen können so als Indikatoren von Selbstverständnissen und Selbstverortungen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen betrachtet werden. Methode: Quantitative und qualitative Inhaltsanalyse Die Geschichtsschreibung der fünf Familienzeitschriften wird mit einer Kombination aus quantitativer und qualitativer Inhaltsanalyse untersucht.68 Der erste Schritt war eine quantitative Erfassung aller faktualen Artikel historischen Inhalts, die im Untersuchungszeitraum 1890-1913 in den fünf ausgewählten Zeitschriften erschienen (insgesamt 2811 Artikel).69 Die Artikel umfassten meist ein bis drei Seiten, konnten aber auch länger sein oder als Fortsetzung über verschiedene Ausgaben hindurch erscheinen. Pro Jahrgang erschienen in den jeweiligen Zeitschriften zwischen acht und 58 historische Darstellungen, meist be-
68 Die Quantifizierung der Artikel entstand in Zusammenarbeit mit Christian Kercher, der 2011/12 als Hilfskraft für das Projekt tätig war und dem ich an dieser Stelle herzlichst für seine Mitarbeit danken möchte. 69 Fehlend, da nicht in Bibliotheken vorhanden, sind die Jahrgänge 1895 und 1896/97 der Alten und Neuen Welt, Jahrgang 1897/98 und 1899/1900 der Sonntags-Zeitung sowie Jahrgang 1895 des Daheim.
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wegte sich die Anzahl in dem Feld zwischen 15 und 40 Artikeln.70 Dies bedeutet, dass in den wöchentlich erscheinenden Blättern etwa in jeder zweiten bis dritten Ausgabe eine Illustration oder ein Artikel zu einem historischen Thema zu finden war. Damit ähnelte die Anzahl der Geschichtsdarstellungen in etwa der Menge naturwissenschaftlicher und technischer Darstellungen. Die Auswahl der Artikel erfolgte zunächst über Inhaltsverzeichnisse, die bereits thematisch strukturiert waren und meist Geschichte als eigene Sparte aufwiesen. Über diese klar als historisch markierten Darstellungen hinaus wurden Texte und Illustrationen anderer Sparten in das Quellenkorpus aufgenommen, in denen Vergangenheitsbezüge eine relevante Stellung einnahmen (so zum Beispiel Stadtrundgänge, Reiseberichte, Biographien oder Technikgeschichte).71 Untersucht wurden nur faktuale Artikel, also Darstellungen, die einen Anspruch auf Wahrhaftigkeit transportieren. Christian Klein und Matías Martínez bezeichnen faktuale Erzählformen auch als »Wirklichkeitserzählungen« – Faktualität ist in diesem Verständnis nicht durch tatsächliche Faktentreue definiert, sondern bezeichnet einen »bestimmten Modus erzählender Rede«, ein »Wahrhaftigkeitsabkommen« zwischen AutorIn und LeserIn.72 Fiktionale Texte, z.B. in Form historischer Romane, wurden in der Quellenanalyse nicht berücksichtigt, da sie eine
70 Die seitenärmere Neue Welt wies meist weniger Geschichtsdarstellungen auf als die anderen Zeitschriften, die pro Ausgabe mehr Seiten füllten. Insgesamt wurden für die Alte und Neue Welt 443, für das Daheim 725, Die Neue Welt 388, die Gartenlaube 826 und die Sonntags-Zeitung 429 Artikel ausgewertet. 71 Aus dem Korpus ausgeschlossen wurden Nachrufe und Biographien von Personen der Zeitgeschichte. Gerade für das Genre der Biographie ist eine klare Abgrenzung von Geschichte und Zeitgeschehen, aber auch von reiner Personenbeschreibung und Geschichtsdarstellung schwierig. Aus forschungspragmatischen Gründen wurde daher eine zeitliche Grenze gesetzt, die etwa dem Zeitraum der drei Generationen des kommunikativen Gedächtnisses entspricht: Biographien wurden nur ins Korpus aufgenommen, wenn das Geburtsdatum der Personen mindestens 100 Jahre vor der Veröffentlichung lag. Autobiographische Texte hingegen wurden als spezifische Form der Geschichtserzählung mit aufgenommen, da sie ein subjektiviertes und kommunikatives Gedächtnis bedienten, das typisch für populäre Geschichtsdarstellungen war. 72 Klein, Christian/Martínez, Matías: »Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens«, in: Dies. (Hg.), Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, Stuttgart, Weimar: Metzler 2009, S. 1-13, hier S. 2f.
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eigene Textform darstellen, die mit den faktualen Artikeln nur schwerlich vergleichbar ist.73 Ein zeitlicher ›Endpunkt‹ von Geschichte wurde in den frühen 1870er Jahren, d.h. beim Deutsch-Französischen Krieg und der Gründung des Kaiserreichs gesetzt. Diese Ereignisse lagen zu Beginn des Untersuchungszeitraums 20 Jahre zurück und wurden in den Darstellungen selbst als einschneidende Zäsuren und als historische Ereignisse wahrgenommen. Die Artikel wurden in einer Datenbank sowohl inhaltlichen als auch formalen Kategorien zugeordnet, die in einer Wechselwirkung von induktivem und deduktivem Verfahren erstellt wurden.74 Eine Einordnung in ein wie auch immer geartetes Kategoriensystem ist immer eine Komplexitätsreduktion, in der Informationen, die nicht durch die Systematik erfassbar sind, verloren gehen. Andererseits ist eben diese Reduktion der Komplexität notwendig, um mit dem Quellenmaterial vergleichend arbeiten zu können. Das Quantifizierungssystem dieser Arbeit kategorisiert inhaltlich nach Epoche, konkretem Raum und räumlicher Perspektive der Geschichtsdarstellungen (etwa, ob es sich um lokale, nationale oder globale Geschichte handelte), sowie nach Klasse bzw. Stand, Konfession und Geschlecht der historischen ProtagonistInnen75 und umfasst die formalen
73 Insgesamt wurden im Untersuchungszeitraum 94 historische Fortsetzungsromane und Novellen veröffentlicht, davon 34 in der Alten und Neuen Welt, 23 im Daheim, 19 in der Gartenlaube, acht in der Neuen Welt und sechs in der Sonntags-Zeitung. 74 as Vorgehen orientiert sich an Methoden der qualitativen und quantitativen Sozialforschung, die zwar aufgrund oftmals verschiedener Daten, Fragestellungen und Erkenntnisinteressen nicht eins zu eins für historische Forschung zu übernehmen sind, aber viele hilfreiche Anregungen für den Umgang mit Analysematerial und zur Reflexion des eigenen methodischen Vorgehens bieten. Ich beziehe mich dabei auf Philipp Mayrings Konzept der Inhaltsanalyse und die von Anselm Strauss und Juliet Corbin entwickelte Grounded Theory und ihre Methode der Textanalyse und des Codierens. Vgl. Corbin, Juliet M./Strauss, Anselm L.: Basics of Qualitative Research. Techniques and Procedures for Developing Grounded Theory, Los Angeles: Sage Publ. 2008, S. 159-228, 263-274; Mayring, Philipp: Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken, Weinheim: Dt. Studien-Verlag 2000, S. 74-76; vgl auch Flick, Uwe: Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung, Kapitel 15: Kodierung und Kategorisierung, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch-Verlag 2004, S. 257-286. 75 Die Kategorien beziehen sich auf den Inhalt und die Form der Geschichtsdarstellungen, nicht aber auf den sozialen Hintergrund der AutorInnen oder der Perspektive, aus der diese schrieben. So bezeichnet etwa die Kategorie ›Klasse/Stand‹ die historischen sozialen Schichten, die dargestellt wurden, nicht aber die soziale Herkunft oder den
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Kategorien Darstellungsform (etwa Sachartikel, Autobiographien, Illustrationen etc.) und Historischer Zugang (so zum Beispiel Politik- oder Kulturgeschichte, Wirtschafts- oder Kunstgeschichte etc.).76 Die Quantifizierung ist ein wichtiger Bestandteil dieser Arbeit und bildet die Grundlage für sämtliche weiteren Analysen. Sie ermöglicht nicht allein einen Überblick über die Themen, Räume und Darstellungsformen, sondern auch einen direkten Vergleich der fünf Zeitschriften untereinander, die teilweise beträchtliche Unterschiede, in vielen Punkten jedoch ähnliche Strukturen in ihrer thematischen Auswahl und ihren historischen Zugängen aufwiesen.77 Der zweite methodische Schritt ist eine qualitative Inhaltsanalyse.78 Diese greift die Ergebnisse der Quantifizierung auf und vertieft sie durch die Konzentration auf ausgewählte Themen und Artikel. Mit dem Ziel, ausgehend von den Geschichtsdarstellungen selbst auf ihre gesellschaftlichen Kontexte zu schließen, untersucht die qualitative Analyse neben den Inhalten und Formaten der Darstel-
Klassenstandpunkt des Autors oder der Autorin selbst – zwei Gesichtspunkte, die natürlich oftmals nicht voneinander trennbar waren und in ihren Zusammenhängen in der qualitativen Analyse untersucht werden. 76 Die Erfassung der Quellen in das Kategorialsystem erfolgte über einfache sowie, wo keine einfache Zuordnung möglich war, über doppelte oder dreifache Codierung – so konnte ein Artikel, der verschiedene historische Räume thematisierte, bis zu drei Raumcodes zugeordnet werden, etwa Frankreich, Italien und Spanien. 77 Vgl. als weitere Beispiele für quantitative Erfassungen populärer Geschichte beziehungsweise populärer Wissenschaft in viktorianischen Zeitschriften: Korte, Barbara/Lechner, Doris: Popular History in Victorian Magazines Database. University Library at University of Freiburg (2014), doi:10.6094/UNIFR/2014/1; Howsam, Leslie: History in the Periodical Press Online (2012), http://www1.uwindsor.ca/ historybook/6/history-in-the-victorian-periodical-press-online-hippo; Science in the Nineteenth-Century Periodical, http://www.sciper.org/index.html. 78 Zur Inhaltsanalyse vgl. Mayring (2000); Merten, Klaus: Inhaltsanalyse. Einführung in Theorie, Methode und Praxis, Opladen: Westdt. Verlag 1995; Lamnek, Siegfried: Qualitative Sozialforschung. Bd. 2: Methoden und Techniken, München: PsychologieVerlags-Union 1995, S. 172-238. Methodische Reflexionen des Verfahrens der Inhaltsanalyse stammen vorwiegend aus den Sozialwissenschaften. In der Geschichtswissenschaft ist die quantitative wie qualitative Inhaltsanalyse eine häufig gewählte Methode der empirischen Untersuchung von Presseprodukten und anderen Printmedien, vgl. zum Beispiel Schwarz (1999); Dengel, Susanne: »Die Berichterstattung der Saarbrücker Zeitung im Wandel«, in: Clemens Zimmermann (Hg.), Medienlandschaft Saar von 1945 bis in die Gegenwart, München: Oldenbourg 2010, S. 181-221.
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lungen die AkteurInnen der Wissensgenerierung und verortet die Geschichtsdarstellungen in ihrem gesellschaftlichen und geschichtskulturellen Umfeld. Ansatz I: Geschichtskultur im Kontext gesellschaftlicher Strukturen und Milieus Die deutschsprachige Geschichtskulturlandschaft des späten 19. Jahrhunderts war ein komplexes Geflecht verschiedener Erinnerungsgemeinschaften, die im hohen Maße durch gesellschaftliche Differenzen strukturiert waren. Geschichtskulturen des späten 19. Jahrhunderts waren nicht allein national, sondern auch regional und lokal bedingt, sie waren ständisch und konfessionell geprägt, verliefen entlang ethnischer Schranken und Klassengrenzen und waren verortet in Generationen und politischen Lagern. Die verschiedenen Perspektiven auf Geschichte wiesen sehr unterschiedliche Schwerpunkte in der Beschäftigung mit der Vergangenheit auf, behandelten verschiedene Themen und Epochen und machten unterschiedliche Identitätsangebote. Die Analyse von Geschichtskulturen im Kontext gesellschaftlicher Strukturen und Milieus geschieht einerseits unter der Frage, wie die Faktoren sozialer Differenz die Inhalte der Geschichtsschreibung strukturierten, auf welche Weise die AutorInnen sich bewusst mit ihnen auseinandersetzten und wie die Inhalte der Zeitschriften in einen größeren geschichtskulturellen Rahmen einzuordnen sind. Andererseits untersuche ich die sozialen Kontexte von Produktion und Rezeption der Zeitschriften im Hinblick auf die Kategorien sozialer Ungleichheit, so etwa die Fragen, wer Zugang zu Bildung hatte und wer nicht, wer die AutorInnen von Familienzeitschriften waren und aus welchen sozialen Zusammenhängen ihre LeserInnen stammten. Für die Erforschung von Geschichtskulturen ist der Begriff der sozialen Differenz oder Ungleichheit äußerst sinnvoll, verlaufen doch die Grenzen von Erinnerungsgemeinschaften vielfach parallel zu anderen gesellschaftlichen Grenzlinien. Die hier verwendeten Kategorien, mit denen das Verhältnis von sozialer Ungleichheit und Geschichtskultur analysiert werden soll, sind: ethnokulturelle und räumliche Zugehörigkeit, Klasse/Stand, Religion und Konfession sowie Geschlecht. Diese vier Kategorien strukturierten in großem Maße nicht allein das gesellschaftliche Leben des späten 19. Jahrhunderts, sondern auch und eng damit verknüpft die Art, über Geschichte zu denken. Sie eignen sich zur daher zur Untersuchung geschichtskultureller Gruppenidentitäten wie auch zur Analyse struktureller Bedingungen der Wissensgenerierung: Eine Laufbahn als (Populär-)HistorikerIn etwa war in hohem Maße durch Geschlechterdifferenz, Klassenungleichheiten, konfessionelle Zugehörigkeit und regionale Unterschiede ge-
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prägt. Zugleich kann eine Analyse entlang der vier Kategorien aufzeigen, wie diese zeitgenössischen Ungleichheiten in Geschichtsdarstellungen aufgenommen und verhandelt wurden. Klasse/Stand, Konfession, Geschlecht und ethnokulturell-räumliche Herkunft standen als Differenzkategorien nicht nur nebeneinander, sondern interagierten auch miteinander. Der aus den Sozialwissenschaften stammende Begriff der Intersektionalität, der in der Geschichtswissenschaft erst wenig verwendet wird, liefert ein mögliches Instrumentarium der Analyse verschiedenartig verflochtener Ungleichheitsstrukturen.79 Für die Geschichtswissenschaft neu an dem Konzept ist, dass es nicht allein auf duale Aspekte der Ungleichheit fokussiert,80 sondern die verschiedenen Formen sozialer Differenz als Geflecht versteht, in dem drei oder mehr Faktoren miteinander interagieren.81
79 Vgl. Klinger, Cornelia: »Ungleichheit in den Verhältnissen von Klasse, Rasse und Geschlecht«, in: Gudrun-Axeli Knapp (Hg.), Gesellschaftstheorie und feministische Kritik. Bd. 2: Achsen der Differenz, Münster: Westfäl. Dampfboot 2003, S. 14-48. 80 Das Zusammendenken verschiedener sozialer Differenzen wird in der Geschichtswissenschaft schon seit den 1980er Jahren betrieben – geschlechtersensible SozialhistorikerInnen untersuchten in den 1980ern und 1990ern die Verflechtungen von Klassenzugehörigkeit und Geschlecht; andere Forschungszweige sind die Zusammenhänge von Klasse und Ethnizität bzw. nationaler Zugehörigkeit oder die Vergeschlechtlichung und soziale Strukturierung von Religionsausübung. In der neueren Kolonialismus- und Nationalismusforschung wird Geschlecht mit nationaler Zugehörigkeit und Ethnizität zusammengedacht. Vgl. Christian Kollers Forschungsüberblick über das Zusammendenken von Klasse und Geschlecht sowie Ethnizität und Geschlecht: Koller, Christian: »Weiblich, proletarisch, tschechisch. Perspektiven und Probleme intersektionaler Analyse in der Geschichtswissenschaft am Beispiel des Wiener Textilarbeiterinnenstreiks von 1893«, in: Sabine Hess (Hg.), Intersektionalität revisited. Empirische, theoretische und methodische Erkundungen, Bielefeld: transcript 2011, S. 173-195, hier S. 178-179. 81 Die klassische Intersektionalitätsanalyse geht mit der These der Triple Oppression von einer mehrfachen Diskriminierung durch Rasse, Klasse und Geschlecht aus, die nicht additiv nebeneinander stehen, sondern einander gegenseitig überschneiden und zusammenwirken, so dass spezifische Diskriminierungsformen entstehen. Vgl. Klinger, Cornelia: Für einen Kurswechsel in der Intersektionalitätsdebatte (2012), http://portalintersektionalitaet.de/theoriebildung/schluesseltexte/klinger/. Die hier verwendeten vier Kategorien ethnokulturell-räumliche Zugehörigkeit, Klasse/Stand, Religion/Konfession und Geschlecht sind eine abgewandelte und ergänzte Version der Trias Rasse, Klasse und Geschlecht. Die Kategorie der ethnokulturellen und räumlichen Zugehö-
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Denkbar sind auch noch weitere Kategorien, die die Geschichtskulturlandschaft des 19. Jahrhunderts strukturierten: So war etwa, eng im Zusammenhang mit der Kategorie Klasse stehend, Bildungsstand ein wichtiges Differenzierungsmerkmal im Bereich der Wissensproduktion. Auch Generation, Alter und Familienstand waren für Inhalt, Produktion wie Rezeption der Familienzeitschriften von Bedeutung, waren die Zeitschriften der Jahrhundertwende doch einerseits durch eine bestimmte Generation mit ihren spezifischen Erfahrungen und Geschichtsbildern geprägt, spielten andererseits Alter und Familienstand in der Darstellung und Beurteilung historischer AkteurInnen eine Rolle. Diese mögliche Erweiterung der Analysekriterien zeigt, dass die vier Untersuchungskategorien keinesfalls die einzigen Faktoren waren, die auf die Generierung von Wissen einwirkten. Sie erwiesen sich allerdings, auch wenn sie punktuell ergänzt werden können, für die Analyse von Geschichtsdarstellungen in Familienzeitschriften auf Ebene der Inhalte wie der historiographischen Perspektive als die sinnvollsten und relevantesten. Die sozialen Ein- und Ausgrenzungen, die mithilfe der vier oben genannten Kategorien systematisiert wurden, verliefen teilweise entlang von Milieugrenzen. Anfang der 1970er Jahre unterteilte M. Rainer Lepsius die deutsche Gesellschaft des Kaiserreichs und der Weimarer Republik in vier Sozialmilieus: das konservative, das liberale, das katholische und das sozialistische Milieu.82 Milieus sind nach Lepsius soziale Einheiten, »komplexe Konfiguration religiöser, regionaler, sozialer und wirtschaftlicher Faktoren«,83 die die deutsche Gesellschaft des Kaiserreichs und der Weimarer Republik strukturiert hätten. Einen besonders starken inneren Zusammenhalt macht Lepsius bei der katholischen Gemeinschaft fest, die ein in sich höchst geschlossenes, regional und berufsständisch gegliedertes und hierarchisch aufgebautes Sozialmilieu gewesen
rigkeit zeigt in ihrer Zusammensetzung schon an, dass Rasse oder Ethnizität allein in diesem Falle keine passenden Analysebegriffe wären. Die Kategorie schließt lokale, regionale, nationale oder übernationale Zugehörigkeiten ein, die immer eng mit räumlichen Perspektiven verbunden waren und nicht allein über die Konzeption ethnischer, sondern auch sprachlicher und kultureller Gemeinschaften funktionierten. Die Ergänzung um die Kategorie der Religion und Konfession macht deutlich, dass die drei Faktoren der Triple Oppression auf andere Kategorien sozialer Ungleichheit ausgeweitet werden können. 82 Vgl. Lepsius, M. Rainer.: »Parteisystem und Sozialstruktur. Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft«, in: Gerhard A. Ritter (Hg.), Deutsche Parteien vor 1918, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1973, S. 56-80. 83 Ebd., S. 71.
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sei. Seine interne Geschlossenheit habe es aus dem fortdauernden Ausschluss aus der umfassenderen nationalen Gemeinschaft gezogen. Auch die Milieugeschlossenheit der ArbeiterInnenbewegung habe sich aus ihrer gesellschaftlichen Isolation gespeist. So hätten Kulturkampf und Sozialistengesetz ähnliche Auswirkungen auf die Milieubildung der jeweiligen Gruppe gehabt: die Ausbildung interner Organisations- und Kommunikationsnetze sowie eine Verstärkung der Loyalität innerhalb des Milieus.84 In sich heterogener und weniger geschlossen war nach Lepsius das protestantische Deutschland, das sich in ein konservatives und ein liberales Milieu gespalten habe. Diese Trennung sei in der Regel entlang der Grenzen von Stadt und Land verlaufen. Die Konservativen hätten sich auf dem Land aus den alten feudalen Eliten und Bauern zusammengesetzt, die sich trotz sozialer Heterogenität in einem breiten konservativen und antimodernen Bündnis zusammengeschlossen hätten. Das liberale Milieu sei aus der städtisch-bürgerlichen Gemeinschaft der Vormoderne entstanden und habe sich im 19. Jahrhundert mit verschiedenen demokratischen und nationalen Bestrebungen verbunden.85 In der Geschichtsforschung ist das Modell nicht unumstritten, dient aber in kritischer Auseinandersetzung seit seiner Entstehung als Grundlage für Milieustudien des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Vor allem für die Katholizismusforschung (aber auch für Forschungen zu konfessionellen Milieus allgemein) erwies sich das Konzept als fruchtbar.86 Auch die Forschung zur ArbeiterInnenbewegung arbeitet häufig mit Milieuansätzen.87 Während jedoch das
84 Vgl. ebd., S. 73-74. 85 Vgl. ebd., S. 71. 86 Vgl. den Überblick über die mit Milieuansätzen arbeitende Religionsforschung bis 2004 bei Dietrich, Tobias: Konfession im Dorf. Westeuropäische Erfahrungen im 19. Jahrhundert, Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2004, S. 13-28; vgl. auch Blaschke, Olaf/Kuhlemann, Frank-Michael: Religion im Kaiserreich. Milieus – Mentalitäten – Krisen, Gütersloh: Kaiser, Gütersloher Verlag-Haus 1996a; Reeken, Dietmar von: Kirchen im Umbruch zur Moderne. Milieubildungsprozesse im nordwestdeutschen Protestantismus 1849-1914, Gütersloh: Kaiser Gütersloher Verlags-Haus 1999. 87 Vgl. Adam, Thomas: Arbeitermilieu und Arbeiterbewegung in Leipzig. 1871-1933, Köln: Böhlau 1999; Ritter, Gerhard A.: Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. 1871 bis 1914, Kapitel 9, Das Milieu der Arbeiter, Bonn: Dietz 1992, S. 781-838; Rohe, Karl: »Die Ruhrgebietssozialdemokratie im Wilhelminischen Kaiserreich«, in: Gerhard A. Ritter/ Elisabeth Müller-Luckner (Hg.), Der Aufstieg der deutschen Arbeiterbewegung.
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sozialdemokratische und das katholische Milieu von relativer innerer Geschlossenheit waren, ist vielfach angemerkt worden, dass das liberale und das konservative Milieu keine derartige Homogenität aufwiesen, sondern durch starke innere Differenzierungen charakterisiert gewesen seien, so dass in vielen Fällen nur schwerlich von Milieubildung gesprochen werden könne.88 Für die Erforschung von Geschichtskulturen liegt in Lepsius’ Milieu-Modell bei aller berechtigten Kritik großes Potential. Das Modell ermöglicht es, verschiedene Geschichtskulturen ihren sozialen Trägergruppen zuzuordnen. Zu fragen ist dazu dreierlei: Welche gemeinsamen Geschichtserzählungen haben Milieus und auf welche Weise wirken diese integrativ? Wie differieren die verschiedenen Geschichtskulturen entlang von Milieugrenzen? Und drittens: Wie funktioniert die Wechselwirkung zwischen Milieubildung und Geschichtserzählung? Bisher wurden Geschichtskulturen kaum systematisch mit einem Milieuzugriff untersucht. Verschiedene Studien gehen im Bereich katholischer und sozialdemokratischer Geschichtskultur von milieuspezifischer Erinnerung aus.89
Sozialdemokratie und freie Gewerkschaften im Parteiensystem und Sozialmilieu des Kaiserreichs, München: Oldenbourg 1990, S. 317-344. 88 Vgl. Bösch, Frank: Das konservative Milieu. Vereinskultur und lokale Sammlungspolitik in ost- und westdeutschen Regionen (1900-1960), Göttingen: Wallstein-Verlag 2002, S. 12-16. Neben diesen Schwierigkeiten, das liberale und konservative Milieu zu fassen, ist ein weiterer Angelpunkt der Diskussionen die Frage, welche Faktoren ein Milieu konstituieren und zusammenhalten und in welcher Beziehung ökonomische und kulturelle Einflüsse in der Milieubildung zueinander stehen. Vgl. Blaschke, Olaf/Kuhlemann, Frank-Michael: »Religion in Geschichte und Gesellschaft. Sozialhistorische Perspektiven für die vergleichende Erforschung religiöser Mentalitäten und Milieus«, in: Dies. (1996b), S. 7-56, hier S. 25-28; Rohe, Karl: »Wahlanalyse im historischen Kontext. Zu Kontinuität und Wandel von Wahlverhalten«, in: Historische Zeitschrift 234 (1982), S. 337-357, hier S. 351f. 89 Vgl. Rasche, Ute: »Geschichtsbilder im katholischen Milieu des Kaiserreichs. Konkurrenz und Parallelen zum nationalen Gedenken«, in: Clemens Wischermann (Hg.), Vom kollektiven Gedächtnis zur Individualisierung der Erinnerung, Stuttgart: Steiner 2002, S. 25-52. Rasche untersucht aufbauend auf dem Lepsiusʼschen Milieumodell katholische Geschichtsschreibung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts anhand von Programmen katholischer Verlage. Auch Franziska Metzger analysiert die katholische Geschichtskultur mit einem Mileuansatz, vgl. Metzger, Franziska: »Die Reformation in der Schweiz zwischen 1850 und 1950. Konkurrierende konfessionelle und nationale Geschichtskonstruktionen und Erinnerungsgemeinschaften«, in: HeinzGerhard Haupt (Hg.), Nation und Religion in Europa. Mehrkonfessionelle Gesell-
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Doch gerade die liberal-protestantischen und konservativ-protestantischen Geschichtsbilder wurden bisher nicht systematisch als milieuspezifische Geschichtskulturen untersucht und es existieren nur wenige Studien, die verschiedene Milieus in ihrer Erinnerung vergleichen.90 Stattdessen neigen Geschichtsund Erinnerungskulturforschung zur Universalisierung dieser Erzählungen. Katholische und sozialdemokratische Gegengeschichten erscheinen in dieser Lesart lediglich als milieuspezifische Abweichungen von einer protestantischkleindeutschen Norm, und auch die kritische Historikerin läuft Gefahr, mit der Universalisierung borussischer Geschichtsbilder letztlich Hierarchien und Zuweisungen zu reproduzieren, die der Historiographie des 19. Jahrhunderts zugeschrieben werden. Zweifellos war die Wirkungsmacht der protestantisch-kleindeutschen Geschichtsdeutung größer als die ihrer Gegengeschichten, besaßen doch ihre Fürsprecher in der Wissenschaft wie der Politik historische Deutungshoheit. Die dominante Position und die politischen Entwicklungen der protestantischkleindeutschen Geschichtsdeutung machen es schwierig, sie einem Milieu (oder auch zweien) zuzuordnen. Doch eine systematische Milieuzuordnung auch des historiographischen Mainstreams eröffnet die Möglichkeit, Geschichtskulturen außerhalb von Modellen der Norm und Abweichung ihren gesellschaftlichen Trägergruppen zuzuordnen – was nicht bedeutet, ihre Hierarchisierung in der Wissensordnung der Gesellschaft zu verleugnen. Die Zuordnung von Geschichtskulturen zu Milieus erlaubt zudem, systematisch nach Unterschieden und Ähnlichkeiten zu fragen und über einen Vergleich die Gemeinsamkeiten der Geschichtskulturen – das, was milieuübergreifend eine nationale (oder sogar übernationale) Geschichtskultur ausmachte – jenseits der Dominanz borussischer Geschichtsbilder zu bestimmen. Auch für die Erforschung der Presselandschaft des 19. Jahrhunderts ist Lepsius’ Ansatz äußerst fruchtbar, bewegte sich doch die deutsche Presse zwischen milieuspezifischen und gesamtgesellschaftlichen Strukturen. Waren Zei-
schaften im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/Main: Campus 2004, S. 64-98; Metzger, Franziska: Religion, Geschichte, Nation. Katholische Geschichtsschreibung in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert – Kommunikationstheoretische Perspektiven, Stuttgart: Kohlhammer 2010. Die sozialdemokratische Erinnerungsgemeinschaft wurde von Till Kössler untersucht, vgl. Kössler (2005). 90 Vgl. Mergel, Thomas: »Sozialmoralische Milieus und Revolutionsgeschichtsschreibung. Zum Bild der Revolution von 1848/49 in den Subgesellschaften des deutschen Kaiserreichs«, in: Christian Jansen (Hg.), Die Revolutionen von 1848/49. Erfahrung – Verarbeitung – Deutung, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1998, S. 247-267.
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tungen und Zeitschriften bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts noch stark milieugeprägt, entwickelten sich mit der Massenpresse seit den 1850er Jahren Periodika, die zumindest von ihrem Anspruch her milieuübergreifend wirkten. Die Gartenlaube als erste große Familienzeitschrift gehörte zu dieser potentiell milieuübergreifenden Presse – ihr eigener Anspruch, in jeder Art von Haushalt gelesen zu werden, ihre breite Themenwahl und vor allem ihr zumindest nach außen getragener unpolitischer und konfessionsübergreifender Charakter sollten dazu beitragen.91 Diesen universalen Anspruch teilten allerdings nicht alle Familienzeitschriften. So positionierten sich Daheim und Alte und Neue Welt sehr offensiv auf konfessioneller, die Neue Welt auf politischer Ebene. Doch auch die Gartenlaube und die sich unpolitisch gebende Sonntags-Zeitung waren nicht weniger politisch positioniert als die anderen Zeitschriften und trotz ihres überkonfessionellen Anspruchs durch ihre Ausrichtung auf den kleindeutschen Nationalstaat faktisch protestantisch geprägt. Familienzeitschriften waren Produkte einer Massenpresse, die milieuübergreifendes Potential hatte, doch sie waren konfessionell, politisch, sozioökonomisch und regional verortet und differierten entlang von Milieugrenzen. Presseprodukte waren jedoch nicht nur Repräsentationen und Bestandteile von Milieus, sondern auch aktiv an deren Formung beteiligt. Milieus konstituierten sich in großem Maße über ihre Kommunikationsstrukturen, also über Printmedien. Allerdings repräsentierten und konstituierten einzelne Familienzeitschriften oft keine ganzen Milieus, sondern nur bestimmte Strömungen und Teilmilieus. Die Alte und Neue Welt etwa war zwar stark an der Institution der römisch-katholischen Kirche und am Vatikan orientiert, das katholische Milieu war jedoch nicht im Ganzen derart institutionsgebunden. Die Neue Welt wurde innerhalb des sozialistischen Milieus scharf ob ihrer politischen Haltung und ihrer literarischen Auswahl angegriffen und ist daher nicht als Organ ›der‹ ArbeiterInnenbewegung oder gar ›der‹ ArbeiterInnenschaft anzusehen. Allerdings durften die Zeitschriften, die auf eine hohe Auflage abzielten, auch nicht zu eng in ihrer Positionierung sein, sondern mussten einen gewissen milieuinternen wie milieuübergreifenden Mainstream bedienen. Familienzeitschriften standen somit in einer Position zwischen milieuübergreifendem Universalanspruch einerseits und ihrer Verortung in Milieus oder sogar in Teilmilieus andererseits. Milieus, das wurde gezeigt, hatten als geschichtskulturelle Gemeinschaften eine wichtige Funktion für Geschichtsschreibung, und die Beschäftigung mit Geschichte war relevant für Milieubildungsprozesse. Die Debatten um die interne Differenzierung von Milieus bzw. um die Schwierigkeit, jenseits der beiden
91 Vgl. An unsere Freunde und Leser, in: GL 1853, Titelseite.
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›geschlossenen‹ Milieus der Sozialdemokratie und des Katholizismus homogene Milieuzusammenhänge auszumachen, zeigen aber deutlich die Grenzen dieser Modelle auf: Sie taugen nur ungenügend dazu, einerseits Hierarchien und unterschiedliche Zugehörigkeiten innerhalb eines Milieus zu erfassen, andererseits milieuübergreifende Strukturen, Denkmuster und Identitäten zu analysieren. Zudem haben Milieumodelle einen starken Fokus auf die Herstellung und Reproduktion von Identitäten, sind jedoch nur unzulänglich brauchbar für die Analyse gesellschaftlicher Strukturen. Beides, die Untersuchung von milieuinternen und -übergreifenden Identitäten sowie von strukturellen Ungleichheiten, wird möglich, wenn man das Milieumodell mit den Analysekategorien sozialer und historischer Ungleichheit zusammenbringt. Die vier Kategorien, die in dieser Arbeit verwendet werden, Klasse und Stand, Religion und Konfession, Geschlecht sowie ethnokulturelle und räumliche Herkunft, ergänzen das Milieukonzept einerseits, indem sie Identitäten benennen, die milieuintern waren oder quer zu Milieuschranken standen, andererseits sind sie ein Instrumentarium zur Analyse sozialer Strukturen, die teilweise mit Milieuzugehörigkeiten korrespondierten, teilweise aber auch unabhängig von diesen waren. Die Kombination beider Konzepte erweist sich so als eine sinnvolle Methode der empirischen Geschichtskultur-Forschung, die es ermöglicht, die Landschaft der Geschichtskultur in ihrer Komplexität zu erfassen, ohne in homogenisierende Tendenzen zu verfallen, und die sowohl die Identitäts- als auch die Strukturebene sozialer Ungleichheit erfasst, die beide konstitutiv für Geschichtskulturen waren. Ansatz II: Zeitschriften in ihrem geschichtskulturellen Umfeld Der zweite Ansatz dieser Arbeit untersucht die Spezifika populärer Geschichte in Familienzeitschriften und verortet sie innerhalb der deutschsprachigen Geschichtskulturlandschaft. Das Beispiel der Zeitschriften zeigt dabei, dass sich populäre und akademische Geschichte höchstens analytisch trennen lassen. Geschichtsschreibung in Familienzeitschriften war charakterisiert durch eine große thematische wie formale Vielfalt und stand in diversen Wechselwirkungen und Interaktionen mit anderen geschichtskulturellen Feldern. Diese waren einerseits personeller Art – viele AutorInnen von Geschichtsartikeln waren auch in anderen geschichtskulturellen Feldern tätig – oder konnten als Rezeptionsverhältnis in Erscheinung treten, indem etwa Familienzeitschriften Themen und Diskussionen aus der Fachwissenschaft aufgriffen und wiedergaben oder indem sie sich in ihrer Darstellung an anderen populärhistorischen Werken orientierten. Die ZeitschriftenautorInnen bedienten sich einer großen Variation an Ressourcen aus Fachwissenschaft, Populärhistorie, Volkskunde und Kunst. Das bedeutet aller-
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dings nicht, die Familienzeitschriften hätten die Forschungen und Gedanken anderer AutorInnnen einfach nur übernommen oder vereinfacht. Vielmehr transformierten sie die verschiedensten Ansätze und Wissensinhalte, indem sie sie dem Genre der Zeitschrift anpassten. Sie schufen auf diese Weise innovative Formen der Geschichtsdarstellung, die sich gerade durch die große Bandbreite an Traditionen, Einflüssen und Interaktionen auszeichneten. Die Innovation lag hierbei nicht in einer völligen Neuerfindung eines bestimmten historiographischen Genres, sondern vielmehr in der transformierenden Verbindung und Verknüpfung der vielen älteren und neueren Ansätze und ihrer Bereitstellung für ein breites Publikum, das durch Familienzeitschriften erstmals in dieser gebündelten Form einen weiten Blick in verschiedene Bereiche der populären wie akademischen Geschichte erlangte. Zugleich gaben populäre Historiographien einen Anschub, bestimmte von der Akademie vernachlässigte Felder, Themengebiete und Quellen sichtbar zu machen. Die Wissenschaftsentwicklung des 20. Jahrhunderts zeigt, dass viele historiographische Entwicklungen, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in den Universitäten zu behaupten begannen, in der populären Geschichte des 19. Jahrhunderts schon vorweggenommen waren – Sozial- und Kulturgeschichte, Alltags- und Frauengeschichte oder Oral History. Diese Rückwirkung populärer Geschichte im Allgemeinen und von Familienzeitschriften im Besonderen in die Fachwissenschaft bedeutet nicht, dass diese Ansätze des 20. Jahrhunderts immer in bewusste Tradition zu populärer Geschichte des 19. Jahrhunderts gestellt worden seien oder dass die jeweiligen Zugänge qualitativ gleich seien. Dennoch lohnt sich der Blick auf die innovativen Formen der Geschichtsschreibung, die damals entstanden und schon viele Themen aufgriffen, die später die historiographischen Debatten aufmischen sollten.
T HESEN UND AUFBAU
DER
ARBEIT
Auf Grundlage der oben vorgestellten Ansätze bewegt sich diese Untersuchung von Geschichtsschreibung in Familienzeitschriften entlang von drei Thesen. Erstens: Die Geschichtskulturen des späten Kaiserreichs sind nur im Plural zu erfassen, im Sinne eines Nebeneinanders mehrerer geschichtskultureller Gemeinschaften. Diese existierten jedoch nicht getrennt voneinander, sondern waren in ein Netzwerk eingebunden, in dem verschiedene AkteurInnen, Institutionen, Praktiken und Denkweisen an diversen Knotenpunkten zusammenkamen. Eine klare Abgrenzung von populärer und akademischer Geschichte ist dabei weder möglich noch sinnhaft. Zweitens: Die Geschichtskulturlandschaft des späten Kaiserreichs war strukturiert durch soziale Milieus und durch vier relevante Fak-
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toren sozialer Differenz: ethnokulturelle und räumliche Zugehörigkeit, Klasse und Stand, Geschlecht sowie Religion und Konfession. Diese vier Faktoren waren im Zusammenspiel mit Milieuzugehörigkeiten auf Ebenen von AkteurInnen92 wie von Inhalten, und sowohl auf Struktur- wie auf Identitätsebene für die Konstitution von Geschichtskulturen wirksam. Drittens: Geschichtsschreibung in Familienzeitschriften zeichnete sich durch eine große Heterogenität von Themen und Ansätzen aus. Sie war dadurch charakterisiert, dass sie in Interaktion mit diversen geschichtskulturellen Traditionen und Institutionen eigene Formen der Geschichte schuf. Diese entstanden zu maßgeblichen Anteilen aus der spezifischen medialen Form des Zeitschriftengenres. Die Arbeit beginnt mit einem knappen Überblick über die deutsche Geschichtskulturlandschaft des 19. Jahrhunderts, auf den eine Einführung in das Genre der Familienzeitschrift in seiner historischen Entwicklung und seinen AkteurInnen der Produktion und Rezeption folgt. Das vierte Kapitel gibt einen Überblick über Themen, Epochen und Darstellungsformen der Geschichtsschreibung in Familienzeitschriften. Im fünften Kapitel untersuche ich das Verhältnis von Geschichtsschreibung und der gesellschaftlichen Strukturen, in deren Kontext und unter deren Rahmenbedingungen sie entstand. In vier Teilkapiteln werden die vier Kategorien ethnokulturelle und räumliche Zugehörigkeit, Klasse/Stand, Geschlecht sowie Religion und Konfession untersucht. Nachdem Kapitel fünf den Fokus auf gesellschaftliche Kontexte und die Inhalte der Geschichtsschreibung richtet, untersucht das sechste Kapitel die Geschichtsschreibung der Familienzeitschriften im Kontext der deutschen Geschichtskulturlandschaft. Nach einer kurzen Hinführung mit Fokus auf der theoretischen Diskussion um den Begriff der Wissenspopularisierung untersuche ich die Methoden, mit denen ZeitschriftenautorInnen populäre Geschichte schrieben. Der Fokus liegt hier auf der Rezeption von Sekundärliteratur, der Popularisierung von Forschungskontroversen und auf dem dem Umgang mit Quellen, der eng mit spezifischen Vorstellungen von wissenschaftlicher Objektivität und historischer (Un)Wahrheit verbunden war. Am Beispiel von Kulturgeschichte, Militärgeschichte und der Reproduktion von Historienbildern schließlich zeige ich auf, in welchen geschichtskulturellen Traditionen die Familienzeitschriften sich verorteten und auf welche Ressourcen sie zurückgriffen, um daraus eigene innovative Formen der Geschichtsschreibung zu entwickeln.
92 Ich nutze in dieser Arbeit eine genderneutrale Schreibweise. Wo die männliche Form verwendet wird, ist diese nicht als generisches Maskulinum gedacht, sondern wird eingesetzt, wo tatsächlich nur Männer gemeint sind.
2. Die deutsche Geschichtskulturlandschaft des 19. Jahrhunderts Ein Überblick
Geschichtsdarstellungen in Familienzeitschriften waren nur ein kleiner Teil einer umfassenderen Geschichtskulturlandschaft, die akademische wie populäre Zugänge zur Vergangenheit und unterschiedlichste mediale Formen der Darstellung umfasste. Im folgenden Kapitel wird das Feld der deutschsprachigen Geschichtskultur in seiner Entwicklung durch das 19. Jahrhundert hindurch grob umrissen, um eine bessere Einordnung der untersuchten Darstellungen in die deutsche Geschichtskulturlandschaft ihrer Zeit zu ermöglichen. Seit dem späten 18. Jahrhundert hatte der westeuropäische Umgang mit Geschichte große Transformationen durchlaufen – sie wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts einerseits akademisiert und institutionalisiert, andererseits demokratisiert, popularisiert und medial massentauglich gemacht. Auch in der Vormoderne gab es bereits populäre Auseinandersetzungen mit Geschichte, doch erst die neuen Massenmedien des 19. Jahrhunderts ermöglichten eine wirkliche Popularisierung von Geschichte in dem Sinne, dass nun breite Bevölkerungsschichten Zugang zu Geschichte bekamen. So war die Verbreitung von historischem (und anderem) Wissen eng an die Entstehung einer Mediengesellschaft gebunden.1 Bis in die Aufklärung hinein wurde Geschichte vor allem in Gelehrtenkreisen rezipiert. Die unhandlichen und trocken geschriebenen Geschichtswerke waren nicht für breite Volksschichten verfasst, die ohnehin nicht die finanziellen Möglichkeiten hatten, die teuren Bücher zu erwerben.2 Seit Mitte des 18. Jahrhunderts jedoch wuchs das Interesse bürgerlicher Schichten für Geschichte –
1
Vgl. zur Mediengesellschaft des 19. Jahrhunderts Requate, Jörg: Das 19. Jahrhundert als Mediengesellschaft, München: Oldenbourg 2009a.
2
Vgl. Nissen (2009), S. 165.
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zeitgleich mit deren Verschmelzung mit literarischen Erzählformen. Historische Romane waren eine literarische Gattung, die Geschichte und fiktionales Erzählen vereinte und sich damit größter Beliebtheit erfreute. Der historische Roman des 19. Jahrhunderts, von Historikern wie Literaturkritikern oftmals ob seiner Trivialität verpönt, verknüpfte politische Konflikte mit Liebesgeschichten und opulenten Darstellungen historischer Kostüme, Requisiten und Räume.3 Während in England Sir Walter Scott wie kein zweiter das Genre prägte, in Frankreich Autoren wie Victor Hugo oder Alexandre Dumas erfolgreiche historische Abenteuerromane schrieben, wurde in Deutschland Joseph Victor von Scheffels 1855 erschienener »Ekkehard« zu einem der erfolgreichsten Romane seiner Zeit.4 Die neue narrative Form der Geschichte weist auch auf ein gewandeltes Verständnis dessen hin, was Geschichte sei: Die pluralen und exemplarischen Geschichten der Vormoderne wurden seit Ende des 18. Jahrhunderts zu einer einzigen und einmaligen Geschichte, einer Geschichte im Singular, die unaufhaltsam voranschritt.5 Die moderne Idee von Geschichte war die einer kontinuierlichen Bewegung in der Zeit, eines beständigen Fortschreitens und vor allem auch eines beständigen Fortschritts der Zivilisation. Dieses neue Verständnis von Geschichte ergab sich aus den gewandelten Lebensrealitäten der Menschen seit der Französischen Revolution. Die Revolution läutete in Mitteleuropa eine Epoche der Beschleunigung und des Wandels ein. Gesellschaftliche und politische Strukturen veränderten sich, Industrialisierung und politische Revolutionen brachten technische Innovationen, demographische Veränderungen, Umstrukturierung der sozialen Schichtung, politische Machtwechsel, neue Wirtschaftsformen und Arbeitsbedingungen mit sich. Soziale Veränderungen gab es auch schon in der Vormoderne, doch liefen sie bedeutend langsamer ab: Die vormoderne Gegenwart glich in großem Maße der Vergangenheit, und die Zukunft war vorhersehbar. Dies änderte sich mit den industriellen und politischen Revolutionen und
3
Vgl. Potthast, Barbara: Die Ganzheit der Geschichte. Historische Romane im 19. Jahrhundert, Göttingen: Wallstein 2007, S. 32.
4
Vgl. ebd., S. 33.
5
Vgl. zur Wandlung des Geschichtsverständnisses in der Moderne Koselleck, Reinhart/Engels, Odilo/Günther, Horst: »Geschichte, Historie«, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart: Klett 1975, S. 593-717, hier S. 647-713.
D IE DEUTSCHE G ESCHICHTSKULTURLANDSCHAFT
DES
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Transformationen der Moderne. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wurden zu den drei Punkten, an denen die Linie historischen Fortschritts entlanglief.6 Diese Form des Geschichtsverständnisses wird meist mit dem Begriff des Historismus verknüpft. Historismus bezeichnet einerseits eine bestimmte methodische Ausprägung der Geschichtswissenschaft, nämlich den Versuch, durch empirische Quellenarbeit und die Methode des Verstehens höchstmögliche Objektivität zu erlangen.7 Doch Historismus war gleichzeitig eine bestimmte Weise des historischen Denkens, das den Verlauf der Geschichte als eine durchgängige und einmalige Entwicklung ansah. Triebkräfte geschichtlicher Entwicklung waren nach historistischem Denken Individuen und Staaten, aber auch Ideen.8 Die Transformationen der Geschichtsforschung fanden nicht allein auf ideeller, sondern auch auf institutioneller Ebene statt. In der ersten Jahrhunderthälfte begann der Prozess der Professionalisierung und Institutionalisierung der Fachwissenschaft. Geschichte wurde, bevor sie eigene Disziplin wurde, als Teilbe-
6
Vgl. ebd., S. 702.
7
Vgl. Jaeger, Friedrich/Rüsen, Jörn: Geschichte des Historismus. Eine Einführung, München: Beck 1992, S. 44-46; Iggers, Georg G.: Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart, Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1997, S. 13f.
8
Vgl. Jaeger/Rüsen (1992), S. 1. Der Historismus, der die Geschichtskulturlandschaft des 19. Jahrhunderts so maßgeblich prägte, unterlag selbst historischem Wandel. In der Historiographiegeschichte wird der akademische Historismus gemeinhin in drei Phasen eingeteilt, die sich insbesondere in Bezug auf Fragen von Objektivität und Standortgebundenheit, sowie der politischen Rolle des Historikers unterschieden: Die Frühphase in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war von Ranke und seinem Ideal möglichst objektiver Rekonstruktion geprägt. Die von preußisch-kleindeutschen Historikern dominierte zweite Phase begann mit der gescheiterten Revolution und ging bis in die 1870er Jahre; sie war geprägt von dem Anspruch der Historiker, durch ihre Arbeit politisch für die Gründung eines deutschen Nationalstaats zu wirken. Die dritte Phase dauerte bis in die 1960er Jahre: Diese Phase war geprägt von einer Abkehr vom Ideal des politischen Historikers. Die sogenannten Neorankeaner suchten in Rückgriff auf Ranke und mit un- und überpolitischem Anspruch die politischen Erfahrungen des späten 19. und des 20. Jahrhunderts zu verarbeiten. Vgl. ebd., S. 73-74. Daneben gab es insbesondere zum Ende des 19. Jahrhunderts auch akademische Außenseiter, die eine nicht-historistische Geschichtsauffassung vertraten – etwa die Kulturhistoriker Jacob Burckhardt und Karl Lamprecht, oder an marxistischer Theorie anlehnende Vertreter des historischen Materialismus, die jedoch meist außerhalb der Universitäten und in Kreisen der ArbeiterInnenbewegung tätig waren. Vgl. ebd., S. 121-145.
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reich der Theologie und der Jurisprudenz gelehrt und gehörte in diesen Fächern zum Grundlagenstudium. Eine Konzentration auf Geschichte als eigenes Studiengebiet war Resultat einer Professionalisierung des Lehrerberufs – zukünftige Lehrer sollten an den Universitäten von einem Studium der Geschichte profitieren.9 Seit den 1820erJahren kam es zu vermehrten Gründungen historischer Lehrstühle und historischer Seminare, die sich allerdings noch bis ins späte 19. Jahrhundert hinzogen – die Berliner Universität etwa erhielt ihr historisches Seminar erst 1885.10 Seit den 1870ern differenzierte sich das Fach verstärkt intern nach Epochen und Themenfeldern aus.11 Die Disziplinierung und Institutionalisierung des Fachs Geschichte vollzog sich außerdem über die Gründung von Fachverbänden – so etwa dem Gesamtverein der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine, gegründet 1852, oder dem 1895 ins Leben gerufene Verband deutscher Historiker. Auch Fachzeitschriften trugen zur Institutionalisierung des Faches bei – die einflussreichste war die 1859 von Heinrich von Sybel gegründete Historische Zeitschrift.12 Seit Beginn des 19. Jahrhunderts edierten Historiker zudem Quellen in zum Teil monumentalen Großprojekten, deren berühmtestes die 1819 durch Karl Freiherr vom Stein begründeten Monumenta Germaniae Historica waren. Neben der akademischen Fachwissenschaft entstand seit den 1830er Jahren eine breite Landschaft von Geschichtsvereinen, in denen Laien historische Ar-
9
Vgl. zur Entwicklung historischer Seminare Huttner, Markus: »Historische Gesellschaften und die Entstehung historischer Seminare. Zu den Anfängen institutionalisierter Geschichtsstudien an den deutschen Universitäten des 19. Jahrhunderts«, in: Matthias Middell/Gabriele Lingelbach/Frank Hadler (Hg.), Historische Institute im internationalen Vergleich, Leipzig: Akad. Verlags-Anst. 2001, S. 39-84; Pandel, HansJürgen: »Von der Teegesellschaft zum Forschungsinstitut. Die historischen Seminare vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Kaiserreichs«, in: Horst W. Blanke (Hg.), Transformation des Historismus. Wissenschaftsorganisation und Bildungspolitik vor dem Ersten Weltkrieg – Interpretationen und Dokumente, Waltrop: Spenner 1994, S. 1-31.
10 Die zum Teil sehr späten Seminargründungen zeigen, dass Verwissenschaftlichung und Institutionalisierung der Geschichte im Gegensatz zu gängigen Forschungsmeinungen nicht automatisch zeitgleich anliefen, vgl. Huttner (2001), S. 45. 11 Vgl. Metzger (2011), S. 144. 12 Andere Fachzeitschriften waren etwa die 1832 von Ranke gegründete Historischpolitische Zeitschrift, oder die 1836 von Joseph Görres gegründeten Historischpolitischen Blätter für das katholische Deutschland. Vgl. ebd., S. 146f.
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beit betrieben.13 Bis zum Ende des Kaiserreichs entstanden über 260 Heimatund Geschichtsvereine in Deutschland. Dort betrieben Mitglieder einer gebildeten bürgerlichen Honoratiorenschicht – meist Lehrer, Pfarrer und Beamte – lokal- und regionalhistorische Forschung, sie sammelten und archivierten Quellen, organisierten Vorträge und Exkursionen und gaben Zeitschriften heraus. Auf der Suche nach der eigenen Herkunft wurde eine Abstammungsgemeinschaft über kulturelle, sprachliche und geopolitische Faktoren konstruiert, die die Wurzeln des deutschen Volkes und der deutschen Nation bei den germanischen Stämmen verortete und im Mittelalter einen Zustand nationaler Ursprünglichkeit und auch nationaler Einheit fand. Hier wurde seit der Romantik nicht nur von Historikern, sondern auch von Philologen und Volkskundlern ein wirkmächtiger nationaler Mythos geschaffen, der bis ins 20. und 21. Jahrhundert hinein wirksam sein sollte.14 Die zunächst von Laien getragenen Vereine durchliefen ab den 1850ern einen Prozess der personellen wie forschungspraktischen Verwissenschaftlichung und sind so ein Beispiel für das Wechselspiel zwischen Professionellen und Laien in der Geschichtsforschung. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts entstand ein breiter Markt für historische Literatur, auf dem auch die Werke von Fachwissenschaftlern zum Teil äußerst erfolgreich waren.15 Historisches Wissen wurde zudem in Lexika und Handbüchern festgehalten und fand Einzug in die Presse. Neben den regionalhistorischen Zeitschriften der Geschichtsvereine und den Fachblättern der Wissenschaftler entstanden Ende des Jahrhunderts Zeitschriften wie der Geschichtsfreund, die sich ganz der Popularisierung von Geschichte verschrieben. Zudem war Geschichte auch immer wieder Thema in nicht historisch spezifizierten Periodika, wie etwa in den hier untersuchten Familienzeitschriften. Aufhänger für die Vermittlung historischer Inhalte waren häufig Jubiläen.16 Doch auch neue Erkenntnisse und Funde der Wissenschaft fanden ihren Weg in populäre Medien. Die Entdeckung Trojas durch Heinrich Schliemann 1873 und die Ausgrabungen in Pompeji in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lösten lebhaftes Interesse an der Antike und an Archäologie aus. Zeitungen und Zeit-
13 Zu Geschichtsvereinen vgl. Kunz, Georg: Verortete Geschichte. Regionales Geschichtsbewußtsein in den deutschen Historischen Vereinen des 19. Jahrhunderts, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000, S. 55-73; Nissen (2009), S. 67-69. 14 Zur Mittelalterezeption vgl. Groebner, Valentin: Das Mittelalter hört nicht auf. Über historisches Erzählen, München: Beck 2008. 15 Vgl. Nissen (2009), S. 113-116. 16 Vgl. zur Bedeutung des Jubiläums Münch, Paul: Jubiläum, Jubiläum… Zur Geschichte öffentlicher und privater Erinnerung, Essen: Klartext 2005.
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schriften berichteten regelmäßig über die Ausgrabungsstätten und Funde. Archäologen wurden als moderne Abenteurer zu regelrechten Medienstars inszeniert – dies galt in besonderem Maße für Heinrich Schliemann, der als Autodidakt das Bild der Archäologie als praktisch ausgerichteter »Spatenwissenschaft« und Schatzsuche prägte.17 An Ausgrabungsstätten konnte das neue Bildmedium der Fotografie effektvoll eingesetzt werden, um den BetrachterInnen einen Eindruck der Szenerie zu liefern. Doch auch schon lang vor der Erfindung der Fotografie wurde Geschichte in bildlicher Form festgehalten. Die Historienmalerei, ein Genre, das bereits seit der Renaissance bestand, wurde im 18. und 19. Jahrhundert zu einer äußerst beliebten und geachteten Kunstform.18 Ganze Schulen der Malerei widmeten sich der Darstellung historischer Szenen, so etwa der Kreis um den Münchner Historienmaler Karl von Piloty. Durch die verbesserten Reproduktionsmöglichkeiten von Illustrationen konnten Zeitschriften seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Historiengemälde auch zu BetrachterInnen bringen, die sonst nur schwerlich die Möglichkeit hatten, Gemälde anzusehen, waren doch die Kunstsammlungen des 19. Jahrhunderts meist nicht öffentlich und der Zugang zu Kunst nur Privilegierten möglich. Daher waren in der ersten Hälfte des Jahrhunderts auch Panoramen äußerst beliebt, die neben Landschafts- oder Städtebildern oftmals Szenen aus der Geschichte an ein größeres Publikum brachten. Die runden Gemälde, die keinen Anfang und kein Ende hatten und in die die Betrachterin regelrecht hineingehen konnte, wurden in eigens errichteten runden oder vieleckigen Gebäuden, sogenannten Panoramarotunden, gezeigt. Verkleinerte und oftmals variierte Formen des Panoramas – Kleinpanoramen, Dioramen, Guckkästen oder ähnliches – wurden auf Messen und Jahrmärkten ausgestellt und trugen so ihren Teil zur Demokratisierung und Popularisierung von (Historien-)Malerei bei.19 Auch im Bereich der Architektur schlug sich das Interesse für Geschichte, insbesondere für das Mittelalter, nieder – in Köln sorgte in den 1840er Jahren eine enthusiastische Bewegung dafür, dass der Kölner Dom, seit dem Mittelalter
17 Vgl. Samida, Stefanie: »Vom Heros zum Lügner? Wissenschaftliche ›Medienstars‹ im 19. Jahrhundert«, in: Dies. (2011c), S. 245-272, hier S. 261. 18 Vgl. zur Historienmalerei Gaehtgens, Thomas W.: Historienmalerei, Darmstadt: Wiss. Buchges. 2003; Germer, Stefan: »Retrovision. Die rückblickende Erfindung der Nationen durch die Kunst«, in: Monika Flacke (Hg.), Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama, München, Berlin: Koehler und Amelang 1998a, S. 33-52. 19 Vgl. Oettermann, Stephan: Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums, Frankfurt/Main: Syndikat 1980; Weidauer, Astrid: Berliner Panoramen der Kaiserzeit, Berlin: Gebr. Mann 1996.
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unvollendet, fertig gebaut wurde.20 Doch es blieb nicht allein bei Denkmalpflege und der Restaurierung historischer Bauwerke, sondern Vorstellungen mittelalterlicher Architektur wurden auch bei Neubauten verwendet: In den 1870er und 80er Jahren ließ etwa der bayerische König Ludwig II. Schloss Neuschwanstein errichten, das Abbild einer märchenhaften Vorstellung einer mittelalterlichen Burg. Und die Begeisterung für mittelalterliche Ruinen ging in der ersten Hälfte des Jahrhunderts so weit, dass man dort, wo es keine gab, einfach selbst Ruinen baute.21 Die zahlreichen nationalen Denkmäler, die Ende des 19. Jahrhunderts allerorts gebaut wurden, meißelten Geschichte geradezu in Stein, so etwa die 1842 eingeweihte Walhalla, das 1875 enthüllte 53 Meter hohe Hermannsdenkmal oder das monumentale Völkerschlachtdenkmal.22 Die vielen Bismarck-Denkmäler und -Türme, die bald nach dem Tod des Politikers errichtet wurden, weisen auf das Bewusstsein der Zeitgenossen hin, in einer historischen Zeit zu leben und auf die Praxis, schon die Gegenwart und die jüngste Vergangenheit zu historisieren und zu mythisieren.23 Geschichte wurde zum Politikum, zu etwas, mit dem sich Identitäten und Zugehörigkeiten manifestieren und Ausschlüsse produzieren ließen. Mit Geschichte ließen sich Machtverhältnisse legitimieren oder angreifen. Insbesondere die Nationalbewegung bediente sich in großem Maße der Geschichte, war eine nationaldeutsche Vergangenheit doch unabdingbarer Bestandteil des Konstrukts der deutschen Nation. Für die borussischen Historiker der postrevolutionären Generation war es klar, dass ihre historische Forschung genuin politisch und ein wichtiges Kampfmittel im Streben nach einem geeinten Nationalstaat war.24 Nach der Reichsgründung, als sich der größte Teil der Nationalbewegung am Ziel seines jahrzehntelangen Strebens sah, verlor das historische Argument in der Politik an Bedeutung. Doch auch noch um die Jahrhundertwende wurden politische, soziale und kulturelle Debatten vielfach mit historischer Argumentation geführt.25 Soziale Bewegungen vergewisserten sich ihrer eigenen Geschichte, so
20 Vgl. Potthast (2007), S. 26. 21 Crane, Susan A.: Collecting and Historical Consciousness in early Nineteenth Century Germany, Ithaca, NY: Cornell Univ. Press 2000, S. 19f. 22 Vgl. zu Denkmälern Nipperdey, Thomas: »Nationalidee und Nationaldenkmal im 19. Jahrhundert«, in: Historische Zeitschrift 206 (1968), S. 529-585. 23 Vgl. ebd., S. 578-582. 24 Vgl. Hardtwig, Wolfgang: »Von Preußens Aufgabe in Deutschland zu Deutschlands Aufgabe in der Welt. Liberalismus und borussianisches Geschichtsbild zwischen Revolution und Imperialismus«, in: Ders. (1990b), S. 103-160. 25 Vgl. ebd., S. 192.
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etwa die Frauenbewegung26 und die ArbeiterInnenbewegung.27 Doch auch die Regierenden bedienten sich historischer Bilder, um öffentlichkeitswirksame Politik zu betreiben. Bismarcks berühmter Ausspruch 1872 vor dem Reichstag »Nach Canossa gehen wir nicht« rekurrierte zur Legitimation antikatholischer Politik auf den mittelalterlichen Konflikt zwischen kirchlicher und weltlicher Herrschaft, und die ebenso berühmte »Hunnen-Rede« Wilhelms II. stellte die Deutschen in Tradition zur Eroberungskraft der Hunnen.28 Die deutsche Geschichtskulturlandschaft, das wurde in diesem Überblick deutlich, war äußerst vielseitig und eng mit der Entwicklung von Massenmedien verbunden. Mit der medialen Zugänglichkeit wuchs auch das Interesse aller Bevölkerungsschichten an Geschichte und so entwickelte sich ein breiter Markt für Populärhistorie. Daneben differenzierte sich die Fachwissenschaft zunehmend aus und durchlief Prozesse der Institutionalisierung. Nach diesem knappen Überblick über die Entwicklung geschichtskultureller Felder und Medien untersucht das folgende Kapitel das spezifische Medium der Familienzeitschrift im Hinblick auf dessen Position in der deutschen Geschichtskulturlandschaft.
26 Vgl. Korte, Barbara/Paletschek, Sylvia: »Blick zurück nach vorn. (Frauen-)Geschichte in feministischen Zeitschriften des 19. Jahrhunderts in Großbritannien und Deutschland«, in: Cheauré/Paletschek/Reusch (2013), S. 105-136. 27 Vgl. Berger, Stefan: »Professional and Popular Historians. 1800 – 1900 – 2000«, in: Korte/Paletschek (2012b), S. 13-30, hier S. 19. 28 Im Zuge des Boxeraufstands sagte Kaiser Wilhelm II. in einer Ansprache bei der Verabschiedung des Ostasiatischen Expeditionskorps 1900: »Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in der Ueberlieferung gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutscher in China auf eine solche Weise bekannt werden, daß es niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen auch nur scheel anzusehen!«, zit. in: Sösemann, Bernd: »Die sogenannte Hunnenrede Wilhelms II. Textkritische und interpretatorische Bemerkungen zur Ansprache des Kaisers vom 27. Juli 1900 in Bremerhaven«, in: Historische Zeitschrift 222 (1976), S. 342-358, hier S. 350.
3. Familienzeitschriften im 19. Jahrhundert
Familienzeitschriften entstanden in der zweiten Jahrhunderthälfte als ein Genre, das nicht nur als erste deutsche Massenpresse gilt, sondern auch das soziale, kulturelle und alltägliche Leben der Epoche von den 1850er Jahren bis zum Ersten Weltkrieg in hohem Maße sowohl prägen als auch widerspiegeln sollte. Die relevante gesellschaftliche Stellung der Zeitschriften wie auch ihre bunte Zusammensetzung aus verschiedensten fiktionalen und faktualen Inhalten macht sie zu einer äußerst fruchtbaren Quelle für kulturhistorische Forschungen aller Art – so auch für die Geschichtskultur, druckten doch Familienzeitschriften regelmäßig Artikel und Illustrationen mit historischer Thematik und agierten so als relevante Medien der deutschen Geschichtskulturlandschaft. Das folgende Kapitel widmet sich dem Genre Familienzeitschrift mit Hinblick auf seine Bedeutung als geschichtskultureller Akteur. Ich erläutere zunächst die technologischen Voraussetzungen, auf denen die massenhafte Produktion von Printmedien basierte, und richte den Blick dann auf das spezifische Genre der Familienzeitschrift in seiner Zusammensetzung und seiner historischen Entwicklung. Die fünf Zeitschriften, die das Quellenkorpus dieser Arbeit bilden, werden einzeln vorgestellt und schließlich die relevanten AkteurInnen der Wissensgenerierung präsentiertt: Die Verleger, die LeserInnen und die AutorInnen.
T ECHNOLOGISCHE V ORAUSSETZUNGEN DER E NTWICKLUNG DER M ASSENPRESSE Die mitteleuropäische Presselandschaft erfuhr im Lauf des 19. Jahrhunderts eine enorme Ausbreitung. Printmedien im Allgemeinen und Presseprodukte im Besonderen konnten immer kostengünstiger hergestellt werden und die Auflagen vervielfachten sich. In der zweiten Jahrhunderthälfte sind die Anfänge der Massenpresse datiert. Diese Entwicklungen standen in komplexen Austausch- und
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Wechselbeziehungen mit gesellschaftlichen Wandlungsprozessen, und sind daher im Zusammenhang mit der Herausbildung einer industrialisierten Klassengesellschaft zu denken. Voraussetzungen für die Entstehung der Massenmedien in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts waren sozioökonomische Prozesse wie die klassenübergreifende Verbreitung von Lesefähigkeit und Bildung, der allgemeine Anstieg von Reallöhnen und Lebensstandard sowie die Verkürzung des Arbeitstags, daneben aber zu großen Anteilen auch technische Neuerungen im Bereich des Druckwesens und der Ausbau des Transportwesens. Die Einführung der Eisenbahn in den deutschen Staaten ab 1835, der Ausbau des Schienennetzes und die Vereinheitlichung des deutschen Transportwesens seit den 1860ern wirkten sich direkt auf die Presselandschaft aus. Druckereien konnten ihre Materialien durch die neue Infrastruktur kostengünstiger und unkomplizierter beziehen und die Printerzeugnisse schnell und einfach verbreiten. Zeitungen und Zeitschriften konnten nun noch am Tag ihres Erscheinens auch in weniger zentralen Gegenden verkauft werden.1 Bücher und sonstige Druckerzeugnisse waren noch im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts Luxusgüter, die sich nur die Wenigsten leisten konnten und die in entsprechend kleinen Auflagen gedruckt wurden. Die in den 1820er Jahren eingeführte dampfbetriebene Druckerpresse beschleunigte und verbilligte den Druckvorgang um ein Vielfaches.2 Wo zuvor die Lettern manuell gesetzt wurden, nach jeder bedruckten Seite das Papier ausgetauscht und die Druckplatten neu mit Druckerschwärze bestrichen werden mussten – Vorgänge, für die hoch spezialisierte und gut bezahlte Handwerker eingesetzt wurden –, konnten nun angelernte Arbeiter die Maschinen bedienen, die mit einem Zylinder statt mit Platten arbeiteten und mit weitaus höherer Frequenz Seiten bedrucken. Um die Jahrhundertwende waren nur noch drei Arbeiter zur Bedienung einer Druckmaschine nötig.3 Die 1873 erstmals in Europa verwendete Rotationspresse ermöglichte es, Papier von der Rolle prinzipiell endlos zu bedrucken, ohne dass neue
1
Vgl. Fyfe, Aileen: Steam-powered Knowledge. William Chambers and the Business of Publishing 1820-1860, Chicago: University of Chicago Press 2012, S. 98.
2
Vgl. dazu im Folgenden ebd., S. 32-38; Rarisch, Ilsedore: Industrialisierung und Literatur. Buchproduktion, Verlagswesen und Buchhandel in Deutschland im 19. Jahrhundert in ihrem statistischen Zusammenhang, Berlin: Colloquium Verlag 1976, S. 61-63.
3
Vgl. Kostenvoranschlag der Firma König & Bauer für eine Rotationsdruckmaschine zum Druck des Daheim, Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 210,040/Velhagen und Klasing, Mappe 0596.
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Bögen eingelegt werden mussten.4 Die 1872 eingeführte Setzmaschine beschleunigte zudem die Arbeit des Setzens um das Dreifache. Die neuen Drucktechniken wurden ergänzt durch maschinelle Herstellung von Papier, Lettern und Stereotypen-Platten sowie durch maschinelle Bindetechniken. Die Mechanisierung des Setzens, Druckens und Bindens sparte beträchtliche Teile der Lohnkosten und wurde daher sehr rasch übernommen.5 Aileen Fyfe betont allerdings, neue Drucktechnologien seien nicht allein verantwortlich für die enorme Verbilligung von Printmedien gewesen, vielmehr habe diese schon in den ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts eingesetzt: »It is all too easy to assume that cheap prices were the inevitable consequence of great inventions, so it is worth remembering that the prices of reprinted out-of-copyright books had been falling since the late eighteenth century; and that religious charities and political radicals had been producing cheap print (legally or illegally) since the 1810s. Cheap print did not require steam printing or stereotyping – but those new techniques made things much easier for publishers of cheap print.«6
Auch die technischen Verfahren der Bildreproduktion wurden im Lauf des 19. Jahrhunderts immer weiter optimiert, so dass der Druck von Bildern einfacher, kostengünstiger und qualitativ hochwertiger wurde. Der Kunstdruck entwickelte sich seit Mitte des Jahrhunderts zu einem eigenen Markt; Kunstverlage verkauften einzelne Reproduktionen von Bildern, und es entstanden eigene Zeitschriften, die Gemäldereproduktionen theoretisch für die ganze Bevölkerung zugänglich machten.7 Damit verbunden war die Entwicklung eines ganzen Wirtschafts-
4
Der Kostenvoranschlag für eine Rotationsdruckmaschine zum Druck des Daheim 1908 rechnete vor, die Druckmaschine könne 4000 Doppelbögen in der Stunde drucken (ein Doppelbogen entsprach 16 Seiten). So seien bei einer Auflage von 50.000 Exemplaren fünf Tage nötig, um die gesamte Auflage zu drucken. Vgl. Kostenvoranschlag der Firma König & Bauer für eine Rotationsdruckmaschine zum Druck des Daheim, Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 210,040/Velhagen und Klasing, Mappe 0596.
5
Der höchste Kostenfaktor vor der Mechanisierung des Druckvorgangs war das Papier (40-45%), doch ein großer Teil der Produktionskosten (30-35%) ging an die Setzer, die spezialisierte und hochbezahlte Handwerker waren, sowie an die Arbeiter an der Druckerpresse (20-30%), vgl. Fyfe (2012), S. 32.
6
Ebd., S. 38.
7
Vgl. Lauterbach, Iris: Die Kunst für Alle (1885-1944). Zur Kunstpublizistik vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus, München: Zentralinsitut für Kunstgeschichte 2010.
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zweiges für Herstellung und Vertrieb von Gemäldevorlagen.8 Auch für Fotografie entwickelte sich Ende des Jahrhunderts ein Markt: In den 1890er Jahren starteten mit dem Aufkommen des Fotojournalismus erste kommerzielle Bildagenturen, die Bilder an Zeitungen und Zeitschriften verkauften,9 und beispielsweise als Postkarte10 trat die Fotografie über Periodika hinaus ihren Siegeszug als neues Massenmedium an. In der Anfangszeit der deutschen Massenpresse wurden oftmals Druckstöcke aus dem Ausland, insbesondere aus Großbritannien, importiert.11 Seit den 1850er Jahren wurde die Reproduktion von Bildern verstärkt auch in deutschen Druckereien betrieben. Die gängigste Methode der Bildreproduktion war zunächst die Xylographie, ein Verfahren, bei dem Holzstiche im Hochdruckverfahren hergestellt wurden. Die Zwischenräume zwischen den zu druckenden Teilen der Holzplatte wurden abgetragen, so dass die abzudruckenden Teile der Druckvorlage erhöht waren und mit Druckerschwärze bestrichen werden konnten. Hier war durch Schraffuren, Kreuzlagen und Punkte, die mit einem Stichel gemacht wurden, eine sehr feine Auflösung der Illustration möglich, die zuvor auf den Druckstock gezeichnet worden war.12 Dieses Verfahren war seit Ende des 18. und das gesamte 19. Jahrhundert hindurch gängig.13 Um die Jahrhundertwende löste das neue chemische Verfahren der Autotypie den Holzstich ab. Das autotypische Verfahren stellte eine Vorlage aus Metall her und löste durch ein Rasterverfahren das Bild in viele Punkte, Schattierungen und Halbtöne auf, die in der Reproduktion eine größere Genauigkeit erzielten. Das Originalbild wurde dabei auf eine lichtempfindliche Metallplatte kopiert. Die zu druckenden Teile wurden bei der Belichtung gehärtet, die nicht zu druckenden Teile mit Säure tiefer geätzt.14 Dieses Verfahren ermöglichte erstmals auch eine qualitativ hochwertige
8
Vgl. Wildmeister (1998), S. 44.
9
Vgl. Jäger, Jens: Fotografie und Geschichte, Frankfurt/Main: Campus 2009a, S. 123.
10 Vgl. Walter, Karin: Postkarte und Fotografie. Studien zur Massenbild-Produktion, Würzburg 1994. 11 Vgl. Wildmeister (1998), S. 45. 12 Vgl. ebd., S. 45. 13 Vgl. ebd., S. 44f. 14 Das technische Verfahren der Rasterung beschreibt Dorothea Peters anschaulich: »Das Verfahren war wegen der Schwierigkeiten bei der Rasterherstellung sehr umständlich und erforderte drei bis vier Arbeitsgänge: Der von einer linierten Kupferplatte gewonnene Papierraster mußte als erstes in ein transparentes Negativ verwandelt werden; wurde dieser Raster nun gleichzeitig mit einem vom Original hergestellten transparenten Positiv belichtet, erhielt man ein gerastertes Negativ. Drehte man die
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Reproduktion von Fotografien, die nun nicht mehr auf den Druckstock abgezeichnet werden mussten, sondern nun direkt auf die Druckvorlage belichtet wurden.15 Auch Gemälde wurden nun häufig fotografisch reproduziert, indem sie abfotografiert und mit dem autotypischen Verfahren bearbeitet wurden. Auf diese Weise half das neue Medium der Fotografie dem älteren Medium der Malerei zu einer weiteren und originalgetreueren Verbreitung, als es durch Holzstichreproduktion möglich war. Die technologischen Innovationen von Druck und Infrastruktur waren für die Entwicklung der gesamten Presse (und allgemein für die Produktion von Printmedien) relevant, so dass seit Mitte des 19. Jahrhunderts ein wahrer Boom an Gründungen von Periodika einsetzte. Zu den populärsten Presseprodukten gehörten mindestens bis zum Ersten Weltkrieg Familienzeitschriften, deren spezifischen Aufbau und deren historische Entwicklung das nächste Kapitel erläutert.
D AS G ENRE F AMILIENZEITSCHRIFT Gestützt durch die technologischen Voraussetzungen entwickelten sich ab der Mitte des Jahrhunderts illustrierte Familienzeitschriften als erste Massenpresse. Ihre Attraktivität speiste sich aus ihrer Kombination aus Romanen, Sachtexten und Illustrationen. Kernstück und Publikumsmagnet sämtlicher Familienzeitschriften waren Fortsetzungsromane; meist fanden sich jeweils zwei laufende Romane in jeder Ausgabe und nahmen etwa ein Drittel bis die Hälfte des Platzes der meist zwischen 12 und 20 Seiten umfassenden Zeitschriften ein, die aber auch nur acht oder bis zu 32 Seiten stark sein konnten. Viele beliebte AutorInnen
durchsichtige Lineatur-Rasterplatte nun während der fotografischen Belichtung nach der halben Expositionszeit um 90 Grad, so ließen sich gekreuzte Linien erzielen. Das Rasternegativ wurde dann auf eine lichtempfindlich beschichtete Zink- oder Kupferplatte kopiert und durch den bekannten Prozeß der Zinkätzung in ein HochdruckCliché umgewandelt, indem das blanke Metall rund um den durch die Belichtung säurefest gewordenen Rasterpunkt weggeätzt wurde. Mit Hilfe des Rasters wird das Bild also in feine Linien oder Punkte zerlegt, die in den dunklen Partien so dicht nebeneinander liegen, daß sie fast ineinanderfließen, während sich in den Lichtern nur wenige spitze Punkte finden.« Peters, Dorothea: »Ein Bild sagt mehr als 1000 Punkte. Zu Geschichte, Technik und Ästhetik der Autotypie«, in: Rundbrief Fotografie, Sonderheft 4: Fotografie gedruckt (1997), S. 23-30, hier S. 25. 15 Vgl. Weise, Bernd: »Reproduktionstechnik und Medienwechsel in der Presse«, in: Rundbrief Fotografie Sonderheft 4: Fotografie gedruckt (1997), S. 5-12, hier S. 6.
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ihrer Zeit publizierten hier Liebes- und Abenteuergeschichten, Gesellschaftsund Historienromane oder Kriminalgeschichten. Gerade vermögensschwächere Schichten, die sich keine oder nur wenige Bücher leisten konnten, erhielten so die Möglichkeit, Romane zu lesen.16 Gleichzeitig bewirkte die Serialisierung der Literatur eine enge Bindung von LeserInnen an das Blatt, da, wer einen angefangenen Roman oder Artikel fertig lesen wollte, auch die nächste Ausgabe bezog.17 Das nach Romanen wahrscheinlich wichtigste Element der Zeitschriften waren Illustrationen – vorwiegend Genre- und Historienmalerei, mit der Jahrhundertwende zunehmend auch Fotografien. Visualität war konstitutiver Bestandteil des Genres, was schon in der Bezeichnung »Illustrierte Familienzeitschrift« und in den jeweiligen Untertiteln wie etwa Daheim. Ein Familienblatt mit Illustrationen oder Sonntags-Zeitung fürs Deutsche Haus. Illustrierte Familien- und Frauenzeitung deutlich wurde. Die vielen Illustrationen und die neue Visualität des Medienkonsums waren Mitte des Jahrhunderts ein Novum, das für viele RezipientInnen den Reiz von Familienzeitschriften ausmachte. Die Sehgewohnheiten waren andere als heutzutage, wo die Menschen eine Flut an Visualisierungen gewöhnt sind. Das Anschauen von Bildern gehörte bis Mitte des Jahrhunderts nicht zum alltäglichen Medienkonsum, da sich für die breite Masse der Bevölkerung nur wenig Gelegenheiten dazu boten. Umso reizvoller müssen Illustrationen auf die Menschen gewirkt haben, die eine Zeitschrift zur Hand nahmen und darin vertraute wie fremde Motive in detailreichen, lebendig und realistisch wirkenden Bildern anschauen konnten. Familienzeitschriften boten eine kostengünstige Möglichkeit, Bilder anzuschauen, zu denen sonst nur ein erschwerter Zugang möglich war. Illustrierte Familienzeitschriften ermöglichten nicht nur jedermann, Malerei und Fotografie zu betrachten, sondern schufen durch ihre Druckgrafiken auch Einblicke in fremde Welten – sowohl in fremde Länder und Kontinente,18 als auch in die Vergangenheit. So lieferten illustrierte Zeitschriften
16 Vgl. Gebhardt (1983), S. 49-50. 17 Vgl. Beetham (1989), S. 97. 18 Vgl. Gebhardt, Hartwig: »Kollektive Erlebnisse. Zum Anteil der illustrierten Zeitschriften im 19. Jahrhundert an der Erfahrung des Fremden«, in: Ina-Maria Greverus/Konrad Köstlin/Heinz Schilling (Hg.), Kulturkontakt, Kulturkonflikt. Zur Erfahrung des Fremden, Frankfurt/Main: Inst. für Kulturanthropologie u. Europ. Ethnologie 1987, S. 517-544; für den Zeitraum 1919-1939 vgl. Stahr, Henrick: Fotojournalismus zwischen Exotismus und Rassismus. Darstellungen von Schwarzen und Indianern in Foto-Text-Artikeln deutscher Wochenillustrierter 1919-1939, Hamburg: Kovac 2004.
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einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Popularisierung und zur massenhaften Reproduktion von Bildern. Der dritte Bestandteil der Zeitschriften waren faktuale Artikel, die eine breite Spanne von Themen behandelten: Reiseberichte, neueste technische Entwicklungen und naturwissenschaftliche Erkenntnisse, Berichte über herausragende Persönlichkeiten des politischen und gesellschaftlichen Lebens oder Tipps zu Haushaltsführung und Mode waren feste Bestandteile des Programms der Familienblätter. Mit dieser Mischung, die verschiedenste Bereiche allgemeinen Wissens in einem Genre zu versammeln trachtete – von Ulrich Kinzel auch als »diffuser Enzyklopädismus«19 bezeichnet – trugen die Zeitschriften maßgeblich zur Popularisierung von Wissenschaften bei.20 Vor allem die Vermittlung naturwissenschaftlichen Wissens war Mitte des Jahrhunderts ein Novum und eine Grundlage des großen Erfolgs von Familienzeitschriften. Doch auch Geschichtsschreibung nahm eine wichtige Rolle ein: In fast jeder der wöchentlich erscheinenden Ausgaben fanden sich ein oder mehrere Artikel über historische Themen. Die letzten Seiten jeder Ausgabe füllten vermischte Rubriken mit kleineren Nachrichten, Rätselseiten, Frauen- oder Kinderbeilagen, Tipps zur Haushaltsführung, Modeseiten, Buchbesprechungen, LeserInnenbriefen sowie Inseraten und Werbeanzeigen, über die sich die Zeitschriften mehr und mehr finanzierten. Die meisten Familienzeitschriften setzten an den Anfang oder das Ende jeder Ausgabe außerdem eine tagesaktuelle Rubrik, die allerdings weniger politische Informationen lieferte als von Reisen und Hochzeiten des Adels oder über Jubiläumsund sonstige Feierlichkeiten berichtete. Die Mischung aus Romanen, allgemeinbildenden Sachtexten, Illustrationen, praktischen Tipps und politikferner Tagesaktualität machte den spezifischen Charakter des Genres Familienzeitschrift und seine Funktion der Beobachtung der eigenen wie fremder Kulturen aus.21 In der inhaltlichen Zusammensetzung spiegelte sich die Intention der Verleger und Redaktionen, zugleich zu unterhalten wie zu belehren, einen Bildungsauftrag mit kurzweiligem Lesevergnügen für die ganze Familie zu verbinden. Vor allem der erste, von Romanen dominierte Teil machte die Popularität der Zeitschriften aus und begründete ihre Beliebtheit als Unterhaltungsmedium. Der zweite Teil war bildungsorientierter, hatte aber
19 Kinzel, Ulrich: »Die Zeitschrift und die Wiederbelebung der Ökonomik. Zur ›Bildungspresse‹ im 19. Jahrhundert«, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 67 (1993), S. 669-716, hier S. 671. 20 Vgl. Graf (2003), S. 18f. 21 Vgl. Requate, Jörg: »Kennzeichen der deutschen Mediengesellschaft des 19. Jahrhunderts«, in: Ders. (2009b), S. 30-42, hier S. 39.
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gleichzeitig durch die einfache Verständlichkeit, mit der zum Teil komplexe wissenschaftliche Inhalte dargestellt wurden, auch populären Charakter. Die Zweiteilung in Romane und Sachtexte, in Fiktionalität und Faktualität verlieh Familienzeitschriften ihren spezifischen Charakter als Bildungs- wie als Unterhaltungsmedium und trug zu ihrer weiten Verbreitung bei.
H ISTORISCHE E NTWICKLUNG DES G ENRES IM K ONTEXT DER P RESSELANDSCHAFT In Form von Moralischen Wochenschriften und Pfennig-Magazinen22 existierten schon seit den 1790er Jahren Vorläufer von Familienzeitschriften.23 Doch die Blütezeit der Familienzeitschriften neuen Typs, die sich durch den Anspruch auszeichneten, eine Zeitschrift »für alle«24 zu sein, begann erst mit der Gründung der Gartenlaube 1853. Diese konnte vier Jahre nach Gründung bereits eine Auflage von 60.000 Exemplaren vorweisen, die sie bis 1875 auf 382.000 steigern konnte. Ab Mitte der 1880er Jahre ging die Auflage zurück und betrug 1906 nur noch 100.000 Exemplare.25 Da man bei jedem gekauften Exemplar von weitaus mehr als nur einem Leser beziehungsweise einer Leserin ausgehen kann (so las etwa ein ganzer Haushalt gemeinsam ein Exemplar, Zeitschriften wurden in Kaffeehäusern ausgelegt, in Leihbibliotheken ausgeliehen oder in Lesezirkeln weitergereicht), war der tatsächliche RezipientInnenkreis weit größer als die Abonnementszahlen nahelegen. Der durchschlagende Anfangserfolg der Gartenlaube ermutigte andere Verlagshäuser, eigene Familienzeitschriften herauszugeben, auch als direkte Antwort auf und Konkurrenz zur Gartenlaube, die konservativen Verlegern zu libe-
22 Vgl. Gebhardt, Hartwig: »Die Pfennig-Magazine und ihre Bilder. Zur Geschichte und Funktion eines illustrierten Massenmediums in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts«, in: Rolf W. Brednich/Andreas Hartmann (Hg.), Populäre Bildmedien, Göttingen: Schmerse 1989, S. 19-42. 23 Eva-Annemarie Kirschstein datiert die ersten Unterhaltungszeitschriften auf 1790 und gibt an, bis 1853 seien 71 solcher Zeitschriften auf den deutschen Markt gekommen. Vgl. Kirschstein (1937), S. 148-164. 24 Vgl. Barth (1975), S. 123; vgl. allgemein zu deutschen Familienzeitschriften die sehr ausführlichen Darstellungen Graf (2003); Gebhardt (1983); Barth (1975). Alle drei gehen sowohl auf das Genre Familienzeitschrift allgemein als auch auf einzelne wichtige Blätter ein. 25 Vgl. Barth (1975), S. 184-187.
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ral und sozialdemokratischen Verlagen zu bürgerlich schien. Vor allem das Daheim, 1864 auf den Markt gebracht, war als protestantisch-konservative Gegengründung zur Gartenlaube konzipiert; aber auch die Neue Welt, herausgegeben ab 1876, erschien als sozialdemokratische Alternative zu der auch in ArbeiterInnenkreisen vielgelesenen Gartenlaube. Dieter Barth zählt in seiner Bibliographie deutschsprachiger Familienblätter und familienblattähnlicher Zeitschriften für die Zeit von 1850 bis 1913 229 Neugründungen, viele davon erschienen nur in kleiner Auflage oder waren von kurzer Erscheinungsdauer.26 Unangefochtene Führerin auf dem Markt blieb auch nach ihrem Auflagenrückgang noch lange die Gartenlaube – das Daheim und die Alte und Neue Welt kamen auch in ihren besten Zeiten mit Auflagen bis 80.000 Exemplaren nicht an deren Beliebtheit heran.27 Erst die 1898 gegründete Sonntags-Zeitung überholte mit 130.000 Exemplaren die damalige Auflagenstärke der Gartenlaube.28 Die höchste Auflage einer Familienzeitschrift konnte jedoch die sozialdemokratische Neue Welt durch ihren Charakter als Wochenendbeilage diverser Tageszeitungen seit 1892 erreichen.29 Ihre 650.000 Exemplare sind allerdings – eben durch den Beilagencharakter – noch kein Indikator für die tatsächliche Beliebtheit der Zeitschrift. Um die Jahrhundertwende erlebte der deutsche Zeitschriftenmarkt einen Umbruch, der auch die Familienzeitschriften berührte. Hand in Hand mit den gewaltigen gesellschaftlichen Umbrüchen durch die Hochindustrialisierung gingen auch Veränderungen auf dem Pressemarkt – die Medienkonsumption wurde stärker differenziert und visualisiert, ihre Produktion ökonomisiert. Familienzeitschriften definierten sich über einen universalistischen Anspruch auf den Ebenen des Inhalts wie der Rezeption. Zum einen sollten sie eine Zeitschrift für alle Teile der Bevölkerung sein, zum anderen mit ihren Inhalten sowohl unterhalten als auch belehren und dabei alle relevanten Sparten der Gesellschaft und des Allgemeinwissens abdecken. Dieser Universalismus wurde nun herausgefordert durch eine zunehmende Differenzierung und Segmentierung des Zeitschriftenmarkts, die in den 1870er Jahren begannen. Unterhaltung und Belehrung wurden nun getrennt und die diversen Inhalte, die in Familienzeitschriften noch zusammen in einem Heft standen, verlagerten sich auf verschiedene Blätter.30 Es entstanden
26 Vgl. ebd., S. 185-199. 27 Vgl. Graf (2003), S. 23f. 28 Vgl. ebd., S. 45. 29 Vgl. Fricke, Dieter: Handbuch zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 18691917. Bd. 2, Berlin: Dietz 1987, S. 590. 30 Vgl. Graf (2003), S. 17.
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nun verstärkt Frauen-, Kinder- und Jugendzeitschriften, Radfahrer- und Automobilistenzeitungen, Blätter für Mode wie für Alpinismus, Sammlerzeitschriften, populäre naturwissenschaftliche Periodika oder Organe für Hundehalter, um nur einige Beispiele zu nennen.31 Diese Ausdifferenzierung des Zeitschriftenmarkts war gleichzeitig Spiegel wie Motor einer sich ausdifferenzierenden Konsumgesellschaft, in der Presseerzeugnisse der Logik und den Bewegungen des Marktes unterworfen waren. Neben dieser neuen Segmentierung des Pressemarktes entwickelte sich zudem um 1900 mit der Illustrierten ein neues Genre. Illustrierte eroberten den Markt seit der Jahrhundertwende äußerst rasant und entwickelten eine neue, visuellere Form der Informationsvermittlung.32 In diesen Heften nahmen Fotos den größten Teil des Platzes ein, Texte dienten vorrangig zur Bildergänzung und -erläuterung. Dem Anspruch der Allgemeinbildung, den die Familienzeitschriften transportierten, setzte man hier Tagesaktualität entgegen. Die LeserInnen konnten aktuelle gesellschaftliche, kulturelle und politische Entwicklungen anhand von Fotos verfolgen. Die Entwicklung der Fotoreproduktionstechnik wälzte den gesamten Pressemarkt um, brachten doch Fotografien neue Möglichkeiten einer aktuellen und noch dazu äußerst authentisch scheinenden Bildberichterstattung.33 Hand in Hand mit den beweglichen Bildern des Kinos schufen die Illustrierten neue, visuellere und schnelllebigere Formen der Medienkonsumption. In diesem neuen Marktumfeld mussten sich die Familienzeitschriften älteren Typs, in denen Bild und Text noch gleichwertig waren, behaupten. Auch sie nutzten die neuen Möglichkeiten der Fotografie und teilweise auch der Kolorierung und machten Transformationen hin zu einer größeren Tagesaktualität durch, indem sie dem bisherigen inhaltlichen Programm eine tagesaktuelle und reich mit Fotos bebilderte Rubrik voranstellten, in der politische, kulturelle und gesellschaftliche Neuigkeiten gebracht wurden. Fotos standen in diesen Beilagen im Fokus der Berichterstattung, der Text schrumpfte auf wenige erläuternde Zeilen. Im Hauptteil allerdings blieben die meisten Familienzeitschriften ihrem ursprünglichen Programm von Unterhaltung und Bildung und ihrem traditionellen Text-BildVerhältnis weitgehend treu. Nicht nur Presseformate befanden sich zur Jahrhundertwende im Umbruch, sondern auch die Verlagslandschaft. Wenige große Verlagskonzerne verdrängten
31 Vgl. Koszyk (1966), S. 300f. 32 Vgl. Graf (2003), S. 64-75. 33 Zur Verwendung von Fotografie in der illustrierten Massenpresse vgl. Jäger (2009a), S. 120-153; Stahr (2004); Weise (1997); Kasper, Josef: Belichtung und Wahrheit. Bildreportage von der Gartenlaube bis zum Stern, Frankfurt/Main: Campus 1979.
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nach und nach die vielen kleineren Unternehmen34 und die in hohen Auflagen gedruckten Generalanzeiger, die kostenlos verteilt wurden und sich ausschließlich über Anzeigen finanzierten, stellten eine ernstzunehmende Konkurrenz für die traditionelle, über Abonnements vertriebene Presse dar.35 Erst jetzt formierte sich vollends die Massenkultur, die prägend für das 20. Jahrhundert wurde. Die Umbrüche des Pressemarkts läuteten spätestens ab Beginn des Ersten Weltkriegs das Ende der Familienzeitschriften ein. Einige der Blätter konnten sich zwar bis zum Zweiten Weltkrieg halten, doch der Auflagenrückgang, der sich schon seit der Jahrhundertwende abzeichnete, war nicht mehr aufzuhalten. Das Konzept Familienzeitschrift war angesichts der gesellschaftlichen und medialen Transformationen nicht mehr zeitgemäß, hatte sich ausgelaufen und hielt dem Konkurrenzdruck auf dem Pressemarkt immer weniger stand. Die Analyse der Geschichtsdarstellungen in Familienzeitschriften vollzieht sich vor dem Kontext dieses gesellschaftlichen und medialen Umbruchs. Familienzeitschriften verbanden mit ihrem Konzept neue Formen medialer Massenkultur mit älteren Formen umfassender Allgemeinbildung und stehen somit exemplarisch für ein in Veränderung befindliches mediales Phänomen innerhalb einer sich wandelnden Gesellschaft.
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Die fünf untersuchten Zeitschriften wurden erstens nach Auflagenhöhe ausgewählt, zweitens um ein möglichst breites Feld politischer und konfessioneller Verortung abzudecken, und drittens um den Umbruch des Genres zur Jahrhundertwende abzubilden. Marktführerin bis zum Ersten Weltkrieg war die ursprünglich nationalliberale, später konservativere Gartenlaube (1853-1937); das protestantische Daheim (1864-1944) wurde als religiöser und konservativer Gegenentwurf zur Gartenlaube ins Leben gerufen. Der Großteil der deutschen Familienzeitschriften war säkular oder protestantisch geprägt; dem stelle ich mit der Alten und Neuen Welt (1867-1945) die lange Zeit auflagenstärkste katholische Zeitschrift gegenüber, die, obgleich in der Schweiz herausgegeben, sich beim deutschen katholischen Publikum großer Beliebtheit erfreute. Weniger konfessionell denn politisch verortete sich die Neue Welt (1876-1886, 18921919), die als sozialdemokratische Alternative zur konservativen und liberalen Familienzeitschriftenlandschaft auf den Markt gebracht wurde. Einen neuen Ty-
34 Vgl. Koszyk (1966), S. 276-295. 35 Vgl. ebd., S. 267-275.
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pus von Zeitschrift schließlich verkörperte die Frauenzeitschrift SonntagsZeitung (1898-1919), die von Format und Inhalten her am Genre der Familienzeitschrift orientiert war, jedoch mit ihrem geschlechtlich differenzierten Zielpublikum an der Schwelle zwischen dem alten Typus der Familienzeitschrift und dem neuen der differenzierteren Spartenzeitschrift stand. Die Gartenlaube Die Gartenlaube. Illustrirtes Familienblatt, 1853 vom Verleger Ernst Keil gegründet und bis 193736 herausgegeben, war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die auflagenstärkste und beliebteste Zeitschrift im deutschsprachigen Raum.37 Keil, ein politisch aktiver Liberaler und ehemaliger 1848er Revolutionär, sah die mangelnde Aufklärung der mittleren und unteren sozialen Schichten als Hauptursache für das Scheitern der Revolution und wollte durch Bildung ein (staats-)bürgerliches und demokratisches Bewusstsein seiner LeserInnen erzielen.38 Die Zielgruppe des mittleren und kleinen Bürgertums deckt sich mit der Absicht des Herausgebers, ein Medium der ›Volksaufklärung‹ zu schaffen und wissenschaftliche und politische Aufklärung nicht nur für ein ohnehin gebildetes Publikum, sondern für alle Schichten des Bürgertums anzubieten.39 Als liberaler Verleger häufig mit Zensur und Polizei konfrontiert, konzipierte Keil die Zeitschrift als Verleger, Herausgeber und Chefredakteur in einer Person vordergründig unpolitisch: »Fern von aller raisonnierenden Politik und allem Meinungsstreit in Religions- und andern Sachen«40 solle seine Zeitschrift sein, schrieb er im »Grußwort des Herausgebers« in der ersten Ausgabe von 1853. Dennoch hatte die Gartenlaube von Anfang an eine klar politische Ausrichtung: Die Zeitschrift propagierte neben anderen liberalen Zielen auch kontinuierlich die deutsche Nationalidee. Während diese in den 1850ern und 1860ern noch eine oppositionelle Haltung ausdrückte, schwenkte die Redaktion der Gartenlaube spätestens mit dem Deutsch-Französischen Krieg auf die Bismarcksche Politik ein und wurde somit zu einem wichtigen Faktor der inneren Reichsgründung.41 Nach dem Tod Keils 1878 und der Übernahme der Gartenlaube durch den Stuttgarter
36 Die Folgezeitschrift Die neue Gartenlaube wurde 1938-1944 herausgegeben. 37 Vgl. zur Geschichte der Gartenlaube Barth (1975), S. 165-214; Graf (2003), S. 19. 38 Vgl. Koch (2003), S. 119-122. 39 Vgl. Obenaus, Sibylle: Literarische und politische Zeitschriften 1840-1880, Stuttgart: Metzler 1987, S. 21. 40 Keil, Ernst, Grußwort des Herausgebers, in: GL 1853, Nr. 1, Titelblatt. 41 Vgl. Koch (2003), S. 175-224.
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Verleger Adolf Kröner 1884 näherte sich die Zeitschrift in ihrer politischen Ausrichtung immer weiter der Regierungspolitik an.42 Der Verlag der Gebrüder Kröner war ein beständig wachsendes Unternehmen, das fiktionale Literatur, aber auch Geschichtswerke verlegte und sich seit der Übernahme der Gartenlaube auch auf illustrierte Zeitschriften spezialisierte. Kröner, mehr Verlagsmanager denn Idealist Keilscher Prägung, förderte vor allem moderne zeitgenössische Literatur und konnte bekannte ErzählerInnen für das Blatt gewinnen. Zur wirtschaftlichen Absicherung wandelte er den Verlag 1890 in eine Aktiengesellschaft um. 1903 kaufte der rechtsnationale Verleger August Scherl die Gartenlaube und reihte sie in sein großes Verlagsimperium ein, in dem die Zeitschrift bis zu ihrer Einstellung verblieb.43 Das mit Anzeigenteil bis zu 30 Seiten starke Blatt gliederte sich in einen Hauptteil aus Romanen und Sachartikeln, dem die Rubrik »Blätter und Blüthen« mit vermischten kleineren Texten folgte. 1904 erschien erstmals die Beilage Die Welt der Frau, die sich als moderner »Ratgeber der Damenwelt«44 verstand und Mode, Haushalt und Erziehung, aber auch politische und historische Themen behandelte. Mit der Kinder-Gartenlaube erschien seit 1886 eine Beilage für Kinder, die 1892 durch die Jugend-Gartenlaube ersetzt wurde. Wie alle hier untersuchten Zeitschriften verstand sich die Gartenlaube als überregionales Medium.45 Neben der deutschsprachigen LeserInnenschaft in Europa erreichte sie, wie auch andere Familienzeitschriften, deutsche AuswanderInnen, vor allem in den USA.46 Die Gartenlaube war nicht nur die Familienzeitschrift mit der größten Auflage, sondern wurde, mehr als die anderen hier untersuchten Blätter, tatsächlich in allen sozialen Schichten und Milieus gelesen, wenn auch der Hauptteil der LeserInnen im kleinen bis mittleren Bürgertum zu vermuten ist. Die Zeitschrift war nicht konfessionell gebunden und bediente trotz ihrer zunächst klar liberalen Ausrichtung vermutlich auch nicht liberal eingestellte Teile der Bevölkerung. Von links wie von rechts existieren diverse Kla-
42 Vgl. zur Entwicklung der Gartenlaube unter Kröner: Barth (1975), S. 194-200. 43 Vgl. Treude, Burkhard: »August Hugo Friedrich Scherl (1849-1921)«, in: HeinzDietrich Fischer (Hg.), Deutsche Presseverleger des 18. bis 20. Jahrhunderts, Pullach bei München: Verlag Dokumentation 1975, S. 232-239. 44 Anzeige für die Welt der Frau, in: GL 1911, erste Seite (nicht nummeriert). 45 Vgl. Zaumseil (2007), S. 27. 46 Vgl. Keil, Ernst, Erklärung, in: GL 1864, S. 240.
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gen über den enormen Einfluss der Gartenlaube, die Aufschluss darüber geben, dass diese Zeitschrift sich in verschiedensten Kreisen Beliebtheit erfreute.47 Das Daheim Die Bielefelder Verleger August Velhagen und August Klasing gründeten 1864 die protestantisch-konservative Zeitschrift Daheim. Ein deutsches Familienblatt mit Illustrationen, die bis zu ihrer Vereinigung mit der Zeitschrift Welt und Haus 1943 unter diesem Namen existierte und 1944 eingestellt wurde. Das Verlagshaus Velhagen und Klasing gehörte von seiner Gründung 1835 bis zur Jahrhundertwende zu den größten privaten Verlagsunternehmen im deutschen Sprachraum.48 Neben den Zeitschriften Daheim und Velhagen und Klasings Monatshefte machte der Verlag sein Hauptgeschäft mit christlichen Schriften, Schulbüchern und populärwissenschaftlichen Monographien. Die Verleger konzipierten das Daheim als christliche und konservative Alternative zur Gartenlaube – abgesehen von der politischen Ausrichtung nahmen sie sich das populäre Familienblatt jedoch zum Vorbild. Klasing schrieb 1862 an seinen Sohn, er wolle »eine illustrierte Zeitschrift heraus[]geben in der Art der ›Gartenlaube‹, aber insofern ein Gegensatz zu ihr und ihren Schwestern, als sie eben auf christlicher Weltanschauung beruhen soll. Nicht aber etwa in erbaulichem Tone und entsprechender Tendenziösität soll sie gehalten sein, sondern auch eben belletristisch wie die anderen [...] ein Familienblatt für die deutsche Familie, in der zwar aller Schmuck menschlicher Bildung, aber auch die Zucht christlicher Gesittung wohnt.«49
Im Aufbau unterschied sich das Daheim nur wenig von der Gartenlaube und anderen illustrierten Familienzeitschriften. Unterschiede in der thematischen Gewichtung lagen vor allem darin, dass es religiösen Themen in Text und Bild mehr Platz einräumte. Neben der tagesaktuellen Rundschau »Aus der Zeit – Für die Zeit« und dem Hauptteil umfasste die Zeitschrift diverse Beilagen, die einander abwechselten: das Sammler-Daheim, das Frauen-Daheim und eine Beila-
47 Vgl. Barth (1975), S. 229f. Barth zitiert hier aus einem Ankündigungsblatt des Daheim, in dem zwar nur allgemein der Einfluss der Familienblätter beklagt wird, jedoch relativ offensichtlich die Gartenlaube gemeint ist. Vgl. zur sozialdemokratischen Kritik am Einfluss der Gartenlaube Emig (1980), S. 245. 48 Vgl. zum Daheim und zum Verlag Velhagen und Klasing Barth (1975), S. 215-256. 49 August Klasing an Otto Klasing, 15. September 1862, zit. in: ebd., S. 222.
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ge zum Frauenerwerb, das Kinder-Daheim, eine Rätselseite, sowie Rubriken wie »Hausgarten«, »Hausmusik« oder »Tierfreund«. Die Idee einer christlichen Unterhaltungszeitschrift trugen verschiedene konservative Protestanten aus dem Rheinland, die sich zum »Daheim-Comité« zusammenschlossen, an den Verlag heran. Die Zeitschriftengründung wurde über das am Gewinn beteiligte Comité, den Verlag sowie über private Aktionäre finanziell getragen.50 Dieser Zusammenschluss einer Interessengemeinschaft, die hinter der Zeitschrift stand, unterschied das Daheim stark von der Gartenlaube, die als alleiniges Unternehmen Ernst Keils gilt. Die Aufforderungen und Unterstützungen von Seiten der christlichen Rechten bestärkten Velhagen und Klasing, sich auf das Unternehmen einzulassen und führten dazu, dass die Verleger die Zeitschriftengründung als eine Art göttlichen Auftrag ansahen. »Die Sache ist auf eine Weise an mich herangetreten, daß ich darin eine höhere Zuweisung sehen muß«,51 schrieb Klasing 1862 an seinen Sohn, und präzisierte in einem anderen Brief: »Hätte ich nicht das Bewußtsein, daß nicht wir das Unternehmen, sondern dies uns und mehrfach wiederholt aufgesucht hat und daß in dem Verlauf eine göttliche Weisung liegt, so würde ich es verwünschen, mich mit der Sache befasst zu haben.«52 Die konservativen Mitarbeiter der Redaktion53 spiegelten die politische und religiöse Grundrichtung des Verlags und der Zeitschrift wider und auch die hauptsächliche LeserInnenschaft des Daheim ist in der protestantischen Rechten zu vermuten. In der Jubiläumsausgabe zum 50. Jahrgang des Daheim wurde allerdings die soziale Diversität der LeserInnen betont: »[das Daheim] liegt in bescheidenen und wohlhäbigen Mietswohnungen der Großstadt aus wie in den Schlössern auf dem Lande, im stillen deutschen Forst- und Pfarrhaus wie weit draußen in unseren unruhigsten Kolonien«.54 Das Daheim startete mit einer Auflage von 24.000 und konnte nach anfänglichen Schwierigkeiten eine kontinuierliche Auflagensteigerung verzeichnen – zu-
50 Vgl. ebd., S. 221, 226. 51 August Klasing an Otto Klasing, 15. September 1862, zit. in: ebd., S. 222. 52 August Klasing, 2. April 1862, zit. in: ebd., S. 225. 53 Erster Chefredakteur war Robert König, dem Theodor Hermann Panthenius und Paul Oskar Höcker nachfolgten. Im Untersuchungszeitraum tätige Redakteure waren unter anderem Hanns von Zobeltitz, sein Sohn Hanns Caspar von Zobeltitz, Johannes Höffner und Fritz Martin Rintelen. Zur Personalentwicklung des Verlages vgl. Graf (2003), S. 23, und Barth (1975), S. 224-236. 54 Anonym, Zum 50. Jahrgang des Daheim, in: DA 1913/14, Nr. 1, S. 2.
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nächst auf einen Höchststand von 80.000 im Jahr 1872,55 der Mitte der 1870er Jahre zurückging und sich auf ca. 40.000-50.000 einpendelte.56 So reichte das Daheim von der Zahl seiner LeserInnen her niemals an seine größte Konkurrenz, die Gartenlaube, heran, positionierte sich aber im Vergleich mit anderen Familienzeitschriften in einem respektablen Mittelfeld. Da das Daheim seit den 1870ern seine Haupteinnahmequelle nicht mehr aus dem Verkauf, sondern aus Anzeigen bezog,57 konnte die Zeitschrift trotz vergleichsweise geringer Auflagenzahlen Gewinne erwirtschaften.58 Die Verleger selbst sahen ihre Zeitschrift als Minoritätenblatt und trachteten danach, einen festen Stamm von Lesern und Leserinnen zu halten, anstatt mit der Gartenlaube quantitativ zu konkurrieren.59 Die Alte und Neue Welt Von katholischer Seite standen sowohl säkulare als auch protestantische Zeitschriften in der Kritik. Deren säkularem und antikatholischem Einfluss suchten katholische Verleger daher durch die Gründung eigener Periodika zu begegnen.60 Die Alte und Neue Welt. Illustriertes katholisches Familienblatt zur Unterhaltung und Belehrung war die erste, erfolgreichste und lange Zeit auflagenstärkste katholische Familienzeitschrift. Sie wurde seit 1867 im Schweizer Verlag Benziger & Co. herausgegeben; dieses Familienunternehmen vertrieb seit dem 18. Jahrhundert Devotionalien und religiöse Schriften in dem Pilgerort Einsie-
55 Bei sämtlichen hier untersuchten Familienzeitschriften ist ein außergewöhnlicher Aufschwung der Auflagen um 1870 zu verzeichnen, was in der Forschung auf den Deutsch-Französischen Krieg und die Kaiserreichsgründung zurückgeführt wird, vgl. Graf (2003), S. 24. Die Familienzeitschriften, vor allem die Gartenlaube und das Daheim, veröffentlichten 1870/71 eine regelmäßige Berichterstattung über den Krieg, womit sie wahrscheinlich am Kriegsgeschehen Interessierte oder Angehörige von Soldaten als AbonnentInnen gewannen. 56 Vgl. Barth (1975), S. 237-240. Angaben zur Auflage finden sich nur in privaten Briefen und Tagebuchaufzeichnungen der Verleger, es existieren keine offiziellen Angaben darüber. 57 Durch den Anzeigenteil wuchs der Umfang des Daheim beträchtlich an: von den insgesamt etwa 60-70 Seiten (1913) waren nur 15 Seiten der eigentliche Hauptteil der Zeitschrift. 58 Vgl. Rechnungsunterlagen des Daheim-Comité, Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 210,040/Velhagen&Klasing, Mappe 1861. 59 Vgl. Barth (1975), S. 239. 60 Vgl. im Folgenden Graf (2003), S. 23.
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deln und stieg in den 1830er er Jahren mit der Gründung einer Druckerei und einer Sortimentsbuchhandlung auch ins BuchhandelsBuchhandels und Verlagsgeschäft ein. Der Benziger-Verlag, der auch über eine amerikanische Niederlassung verfügte, gab vor allem Reproduktionen religiöser Kunst und theologische theol Literatur heraus.61 Die konservative Alte und Neue Welt passte durch ihre religiöse Ausrichtung in dieses Programm und erwies sich bald als Hauptunternehmen des Verlages:62 Die typischen Inhalte von Familienzeitschriften wurden hier durch Berichte über üb katholisches Leben, kirchliche Institutionen und geistliche Persönlichkeiten ere gänzt. Die Bildmotive zeigten neben HistorienHistorien und Genremalerei Heiligenbilder und andere christliche Motive. Die zunächst monatlich, ab 1875 zweiwöchentlich herausgegebene Zeitschrift eitschrift war zwischen 30 und 40 Seiten stark und beinbei haltete neben den obligatorischen Romanen und Sachartikeln die Rubriken »Für die Frauen« und »Rundschau«,, in der in Text und Bild Tagesaktuelles wiedergewiederg geben wurde, sowie Buchvorstellungen, Rätsel und einen Anzeigenteil. Die Alte und Neue Welt konnte bis 1874 80.000 AbonnentInnen werben, eine Zahl, die allerdings bis 1893 auf 25.000 Ausgaben sank. Auf dem allgemeinen Zeitschriftenmarkt konnte sie, wie auch andere katholische Zeitschriften, nicht die Beliebtheit einer Gartenlaube oder auch eines Daheim erreichen, doch innerhalb des katholischen Milieus war die Zeitschrift durchaus erfolgreich, was auch ihre lange Erscheinungsdauer bis 1945 beweist. Mit dem schweizerischen Verlagsstandort bringt die Alte und Neue Welt nicht nur eine katholische, sondern auch eine nicht-kleindeutsche nicht Perspektive in die Untersuchung ein. Der Verlagsstandort bedeutete eine häufige Auswahl von für die Schweiz relevanten Themen sowie eine gewisse Ausrichtung der Zeitschrift auf uf eine schweizerische LeserInnenschaft. Doch sprach die Alte und Neue Welt durchaus auch ein katholisches Publikum in Deutschland und Österreich und deutsche AuswanderInnen in Nordamerika an. Die Zeitschrift verstand sich als kommunikative Brücke zwischen der europäischen »Alten Welt« und den EmigrantInnen in der »Neuen Welt«.63 Der Verlag hatte eine Niederlassung in
61 Vgl. Benziger (1923), S. 138f. 62 Vgl. ebd., S. 138. 63 Die Vermittlungsposition äußerte sich nicht allein im Titel der Zeitschrift, sondern auch in einem Artikel der ersten Ausgabe, in dem es hieß: »[…] wie bei einzelnen Menschen, so ist es auch bei ganzen Völkern und Staaten – sie sind noch jung und lebenskräftig, oder alt, abgelebt – dürr! […] Es dürfte interessant sein, die ›alte‹ und die ›neue‹ Welt in manchen Dingen miteinander zu vergleichen, Land und Leute hier und dort kennen zu lernen […].« Anonym, Aus Alter und Neuer Welt, in: ANW 1867, S. 8-10.
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Cincinatti und der Bezug zu Amerika wurde immer wieder betont. So lautete der Titelzusatz der ersten Jahrgänge auch »Herausgegeben unter Mitwirkung hervorragender Schriftsteller geistlichen und weltlichen Standes aus Amerika, Deutschland und der Schweiz«.64 Trotz dieser weiten Verbreitung blieb das Unternehmen lokal verhaftet – verschiedene Artikel und Erzählungen bezogen sich auf den Verlagsstandort Einsiedeln und die Redaktion pflegte Beziehungen zum lokalen Benediktinerkloster. Dass das übergreifende Konzept, das die konfessionelle Zugehörigkeit und den gemeinsamen Sprachraum über (National-)Staatsgrenzen stellte, aufging, sieht man daran, dass die Alte und Neue Welt im deutschen Kaiserreich die beliebteste katholische Familienzeitschrift war – wenn sie auch 1892 Konkurrenz durch den im Kaiserreich verlegten Deutschen Hausschatz bekam, der die Auflage der Alten und Neuen Welt allerdings erst um die Jahrhundertwende erreichen und überholen konnte.65 Die Neue Welt Die an die SAP und später SPD gebundene sozialdemokratische Zeitschrift Die Neue Welt. Illustriertes Unterhaltungsblatt für das Volk wurde von 1876 bis 1886 als eigenständiges Blatt, ab 1892 bis 1919 als Illustrierte Unterhaltungsbeilage bzw. Illustriertes Unterhaltungsblatt zu anderen sozialdemokratischen Zeitungen im parteigebundenen J.H.W. Dietz-Verlag herausgegeben.66 Die Zeitschrift startete mit einer Auflage von 20.000, die in den ersten zwei Jahren ihres Bestehens auf 40.000 anwuchs. Zwei Jahre nach ihrer Gründung trat das Sozialistengesetz in Kraft, das der sozialdemokratischen Presse große Beschränkungen auferlegte; viele Parteiorgane wurden verboten und die SAP gab fortan zahlreiche Periodika im Ausland heraus.67 Die Neue Welt konnte als eine der wenigen größeren und überregionalen sozialdemokratischen Blätter weiter legal operieren, da sie nicht als politisch gefährlich erachtet wurde.68 Dennoch
64 Vgl. Graf (2003), S. 24. 65 Vgl. ebd., S. 23. 66 Vgl. zur Gründung der Neuen Welt und des Verlags J.H.W. Dietz: Graf (1998), S. 72-76; Emig (1980), S. 244-269; Adling, Wilfried: »Die Neue Welt«, in: Ders. (Hg.), Lexikon sozialistischer deutscher Literatur. Monographisch-biographische Darstellungen. Von den Anfängen bis 1945, SʼGravenhage: Eversdijck 1973, S. 380-382. 67 So etwa ihr Zentralorgan Der Sozialdemokrat, der erstmals 1879 in Zürich erschien. 68 Die Redaktion siedelte lediglich 1881 von Leipzig nach Stuttgart um, da die genossenschaftliche Druckerei in Leipzig mehr Repressionen zu befürchten hatte als im
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sanken mit dem Sozialistengesetz die Auflagenzahlen auf 6.000 Exemplare. So blieb die Neue Welt ein Verlustgeschäft69 und wurde aus diesem Grund 1886 eingestellt.70 Als sie 1892 wieder reaktiviert wurde, erschien sie nicht mehr als eigenständiges Blatt, sondern als achtseitige wöchentliche Beilage zu verschiedenen Parteizeitungen, wie etwa dem Vorwärts. Die Neue Welt sollte eine sozialdemokratische Alternative zu den bürgerlichen Familienblättern darstellen und die Arbeiterinnen und Arbeiter von der Lektüre dieser Zeitschriften und der damit einhergehenden bürgerlichen Meinungsbildung abhalten. In Aufbau und prinzipieller Themenwahl hob sich die Zeitschrift jedoch nur wenig von ihren bürgerlichen Pendants ab. Inhaltlich waren die Unterschiede größer: Die porträtierten Persönlichkeiten waren meist sozialistische Vorbildfiguren, und für ArbeiterInnen relevante Themen fanden hier Platz. In den historischen Artikeln setzte die Neue Welt mit einem großen sozialgeschichtlichen Anteil und einer Geschichtsschreibung ›von unten‹ eigene Akzente. Der Verleger Johann Heinrich Wilhelm Dietz wie auch die ab den 1890er Jahren rasch wechselnden leitenden Redakteure der Neuen Welt gehörten der gemäßigten Richtung der Sozialdemokratie an und gaben der Zeitschrift eine reformistische Prägung, die Kritik radikalerer Vertreter der ArbeiterInnenbewegung herausforderte.71 Harsche Kritik wurde allerdings nicht allein an der politischen Ausrichtung, sondern auch an der inhaltlichen und formalen Qualität der
Württembergischen Staatsgebiet, vgl. Graf (1998), S. 74f.; Emig (1980), S. 249; zur Lage der sozialdemokratischen Presse unter dem Sozialistengesetz vgl. Saerbeck, Werner: Die Presse der deutschen Sozialdemokratie unter dem Sozialistengesetz, Pfaffenweiler: Centaurus-Verlagsgesellschaft 1986. 69 Dietz schrieb 1887 in einem Brief: »So lange ich das Blatt verlegte, legte ich pro Jahr Mk. 10.000 drauf. Solche Experimente kann man, ohne schließlich bankrott zu gehen, nicht oft wiederholen.« Dietz an Kautsky, 14. 8. 1887, zit. in: Graf (1998), S. 137. 70 R. Fischer äußerte auf dem Parteitag 1893 zur Einstellung der Zeitschrift: »Nicht Verfolgungen, kein Kongreßbeschluß, auch nicht das Sozialistengesetz hat die Neue Welt außer Leben gesetzt, sondern sie ist an allgemeiner Langeweile eingeschlafen.« Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Berlin: Verlag der Expedition des Vorwärts 1892, S. 129. 71 So befand zum Beispiel Friedrich Engels: »Vor der Wissenschaft [der Neuen Welt] wird nicht der kleinste Köter bange« Engels an Bernstein 1884, zit. in: Graf (1998), S. 381. Engels veröffentlichte ein einziges Mal eine Artikelserie in der Zeitschrift, eine Biographie des 1864 verstorbenen Sozialdemokraten Wilhelm Wolff, die 1876 publiziert wurde.
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Texte und Illustrationen geübt. Die Neue Welt war in den 1890er Jahren regelmäßiges Diskussionsthema auf den jährlichen Parteitagen der SPD. Hermann Molkenbuhr konstatierte 1896: »So massenhafte Klagen sind noch über keine Zeitschrift erhoben worden« und fügte hinzu, in Nürnberg seien neun Zehntel der Leser nicht einverstanden mit dem Inhalt der Neuen Welt.72 Ein Eberfelder Delegierter befand auf dem Parteitag von 1893: »In ihrer jetzigen Gestalt fordert sie einfach den Spott der Gegner heraus.«73 Doch auch die Verantwortlichen der Neuen Welt selbst hielten sich mit Kritik am eigenen Produkt nicht zurück. So äußerte Dietz in einem Brief von 1887: »Dazu die gewaltige Konkurrenz, die um Weniges Ausgezeichnetes bietet, dem gegenüber sich die N.W. wie Käsepapier ausnimmt! Man kann es dem Arbeiter nicht verargen, wenn er jene Unterhaltungsblätter der N.W. vorzieht.«74 Die Neue Welt war also trotz der hohen Auflagenzahlen, die sie durch ihren Charakter als Wochenendbeilage zum Vorwärts und zu anderen Parteizeitungen erreichte, eine zumindest in Parteikreisen ungeliebte Zeitschrift. Gleichzeitig wurde sie als einzige reine Unterhaltungszeitschrift der sozialdemokratischen Bewegung für wichtig erachtet und erhalten. Die Parteipresse und damit auch die Neue Welt war für die Sozialdemokratie ein wichtiges Agitationsmittel.75 Der Charakter einer Parteizeitschrift ist es auch, der die Neue Welt von den anderen hier untersuchten Familienzeitschriften unterscheidet, die zwar über mehr oder weniger starke politische Ausrichtungen und Sympathien verfügten, aber nicht parteigebunden waren. Die Parteibindung lässt Rückschlüsse über die LeserInnen der Zeitschrift zu: Es waren Menschen, die der Sozialdemokratie nahestanden, was allerdings nicht bedeuten muss, die LeserInnenschaft sei repräsentativ für das Proletariat gewesen. Verschiedene Forschungen betonen die Unterscheidung zwischen ArbeiterInnenkultur und ArbeiterInnenbewegungskultur76 – und die Neue Welt war eindeutig ein Teil der ArbeiterInnenbewegungskultur.
72 Vgl. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Berlin: Verlag der Expedition des Vorwärts 1896, S. 95. 73 Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Berlin: Verlag der Expedition des Vorwärts 1893, S. 135. 74 Dietz an Hermann Schlüter, 6. 11. 1887, zit. in: Graf (1998), S. 137. 75 Vgl. Saerbeck (1986), S. 176. 76 brams, Lynn: Workersʼ Culture in Imperial Germany. Leisure and Recreation in the Rhineland and Westphalia, London: Routledge 1992, S. 5-8; Langewiesche, Dieter: »The Impact of the German Labour Movement on Workersʼ Culture«, in: Journal of Modern History 59 (1987), S. 506-523, hier S. 517.
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Die Sonntags-Zeitung Die Sonntags-Zeitung für Deutschlands Frauen. Illustrierte Familien- und Modenzeitung,77 seit 1905 Sonntags-Zeitung fürs Deutsche Haus. Illustrierte Familien- und Frauenzeitung, stand mit ihrem Format an der Schwelle zwischen traditionellem Familienblatt und Spartenzeitschrift neueren Typs. Das bewährte Programm der Familienzeitschriften – die Mischung aus Unterhaltung und Belehrung, aus Fiktionalität und Faktualität – ergänzten die Herausgeber durch einen hauswirtschaftlichen Ratgeber- sowie einen Modeteil. So sprach die Zeitschrift vor allem Frauen an, die durch die Kombination aus Unterhaltungs- und Modezeitschrift das Abonnement einer eigenen Modezeitung einsparen konnten, behielt aber gleichzeitig das traditionelle Programm für die ganze Familie bei.78 Die Zeitschrift startete 1897 und wurde von dem auf Zeitschriften spezialisierten Verlag Vobach & Co. herausgegeben, der erst nach Erscheinen der SonntagsZeitung 1898 gegründet wurde und mit ihr seinen Grundstock und Standardartikel schuf, den er in verschiedenen anderen Blättern reproduzierte. Schon im ersten Jahr konnte die Zeitschrift eine Auflage von 25.000 erzielen, die sie bis 1913 auf 140.000 erhöhte.79 Im Jahr 1905 brachte Vobach eine österreichische Sonntags-Zeitung heraus, 1911 gründete der Verlag eine schweizerische Frauenzeitschrift nach dem gleichen Modell. Die deutsche Sonntags-Zeitung existierte bis zu ihrer Vereinigung mit Vobachs Frauen und Modezeitung 1919.80 Ihr immenser Erfolg ist nicht allein auf die innovative Verknüpfung von Familien-, Frauenund Modezeitschrift zurückzuführen, sondern auch auf ihre Zahlungsweise: Statt der bisher üblichen vierteljährlichen Abonnementszahlung konnten die LeserInnen die Sonntags-Zeitung ausgabeweise beziehen und zahlen; der geringere Preis von 20 Pfennig pro wöchentlicher Ausgabe senkte die Schwelle der Kaufbereitschaft. Das Konzept der ausgabeweisen Zahlung wurde von vielen anderen Periodika übernommen.81
77 Vgl. zur Sonntags-Zeitung und zum Vobach-Verlag: Graf (2003), S. 46; Niewöhner, Emil: Der deutsche Zeitschriftenbuchhandel. Eine Studie, Stuttgart: Poeschel 1934, S. 41f., 64; Kirschstein (1937), S. 143; 25 Jahre Vobach (1923). 78 Vgl. Graf (2003), S. 42. 79 Vgl. ebd., S. 45. 80 Kirchner, Joachim: Das deutsche Zeitschriftenwesen, seine Geschichte und seine Probleme. Teil II: Vom Wiener Kongress bis zum Ausgange des 19. Jahrhunderts, Wiesbaden: Harrassowitz 1962, S. 363. 81 Vgl. Kirschstein (1937), S. 143.
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Die inklusive Anzeigenteil etwa 20-30 Seiten starke Sonntags-Zeitung bestand aus einem Hauptteil mit Romanen, Gedichten, Sachartikeln und der tagesaktuellen »Illustrierte[n] Chronik der Zeit« sowie verschiedenen Beilagen: die »Moden-Zeitung fürs Deutsche Haus«, ein reich illustrierter und durch Schnittmusterbögen ergänzter Modeteil, die »Praktische[n] Mitteilungen für Küche und Haus, Gesundheitspflege und Erziehung«, die neben Tipps zur Haushaltsführung und Rezepten auch Anzeigen, Rätsel und Antworten auf Leserinnenbriefe enthielt, sowie Beilagen für Kinder und Jugendliche. Der Hauptteil der Zeitschrift unterschied sich inhaltlich nur wenig von traditionellen Familienzeitschriften, wies allerdings einen Fokus auf weiblich konnotierte Themen auf: Verschiedenste Texte verhandelten die gesellschaftliche Stellung von Frauen und berichteten über die Frauenbewegung. Jedoch nicht alle Beiträge der Zeitschrift befassten sich mit spezifischen Frauenthemen. Gerade die Sachartikel über Geschichte, Naturwissenschaften und fremde Länder klammerten das Thema Geschlecht oft aus und unterschieden sich damit nicht von den faktualen Texten traditioneller Familienzeitschriften. Diese Artikel waren vorwiegend von Männern verfasst, während Artikel über weiblich konnotierte Themen wie Mode, Haushalt, Partnerschaft und Kindererziehung oder die Frauenbewegung oftmals von Autorinnen geschrieben wurden, wie auch die regelmäßige Rubrik »Sonntagsgedanken«, die sich mit Fragen der Moral und des zwischenmenschlichen Umgangs befasste.
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Tabelle 1: Die Zeitschriften des Quellenkorpus im Überblick
Zeitschrift
Gartenlaube
Daheim
Alte und Neue Welt
Die Neue Welt
SonntagsZeitung
Laufzeit
1853-1944
1864-1943
186719545
18761886, 1892-1919
1898-1919
Verlag
Keil; Kröner; Scherl
Velhagen und Klasing
Benziger
J.H.W. Dietz
W. Vobach & Co.
Verlagsstandort
Leipzig
Bielefeld; Leipzig
Einsiedeln (Schweiz)
Leipzig; Stuttgart
Leipzig
Auflage
5.000382.000
24.00080.000
25.00080.000
6.000650.000
25.000140.000
Preis um 1900
1,60 Mark im Quartal
2 Mark im Quartal
60 Pfennig pro Ausgabe
Kostenlose Beilage
20 Pfennig pro Ausgabe
Erscheinungsturnus
Wöchentlich
Wöchentlich
Zweiwöchentlich
Wöchentlich
Wöchentlich
Konfessionelle Ausrichtung
Keine
Protestantisch
Katholisch
Keine
Keine
Politische Ausrichtung
Links-/, Nationalliberal
Nationalkonservativ
Konservativ
Sozialdemokratisch
Nationalliberal
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V ERLEGER , AUTOR I NNEN UND L ESER I NNEN VON F AMILIENZEITSCHRIFTEN Die Analyse von Familienzeitschriften als Quellen der Geschichtskultur erfordert eine Einbeziehung der beteiligten AkteurInnen, die an ihrer Produktion mitwirkten, aber auch der RezipientInnen sowie der Strukturen, innerhalb derer die Zeitschriften und ihre Geschichtsdarstellungen entstanden und gelesen wurden. Eine Analyse allein des fertigen Produkts würde der Komplexität der Wissensgenerierung nicht gerecht. Robert Darnton schlägt für die Analyse von Printmedien das Modell eines Kommunikationszirkels vor, der die AutorInnen, den Verlag und die Druckerei, die Transportunternehmen, die VerkäuferInnen und schließlich die LeserInnen umfasst und auch die gesellschaftlichen Strukturen berücksichtigt, innerhalb derer sich diese Akteursgruppen bewegen.82 Ein weiteres äußerst fruchtbares Modell für die Analyse von Printmedien ist der Circuit of Cultures, der Wissens- und Bedeutungsproduktion auf fünf Ebenen erfasst: Repräsentation, Produktion, Identität, Konsumption und Regulierung.83 In Anlehnung an beide Modelle stelle ich im folgenden mit den RezipientInnen, den Verlegern und den AutorInnen die drei für diese Untersuchung wichtigsten beteiligten Akteursgruppen vor. Die Leser und Leserinnen von Familienzeitschriften Leslie Howsam geht mit dem Begriff des »Life cycle of the reader« davon aus, dass Menschen im Lauf ihres Lebens verschiedene Stadien einer Lesekarriere durchlaufen. So erführen Menschen durch ihre Kinder- und Jugendlektüre schon eine geistige Vorprägung, die ihre Leseerfahrung als Erwachsene beeinflusse.84 Autobiographische Quellen zeugen von der wichtigen Funktion der Familienzeitschriften für die Lesekarriere von Menschen verschiedenster sozialer Herkunft.85 Sie waren Lektüre für Kinder wie für Erwachsene und wurden nach dem ersten Lesen aufbewahrt und wiederholt gelesen, teilweise auch noch Jahrzehnte
82 Vgl. Darnton, Robert: »What is the History of Books?«, in: David Finkelstein (Hg.), The Book History Reader, London: Routledge 2003, S. 9-26, S. 11. 83 Vgl. Du Gay, Paul: Doing Cultural Studies. The Story of the Sony Walkman, London: Sage 1997, S. 3. 84 Vgl. Howsam (2009), S. 3f. 85 Vgl. Graf (2003), S. 37.
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nach Erscheinungsdatum.86 Es ist zu vermuten, dass die LeserInnen, die den Familienzeitschriften auch in Zeiten eines sich verändernden und expandierenden Pressemarktes treu blieben, schon mit ihnen aufgewachsen waren, während die jüngere Generation um 1900 verstärkt die neueren Illustrierten rezipierte. Gleichzeitig wuchsen auch Kinder und Jugendliche um die Jahrhundertwende mit den Zeitschriftenabonnements ihrer Eltern auf, und so hatten Familienzeitschriften vermutlich tatsächlich ein über drei Generationen reichendes Publikum. Dies entspräche dem Anspruch der Redaktionen, alle Teile der Bevölkerung zu erreichen. Der universale Publikumsanspruch soll allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass Bildung und Lesepraxis auch um die Jahrhundertwende nicht nur durch Generation, sondern auch durch Klasse, Konfession, Geschlecht, Ethnizität und Stadt-Land-Unterschiede strukturiert war. Hinweise auf den tatsächlichen RezipientInnenkreis der Zeitschriften sind abgesehen von den wenigen autobiographischen Zeugnissen oder von LeserInnenbriefen, die nicht immer Aufschluss über den Absender oder die Absenderin geben, rar. Ein Weg, sich dem Lesepublikum von Zeitschriften zu nähern, läuft über eine Untersuchung des gesellschaftlichen Kontextes und der sozialen Voraussetzungen des Lesens allgemein. Die neuen technischen und industriellen Produktionsbedingungen führten zu einem absoluten Novum in der Geschichte der Medienentwicklung: Periodika und Kolportageromane konnten zu derart günstigen Preisen produziert werden, dass auch einkommensschwache Teile der Bevölkerung sie sich leisten konnten.87 Der Besitz und Konsum des geschriebenen Wortes wurde von einer elitären Beschäftigung zu einem Massenvergnügen. Die Unterhaltungsliteratur des 19. Jahrhunderts entdeckte zudem Kinder und vor allem Frauen als massenhaftes Lesepublikum.88 Die LeserInnen von Familienzeitschriften werden gemeinhin im kleinen und mittleren Bürgertum vermutet. Die Blätter wurden aber auch von ArbeiterInnen gelesen und es ist wahrscheinlich, dass sie auch Einzug in großbürgerliche und adlige Haushalte fanden. Die teilweise milieuspezifischen Ausrichtungen der
86 Vgl. Gebhardt (1987), S. 520; Was Die Gartenlaube meiner Kindheit war, darin: Ullmann, Hermann, Beim Großvater, in: GL 1928, S. 48-49. 87 Zu ArbeiterInnen als neuem Lesepublikum vgl. Lyons, Martin: »Die neuen Leser im 19. Jahrhundert: Frauen, Kinder, Arbeiter«, in: Roger Chartier/Guglielmo Cavallo (Hg.), Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm, Frankfurt/Main, Paris: Campus 1999, S. 455-498, hier S. 484-491. 88 Zu Frauen als Leserinnen von Periodika und Unterhaltungsliteratur vgl. ebd.; Phegley, Jennifer: Educating the Proper Woman Reader. Victorian Family Literary Magazines and the Cultural Health of the Nation, Columbus: Ohio State University Press 2004.
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einzelnen Zeitschriften legen die Vermutung nah, dass das Daheim in protestantischen und konservativen Kreisen gelesen wurde; die Zeitschrift galt zudem als »Kasernenblatt« und erfreute sich unter Soldaten größerer Beliebtheit.89 Die sozialdemokratische Neue Welt wurde von ArbeiterInnen gelesen, die wahrscheinlich zum größten Teil sozialdemokratisch organisiert waren, funktionierten doch Werbung und Distribution sozialdemokratischer Medien über die Infrastruktur der ArbeiterInnenbewegung.90 Die katholische Alte und Neue Welt war derart konfessionell ausgerichtet, dass eine LeserInnenschaft über das katholische Milieu hinaus kaum angenommen werden kann. Lediglich die Gartenlaube und die Sonntags-Zeitung reichten in ihrer Wirkung vermutlich weiter über Milieugrenzen hinaus – die Gartenlaube galt als das deutsche Familienblatt schlechthin, und die Sonntags-Zeitung verortete sich weder konfessionell noch politisch auf deutliche Weise, so dass sie in allen Kreisen der Bevölkerung Zuspruch finden konnte. Ob ihrer Ausrichtung auf ein weibliches Lesepublikum wurde die Sonntags-Zeitung höchstwahrscheinlich vor allem von Frauen gelesen. Die Verleger von Familienzeitschriften Verleger waren wichtige Agenten der Produktion von Printmedien und somit auch der populären wie akademischen Geschichtsschreibung.91 Die Zeitungen
89 Vgl. Graf (2003), S. 23-26; Barth (1975), S. 240. 90 Vgl. Kössler (2005), S. 268-269. 91 Die Studien zu Familienzeitschriften beziehen meist die Verleger als wichtige Produktionsfaktoren mit in die Untersuchung ein, doch wurde Historiographiegeschichte bisher meist unter Ausschluss der Verleger geschrieben. Eine Ausnahme ist die Untersuchung von Olaf Blaschke, der die gängige Auffassung vom Historiker als Einzelkämpfer, der einzig der Wissenschaft verpflichtet historische Werke produziert, aufbricht und deutlich macht, dass Verleger einen beträchtlichen Einfluss auf Form und Inhalt wissenschaftlicher Werke haben. Diese Darstellung bezieht sich allerdings erst auf die Zeit nach 1945, vgl. Blaschke, Olaf: Verleger machen Geschichte. Buchhandel und Historiker seit 1945 im deutsch-britischen Vergleich, Göttingen: Wallstein 2010. Für das 19. Jahrhundert liegen vor allem aus der englischsprachigen Forschung Untersuchungen über die Rolle der Verleger in der Printmedienproduktion vor: Leslie Howsam untersucht englischsprachige Geschichtsbücher im Zeitraum 1850-1950 und betont die agency der Verleger und ihre Mitarbeit im Produktionsprozess. Die Entscheidungen über die zu publizierenden Texte und deren Inhalte seien meist in Zusammenarbeit von AutorInnen und Verlegern getroffen worden. Auch die Publikation historischer Bücher sei oftmals in derartiger Zusammenarbeit entstanden und vielfach seien
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und Zeitschriften befanden sich meist in Privatbesitz, so dass die Beziehung zwischen Verleger und verantwortlichem Redakteur oft patriarchale Züge in sich trug.92 Familienzeitschriften wurden von verschiedensten Verlagshäusern herausgegeben, von kleinen Familienbetrieben bis hin zu großen Verlagskonzernen. Hier liefen die verschiedenen Aspekte der Medienproduktion zusammen: die inhaltliche und ideelle Ausrichtung der jeweiligen Zeitschrift, die Kontrolle über den technischen und materiellen Prozess der Produktion, die Organisation der Distribution und die personellen Entscheidungen, wer in den Redaktionen saß.93 So wurden Familienzeitschriften in ihren Formaten und Inhalten stark von den jeweiligen Verlegern beeinflusst. Ernst Keil etwa schuf als Verleger der Gartenlaube eine Zeitschrift nach seinen Ideen. Sein Tod 1878 und der Verkauf der Gartenlaube an den Verleger Adolf Kröner 1884 brachte inhaltliche und politische Neuausrichtungen mit sich – das ursprünglich linksliberale Blatt erfuhr mit dem Verlagswechsel einen Rechtsruck. Ebenso waren es beim Daheim die Verleger August Velhagen und August Klasing, die das Blatt nach ihren konservativ-protestantischen Vorgaben konzipierten und prägten. Die Neue Welt war über ihren Verlag an die SAP und später SPD gebunden, doch gab Dietz als Verleger der Zeitschrift auch seine eigene Prägung. Die Alte und Neue Welt entstand als katholisches Projekt in einem katholischen Familienunternehmen. Anders als diese Zeitschriftengründungen mit politischem oder konfessionellem Hintergrund und mehr oder weniger idealistischen Gründungsmotiven agierten der Vobach-Verlag, wie auch die späteren Verlage der Gartenlaube, Kröner und Scherl, als reine Wirtschaftsunternehmen und betteten ihre Zeitschriftenprojekte in große Verlagsimperien ein. Doch auch gesellschaftspolitisch oder konfessionell gebundene Verlage waren in erster Linie wirtschaftliche Unternehmen, die Profit zu machen suchten – das Augenmerk auf Auflagenzahlen und Anzeigenkunden wirkte immer auf die Inhalte mit ein. Untersuchungen von Presseprodukten schenken dieser kommerziellen Dimension oftmals keine oder zu wenig Aufmerksamkeit und analysieren Printmedien rein in ihren inhaltlichen, personellen und weltanschaulichen Dimensionen. Doch Zeitschriften, wie auch andere Medien, waren zu einem gewichtigen Teil Konsumgüter. Sie wurden produziert,
Themen und Formate historischer Publikationen von Verlegern angestoßen oder vorgegeben worden. Vgl. Howsam (2009), S. 5f. Die Beziehungen von deutschen Populärhistorikern und ihren Verlegern untersucht Martin Nissen für den Zeitraum 1848 bis 1900 am Beispiel von Gustav Freytag und seinem Verleger Salomon Hirzel, vgl. Nissen (2009). 92 Vgl. Koszyk (1966), S. 223. 93 Vgl. Darnton (2003), S. 18f.
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um verkauft zu werden. Somit standen auch Geschichtsdarstellungen in Zeitschriften niemals außerhalb ökonomischer Faktoren – ihre Inhalte und Formate waren nur teilweise politisch oder ideell bedingt, sondern immer auch marktabhängig.94 Die AutorInnen von Geschichtsartikeln Die Mitte des 19. Jahrhunderts gängige Praxis der Pseudonymnutzung oder Anonymisierung war in den 1890er Jahren weitgehend verschwunden,95 so dass die AutorInnen von Familienzeitschriften in der Regel einfach zuzuordnen und zurückzuverfolgen sind.96 Im Folgenden stelle ich verschiedene Karrierewege vor, die einer Tätigkeit für Familienzeitschriften zugrunde lagen und gehe dabei exemplarisch auf einige AutorInnen tiefer ein. In den Redaktionen saßen hauptberuflich angestellte RedakteurInnen, neben denen zahlreiche Freie nebenberuflich für die Familienblätter schrieben. Der Verdienst professioneller Redaktionsmitglieder war relativ gut – ein Journalist der Tagespresse verdiente je nach Größe der Zeitung in den 1890er Jahren zwischen 3000 und 8000 Mark jährlich, das Einkommen konnte aber auch bis zu 15.000 Mark betragen. Diese Gehälter, auch der untersten Stufe, lagen im Rahmen bürgerlicher Einkommen, vergleichbar etwa mit den Jahresgehältern von Rechtsanwälten.97 Auch die sozialdemokratischen Parteiorgane passten ihre Redakteursgehälter an die üblichen Löhne
94 Zur Geschichte als Markt vgl. Hardtwig/Schug (2009); Langewiesche (2008b), Kapitel »Geschichtsschreibung und Geschichtsmarkt in Deutschland«, S. 9-20; Kapitel »Die Geschichtschreibung und ihr Publikum. Zum Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Geschichtsmarkt«, S. 85-102. 95 Duttenhöfer, Barbara: »Emanzipationspotentiale in ›typischen‹ Frauenzeitschriften?Journalistinnen und Leserinnen der Illustrierten Die Welt der Frau 1904-1920«, in: Ariadne 44 (2003), S. 30-35, hier S. 33. 96 Auch wenn AutorInnen meist namentlich genannt waren, waren doch immer wieder Artikel anonym verfasst. Zudem wurde der Vorname oftmals mit dem ersten Buchstaben abgekürzt, so dass das Geschlecht der AutorInnen nicht immer ersichtlich ist. Biographische Angaben werden zu denjenigen AutorInnen gemacht, die im Haupttext genannt werden und zu denen diese Angaben recherchierbar waren. 97 Vgl. Requate, Jörg: Journalismus als Beruf. Entstehung und Entwicklung des Journalistenberufs im 19. Jahrhundert. Deutschland im internationalen Vergleich, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995, S. 215-218.
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der bürgerlichen Presse an.98 Familienzeitschriften boten sogar noch bessere Bedingungen – hier verdienten festangestellte AutorInnen mehr als die Journalisten der Tagespresse.99 Freie AutorInnen hingegen lebten, wenn sie nicht bekannt und etabliert waren, oftmals prekär, auch aufgrund großer Konkurrenz auf dem Markt. Doch gerade etablierte Familienzeitschriften boten für freie MitarbeiterInnen gute Möglichkeiten eines einmaligen oder regelmäßigen Verdienstes.100 Die Alte und Neue Welt etwa zahlte ihren freien AutorInnen in der Regel zwischen zehn und 50 Mark für den Abdruck eines Artikels.101 Die Artikel der Geschichtssparten wurden teilweise von Redaktionsmitgliedern geschrieben102 – in der Gartenlaube etwa von Johannes Proelß,103 der von 1894 bis 1903 die Redaktion leitete, oder Rudolf von Gottschall, Redaktionsmitglied seit 1869. Im Daheim schrieben die Redaktionsmitglieder Hanns von Zobeltitz, Johannes Höffner, seit 1906 Mitherausgeber der Zeitschrift, oder Theodor Pantenius, der seit 1889 als leitender Redakteur arbeitete, regelmäßig über Geschichte. Neben den festen Redaktionsmitgliedern gab es freie AutorInnen, die Texte in Familienzeitschriften publizierten – teilweise entstanden die Artikel auf Anfrage der Redaktionen, teilweise sandten AutorInnen ihre Texte auch unverlangt an die Verlage. Das Verzeichnis der eingegangenen Manuskripte der Alten und
98
Die Redakteursgehälter wurden auf dem Parteitag der SPD 1892 debattiert. Der Kritik, die Partei bezahle ihre Journalisten zu hoch und nach bürgerlichen Maßstäben, setzten Redakteure wie etwa Wilhelm Liebknecht entgegen, Leistung müsse angemessen entlohnt werden und die sozialdemokratischen Redakteure verdienten noch immer weniger als Journalisten bei vergleichbaren bürgerlichen Blättern, vgl. Protokoll der SPD (1892), S. 114f., 122f.
99
Vgl. Barth (1975), S. 130.
100 Vgl. Requate (1995), S. 166-168. 101 Vgl. Manuscripte für Alte und Neue Welt, Fram-Museum Einsiedeln, Bestand Firmengeschichte Benziger-Verlag, Signatur Hke.16, 17 und 19; Stockbuch der Manuskripte für Alte und Neue Welt, ebd., Signatur Hke.24. 102 Die Zusammensetzung der Redaktionen ist vor allem für die beiden renommierteren und gut erforschten Familienzeitschriften Gartenlaube und Daheim nachvollziehbar. Für Sonntags-Zeitung, Alte und Neue Welt und Neue Welt hingegen fehlen meist Hinweise darauf, welche AutorInnen zum festen Redaktionsstamm gehörten, so dass dies nur vermutet werden kann, indem man untersucht, welche AutorInnen besonders häufig und regelmäßig in den jeweiligen Zeitschriften publizierten. 103 Kurzlebensläufe der im Text genannten AutorInnen finden sich, soweit sie rekonstruierbar waren, im AutorInnenverzeichnis im Anhang.
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Neuen Welt zeigt, dass beinahe jeden Tag Texte an die Redaktion gingen, die teilweise in der Zeitschrift veröffentlicht wurden, in vielen Fällen aber auch unveröffentlicht zurück gesandt wurden.104 Viele der regelmäßigen freien AutorInnen standen in enger Zusammenarbeit mit den Verlagen und publizierten nicht allein rege in den jeweiligen Familienzeitschriften, sondern waren auch in andere Publikationsprojekte des Verlags eingebunden. Vor allem der Verlag Velhagen und Klasing hatte ein Netzwerk von Autoren, die in verschiedenen Projekten aktiv waren. Einer dieser Autoren war Eduard Heyck, der einer der wichtigsten historischen Autoren des Daheim war, und auch für die Gartenlaube schrieb. Als Sohn eines mecklenburgischen Gärtnereibesitzers und Privatiers entstammte er einer wohlhabenden bourgeoisen Schicht. Nach seinem Studium der vergleichenden Sprachwissenschaft, Germanistik und Geschichte in Jena, Leipzig und Heidelberg, das er mit einer Dissertation abschloss, habilitierte er sich in Freiburg und lehrte ab 1892 als außerordentlicher Professor in Heidelberg. Während des Studiums war Heyck einer Burschenschaft beigetreten, die Zeit seines Lebens ein wichtiger Bezugspunkt für ihn blieb. Nach seiner Tätigkeit an der Universität ging Heyck 1895 als Archivdirektor an die Fürstlich Fürstenbergische Bibliothek in Donaueschingen und arbeitete schließlich ab 1898 als freischaffender Gelehrter und Publizist in München, Berlin und der Schweiz.105 Neben seinen wissenschaftlichen Publikationen zu mittelalterlichen und oft regionalhistorischen Themen veröffentlichte Heyck eine große Auswahl populärer Artikel und Monographien. Sein Hauptwerk war eine dreibändige populäre »Deutsche Geschichte«,106 die bei Velhagen und Klasing erschien. Bei dem Verlag war er ab 1897 zudem Herausgeber der »Monographien zur Weltgeschichte«, einer Reihe populärhistorischer Monographien, für die er auch selbst einige Bände verfasste, und er war zuständig für die »Monographien zur Kunstgeschichte«. Die enge Arbeitsbeziehung zum Verlag zeigt sich auch in seiner schriftstellerischen Tätigkeit für das Daheim, in dem er regelmäßig historische Artikel zu den unterschiedlichsten Themen publizierte. Heycks populärhistorisches Werk zeichnete sich durch seine weite Spannbreite an Themen aus: Er schrieb in Daheim und Gartenlaube biographische, politik-, kultur und kunsthis-
104 Vgl. Manuscripte für Alte und Neue Welt, Fram-Museum Einsiedeln, Bestand Firmengeschichte Benziger-Verlag, Signatur Hke.16, 17 und 19. 105 Vgl. Killy, Walther: Deutsche biographische Enzyklopädie, Darmstadt: Wiss. Buchges. 1998, S. 814-815. 106 Heyck,
Eduard:
Klasing 1905-1906.
Deutsche Geschichte, Bielefeld, Leipzig:
Velhagen
und
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torische Artikel über verschiedenste Epochen von der Antike bis zur Neuzeit, hauptsächlich, aber nicht allein über deutsche Geschichte.107 Heyck ist das Beispiel für einen populären Vielschreiber, der in enger Bindung an einen Verlag – hier Velhagen und Klasing – verschiedene populäre Genres publizierte. Viele freie AutorInnen von Familienzeitschriften, von denen manche lediglich einen oder wenige Artikel in einer Familienzeitschrift veröffentlichten, andere über Jahre und Jahrzehnte hinweg regelmäßig publizierten, waren häufig hauptberuflich journalistisch tätig und arbeiteten als RedakteurInnen anderer Zeitungen und Zeitschriften. Beispiele hierfür sind etwa die Daheim-Autoren Oskar Klaußmann, der seit den 1870er Jahren als Redakteur verschiedener lokaler und regionaler Periodika arbeitete, oder Jeannot Emil Grotthuß, der an der Gründung zweier Zeitschriften beteiligt war. Die AutorInnen der sozialdemokratischen Neuen Welt waren fast ausnahmslos hauptberuflich in der Parteipresse tätig, so etwa der Nationalökonom und Neue Welt-Autor Paul Kampffmeyer, der seit 1907 bei der Münchner Post als Redakteur tätig war, und daneben in verschiedenen sozialistischen Periodika publizierte. Adolf Hepner begann seine journalistische Karriere 1896 beim Volksstaat, gründete in den 1870er Jahren einen eigenen Verlag, saß während seiner Zeit im US-amerikanischen Exil in den Redaktionen zweier deutschsprachiger Zeitungen und schrieb nach seiner Rückkehr nach Deutschland 1908 für verschiedene sozialdemokratische Periodika. Konrad Haenisch, einer der wenigen Neue Welt-Autoren mit bildungsbügerlichem Hintergrund, brach als Schüler mit seiner Herkunft und begann seine politische und journalistische Laufbahn als Volontär der Leipziger Volkszeitung. Fortan war er bei verschiedenen sozialistischen Periodika tätig und wurde schließlich Chefredakteur der Dortmunder Arbeiterzeitung. In ihrer sozialen Herkunft waren AutorInnen von Geschichtsartikeln meist recht homogen, stammten sie doch – wie in der Presselandschaft des 19. Jahrhunderts durchaus üblich – zum Großteil aus bildungsbürgerlichen Kreisen oder Beamtenfamilien108 und hatten oftmals einen akademischen Hintergrund. Viele Autoren hatten studiert – Philologie, Theologie, Rechtswissenschaften, Natio-
107 Vgl. als Auswahl: Heyck, Eduard, Zum hundertjährigen Gedenken der Thronbesteigung König Friedrich Wilhelms III. und der Königin Luise, in: DA 1898, S. 22-24, 40-43; Ders., Das Königreich am heiligen Grabe in Jerusalem, in: DA 1899, S. 1215; Ders., Washington. Zur hundertjährigen Wiederkehr seines Todestages, in: DA 1900, S. 150-152, 174-175; Ders., Der Ursprung der Gasthäuser in Deutschland, in: DA 1901, Nr. 42, S. 16-17; Ders., Öffentliche Bibliotheken, in: GL 1909, S. 142-146; Ders., Die Gestalt der Salome in der Kunst, in: GL 1909, S. 315-318. 108 Vgl. Requate (1995), S. 137-141; Barth (1975), S. 130; Koszyk (1966), S. 218-226.
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nalökonomie oder zum Teil auch Naturwissenschaften – und waren teilweise den akademischen Karriereweg noch weiter gegangen. Ein Doktortitel war keine Seltenheit und der Titel stets Bestandteil der namentlichen Nennung von Autoren, die damit nicht allein ihren Status, sondern vor allem ihre fachliche Kenntnis demonstrierten – Doktoren- oder gar Professorentitel fungierten im Kontext der Zeitschriften als Authentizitätsmarker, signalisierten sie doch die akademische Kompetenz des Autors. Für die Familienzeitschriften schrieben immer wieder Autoren mit Professorentitel, von denen einige ordentliche Professoren waren, andere aus der Reihe der Privatdozenten kamen.109 Die Wissenschaftler, die für populäre Zeitschriften schrieben, waren selten die ganz großen Namen der Historiographie – weder schrieb ein Georg von Below für Familienzeitschriften, noch ein Max Lenz, weder ein Heinrich von Treitschke noch ein Theodor Mommsen – doch waren durchaus renommierte Forscher und Ordinarien unter den Autoren, die allerdings in der Regel nicht regelmäßig in Familienzeitschriften veröffentlichten, sondern nur einen oder wenige Artikel lancierten. Insbesondere Daheim und Gartenlaube, die beiden beliebtesten Familienzeitschriften, konnten eine beachtliche Anzahl akademischer Historiker als Autoren gewinnen. Einer davon war der preußische Historiker Max Lehmann,110 der als erfolgreicher und geachteter Fachhistoriker primär im akademischen Feld positioniert
109 Sylvia Paletschek weist darauf hin, dass die Titelvergabe deutscher Universitäten im 19. Jahrhundert äußerst komplex war. Nicht alle Titel bedeuteten eine tatsächliche akademische Karriere und Stellung ihrer Träger. Eine Dissertation verlangte eigenständige Forschungsleistungen, wenn auch von viel geringerem Umfang als heute üblich. Demgegenüber lässt sich aus dem äußerst prestigereichen Professorentitel allein der tatsächliche Status eines Akademikers in der Hochschullandschaft nicht ersehen. Nicht allein vom Staat bezahlte und an den Hochschulen dauerhaft tätige Ordinarien und Extraordinarien durften sich Professor nennen. Die Universitäten verfügten über verschiedene Möglichkeiten, Professorentitel zu vergeben, die nicht an eine feste Besoldung oder Lehrverpflichtung gebunden sein mussten. So konnte zum Beispiel der Professorentitel nach einem Jahr der Lehrtätigkeit an Privatdozenten verliehen werden – der Titel band diese gern gesehenen Lehrkräfte an die Universität, ohne dass damit Besoldung oder Mitspracherecht verbunden waren. Vgl. Paletschek, Sylvia: Die permanente Erfindung einer Tradition. Die Universität Tübingen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Stuttgart: Steiner 2001, S. 262-266. 110 Vgl. zu Leben und Werk Lehmanns: vom Bruch, Rüdiger: »Lehmann, Max«, in: Neue Deutsche Biographie 14 (1985), S. 88-90; Vogler, Günter: »Max Lehmann«,
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war, aber auch in populären Medien publizierte. Aus einem Akademikerhaushalt kommend, promovierte Lehmann in Geschichte als Schüler von Johann Gustav Droysen, Leopold von Ranke und Philipp Jaffé. Nach seiner Promotion war er als Gymnasiallehrer tätig. Er veröffentlichte in dieser Zeit bereits Aufsätze in der Historischen Zeitschrift und den Preußischen Jahrbüchern über die Kriege von 1866 und 1870/71. Als Nachfolger Heinrich von Sybels, der ihn seit seiner Studienzeit förderte und dem er bis zu Beginn der 1890er Jahre eng verbunden blieb, übernahm Lehmann 1875 die Redaktion der Historischen Zeitschrift und einen Posten im Berliner Geheimen Staatsarchiv. Von hier konnte er seine wissenschaftliche Karriere voranbringen – seine Forschungsschwerpunkte lagen bei den preußischen Reformen sowie der Reformation; vor allem seine Biographien über Gerhard von Scharnhorst (1886/87) und Heinrich Friedrich Karl vom Stein (1902-05) waren vielgeachtet. 1888 nahm er eine Berufung als Nachfolger von Max Lenz in Marburg an und wechselte 1894, nach einem kurzen Intermezzo in Leipzig, wo er in Konflikt mit Karl Lamprecht geriet, an die Universität Göttingen. Lehmann war seit seinem Studium mit vielen führenden Vertretern der Geschichtswissenschaft, vornehmlich der kleindeutschen Schule, in freundschaftlichen und fördernden Beziehungen verbunden. Zu Heinrich von Treitschke pflegte er bis in die 1890er Jahre eine enge Freundschaft. Hatte er seine Karriere in den 1860er und frühen 1870er Jahren als Verfechter der kleindeutschen Geschichtsauffassung begonnen, wandte er sich im Laufe seiner historischen Arbeit jedoch gegen borussische Geschichtsmythen und die Annahme eines ›deutschen Berufs‹ Preußens.111 Mit dieser Auffassung geriet der »konservative Heißsporn« (Friedrich Meinecke) innerhalb der Zunft seit den 1890er Jahren zunehmend in Isolation. Zum Bruch mit den meisten Historikerkollegen kam es, als Lehmann 1894 den Siebenjährigen Krieg als preußischen Angriffskrieg wertete und damit
in: Joachim Streisand (Hg.), Die bürgerliche deutsche Geschichtsschreibung von der Reichseinigung von oben bis zur Befreiung Deutschlands vom Faschismus, Berlin: Akademie-Verlag 1965, S. 57-95; »Max Lehmann«, in: Sigfrid H. Steinberg (Hg.), Die Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Leipzig: Meiner 1925, S. 206-226. 111 Erstmals 1875 widerlegte Lehmann in der Schrift »Knesebeck und Schön« eine preußische Lesart der napoleonischen Zeit. Die Schrift erfuhr heftigen Widerspruch insbesondere durch Nachfahren Knesebecks und Schöns, die deren Erinnerung beschmutzt sahen, vgl. Vogler (1965), S. 62f. In der 1886/87 erschienenen Scharnhorst-Biographie brachte Lehmann zum ersten Mal seine kritische Haltung zur These eines ›deutschen Berufs‹ Preußens zum Ausdruck, vgl. ebd., S. 67-68.
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an einer der Grundlagen des borussischen Geschichtsbildes rührte. In Folge der Kontroverse schied Lehmann aus der Redaktion der Historischen Zeitschrift aus: Sybel kündigte ihm aufgrund des Streits um Friedrich II. die weitere Zusammenarbeit auf, und Lehmann lehnte es danach mit wenigen Ausnahmen ab, weiter in dem Fachorgan zu publizieren.112 Lehmanns Karriere war trotz seiner Entfremdung von führenden Fachkollegen inzwischen weitreichend gefestigt, er lehrte bis zu seiner Emeritierung 1921 in Göttingen und erlangte für seine Stein-Biographie juristische und theologische Ehrendoktorwürden in Gießen und Berlin. Nach seinem Abschied von der Historischen Zeitschrift publizierte er fortan in den Preußischen Jahrbüchern und wandte sich vermehrt populären Medien zu. Im Daheim, dessen protestantischkonservative Haltung er teilte, veröffentlichte er insgesamt drei Aufsätze,113 die er alle 1911 in leicht überarbeiteter Form erneut in einem Sammelband mit historischen Aufsätzen und Reden publizierte.114 Auch über das Daheim hinaus war Lehmann dem Verlag Velhagen und Klasing verbunden. In Velhagen und Klasings Monatsheften veröffentlichte er zwei Artikel zur preußischen Geschichte115 und für den Daheim-Kalender von 1912 verfasste er einen Text über die Ereignisse von 1812.116 Er schrieb außerdem für die Vossische Zeitung, das Berliner Tageblatt und andere populäre Periodika. Lehmann, wenn auch seit den 1890er Jahren ein Außenseiter in der Zunft, ist ein Beispiel für einen Historiker, der klar im akademischen Feld verwurzelt war, aber auch die Kommunikation mit der außerakademischen Welt suchte und offen gegenüber der Popularisierung von Forschungsergebnissen war. Vor seiner Professur hatte Lehmann schon im außeruniversitären Bereich gearbeitet – als Gymnasiallehrer, als Dozent der Preußischen Kriegsakademie und als Archivar – und er kommunizierte seine Forschungsergebnisse auch als Geschichtsprofessor
112 Vgl. Vogler (1965), S. 74. 113 Lehmann, Max, Die Erhebung Tirols im Jahre 1809, in: DA 1910, Nr. 1, S. 15-17; Nr. 2, S. 21-22; Nr. 3, S. 21-22; Ders., Luther vor Kaiser und Reich, in: DA 1899, S. 794-798, 806-810, 822-826; Ders., Neues über den Tilsiter Frieden, in: DA 1911, Nr. 7, S. 15-17; Nr. 8, S. 14-15. 114 Lehmann, Max: Historische Aufsätze und Reden, Leipzig: Hirzel 1911. 115 Lehmann, Max, Gneisenau, in: Velhagen und Klasings Monatshefte 1896/97, S. 11; Ders., Die preußische Städteordnung vom 19. November 1808, in: Velhagen und Klasings Monatshefte, November 1908. 116 Lehmann, Max: »Achtzehnhundertundzwölf«, in: Daheim-Kalender für das Deutsche Reich auf das Jahr 1912, Bielefeld, Leipzig: Velhagen und Klasing 1912, S. 52-66.
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noch in die Öffentlichkeit. Von einer prinzipiellen Ablehnung populärer Publikationsformen durch die Historikerzunft, dies wird an diesen Beispielen deutlich, kann keinesfalls gesprochen werden. Diesen langlebigen Topos hat schon Andreas Daum für die Naturwissenschaften widerlegen können.117 Populäre Printmedien waren als Orte, an denen wissenschaftliche Ergebnisse publiziert und popularisiert wurden, in der Wissenschaft anerkannt und wurden von verschiedenen Historikern als Plattform der Publikation oder als Nebenerwerb genutzt. Zeitschriftenautoren, die an Universitäten Karriere gemacht hatten, waren jedoch nicht allein Fachhistoriker, sondern entstammten verschiedenen Disziplinen, so etwa die Nationalökonomen Karl Theodor von Eheberg und Max Haushofer, der Theologe Adolf Hausrath oder der Assyriologe Friedrich Delitzsch. Dies zeigt an, dass Fachdisziplinen sich nicht allein in der populären Geschichte vermischten, sondern auch im akademischen Bereich durchaus offene Grenzen hatten, so dass es nicht ungewöhnlich war, wenn historische Forschung von Nationalökonomen oder Theologen betrieben wurde. Tatsächlich wurde eine fachwissenschaftliche Ausbildung für Historiker erst im späten 19. Jahrhundert flächendeckend möglich und üblich; die meisten der bekannten Historiker des 19. Jahrhunderts hatten nicht Geschichte, sondern andere Fächer studiert. Das Netzwerk der Familienzeitschriften reichte nicht allein in die Universitäten hinein, sondern auch in die vielen geschichtskulturellen Felder außerhalb der
117 Daum untersucht ein Sample von 165 Popularisierern naturwissenschaftlichen Wissens von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis 1918. Diese unterteilt er – allerdings auch unter dem Vorbehalt der Heterogenität ihrer beruflichen Laufbahnen und Tätigkeiten – in vier verschiedene Typen: Professionelle Popularisierer, die die Vermittlung naturwissenschaftlichen Wissens zu ihrem (Brot-)Beruf gemacht und für verschiedenste Printmedien geschrieben hätten, okkasionelle Popularisierer, die zeitweise und zu einem begrenzten Zweck vermittelnd tätig gewesen seien, universitäre oder akademische Popularisierer, die zusätzlich zu ihrer popularisierenden Tätigkeit im akademischen Feld verankert gewesen seien, und akademische Meinungsführer, jene Wissenschaftler, die im akademischen Feld ob ihrer Stellung den Ton angegeben hätten. Die meisten der naturwissenschaftlichen Popularisierer hätten – wie auch der Großteil der historischen Wissensvermittler – ein Studium in ihrem Bereich abgelegt, wenn auch Abweichungen vom akademischen Normalweg durchaus Charakteristik der Populärwissenschaftler gewesen sei. Die dominante akademische Attitüde gegenüber der Populärwissenschaft sei keineswegs Verachtung gewesen, sondern gegen Ende des 19. Jahrhunderts hätten sich mehr und mehr Professoren selbst an der außeruniversitären Vermittlungsarbeit beteiligt. Vgl. Daum (1998), Kapitel VII: »Die Vermittler«, S. 377-458.
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Akademie. Zahlreiche AutorInnen arbeiteten hauptberuflich in Museen, Bibliotheken oder Archiven, so etwa der zweite Direktor des Germanischen Nationalmuseums Hans Bösch, der regelmäßig im Daheim publizierte. Der Neue WeltAutor Alexander Conrady war im Archiv der SPD tätig. In der Alten und Neuen Welt publizierten der Luzerner Staatsarchivar Theodor von Liebenau und Gabriel Meier, der Stiftsbibliothekar des Klosters Einsiedeln, das eng mit dem Verlagshaus Benziger und der Zeitschrift verbunden war. Ein akademischer Hintergrund war keine Grundvoraussetzung für eine angestellte oder freiberufliche Tätigkeit bei einer Familienzeitschrift oder allgemein im Journalismus.118 Einige Autoren hatten nicht studiert, sondern kamen als Quereinsteiger aus anderen Ausbildungsberufen zu ihrer journalistischen Tätigkeit. Solche Quereinsteiger fanden sich häufig bei der sozialdemokratischen Neuen Welt. Oftmals einem proletarischen oder kleinbürgerlichen Milieu entstammend, hatten sie in der Regel vor ihrer journalistischen Laufbahn in der Parteipresse eine Lehre gemacht, so zum Beispiel Emil Rosenow, Sohn eines Schuhmachers, der zunächst eine Buchhandelslehre und eine bankkaufmännische Lehre begann, bevor er hauptberuflich in der Parteipresse der SPD arbeitete. Ein anderes Beispiel für einen Autodidakten ist Heinrich Cunow, der sich neben seiner kaufmännischen Lehre selbst weiterbildete und ethnologische Forschung betrieb. Neben seiner Karriere in Parteipresse und Parteischule konnte Cunow sich auch außerhalb des sozialdemokratischen Milieus einen Namen machen und wurde 1919 außerordentlicher Professor an der Berliner Universität und Direktor des Berliner Völkerkundemuseums. Dass Autodidakten im Bereich der populären Geschichte zum Teil äußerst erfolgreich werden konnten, zeigt auch das Beispiel des Technikhistorikers Franz Maria Feldhaus.119 Der 1874 in einen Apothekerhaushalt geborene Feldhaus interessierte sich seit seiner Jugend für Technik und ihre Geschichte. In jungen Jahren schlug er sich mit Gelegenheitsjobs und Erfindungen durch; ohne Abitur hatte er keine Möglichkeit zu studieren und einen akademischen Abschluss zu erwerben, besuchte allerdings als Gasthörer die Vorlesungen des
118 Vgl. zu journalistischen Karrierewegen Requate (1995), S. 165-177. 119 Vgl. zu Leben und Werk Franz Maria Feldhausʼ: »Feldhaus, Franz Maria«, in: Neue Deutsche Biographie 5 (1961), S. 68; Popplow, Marcus: »Franz Maria Feldhaus – die Weltgeschichte der Technik auf Karteikarten«, in: Anke te Heesen (Hg.), Cut and Paste um 1900. Der Zeitungsausschnitt in den Wissenschaften, Berlin: Vice Versa 2002, S. 100-115; Lessing, Hans-Erhard: »Franz Maria Feldhaus. Kann man von Technikgeschichte leben?«, in: Peter Blum (Hg.), Pioniere aus Technik und Wirtschaft in Heidelberg, Aachen: Shaker 2000, S. 80-93.
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Technikhistorikers Theodor Beck und bildete sich darüber hinaus autodidaktisch weiter. Eine breitere Forschung zur Geschichte der Technik gab es um die Jahrhundertwende noch nicht, und in diese Lücke konnte Feldhaus mit seiner ersten Veröffentlichung, einem Lexikon der Erfindungen, stoßen und sich einen Namen machen. Er baute mit dem 1909 in Berlin gegründeten Privatinstitut Quellenforschungen zur Geschichte der Technik und der Naturwissenschaften eine einzigartige Sammlung auf und gründete 1908 mit der Historia-Foto GmbH das erste kommerzielle Bildarchiv in Deutschland. Seit 1914 gab Feldhaus zusammen mit Graf Carl von Klinckowström eine technikhistorische Monatszeitschrift heraus.120 Beide gründeten zudem nach dem Krieg die Quellenforschungen zur Geschichte der Technik und Industrie GmbH, eine Agentur, die Recherche für Unternehmensgeschichten und Patentfragen anbot. Neben seinen archivalischen Tätigkeiten schrieb Feldhaus zahlreiche Bücher und Aufsätze. In einem Brief von 1946 berichtete er, wie er Anfang des neuen Jahrhunderts nach Berlin gegangen sei und dort für Familienblätter geschrieben habe. Da das Thema Technikgeschichte in den Redaktionen neu gewesen sei, hätten seine Texte, die er selbst mit Fotografien illustriert habe, stets Absatz gefunden.121 3000 Artikel gab er 1956 an geschrieben zu haben.122 Seit 1906 schrieb Feldhaus regelmäßig für die Gartenlaube und das Daheim, in einem Fall auch für die Alte und Neue Welt, technikhistorische Artikel.123 Dass ein Autor gleich in drei verschiedenen Familienzeitschriften veröffentlichte, war eher ungewöhnlich, normalerweise hatte jede Zeitschrift ihren Stamm an AutorInnen und diese blieben häufig einer einzigen Familienzeitschrift treu. Im Falle Feldhausʼ sorgte vermutlich seine Bekanntheit als einer der ersten und wichtigsten Technikhistoriker seiner Zeit dafür, dass er Absatz bei den verschiedensten Periodika fand. Für ihn selbst war der Verkauf seiner Artikel ein wichtiges Einkommen. Seine Tochter Eva Zeller deutet in ihrer Autobiographie die beständige Finanznot ihres Vaters an, der über seine Verhältnisse gelebt und »bei Gott weiß
120 Geschichtsblätter für Technik, Industrie und Gewerbe (1914-1927). Feldhaus und Klinckowström schrieben die Artikel der Zeitschrift größtenteils selbst. 121 Franz Maria Feldhaus an den Vizepräsidenten des Landes MecklenburgVorpommern, 14.01.1946, zit. in: Lessing (2000), S. 84. 122 Vgl. ebd. 123 Vgl. als Auswahl: Feldhaus, Franz Maria, Die Vorläufer des Automobils, in: GL 1906, S. 36-40; Ders., Alte Gedanken und Versuche zur Eroberung der Luft, in: GL 1909, S. 755-759; Ders., Berlins erste Eisenbahn, in: DA 1909, Nr. 5, S. 11; Ders., Der Bleistift, seine Geschichte und seine Fabrikation, in: GL 1910, S. 892-895; Ders., Abraham A Sancta Clara als Techniker, in: ANW 1912, S. 139-141.
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wem in der Kreide« gestanden habe124 und daher die Heirat mit seiner dritten Frau 1922 als Geldheirat geplant habe.125 Franz Feldhaus, dessen Werk heute ob seiner methodischen Ungenauigkeiten und Fehler kritisiert wird,126 ist ein Beispiel für einen Autodidakten, der sich ohne formale akademische Bildung einen Namen im populären wie wissenschaftlichen Bereich machen konnte; zugleich war er einer von zahlreichen Historikern, für welche die Popularisierung von Geschichte den hauptsächlichen Broterwerb darstellte und die dementsprechend rege publizierten. Populäre Geschichte, das wird hier deutlich, war immer auch marktgebunden, mit ihr konnte Geld verdient werden. Für viele Historiker waren Publikationen in populären Medien für das eigene Auskommen notwendig. Ein weiteres Beispiel dafür ist die Gartenlaube-Autorin Rosalie BraunArtaria, die in der Gartenlaube über verschiedenste Themen und Epochen schrieb.127 Einer bildungsbürgerlichen katholischen Mannheimer Familie entstammend, genoss sie eine umfassende Bildung und verkehrte Zeit ihres Lebens in gebildeten und künstlerischen Kreisen. Sechzehnjährig verlobte sie sich mit dem Kunsthistoriker Julius Braun, der eine akademische Karriere anstrebte, allerdings niemals die erhoffte Professur erlangte. Nach einem kurzen Aufenthalt in Tübingen lebte das Paar in München, wo Braun an der Universität lehrte. Als er 1869 an Tuberkulose starb, musste Braun-Artaria allein für sich und ihre beiden Töchter sorgen und begann zu schreiben. In ihrer Autobiographie beschrieb sie den Schritt zur Schriftstellerei, der für sie aus finanzieller Notwendigkeit heraus geschah: »Ich sah mich, noch nicht dreißig alt, vor große Aufgaben gestellt. Aber gerade die Sorge um meine und der Kinder Existenz gab, nach der ersten schweren Trauerzeit, den wohltätigen Anstoß zu eigener Tätigkeit. Daß die Einkünfte meines mäßigen Vermögens künftig allein nicht für uns ausreichen konnten, sah ich voraus, aber ich fühlte auch Kraft und
124 Vgl. Zeller, Eva: Solange ich denken kann. Roman einer Jugend, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1981, S. 60. 125 Vgl. ebd., S. 125, 127f. 126 Vgl. Feldhaus (1961). 127 Vgl als Auswahl: Braun-Artaria, Rosalie, Herzogin Hadwig, die Heldin des »Ekkehard«, in: GL 1894, S. 364-365; Dies., Der Marienplatz in München zu Ende des 15. Jahrhunderts, in: GL 1897, S. 140, 136-137; Dies., Die Pariser Gesellschaft vor hundert Jahren, in: GL 1899, S. 452-459; Dies., Der Tanz in alter und neuer Zeit, in: GL 1904, S. 121-123.
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Mut, sie durch Arbeit zu vermehren. So kam ich, anfangs mit Übersetzungen, allmählich zur Schriftstellerei, die ich vermutlich sonst nie begonnen hätte.«128
1886 schrieb Braun-Artaria ihren ersten Artikel für die Gartenlaube. Adolf Kröner, mit dem sie befreundet war, hatte sie anlässlich des mysteriösen Todes des bayerischen Königs Ludwig II. per Telegramm gebeten, für die in Vorbereitung befindliche Ausgabe einen Artikel über den Ort des Geschehens, Schloss Berg, zu verfassen.129 Braun-Artaria nahm diesen ersten Auftrag freudig an, wie sie in ihren Erinnerungen wiedergab: »Ich eilte heim, warf Hut und Handschuhe weg, setzte mich und schrieb mit fliegender Feder das mir glücklicherweise Wohlbekannte, was über das Schloß, sein früheres heiteres Leben unter Max II und die nunmehrige Trauerstille zu sagen war. Dann trug ich die Sendung mit Eilvermerk versehen, durch den wieder niederprasselnden Gewitterregen hinüber auf die Bahnpost zum Nachtzug. Und am Freitag stand der Artikel wirklich gedruckt in der nach Hunderttausenden zählenden und durch ganz Deutschland gesandten neuesten Nummer! Kröner und seine Maschinen hatten es fertig gebracht.«130
Das Angebot einer festen Stelle in der Redaktion der Zeitschrift folgte bald auf diesen ersten Auftrag: »Ich nahm mit Freude an, denn eine solche Tätigkeit entsprach meinen Neigungen und Fähigkeiten, und der gute Gehalt war geeignet, mich jeder ferneren Sorge zu überheben.«131 Insbesondere ledige oder verwitwete Autorinnen mussten mit ihrer Publikationstätigkeit ihren Lebensunterhalt bestreiten – das Schreiben war für sie kein reines Hobby, sondern Brotberuf. Auch Daheim-Autorin Agnes Harder lebte von ihrer Publikationstätigkeit. Die Tochter eines ostpreußischen Juristen gab in den 1890er Jahren für die Schriftstellerei ihren Lehrerinnenberuf, in dem sie mehrere Jahre gearbeitet hatte, auf. Ihre journalistische Laufbahn begann mit Reiseberichten in der Magdeburger Zeitung, später publizierte sie in verschiedenen Periodika, so auch im Daheim, wo sie neben anderen Themen über Historisches
128 Braun-Artaria, Rosalie: Von berühmten Zeitgenossen. Erinnerungen einer Siebzigerin, München: Beck 1918, S. 172f. 129 Vgl. ebd., S. 203f. 130 Ebd., S. 205. 131 Ebd.
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schrieb.132 Zudem veröffentlichte Harder erfolgreiche Romane, die meist in Ostpreußen angesiedelt waren, von häuslichem Glück und Leid handelten und die gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer Zeit spiegelten.133 In der Regel aus bildungsbürgerlichen oder seltener adligen Kreisen stammend, hatten die weiblichen Zeitschriftenautorinnen meist von frühester Jugend an eine umfassende Bildung genossen und waren in ihrem Elternhaus gefördert worden. Eine jüngere, seit den 1870er Jahren geborene Generation, nutzte zudem mehr und mehr die neuen Zugänge zu universitärer Bildung, wie etwa SonntagsZeitungs-Autorin Gertrud von le Fort, die zur ersten Generation von Frauen gehörte, die an deutschen Universitäten studierten. Sie wurde wie die meisten Zeitschriftenautorinnen vor allem für ihr dichterisches Werk und ihre historischen Romane berühmt. In diesen setzte sich le Fort, die protestantisch aufwuchs und 1926 nach intensiver jahrelanger Beschäftigung mit Religion zum Katholizismus konvertierte, vor allem mit Religiosität und Kirchengeschichte auseinander. Religion und Geschichte waren die beiden Achsen, die ihr Werk durchzogen, und auch wichtige Topoi ihrer beiden Autobiographien darstellten:134 Sie beschrieb dort, wie ihr Vater, ein Oberst der preußischen Armee, sie schon als Mädchen mit seiner Begeisterung für Geschichte angesteckt hätte: »Mein Vater gehörte zu jenen geistvollen und hochgebildeten Offizieren der alten Armee, die vom Studium der Kriegsgeschichte zum Studium der Geschichte überhaupt gekommen waren. Mein Interesse flog ihm hier früh und leidenschaftlich entgegen – er fühlte es und pflegte es bewußt. Schon als kleines Mädchen machte es mich überglücklich, wenn er mir Geschichtliches erzählte. Dabei ging er in höchst sinnvoller Weise immer vom Nächstliegenden, also von der eigenen Familiengeschichte aus.«135
So las le Fort schon in jungen Jahren Ranke und Kant und nahm als Erwachsene zweiunddreißigjährig ein Studium der Geschichte, Theologie und Philosophie in Heidelberg auf. Ernst Troeltsch, dem sie 1915 nach Berlin folgte, wurde dabei
132 Vgl. Harder, Agnes, Aennchen von Tharau, in: DA 1902, Nr. 16, S. 17-18; Dies., Die Krönungsstätte der norwegischen Könige, in: DA 1906, Nr. 52, S. 15; Dies., Die Hausmutter von 1779, in: DA 1906, Nr. 8, S. 12. 133 Vgl. Wilhelm, Gertraude: »Harder, Agnes Marie Luise Gabrielle«, in: Neue Deutsche Biographie 7 (1966), S. 664-665. 134 Vgl. Le Fort, Gertrud von: Hälfte des Lebens. Erinnerungen, München: Ehrenwirth 1965; Dies.: Aufzeichnungen und Erinnerungen, Köln: Benziger 1951. 135 Ebd., S. 13f.
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ihr wichtigster Lehrer und Mentor.136 Le Fort, deren Durchbruch zu einer erfolgreichen und bedeutenden Dichterin erst in den 1920er Jahren erfolgen sollte, veröffentlichte seit der Jahrhundertwende faktuale Texte, Erzählungen und Gedichte in der Sonntags-Zeitung137 und anderen Zeitschriften.138 Dass ZeitschriftenautorInnen sowohl faktuale als auch fiktionale Texte schrieben, war kein Einzelfall. Vor allem Frauen bauten üblicherweise ihre publizistische Karriere auf fiktionaler Literatur auf und hatten in diesem Genre Chancen auf schriftstellerischen Erfolg: Ein großer Teil der in Zeitschriften veröffentlichten Fortsetzungsromane stammte aus der Feder von Frauen. Bestes Beispiel dafür ist Eugenie Marlitt, die Starautorin der Gartenlaube, die zwischen 1865 und ihrem Tod 1887 insgesamt zehn Fortsetzungsromane publizierte und damit maßgeblich zum Erfolg der Zeitschrift beitrug.139 Doch auch viele männliche Schriftsteller wurden vor allem für ihr fiktionales Werk bekannt und nutzten die Arbeit für Periodika wahrscheinlich weitgehend als sichereren Erwerb. Beispiele für solche Romanautoren, die auch faktuale Geschichtsartikel schrieben, waren Sonntags-Zeitungs-Autor Alfred Funke, der Erzählungen, Reiseberichte und Biographisches schrieb, oder Heinrich Federer, Autor der Alten und Neuen Welt, der seine klerikale Karriere aus gesundheitlichen Gründen gegen eine publizistische und literarische eintauschte und zu einem der bekanntesten katholischen Erzähler der Schweiz wurde. Neben Bildungsstand, Geschlecht und sozialer Herkunft strukturierten auch konfessionelle Zugehörigkeiten die Tätigkeit bei Familienzeitschriften. Die konfessionellen Blätter rekrutierten viele geistliche Mitarbeiter. Insbesondere die Alte und Neue Welt pflegte einen engen Kontakt zur Kirche und zum lokalen Kloster. So engagierte die Redaktion zahlreiche Priester aus dem Stift Einsiedeln und andere Geistliche als regelmäßige Autoren. Zwei spätere Äbte des Klosters Einsiedeln, Columban Brugger und sein Nachfolger Thomas Bossart publizierten in der Alten und Neuen Welt, ebenso die Stiftsarchivare Odilo Ringholz und Clau-
136 Vgl. Meyerhofer, Nicholas J.: Gertrud von LeFort, Berlin: Morgenbuch-Verlag 1993, S. 27. 137 Stark, Gerta von [Pseudonym Gertrud von le Fort], Frauengestalten aus Schillers Leben, in: SZ 1904/05, S. 579-585; Dies., Frauentragödien im Tower, dem alten englischen Staatsgefängnis, in: SZ 1906/07, S. 494-496; Le Fort, Gertrud Freiin, Marie Antoinette, Königin von Frankreich, in den Tagen des Glückes, in: SZ 1904/05, S. 269-274. 138 Vgl. Meyerhofer (1993), S. 24. 139 Vgl. Griep, Wolfgang: »Marlitt, Eugenie«, in: Neue Deutsche Biographie 16 (1990), S. 229-230.
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dius Hirt oder der Kapitular Albert Kuhn. Neben Benediktinern aus Einsiedeln verfassten auch andere Geistliche in der Alten und Neuen Welt Artikel, so zum Beispiel der Priester und Missionswissenschaftler Robert Streit oder der Jesuit und Literaturwissenschaftler Alexander Baumgartner. Die Autoren des Daheim dagegen stammten häufig aus protestantischen bildungsbürgerlichen Haushalten, wie etwa der bereits erwähnte Kulturhistoriker Eduard Heyck, oder aus (traditionell protestantischen) adligen preußischen Eliten wie zum Beispiel Jeannot Emil Grotthuß. Teilweise hatten die DaheimAutoren militärische Karrieren durchlaufen und diese für die Schriftstellerei aufgegeben, wie Hanns von Zobeltitz und Fedor von Köppen. Viele studierte Theologen und Pfarrer waren Teil der Daheim-Redaktion oder schrieben als freie Autoren historische Artikel für das Blatt, so etwa Redaktionsmitglied Theodor Hermann Pantenius oder der Theologieprofessor Adolf Hausrath. Vor allem in Gartenlaube und Neuer Welt publizierten zudem regelmäßig jüdische AutorInnen, zum Beispiel der promovierte Mathematiker und Physiker Bruno Borchardt, der österreichische Nationalökonom Adolf Braun, Jacob Stern, der vor seiner Laufbahn in der sozialdemokratischen Presse als Rabbiner tätig war, oder der aus einem geistlichen Elternhaus stammende Philologe und Kunsthistoriker Adolf Kohut. AutorInnen von Geschichtsartikeln, das wurde in diesem Kapitel deutlich, kamen meist aus dem Bürgertum und hatten einen akademischen Bildungshintergrund, stammten zum Teil aber aus anderen sozialen Schichten. Neben einem Großteil männlicher Autoren fanden sich immer wieder Frauen, die einmalig oder regelmäßig in Familienzeitschriften publizierten. Die populäre Geschichtsschreibung im Allgemeinen und das Genre der Familienzeitschriften im Besonderen zogen viele Autoren an, die Grenzgänger zwischen akademischen und populären Tätigkeiten, Schreibstilen und Karrierewegen waren. Zudem waren viele AutorInnen in andere Periodika oder publizistische Projekte eingebunden. Die expandierende Presselandschaft wie auch die Geschichtskulturlandschaft des späten 19. Jahrhunderts waren Netzwerke, in der Akteure oftmals an verschiedenen Knotenpunkten zu finden waren.
4. Geschichte in Familienzeitschriften im Überblick Themen, Epochen, Formen
Dieses Kapitel ist als Einführung in formale und inhaltliche Aspekte der Geschichtsdarstellungen in Familienzeitschriften gedacht. Ich zeige, welche Darstellungsformen und welche Zugänge zur Geschichte die Familienzeitschriften wählten, wie sich das Verhältnis von Text und Bild gestaltete und welche Epochen sie schwerpunktmäßig behandelten. An die Quantifizierung der Epochen schließt sich die Frage an, wo in der Konzeption der AutorInnen der Anfangsund der Endpunkt der Geschichte lagen und – damit immer verbunden – was eigentlich Geschichte und Historizität ausmachten.
G ESCHICHTSSCHREIBUNG
FORMAL : EIN
Ü BERBLICK
Der erste Schritt eines Überblicks über die Geschichtsartikel in Familienzeitschriften ist eine Orientierung über formale Aspekte, also: Welche Arten von Geschichtsdarstellungen gab es und welche Zugänge zur Geschichte nutzten die Zeitschriften? Zur Quantifizierung und Analyse der Formate, in denen Geschichte transportiert wurde, wurde die Kategorie der ›Darstellungsform‹ gewählt. Diese unterscheidet zunächst zwischen allein stehenden Illustrationen und Artikeln, die reiner Text beziehungsweise Text-Bild-Kombinationen waren (im Schnitt war die Hälfte aller Artikel bebildert). Artikel wurden weiter gegliedert in Sachartikel, Biographien, Ego-Dokumente sowie Rezensionen anderer geschichtskultureller Produkte. Der größte Teil historischer Darstellungen aller Zeitschriften
94 | POPULÄRE G ESCHICHTE IM K AISERREICH
waren Sachartikel1 (58,1%,2 vgl. Diagramm 1). Häufig wurden außerdem biographische Formate verwendet (11,4%) oder Ego-Dokumente3 veröffentlicht (4,1%), seltener andere geschichtskulturelle Produkte (Bücher, Museen oder Denkmäler) rezensiert (2,5%). Diagramm 1: Darstellungsformen der Geschichtsartikel in Familienzeitschriften 1890-19134 100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% alle ZS
GL
DA
Sachartikel Egodokumente Buch-/Denkmals-/Museumsbesprechung
ANW
NW
SZ
Biographie allein stehende Illustrationen Sonstige
Quelle: Datenbank Geschichtsschreibung in Familienzeitschriften (DGFZ).
In der Text-Bild-Verteilung glichen die einzelnen Zeitschriften einander – mit Ausnahme der Sonntags-Zeitung: Während allein stehende Bilder in den klassischen Familienzeitschriften etwa zwischen einem Fünftel und einem Viertel der
1
Die Codierung ›Sachartikel‹ als in dritter Person geschriebene Texte über historische Ereignisse und Entwicklungen umfasst sämtliche faktualen Textformen, die nicht in erster Person verfasst waren (also keine Egodokumente), keine Rezensionen geschichtskultureller Produkte waren und nicht biographisch arbeiteten.
2
Die im Text genannten Prozentzahlen beziehen sich, wenn nicht genauer benannt, auf den Durchschnitt aller fünf ausgewerteten Zeitschriften.
3
Ego-Dokumente beinhalten autobiographische Texte, ZeitzeugInnenberichte, Briefe und Tagebücher.
4
Die Geschichtsartikel wurden je nach Kategorie einfach oder mehrfach codiert. In der Auszählung wurden mehrfache Codierungen prozentual verrechnet.
G ESCHICHTE IN F AMILIENZEITSCHRIFTEN IM ÜBERBLICK
| 95
Darstellungen ausmachten, brachte die Sonntags-Zeitung lediglich 7% allein stehendes Bildmaterial,5 druckte dafür allerdings viele Illustrationen, die in Artikel eingebettet waren. Tabelle 2: Formen der Geschichtsschreibung in Familienzeitschriften 1890-1913 alle ZS
GL
DA
ANW
NW
SZ
Politische Geschichte
30,7%
36,2%
31,7%
25,5%
27,2%
29,3%
Kulturgeschichte
22,8%
20,6%
17,2%
30,8%
21,7%
29,3%
Biographie
13,6%
10,9%
18,6%
11,2%
12,6%
13,1%
Sozialgeschichte
7,9%
5,8%
5,1%
5,1%
22,2%
6,2%
Lokale Geschichte
7,7%
7,6%
8,7%
8,4%
4,8%
7,8%
Kunstgeschichte
6,3%
5,6%
9,3%
7,0%
4,6%
3,0%
Sonstige
11,0%
13,3%
9,4%
12,2%
6,9%
11,4%
Gesamt
100%
100%
100%
100%
100%
100%
Quelle: DGFZ.
Während sich die Frage nach den Darstellungsformen auf die Textform beziehungsweise das Genre der Artikel bezog, benennt die Kategorie ›Form der Geschichtsschreibung‹ die historischen Zugänge, welche die AutorInnen wählten.6 Die in allen Zeitschriften am häufigsten gewählten historiographischen Formen waren Politik- und Kulturgeschichte. Politikgeschichte machte in allen Zeitschriften zwischen einem Viertel und einem Drittel der Geschichtsdarstellungen
5
In der Sonntags-Zeitung bestanden fast drei Viertel aller Darstellungen aus Sachartikeln – weitaus mehr als in den anderen Zeitschriften, in denen die Sachartikel zwischen 51,5% und 63,9% ausmachten.
6
Die Kategorie ›historischer Zugang‹ umfasst die Codierungen Ereignisgeschichte/politische Geschichte, Kultur- und Alltagsgeschichte, Historische Biographie, Lokale Geschichte/Stadtgeschichte, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, sowie Kunst-, Literatur- und Baugeschichte. Weitere Codierungen, die unter ›Sonstige‹ zusammengefasst wurden, sind: Ideengeschichte, Genealogie, Frauengeschichte, Ausgrabungsberichte, Naturgeschichte, Wissenschafts- und Technikgeschichte sowie Institutionengeschichte.
96 | POPULÄRE G ESCHICHTE IM K AISERREICH
aus (vgl. Tabelle 2) und Kulturgeschichte war in Alter und Neuer Welt und Sonntags-Zeitung fast in einem Drittel der Darstellungen vertreten, während die anderen Zeitschriften in etwa einem Fünftel der Darstellungen Kulturgeschichte schrieben. Doch auch historische Biographien (13,6%) und Stadtgeschichte (7,7%) wurden oft publiziert. Wirtschafts- und Sozialgeschichte war vor allem in der Neuen Welt mit fast einem Viertel aller historischen Artikel ein prominenter Zugang, in den anderen Zeitschriften hingegen wurde diese Art der Geschichtsschreibung lediglich in 5-6% der Darstellungen betrieben. Kunst-, Literatur- und Baugeschichte hatte im Daheim einen hohen Stellenwert (9,3%), die restlichen Zeitschriften widmeten dieser ›hochkulturellen‹ Kulturgeschichte zwischen 3% und 7% ihrer Darstellungen. Die Auswertung der Kategorien ›Darstellungsform‹ und ›Form der Geschichtsschreibung‹ zeigt eindrücklich auf, wie stark die Zeitschriften einander in ihrem formalen Aufbau und ihren historiographischen Konzepten ähnelten. Alle Zeitschriften waren dominiert von Sachartikeln und glichen sich in etwa in ihrer Verteilung verschiedener Darstellungsformen. Abgesehen von der auffallenden Präferenz der Neuen Welt für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte und dem verhältnismäßig größeren Stellenwert von Kulturgeschichte in Sonntags-Zeitung und Alter und Neuer Welt glichen sich zudem Auswahl und Verteilung der verschiedenen Zugänge zur Geschichte in allen Zeitschriften. An diesem Befund wird sichtbar, dass es eine an das Genre Familienzeitschrift gebundene Art gab, Geschichte zu schreiben, die der inneren Logik und den Formatvorgaben des Mediums folgte. Diese Formatvorgaben werden unter anderem im Verhältnis von Text und Bild deutlich, dem im folgenden Kapitel nachgegangen wird. Text-Bild-Verhältnisse in Geschichtsdarstellungen Familienzeitschriften setzten sich aus Texten und Bildern zusammen, und so war auch die Darstellung von Geschichte im Bild ein wichtiges Charakteristikum der Zeitschriften, aber auch anderer populärer Medien und unterschied die zahlreichen populären Zugänge zur Geschichte von der Fachwissenschaft, die – mit Ausnahmen von Kultur- und Kunsthistorikern – vorwiegend textbasiert arbeitete.7 Eine Analyse illustrierter Familienzeitschriften darf die vielen Illustrationen
7
Vgl. zum Umgang der Fachwissenschaft mit Bildquellen um die Jahrhundertwende Jäger, Jens: »Zwischen Bildkunde und Historischer Bildforschung. Historiker und visuelle Quellen 1880-1930«, in: Ders./Martin Knauer (Hg.), Bilder als historische Quellen? Dimension der Debatten um historische Bildforschung, München: Wilhelm Fink 2009c, S. 45-70.
G ESCHICHTE IN F AMILIENZEITSCHRIFTEN IM ÜBERBLICK
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keinesfalls ausklammern, sondern muss das Genre als ein Zusammenspiel von Text und Bild begreifen und als solches untersuchen.8 Das folgende Kapitel geht zunächst den in der Forschung angenommenen Wirkungen von Bildern im Vergleich zu Texten nach und zeigt im Anschluss auf, welche Arten von Bildern als Geschichtsdarstellungen verwendet wurden, welche Themen die Familienzeitschriften im Bild darstellten und wie sich das Verhältnis von Text und Bild gestaltete. Verschiedene Forschungen betonen die Differenzen zwischen Bildern und Texten in ihrer Wirkung: Bilder lieferten Informationen unmittelbarer, seien einprägsamer und sprächen die BetrachterInnen auf einer sinnlichen und affektuellen Ebene an.9 Im Gegensatz zum Textverständnis, so Josef Kasper, scheine die Botschaft eines Bildes müheloser, ›auf einen Blick‹ erfassbar, und wirke dabei unbewusster als die Aussage von Texten.10 Die Wirkung von Bildern auf das Geschichtsverständnis der LeserInnen war davon ausgehend womöglich intensi-
8
Einige empirische Forschungen zu verschiedenen Aspekten von Familienzeitschriften klammern die Bilder aus und arbeiten lediglich mit Texten, vgl. Koch (2003); Gruppe (1976); Belgum (1998). Eine zentrale Auseinandersetzung mit den Bildern illustrierter Familienzeitschriften hingegen findet sich bei Becker, Frank: Bilder von Krieg und Nation. Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffentlichkeit Deutschlands 18641913, München: Oldenbourg 2001a; Otto (1990); Wildmeister (1998); Gall (2011). Spätestens mit dem Visual Turn der 1990er Jahre ist in der Geschichtswissenschaft das Bewusstsein für eine Einbeziehung von Bildern über rein illustrierende Funktion hinaus gewachsen, und für eine methodische Auseinandersetzung mit Bildquellen in der historische Forschung vorhanden. Vgl. zur Visual History Rose, Gillian: Visual Methodologies. An Introduction to Researching with Visual Materials, Los Angeles: Sage 2012; Behr, Charlotte/Usborne, Cornelie/Wieber, Sabine: »Introduction. The Challenge of the Image«, in: Cultural & Social History 7 (2010), S. 425-434; Jäger, Jens: »Geschichtswissenschaft«, in: Klaus Sachs-Hombach (Hg.), Bildwissenschaft. Disziplinen – Themen – Methoden, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2009b, S. 185-193; Fuchs, Martina: Geschichte in Bildern?, Innsbruck: Studien-Verlag 2006; Paul, Gerhard: »Von der Historischen Bildkunde zur Visual History. Eine Einführung«, in: Ders. (Hg.), Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, S. 7-36; Burke, Peter: Augenzeugenschaft. Bilder als historische Quellen, Berlin: Wagenbach 2003.
9
Vgl.
Schweizer,
Stefan:
Geschichtsdeutung
und
Geschichtsbilder.
Visuelle
Erinnnerungs- und Geschichtskultur in Kassel 1866-1914, Göttingen: Wallstein 2004, S. 55f.; Germer (1998), S. 42-45; Wildmeister (1998), S. 12. 10 Vgl. Kasper (1979), S. 12f.
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ver als die narrativer Texte. Zugleich ist auch Bildrezeption immer zu historisieren und zu kontextualisieren, hat doch jede Epoche ihre eigenen Sehgewohnheiten und ist die Rezeption eines Bildes immer an andere Faktoren wie Bildungsstand und (kunst)historische Vorkenntnis gebunden. Die Zusammengehörigkeit von Text und Bild in Familienzeitschriften bedeutet nicht, dass Bild und Text auch immer gemeinsam rezipiert wurden – gerade Illustrationen konnten einfach unabhängig vom Text angeschaut werden. Kinder, die des Lesens noch nicht mächtig waren, begnügten sich damit, Bilder anzuschauen,11 und auch Menschen, die lesen konnten, hatten die Möglichkeit, eine Zeitschrift durchzublättern, die Texte nur zu überfliegen oder zu ignorieren und sich auf die Bilder zu konzentrieren. Illustrationen konnten zudem aus den Blättern herausgetrennt und an die Wand gehängt oder weiter verschenkt werden.12 Das Verhältnis von Text und Bild war in Familienzeitschriften sehr vielfältig. Es gab Texte, die überhaupt nicht illustriert waren, ebenso wie Bilder, die keinen Begleittext hatten. Am häufigsten war eine Mischform aus Text und Bild, die zusammen Eindruck und Aussage des Artikels ergaben. Diese Bilder, deren Größe von Miniaturformaten bis zu ganzseitigen Abbildungen und deren Anzahl von ein bis 20 variieren konnte, waren oft auch vom Layout her in den Text eingebaut. Die Texte konnten dabei direkten Bezug zu den Illustrationen nehmen, sie erläutern und historisch kontextualisieren, aber oftmals standen Text und Bild nur in einem thematischen Zusammenhang, ohne dass im Text direkt auf das Bild rekurriert wurde. Ein einzelner Artikel konnte verschiedenste Bildgenres in sich vereinen: Porträtmalerei und -fotografie, fotografische Reproduktionen von Objekten und Gebäuden, Historienmalerei etc. Diese Mischformen verschiedener Bildtypen kamen vor allem bei Artikeln zum Tragen, die weitgefasste Themen verhandelten, und bei der Darstellung von Ereignisgeschichte, da hier ein breiteres bildliches Quellenmaterial vorhanden war.13
11 Ein Gartenlaube-Leser beschrieb 1928 die Erfahrungen mit den gedruckten Bildern seiner Kindheit: »Ich sah mir die Bilder an […] mit Männern und Frauen, die ja zwar europäisch, aber völlig verwunschen aussahen. Und strahlende Paläste […] taten sich auf.« Vgl. Was die Gartenlaube meiner Kindheit war, darin: Goetz, Wolfgang, Leipzig, Albertstraße 32 III, in: GL 1928, S. 22. 12 Vgl. zu den vielfältigen Arten, Zeitschriften zu konsumieren: Was die Gartenlaube meiner Kindheit war, in: GL 1928, S. 21-23, 48-49, 70-71; Becker (2001a), S. 387. 13 Vgl. Friedjung, Heinrich, Die Schlacht bei Aspern, in: GL 1909, S. 419-424. Der Artikel ist ein Beispiel für den Stilmix der Illustrationen, der vor allem in der zweiten Hälfte des Untersuchungszeitraums zu beobachten ist. In dem Artikel über die Schlacht von Aspern fanden sich sechs Schlachtengemälde, zwei Portraits Erzherzog
G ESCHICHTE IN F AMILIENZEITSCHRIFTEN IM ÜBERBLICK
| 99
Illustrationen durchzogen sämtliche Epochendarstellungen der Familienzeitschriften und behandelten verschiedene inhaltliche Themen: historische Ereignisse und Alltagsszenen, Portraits, historische Kunstwerke, Gegenstände, Bauten und Landschaften, Landkarten und Stadtpläne, sowie zeitgenössische Szenen mit historischem Bezug. Schwerpunkte der visuellen Darstellung von Geschichte lagen auf ereignishistorischen Themen, personenbezogener Geschichte sowie Geschichte mit lokalem Bezug. Biographien waren mit Portraits illustriert, die zu Lebenszeiten des oder der Portraitierten entstanden waren.14 Demgegenüber entstanden Abbildungen von Gegenständen, Gebäuden, Städten und Landschaften normalerweise zeitnah zur Produktion der jeweiligen Zeitschriftenausgabe und waren teilweise Auftragsarbeiten. Die visuelle Geschichtserfahrung ›vor Ort‹ konnte auch an geschichtskulturelle Ereignisse gebunden sein, etwa an Jubiläumsfeiern, Museumseröffnungen, Denkmalsenthüllungen oder Ausgrabungen. So druckten alle Zeitschriften Fotos der Ausgrabungsstätten in Pompeji, Ostia oder Priene, die im Kaiserreich größtes öffentliches Interesse hervorriefen. Die Fotos, die teilweise von den Verfassern der Artikel selbst gemacht worden waren, zeigten Totalansichten von ausgegrabenen Ruinen,15 Details wie etwa die Wandbemalungen von Pompeji16 oder auch die Ausgrabungsarbeiten selbst.17 Diese Bilder waren damit nicht allein Darstellungen von Geschichte, sondern
Karls, zwei Fotos von lokalen Stätten der Schlacht, sowie drei Fotos von Denkmälern beziehungsweise einer Grabstätte gefallener französischer Soldaten. 14 In der Regel waren Herrscher und Herrscherinnen oder sonstige sozial hochgestellte und einflussreiche Personen im Bild dargestellt, untere soziale Schichten hingegen nur selten. Die bildliche Quellenüberlieferung lief nach ähnlichen Prinzipien ab wie die schriftliche Überlieferung: Untere soziale Schichten hinterließen in der Regel weder schriftliches noch bildliches Quellenmaterial – das Festhalten der eigenen Person im Bild für die Nachwelt wurde bis ins 19. Jahrhundert hinein vor allem von Adel und wohlhabendem Bürgertum betrieben. 15 Vgl. Elsner, Paul, Die Ausgrabungen in Priene, in: DA 1900, S. 120; Elsner, Paul, Pergamon, in: ANW 1913, S. 257-262; Mielert, Fritz, Luxor, in: ANW 1913, S. 697-702, 739-745. An dieser Stelle ein Hinweis zur Zitierweise in dieser Arbeit: Da mit einem umfangreichen Set an Artikeln gearbeitet wurde und die Zeitschriften zu bestimmten Themen eine Vielzahl an Artikeln druckten, werden in den Fußnoten als Belege für allgemeine Phänomene jeweils exemplarisch ca. zwei bis vier Artikel zitiert. Dies bedeutet nicht, diese seien die einzigen Darstellungen, die sich mit dem jeweiligen Thema auseinandersetzten; sie sind vielmehr beispielhaft zu verstehen. 16 Vgl. Trede, Th., Ein pompejanisches Daheim, in: DA 1897, S. 832-834. 17 Vgl. Ausgrabungen in Pompeji. Von E. Sain, in: NW 1895, S. 37.
100 | POPULÄRE G ESCHICHTE IM KAISERREICH
zugleich Bestandteil einer zeitnahen Berichterstattung aktueller Ereignisse. Hier wurden seit der Jahrhundertwende verstärkt Fotografien statt Zeichnungen verwendet. Sie galten wie die zuvor gedruckten Zeichnungen als Dokumente der Augenzeugenschaft, allerdings als solche, die eine absolut wirklichkeitsgetreue Reproduktion liefern konnten18 und schneller und in größeren Mengen produzierbar waren. Die Einführung der Fotoreproduktionstechnik ermöglichte es, mehr und mehr Bilder in einem Artikel zu vereinen. Die Bilder wurden quantitativ häufiger und teilweise größer; so platzierte zum Beispiel ein dreiteiliger Artikel über mittelalterliche Kirchenbauten in Schlesien in der Alten und Neuen Welt insgesamt 17 Fotos von Innen- und Außenansichten verschiedener schlesischer Kirchen.19 In kunsthistorischen Artikeln nahmen Illustrationen eine relevante Stellung ein. Kunstgeschichte schreiben hieß immer auch Kunst zeigen, und Artikel über bildende Kunst waren reich illustriert. Die verschiedenen AutorInnen bezogen sich dabei in unterschiedlicher Intensität auf die gezeigten Bilder. Manche Artikel wiesen ein loses Text-Bild-Verhältnis auf, in dem der Text biographische Informationen über den jeweiligen Künstler gab oder allgemeine Reflexionen über eine Kunstrichtung anstellte, ohne sich dabei auf die gezeigten Bilder zu beziehen.20 Andere dagegen verknüpften Text und Bild aufs engste miteinander, indem der Text Bezug auf die Illustrationen nahm.21 Die verwendeten Bilder unterschieden sich stark in ihren jeweiligen Entstehungskontexten, waren teils historisch, teils zeitgenössisch entstanden, wurden für Zeitschriften produziert oder nachträglich für dieses Medium adaptiert, fungierten als Quelle oder hatten historiographischen Charakter. Der Entstehungskontext der zeitgenössisch entstandenen Bilder ist allein aus den Zeitschriften heraus selten nachvollziehbar, und in Ermangelung von Archivmaterial aus den Redaktionen meist nicht zu recherchieren, so dass es Vermutungen bleiben, ob Zeichnungen und Fotografien als Auftragsarbeiten für Zeitschriften entstanden, oder ob bereits vorhandene Bilder gekauft wurden. Ebenso ist nicht immer ersichtlich, ob Bilder vor den Texten entstanden oder sich andersherum an diesen orientierten – ob also zu geplanten Artikeln oder vorhandenen Texten Bildmate-
18 Vgl. Jäger (2009a), S. 122f. 19 Ruthgert, Fritz, Mittelalterliche Kirchenbauten in Schlesien, in: ANW 1910, S. 179181, 217-222, 273-277; vgl. auch Boedecker, Ludwig, Das Kloster zu Ottobeuren, in: ANW 1910, S. 874-878. 20 Vgl. Biermann, Georg, Albrecht Dürer, in: DA 1908, Nr. 29, S. 11-14. 21 Vgl. Rosenhagen, Hans, Die Maler des Rokoko, in: DA 1912/13, Nr. 1, S. 14.
G ESCHICHTE IN F AMILIENZEITSCHRIFTEN IM ÜBERBLICK
| 101
rial gesucht bzw. in Auftrag gegeben wurde, oder ob die Redaktionen ausgehend von vorhandenen Bildern ihre Artikel konzipierten. Insgesamt reproduzierten Daheim, Alte und Neue Welt, Gartenlaube und Sonntags-Zeitung weitaus mehr Bilder als die Neue Welt, die bis in die ersten Jahre des neuen Jahrhunderts äußerst sparsam mit Illustrationen umging und erst mit den neuen Möglichkeiten der Fotoreproduktion mehr Bilder in Form von Fotografien brachte. Die quantitativen Unterschiede spiegelten die Differenzen in den jeweiligen Budgets der Redaktionen. Ein verantwortlicher Druckerei-Geschäftsführer rechnete auf dem SPD-Parteitag 1893 vor, die Reproduktion eines Originalbildes koste 300-400 Mark. Da man aber für Illustrationen jährlich nur 3000-4000 Mark zur Verfügung habe, sei die Redaktion darauf angewiesen, anderen Blättern die kostengünstigeren Klischees abzukaufen, auch wenn dies dazu führe, dass die Neue Welt vornehmlich Bilder drucke, die keine direkte sozialdemokratische Agitation darstellten.22 Der Geldmangel schlug sich auf Qualität und Auswahl der Reproduktionen nieder, die ein Abgeordneter der SPD 1891 als »manchmal ganz jammervoll«23 bezeichnete. Die Auswahl der Bilder, die in eine Zeitschrift kamen, war also unter anderem davon abhängig, welche Bilder die Redaktion zur Verfügung hatte und welche Vorlagen kostengünstig reproduziert werden konnten. Dies ist bei der Analyse von Geschichtsdarstellungen zu berücksichtigen. Geschichte konnte nur visualisiert werden, wo auch entsprechende Bilder vorhanden, reproduzier- und finanzierbar waren. Bilder, das wurde deutlich, waren konstitutive Bestandteile des Geschichtsprogramms von Familienzeitschriften und hatten beträchtlichen Anteil am Erfolg der Zeitschriften. Die Redaktionen verwendeten verschiedene Bildgenres wie Malerei, Zeichnungen und seit der Jahrhundertwende auch Fotografie, um Geschichte zu visualisieren. Die Wahl des Bildgenres, vor allem aber des Bildmotivs, war dabei abhängig vom jeweiligen Thema des Artikels, aber auch daran geknüpft, welche Bilder den Zeitschriften zugänglich waren. Nach diesem Überblick über formale Faktoren der Geschichtsschreibung gehe ich auf die Inhalte ein und untersuche, welche Epochen die Zeitschriften darstellten und wie sie Historizität und das Verhältnis von Geschichte und Gegenwart konzipierten.
22 Vgl. Protokoll der SPD (1893), S. 122f. 23 Protokoll der SPD (1892), S. 98.
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G ESCHICHTE IM ZEITLICHEN V ERLAUF : E POCHALE S CHWERPUNKTE UND H ISTORIZITÄTSKONSTRUKTIONEN Der epochale Schwerpunkt der Geschichtsdarstellungen lag in fast allen Zeitschriften auf der jüngsten Geschichte.24 Daheim, Gartenlaube und SonntagsZeitung widmeten dem 19. Jahrhundert jeweils ein Drittel, Alte und Neue Welt und Neue Welt nur jeweils ein Viertel ihres Platzes (vgl. Diagramm 2). Allgemein gilt für die epochale Einteilung: Je näher eine Epoche an der zeitgenössischen Gegenwart lag, desto häufiger wurde sie dargestellt.25 So wurden Darstellungen der frühen Neuzeit durchschnittlich fast doppelt so häufig (16./17. und 18. Jahrhundert zusammengenommen 34,6%) publiziert wie Artikel und Illustrationen über das Mittelalter (18,2%), das wiederum häufiger behandelt wurde als Antike und Altertum (11%).26 Es existierten allerdings Ausnahmen: Die katholische Alte und Neue Welt legte einen klaren Schwerpunkt auf das Mittelalter als Epoche katholischer Macht und Tradition (29,5%), während in der sozialdemokratischen Neuen Welt die Antike einen hohen Stellenwert innehatte (18,3%).27
24 Die analytisch vorgenommene Epocheneinteilung der quantitativen Analyse orientiert sich an der Periodisierung in den Zeitschriften selbst. Antike und Altertum sowie Mittelalter wurden als relativ große Epocheneinteilungen aus den Zeitschriften übernommen. Das 16. und 17. Jahrhundert wurde für die Analyse als eine Epoche zusammengefasst, da hier von den zeitgenössischen AutorInnen selbst keine Zäsuren gesetzt wurden. Das 18. Jahrhundert erschien oftmals als Zeitalter beginnender moderner Staatenbildung und bürgerlichen Aufbruchs in den Artikeln als eigene Epoche und wurde daher auch in der Analyse als solche übernommen. Das 19. Jahrhundert war in vielen Artikeln durch die Zäsur der Napoleonischen Kriege in seinen Anfängen markiert. Da viele Darstellungen das 19. Jahrhundert sehr viel differenzierter behandelten als vorherige Epochen wurde es für eine differenzierte Analyse der Zeitgeschichte wiederum in Abschnitte eingeteilt. Diese sind 1789-1815, 1815-1848, 1848, 18491870 sowie 1870 bis zur zeitgenössischen Gegenwart. Viele Artikel behandelten allerdings das gesamte 19. Jahrhundert, so dass für diese Darstellungen ohne Binnendifferenzierung die Codierung ›19. Jahrhundert gesamt‹ eingeführt wurde. 25 Nicht zuletzt ergibt sich die große Relevanz der Zeitgeschichte auch daraus, dass das 19. Jahrhundert in sämtliche epochenübergreifenden Darstellungen, die die Geschichte von einer historischen Epoche bis zur Gegenwart nachzeichneten, mit einbezogen wurde. 26 Ur- und Frühgeschichte machten, dieser Logik folgend, nur einen sehr kleinen Teil des Quellenkorpus aus (0,9%). 27 Im Vergleich erreichte die Antike in den anderen Zeitschriften lediglich 6-13%.
G ESCHICHTE IN F AMILIENZEITSCHRIFTEN IM ÜBERBLICK
| 103
Diagramm 2: Epochenverteilung der Geschichtsartikel in Familienzeitschriften 1890-1913
SZ NW ANW DA GL alle ZS 0%
20%
Ur- und Frühgeschichte 16./17. Jahrhundert
40%
60%
Antike und Altertum 18. Jahrhundert
80%
100%
Mittelalter 19. Jahrhundert
Quelle: DGFZ.
Diese Verteilung verwundert nicht, bedenkt man, dass die Geschichte des 19. Jahrhunderts nicht allein die Zeitspanne des kommunikativen Gedächtnisses umfasste, sondern auch von großer Bedeutung für die deutsche Nationswerdung war. So hatte die jüngste Geschichte in den national ausgerichteten Zeitschriften eine wichtigere Funktion als in den beiden Zeitschriften, die sich katholisch bzw. sozialdemokratisch und dabei in geringerem Maße national definierten. Der Zusammenhang von Zeit- und Nationalgeschichte zeigte sich auch darin, dass der Schwerpunkt des 19. Jahrhunderts in allen Zeitschriften klar auf der Zeit der Napoleonischen Kriege lag, die als der Ursprung deutschen Nationalbewusstseins galten (33,6%, vgl. Diagramm 3). Ein anderer prägender Zeitabschnitt des 19. Jahrhunderts war für die Gartenlaube und die Neue Welt als Zeitschriften, die sich selbst in revolutionäre Tradition stellten, die Zeit des Vormärz; in der Neuen Welt widmeten sich zudem 13,4% der im 19. Jahrhundert angelegten Darstellungen der Revolution von 1848. Dass dieses Ereignis in den konservativeren Zeitschriften Alte und Neue Welt (0%), Sonntags-Zeitung (1,4%) und Daheim (2,2%), nur wenig Niederschlag fand, überrascht nicht. Überraschender ist dagegen die Tatsache, dass auch die Gartenlaube trotz ihrer eigenen postrevolutionären Tradition die Revolution vergleichsweise selten verhandelte (2,9%). Für das Daheim wiederum, in geringerem Maße auch für die anderen Zeitschriften, war der Deutsch-
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Französische Krieg eine wichtige historische Zäsur und verantwortlich für die hohen Werte der jüngsten Zeitgeschichte (im Daheim 10,6%, in den anderen Zeitschriften zwischen 1,9% in der Neuen Welt und 6,7% in der Gartenlaube). Auch hier ist das geringe Interesse der Neuen Welt und der Alten und Neuen Welt (3,8%) an dieser Zäsur deutschen Nationalismus nicht verwunderlich. Diagramm 3: Das 19. Jahrhundert in Familienzeitschriften 1890-1913
SZ NW ANW DA GL alle ZS 0% 1789-1815
20% 1815-1848
40% 1848
1849-1869
60% ab 1870
80%
100%
19. Jahrhundert gesamt
Quelle: DGFZ.
Viele historische Darstellungen waren epochenübergreifend angelegt. Dies gilt in besonderem Maße für die Kulturgeschichte, die häufig eine weite Spanne vom Altertum bis zur Gegenwart umfasste. Stadtgeschichte war ebenso oft über einen großen Zeitraum angelegt, der von der mittelalterlichen Stadtgründung bis ins späte 19. Jahrhundert reichte. Doch auch sozial- und politikgeschichtliche Artikel arbeiteten zuweilen mit Zeitsträngen über mehrere Epochen. Diese ›longue durée‹ war ein Spezifikum textlicher Darstellungen, während reine Illustrationen in der Regel nur Momentaufnahmen der Geschichte einfangen, nicht aber lange Linien und Entwicklungen aufzeigen konnten. Während die meisten Zeitschriften lediglich zwischen 23,3% und 30,8% ihrer Darstellungen epochenübergreifend anlegten, fällt die große Menge solcher Texte in der Sonntags-Zeitung auf (40,6%). Dies könnte im Zusammenhang mit der Textlastigkeit ihres Geschichtsprogramms stehen (vgl. Diagramm 1), aber auch mit ihrem vergleichsweise hohen Interesse an Kulturgeschichte. Anschließend an die Auswertung der Epochen gehe ich im Folgenden der Frage nach, wo in der Konzeption der AutorInnen die Geschichte begann und endete. Hieran knüpft sich die grundlegendere Frage, was eigentlich Historizität
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ausmachte und in welchem Verhältnis Geschichte und Gegenwart zueinander standen. Was ist historisch? Anfangs- und Endpunkte der Geschichte und ihr Verhältnis zur Gegenwart Geschichte ist nicht ohne zeitlichen Verlauf zu denken, und mehr oder weniger implizit gingen die meisten historischen Texte in Familienzeitschriften davon aus, dass sie einen Anfang und ein Ende habe. Wo jedoch der Start- und der Endpunkt lagen, war Ermessenssache. Zur Untersuchung des angenommenen Anfangspunktes der Geschichte lohnt sich ein Blick in die zahlreichen kulturhistorischen Artikel, die epochenübergreifend arbeiteten und historische Phänomene bis zu ihren Anfängen zurückzuverfolgen suchten. Dieser Anfangspunkt wurde meist im Altertum oder in der klassischen Antike gesetzt, bei den Persern, Römern oder Germanen.28 Dahinter standen zwei Prinzipien: Zum einen war der Anfang der Geschichte an die Quellenlage geknüpft, zum anderen an Modelle menschlicher Kulturentwicklung. Geschichte begann einerseits dort, wo die ersten Quellenfunde eine historische Forschung zuließen, zum anderen begann sie mit dem Eintreten des Menschen in eine ›historische‹ Kulturstufe. Dass beide Prinzipien nicht nur koexistierten, sondern miteinander aufs engste verzahnt waren, zeigte der Gartenlaube-Autor K. Lampert im Artikel »Ein Blick in Deutschlands Vorzeit«: »Für Deutschland liegt die Periode der Vorgeschichte nicht allzuweit hinter uns. Während am Euphrat oder am Nil mächtige Kulturreiche herrschten, ja selbst noch zur Zeit hellenistischer und römischer Blüte, von welcher wir aufs genauste unterrichtet sind, war Deutschland ein geschichtsloses Land. Keine Aufzeichnungen melden uns aus diesen Zeiten vom Leben und Thun der Bewohner unseres Vaterlandes, kein Geschichtschreiber hat die Thaten früherer Heeresführer, die Verschiebungen der Völkerstämme der Nachwelt aufbewahrt.«29
Geschichte, das wird in diesen Zeilen deutlich, war nach Lampert an Schriftlichkeit geknüpft. Historizität beginne dort, wo Gemeinschaften ihr eigenes Tun und ihre eigene Geschichte schriftlich festhielten.30 Die Schriftlichkeit wiederum assoziierte er mit allgemeinen kulturellen und zivilisatorischen Entwicklungen und
28 Vgl. Nissen, Adolf, Vom Osterei und Osterhasen, in: DA 1906, Nr. 28, S. 12. 29 Lampert, K., Ein Blick in Deutschlands Vorzeit, in: GL 1897, S. 730. 30 Vgl. auch Rosenow, Emil, Der Mensch und sein Werkzeug, in: NW 1901, S. 387.
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Errungenschaften. Kultur/Zivilisation – Schriftlichkeit – Historizität lautet demnach die Trias, die den Hintergrund der historischen Einordnung von Völkern bildet. Es waren Traditionsquellen, die laut Lampert für die Geschichtlichkeit eines Volkes bürgten. Vorgeschichtliche oder prähistorische Gemeinschaften zeichneten sich dadurch aus, dass sie nur Überrestquellen hinterließen, seien aber mithilfe dieser Überreste ebenso erforschbar.31 Lamperts sehr enge Definition von Geschichtlichkeit, die an Traditionsquellen und Schriftlichkeit geknüpft war und deutsche Geschichte erst mit den Karolingern beginnen ließ,32 teilten allerdings nicht alle AutorInnen. In vielen Artikeln bürgten schon Überrestquellen für die Historizität einer Zeit beziehungsweise knüpften AutorInnen den Beginn der Geschichte an die frühesten erhaltenen Quellen egal welcher Form.33 Der Daheim-Autor Willy Doenges machte, wenn auch nur implizit, die Geschichtlichkeit der Germanen nicht an deren eigenen schriftlichen Quellen fest, sondern an ihrer Erwähnung in römischen Aufzeichnungen, und maß ihr Eintreten in die Geschichte nicht an ihren eigenen Kulturleistungen, die sich noch auf einer niedrigen Stufe befunden hätten, sondern an ihren Interaktionen mit den zivilisatorisch weiter entwickelten Römern.34 Die Differenzierung zwischen verschiedenen Kulturstufen beziehungsweise verschiedenen Stadien in der kulturellen und zivilisatorischen Entwicklung prägte in vielen Artikeln die Frage nach der Historizität von ›Völkern‹. So machte etwa Adolf Heilborn in der Gartenlaube ein Stufenmodell der Kulturentwicklung auf, in dem er mystisch orientierte, auf der Urstufe der Kultur befindliche Völker als den einen Pol, hochentwickelte Kulturvölker als den anderen setzte.35 Ein Autor der Neuen Welt zog die Grenzlinie der kulturellen Entwicklung, indem er zwischen urzeitlichen Naturreligionen und historischen theistischen Religionen unterschied.36 Andere diskutierten kulturelle Entwicklung und Historizität
31 Vgl. Lampert, K., Ein Blick in Deutschlands Vorzeit, in: GL 1897, S. 730; vgl. auch Heilborn, Adolf, Zur Kulturgeschichte des Eides, in: GL 1909, S. 24. 32 Vgl. Lampert K., Ein Blick in Deutschlands Vorzeit, in: GL 1897, S. 730. 33 Vgl. Spielberg, Hanns von [Pseudonym Hanns von Zobeltitz], Die Lampe einst und jetzt, in: DA 1900, Nr. 12, S. 17; Stürmer, Reinhold, zur Kulturgeschichte des Haares, in: SZ 1902, S. 104. 34 Doenges, Willy, Die Zeit der Ernte im Spiegel der Kulturgeschichte, in: DA 1907, Nr. 48, S. 8-9. 35 Vgl. Heilborn, Adolf, Zur Kulturgeschichte des Eides, in: GL 1909, S. 23-26. 36 Vgl. Anonym, Zur Naturgeschichte des Teufels, in: NW 1893, S. 382-383, 388-391.
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anhand der Einführung von Ackerbau und der Entstehung privaten Landbesitzes.37 Gemein hatten alle Artikel, dass sie Historizität an bestimmte Kulturleistungen knüpften – seien diese nun agrarwirtschaftlicher, religiöser, schriftlicher oder privatwirtschaftlicher Art. Zeitlich noch weiter zurückgehend wurde die Bestimmung und Einordnung menschlicher Kulturstufen von einem anderen Diskurs abgelöst: der Frage nach der Menschwerdung, nach der Grenze zwischen Mensch und Tier. Diese Frage war nur noch am Rande der Geschichte zugeordnet. Sie wurde in einem methodischen Feld zwischen Archäologie und Anthropologie, Geschichte und Naturwissenschaften verhandelt und bezugnehmend auf neue Forschungsergebnisse aus diesen Bereichen diskutiert. Die durchgehende Nähe zur Forschung resultiert daraus, dass der Großteil der Autoren und die einzige Autorin dieser Artikel selbst aus Fachkreisen stammten oder als professionelle Vermittler prähistorischer und archäologischer Forschung tätig waren.38 Die Texte über Urgeschichte fragten danach, wie »der Mensch sich zuerst zum eigentlichen Menschentum erhoben hat«.39 Hier wurde das MenschSein zwar auch als Kulturleistung diskutiert,40 allerdings wurde es primär biolo-
37 Vgl. Demmer, A., Taus Eß und Seß Zink. Bilder aus der deutschen Agrargeschichte, in: NW 1902, S. 244; Staby, Ludwig, Die ursprüngliche Heimat unsrer wichtigsten Getreidearten. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte der Menschheit, in: SZ 1913/14, S. 174; Anonym, Der Neanderthalschädel. Skizze aus der Urgeschichte der Menschheit, in: GL 1902, S. 447. 38 So war etwa der Autor Curt Grottewitz, der für die Neue Welt über die Naturgeschichte der Erde schrieb, promovierter Naturwissenschaftler und beliebter Autor populärer Werke über Natur und Ökologie. Auch der studierte Naturwissenschaftler und promovierte Mediziner Adolf Heilborn hatte verschiedene populärwissenschaftliche Werke über Anthropologie und Kulturgeschichte verfasst. Der promovierte Geologe und Höhlenkundler Emil Cartaus war selbst bei Ausgrabungen tätig und publizierte wissenschaftliche wie populäre Werke über seine Forschungsgebiete. Er berichtete etwa in einem Artikel in der Gartenlaube direkt von seiner Forschung auf Java. Wilhelm Bölsche hatte Archäologie studiert und war Autor zahlreicher populärer evolutionsbiologischer und anderer naturwissenschaftlicher Werke. Hanna Lewin-Dorsch war Autorin einer Monographie über Urgeschichte. 39 Friedemann, Max, Von der Menschheit Alter und Heimat, in: GL 1911, S. 14. 40 Vgl. Rosenow, Emil, Der Mensch und sein Werkzeug, in: NW 1901, S. 387; Große, Eduard, Die ältesten Spuren der bildenden Kunst, in: DA 1891, S. 262; Bölsche, Wilhelm, Urweltliche Leckerbissen. Eine naturwissenschaftliche Plauderei, in: SZ 1901, S. 195-196. Interessanterweise ist dieser eher kulturhistorisch orientierte Artikel über
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gisch und anthropologisch statt historisch begründet.41 Das »irdische[] Maß« sei für Zeiträume, in denen »Klima und Lebenswelt der Erde mehrfach gewechselt« habe, nicht gut anwendbar, so Max Friedemann in der Gartenlaube. Gegenüber den riesigen Zeiträumen verschwänden »die fünftausend Jahre historischer Vergangenheit wie ein Nichts«. So dürfe man auf der Suche nach dem Urmenschen auch nicht in den »Büchern der Menschheitsgeschichte« blättern, sondern müsse ihn in »dem großen Buche der Erdgeschichte, in dem ein Zeitalter nach Jahrtausenden und Jahrmillionen rechnet«, aufspüren.42 Die Beispiele zeigen, dass die Konzepte für die angenommenen Anfänge der Geschichte divers waren. Doch wo endete für die AutorInnen die Geschichte und begann die Gegenwart? Die Zeitschriftenredaktionen unterschieden zum großen Teil zwischen Geschichte und Zeitgeschichte. Die Bezeichnung »Zeitgeschichte« hatte zwar den Begriff der Geschichte im Namen, stand aber für zeitgenössische Ereignisse. Im Begriff der Zeitgeschichte manifestierte sich ein Verständnis von Gegenwart als Geschichte. »Politik treibt das Daheim nicht, der Geschichte kann es sich nicht verschließen«,43 schrieb die Daheim-Redaktion in einer Leserbrief-Antwort von 1866. In diesem Zitat zeigt sich die doppelte Bedeutung des Begriffs Geschichte, der nicht nur die gedeutete Vergangenheit, sondern auch den Lauf der Zeit in der Gegenwart bezeichnete. Unter diesem Aspekt liest sich das Zitat als Differenzierung zwischen politischer Parteinahme und überpolitischer, objektiver Berichterstattung über die Ereignisse der zeitgenössischen Gegenwart. Geschichte als Zeitgeschichte, das war der gegenwärtige Lauf der Welt. Eine klare Abgrenzung von Geschichte und Zeitgeschichte schon im Inhaltsverzeichnis nahm nur das Daheim vor; die anderen Redaktionen legten historische und zeitgeschichtliche Artikel im Inhaltsverzeichnis zusammen, so dass nicht vollständig ersichtlich wird, wo sie ihre Grenze zwischen Geschichte und Gegenwart setzten. Doch bestimmte Codes verraten, ob ein Artikel Zeitgeschichte – also die zeitgenössische Gegenwart – oder Geschichte behandelte: Während zeitgeschichtliche Artikel in der Gegenwartsform standen, waren historische Texte fast immer in der Vergangenheitsform geschrieben und trugen oftmals den
die Domestizierung des Feuers und das Kochen und Essen der Urmenschen im Untertitel als »naturwissenschaftliche Plauderei« benannt. 41 Vgl. Cartaus, Emil, Auf der Suche nach dem Pithecanthropus, in: GL 1911, S. 486-490; Heilborn, Adolf, Der Mensch der Vorzeit, in GL 1909, S. 892-895; Anonym, Der Neanderthalschädel. Skizze aus der Urgeschichte der Menschheit, in: GL 1902, S. 447. 42 Friedemann, Max, Von der Menschheit Alter und Heimat, in: GL 1911, S. 13. 43 Leserbrief-Antwort, in: DA 1866, S. 712.
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Begriff der Geschichte schon im Titel. Solche auf Geschichte hinweisende Codes wurden in der Regel bis zur Zeit des Deutsch-Französischen Kriegs und der Reichsgründung verwendet. Diesen Befund bestätigt die Einteilung im Inhaltsverzeichnis des Daheim, wo schon in den frühen 1890er Jahren der Krieg und die Reichsgründung unter der Rubrik »Geschichtliches« erschienen.44 Die Zeit nach 1871 wurde nur historisiert, wenn historische Entwicklungen bestimmter Phänomene und Gegenstände über einen längeren Zeitraum nachgezeichnet wurden, der bis in die Gegenwart reichte. Eine Ausnahme stellen allerdings Artikel über technische Fortschritte der jüngsten Geschichte dar: Vor dem Hintergrund rasanter technologischer Entwicklung wirkten selbst die 1890er im Jahre 1906 schon historisch.45 Das ›Ende der Geschichte‹ lag also meist beim Deutsch-Französischen Krieg und der Gründung des deutschen Kaiserreichs. Die Einordnung des Krieges als Geschichte erfolgte wahrscheinlich vor allem aufgrund seines Zäsurcharakters. Der Krieg galt als Ende von etwas Vergangenem und als Anfang von etwas Neuem, als Anfang der Gegenwart. So konnten die Ereignisse von 1870/71 schon nach 20 Jahren Geschichte werden – also zehn Jahre vor der in der heutigen Geschichtswissenschaft gängigen Grenze von 30 Jahren, die sich an der Öffnung der Archive und am Generationenwechsel des kommunikativen Gedächtnisses orientiert. Der Krieg war stark im kommunikativen Gedächtnis verhaftet und wurde häufig in Form von ZeitzeugInnenberichten meist deutscher Soldaten oder ZivilistInnen thematisiert.46 So fungierte der Krieg als Übergang von der Gegenwart zur Geschichte über das kommunikative Gedächtnis. Gegenwart und Geschichte standen auch über die Erinnerung an den Krieg hinaus in beständigen Spannungs- und Wechselverhältnissen. Die Geschichte galt als Mittel zur Erkenntnis der Gegenwart47 und war Vergleichsfolie, auf de-
44 Vgl. Tanera, Karl, Orgères im Dezember 1870, in: DA 1892, S. 132; Kolberg, Fr., Bismarck in Versailles, in: DA 1890, S. 764-766. 45 Vgl. Dominik, H., Zum 200-jährigen Jubiläum der Dampfmaschine, in: GL 1906, S. 569-571. Das »einst« im Titel »Im Luftballon zum Nordpol einst und jetzt« bezieht sich hier auf die Mitte der 1890er Jahre. 46 Vgl. Schäfer, Th., Pariser Erinnerungen eines deutschen Pastors, in: DA 1896, S. 36, 59, 70; Biller, Klara, Als Deutsche in Paris. Erinnerungen an das Kriegsjahr, in: GL 1895, S. 571-576; Dannhauer, O., Gravelotte, in: GL 1910, S. 695-697; Groeber, Fritz, Kriegserinnerungen eines französischen Elsässers, in: DA 1911, Nr. 33, S. 10. 47 »Die Geschichtswissenschaft hat die Voraussetzungen der Gegenwart aufzuzeigen; dies ist ihr Regulativ und vornehmstes Ziel.« Hauenstein, Wilhelm, Die Jahrhundertfeier der Königreiche Bayern und Württemberg, in: GL 1905, S. 907.
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ren Hintergrund die Gegenwart sich selbst reflektieren konnte. Sie wurde verwendet, um die Gegenwart zu legitimieren oder zu kritisieren, um Traditionen oder Brüche aufzuzeigen, um Politik zu betreiben und um den eigenen Wurzeln nachzuspüren. Die Anbindung der Gegenwart an die Geschichte zeigte sich sowohl in der Suche nach historischen Traditionen und Vorläufern zeitgenössischer Phänomene als auch im Aufspüren und Bewahren von Überbleibseln der Geschichte in der Gegenwart. Diese historischen Relikte fand man in Bauwerken,48 in Traditionen,49 Berufen50 oder Denkmustern – vor allem der Aberglaube galt vielen AutorInnen als Relikt einer vergangenen Epoche, das sich hartnäckig auch in der aufgeklärten Welt des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts halte.51 Doch neben diesem negativ konnotierten Relikt der Vergangenheit hielten die AutorInnen die meisten Überbleibsel der Geschichte, vor allem volkstümliche Traditionen, für bewahrenswert und sahen in der Geschichtsschreibung einen Weg, alte Traditionen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.52 Die Geschichtsschreibung fungierte so als Wahrerin von Relikten der Vergangenheit und von Wissen über vergangene Zeiten. Neben den Kontinuitäten wurden jedoch auch Brüche zwischen Gegenwart und Geschichte stark gemacht. So wurde etwa der Aberglaube nicht nur als Relikt alter Zeiten in der Gegenwart behandelt, sondern genauso oft auch als etwas, das in der Moderne durch Vernunft, Aufklärung und Wissenschaft überwunden worden sei. Die Moderne war in vielen historischen Artikeln allgegenwärtig. Die
48 Vgl. Mielert, Fritz, Steinerne Chroniken provenzalischen Lebens, in: ANW 1909, S. 338; Frohn, Joseph, Dürnstein, in: ANW 1912, S. 508. 49 Vgl. Trede, Th., Alte und neue Hasardspiele. Aus dem Volkslebens Süditaliens, in: DA 1891, S. 802; Sendling, Hans, Germanisches Heidentum in heutigen Erntegebräuchen, in: DA 1902, Nr. 46, S. 17-18; Hackemann, A., Altgermanischer Seelenglaube und Totenkult, in: ANW 1906, S. 339-343; Wittich, Manfred, Von volksthümlichen Maifesten, in: NW 1892, S. 140-141. 50 Vgl. Klaußmann, A. Oskar, Von einem aussterbenden Stande, in: GL 1909, S. 848-850; Rosenow, Emil, Ein Stück deutscher Handwerksgeschichte, in: NW 1900, S. 126; Spiekermann, Emil, Der Erzbergbau im Harz einst und jetzt, in: GL 1910, S. 360-364. 51 Vgl. Winter, Georg, Der Hexenwahn und seine frühesten Bekämpfer, in: GL 1893, S. 522-524. Die Gartenlaube beschäftigte sich in der über viele Jahre laufenden Serie »Tragödien und Komödien des Aberglaubens« anekdotenhaft mit Aberglauben in Geschichte und Gegenwart, vgl. GL 1892, S. 600-603, 808-812; GL 1896, S. 488-491; GL 1897, S. 4-8; GL 1899, S. 60-63; GL 1907, S. 734-736; GL 1909, S. 266-268. 52 Vgl. Heilborn, Adolf, Überlebsel der Kultur, in: GL 1905, S. 615.
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Geschichtsdarstellungen waren oftmals verknüpft mit Reflexionen der Gegenwart und setzten sich mit Technologisierung, Rationalisierung und Beschleunigung auseinander. Unterschiedlich war dabei allerdings die Bewertung moderner Lebensformen. Modernisierungskritische Stimmen priesen die Behaglichkeit,53 die gemeinschaftliche Organisation der Gesellschaft54 und das einfache authentische Leben55 früherer Zeiten. Sie misstrauten der Schnelllebigkeit und Durchrationalisierung des modernen Lebens und befürchteten Traditionsverlust und Entfremdung. Neben diesen romantischen Vorstellungen von der Vergangenheit standen Texte, welche die Idee einer »guten alten Zeit« gründlich auseinandernahmen. So schrieb E. Feldhofer 1913 in der Sonntags-Zeitung: »Eine wirkliche ›gute‹ alte Zeit hat es niemals gegeben, obwohl schon das Altertum von einem goldenen Zeitalter, dessen Wiederkehr die Menschheit restlos glücklich machen sollte, viel gesabelt und viel geschwärmt hat. Auch die alte Zeit in unserm Vaterlande, die man sprichwörtlich so begeistert rühmt, sah in Wirklichkeit so aus, daß wir, falls sie in gleicher Form zurückkehren könnte, wohl noch viel sehnlicher den Wunsch aussprechen würden, sie recht bald wieder los zu werden.«56
Statt romantischer Vorstellungen vom einfachen Leben entwarfen Feldhofer und andere AutorInnen ein Panorama an Schmutz, Elend, Kriminalität, Aberglaube, Krankheit und Willkür.57 Romantisiert wurde im Gegenzug aber auch der Fortschritt, der durch negative historische Vergleiche umso strahlender erschien. So ließen in der Gartenlaube zwei Artikel im Jahr 1900 das vergangene Jahrhundert Revue passieren und beschrieben den Fortschritt des 19. Jahrhunderts auf dem Gebiet der Technologie und Wissenschaft, der Industrie und des Verkehrs in Superlativen.58 Das Daheim widmete zur Jahrhundertwende eine ganze Ausgabe dem Rückblick auf das 19. Jahrhundert, in der unter anderem die Errungenschaften auf den Gebieten
53 Vgl. Anonym, Biedermeierzeit, in: DA 1912, S. 6-7. 54 Vgl. Wittich, Manfred, Von altdeutschem Recht, in: NW 1899, S. 155-156, 163-164. 55 Vgl. Markovics-Zettkow, M. von, Wenn ehemals Einer eine Reise that. Kulturhistorische Skizze, in: NW 1896, S. 373. 56 Feldhofer, E., Das Märchen von der »guten alten Zeit«, in: SZ 1913/14, S. 109. 57 Vgl. ebd.; Egon, Karl, Ein Ausflug in die »gute alte Zeit«, in: NW 1907, S. 170-173; Feldmann, Siegm., Die »gute alte Zeit«, in: GL 1907, S. 478-482. 58 Vgl. Haushofer, Max, An des Jahrhunderts Wende. Eine Rückschau, in: GL 1900, S. 12-15; Dehn, Paul, Das Jahrhundert des Verkehrs, in: GL 1900, S. 208-212, 240-246.
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der Naturwissenschaft, der Dampfkraft und Elektrotechnik, der Kolonialisierung und der Mission gefeiert wurden.59 Das 19. Jahrhundert, da war sich das Gros der AutorInnen einig, sei durch seinen beschleunigten Fortschritt, durch seine Errungenschaften der Wissenschaften und Industrie, aber auch der Demokratie und des deutschen Nationalbewusstseins herausragend vor allen anderen historischen Epochen. Die Jahrhundertwende reizte dabei nicht nur zu Rück-, sondern auch zu Ausblicken. Die Zukunftsvisionen für das neue Jahrhundert standen oft im Zeichen der Elektrizität, die in den letzten Dekaden des alten Jahrhunderts die Dampfkraft als Motor des technischen Fortschritts abgelöst hatte. Das 20. Jahrhundert wurde zudem als eine Zeit imaginiert, in der Menschen die absolute Erkenntnis erlangen und Vergnügungsreisen zum Nordpol unternehmen sollten.60 Das optimistische und das kritische Modernisierungsnarrativ standen tatsächlich nicht allzu weit voneinander entfernt. In der Umbruchszeit der Hochindustrialisierung standen alle Zeichen auf Veränderung, ohne dass absehbar war, wohin diese führen würde. In dieser Situation stellten die beiden Narrative zwei Seiten einer Möglichkeit dar, mit den Ambivalenzen des Wandels umzugehen. Das Unbehagen angesichts der Moderne, das in den kritischen Texten geäußert wurde, fand auch in den fortschrittsbegeisterten Artikeln seinen Raum, während die kritischen Stimmen die Errungenschaften der Moderne durchaus anerkannten. Vor allem aber war beiden Narrativen gemein, dass sie die Gegenwart der Vergangenheit gegenüberstellten und von linearer Entwicklung erzählten. Sie unterschieden sich in der Bewertung dieser Entwicklung, doch teilten sie die gleiche Basis einer teleologischen und irreversiblen Geschichtsauffassung. Die Linearität der Geschichte war allerdings nicht auf den technologischen Fortschritt beschränkt. Historische Teleologie konnte viele Formen annehmen, zum Beispiel als Geschichte der Nationswerdung oder als Teleologie des Klassenkampfes. Diese lineare Art Geschichte zu denken war kein Spezifikum populärer Geschichte, sondern integraler Bestandteil des historistischen Projekts und der gesamten westlichen Geschichtskultur des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Gleichzeitig untergruben die Zeitschriften dieses Konzept einer linearen historischen Entwicklung immer wieder durch den fragmentarischen Charakter ihrer Geschichtsdarstellungen. Nationale (oder andere) Großnarrative wurden durch den Mikroblick auf Geschichte, der kleine Ausschnitte und Gegenstände in den
59 Vgl. DA 1900, Nr. 13. 60 Vgl. Haushofer, Max, An des Jahrhunderts Wende. Eine Rückschau, in: GL 1900, S. 15; Dominik, H., Zum 200-jährigen Jubiläum der Dampfmaschine, in: GL 1906, S. 660.
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Blick nahm, immer wieder gebrochen, da mit diesem thematisch sehr beschränkten Zugang keine großen Geschichten erzählt werden konnten. Das Kapitel hat einen ersten inhaltlichen und formalen Überblick über die vielfältige Geschichtsschreibung der Familienzeitschriften gegeben. Neben den dominierenden politik- oder kulturhistorischen Artikeln existierte eine Vielzahl an weiteren Formen der Geschichtsschreibung. Die epochalen Schwerpunkte lagen vor allem auf Epochen, die eine Nähe zur Gegenwart aufwiesen, doch waren die Schwerpunkte von Zeitschrift zu Zeitschrift verschieden. Der Beginn der Geschichte wurde meist an Kulturleistungen geknüpft, während der DeutschFranzösische Krieg oft die Geschichte von der Gegenwart trennte. Das Verhältnis von Geschichte und Gegenwart war einerseits durch eine Anbindung der Vergangenheit an die Gegenwart geprägt, andererseits wurden über teleologisch geprägte Fortschrittserzählungen die Verschiedenheit von Vergangenheit und moderner Zeit betont. Nach dieser ersten Orientierung über das Geschichtsprogramm der Zeitschriften setzen sich die anschließenden Analysekapitel detaillierter mit den Geschichtsartikeln auseinander – einerseits anhand der Frage nach dem Verhältnis von Geschichte und gesellschaftlicher Struktur, andererseits mit dem Ziel, die Charakteristika populärer Geschichte in Familienzeitschriften zu bestimmen.
5. Geschichtskulturen in Familienzeitschriften im Kontext gesellschaftlicher Strukturen
Geschichte ist immer eingebettet in gesellschaftliche Kontexte und wird in der Gegenwart diskursiv konstruiert. Was in einer Gemeinschaft als erinnernswert gilt und wie sie die Vergangenheit interpretiert, ist eng mit den sozialen, kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Faktoren verbunden, die die Gemeinschaft prägen. Gleichzeitig bildet Geschichte einen wichtigen Bestandteil und eine wichtige Voraussetzung für die Identitäten und Selbstverständnisse einer Gruppe. Dieses Kapitel geht der Frage nach, wie soziale Strukturen das Denken über Geschichte im Wilhelminischen Kaiserreich beeinflussten und wie Geschichtserzählungen wiederum auf die Gesellschaft zurückwirkten. Auf Grundlage des in der Einleitung entworfenen Analysemodells, das die Erforschung milieuspezifischer Geschichtskulturen zusammendenkt mit den vier Kategorien sozialer Ungleichheit – ethnokulturelle und räumliche Zugehörigkeit, Klasse/Stand, Geschlecht sowie Religion und Konfession –, untersucht dieses Kapitel entlang eben dieser vier Kategorien die Zusammenhänge von Geschichtskulturen und gesellschaftlichen Strukturen. Klasse, Geschlecht, Religion und ethnokulturelle/räumliche Zugehörigkeit werden dabei einzeln in ihren strukturellen und identitären Wirkungen auf Geschichtskulturen und ihre Wechselwirkungen mit diesen analysiert und immer wieder in Zusammenhang mit Milieubildung gesetzt. Es wird untersucht, wie soziale Ungleichheit und Milieuzugehörigkeit die Produktion der Geschichtsartikel in Familienzeitschriften beeinflussten und wie die AutorInnen in ihren Artikeln historische wie zeitgenössische Ungleichheiten und Zugehörigkeiten verhandelten.
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E THNOKULTURELLE
UND RÄUMLICHE
Z UGEHÖRIGKEIT
Nationale und regionale Herkunft, oft zusammengedacht mit ethnischen und kulturellen Verortungen, waren im späten 19. Jahrhundert äußerst relevante Faktoren gesellschaftlicher Zugehörigkeit, die auch auf die verschiedenen Erinnerungsgemeinschaften im Kaiserreich große Wirkung ausübten. Das 19. Jahrhundert gilt als die Epoche der Nationalgeschichtsschreibung schlechthin, war aber gleichzeitig auch in der Historiographie vom föderalen Charakter des deutschsprachigen Raumes geprägt. Neben nationalen und regionalen Zugehörigkeiten standen Geschichtskulturen zudem in diversen anderen räumlichen Verhältnissen, wie am Beispiel der Familienzeitschriften deutlich wird, die Geschichte in kleinteiligen lokalen bis hin zu umfassenden globalen Räumen verorteten. Basierend auf der Annahme, dass Geschichte immer verräumlicht und Raum immer historisch ist, sowie dass räumliche und ethnokulturelle Zugehörigkeiten in enger Verbundenheit standen, widmet sich das Kapitel dem Komplex von Geschichte, Raum und kultureller Zugehörigkeit. Der Fokus soll dabei weniger auf die Herstellung nationaler Identitäten durch Geschichte gelegt werden, ist doch dieses Thema hinreichend beforscht. Da die Nation in Familienzeitschriften äußerst präsent war, kann sie allerdings in der Analyse nicht außen vor gelassen werden, doch stelle ich nationale Historiographie als eine Variation in eine Reihe von verschiedenen Formen der räumlichen Verortung von Geschichte. Insbesondere lokale und regionale Geschichte war in allen Zeitschriften ein relevanter Zugang zur Vergangenheit. Und neben einem Fokus auf dem deutschsprachigen Raum war auch Europa als politischer und kultureller Raum immer wieder Rahmen der Geschichtsdarstellungen. Das Kapitel beginnt mit einem Forschungsüberblick über die Bedeutung der Nation und anderer Räume in der Geschichtswissenschaft. Der zweite Teil gibt einen quantitativen Überblick über die Verortung von Geschichte in Familienzeitschriften und in einem dritten Schritt untersuche ich die Konstruktion von Nationalgeschichte, von Lokal- und Regionalgeschichte sowie von europäischer und globaler Geschichte. Nationale Engführungen der historischen Forschung und der Geschichtskulturforschung In der Historiographieforschung ist man sich weitgehend einig, die Historiker des 19. Jahrhunderts hätten vor allem eines getan: Sie hätten eine deutsche Nationalgeschichte geschaffen und damit einen wichtigen Beitrag zur Konstruktion
G ESCHICHTSKULTUREN
IM
K ONTEXT
GESELLSCHAFTLICHER
S TRUKTUREN
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der deutschen Nation geleistet.1 Auch in Untersuchungen zur Geschichts- und Erinnerungskultur steht die Frage nach der Nation und der Konstruktion nationaler Identitäten durch Geschichtsschreibung, Erinnerung und Tradition an vorderster Stelle.2 Diese Konzentration auf den Prozess des nation-building hat durchaus ihre Berechtigung – schließlich war die Nation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im liberalen Bürgertum und spätestens nach Gründung des Kaiserreichs zunehmend auch in anderen sozialen Klassen nicht nur ein wichtiger Topos für eigene Identitätskonstruktionen, sondern durchzog auch politische (und in wachsendem Maße ebenso soziale) Verhältnisse. Gleichzeitig reproduziert der Fokus auf die Nation und ihre Ursprungsgeschichten aber auch einen selbst aus dem späten 19. Jahrhundert stammenden national verengten Blick. Diesen Blick kritisiert James Sheehan in einem Aufsatz von 1981, der in weiten Teilen nichts an Aktualität eingebüßt hat: »Although German historians these days seem to disagree about almost everything, the one thing most of them still accept is the historiographical legitimacy of the settle-
1
Vgl. als Auswahl zur Geschichte der deutschen Historiographie im 19. Jahrhundert: Stuchtey, Benedikt: »German Historical Writing«, in: Stuart Macintyre/Juan Maiguashca/Attila Pók (Hg.), The Oxford History of Historical Writing. 1800-1945, Oxford: Oxford Univ. Press 2011, S. 161-183; Langewiesche, Dieter: Reich – Nation – Föderation. Deutschland und Europa, München: Beck 2008a; Berger, Stefan: »The German Tradition of Historiography. 1800-1995«, in: Mary Fulbrook (Hg.), German History since 1800, London: Arnold 1997; Iggers (1997); Küttler, Wolfgang/Rüsen, Jörn/Schulin, Ernst: Geschichtsdiskurs. Bd. 3: Die Epoche der Historisierung, Frankfurt/Main: Fischer 1997; Jaeger/Rüsen (1992).
2
Vgl. als Auswahl Berger et al. (Hg.): Writing the Nation Series; die Projekte zu nationalen Erinnerungsorten: Nora (2005); Franҫois/Schulze (2002a); Forschungen, die auf einen Mythosbegriff in Verbindung mit nationaler Geschichtskonstruktion aufbauen: Münkler (2009); Buschmann, Nikolaus/Langewiesche, Dieter (Hg.): Der Krieg in den Gründungsmythen europäischer Nationen und der USA, Frankfurt/Main: CampusVerlag 2003; Altrichter et al. (2004); sowie sonstige Beispiele: Becker (2001a); Hardtwig, Wolfgang, »Erinnerung – Wissenschaft – Mythos. Nationale Geschichtsbilder und politische Symbole in der Reichsgründungsära und im Kaiserreich«, in: Ders. (1990c). Eine Kritik an der nationalen Verengung der Erinnerungsforschung und ein gesamteuropäischer Ansatz findet sich bei Buchinger, Kirstin (Hg.): Europäische Erinnerungsräume, Frankfurt/Main: Campus 2009.
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ment of 1871«,3 so beschreibt Sheehan den kleindeutschen Bias deutscher HistorikerInnen auch des 20. Jahrhunderts, die Deutschland meist in den Grenzen des kleindeutschen Staates verorteten und rückwirkend ihre Erforschung des 18. und 19. Jahrhunderts national ausrichteten. Deutsche Geschichte sei jedoch nicht allein ein Modell für Nationsbildung, sondern auch für die Grenzen der Nation – sowohl als historische Triebkraft, als auch als Kategorie historischer Analyse.4 Sheehan plädiert für die Verwendung historischer Analysekategorien, die eine größere Komplexität historischer Entwicklung zu beschreiben vermögen als nur den Weg in den Nationalstaat. Als wichtigstes Beispiel für historische Entitäten jenseits der nationalen Verortung nennt Sheehan regionale Bindungen. Der wirtschaftliche, kulturelle und auch politische Raum sei für einen Großteil der Menschen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts lokal und regional gebunden gewesen. Insbesondere auf dem Land sei die Nation eine abstrakte und ferne Größe gewesen, die nichts mit den alltäglichen Lebenswelten gemein gehabt habe. Deutsche Geschichte vor 1866 sei vor allem die Geschichte lokaler und regionaler Räume gewesen. Sheehan betont immer wieder, einen (national-)deutschen wirtschaftlichen, politischen oder kulturellen Raum habe es vor 1866 nicht gegeben. Er kritisiert, dass die Historiographie sich in der Erforschung des 19. Jahrhunderts dessen ungeachtet stark auf die Ereignisse stütze, die zur Reichsgründung geführt hätten. Studien zu Lokal- und Regionalgeschichte würden meist nur in der entsprechenden Region rezipiert und wenig in der sonstigen wissenschaftlichen Welt wahrgenommen. Erst mit der Reichsgründung begann laut Sheehan eine Epoche, die es zulasse, von (national-)deutscher Geschichte zu sprechen, da das politische Gebilde des kleindeutschen Staats mit der inneren Reichsgründung mehr und mehr auch gesellschaftlich zusammengewachsen sei. Gleichzeitig hätten auch im Kaiserreich regionale und lokale Bezüge fortexistiert und sich als äußerst mächtige Bindungen erwiesen – die Spannungen und Interaktionen zwischen diesen beiden Kräften gelte es zu erforschen.5 Seit Sheehan seine Kritik am nationalen und kleindeutschen Bias der Geschichtswissenschaft äußerte, sind diverse Studien entstanden, die eine nationale Engführung der historischen Entwicklung zu vermeiden suchen. Regionale Geschichte und die Region als Analysebegriff haben den Weg aus der Landesgeschichte hinaus gefunden und werden partiell in der Wirtschafts- und Sozialge-
3
Sheehan, James J.: »What is German History? Reflections on the Role of the Nation in German History and Historiography«, in: Journal of Modern History 53 (1981), S. 1-23, hier S. 3.
4
Vgl. ebd., S. 4.
5
Vgl. ebd., S. 22.
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schichte, der Kulturgeschichte, aber auch in ihrer Bedeutung für die gesamtstaatliche politische Ebene mitgedacht.6 Gleichzeitig wurde in den letzten 20 Jahren die Nation als »imagined community«7 definiert und in zahlreichen Studien der Prozess der Nationsbildung kritisch unter sozialkonstruktivistischen Aspekten beleuchtet.8 Einen Ansatz, der die Region als wichtige historische Kategorie in die Nationenforschung einbindet, liefert Dieter Langewiesche mit seinem Konzept der »Föderativen Nation«.9 Auch Langewiesche fordert, die deutsche Geschichte nicht rückwirkend als reine Vorgeschichte des kleindeutschen Nationalstaats zu betrachten, sondern ihrem föderativen Charakter Rechnung zu tragen. Unter dem Einfluss der postcolonial studies, die auch kulturwissenschaftliche Raumkonzepte stark geprägt haben, geht der Blick der historischen Fachwissenschaft seit einigen Jahren zunehmend über nationalstaatliche Grenzen hinaus und
6
Einen knappen Überblick über die Verwendung der Kategorie Region in der Forschung seit den 1970ern bietet Klein, Michael B.: Zwischen Reich und Region. Identitätsstrukturen im Deutschen Kaiserreich (1871-1918), Stuttgart: Steiner 2005; vgl. auch Weichlein, Siegfried: Nation und Region. Integrationsprozesse im Bismarckreich, Düsseldorf: Droste 2004; ein Sammelband behandelt Regionen und Regionalismen im europäischen Vergleich, Augusteijn, Joost/Storm, Eric (Hg.): Region and State in Nineteenth-Century Europe. Nation-Building, Regional Identities and Separatism, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2012; vgl. darin zum Wilhelminischen Kaiserreich Weichlein, Siegfried: »Regionalism, Federalism and Nationalism in the German Empire«, S. 93-110.
7
Anderson, Benedict R.: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt/Main: Campus 1996.
8
Ein Forschungsüberblicke zur Nationen- und Nationalismusforschung bis 2000 findet sich bei Langewiesche, Dieter: »›Nation‹, ›Nationalismus‹, ›Nationalstaat‹ in der europäischen Geschichte seit dem Mittelalter. Versuch einer Bilanz«, in: Ders. (Hg.), Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, München: Oldenbourg 2000b, S. 9-32; einen Überblick über verschiedene Klassiker der Forschung gibt der Sammelband Salzborn, Samuel (Hg.): Staat und Nation. Die Theorien der Nationalismusforschung in der Diskussion, Stuttgart: Steiner 2011; Jansen und Borggräfe geben einen zusammengefassten Einblick in die Debatten der Nationsforschung, vgl. Jansen, Christian/Borggräfe Henning: Nation – Nationalität – Nationalismus, Frankfurt/Main: Campus 2007, S. 104-117.
9
Vgl. Langewiesche (2008a); Langewiesche, Dieter: Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, München: Oldenbourg 2000a.
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rückt Weltgeschichtsschreibung in den Fokus der Forschung.10 Auch vergleichende Studien, die oft innerhalb der westlichen Welt verbleiben, liefern neue Methoden und Ansätze der Verhandlung von Raum und Nation.11 Trotz der Entwicklungen der Forschung in nationale und staatliche Binnengrenzen hinein und über nationale Grenzen hinaus, aber auch wegen der neuen Bedeutung, die das Konstrukt Nation durch die Nationenforschung der letzten 20 Jahre gewonnen hat, ist der Fokus der meisten historischen und geschichtskulturellen Untersuchungen ein nationaler. Mit einer Analyse vorwiegend deutscher Familienzeitschriften reproduziere ich einerseits diesen nationalen Bias, breche die Verengung der Forschung aber insofern auf, als dass ich meinen Blick nicht allein auf die Konstruktion nationaler Geschichte, sondern auf das gesamte Spektrum von lokalen, regionalen, nationalen, europäischen und globalen Zugehörigkeiten richte, die in Familienzeitschriften zum Tragen kamen. Wo spielt sich Geschichte ab? Ein Überblick Im Genre der Familienzeitschrift standen lokale, regionale und nationale Bindungen in beständiger Interaktion. Dies äußerte sich im verlegerischen und redaktionellen Aufbau, in den Zielgruppen und der Verbreitung der Zeitschriften, aber auch in den historiographischen Inhalten. Die untersuchten fünf Zeitschriften verstanden sich alle als überregionale Medien. Sie waren allerdings durch ihre Verlagsstandorte lokal und regional gebunden und auch über ihre jeweilige Zielgruppe in bestimmten Räumen schwerpunktmäßig verortet. So ist anzunehmen, dass protestantische Blätter wie das Daheim vor allem im nord- und mitteldeutschen Raum gelesen wurden, während die katholische Alte und Neue Welt qua konfessioneller Verortung mehr Anklang im süddeutschen Raum fand. Die
10 Vgl. Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München: Beck 2009; Bayly, Christopher A: Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780-1914, Frankfurt/Main: Campus 2006. 11 Vgl. Berger et al. (Hg.): Writing the Nation Series; Lingelbach, Gabriele: »The Institutionalizaton and Professionalization of History in Europe and the United States«, in: Macintyre et al. (2011), S. 78-96; Bösch, Frank: »Zwischen Populärkultur und Politik. Britische und deutsche Printmedien im 19. Jahrhundert«, in: Archiv für Sozialgeschichte 45 (2005), S. 549-584; Conrad/Conrad (2002); Haupt, HeinzGerhard: Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt/Main: Campus 1996; Jeismann, Michael: Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918, Stuttgart: Klett-Cotta 1992.
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Alte und Neue Welt hatte ihren Verlagsstandort im schweizerischen Einsiedeln, war aber gleichwohl eine in Deutschland viel gelesene Zeitschrift. Die Gartenlaube, das Daheim und die Sonntags-Zeitung wurden in Leipzig herausgegeben, dem deutschen Hauptstandort verlegerischer Tätigkeit des 19. Jahrhunderts. Die sozialdemokratische Neue Welt, ursprünglich auch in Leipzig herausgegeben, zog 1881 mit Verlag und Druckerei nach Stuttgart um, da die Verfolgungen auf Grundlage des Sozialistengesetzes im Württembergischen Staatsgebiet geringer waren als in Sachsen. Verschiedene räumliche Bindungen schlugen sich auch in den Inhalten der Zeitschriften nieder und wurden für die Quantifizierung in zwei verschiedenen Kategorien erfasst: ›historischer Raum‹ und ›räumliche Perspektive‹. Die Kategorie ›historischer Raum‹ steht für den konkreten historisch-geographischen Raum, in dem historische Darstellungen angesiedelt waren, und umfasst verschiedene lokale, regionale oder staatliche Codierungen (zum Beispiel Berlin, Baden oder Russland). ›Deutschland‹ ist in der Analyse keine eigene Codierung – die analytische Unmöglichkeit, Deutschland über größere historische Zeiträume hinweg als einheitliches Gebiet zu fassen, erkannten auch die AutorInnen der Familienzeitschriften. Sie differenzierten durchaus zwischen dem modernen Nationalstaat und vormodernen nichtnationalen Machtverhältnissen und Raumaufteilungen, und verfolgten mitunter sehr verschiedene Konzepte von Deutschland. Das Problem, dass die Zeitschriften allerdings durchaus deutsche Geschichte schrieben (wenn sie dabei auch höchst unterschiedliche Konzepte von Deutschland vertraten), ohne dass Deutschland als analytischer Code verwendet werden kann, wurde durch die Einführung des Codes ›deutschsprachiges Gebiet‹ gelöst, der auch Österreich und die Schweiz umfasst. Die Kategorie ›räumliche Perspektive‹ steht für den Blickwinkel der Artikel und bezieht sich stärker auf imaginierte Konstrukte, auf Denkmodelle: So gab es lokale, regionale,12 staatliche,13 nationale, gesamteuropäische oder globale Zu-
12 ›Regionalgeschichte‹ umfasst Artikel, die sich auf eine klar benannte Region innerhalb oder jenseits von Territorialstaaten und Nationen beziehen, so etwa Schwaben, das Elsass, das Rheinland oder die Alpen. Weniger eindeutig ist die Zuordnung von Territorialstaaten, wie etwa Württemberg oder Baden. Diese wurden vor allem in kulturhistorischen Artikeln als Regionen gehandelt und hier dementsprechend quantifiziert. In politikgeschichtlichen Artikeln jedoch wurden sie als Staaten präsentiert und daher auch als solche codiert. An diesem Beispiel zeigt sich, dass die Zuordnung einund desselben Gebietes je nach historischem Zugang eine andere sein konnte. 13 Die Codierung ›staatlich‹ umfasst die Geschichte von Staaten oder in der Staatenbildung befindliche Territorien, die jedoch nicht national gedacht wurden – so zum Bei-
122 | POPULÄRE G ESCHICHTE IM KAISERREICH
gänge zur Vergangenheit, daneben aber auch solche, die sich auf keinen konkreten Raum bezogen, also enträumlicht waren. Tabelle 3: Deutsche, europäische und außereuropäische Geschichte in Familienzeitschriften 1890-1913 alle ZS
GL
DA
ANW
NW
SZ
Deutschsprachige Gebiete
53,8%
55,5%
63,7%
44,7%
46,9%
49,5%
Nicht deutschspr. Europa
33,1%
32,6%
25,0%
38,5%
40,3%
36,0%
Außereuropäische Räume
8,9%
7,5%
6,9%
10,3%
9,8%
13,0%
Sonstige/ohne Angabe
4,1%
4,5%
4,4%
6,4%
3,1%
1,5%
Gesamt
100%
100%
100%
100%
100%
100%
Quelle: DGFZ.
Die Geschichtsdarstellungen aller Zeitschriften waren hauptsächlich auf Europa zentriert und um die Hälfte aller Artikel fokussierte auf deutschsprachige Gebiete (vgl. Tabelle 3). Insbesondere für das Daheim (63,7%), in geringerem Maße auch für die Gartenlaube (55,5%) war deutsche Geschichte ein außerordentlich relevantes Thema – in den anderen drei Zeitschriften erhielt deutsche Geschichte zwischen 44,7% und 49,5% des Platzes. Diese Werte bedeuten im Umkehrschluss: Fast die Hälfte der Artikel hatte nichtdeutsche Geschichte zum Thema – eine durchaus beachtliche Menge für eine Epoche, die als Zeitalter der Nationalgeschichtsschreibung gilt. Neben der Geschichte deutschsprachiger Räume thematisierten die Zeitschriften vor allem die Geschichte Europas und einzelner europäischer Länder und Regionen. Frankreich, traditioneller Nachbar und Rivale mit einer langen gemeinsamen Geschichte, und Italien dominierten hierbei. Außereuropäische Geschichte schrieben die AutorInnen in geringerem Maße: Die Sonntags-Zeitung legte mit 13% das größte Gewicht der fünf Zeitschriften auf außereuropäische Räume. Aber auch die beiden ideologisch internationaler ori-
spiel Preußen oder Bayern, aber auch staatliche Gebilde der Antike. In den Unterschieden zwischen den Codierungen ›staatlich‹ und ›national‹ werden die Verschränkungen von Raum und Zeit deutlich: Nationale Perspektiven waren meist an das nationale 19. Jahrhundert gebunden, während die staatliche Perspektive oftmals auf frühneuzeitliche Territorialstaaten angewandt wurde.
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entierten Zeitschriften Alte und Neue Welt (10,3%) und Neue Welt (9,8%) räumten außereuropäischer Geschichte mehr Platz ein als die stärker national ausgerichteten Blätter Daheim (6,9%) und Gartenlaube (7,5%). Diagramm 4: Räumliche Perspektive der Geschichtsdarstellungen in Familienzeitschriften 1890-1913 100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% alle ZS
GL
innernational
DA national
ANW übernational
NW
SZ
enträumlicht
Quelle: DGFZ.
Deutsche (und außerdeutsche) Geschichte wurde mitnichten allein als Nationalgeschichte geschrieben. Nationalen Zugängen waren – abhängig von der jeweiligen (deutsch-)nationalen Sympathie – lediglich ein Zehntel (Alte und Neue Welt) bis zu einem Viertel (Sonntags-Zeitung) aller Darstellungen gewidmet. Daneben standen lokale (23,2%),14 regionale (10,1%) oder staatliche Bezüge (11,6%),15 in der Grafik zusammengefasst als ›innernational‹ (vgl. Diagramm 4). Auch über-
14 Die Sonntags-Zeitung fiel hier aus dem Schema der Dominanz lokaler Geschichte heraus und widmete dieser nur 14,4% ihres Platzes – im Gegensatz zu Gartenlaube, Daheim und Alter und Neuer Welt, in denen jeweils ca. ein Viertel aller historischen Zugänge lokal waren. 15 Diese waren in der Sonntags-Zeitung (8,6%), aber auch in der Alten und Neuen Welt (5,7%) geringer als in den anderen Blättern. Ein hoher Anteil staatlicher Geschichtsschreibung im Daheim (17,7%) ist hauptsächlich auf die vielen Artikel über preußische Geschichte des 17. und 18. Jahrhunderts zurückzuführen.
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nationale16 Perspektiven bestimmten das Geschichtsprogramm der Familienzeitschriften – fast ein Fünftel aller Darstellungen bediente sich eines nationen- oder sogar kontinentübergreifenden Blicks auf Geschichte. Einen der relevantesten Zugänge jedoch stellte die nicht räumlich verortete, also enträumlichte Geschichte dar. Die Enträumlichung der Geschichte durchzog vor allem die Alte und Neue Welt (27,9%) sowie die Neue Welt (27,3%) – in den anderen Blättern wurde Geschichte stärker verräumlicht, so dass diese Codierung nur zwischen 13,1% (Sonntags-Zeitung) und 16,8% der Artikel (Daheim) angewandt wurde. Die Konstruktion historischer Räume war eng verknüpft mit der Wahl des historischen Zugangs: Ereignisgeschichte orientierte sich am politischen Raum und war zu großen Teilen in einer territorialstaatlichen oder nationalen Perspektive verortet. Demgegenüber bewegten sich kulturhistorische Darstellungen fast immer außerhalb politischer Grenzen. Sie traten in einem regionalen oder in einem (west-)europäischen, christlich-abendländischen Zusammenhang auf,17 kamen oft auch ganz ohne räumliche Bezüge aus. Diese ›enträumlichte‹ Geschichte bezog sich allerdings oft implizit auf einen deutschsprachigen Zusammenhang. Dieser Bezug wurde meist nur dadurch deutlich, dass sämtliche Anekdoten und konkreten Beispiele, die ein Autor für ein kulturhistorisches Phänomen brachte, aus deutschen Gegenden und Städten stammten oder sämtliche zitierte Quellen deutschsprachig waren.18 Abseits solcher Hinweise war häufig nicht ersichtlich, ob die AutorInnen sich auf deutsche oder gesamteuropäische Kultur bezogen. Wo genau die Grenzen Deutschlands und des deutschen Geschichtsraumes liegen, ließen die AutorInnen oft im Diffusen – nicht ohne Grund, waren doch, wie Eduard Heyck konstatierte, die nationalen Verhältnisse Deutschlands »derartig zerstückelte und verzwickte, geographisch und politisch, wie bei keinem anderen Volke«.19 Klare Definitionen dessen, was Deutschland sei, waren eher eine
16 Die Codierung ›übernational‹ umfasst gesamteuropäische, transnationale, koloniale oder globale Zugänge. 17 Vgl. Streit, P. Robert, Zur Geschichte des Weihnachtsspiels, in: ANW 1904, S. 303; Bernhard, Albert, Todtentänze, in: NW 1902, S. 260-262; Berthold, A., Volksbelustigungen einst und jetzt, in: SZ 1910, S. 445-446. 18 Vgl. Siegert, J., Die »edle Jägerei« im Zeitalter der Reformation, in: NW 1899, S. 403-404; Sendling, Hans, Strumpf und Schuh. Eine kulturgeschichtliche Fußwanderung, in: DA 1908, Nr. 42, S. 20; Bösch, Hans, Allerlei alte Biere, in: GL 1898, S. 63. 19 Heyck, Eduard, Vorposten des Deutschtums, in: GL 1911, S. 20.
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Seltenheit.20 Das historische Deutschland erschien in den Familienzeitschriften vielmehr als unhistorische, überzeitliche Konstante, eben als der Lebensraum eines als überzeitlich angenommenen deutschen ›Volks‹. Was zur deutschen Geschichte gehörte und was nicht, wurde implizit vor allem über Zugehörigkeiten zum deutschen Sprachraum definiert, allerdings behandelte man Österreich und die Schweiz dabei oft als eigene Nationen – oder ignorierte sie auch gänzlich.21 Da die AutorInnen jedoch nur selten definierten, welchen Raum sie in ihre Darstellung mit einbezogen, bleibt es oftmals unklar, ob sie Österreich in der deutschen Geschichte mitdachten oder nicht. Die LeserInnen mussten den historischen Raum, von dem sie lasen, selbst imaginieren – was natürlich leicht dazu führen konnte, dass sie ihn in zeitgenössische räumliche Grenzen übertrugen.22 Nach diesem quantitativen Überblick über die vielfältigen Orte und räumlichen Bezüge der Geschichtsschreibung soll nun genauer untersucht werden, auf
20 Eduard Heyck konstatierte 1910 im Daheim, das Gebiet »von der Oder bis an die Weichsel und über sie hinaus« sei ursprünglich »germanisches Urland« gewesen, das mit der Schlacht bei Tannenberg an Polen »verloren« gegangen sei. Heyck nutzte Flüsse als natürliche Landmarken zur Abgrenzung nationaler Räume und benannte Elbe und Saale als historische Landmarken, die im Mittelalter die deutsche von der slawischen Völkerwelt getrennt hätten. Wenn er auch keine umfassenden Angaben über die Grenzen des deutschen Herrschafts- und Kulturraums machte, so lieferte er doch zumindest für die Nordwestgrenze anhand von Flussverläufen klare Definitionen sowohl des politischen als auch des nationalen Territoriums. Vgl. Heyck, Eduard, Die Schlacht bei Tannenberg am 15. Juli 1410, in: DA 1910, Nr. 41, S. 10. 21 Eine der wenigen Ausnahmen waren die Darstellungen des Tiroler Aufstandes und der Person Andreas Hofers, der als eine der wenigen österreichischen Personen Aufnahme in den Heldenkanon der deutschen Familienzeitschriften fand. Der Aufstand wurde zwar nicht als Kapitel deutscher Nationalgeschichte gehandelt, galt jedoch als »leuchtendes Vorbild« für die deutsche Nationalbewegung, vgl. von Wildungen, Heinz, Tirol und das Haus Habsburg, in: SZ 1909/10-1, S. 180. Der selbst nur regional denkende Hofer, »dessen Gesichtskreis kaum über die rotweißen Grenzpfähle hinausreichte«, sei zu einer Gestalt der deutschen und universalen Geschichte emporgewachsen, vgl. Lehmann, Max, Die Erhebung Tirols im Jahre 1809, in: DA 1910, Nr. 3, S. 22. Die Geschichte der Schweiz wurde vor allem zum Jubiläum der Gründung der Eidgenossenschaft 1891 verhandelt. 22 Vgl. Paletschek, Sylvia: Wo spielt deutsche Geschichte? Zur Konstruktion des historischen Raumes Deutschland in der Historiographie zum 19. Jahrhundert, unveröff. Vortrag, Tübingen 1997, S. 2.
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welche Weise die Familienzeitschriften Nationalgeschichte, Lokal- und Regionalgeschichte sowie europäische und globale Geschichte konstruierten. Deutsche Nationalgeschichte in Familienzeitschriften Die Nation war ein wichtiger Bezugspunkt deutscher Geschichtskultur. Vor allem die Gartenlaube, das Daheim und die Sonntags-Zeitung bekannten sich positiv zum deutschen Nationalstaat als Manifestation nationaler Einheit. Die Gartenlaube hatte sich schon in ihrer Gründungsphase innerhalb der Nationalbewegung verortet und leistete seit 1853 ihren Beitrag, die Nation zu propagieren. Die ursprünglich liberale Konzeption der Nation wich mit dem Deutsch-Französischen Krieg einer bedingungslosen Unterstützung des Bismarckschen Nationalstaats, doch die nationale Idee an sich blieb auch im späten 19. Jahrhundert einer der politischen Eckpfeiler der Zeitschrift. Das Daheim verortete sich von vornherein kleindeutsch und wurde mit der Gründung des Kaiserreichs zu einer vehementen Verfechterin des jungen Nationalstaates. Doch auch die Neue Welt, die eine kritische Distanz zu Staat und Regierung des Kaiserreichs wahrte, arbeitete mit nationalen Bezügen – die Nation wurde hier allerdings anders als in den bürgerlichen Blättern als Nation ›von unten‹ definiert. Die katholische Alte und Neue Welt hingegen verortete sich stärker konfessionell denn national und schrieb Geschichte nur selten deutlich über nationale Bezüge. Die Konstruktion der Nation über Zeitgeschichte und borussische Traditionen Gartenlaube, Sonntags-Zeitung und Daheim orientierten sich in ihren nationalhistorischen Konzepten zum Großteil am Konzept der borussischen Historiographie, die seit den 1850er Jahren die deutsche Nationalgeschichte als eine Entwicklung hin zur staatlichen Einheit unter preußischer Führung konstruiert hatte.23 Großdeutsche Ideen fanden in der wilhelminischen Ära, in der die kleindeutsche Lösung schon seit 20 Jahren den Status Quo bestimmt hatte, in den Zeitschriften kaum noch Beachtung. Vor allem das Daheim befand sich in seiner nationalen Geschichtsdeutung ganz in der Tradition der preußisch-kleindeutschen Schule und wies Preußen eine zentrale Rolle in der deutschen Geschichte zu. Preußen war der einzige frühneuzeitliche Partikularstaat, dessen Geschichte überhaupt ausführlich im Daheim dokumentiert wurde. Die Chronologie der
23 Zur borussischen Geschichtsschreibung vgl. Gotthard, Axel: »Preußens deutsche Sendung«, in: Altrichter et al. (2004), S. 321-369; Jaeger/Rüsen (1992), S. 87-92; Hardtwig (1990b).
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preußischen Geschichte begann hier mit dem frühneuzeitlichen Brandenburg.24 Eine wichtige Figur stellte der »Große Kurfürst« Friedrich Wilhelm von Brandenburg dar, doch Fixpunkt aller preußischen Geschichte war Friedrich der Große.25 Das Daheim differenzierte zwar durchaus zwischen einer nichtnationalen, partikularstaatlichen deutschen Geschichte in der frühen Neuzeit und einer nationalen Historie im 19. Jahrhundert; gleichzeitig aber stellte die Zeitschrift das Kaiserreich explizit in die Tradition des preußischen Staates des 18. Jahrhunderts: »Tausend Fäden verbinden uns auch heute noch mit der Schöpfung des großen Königs«,26 schrieb der Militärhistoriker Walter von Bremen im Daheim und bezog sich damit auf die deutsche Armee, die aus dem Geiste des Heeres Friedrichs des Großen entstanden sei. Ungleich wichtiger für die Genese der deutschen Nation waren in Gartenlaube, Daheim und Sonntags-Zeitung jedoch die Napoleonischen Kriege27 und
24 Vgl. Friedrich Wilhelm, der Große Kurfürst, tröstet das Landvolk nach dem Schwedenkriege. Nach dem Gemälde von Franz Röber, in: DA 1894, S. 8-9; Gigrensohn, J., Die vier ersten Askanier, in: DA 1898, S. 351-354, 367-370; Anonym, Der Große Kurfürst und die Refugiés, in: DA 1891, S. 14-15. 25 Vgl. Bernhard, Carl, Friedrich der Große bei Leuthen. Zur Erinnerung an die entscheidungsvollste Stunde des preußischen Staates im 18. Jahrhundert, in: SZ 1900, S. 158; Jacobi, Martin, Das Kammerkonzert Friedrichs des Großen, in: DA 1910, Nr. 19, S. 12-15; Friedrich der Große und der schlafende Zieten. Nach dem Gemälde von Arthur Kampf, in: GL 1891, S. 360-361. 26 Bremen, Walter von, Friedrich der Große und die preußische Armee, in: DA 1900, Nr. 40, S. 18. 27 Vgl. Witte, Karl, Wie Napoleon im Jahre 1806 in den Krieg zog, in: GL 1906, S. 928-931; von Lichterfeld, M.S., Zur Erinnerung an die Völkerschlacht bei Leipzig, in: SZ 1900, S. 111-114; Nebe, D., Deutschland 1809, in: DA 1909, Nr. 16, S. 13. Vgl. zur Konstruktion der Nation über die Napoleonischen Kriege: Planert, Ute: Der Mythos vom Befreiungskrieg. Frankreichs Kriege und der deutsche Süden. Alltag – Wahrnehmung – Deutung 1792-1841, Paderborn u.a.: Schöningh 2007, S. 474-641; Bruyn, Günther de: »Königin Luise«, in: Franҫois/Schulze (2002), S. 286-298; Schäfer, Kirstin A.: »Die Völkerschlacht«, in: Franҫois/Schulze (2002), S. 187-201; Schulze, Hagen: »Napoleon«, in: Franҫois/Schulze (2002), S. 28-46; John, Jürgen: »Jena 1806. Symboldatum der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts«, in: Gerd Fesser (Hg.), Umbruch im Schatten Napoleons. Die Schlachten von Jena und Auerstedt und ihre Folgen, Jena: Bussert 1998, S. 163-176.
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der Deutsch-Französische Krieg.28 Die Napoleonischen Kriege galten als Geburtsstunde der Nationsbildung und des Einheitsbewusstseins der Deutschen. Die Fremdherrschaft Frankreichs sei mit dem ersten nationalen Erwachen abgeschüttelt worden, so die Meistererzählung der nationalen Genese. Dem sei eine Zeit der Zerstückelung gefolgt, in der die deutsche Einheit in die Ferne gerückt, bis sie schließlich mit dem Deutsch-Französischen Krieg vollendet worden sei. So wurden beide Kriege in eine teleologische Kontinuitätslinie gestellt – der 1813 begonnene Prozess habe nach vielen Rückschlägen endlich 1871 seinen Endpunkt und sein Ziel erreichen können: »Ohne die denkwürdige That von 1813«, so Max Hartung in der Gartenlaube, gäbe es »kein 1870 […], kein Reich, keine deutsche Kaiserkrone«.29 Neben der politischen Nation, die über die Geschichte des 19. Jahrhunderts konstruiert wurde, rekurrierten viele Artikel auf eine Kulturnation, die durch deutsche Geistesgrößen, allen voran Goethe und Schiller, repräsentiert wurde.30 Diese bürgerlichen Heroen beanspruchte auch die Sozialdemokratie für sich und fügte sie in den Kanon sozialistischer Heldenfiguren ein, indem sie Anknüpfungspunkte an die ArbeiterInnenbewegung suchte und fand, etwa in den Artikeln »Goethe und die Arbeiter«31 beziehungsweise »Schiller und die Arbeiter«.32 Außerhalb der Geschichte des späten 18. und 19. Jahrhunderts, die als teleologische Entwicklung hin zur geeinten Nation gezeichnet wurde, war die Nation
28 Vgl. Arnold, Hans, Kleine Erinnerungen aus großer Zeit, in: DA 1896, S. 102; Riemann, Ernst, Die deutsche Feldpost 1870/71, in: DA 1911, Nr. 9, S. 16-17; Erbeutung einer Fahne bei Amiens durch die 69er am 27. November 1870. Nach einem Gemälde von C. Röchling, in: GL 1904, S. 481. Zur Erinnerung an den Deutsch-Französischen Krieg vgl. Becker (2001a). 29 Hartung, Max, Das historische Museum der Völkerschlacht bei Leipzig, in: GL 1897, S. 159; Vgl. auch von Bremen, Walter, Das Erwachen zur Freiheit im Jahre 1809, in: DA 1909, Nr. 34, S. 13; Heyck, Eduard, Der Völkerfrühling des Jahres 1813, in: GL 1913-1, S. 8. 30 Vgl. Federer, Heinrich, Schiller. Biographisch-literarische Studie, in: ANW 1905, S. 693-696, 723-727, 757-760, 797-800; Kunert, Marie, Schiller als Künstler und Mensch im Urteile Goethes, in: NW 1905, S. 147-150; Halden, Fritz, Aus des jungen Goethe Zeit, in: SZ 1909/10, S. 518-521; Busse, Carl, Schiller und Goethe, in: DA 1905, Nr. 31, S. 8-12. Zu Schiller und Goethe in der deutschen Erinnerungs- und Geschichtskultur vgl. Dann, Otto: »Schiller«, in: Franҫois/Schulze (2002), S. 171-186; Borchmeyer, Dieter: »Goethe«, in: Franҫois/Schulze (2002), S. 187-206. 31 Grunwald, Max, Goethe und die Arbeiter, in: NW 1909, S. 92-95. 32 Schulz, Heinrich, Schiller und die Arbeiter, in: NW 1909, S. 358.
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nur selten explizites Thema der Artikel.33 Der Geschichte des Mittelalters und der frühen Neuzeit wurde meist keine nationale Prägung zugeschrieben, sondern sie erschien in ereignisgeschichtlichen Darstellungen fast immer als Geschichte der einzelnen Partikularstaaten;34 höchstens das mittelalterliche Reich wurde zuweilen in borussischer Tradition als Idealbild eines frühen nationalen Zusammenschlusses stilisiert, und der Zerfall der nationalen Bindung in der frühen Neuzeit beklagt.35 Häufiger griffen die AutorInnen auf die Germanen zurück, um Ursprünge nationaler Wesensarten und Traditionen aufzuzeigen.36 Der konkrete Bezug auf die Nation, ihre Einschreibung in die Geschichte, war also epochal und thematisch gebunden. So erlangt die These von der Konstruktion nationaler Geschichte im 19. Jahrhundert eine zweite Bedeutung: Das 19. Jahrhundert war nicht nur der Zeitraum, in dem nationale Geschichte geschrieben wurde, sondern die nationale Historie wurde vor allem über den Zugriff auf die Geschichte des 19. Jahrhunderts konstruiert. Die Nation war eine Identitätskategorie der Zeitgeschichte und als solche äußerst wirksam. Historische Epochen, die vor dem bürgerlichen Zeitalter lagen, wurden jedoch stärker über andere Differenzkategorien und Zugehörigkeiten verhandelt. Die Nation im Zusammenspiel mit Klasse und Konfession Vielschichtig und keineswegs eindeutig war das Verhältnis der Sozialdemokratie und ihres Organs Die Neue Welt zu Nation und Nationalstaat. Während sich die ArbeiterInnenbewegung vor 1871 als Teil der Nationalbewegung verstanden hatte und interne Streitigkeiten zwar über die Präferenz einer großdeutschen oder kleindeutschen Lösung, nicht aber über das gemeinsame Ziel der nationalen Einigung geführt worden waren, führte eben diese zur Ausgrenzung der Sozialdemokratie aus der nationalen Gemeinschaft. Die Haltung der SDAP zum DeutschFranzösischen Krieg und die Solidaritätserklärungen der Partei mit der Pariser
33 Während 47% aller Artikel zum 19. Jahrhundert eine nationale Perspektive einnahmen, stand die Nation nur in 8% aller Darstellungen sonstiger Epochen sowie epochenübergreifender Artikel im Fokus. 34 Vgl. Die »Hohenzollerische Hochzeit« in Hechingen im Jahre 1598, in: GL 1897, S. 844-845; Das Heer des Großen Kurfürsten, in: DA 1891, S. 554-556. 35 Vgl. Trinius, A., Deutsche Kaiserspuren im Unstrutthale, in: DA 1896, S. 586-588; Schäfer, Dietrich, Deutsches Nationalgefühl, in: GL 1912, S. 993-995. 36 Vgl. Sendling, Hans, Germanisches Heidentum in heutigen Erntegebräuchen, in: DA 1902, Nr. 46, S. 17-18; Feldmann, Erich, Das Osterfest im Spiegel deutschen Brauches und deutscher Sitte, in: SZ 1905, S. 682-683; Wichert, Ernst, Ein Reich, ein Recht!, in: GL 1897, S. 522-524.
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Commune führte zu ersten Isolationen innerhalb des sich konstituierenden Nationalstaats, die schließlich im Sozialistengesetz 1878-1890 ihren Höhepunkt fanden. Die Diffamierung der SozialdemokratInnen als »Vaterlandslose Gesellen«37 zeigt deutlich, dass mangelnder Patriotismus eine wirksame Legitimation des Ausschlusses aus der nationalen Gemeinschaft war.38 Dabei war die Nation innerhalb der Sozialdemokratie durchaus eine konstitutive Denkkategorie; große Teile sozialistischen Denkens bauten auf dem Bekenntnis zur Nation auf. Der sozialdemokratische Fokus auf Klassenzugehörigkeit als hauptsächlicher Identitätskategorie schloss Patriotismus keineswegs aus.39
37 Vgl. Groh, Dieter: »Vaterlandslose Gesellen«. Sozialdemokratie und Nation 1860-1990, München: Beck 1992. 38 Der Antisozialismus, der auch nach Aufheben des Sozialistengesetzes wichtiger Integrationsfaktor des Kaiserreichs war, ging einher mit verschiedenen Inklusionsmechanismen wie zum Beispiel der staatlichen Sozialgesetzgebung, der Präsenz der Sozialdemokratie im parlamentarischen System, aber auch der starken reformistischen Strömung in Partei und Gewerkschaften, die an einer Veränderung des bestehenden gesellschaftlichen Systems arbeiteten. Dieter Groh hat für die Wechselwirkung aus teilweiser Integration und Exklusion der ArbeiterInnenbewegung im Kaiserreich den Begriff der »negativen Integration« geprägt, vgl. Groh, Dieter: Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Frankfurt/Main, Berlin: Propyläen 1973; vgl. auch Berger, Stefan: »Class vs. Nation, Class and the Nation, Between Class and Nation? Labourʼs Response to the National Question, ca. 1870-1939, with Special Reference to Britain and Germany«, in: Histoire Sociale/Social History 33 (2000), S. 292-307, hier S. 296f. 39 In der Forschung zur ArbeiterInnenbewegung wird die Stellung der Sozialdemokratie zur Nation meist an der Haltung der Partei oder der Reichstagsfraktion zu Wehretat und Kriegsgefahr festgemacht – berühmt ist der Ausspruch August Bebels, er werde im Kriegsfalle gegen Russland selbst die Flinte in die Hand nehmen, um sein Vaterland zu verteidigen, aber auch das Marxʼsche Zitat von der Vaterlandslosigkeit des Proletariers. Diese Aussagen illustrieren das schwierige Manöver der Partei, die sich einerseits gegenüber dem Reichstag in beständiger patriotischer Bringschuld befand, andererseits Loyalitäten gegenüber der Internationale zu erfüllen hatte. Vgl. zum Verhältnis von Sozialdemokratie und Nation Berger (2000); Berger, Stefan: »British and German Socialists between Class and National Solidarity«, in: Ders./Angel Smith (Hg.), Nationalism, Labour and Ethnicity. 1870-1939, Manchester, New York: Manchester University Press 1999, S. 31-63; Berger, Stefan: »Nationalism and the Left in Germany«, in: New Left Review (1994), S. 55-70; Groh (1992); Mommsen, Hans: Arbeiterbewegung und nationale Frage. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen: Van-
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Die Neue Welt konstruierte deutsche Geschichte ähnlich wie die bürgerlichen Zeitschriften als Geschichte deutscher Städte, Regionen, Staaten oder der deutschen Nation. Doch war die Konzeption von Nation enger an die Kategorie Klasse gebunden: Dementsprechend waren es nicht die Napoleonischen Kriege und der Deutsch-Französische Krieg, die in der Neuen Welt als identitätsstiftende historische Ereignisse verhandelt wurden, sondern nationale Identität wurde über die 1848er-Revolution40 oder über die Eigenheiten deutscher Gewerbeentwicklung konstruiert.41 Der teleologische Blick auf die Reichsgründung, der so charakteristisch für die borussische Geschichtsschreibung war, fehlte in den Darstellungen der Neuen Welt. Die deutsche Geschichte war nach Ansicht der SozialdemokratInnen noch nicht an ihrem Ziel angelangt. Neben den deutschen Revolutionen hatten die Erhebungen in Frankreich – allen voran die Französische Revolution,42 aber auch die Revolutionen von 1830 und 1848 sowie die Pariser Commune43 – einen festen Platz in der Erinnerungskultur der Neuen Welt und erhielten hier ungleich mehr Raum als in anderen Zeitschriften. Die Nation, so lässt sich zusammenfassend sagen, wurde in der Neuen Welt als Identitätskategorie der Zeitgeschichte keinesfalls in Opposition zur Klasse gestellt oder von ihr ersetzt – vielmehr wurde die Kategorie der Nation historisch an die der Klasse und an Revolutionserinnerungen und -erwartungen gebunden. Während in der sozialdemokratischen Neuen Welt der Klassenaspekt eine mindestens ebenso große Relevanz hatte wie die Nation, wurde diese in der ka-
denhoeck & Ruprecht 1979; Conze, Werner/Groh, Dieter: Die Arbeiterbewegung in der nationalen Bewegung. Die deutsche Sozialdemokratie vor, während und nach der Reichsgründung, Stuttgart: Klett 1966. 40 Vgl. Liebknecht, Wilhelm, Vor fünfzig Jahren, in NW 1899, S. 187-189, 195-198, 203-204, 211-214, 220-221; Conrady, Alexander, Ein Sozialdemokrat von 1848, in: NW 1903, S. 267-270, 275-278; Conrady, Alexander, Die Arbeiterverbrüderung von 1848-49, in: NW 1910, S. 79-86, 91-93. 41 Vgl. Borchardt, Julian, Wirtschaftliche und soziale Wandlungen in der deutschen Geschichte, in: NW 1911, S. 339-342; Wittich, Manfred, Handwerker und Patrizier im deutschen Mittelalter, in: NW 1896, S. 547-552. 42 Vgl. Poetzsch, Hugo, Marat, in: NW 1902, S. 91-81; Conrady, Alexander, Ein Pariser Streik am Vorabend der großen Revolution, in: NW 1911, S. 92-93; Sievers, M., Zur Jahrhundertfeier der Marseillaise, in: NW 1892, S. 134-135. 43 Vgl. Cain, S., Eine Barrikade in Paris im Juli 1830, in: NW 1894, S. 237; Anonym, Die Pariser Februar-Revolution 1848, in: NW 1898, S. 51-54; Brod, J., Das Ende. Erinnerungen an die Kommune, in: NW 1901, S. 155-156, 163-164; Demmer, A., Bilder aus der Märzrevolution von 1871, in: NW 1912, S. 85-86.
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tholischen Alten und Neuen Welt von der Konfession als Identitätsmarker klar überlagert. Nicht nur die deutsche, auch eine schweizerische Nationalgeschichtsschreibung fand in der Alten und Neuen Welt nur wenig Platz: Zum fünfhundertjährigen Gründungsjubiläum der Eidgenossenschaft brachte die Zeitschrift 1891 eine dreiteilige ausführliche Darstellung der politischen Ereignisse von 1291 und ihrer Vorgeschichte,44 doch darüber hinaus waren Bezüge auf das historische Werden der Schweizer Nation eine Seltenheit.45 Die AutorInnen bezogen sich in ihren Artikeln über Schweizer Geschichte meist auf lokale Gegebenheiten und hatten ihren Fokus zudem auf Kirchengeschichte – die Historie von Klöstern und Pilgerstätten machte einen Großteil schweizerischer Geschichtsschreibung aus.46 Einer der wenigen Topoi schweizerischen Nationalismus, der regelmäßig auch in die Alte und Neue Welt Einzug fand, war der Bezug auf die Landschaft.47 Über die Alpen konstruierten die AutorInnen eine Schweiz, die sich durch ihre besonderen landschaftlichen Gegebenheiten vom Rest Europas deutlich unterschied und in welcher der natürliche
44 Vgl. Sidler, P. Wilhelm, Die Anfänge der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Historische Studie zur nationalen Festfeier der Bundeserneuerung von 1291, in: ANW 1891, S. 532-535, 597-604, 677-681. Die Gründung der Eidgenossenschaft wurde allerdings auch in deutschen Zeitschriften thematisiert, dies ist also allein noch kein Indiz für eine ausgeprägte Schweizer Nationalgeschichtsschreibung in der Alten und Neuen Welt, vgl. Baldamus, A., Der geschichtliche Ursprung der schweizer Eidgenossenschaft. Zum 1. August 1891, in: DA 1891, S. 696-700; Thiessing, Die eidgenössische Bundesfeier in Schwyz, in: GL 1891, S. 586-590; Scherr, Johannes, Ein Wendepunkt in der Geschichte der Schweiz. Ein Kapitel aus den Schweizer Freiheitskriegen, in: SZ 1912/13, S. 35-39. 45 Ausnahmen, in denen explizit auf eine Schweizer Nation verwiesen wurde, waren: Meier, Gabriel, Das Schweizer Wappen. Heraldische Studie, in: ANW 1890, S. 751-756; Backemann, A., Tell und der Apfelschuß, in: ANW 1906, S. 148-154. 46 Vgl. Baldingen, Alwin von [Pseudonym Gabriel Meier], Kloster Muri einst und jetzt, in: ANW 1894, S. 242-246; Baumgartner, Alexander, Pankratius Vorster, der letzte Abt von St. Gallen und sein Geschichtsschreiber G. J. Baumgartner, in: ANW 1902, S. 336-340; Iucundus, P., Die Kapuziner in der Schweiz, in: ANW 1910, S. 396-399; Ringholz, P. Odilo, Die alten Pilgerzeichen von Einsiedeln, in: ANW 1905, S. 227-228. 47 Vgl. zum Schweizer Landschaftsmythos Jansen/Borggräfe (2007), Kapitel: 4.2: Schweiz: Die multiethnische Nation als ökonomische Interessensgemeinschaft, S. 144-162, v.a. S. 150; Marchal, Guy P.: Schweizer Gebrauchsgeschichte. Geschichtsbilder, Mythenbildung und nationale Identität, Basel: Schwabe 2006, S. 118.
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Raum Mentalitäten, Lebensweisen und historische Entwicklungen konstituierte.48 Im weitgehenden Ausbleiben einer Schweizer Nationalgeschichtsschreibung befand sich die Alte und Neue Welt in der Tradition der katholischen Schweizer Historiographie – auch die katholischen Universitätshistoriker überließen die Konstruktion umfassender Nationalgeschichte vielfach den protestantischliberalen Historikern und konzentrierten sich auf konfessionelle Themenfelder.49 Der Bezug zur deutschen Nation war in der Alten und Neuen Welt ebenso ambivalent wie der zur schweizerischen. Während der Zeit des DeutschFranzösischen Kriegs sprang die Zeitschrift auf die Welle deutschnationaler Begeisterung auf und brachte Anfang bis Mitte 1871 in mehreren Artikeln eine Chronik des Krieges, die in Abgrenzung zum französischen Gegner eine deutsche Nation, ein deutsches ›wir‹ konstruierte, das die Schweizer durchaus mit einschloss: »Von den Alpen bis zum Meere erhoben sich die deutschen Stämme. Es war das ganze Deutschland […]«.50 Diese Identifikation mit der deutschen Nation endete allerdings mit Beginn des Kulturkampfes. Dieser war zwar kein beständiges Leitthema der Zeitschrift, doch in Portraits zeitgenössischer Kleriker setzte sie sich, zum Teil durchaus mit scharfem bis drohendem Unterton, mit den Diskriminierungen der katholischen Kirche durch den deutschen und schweizerischen Staat auseinander.51 Der Deutsch-Französische Krieg, der in den pronationalen Zeitschriften zu einem der wichtigsten Topoi deutscher Nationalgeschichte
48 Vgl. Meier, Gabriel, Aus den Schweizerbergen. Wanderbilder und historische Betrachtungen aus der Centralschweiz, in: ANW 1890, S. 40-47, 96-107, 155-163, 237-241. 49 Vgl. Marchal, Guy P.: »National Historiography and National Identity. Switzerland in Comparative Perspective«, in: Stefan Berger (Hg.), The Contested Nation. Ethnicity, Class, Religion and Gender in National Histories, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2008, S. 311-338, hier S. 327f. Franziska Metzger weist jedoch darauf hin, dass es auch katholische Nationalgeschichten gab, in der Wissenschaft wie in populären Medien, die eine katholische Ursprungserzählung in einer direkte Kontinuität zur Gegenwart konstruierten und damit die katholische Gemeinde zu den wahren Hütern der Eidgenossenschaft machten, vgl. Metzger (2011), S. 174. 50 Anonym, Vom Kriegsschauplatz, in ANW 1871, S. 27. Der Beitrag wurde ergänzt durch einen Abdruck der »Wacht am Rhein« (ebd.). Auch an anderer Stelle fanden sich deutsche Nationalsymbole, so etwa ein Bild der Germania: vgl. Rikulowski, Germanias Triumph 1870, in: ANW 1871, S. 217. 51 Vgl. Anonym, Katholische Zeitgenossen. Eugen Lachat, Bischof von Basel, in: ANW 1873, S. 244-246; Anonym, Katholische Zeitgenossen. Bischof Caspar Mermillod, in: ANW 1873, S. 152-153.
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wurde, tauchte in der Alten und Neuen Welt während des Untersuchungszeitraums lediglich in drei Darstellungen auf, wovon eine nicht direkt den Krieg behandelte, sondern die Erschießung eines Bischofs während der Pariser Commune,52 eine aus französischer Perspektive verfasst war53 und die dritte das Bild eines bayerischen Regiments war, also nicht unbedingt national gelesen werden muss.54 Die Napoleonische Zeit hingegen war auch in der Alten und Neuen Welt ein häufig gewähltes historisches Thema, doch lag hier der Fokus seltener auf den Befreiungskriegen als Ursprung deutschen Nationalbewusstseins. Im Mittelpunkt standen häufiger Napoleon selbst und die Ereignisse in Frankreich seit der Revolution,55 oder aber der katholische Held der Befreiungskriege, der Tiroler Wirt Andreas Hofer.56 Die Geschichtsschreibung in der Alten und Neuen Welt war nicht nur weniger national, sondern auch deutlich internationaler ausgerichtet als die der deutschen Zeitschriften und befand sich damit in Einklang mit der internationalen Organisation und Denkweise der katholischen Kirche.57 Das Kapitel hat gezeigt, dass die Nation vor allem in Gartenlaube, Daheim und Sonntags-Zeitung ein wichtiger Anhaltspunkt der Geschichte war. Eng mit der Geschichte des 19. Jahrhunderts verknüpft, wurde die Geburtsstunde der Nation in den Napoleonischen Kriegen gesehen, die entsprechend häufig Thema der Geschichtsdarstellungen waren. Vor allem das protestantisch-konservative Daheim stand mit seiner Idee einer preußischen Aufgabe in borussianischer Tradition. In der katholische Alten und Neuen Welt und der sozialdemokratischen Neuen Welt hingegen war weniger die Nation identitätsstiftend, sondern vielmehr die Kategorien Religion und Klasse.
52 Vgl. George-Kaufmann, Amara, Aus dem Leben eines Märtyrers der Commune. Nach zeitgenössischen Aufzeichnungen, in: ANW 1896, S. 360-367. 53 Vgl. L’Ermite, Pierre, Weihnachten im Kriege. Nach einer wahren Begebenheit nacherzählt, in: ANW 1910, S. 182. 54 Vgl. Speyer, Ch., Bayrische Chevaulegers von 1870, in: ANW 1912, S. 575. 55 Vgl. Tetzner, H., Im Schatten der Titanen, in: ANW 1910, S. 436-437; Bensler, A., Tage des Glücks und des Schreckens in Versailles, in: ANW 1906, S. 350-357. 56 Vgl. Anonym, Andreas Hofer, in: ANW 1893, S. 270-277; Artaria, M., Aus dem Tiroler Freiheitskampfe, in: ANW 1894, S. 105. 57 44,7% der Artikel der Alten und Neuen Welt beschäftigten sich mit der Geschichte des deutschsprachigen Gebiets, der Durchschnitt aller Zeitschriften dafür lag bei 53,8%. Dies bedeutet, dass sich die Alte und Neue Welt in 55,3% ihrer Artikel mit nichtdeutscher Geschichte befasste, vgl. Tabelle 3.
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Regional- und Lokalgeschichte in Familienzeitschriften Neben der Nation waren Regionen wichtige Bezugsräume in den Zeitschriften. Der Vergleich zwischen den fünf Zeitschriften zeigt, dass sie innerhalb des deutschsprachigen Raumes verschiedene regionale Schwerpunkte aufwiesen.58 Während die Neue Welt den deutschsprachigen Raum vornehmlich in seiner Gesamtheit thematisierte (62,2%), wiesen Daheim, Gartenlaube und SonntagsZeitung deutliche Schwerpunkte brandenburgischer und preußischer Geschichte auf (vgl. Tabelle 4).59 Die Alte und Neue Welt legte ihren Schwerpunkt stärker auf die katholischen Gebiete im Süden (14,4%) und Westen (8,8%) des deutschsprachigen Raumes, außerdem auf Österreich (11,2%)60 und die Schweiz (11,5%).61 Angesichts des schweizerischen Verlagsstandorts ist es allerdings bemerkenswert, wie viel deutsche Geschichte in der Alten und Neuen Welt geschrieben wurde.
58 Deutschsprachige Regionen wurden zur Quantifizierung in größere Einheiten zusammengefasst: Den süd-, west-, mittel-, nord- und nordostdeutschen Raum. Diese Räume sind zusammengefasst aus Städten und Regionen, die in den Geschichtsdarstellungen genannt wurden. Sie setzen sich folgendermaßen zusammen: Süddeutscher Raum: Baden, Bayern, Böhmen, Elsass-Lothringen, Mähren, Schwaben, Württemberg. Westdeutscher Raum: Pfalz, Rheinland, Ruhrgebiet, Westfalen. Mitteldeutscher Raum: Hessen, Franken, Sachsen, Anhalt, Thüringen, Weimar. Norddeutscher Raum: Braunschweig, Friesland, Hamburg, Holstein, Münsterland, Niedersachsen, Oldenburg, Schleswig. Nordostdeutscher Raum: Berlin, Brandenburg, Mecklenburg, Ostpreußen, Pommern, Posen, (Gesamt-)Preußen, Schlesien, Westpreußen. Zudem wurden Österreich und die Schweiz jeweils als Einheit zusammengefasst. Wo keine regionale Spezifikation stattfand, d.h. der deutschsprachige Raum explizit oder implizit als Gesamtheit behandelt wurde, wurde die Codierung ›nicht regional spezifiziert‹ verwendet. 59 Der ›nordostdeutsche Raum‹ war im Daheim in 35,3%, in der Gartenlaube in 18,8% und in der Sonntags-Zeitung in 25,5% aller Darstellungen deutscher Geschichte historischer Schauplatz. 60 Österreich hatte in allen Zeitschriften einen durchaus präsenten Platz (im Durchschnitt 7%) – lediglich die Neue Welt beschäftigte sich kaum mit österreichischer Geschichte (1,7%). 61 Die Schweiz war in den deutschen Zeitschriften nur selten historischer Schauplatz (zwischen 1,5% im Daheim und 3,3% in der Sonntags-Zeitung).
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Tabelle 4: Geschichte des deutschsprachigen Raums in Familienzeitschriften 1890-1913 nach Regionen62 alle ZS
GL
DA
ANW
NW
SZ
Süddeutscher Raum
8,8%
14,4%
8,0%
4,4%
9,4%
7,2%
Westdeutscher Raum
4,6%
8,8%
3,3%
5,5%
4,8%
2,4%
Mitteldeutscher Raum
11,6%
4,5%
12,0%
10,8%
15,5%
9,0%
Norddeutscher Raum
4,1%
2,8%
2,9%
5,2%
5,6%
3,8%
Nordostdeutscher Raum
22,0%
7,3%
35,3%
8,0%
18,8%
25,5%
Schweiz
3,4%
11,5%
1,5%
2,2%
2,4%
3,3%
Österreich
7,0%
11,2%
5,4%
1,7%
8,0%
8,9%
nicht regional spezifiziert
38,6%
39,4%
31,5%
62,2%
35,6%
40,0%
Gesamt
100%
100%
100%
100%
100%
100%
Quelle: DGFZ.
Auch ein hoher Anteil an lokaler Geschichte, insbesondere Stadtgeschichte, war charakteristisch für Familienzeitschriften. Lokalgeschichte war oftmals verbunden mit Ortsbegehungen, bei denen nicht nur aus der Geschichte, sondern auch aus der zeitgenössischen Gegenwart der jeweiligen Orte berichtet wurde. Diese meist reich bebilderten Artikel waren in Form von Reiseberichten verfasst – die reale Reise des Autors oder der Autorin konnte von den LeserInnen auf einer fiktiven Tour begleitet werden. Die Reise bildete dabei den roten Faden, der den Artikel zusammenhielt und strukturierte. Die AutorInnen berichteten von der Landschaft, die sie sahen, und den Begegnungen mit den Menschen vor Ort. Diese Begegnungen waren durchzogen von Lokalkolorit: Die AutorInnen trafen vor allem im Ausland, aber auch in den deutschen Regionen, auf charaktervolle Originale, welche die regional spezifische Atmosphäre des Ortes unterstrichen. Die in der zeitgenössischen Gegenwart verorteten Reisebeschreibungen wurden immer wieder von historischen Erklärungen unterbrochen, in denen die Ge-
62 Diese Angaben beziehen sich allein auf die Artikel über deutsche, österreichische und Schweizer Geschichte.
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schichte eines Bauwerks erläutert, über historische Ereignisse, die sich vor Ort zugetragen hatten, berichtet oder historische Persönlichkeiten erwähnt wurden, die sich an diesem Ort aufgehalten hatten.63 Bauwerke, aber auch historische Landschaften wurden dabei zu Zeugen der Geschichte stilisiert, wie etwa das Schloss Bernburg in der Gartenlaube: »Die Anlage dieses mächtigen grauen Kolosses ragt wohl auch in das graue Mittelalter zurück und manche Erinnerung an prunkende Turniere und fröhliche Zechgelage, aber auch an manch harten Kampf und Strauß werden in ihm wach, wenn der Mond […] nachts heraufsteigt und über die vergangenen Zeiten mit ihm plaudert. Vor allem der Dreißigjährige Krieg brachte hier gar buntbewegtes Leben zur Entfaltung, da bald Kaiserliche, bald Schweden auf der Burg hausten und die Stadt brandschatzten. Aber auch viel glücklichere segensreiche Stunden hat die alte Uhr vom Turme verkündet, besonders zu den Zeiten der Reformation, wo Fürst Wolfgang, der Freund Luthers, mit bewundernswürdigem Freimut von hier aus der neuen Lehre den Weg bahnte.«64
Der Burgturm selbst wurde hier personalisiert und erzählte von den historischen Ereignissen, die sich in seiner Umgebung abspielten. Die Bedeutung von Orten für die Erinnerung ist spätestens seit dem Erscheinen Pierre Noras »Lieux de memoire« und seiner Nachfolgeprojekte, wie die von Etienne François und Hagen Schulze herausgegebenen »Deutschen Erinnerungsorte«, in der Erinnerungskulturforschung unbestritten. Erinnerungsorte als »langlebige, Generationen überdauernde Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität«,65 umgeben von einer »symbolischen Aura«,66 werden von Nora, François und Schulze nicht nur auf konkrete physische Orte bezogen, sondern der Begriff des Ortes ist ein metaphorischer. Es kann sich hierbei um einen realen, sozialen, po-
63 Vgl. Mielert, Fritz, Bukarest, fünfzig Jahre Rumäniens Hauptstadt, in: ANW 1911, S. 338-341; König, Robert, Danzig vor hundert Jahren, in: DA 1893, S. 468-488; Schur, Ernst, Nürnberg, in: NW 1904, S. 296-297. Die Gartenlaube brachte durch den gesamten Untersuchungszeitraum hindurch die Serie »Deutsche Städtebilder«, in der einzelne Städte in Geschichte und Gegenwart vorgestellt wurden. Die SonntagsZeitung publizierte Stadtgeschichte in der Serie »Wanderungen durch die Hauptstädte Europas« (1901-1904). Das Daheim brachte 1902 die Reihe »Deutsche Burgen«. 64 Büttner, Franz, Anhalts Schlösser, in: GL 1897, S. 349. 65 Franҫois, Etienne/Schulze, Hagen: »Einleitung«, in: Dies. (2002b), Bd. 1, S. 9-24, hier S. 18. 66 Vgl. Nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin: Wagenbach 1990, S. 26.
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litischen, kulturellen oder auch imaginären Ort handeln.67 In der Stadtgeschichte erschien der Erinnerungsort als konkreter, physisch begehbarer Ort, der durch seine Geschichte symbolisch aufgeladen und zum Erinnerungsort wurde. Regionalhistorische Texte arbeiteten mit anderen, oft weniger konkreten räumlichen Bezügen als die lokale Geschichte. Die Region war physischer, politischer, kultureller, seltener auch wirtschaftlicher Raum. Als physischer Raum war sie geknüpft an ›natürliche‹ Raumeinteilungen, wie zum Beispiel Flussverläufe oder Gebirge. Allgemein spielten Natur und Landschaft eine große Rolle in der Regionalgeschichtsschreibung und wurden in vielen Texten als Einstieg ausführlich beschrieben. Artikel, die sich am physischen Raum orientierten, gingen allerdings meist einen Schritt über die reine Beschreibung hinaus, und setzten die Landschaft in Verbindung zur menschlichen historischen Entwicklung. Diese vollzog sich nicht nur vor der Kulisse der Landschaft, sondern in direkter Interaktion mit ihr oder Reaktion auf sie.68 Biographien etwa stellen oftmals die historische Person in ihrer Prägung durch die regionale Landschaft dar69 und Artikel über Naturkatastrophen oder die Bedrohung des Menschen durch die Natur machten deutlich, wie stark die menschliche Geschichte von der physischen Umwelt abhing.70 Die wechselseitige Verbundenheit von Mensch und Natur wurde allerdings auch positiv dargestellt. So verknüpften Autoren die Urbarmachung des Bodens vor allem in östlichen Grenzgebieten des deutschsprachigen Raums eng mit der regionalen Zugehörigkeit, aber auch mit der Nationalität der dort arbeitenden Bauern und Bäuerinnen. In einem Text über die Geschichte der deutschsprachigen Bevölkerung Böhmens in der Gartenlaube gingen das Land und die Bevölkerung eine geradezu symbiotische Beziehung ein:
67 Vgl. Franҫois/Schulze (2002a), S. 18. 68 Vgl. Grempe, P. M., Die Entwicklung des deutschen Dünenbaues, in: NW 1902, S. 164-165; Laufenberg, Heinrich, Rheinfahrten in alter Zeit, in: NW 1904, S. 244-246; Träger, Eugen, Deutsche und Holländische Landeroberungen an der Nordsee, in: GL 1892, S. 696-699; Arnold, Hugo, Am Ufer der Salzach, in: GL 1895, S. 192-197. 69 Vgl. Meier, Gabriel, Herrad von Landsberg und ihr »Lustgarten«, in: ANW 1897/98, S.724-731; Schmitt, Victor, Die Sängerin der Heimatliebe. Ein Besuch der Heimstätten Annettens von Droste-Hülshoff, in: GL 1897, S. 28-31. 70 Vgl. Schreckhaase, Paul, Der Schutz der Halligen, in: GL 1911, S. 208-211; Anonym, Der Aetna und sein jüngster Ausbruch, in: GL 1892, S. 572-573. Der Artikel stellte in zwei Holzstichreproduktionen eine nach einem Freskogemälde angefertigte Zeichnung des Ausbruch von 1669 und eine Zeichnung des Ausbruchs von 1892 einander gegenüber.
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»Die Tschechen […] verstanden es, nur den lockern Boden der fruchtbaren Niederung mit der leichten Hacke zu behandeln, [...] aber die von dichtem Wald bedeckten Grenzgebirge ließen sie unberührt. […] Als nun nach Eintritt friedlicherer Zeiten die Landesfürsten, einzelne Adlige und Klöster ihren Waldbesitz urbar zu machen wünschten, so mußten sie das mit dem schweren Pflug vertraute, anerkannte beste Kolonistenvolk des Mittelalters, die Deutschen, herbeirufen. Die Grenzgebiete Böhmens […] wurden von den Deutschen erst urbar gemacht und aus grüner Wurzel besiedelt.«71
Während der physische Raum der Region innerhalb ›natürlicher‹ Grenzen verlief, bezog sich die Region als politischer Raum auf Territorialstaaten oder kleinere politische Einheiten wie Fürstentümer; deren Grenzen wurden hier als Regionengrenzen gehandelt. Meist schrieben die AutorInnen die Geschichte von Fürstenhäusern oder die Biographien einzelner HerrscherInnen72 – die Bevölkerung des politischen Territoriums wurde nur selten berücksichtigt. Ausnahmen tauchen dort auf, wo das politische Handeln der Fürsten direkte Auswirkungen auf das Leben der Bevölkerung zeigte, wie etwa im Falle von Konfessionswechseln in der frühen Neuzeit73 oder von Zwangsrekrutierungen im 18. Jahrhundert.74 Doch auch hier wurden Untertanen eher als erduldende Objekte herrschaftlichen Handelns denn als Subjekte der Geschichte eingeführt. Eine völlig andere soziale Zusammensetzung historischer AkteurInnen erschien in Darstellungen, die einen kulturellen Zugang zur Region wählten.75 Hier
71 Haussen, Adolf, Die deutsche Sprache in Böhmen, in: GL 1897, S. 640-643. Das Motiv der Urbarmachung Mittel- und Osteuropas durch die Deutschen im Gegensatz zu den Slawen bediente auch ein Artikel der Alten und Neuen Welt: »[Die Slawen] betrieben den Ackerbau im buchstäblichen Sinn des Wortes oberflächlich. Mit dem Hakenpfluge ritzten sie nur die oberste Krume des Ackers auf; sie kannten also nur die extensive Bodenbewirtschaftung. In dem Momente, da der Slawe mit dem deutschen Bauer, dessen eiserner Pflug auch den schwereren Boden durchfurchte, in Wettbewerb trat, war er wirtschaftlich verloren.« Hellmund, Karl, Das dreizehnte Jahrhundert im Lichte der neuesten Forschung, in: ANW 1897/98, S. 558. 72 Vgl. Freiherr von Siechenroth, Die letzten Tage des Königreichs Hannover, in: SZ 1902/03, Nr. 2, S. 652-656; Damman, M., Ein deutscher Despot, in: NW 1899, S. 142; Girgensohn, J., Die ersten vier Askanier, in: DA 1898, S. 351-354, 367-370. 73 Vgl. Stabilis, R., Markgraf Jakob der Dritte von Baden. Ein fürstliches Konvertitenbild, in: ANW 1891, S. 343-351. 74 Vgl. von Rieben, Menschenräuberei im vorigen Jahrhundert, in: DA 1896, S. 804-808. 75 Vgl. Seefried, Ernst, Ueberreste einer Volkstracht, in: ANW 1906, S. 827-829; Laufenberg, Heinrich, Rheinfahrten in alter Zeit, in: NW 1904, S. 244-246; Hauffen,
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war der regionale Raum oft kleinräumiger als der politische Raum – er wurde nicht an politische Grenzen gebunden, und konnte bis zur Größe eines Dorfes verkleinert werden. Dennoch ist diese lokal gebundene Regionalgeschichte nicht mit der meist in Städten verorteten Lokalgeschichte zu verwechseln – denn nicht historische Ereignisse, die sich an einem spezifischen Ort zugetragen hatten, oder die historische Wandlung eines Ortes standen im Vordergrund, sondern eine zeitlich oftmals nicht allzu spezifisch verortete Volkskultur. Während die Stadtgeschichte mit Daten und Ereignissen arbeitete und genau benennen konnte, was sich wann wo zugetragen hatte, eröffnete die kulturbezogene Regionalgeschichte mit den Begriffen »früher« und »damals« einen unspezifischen zeitlichen Raum. Regionalgeschichte ging so enge Verbindungen mit Ideen von Volk und Volkskultur ein, war sie doch in vielen Fällen die Geschichte folkloristisch idealisierter bäuerlicher Kultur in ihren regionalen Eigenheiten. In regionalhistorischen Artikeln wurde Geschichte nicht allein für LeserInnen aus der jeweiligen Gegend geschrieben. Diesen konnten sie zur regionalen Identifikation dienen, allen anderen LeserInnen zeigen sie die Vielfalt Deutschlands auf. So wurde auch über Lokal- und Regionalgeschichte eine deutsche Geschichte konstruiert, die Deutschland föderativ dachte, als vielfältiges Gebilde unterschiedlichster Regionen, die gemeinsam eine Nation bilden. Lokale und regionale Zugehörigkeiten waren hier keine Gegenkonzepte zur Nation und zum nationalen Gedächtnis, sondern deren Bausteine.76 Föderativer Nationalismus trug nach Langewiesche wesentlich dazu bei, dass die Menschen den jungen Nationalstaat akzeptierten, da regionale und einzelstaatliche Traditionen und Bindungen aufrechterhalten wurden: »Man wuchs in den Nationalstaat hinein, indem man sich als Föderalist oder Regionalist bekannte.«77 Dies erkannten auch Familienzeitschriften und leisteten ihren Beitrag zur inneren Reichsgründung über Anerkennung und Integration des Föderalismus. So berichtete Johannes Proelß 1902 in der fünfteiligen Serie »Zur Geschichte der Gartenlaube«, wie die
Adolf, Die deutsche Sprache in Böhmen, in: GL 1897, S. 640-643; Schmidt, Robert, Meißner Porzellan, in: GL 1909, S. 8-12. 76 Vgl. Lenger, Friedrich: »Geschichte und Erinnerung im Zeichen der Nation. Einige Beobachtungen zur jüngsten Entwicklung«, in: Oesterle (2005), S. 521-535, hier S. 522f.; vgl. auch Weichlein (2004); Confino, Alon: »Konzepte von Heimat, Region, Nation und Staat in Württemberg von der Reichsgründungszeit bis zum Ersten Weltkrieg«, in: Langewiesche (2000a), S. 345-359. 77 Langewiesche, Dieter: »Föderativer Nationalismus als Erbe der deutschen Reichsnation. Über Föderalismus und Zentralismus in der deutschen Nationalgeschichte«, in: Ders. (2000c), S. 215-244, hier S. 241.
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Zeitschrift sich nach dem Krieg zwischen Preußen und Österreich für die »Versöhnung der […] Gegensätze in der Nation« eingesetzt habe, indem sie bayerische Autoren verstärkt zu Wort kommen gelassen und Erzählungen, Reiseberichte und Sittengemälde aus Bayern gebracht habe.78 Die vielen lokalen und regionalen Geschichtsbezüge der Zeitschriften sind durchaus in einem Kontext der Konstruktion nationaldeutscher Geschichte zu sehen, sie sind aber nicht auf diesen Kontext zu reduzieren – regionale Identitäten waren nicht allein Marker auf dem Weg zur nationalen Identität, sondern existierten auch unabhängig von der Nation als mächtige Zugehörigkeiten. Die Familienzeitschriften standen mit ihrem Geschichtsprogramm, wie die Beispiele gezeigt haben, in föderalen Traditionen, wobei sie verschiedene regionale Schwerpunkte aufwiesen. Während die Region physisch, politisch oder kulturell gedacht wurde, diente lokale Geschichte vor allem dazu, Geschichte an konkreten Orten greifbar und erlebbar zu machen und hatte daher eine starke physische Komponente. Vor allem über kulturelle Zugehörigkeit wurde hingegen eine europäische Geschichte konstruiert, wie der folgende Teil zeigen wird. Kulturraum Europa und die (Ent-)Historisierung der außereuropäischen Welt Europa war als politischer und vor allem kultureller Raum ein wichtiger Topos der Geschichtsschreibung. Nicht nur verhandelte ein Großteil der Darstellungen die Geschichte verschiedener europäischer Länder und Regionen, sondern die AutorInnen nahmen immer wieder gesamteuropäische Perspektiven ein. Dies zeigt auf, dass neben lokalen, regionalen und nationalen Bindungen im Bewusstsein der AutorInnen und LeserInnen auch abendländische oder europäische kulturelle Zugehörigkeiten existierten und von Relevanz waren. Die gesamteuropäische Geschichtsschreibung war meist an kulturhistorische Ansätze gebunden, die kulturelle und soziale Phänomene im Überblick über das christlich geprägte Abendland oder zumindest über Mittel- und Westeuropa darstellten. Die Artikel, sofern sie epochenübergreifende Themen behandelten, waren zu großen Teilen nach einem sich wiederholenden Schema aufgebaut: Zunächst beleuchteten die AutorInnen die Ursprünge des jeweiligen Phänomens im antiken Rom, Griechenland, Ägypten, seltener auch Persien, worauf ein Ausblick auf die Germanen folgte, um das Thema des Artikels schließlich chronologisch über das Mit-
78 Vgl. Proelß, Johannes, Zur Geschichte der Gartenlaube, Teil III, in: GL 1902, S. 158f.
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telalter und die frühe Neuzeit bis in die Gegenwart zu verfolgen.79 Dabei wurden meist Beispiele aus verschiedenen europäischen Ländern gebracht, oft jedoch auch keine Ortsangaben gemacht, so dass die LeserInnen historische Phänomene selbst imaginär verorten mussten – die Hinweise deuten allerdings darauf hin, dass die LeserInnen sie aufbauend auf einem grundlegenden Vorwissen zumindest in einem europäischen Raum lokalisieren konnten. Das Schema verdeutlicht, wie Chronologie und Raum in den Geschichtsdarstellungen zusammenwirkten: Rekurse auf die römische, griechische und ägyptische Antike zeigten Traditionslinien auf, in welche die AutorInnen die zeitgenössische europäische Welt stellten – nämlich nicht allein in die Tradition germanischer Stämme, sondern auch oder sogar noch stärker in die der antiken mediterranen und mesopotamischen Hochkulturen. Zugleich wird deutlich, dass in der Konzeption der AutorInnen hier die Geschichte, oder zumindest die europäische Geschichte begann. Der Historisierung Europas stand ein enthistorisierter Zugang vor allem zu Afrika und großen Teilen Asiens, aber auch zu (Süd-)Amerika gegenüber. Das zeigt sich unter anderem in der geringen und größtenteils auch undifferenzierten Beschäftigung mit der außereuropäischen Welt, die insgesamt nur einen kleinen Raum im Geschichtsprogramm der Familienzeitschriften einnahm (vgl. Diagramm 5). In der außereuropäischen Geschichte dominierte der asiatische Raum (zwischen 2,5% in der Gartenlaube und 8,4% in der Sonntags-Zeitung). Amerika (2,3%) wurde oft im Zusammenhang mit kolonialer Geschichte behandelt – die Entdeckung Amerikas war ein wichtiger Topos, aber auch die süd- und mittelamerikanischen Hochkulturen, die durch die Europäer zerstört worden waren. Afrika (1,6%) hatte kaum eine Geschichte vor der Kolonialisierung; die Geschichtsschreibung begann dort erst mit dem 19. Jahrhundert. Eine Ausnahme bildete Nordafrika (1,3%), vor allem Ägypten (0,9%), dem Historizität auch vor der Kolonialzeit zugestanden wurde. Historisiert wurden insbesondere Länder, die schon früh in wirtschaftlichen Beziehungen und Kulturkontakt zur westlichen Welt standen, so etwa Indien oder China.80
79 Vgl. Nissen, Adolf, Vom Osterei und Osterhasen. Plauderei, in: DA 1906, Nr. 28, S. 12; Stürmer, Reinhold, Zur Kulturgeschichte des Haares, in: SZ 1901, S. 104-105; Witte, Karl, Zur Geschichte des Perlenschmucks, in: GL 1909, S. 63-66. 80 Vgl. Demmer, A., Die Entstehung der Schrift, in: NW 1899, S. 63-64; Cunow, Heinrich, Das Reich der Inkas, in: NW 1900, S. 187-188, 195-196.
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Diagramm 5: Globale Geschichte in Familienzeitschriften 1890-1913 100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% alle ZS Europa
GL Asien
DA Afrika
ANW Amerika
NW
SZ
Sonstige/ohne Angabe
Quelle: DGFZ.
Eine Form des Zugangs zu außereuropäischer Geschichte lief über die Geschichte deutscher Auswanderer und deutscher Minderheiten im Ausland.81 Die Gartenlaube widmete dem Thema 1911/12 die Reihe »Vorposten des Deutschtums«, die über deutsche Minderheiten im außereuropäischen, vor allem aber im europäischen und Ausland berichtete82 – diese Artikel sind Beispiele dafür, dass Geschichte anderer Länder und Kontinente vor allem über Bezüge zur eigenen Geschichte, zur eigenen Lebenswelt funktionierte. Vor allem aber sind sie – beson-
81 Vgl. Heyck, Eduard, Germantown in Nordamerika, in: DA 1902, Nr. 22, S. 14-16; Schneider, Louis, August Gottlieb Spangenberg, der Mitbegründer der Brüdergemeinde, in: DA 1904, Nr. 43, S. 16-18; Bauermann, Charlotte, Unter indischer Sonne. Erinnerungen einer deutschen Hausfrau, in: DA 1912, Nr. 29, S. 15; Freiherr von Gerland, Ernst, Benjamin Raule, der erste deutsche Admiral und Begründer der ersten deutschen Kolonie in Westafrika (1634-1707), in: SZ 1907/98, S. 324-327. 82 Heyck, Eduard, Vorposten des Deutschtums, in: GL 1911, S. 18-20; Cronau, Rudolf, Vorposten des Deutschtums in Amerika, in: GL 1911, S. 363-366; Brucker, Vorposten des Deutschtums im Elsaß, in: GL 1911, S. 463-464; Strobl, Karl Hans, Vorposten des Deutschtums in Böhmen, in: GL 1912, S. 222-226. Vgl. auch: Schultheiß, Fr. Guntram, Vom Deutschtum in Ungarn, in: GL 1912, S. 423-425; Haas, Theodor, Die deutschen Vorposten in Südösterreich, in: GL 1912, S. 66-68; Hauffen, Adolf, Die deutsche Sprache in Böhmen, in: GL 1897, S. 640-643.
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ders die Reihe »Vorposten des Deutschtums« – im Zusammenhang mit einer verstärkten Deutschtümelei in den Jahren vor Ausbruch des Krieges zu sehen. Schon seit den späten 1880er Jahren hatte sich ein expansiver deutscher Nationalismus formiert, der politisch vor allem von Verbänden wie dem Allgemeinen Deutschen Schulverein (seit 1908 Verein für das Deutschtum im Ausland),83 der Deutschen Kolonialgesellschaft und der nationalen Dachorganisation des Allgemeinen Deutschen Verbands (seit 1894 Alldeutscher Verband) getragen wurde. Diese Verbände, die über offizielle und informelle Kontakte zur Regierung politischen Einfluss ausübten, propagierten ein expansives Verständnis der deutschen Nation, das über die Reichsgrenzen hinaus ging und darauf zielte, die Grenzen des Nationalstaats zu erweitern. Der Begriff des Auslandsdeutschtums oder der Auslandsdeutschen war hierbei eine semantische Schnittmenge der nationalexpansiven Bewegung und schloss sowohl deutsche AuswanderInnen außerhalb Europas als auch die deutschsprachigen Bevölkerungen Mittel- und Osteuropas mit ein.84 Dass das Thema der Deutschen im Ausland Einzug in die Familienzeitschriften, allen voran in die Gartenlaube, fand, ist nicht überraschend. Die außereuropäische Welt war im Geschichtsprogramm von Familienzeitschriften nicht nur unterrepräsentiert, sondern erhielt in der Regel auch erst mit Beginn der Kolonialisierung eine eigene Geschichte. So waren auch globalgeschichtliche Artikel, die zwischen 2,9% im Daheim und immerhin 8,2% aller Geschichtsartikel der Sonntags-Zeitung ausmachten,85 eigentlich Kolonialgeschichte und beschrieben vor allem Entdeckerfahrten und Kolonialisierung,86 aber auch den Gebrauch von Kolonialwaren wie Tabak, Zucker, Gewürzen, Tee
83 Der Allgemeine Deutsche Schulverein, 1881 in Anlehnung an das vorgegangene österreichische Modell gegründet, machte es sich zum Ziel, das nationale Bewusstsein der Deutschen außerhalb der Reichsgrenze zu erhalten und zu stärken. Der Verein unterstützte deutsche Bildungseinrichtungen im Ausland, verbreitete deutsche Medien unter den im Ausland lebenden Deutschen und mobilisierte die innerdeutsche Öffentlichkeit für das Thema. Vgl. Walkenhorst, Peter: Nation – Volk – Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890-1914, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 64. 84 Vgl. ebd., S. 65f. 85 Gartenlaube, Alte und Neue Welt sowie Neue Welt widmeten globalen Zugängen jeweils um die 5%. 86 Vgl. Richter, Paul, Eine Jubelfeier der evangelischen Mission, in: DA 1906, Nr. 40, S. 7-19; Holzhausen, Paul, Vasco da Gama, der Entdecker des Seewegs nach Ostindien, in: GL 1898, S. 329-330.
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und Kaffee in europäischer Geschichte und Gegenwart.87 Diese Geschichten setzten oft erst mit der Kolonisierung ein, blieben also auf den europäischen Fokus beschränkt und die Kulturgeschichte der Kolonialwaren blieb immer eine Geschichte des europäischen Gebrauchs der Waren – gewürzt mit dem Exotismus fremder Welten. Nichtwestliche Räume dienten in der Regel als Vergleiche zu den europäischen Entwicklungen. Die gegenwärtigen Gebräuche nichtwestlicher Völker dienten als Beispiele für die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen,88 als ursprüngliche Relikte in einer von historischem Wandel geprägten Welt.89 Dieses Nebeneinanderstellen von historischen und zeitgenössischen Bräuchen im globalen Kontext war durchaus üblich für kulturhistorische Artikel. Auf diese Weise wurden historische und zeitgenössische Phänomene in ein zeitlich wie räumlich gegliedertes Stufenmodell kultureller und zivilisatorischer Entwicklung eingegliedert. Die Ursprünge des Volkslebens und Volksbrauchtums wurden in niedrigeren Kulturstufen entdeckt, die im mitteleuropäischen Raum meist in der vorchristlichen Vergangenheit, zum Teil aber auch in zeitgenössischen regionalen Traditionen verortet wurden. So stamme etwa der Brauch des Polterabends, so ein Autor der Alten und Neuen Welt, aus »den Zeiten des in der Volksseele wuchernden Aberglaubens und dunklen Heidentums«,90 der damit verbundene Geisterglaube sei zeitgenössisch aber noch bei solchen Völkern anzutreffen, »welche noch auf einer niedrigen Kulturstufe stehen und deshalb zu religiöser Abgeklärtheit und Ruhe, Sicherheit und Festigkeit sich noch nicht durchgerungen haben«.91 Dem historisierten mitteleuropäischen Raum stand eine in weiten Teilen unhistorische beziehungsweise sich auf einer niedrigen Kulturstufe befindliche außereuropäische Welt gegenüber, deren Lebensweisen und Gebräuche anthropologisiert wurden, indem man sie zu authentischen und ursprünglichen Kulturweisen erklärte. In diesem Umgang mit außereuropäischen Kulturphänomenen ergaben sich enge Verbindungen zu ethnologischen und ethnographischen Forschungen, die um die Jahrhundertwende als noch junge Wissenschaften Gesellschaften einer angeblich ›niedrigen‹ Kulturstufe erforschten und da-
87 Vgl. Quadt, H. , Zur Geschichte des Thees, in: SZ 1898, S. 104-109; Borchardt, Bruno, Etwas vom Tabak, in: NW 1901, S. 52-54. 88 Vgl. Kosellek et al. (1975), S. 673. 89 Vgl. Heilborn, Adolf, Zur Kulturgeschichte des Eides, in: GL 1909, S. 22-26; P. M. G., Die Masken. Kulturhistorische Skizze, in: ANW 1891, S. 309-310; Sendling, Hans, Aus der Geschichte des Hutes, in: DA 1906, Nr. 51, S. 13-15. 90 Elmar, Der Polterabend. Eine religionsgeschichtliche Skizze, in: ANW 1909, S. 558. 91 Ebd., S. 557.
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raus Prinzipien kultureller Ursprünge und Entwicklungen ableiteten.92 Eine eigene Geschichte wurde diesen ›ursprünglichen‹ Gesellschaften in der Regel kaum zugesprochen, historisiert wurden sie nur im Vergleich zu den weiter fortgeschrittenen europäischen Kulturen, die das theoretische Maß möglicher zukünftiger Entwicklungen darstellen.93 Der kulturevolutionistische94 Vergleich historischer europäischer Gesellschaften mit zeitgenössischen »Naturvölkern« 95 oder »wilden Völkern«,96 der vor allem in Gartenlaube und Alter und Neuer Welt, nur selten dagegen im Daheim gezogen wurde, war mit kolonialen und rassistischen Diskursen verwoben, aber auch an darwinistische Überlegungen geknüpft, wie der Naturwissenschaftler und Darwinist Adolf Heilborn 1909 in der Gartenlaube verdeutlichte. Die geistige Kultur, so Heilborn, sei »aus kleinsten Anfängen in gesetzmäßiger Entwicklung organisch erwachsen«97 und funktioniere in ihrer Entwicklung nach den gleichen Gesetzen wie die körperliche Entwicklung und Evolution von Lebewesen. Die Kulturgeschichte zeige daher »den engen geistigen Zusammenhang der höchsten Kultur mit jener frühsten der Urzeit und der heutigen Naturvölker.«98 In Anschauung und Denken, in Brauch und Sitte der hochentwickelten Kulturvölker ließen sich deutliche Spuren »aus jenen ersten Tagen geistiger Menschwerdung«99 nachweisen, die er bezugnehmend auf den englischen Anthropologen Edward Burnett Taylor und dessen Begriff der ›survivals‹ als »Überlebsel« bezeichnete.100 Überlebsel als Relikte früherer Kulturstufen, die sich in der zeitgenössischen Kultur fanden, waren ein passender Aufhänger für
92
Vgl. Znoj, Heinzpeter: »Geschichte der Ethnologie«, in: Bettina Beer (Hg.), Ethnologie. Einführung und Überblick, Berlin: Reimer 2012, S. 33-52, hier S. 39-42.
93
Vgl. P. M. G., Die Masken. Kulturhistorische Skizze, in: ANW 1891, S. 309-310; Heilborn, Adolf, Überlebsel der Kultur. Kulturhistorische Plauderei, in: GL 1905, S. 615; Stein, Paul, Totenkulte und Bestattungsbräuche, in: NW 1909, S. 370-372; Sendling, Hans, Aus der Geschichte des Hutes, in: DA 1906, Nr. 51, S. 13-15.
94 95
Vgl. zum Begriff des Kulturevolutionismus ebd., S. 41f. Vgl. Elmar, Der Polterabend. Eine religionsgeschichtliche Skizze, in: ANW 1909, S. 558.
96
P. M. G., Die Masken. Kulturhistorische Skizze, in: ANW 1891, S. 309.
97
Heilborn, Adolf, Zur Kulturgeschichte des Eides, in: GL 1909, S. 23.
98
Ebd., S. 24.
99
Ebd.
100 Vgl. ebd., S. 23f.; Heilborn, Adolf, Überlebsel der Kultur. Kulturhistorische Plauderei, in: GL 1905, S. 615.
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kulturhistorische Darstellungen, die Geschichte anhand von Artefakten und Phänomenen aus der eigenen zeitgenössischen Lebenswelt greifbar machten. Die Beispiele haben gezeigt, dass Europa ein wichtiger Identitätsmarker der Zeitschriften war, außereuropäische Geschichte jedoch nur zu geringen Anteilen dargestellt wurde. Europa wurde als politische, vor allem aber als kulturelle Einheit mit einer gemeinsamen Geschichte gedacht. Demgegenüber war die Historisierung außereuropäischer Räume oft an deren Kolonialisierung geknüpft, so dass Europa der beständige Fokus der Geschichtsdarstellungen blieb. Geschichtsschreibung, das hat das Kapitel deutlich gemacht, stand in verschiedensten räumlichen wie ethnokulturellen Bindungen. Familienzeitschriften konstruierten mit ihrer Geschichtsschreibung lokale über regionale und nationale bis hin zu europäischen und globalen Zugehörigkeiten. Deutsche Geschichte machte dabei etwa die Hälfte der Artikel aus, aber auch die Geschichte anderer europäischer Länder und Regionen, oder Europas als gesamten Kultur- und Geschichtsraum waren Themen der Zeitschriften. Außereuropäische Geschichte hingegen war nur selten in Zeitschriften präsent und wurde zudem meist über Kolonialgeschichte thematisiert. Die Nation war eine Variante räumlicher Verortung und wurde meist über die Geschichte des 19. Jahrhunderts hergestellt; anderen Epochen näherte man sich häufig über kleinere oder größere räumliche Bezüge. Ohnehin war die Nation nur in Daheim, Gartenlaube und Sonntags-Zeitung wichtiger Fokus der Geschichte, während die katholische Alte und Neue Welt und die sozialdemokratische Neue Welt keinen gesteigerten Wert auf die Reproduktion nationaler Gemeinschaften über eine nationale Historie legten. Auf Grundlage dieser Befunde erweist sich das anfangs geäußerte Desiderat einer Öffnung der geschichtskulturellen Forschung hin zu anderen Räumen als der Nation umso berechtigter.
K LASSE /S TAND Das vorige Kapitel hat deutlich gemacht, dass in der sozialdemokratischen Geschichtsschreibung der identitätsstiftende Faktor der Nation von Klassenidentitäten überlagert wurde. Doch auch in bürgerlichen Zeitschriften war Klassen- oder ständische Zugehörigkeit ein konstitutiver Faktor der Geschichtsschreibung, nicht allein bezogen auf die Frage, wer eigentlich als historischer Akteur oder historische Akteurin gelten durfte, sondern auch bezüglich der Zugänglichkeit von Bildung und Medien und der bürgerlichen Dominanz akademischer wie populärer Historiographie. Das heißt: Die Möglichkeiten, HistorikerIn zu werden, der Zugang zu historischem Wissen und die Inhalte von Geschichtsschreibung
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waren im 19. Jahrhundert in hohem Maße von Klassenstrukturen durchzogen. Aber auch die Entwicklung der Massenpresse, die die Demokratisierung des Medienkonsums förderte, stand in enger Verbindung mit der Herausbildung einer industrialisierten Klassengesellschaft. Dieses Kapitel untersucht zunächst die soziale Zusammensetzung der LeserInnen von Familienzeitschriften unter den Aspekten der sozialen Gebundenheit von Bildung und der Fragestellung, ob ArbeiterInnen solche Zeitschriften kauften und lasen. Der zweite Teil untersucht Klassenaspekte in den Inhalten der Geschichtsdarstellungen. Dazu zeige ich, wer die historischen AkteurInnen der Zeitschriften waren und inwiefern sie Geschichte ›von oben‹ und ›von unten‹, aber auch schichtenübergreifend schrieben. Am Beispiel von Sozial- und Wirtschaftsgeschichtsschreibung zeige ich Unterschiede zwischen den bürgerlichen Zeitschriften und der sozialdemokratischen Neuen Welt auf, die sich theoretisch am historischen Materialismus orientierte. Die Erinnerung an die Revolution von 1848 dient schließlich als konkretes Beispiel für die unterschiedlichen Schwerpunkte der Zeitschriften bezüglich ihrer historischen AkteurInnen, aber auch als Exempel für die politische Funktionalisierung von Geschichtsschreibung in Zusammenspiel mit der sozialen Herkunft der AutorInnen und des Zielpublikums. Die Demokratisierung des Medienkonsums durch die moderne Massenpresse und die Verbreitung von Bildung Die moderne Massenpresse war Produkt wie Motor der industrialisierten Klassengesellschaft und stand in verschiedenen Bereichen in Wechselbeziehungen mit dieser – einerseits auf Ebene der technologischen und infrastrukturellen Voraussetzungen für massenhafte Presseproduktion und -distribution, die bereits in Kapitel 3 dargestellt wurden, andererseits auf der Ebene einer Demokratisierung des Medienkonsums. Erst die neuen Möglichkeiten der Herstellung und Verbreitung massenhafter Billigware ermöglichten die Leserevolution des 19. Jahrhunderts. Die Herausgeber von Printmedien, die zuvor primär für die gebildete männliche Öffentlichkeit verlegt hatten, entdeckten zunehmend Frauen, Kinder, ArbeiterInnen und Hauspersonal als neues Lesepublikum. Die Durchführung der Schulpflicht hatte die Alphabetisierungsrate seit den 1830er Jahren rapide steigen lassen. Lese- und Schreibfähigkeiten waren zwar auch um die Jahrhundertwende noch durch soziale Position, Geschlecht und vor allem durch regionale Herkunft und Stadt-Land-Unterschiede geprägt, doch waren seit den 1870ern
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zumindest elementare Fähigkeiten des Lesens und Schreibens fast in der gesamten Bevölkerung des deutschen Kaiserreichs vorhanden.101 Dies bedeutet allerdings nicht, dass auch alle Teile der Bevölkerung tatsächlich in ihrer Freizeit lasen. Das Lesen war durch das 19. Jahrhundert hindurch nach wie vor eine Beschäftigung des Bürgertums; es war ebenso Ausdruck von Bildung wie deren Voraussetzung, und damit ein wichtiges Status- und Klassenzugehörigkeitsmerkmal.102 Das gebildete Bürgertum zelebrierte in seinen Privatbibliotheken die eigene Belesenheit oder las Zeitungen und Zeitschriften in öffentlichen Räumen wie Kaffeehäusern oder Rasiersalons.103 Die ungleiche Verteilung von Bildung verlief allerdings nicht allein entlang von Klassen- und Regionsgrenzen, sondern auch Geschlecht und Konfession erwiesen sich als wirkungsmächtige Bildungsfaktoren. Bildung war eine soziale Grenzlinie in den industrialisierten Gesellschaften des späten 19. Jahrhunderts, aber auch ein wichtiger Faktor sozialer, wirtschaftlicher und politischer Veränderungen.104 Die ArbeiterInnenbewegung entdeckte die Wichtigkeit von Bildung für den politischen
101 Vgl. Nissen (2009), S. 80-85; Franҫois (1983), S. 757-763. Francois weist darauf hin, das Gefälle der Schreibfähigkeit sei vor allem regional bedingt gewesen: So sei Analphabetismus noch 1871 in den ländlichen Gegenden Ost- und Westpreußens keine Randerscheinung gewesen; der Rest des Reichs sei jedoch weitgehend alphabetisiert gewesen. Rudolf Schenda weist auf die methodischen Schwierigkeiten der Analyse von Alphabetisierungsraten hin und zeigt die vielen Zwischenstufen und semiliterarischen Prozesse (z.B. Vorlesen) zwischen Analphabetismus und Schreibfähigkeit auf, vgl. Schenda, Rudolf: »Alphabetisierung und Literarisierungsprozesse in Westeuropa im 18. und 19. Jahrhundert«, in: Ulrich Herrmann (Hg.), »Das Pädagogische Jahrhundert«. Volksaufklärung und Erziehung zur Armut im 18. Jahrhundert in Deutschland, Weinheim, Basel: Beltz 1981, S. 154-168. 102 Vgl. Berg, Christa: »Industriegesellschaft und Kulturkrise. Ambivalenzen der Epoche des Zweiten Deutschen Kaiserreichs 1870-1918«, in: Dies. (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. IV: Von der Reichsgründung bis zum Ende des Esten Weltkriegs, München: Beck 1991, S. 3-56, hier S. 15. 103 »Es ist eine längst beobachtete Thatsache, daß man, wenn ein Gast eine Restauration betritt, denselben immer zuerst nach den illustrierten Journalen greifen sieht«, beschrieb ein Zeitgenosse den nur »mühsam zu stillende[n] Heißhunger« des Publikums nach illustrierten Zeitschriften im Kaiserreich. Zit. in: Gebhardt (1983), S. 49. 104 Vgl. Jeismann, Karl-Ernst: »Zur Bedeutung der ›Bildung‹ im 19. Jahrhundert«, in: Ders./Peter Lundgreen (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. III: Von der Neuordnung Deutschlands bis zur Gründung des Deutschen Reiches, München: Beck 1987, S. 1-22, hier S. 2f.
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Kampf und gründete zahlreiche Bildungsinstitutionen und -vereine für ArbeiterInnen.105 In diesem Kontext der gesellschaftsverändernden Kraft von Bildung ist auch das Konzept der Familienzeitschriften von ›Unterhalten und Bilden‹ zu verstehen. Ernst Keils Grundgedanke bei der Gründung der Gartenlaube war es, Bildungsinhalte zu popularisieren, um auf diesem Wege untere soziale Schichten zu ermächtigen und soziale Veränderungen herbeizuführen. So trugen Familienzeitschriften dazu bei, Bildungsgüter zu verbreiten und Schranken der sozialen Verteilung von Bildung aufzubrechen. Die starre Klassenzugehörigkeit von Bildung schwand auf Grundlage dieser Entwicklungen Ende des 19. Jahrhunderts zusehends: War Bildung zu Beginn des Jahrhunderts noch fast alleinige Domäne des Bürgertums, expandierte mit dem Bildungsschub im letzten Drittel des Jahrhunderts nicht nur das Lesepublikum von Printmedien, sondern auch das bürgerliche Bildungsideal über Klassengrenzen hinweg.106 Dennoch waren die meisten Familienzeitschriften (mit Ausnahme der Neuen Welt, die sich ausdrücklich an ein proletarisches Publikum wandte) trotz ihres universalen Anspruchs vor allem für ein Publikum aus dem kleinen und mittleren Bürgertum geschrieben und wurden vermutlich auch vornehmlich von diesem rezipiert. Denn auch für die unterhaltenden und kostengünstigen Stoffe der neuen Massenprintindustrie musste nicht nur das nötige Geld, sondern auch freie Zeit und Muße zum Lesen zur Verfügung stehen. Die Verkürzung des Arbeitstages brachte ArbeiterInnen mehr Freizeit, und nicht nur der Anstieg der Reallöhne, sondern auch die Gründung von Leihbibliotheken und Lesezirkeln sowie das Kolportagesystem erleichterten es ihnen, Zeitschriften und Bücher zu erwerben oder zu leihen.107 Allerdings kämpften auch mit allgemein steigendem Lebensstandard um die Jahrhundertwende noch viele ArbeiterInnen um die nackte Existenz, zumal wenn sie erwerbslos waren. Zeitschriften und Kolportageromane waren zwar bedeutend billiger als Bücher und wurden daher in ArbeiterInnenhaushalten, von Hausangestellten und im Kleinbürgertum gern gelesen,108 doch mussten die Pfennige für die Literatur eben übrig sein. Die Sonntags-Zeitung kostete 20 Pfennig pro Ausgabe; Gartenlaube und Daheim wurden pro Quartal bezahlt und kosteten um 1900 1,60 bzw. zwei
105 Vgl. Kössler (2005), S. 263f. 106 Vgl. Nissen (2009), S. 80. Das Beispiel der Ausbreitung der Familienzeitschriften über Klassengrenzen hinweg weist nicht nur auf eine Popularisierung des bürgerlichen Bildungsbegriffs, sondern auch anderer bürgerlicher Ideale hin, wie zum Beispiel dem der Kernfamilie. 107 Vgl. Gebhardt (1983), S. 48-50. 108 Vgl. ebd.
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Mark – heruntergerechnet auf einzelne Ausgaben waren das etwa zwölf beziehungsweise 15 Pfennig pro Heft. Die Neue Welt war zwar eine kostenlose Beilage, doch musste man eine andere sozialdemokratische Zeitschrift abonnieren oder kaufen, um sie zu beziehen. Zum Vergleich: Ein Kilo Roggenbrot kostete im Zeitraum von 1890-1910, abhängig von Konjunkturschwankungen, zwischen 20 und 31 Pfennig, für einen Liter Milch zahlte man zwischen 20 und 22 Pfennig109 – Zeitschriften waren im Vergleich zu diesen Lebensmitteln also nicht allzu teuer. Ein gelernter Arbeiter in der Metallindustrie verdiente 1913 im Schnitt 66,2 Pfennig in der Stunde, in der schlecht entlohnenden Textilindustrie erhielten die gelernten Arbeiterinnen dagegen nur 30,7 Pfennig.110 Dies entsprach bei einer 52-Stunden-Woche einem jeweiligen Wochenlohn von 34,42 bzw. 19,24 Mark. Häufig lebten proletarische Familien nicht vom Gehalt des Mannes allein, sondern auch die Frauen leisteten Erwerbsarbeit und Kinder steuerten einen Nebenverdienst bei. Ein großstädtischer Arbeiterhaushalt wandte nach einer Statistik von 1907 im Schnitt vier Fünftel des Familieneinkommens für Nahrung (48,8%), Wohnung (20,8%) und Kleidung (12,1%) auf.111 Von dem restlichen Geld mussten sonstige Haushaltsausgaben, Verkehrsmittel, Körperpflege und Medizin bestritten sowie für einmalige Großausgaben wie Möbel, Beerdigungen, Aussteuer etc. gespart werden. Den Ausgaben für Bildung und Unterhaltung entsprachen nach der oben genannten Statistik 5,9% der Gesamtausgaben112 – was für einen
109 Vgl. Brutzer, Gustav: Die Verteuerung der Lebensmittel in Berlin im Laufe der letzten 30 Jahre und ihre Bedeutung für den Berliner Arbeiterhaushalt, München: Duncker & Humblot 1912, S. 22, 33. 110 Zu berücksichtigen sind natürlich regionale und geschlechtsspezifische Lohngefälle, sowie die großen Lohnunterschiede zwischen gelernten und ungelernten ArbeiterInnen, die je nach Branche oft nur die Hälfte bis zwei Drittel des Lohnes gelernter ArbeiterInnen verdienten. TagelöhnerInnen arbeiteten für noch schlechtere Löhne: Je nach Region verdiente ein Tagesarbeiter weniger als eine bis drei Mark am Tag. Die Löhne unterlagen außerdem Konjunkturschwankungen und Schwankungen wegen unregelmäßiger Beschäftigung. Zudem gehen diese Berechnungen von gesunden erwerbstätigen Menschen aus – die Lebensverhältnisse, die sich aus Arbeitslosigkeit, Krankheit und Altersarmut ergaben, sind hier nicht mitgerechnet. Vgl. Ritter, Gerhard A./Tenfelde, Klaus: Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871 bis 1914, Bonn: J. H. W. Dietz Nachf. 1992, S. 480, 488. 111 Vgl. Mooser, Josef: Arbeiterleben in Deutschland 1900-1970. Klassenlagen, Kultur und Politik, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1984, S. 81. 112 Vgl. ebd.
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angenommenen gemeinsamen Wochenlohn eines Metallarbeiters und einer Textilarbeiterin von 53,66 Mark wie im Beispiel oben 3,16 Mark entspräche. So war ein Zeitschriftenabonnement für 12-20 Pfennig in der Woche durchaus erschwinglich. Für Familien am Rande der Existenzsicherung war ein Abonnement jedoch ein Posten, der ins Gewicht fiel. Neben ökonomischen Aspekten begrenzten auch normative Faktoren das Lesevergnügen: Lesen galt als Müßiggang und war sozial nicht immer anerkannt.113 Dennoch gibt es zahlreiche Hinweise darauf, dass gerade illustrierte Familienzeitschriften in allen sozialen Schichten und auch von ArbeiterInnen gelesen wurden: Mitglieder der SPD kritisierten, zu viele ArbeiterInnen läsen bürgerliche Zeitschriften, allen voran die Gartenlaube, und verinnerlichten somit bürgerliches Gedankengut.114 Sozialdemokratische Organisationen gaben daher eigene Unterhaltungsblätter heraus und gründeten in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts Leihbibliotheken. Doch nicht nur von Seiten der ArbeiterInnenbewegung, auch von bürgerlicher Seite her dienten Lesestoffe als Mittel im Kampf um das Denken und Freizeitverhalten des Proletariats. Das Konzept der Leihbibliothek wurde bald von Fabrikbesitzern und Kirchen aufgegriffen.115 Die Angebote der Bibliotheken sollten helfen, das Leseverhalten der ArbeiterInnen zu kontrollieren und zu fördern. Diese sollten, um es knapp zu formulieren, in ihrer Freizeit lesen statt sich zu betrinken. Die Motivationen und Ziele von SPD, Kirche, Staat und Privatunternehmern als Bildungsträger waren natürlich höchst unterschiedlich – und demnach auch die Auswahl der angebotenen Bücher. Je nach Standpunkt war dies sozialistische Agitation oder moralische Literatur mit bürgerlich-religiöser Werteordnung. Stattdessen fand aber vor allem die vielfältige Unterhaltungsliteratur Anklang bei den ArbeiterInnen: Sie lasen Liebes- und Abenteuerromane, Kriminalgeschichten – und illustrierte Familienzeitschriften, die durch ihre Mischform aus Unterhaltung und Bildung allerdings durchaus anerkannte Lektüre waren. Die Entwicklung der Massenpresse in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war ohne die Herausbildung einer industrialisierten Klassengesellschaft nicht zu denken und die Presse war durch ihren günstigen Preis selbst ein wichtiger Faktor der Demokratisierung von Bildung und Medienkonsum. So wurden Familienzeitschriften, auch wenn sie als vorwiegend bürgerliches Medium gelten, durchaus auch in proletarischen Haushalten gelesen und für diese bezahlbar. Im Folgenden ändere ich meine Blickrichtung weg vom Pressemarkt und hin zu
113 Vgl. Lyons (1999), S. 468. 114 Vgl. Emig (1980), S. 345. 115 Vgl. im Folgenden Lyons (1999), S. 484-486.
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den konkreten Inhalten von Geschichtsdarstellungen in Familienzeitschriften und frage danach, wer die historischen AkteurInnen dieser Darstellungen waren. Geschichte ›von oben‹, Geschichte ›von unten‹, Geschichte schichtenübergreifend? GeschichtsschreiberInnen der Arbeiterbewegung kritisierten die bürgerliche Historiographie als eine Geschichte der Herrschenden, die die Untertanen aus dem historischen Geschehen ausklammere. Dem setzten sie ihr eigenes Projekt einer Geschichte ›von unten‹ entgegen, welche die unteren sozialen Schichten und deren Emanzipationskämpfe in den Blick nahm und auch in der Neuen Welt ausführlich rezipiert wurde. Doch eine klare Unterscheidung zwischen sozialdemokratischer Geschichte ›von unten‹ und bürgerlicher Geschichte ›von oben‹ ist für die Historiographie des 19. Jahrhunderts nicht haltbar und wurde in Familienzeitschriften immer wieder gebrochen. Auch die Neue Welt schrieb eine Geschichte der Herrschenden, wenn auch oftmals aus einem kritischen Blickwinkel. Gleichzeitig schrieben bürgerliche Magazine mitnichten eine reine Geschichte ›von oben‹, sondern rückten insbesondere in kulturhistorischen Artikeln auch Alltag und Lebensweise unterer sozialer, vor allem bäuerlicher Schichten in den Mittelpunkt. Wessen Geschichte also schrieben Familienzeitschriften? Welche sozialen Schichten wurden in die Geschichtsschreibung einbezogen und welche nicht? Einen ersten Überblick liefert die quantitative Analyse, die erfasst, welchen sozialen Positionen die AkteurInnen der Geschichtsdarstellungen angehörten. Dies erfolgt in einem Schichtenmodell, das Ober-, Mittel- und Unterschichten umfasst. Diese sehr weit gefasste Schichtenkonzeption lässt es zu, historisch sich wandelnde Sozialstrukturen in einem gemeinsamen Modell zu erfassen, das sich zur Analyse moderner wie auch vormoderner Ungleichheitsverhältnisse eignet, also sowohl ständische als auch Klassenunterschiede umgreift.116 Die Unter-
116 Die Unterschichten beinhalten ländliche wie städtische Unterschichten (Gesinde, Handwerksgesellen und -lehrlinge, ArbeiterInnen, Erwerbslose). Als Mittelschichten werden Bauern und Bäuerinnen, Handwerksmeister und das Kleinbürgertum (etwa Beamte und Kleingewerbetreibende) gerechnet. Oberschichten umfassen den (hohen und niederen) Adel, das vormoderne und moderne Bürgertum sowie den Klerus. Zudem wurden Militärs in diese Kategorie aufgenommen, da diese oftmals aus dem Adel stammten. Selbst wenn es um ganze militärische Einheiten oder das gesamte Militär ging, war dieses noch durch seine adligen Kommandanten dominiert und ist daher unter der Codierung der Oberschichten verortet. Einige wenige Artikel betrie-
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scheidung nach Ober-, Mittel- und Unterschichten ist eine analytische Codierung, die nicht aus den Quellen selbst stammt: In den bürgerlichen Zeitschriften wurde zwar von Bauern und Bürgern gesprochen, vom Adel und von Handwerksmeistern, doch Klassen-, Schicht- oder Standeszugehörigkeit war hier meist keine systematische Kategorie historischer Darstellungen. Die bürgerlichen Zeitschriften fokussierten stärker auf andere Differenzierungskategorien. soziale Lediglich in der sozialdemokratischen Neuen Welt wurde Klassenzugehörigkeit und soziale Ungleichheit als wichtige Antriebskraft historischen Wandels dargestellt. Diagramm 6: Sozioökonomische Positionen historischer AkteurInnen in Familienzeitschriften 1890-1913117 100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0%
alle ZS Oberschichten
GL
DA
Mittelschichten
ANW Unterschichten
NW
SZ
Ohne Angabe/Sonstige
Quelle: DGFZ.
ben
Militärgeschichte
›von
unten‹
und
stellten
das
frühneuzeitliche
Landsknechtsleben in Text und Bild dar, vgl. Der alte Landsknecht. Nach dem Gemälde von Ed. Grützner, in: DA 1897, S. 329; Rosenow, Emil, Der deutsche Landsknecht, in: NW 1901, S. 99-101, 107-108; Bauer, H., Bilder aus dem Landsknechtleben, in: GL 1890, S. 228-231, 269-271, 331-334; Landsknechtsfamilie, Gemälde von F. Müller-Münster, in: GL 1904, S. 925. 117 Artikel, die mehr als drei soziale Gruppen behandelten, wurden als ›schichtenübergreifend‹ gefasst und werden in dieser Auswertung nicht gezählt – das Diagramm bezieht sich nur auf Artikel, die sich eindeutig auf bestimmte soziale Schichten bezogen.
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Diagramm 6 zeigt die sozioökonomische Positionierung historischer AkteurInnen in den Artikeln, in denen eine klare soziale Zuordnung vorgenommen wurde bzw. die in ihrer sozialen Differenzierung eindeutig waren. Die Auswertung ergibt in allen Magazinen eine klare Dominanz der Oberschichten als historische ProtagonistInnen. Die vier bürgerlichen Zeitschriften widmeten den oberen Schichten jeweils über 80% ihrer Artikel, während die mittleren Schichten nur wenig (zwischen 4,1% im Daheim und 10,2% in der Alten und Neuen Welt), die Unterschichten fast gar keine Erwähnung fanden (zwischen 0,8% im Daheim und 2,3% in der Sonntags-Zeitung). Eine Ausnahme stellte die Neue Welt dar, die einen vergleichsweise großen Fokus auf untere Schichten legte (18,5%) und auch Mittelschichten stärker thematisierte als die anderen Zeitschriften (13,2%). Aber auch diese Zeitschrift, die großen Wert auf die Darstellung der Lebensverhältnisse unterer sozialer Schichten in der Geschichte legte, schrieb im Großteil ihrer Artikel eine Geschichte des Adels und des Bürgertums (61,9%). Tabelle 5: Klassen-/Ständespezifische und -übergreifende Geschichte in Familienzeitschriften 1890-1913
alle ZS
GL
DA
ANW
NW
SZ
Klassen-/ Ständespezifisch
66,5%
71,4%
71,2%
67,1%
54,2%
60,8%
Klassen-/Ständeübergreifend
28,1%
21,0%
23,2%
30,0%
42,1%
34,7%
Ohne Angabe/Sonstige
5,4%
7,6%
5,6%
2,9%
3,7%
4,5%
Gesamt
100%
100%
100%
100%
100%
100%
Quelle: DGFZ.
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Dieses Ergebnis verschiebt sich allerdings, nimmt man die Artikel hinzu, die Geschichte mit einem schichtenübergreifenden Ansatz118 schrieben – diese machten in der Neuen Welt 42,1% aller Darstellungen aus, in den anderen Zeitschriften zwischen 21% in der Gartenlaube und 34,7% in der Sonntags-Zeitung (vgl. Tabelle 5). Die meisten schichtenübergreifenden Artikel waren durch den Widerspruch charakterisiert, einerseits untere soziale Schichten in die Geschichte zu integrieren, andererseits durch homogenisierende Tendenzen soziale Differenzen und damit oft die unteren sozialen Schichten wiederum unsichtbar zu machen. Die Dominanz oberer sozialer Schichten in allen Zeitschriften spiegelte einen historiographischen Mainstream, der politische Entwicklungen, Staatenbildung, Kriege und militärische Entscheidungen, Kunst, Hochkultur und Wissenschaft als die Triebkräfte historischer Entwicklung ansieht – gesellschaftliche Bereiche, zu denen fast ausschließlich obere soziale Schichten gestalterischen Zugang hatten, egal ob es sich um eine Stände- oder eine Klassengesellschaft handelte. Von der mittelalterlichen bis zur jüngsten Geschichte hatten daher Adel und Monarchie eine dominante Stellung inne, in Mittelalter und früher Neuzeit auch der Klerus. In der Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts stieß das Bürgertum als neuer historischer Akteur dazu. Das 19. Jahrhundert wurde zudem stark über das Militär historisiert – dies ist auf das große Interesse an den Kriegen des 19. Jahrhunderts zurückzuführen, besonders an den Napoleonischen Kriegen und dem Deutsch-Französischen Krieg. Antike Geschichte hingegen schrieben alle Zeitschriften häufig über einen schichtenübergreifenden Zugriff – insbesondere die zahlreichen Schilderungen ›der‹ Germanen trugen dazu bei. Lediglich die Neue Welt untersuchte die Gesellschaften der Antike regelmäßig in ihren sozialen Strukturen. Ein Großteil der epochenübergreifenden Darstellungen war in allen Zeitschriften klassen- und ständeübergreifend angelegt und ergänzte so den chronologischen Überblick um den Versuch, historische Entwicklungen universal zu erfassen. Hier, in dieser übergreifenden Geschichtsschreibung, lagen Möglichkeiten, die Geschichte ›von oben‹, die Geschichte der Herrschenden, der Militärs und der Geistesgrößen aufzubrechen, und durch eine Perspektive ›von unten‹ zu ergänzen, welche allerdings nicht zwingend ein emanzipatorisches Projekt der Darstellung sozialer Ungleichheiten in der Geschichte war. Alle Zeitschriften griffen wirtschafts- und sozialgeschichtliche Themen auf, die bürgerlichen Magazine eher punktuell, die sozialdemokratische Neue Welt
118 Als schichtenübergreifend definiere ich Darstellungen, die sich entweder explizit auf mehr als drei soziale Schichten bezogen, oder den Anspruch vertraten, die gesamte Bevölkerung zu repräsentieren.
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regelmäßig. Themenfelder waren etwa Handel und Gewerbe,119 Siedlungsbewegungen und Bevölkerungsentwicklung,120 Agrarwirtschaft,121 Handwerk und zünftige Organisation,122 Bergbau und Industrie123 oder Geldwirtschaft.124 Diese Inhalte wurden oftmals mit alltagshistorischen Ansätzen, mit regionaler Geschichte und mit Technikgeschichte verbunden.
119 Vgl. Anonym, Vom mittelalterlichen Zoll bis zu den modernen Handelsverträgen. Eine zöllnerische Plauderei für Nichtzöllner, in: ANW 1894, S. 486-491, 558-564; Krentschner, Kurt Rudolf, Die Entwicklung des deutschen überseeischen Handels, in: DA 1905, Nr. 46, S. 9-10; Funke, Alfred, Messen und Märkte einst und jetzt. Schilderungen aus dem deutschen Kaufmannsleben in alter Zeit, in: SZ 1912/13, S. 1081-1084; Laufenberg, Heinrich, Seegenossenschaften in alter Zeit, in: NW 1911, S. 229-230, 237-239. 120 Vgl. Hellmund, Karl, Das dreizehnte Jahrhundert im Lichte der neuesten Forschung, in: ANW 1897/98, S. 558-560; Linke, Felix, Die Bevölkerungsbesiedelung Europas, in: NW 1905, S. 414-415, 418; Laufenberg, Heinrich, Vom Dorf zur Stadt, in: NW 1904, S. 285-286, 291-294, 300-302. 121 Vgl. Grant, A. G., Die Kartoffel in der Volkswirtschaft, in: NW 1904, S. 318, 323-326; Laufenberg, Heinrich, Landwirtschaft und Bauernaufstände in Frankreich, in: NW 1904, S. 20-21, 28-30; Altkirch, Ernst, Die Tulpenzucht im alten und neuen Holland, in: GL 1912, S. 408-411; Staby, Ludwig, Die ursprüngliche Heimat unsrer wichtigsten Getreidearten. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte der Menschheit, in: SZ 1913/14, S. 174-175. 122 Vgl. Rosenow, Emil, Ein Stück deutscher Handwerksgeschichte, in: NW 1900, S. 126; Kreowski, Ernst, Die Korbmacherei in Oberfranken, in: NW 1902, S. 396397, 406; Michel, Alwin, Die Frauenarbeit während der mittelalterlichen Zunftzeit, in: SZ 1912/13, S. 130-131. 123 Vgl. Krentschner, Kurt Rudolf, Ein Jubiläum der deutschen Industrie, in: DA 1904, Nr. 30, S. 22; Bücking, Martin, Das Ende einer alten Bergstadt, in: DA 1910, Nr. 34, S. 12-14; Winter, A., Aus der Geschichte eines Industriebezirks, in: NW 1898, S. 123-124, 132-133; Tiedt, Ernst/Schmidt, Hans W., Das Jubelfest der Thüringer Glasindustrie, in: GL 1897, S. 621-622; Dominik, H., Zum 200-jährigen Jubiläum der Dampfmaschine, in: GL 1906, S. 569-571. 124 Vgl. Wahrmund, Ernst, Christentum und Wucher, in: NW 1896, S. 536-539; Rosenow, Emil, Zins und Geldverkehr in früherer Zeit, in: NW 1903, S. 123-125, 132-134; Bugsch, Heinrich, Die Geschichte vom Pfund, in: GL 1892, S. 452-455; Hesdörfer, Max, Vom aussterbenden Taler, in: GL 1904, S. 892-895; von Hartenau, Franz, Das Geld und seine Herstellung. Ein Beitrag zur Geschichte des Münzwesens, in: SZ 1908/09, S. 8.
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Sozial- und wirtschaftshistorische Ansätze, die ökonomische Entwicklungen und Gesellschaftsstrukturen untersuchten, waren kein reines Charakteristikum populärer Geschichte, sondern wurde spätestens seit Ende des Jahrhunderts auch an Universitäten betrieben. Doch ihre Verwendung in alltäglichen Kontexten und als Thema der Unterhaltung war ein Spezifikum der populären Geschichte in Familienzeitschriften. Hier unterschieden sich die Zeitschriften von fachwissenschaftlichen Zugängen, in denen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte zeitgleich im Entstehen begriffen, aber dort weniger durch alltägliche Bezüge geprägt waren. Der Begriff der Sozialgeschichte tauchte in den 1890er Jahren auf. Kurt Breysig definierte die Sozialgeschichte 1896 als die Geschichte »derjenigen Verbände der Menschen, die nicht vorwiegend politischer Natur sind – also der Familie, der Stände, der Klassen«.125 1893 erfuhr der Begriff mit der Gründung der Zeitschrift für Social- und Wirtschaftsgeschichte eine erste Institutionalisierung. Sozialgeschichte bildete mit der Wirtschaftsgeschichte nicht nur ein Begriffspaar, sondern stand dieser auch inhaltlich wie personell nah, orientierten sich doch beide an der Nationalökonomie wie an den neuen Sozialwissenschaften.126 Parallelen und Überschneidungen bestanden zudem zur wirtschaftshistorisch geprägten Kulturgeschichte: Beide richteten ihren Blick auf ökonomische und soziale Prozesse gesellschaftlicher Entwicklung, definierten ihre Themengebiete über die Abgrenzung vom Politischen und verstanden sich als integrierende Ansätze, die die verschiedensten historischen Bereiche zusammenbringen sollten.127 Auch im populären Bereich der Familienzeitschriften war Sozialgeschichte oft nicht trennscharf von Kulturgeschichte abgrenzbar: Viele Artikel verbanden Wirtschaftsleben, Sozialstruktur und Alltagsleben thematisch. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte waren zudem in Familienzeitschriften in der Regel keine Quellenbegriffe, so dass wirtschaftshistorische Themen im Titel als Kulturgeschichte markiert sein konnten. Dennoch lassen sich Abgrenzungen vornehmen: War Kulturgeschichtsschreibung in allen fünf untersuchten Zeitschriften eine Historiographieform, die es erlaubte, Geschichte über einen alltags- und volkskulturellen Zugriff bis zu einem gewissen Maße ›von unten‹ zu schreiben, so beinhaltete sie doch in der Regel weder eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Strukturen, noch mit ökonomischen Faktoren. Diese Auseinandersetzungen fanden sich dagegen in wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Artikeln, die in den bürgerlichen Zeitschriften mit 5-6% aller Darstellungen eine nicht allzu
125 Kurt Breysig zit. in Kocka, Jürgen: Sozialgeschichte. Begriff – Entwicklung – Probleme, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1986, S. 59. 126 Vgl. ebd., S. 64. 127 Vgl. ebd., S. 62.
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häufig, aber doch konstant auftauchende Form der Geschichtsschreibung waren, in der sozialdemokratischen Neuen Welt hingegen mit 22% einen Großteil des Geschichtsprogramms ausmachten (vgl. Tabelle 2). Nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ unterschied sich die Sozialgeschichtsschreibung der Neuen Welt von der der bürgerlichen Zeitschriften. Klasse und Stand war hier eine äußerst wichtige Kategorie historischer Analyse, und die Sozialgeschichte der Neuen Welt fußte auf der theoretischen Grundlage des historischen Materialismus. Dieser materialistischen Geschichtsschreibung wird im folgenden Kapitel nachgegangen. Historischer Materialismus in der Neuen Welt Die Neue Welt fokussierte als einzige der untersuchten Zeitschriften immer wieder auf Arbeitsverhältnisse, Arbeitsalltag, Löhne und Arbeitszeit, auf Ausbeutung der ArbeiterInnen und auf ihre Organisation und Arbeitskämpfe. Mit diesem historischen Programm stand die Zeitschrift in der Tradition sozialistischer Geschichtsschreibung, die, theoretisch auf dem historischen Materialismus aufbauend, soziale Strukturen und Klassenverhältnisse in der Geschichte als politisches Projekt untersuchte, das nicht nur eine Alternative zur Geschichtsdeutung der herrschenden Klassen sein sollte, sondern auch eine Theorie der politischen Emanzipation und des Klassenkampfs.128 Die sozialdemokratische Geschichtsschreibung pflegte einen bewussteren Blick auf soziale Ungleichheiten und suchte dem historistischen Projekt der Geschichte ›großer Männer‹ aktiv eine Geschichte der unterdrückten Klassen und der historischen Entwicklung von sozialer Ungleichheit entgegenzusetzen.129 In
128 Vgl. zum historischen Materialismus Wiersing, Erhard: Geschichte des historischen Denkens. Zugleich eine Einführung in die Theorie der Geschichte, Paderborn, München, Wien, Zürich: Schöningh 2007, S. 395-407; Küttler, Wolfgang: »Marxistische Theorie und Geschichtswissenschaft«, in: Hans-Jürgen Goertz (Hg.), Geschichte. Ein Grundkurs, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1998, S. 652-670. 129 Vgl. zur Historiographie der ArbeiterInnenbewegung Deneckere, Gita/Welskopp, Thomas: »The ›Nation‹ and ›Class‹. European National Master Narratives and Their Social ›Other‹«, in: Berger (2008), S. 135-170; Welskopp, Thomas: »Clio and Class Struggle in Socialist Histories of the Nation. A Comparison of Robert Grimmʼs and Eduard Bersteinʼs Writings, 1910-1920«, in: Stefan Berger (Hg.), Nationalizing the Past. Historians as Nation Builders in Modern Europe, New York: Palgrave Macmillan 2010, S. 298-340. Zur spezifisch populären Geschichtsschreibung der Arbeiter-
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der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzten sich AktivistInnen der sozialistischen Bewegung verstärkt mit Geschichte auseinander. Sie legten in Abgrenzung zur bürgerlichen Historiographie erste Grundlagen für eine Geschichte der unteren sozialen Schichten und des sozialen und ökonomischen Wandels und historisierten ihre eigene Bewegung.130 Dass allerdings die Abgrenzung gegenüber der bürgerlichen Geschichtsschreibung keineswegs fest gefügt und vor allem rhetorisches Mittel war, wurde schon von Till Kössler festgestellt131 und kann angesichts der vielen Gemeinsamkeiten zwischen der Historiographie der Neuen Welt und anderer Familienzeitschriften bestätigt werden. Ein Spezifikum der Neuen Welt war allerdings der Fokus auf historische Klassenverhältnisse. Die AutorInnen der Neuen Welt benannten Klassenungleichheiten, stellten ökonomische Strukturen und Ausbeutungsverhältnisse dar, und machten Arbeit zu einem Hauptthema der Geschichte. So wurden beispielsweise Artikel über Agrarwirtschaft in Antike, Mittelalter und früher Neuzeit132 oder über mittelalterliche Handelsorganisationen133 veröffentlicht. Besondere Aufmerksamkeit erhielt die mittelalterliche und frühneuzeitliche Stadt und ihre soziale und wirtschaftliche Organisation.134 Immer wiederkehrendes Narrativ war die ökonomische Ausbeutung der unteren sozialen Schichten durch ihre Arbeitgeber oder durch die Besitzer des Landes, auf dem sie arbeiteten.135
Innenbewegung wurde erst wenig geforscht, vgl. Kössler (2005); Berger (2012b), S. 19. 130 Vgl. Kössler (2005), S. 262-264. 131 Vgl. ebd., S. 278. 132 Vgl. Köster, Conrad, Agrarentwicklung und Agrarbewegungen im alten Rom, in: NW 1901, S. 355-357, 363-364, 371-372, 379-380; Demmer, A., Taus Eß und Seß Zink. Bilder aus der deutschen Agrargeschichte, in: NW 1902, S. 244-246, 251-253, 259-262, 267-269, 275-276; Tichtiraki, Großgrundbesitz in Mazedonien in alter und neuer Zeit, in: NW 1909, S. 60-62. 133 Vgl. Adé, Alwin, Die Hansa, in: NW 1908, S. 340-342, 347-348; Laufenberg, Heinrich, Seegenossenschaften in alter Zeit, in: NW 1911, S. 229-230, 237-239. 134 Vgl. Rosenow, Emil, Stadtleben im Mittelalter, in: NW 1901, S. 275-276; Laufenberg, Heinrich, Vom Dorf zur Stadt, in: NW 1904, S. 285-286, 291-294, 300302; Laufenberg, Heinrich, Die Kölner Juden im Mittelalter, in: NW 1906, S. 43, 50-53. 135 Vgl. Wittich, Manfred, Proletarierleben im alten Rom, in: NW 1901, S. 251; Adé, Alwin, Mittelalterliches Gesindewesen, in: NW 1911, S. 283-285; Erdmann, August, Unterm Krummstab, in: NW 1904, S. 270.
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Der Identifikationsrahmen der Neuen Welt war weder der (National-)Staat noch das als nationale Gemeinschaft oder Bauerntum gedachte ›Volk‹, sondern die Artikel sprachen ihre LeserInnen als Mitglieder einer historisch gewachsenen Klasse an. Sie untersuchten die Lebens- und Arbeitssituation spezifischer Gruppen – Gesinde, hörige Bauern und Bäuerinnen, ArbeiterInnen oder Handwerksgesellen – und luden ein, sich mit den Unterprivilegierten in der Geschichte zu identifizieren, in denen man die Vorläufer des modernen Proletariats sah: Emil Rosenow etwa erklärte den Handwerksgesellen zum »Vorfahr des modernen Fabrikproletars«.136 Andere Autoren beschrieben den Aufstand der Florentiner Arbeiter von 1378 als »Diktatur des Proletariats«,137 oder die antike römische Baubranche als »industrielle[n] Großbetrieb«, angetrieben von »spekulative[m] Kapital«, in dem »die freien Arbeiter und Handwerker Altroms zu Lumpenproletariern« herabgedrückt worden seien. In dieser Lesart erschien der römische Bauunternehmer Marcus Licinius Crassus als »Urtypus des kapitalistischen Großbourgeois«.138 Während also das vormoderne Proletariat in Kleinbauern, Handwerksgesellen und vormodernen ArbeiterInnen ausgemacht wurde, war es das städtische Bürgertum – also Handwerksmeister und Gewerbetreibende –, das als Vorläufer der modernen Bourgeoisie galt.139 Die Verwendung von Begriffen wie Proletariat und Bourgeoisie, Klassen und Kapitalismus weisen auf einen Anachronismus hin, der viele Artikel durchzog: Moderne Begriffe, die einer marxistischen Terminologie entnommen waren, wurden in dem Versuch, historische Vorläufer und Entwicklungslinien der modernen Zwei-Klassen-Gesellschaft auszumachen, auf vormoderne Gesellschaften übertragen. Den Ungleichheitsverhältnissen stellte die Neue Welt historische Beispiele über frühe Formen kommunistischer und genossenschaftlicher Organisation zur Seite.140 Einen großen Platz nahmen außerdem Berichte über Arbeitskämpfe und
136 Rosenow, Emil, Der Handwerksgesell in der Geschichte, in: NW 1900, S. 276; vgl. auch: Frohme, Karl, Geschichtliches über die Regelung der Arbeitszeit und der Arbeitsruhe, in: NW 1913, S. 126-127, 131-135; Wahrmund, Ernst, Bauernkriege des römischen Altertums, in: NW 1898, S. 323-324. 137 Demmer, A., Kapital und Arbeit im alten Florenz, in: NW 1903, S. 188. 138 Wittich, Manfred, Proletarierleben im alten Rom, in: NW 1901, S. 251. 139 Vgl. Laufenberg, Heinrich, Die Anfänge der bürgerlichen Entwicklung, in: NW 1905, S. 219-222, 227-228, 234-235. 140 Vgl. Demmer, A., Kommunismus und Klassenkampf im alten Palästina, in: NW 1902, S. 27-28, 35-36, 43-44, 52-54; Erler, Karl, Kommunismus und Armenpflege im Urchristenthum, in: NW 1903, S. 371-372, 379-380; Fischer, Edmund, Das Genossenschaftswesen in früherer Zeit, in: NW 1913, S. 6, 11-12.
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Aufstände ein, sowohl in vormoderner Zeit141 als auch in der Zeitgeschichte. Die Französische Revolution142 und die Revolution von 1848143 waren wichtige Themen sozialdemokratischer Geschichtsschreibung und wurden häufig verknüpft mit der Geschichte der sozialistischen Bewegung und der deutschen sozialdemokratischen Partei.144 Gerade als relativ junge und gesellschaftlich ausgegrenzte Gruppe war die historische Traditionsbildung für die Sozialdemokratie von großer Bedeutung.145 Historiographie fungierte hier als Bestandteil einer Milieubildung, indem das Milieu sich selbst eine Herkunftsgeschichte konstruierte. Gleichzeitig zeigt das Beispiel der Neuen Welt, dass das sozialdemokratische Milieu in der Tat eine eigene Geschichtskultur hatte, die sich in Themenwahl und Erkenntnisinteresse in zahlreichen Punkten von den Geschichtskulturen anderer sozialer Gruppen und Milieus unterschied. Die Kategorie Klasse war politisches Programm und zentral für die Geschichtsdarstellung – einerseits als Begriff der Analyse sozioökonomischer Ungleichheit, andererseits aber auch als Mittel der sozialdemokratischen Traditionsbildung. So fungierten Klasse und Stand in der Neuen Welt als primäre Differenzkategorien zur Beschreibung historischer Gesellschaften, gleichzeitig war die Klassenzugehörigkeit zentral für die soziale Positionierung von AutorInnen und LeserInnen und somit maßgeblich für die Perspektive, aus der sie Geschichte betrachteten. Die sozialdemokratische Geschichtsinterpretation hatte eine wichtige politische Funktion: Die Konstruktion einer eigenen Tradition schuf Legitimität und
141 Vgl. Britannicus, Wat Tyler, in: NW 1896, S. 512-515; Thieme, Friedrich, Das tolle Jahr von Erfurt, in: NW 1897, S. 111-112, 118-119; Wahrmund, Ernst, Bauernkriege des römischen Altertums, in: NW 1898, S. 323-324; Conrady, Alexander, Klassenkampf und Oekonomie im alten Athen, in: NW 1907, S. 235-236, 242-243, 251-252, 259-262, 270. 142 Vgl. Demmer, A., Mainz und die Revolution 1792-93, in: NW 1903, S. 83-84, 9192; Poetzsch, Hugo, Marat, in: NW 1902, S. 91-92, 99-100, 108-110, 114-116. 143 Vgl. Anonym, Aus den Berliner Märztagen 1848, in: NW 1898, S. 84-87; Conrady, Alexander, Ein Sozialdemokrat von 1848, in: NW 1907, S. 267-270, 275-278; Liebknecht, Wilhelm, Vor fünfzig Jahren, in: NW 1899, S. 187-189, 195-198, 203-204, 211-214, 220-221. 144 Vgl. Baudert, F. A., Die Entwicklung der Sozialdemokratie in Thüringen, in: NW 1911, S. 291-295; Wittmaack, Ernst, Aus Magdeburgs Parteigeschichte, in: NW 1910, S. 299-302; Demmer, A., Die Anfänge der Internationale, in: NW 1911, S. 138-139. 145 Vgl. Kössler (2005), S. 261.
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Orientierung, und mit einer Gegengeschichte, die man der offiziellen Geschichtsschreibung der Herrschenden entgegenstellen konnte, bemächtigte sich die Bewegung eines wichtigen Instruments politischer Meinungsbildung. Die Analyse sozialer Ungleichheiten in der Geschichte lieferte den Traditionszusammenhang, aus dem soziale und ökonomische Ungleichheiten der Gegenwart hergeleitet, erklärt und historisiert werden konnten. Daneben sind die historischen Darstellungen aber auch unter dem Aspekt der Revolutionsromantik zu betrachten: Die heroischen Geschichten von Individuen oder Gruppen, die sich mutig und entschlossen gegen Ausbeutungsverhältnisse erhoben, schufen Identifikationsmöglichkeiten und eine eigene sozialdemokratische HeldInnengalerie. Neben diesen Heroisierungstendenzen verfolgte die Neue Welt eine Auseinandersetzung mit politischer Ökonomie und marxistischen Grundlagen der Geschichtsinterpretation, die sich in dem regelmäßigen Verweis auf den historischen Materialismus manifestierte. Die von Karl Marx und Friedrich Engels in den 1840er und 50er Jahren entwickelte Geschichtstheorie machte historische Erkenntnis zur Grundlage von Erkenntnis der Gesellschaft überhaupt und somit auch von wissenschaftlicher Gesellschaftsanalyse. Die marxistische Geschichtsauffassung basierte auf ökonomischer Analyse: Die Grundlage der menschlichen Gesellschaft und der historischen Entwicklung lag nach Marx in der Arbeit, also der produktiven und reproduktiven Tätigkeit des Menschen. Somit seien nicht Ideen, wie in der idealistischen Geschichtsauffassung, sondern ökonomische Verhältnisse die Grundlage der Geschichte.146 Deren Verlauf werde bestimmt durch einen dialektischen Fortschrittsprozess: Die sozialen Ungleichheiten, die aus ungleichen Stellungen der Menschen im Produktionsprozess resultierten, brächten stets revolutionäre Klassen hervor, die durch ihre revolutionäre Aktion die Gesellschaft in einem Stufenmodell von der antiken Sklavenhaltergesellschaft über den mittelalterlichen Feudalismus bis hin zur kapitalistischen Gesellschaft und dem Ziel der klassenlosen kommunistischen Gesellschaft aufsteigen ließen. Subjekte der Geschichte seien in diesem Prozess nicht einzelne herausragende Individuen, sondern materiell und sozial bedingte Großgruppen mit gleicher Interessenlage.147 In ihrer Auseinandersetzung mit Ökonomie, gesellschaftlichen Strukturen und sozialer Ungleichheit und der Einsicht, dass gesellschaftlicher Wandel eng mit dem Wandel der Produktionsweisen verkoppelt sei, formulierten sozialistische HistorikerInnen, als bekanntester von ihnen Franz Mehring, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein sozialhistorisches Programm, das zwar diverse
146 Vgl. Wiersing (2007), S. 396; Küttler (1998), S. 657-659. 147 Vgl. Wiersing (2007), S. 405-407.
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Anknüpfungspunkte mit der universitären Sozial- und Wirtschaftsgeschichte verband, sich aber in zentralen Punkten von dieser unterschied. Die universitären Sozialhistoriker distanzierten sich vom politischen Programm des historischen Materialismus, von dessen Verknüpfung der historischen Untersuchung mit Gegenwartsanalyse, Zukunftsprognose und einer Anleitung zum revolutionären Handeln. So gehörten marxistische Geschichtskonzeptionen trotz thematischer Überschneidungen nur am Rande zu den Traditionslinien früher universitärer Sozialgeschichtsschreibung.148 Erst mit dem neuen Aufschwung der Sozialgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg entdeckte man Marx in Deutschland wieder als theoretische Grundlage historischer Forschung.149 Materialistische Geschichtsschreibung spielte auch in bürgerlichen Familienzeitschriften erwartungsgemäß keine Rolle, war dafür aber umso präsenter in der sozialdemokratischen Neuen Welt. Deren Autoren und Autorinnen holten den historischen Materialismus auf ein von Laien lesbares Niveau, indem sie ökonomische Zusammenhänge historischer Entwicklung aufzeigten, aber auch die theoretischen Grundlagen des historischen Materialismus selbst erklärten: »Der historische Materialismus behauptet, daß die ›wirtschaftlichen Verhältnisse‹ von entscheidendem Einfluß auf den Gang der Geschichte sind. […] Die sozialen Zustände […] erklärt er als abhängig von der Produktionsweise. Wirtschaftliche Wandlungen (d.h. Wandlungen der Produktionsweise, der Art und Weise, wie die Menschen ihren Lebensunterhalt der Natur abgewinnen) ziehen soziale Wandlungen nach sich – so könnte man den Kern des historischen Materialismus in kurze Worte zusammenfassen. Aus den geänderten sozialen Zuständen entspringen dann die historischen Ereignisse, und damit ist auch ihre Abhängigkeit von den wirtschaftlichen Verhältnissen gegeben.«150
Diese Sätze stammten von dem marxistischen Historiker Julian Borchardt, der in der Neuen Welt 1911 in einem sozial- und wirtschaftshistorischen Überblick vom Altertum bis ins Mittelalter zu zeigen suchte, wie ökonomische Prozesse
148 Allerdings konstatiert Kocka einen »überraschend starken Einfluß marxistischer Anschauungen« in der ersten Redaktion der Zeitschrift für Social- und Wirtschaftsgeschichte, vgl. Kocka (1986), S. 60. 149 Vgl. Wehler, Hans-Ulrich: »Was ist Gesellschaftsgeschichte?«, in: Ders., Aus der Geschichte lernen? Essays, München: Beck 1988, S. 115-129, hier S. 117; Küttler (1998), S. 666. 150 Borchardt, Julian, Wirtschaftliche und soziale Wandlungen in der deutschen Geschichte, in: NW 1911, S. 339 (Herv. i. O.).
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den Lauf der Geschichte prägten und bestimmten.151 Borchardt, Sohn eines jüdischen Kaufmanns und studierter Nationalökonom, arbeitete seit den 1890er Jahren als Redakteur für verschiedene Zeitungen der Sozialdemokratie und veröffentlichte als wirtschaftshistorischer Experte Artikel und Monographien, in denen er die marxistische Geschichtsauffassung erläuterte und die Bedeutung von Geschichte für die sozialistische Bewegung darlegte.152 Die Grundlage wirtschaftshistorischer Entwicklungen sah Borchardt im oben zitierten Artikel im Beginn von Gewerbe, Arbeitsteilung und Handel bei den Germanen und der Entstehung von Privateigentum durch Aufteilung und Urbarmachung des Bodens. Er erläuterte die Entstehung und Etablierung sozialer Klassen aus dem System von Grundherrschaft und Vasallenwesen und richtete seinen Blick weiter auf die Entstehung der Städte, den Aufschwung von Handwerk und Handel und die Genese politischer Institutionen. Die mittelalterliche Stadt war für ihn, wie für so viele sozialistische HistorikerInnen, zentraler Motor der weiteren historischen Entwicklung: »[…] die Produktionsweise war geändert worden; aus der rein ländlichen Produktion war man zum Handwerk, zur beruflichen Teilung der Arbeit übergegangen. Diese wirtschaftliche Veränderung hat nicht nur dem Handel seinen Aufschwung gegeben, zur Städtegründung geführt und damit direkt eine Reihe wichtiger historischer Ereignisse hervorgerufen; sondern sie gab auch den Anlaß zu wichtigen sozialen Aenderungen, eine ganz neue Klasse entstand, diejenige, die in der Folgezeit die wichtigste von allen Klassen, ja die eigentliche Trägerin der deutschen Geschichte werden sollte: das städtische Bürgertum.«153
Diese stringente Geschichte einer Entwicklung von reiner Agrarwirtschaft hin zu städtischem Gewerbe, zur Ausbildung von Privateigentum und Kapital und zur Entstehung sozialer Klassen fand sich auch in anderen Artikeln der Neuen
151 Vgl. ebd., S. 339-342. 152 Vgl. Borchardt, Julian, Ueber Zweck und Methode der Geschichtswissenschaft vom sozialistischen Standpunkt, in: Socialistische Monatshefte 1899, S. 185-190; Ders., Historischer Materialismus und neueste Statistik, in: Die Neue Zeit 1909/10 Nr. 2, S. 939-943; Ders., Der historische Materialismus. Eine für jedermann verständliche Einführung in die materialistische Geschichtsauffassung, Berlin, Lichterfelde: Verlag d. Lichtstrahlen 1919; Ders., Deutsche Wirtschaftsgeschichte, Berlin: VIVA Vereinigung Internat. Verlags-Anstalten 1922. 153 Borchardt, Julian, Wirtschaftliche und soziale Wandlungen in der deutschen Geschichte, in: NW 1911, S. 342.
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Welt.154 Neben der ländlich-agrarischen Gesellschaft und der Entstehung des Feudalsystems war die Entwicklung der mittelalterlichen Stadt und des mittelalterlichen Handwerks Angelpunkt vieler sozialhistorischer Darstellungen. In mittelalterlichen Werkstätten und vormodernen Manufakturen fanden sozialistische HistorikerInnen Vorläufer des kapitalistischen und industriellen Produktionsprozesses.155 Hier wurde auch die Heterogenität der Geschichtsdarstellungen innerhalb der Neuen Welt deutlich – während die einen AutorInnen einen Klassenund Proletariatsbegriff, wie bereits gezeigt wurde, anachronistisch in die vormoderne Vergangenheit projizierten, historisierten andere verschiedene wirtschaftliche und politische Systeme in einer differenzierteren Analyse. Die gesellschaftliche und ökonomische Bedeutung des vormodernen Handwerks und der Zünfte verknüpften viele AutorInnen mit einer Kultur- und Alltagsgeschichte der Handwerksgesellen. Emil Rosenow etwa stellte den romantischen Vorstellungen von fröhlich wandernden Gesellen eine äußerst prekäre Realität gegenüber. So sei die Wanderschaft meist ein aus purer ökonomischer Not geborener Zwang gewesen, hätten die Gesellen doch kaum Aussicht auf Selbständigkeit in einer von der Zunft kontrollierten Stadt gehabt.156 Eindrücklich schilderte er die prekäre Lebensweise frischgebackener Handwerksgesellen: »Wenn endlich nach langen Jahren der junge Mensch ausgelernt, und die letzte Ohrfeige, das Gesellenstück und der Lehrbrief der Zunft ihn zum Handwerksknecht gemacht hatten, war die Zeit, die nun für ihn anbrach, keine bessere. Er wurde als Knecht gehalten und behandelt, hatte im Hause des Meisters, häufig vielleicht in der dumpfen Werkstatt selbst, seine Ruhestatt, aß mit dem Meister aus einer Schüssel und enthielt nur einen kargen Lohn. Bei den Straßburger Webern herrschte die Sitte, daß der Knecht mit dem Meister auf den dritten oder den halben Pfennig arbeitete, je mehr jedoch der Werth des Geldes stieg, desto mehr verschlechterte sich die Bezahlung, und schließlich war der Stücklohn, um den Gesellen zur vollen Ausnutzung seiner Arbeitskraft zu zwingen, die allgemein übliche Entlohnungsweise.«157
Die Schilderung von körperlicher Züchtigung und Alltagswelten ging hier einher mit Überlegungen zur Lohnentwicklung. So konnte Sozialgeschichte als verbin-
154 Vgl. Anonym, Die Vorgeschichte des großen deutschen Bauernkrieges von 1525. Ein Beitrag zur materialistischen Geschichtsauffassung, in: NW 1894, S. 387-391. 155 Vgl. Laufenberg, Heinrich, Die Anfänge der bürgerlichen Entwicklung, in: NW 1905, S. 219-222, 227-228, 234-235. 156 Vgl. Rosenow, Emil, Der Handwerksgesell in der Geschichte, in: NW 1900, S. 284. 157 Ebd., S. 277.
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dendes Element von Mikro- und Makrohistorie, von Alltags- und Wirtschaftsgeschichte wirken. Die alles umfassende These war dabei der Zusammenhang von ökonomischen und sozialen Verhältnissen, von Produktionsform und gesellschaftlicher Struktur, von Arbeit und Lebenswelt.158 Der Verweis auf die sozialen und ökonomischen Verhältnisse der Gegenwart erfolgte dagegen in der Regel eher knapp und ohne analytische Tiefenschärfe. Die historischen sozialen und ökonomischen Verhältnisse wurden den gegenwärtigen Arbeits- und Lebensverhältnissen zwar entgegengesetzt oder in eine stringente historische Entwicklungslinie gesetzt, doch blieb eine ökonomische Analyse des zeitgenössischen Kapitalismus in der Regel aus. Man könnte auch sagen: Die ökonomischen Analysen vergangener Epochen waren in der Neuen Welt wesentlich schärfer als jene der Gegenwart. Dies ist vor dem Hintergrund der bewussten Gestaltung der Neuen Welt als Unterhaltungsblatt zu sehen – eine aktuelle und tagespolitische ökonomische und gesellschaftliche Analyse gehörte nicht in das Konzept der Neuen Welt, sondern wurde von anderen Organen der Sozialdemokratie, allen voran der Neuen Zeit, geliefert. Auf der Ebene der Geschichtsvermittlung wurde den LeserInnen die ökonomische Analyse allerdings durchaus zugetraut und zugemutet. Eingebaut in eine narrative Struktur, in Geschichten von Persönlichkeiten und Einblicke in Arbeitsalltag und Lebenswelt der Menschen, wurde sie hier von einer wissenschaftlichen Theorie zu einer leicht konsumierbaren und unterhaltenden Narration, in der gleichwohl politische Inhalte weitergetragen wurden. Mit der geschichtspolitischen Verwendung von historischen Themen stand die Neue Welt allerdings nicht allein, sondern auch andere Zeitschriften verhandelten erinnerungskulturelle Themen auf höchst politische Weise, wie das folgende Beispiel der Erinnerung an die Märzrevolution zeigt. Erinnerung als Geschichtspolitik: Die Märzrevolution im Jubiläumsjahr 1898 Die Thematisierung und Deutung sozialer Ungleichheiten in der Geschichte sind ein Indikator für die Positionierung der jeweiligen Redaktion gegenüber zeitgenössischen sozialen Verhältnissen. Für die ArbeiterInnenbewegung und ihr Or-
158 Vgl. Wittich, Manfred, Freie Arbeiter im Alterthum, in: NW 1898, S. 211-212; Adé, Alwin, Städtische Nahrungsfürsorge im Mittelalter, in: NW 1908, S. 53-55, 58-59; Adé, Alwin, Die Frau im mittelalterlichen Handwerk, in: NW 1909, S. 115-116, 123-124; Demmer, A., Taus Eß und Seß Zink. Bilder aus der deutschen Agrargeschichte, in: NW 1902, S. 243-246, 251-253, 259-262, 267-269, 275-276.
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gan Neue Welt war sozioökonomische Ungleichheit ein wichtiges Thema der Gegenwartsanalyse wie der Geschichte. Die bürgerlichen Zeitschriften bemühten sich zwar um einen Blick über verschiedene Gesellschaftsschichten, thematisierten oder skandalisierten jedoch nur selten historische Strukturen sozialer Ungleichheit. Und anders als die AutorInnen der Neuen Welt bezogen die bürgerlichen Zeitschriften ihre historischen Darstellungen selten zurück auf zeitgenössische Ungleichheitsstrukturen und thematisierten weder ihre eigene soziale Herkunft noch sprachen sie ihre LeserInnen als Angehörige einer sozialen Klasse an. Wie zeitgenössische Verhältnisse die Sicht auf Geschichte beeinflussten, zeigt sich am besten am Beispiel politisch brisanter historischer Themen, die eine Positionierung herausforderten. Anhand der Erinnerung an die Revolution von 1848 im Jubiläumsjahr 1898 lässt sich aufzeigen, wie die verschiedenen Zeitschriften in der Darstellung politischer Ereignisse unterschiedliche Perspektiven einnahmen und somit immer auch eine politisch gedeutete und funktionalisierte Geschichte schrieben, die eng mit der sozialen Positionierung der Zeitschrift, ihrer AutorInnen und ihrer LeserInnenschaft zusammenhing. Die 1848er Revolution war ein umstrittenes Thema im Kaiserreich, das eine Vielzahl von Erinnerungskulturen und Deutungen hervorbrachte.159 Anders als etwa die Napoleonischen Kriege oder die Reichsgründung war 1848 nicht Gegenstand einer offiziellen Erinnerungspolitik von staatlicher Seite. Die Erinnerung wurde vielmehr von verschiedenen nichtstaatlichen Gruppen getragen, vor allem vom liberalen Bürgertum und der ArbeiterInnenbewegung. Die drei Hauptstränge der Erinnerung an 1848 – liberales und sozialdemokratisches Gedenken an die Revolution sowie konservative Gegenentwürfe beziehungsweise konservative Nichtbeachtung des Themas – sind auch im Umgang der Familien-
159 Vgl. zur Erinnerung an 1848 im Kaiserreich Klemm, Claudia: Erinnert – umstritten – gefeiert. Die Revolution von 1848/49 in der deutschen Gedenkkultur, Göttingen: V&R Unipress 2007; Mommsen, Wolfgang J.: »Die Paulskirche«, in: Franҫois/Schulze (2002), Bd. 2, S. 47-66; Siemann, Wolfram: »Der Streit der Erben. Deutsche Revolutionserinnerungen«, in: Dieter Langewiesche (Hg.), Die Revolutionen von 1848 in der europäischen Geschichte. Ergebnisse und Nachwirkungen, München: Oldenbourg 2000, S. 123-154; Gildea, Robert: »Mythen der Revolutionen von 1848«, in: Dieter Dowe (Hg.), Europa 1848. Revolution und Reform, Bonn: Dietz 1998, S. 1201-1233; Siemann, Wolfram: »Die Revolution von 1848/49 zwischen Erinnerung, Mythos und Wissenschaft. 1848-1998«, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 49 (1998).
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zeitschriften mit dem Jubiläum zu beobachten und stehen gleichzeitig als Beispiele milieuspezifischer Geschichtsdeutungen.160 Für die Gartenlaube war 1848 zentral für die eigene Tradition, in der sie sich verortete, war sie doch unter anderem in Reaktion auf die gescheiterte Revolution gegründet worden. Allerdings nahm die Erinnerung an die Revolution nach Gründung des Kaiserreichs immer weniger Raum in der Zeitschrift ein. Im Jubiläumsjahr 1898 brachte die Gartenlaube eine achtteilige Artikelserie mit dem Titel »Wie das erste Deutsche Parlament entstand«,161 die in den 1830er Jahren ansetzte. Verfasst war die Serie vom leitenden Redakteur der Gartenlaube, Johannes Proelß. Aus einem bildungsbürgerlichen Dresdner Elternhaus stammend, hatte Proelß Philosophie und Geschichte in Jena und Leipzig studiert. Seine journalistische Laufbahn begann er in Leipzig als Redakteur des Börsenblatts für den deutschen Buchhandel, und arbeitete in den 1870er Jahren in den Redaktionen verschiedener Periodika, unter anderem der Frankfurter Zeitung und des Magazins Vom Fels zum Meer. 1894 übernahm er die leitende Redakteursstelle der Gartenlaube, die er bis 1903 innehatte. Proelß betrieb historische Forschung über die frühe liberale Bewegung in Deutschland. Er beschäftigte sich in biographischen Studien mit einzelnen Protagonisten der liberalen Bewegung des Vormärz und veröffentlichte 1892 sein Werk »Das junge Deutschland«, das an die frühe liberale Bewegung als Wegbahnerin des Fortschritts und der nationalen Einheit erinnern sollte.162 Dieser Forschungsschwerpunkt kam auch in seiner Artikelserie zum Jubiläum von 1848 zum Tragen: In der frühen liberal-intellektuellen Bewegung setzte Proelß den Anfangspunkt der Geschichte der Revolution. Er stellte das liberale (Bildungs-)Bürgertum und dessen herausragendste Vertreter als Vorkämpfer von Einheit und Freiheit den reaktionären alten Kräften, allen voran Metternich, aber auch König Friedrich Wilhelm IV. gegenüber. Die liberale Bewegung wurde hier eng an ihre Vordenker gekoppelt, die in kleinen Porträts auch bildlich dargestellt waren. Oftmals zusätzlich umrankt von Eichenlaub, stellten diese Illustrationen eine Bildergalerie liberaldeutschen Heldentums dar (vgl. Abbildung 1). Die Revolution, das zeigen diese Porträts und der zugehörige
160 Thomas Mergel untersuchte die Erinnerung an 1848 im Kaiserreich bereits unter dem Aspekt sozialmoralischer Milieus. Er unterscheidet zwischen drei Milieus, dem nationalliberalen, dem katholischen und dem sozialdemokratischen Milieu und fokussiert dabei primär auf wissenschaftliche Publikationen, vgl. Mergel (1998). 161 Proelß, Johannes, Wie das erste Deutsche Parlament entstand, in: GL 1898, S. 1215, 61-64, 93-96, 109-113, 147-151, 186-191, 204-210, 254-259. 162 Vgl. Proelß, Johannes: Das junge Deutschland. Ein Buch deutscher Geistesgeschichte, Stuttgart: Cotta 1892, S. III-V.
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Text, war ein von liberalen Intellektuellen vorbereitetes und gemachtes historisches Ereignis. Abbildung 1: Porträts deutscher Liberaler in der Gartenlaube
Quelle: Proelß, Johannes, Wie das erste Deutsche Parlament entstand, in: GL 1898, S. 12.
Die zentralen Begriffe im Text, Freiheit und Einheit, wurden stets zusammengedacht: Die Revolutionäre verschiedenster sozialer und konfessioneller Herkunft seien sich in der Überzeugung einig gewesen, Freiheit könne nur gewonnen werden, wenn sich zugleich die politische Einheit anbahne.163 Zentrales Element der Revolution war für Proelß die Nationalversammlung. Die Berliner Barrikadenkämpfe des 18. März stellten für ihn nur einen Nebenschauplatz der Revolution dar, der von den liberalen BürgerInnen nicht beabsichtigt gewesen sei:
163 Proelß, Johannes, Wie das erste Deutsche Parlament entstand, in: GL 1898, S. 61.
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»[...] von der friedlichen Lösung des langjährigen Konflikts […] waren alle Anwesenden überzeugt. Da führte ein ›Mißverständnis‹ zu einem entsetzlichen blutigen Nachspiel der Friedensfeier. Der König hatte […] den Wunsch aussprechen lassen, die Demonstrationen möchten nun aufhören. Da immer neue Volksmassen herandrängten, war dies nicht möglich. Es wurden jetzt Stimmen laut, daß die so bejubelten Bewilligungen der Not des Volkes nicht abhülfen. Es drängten sich Elemente aus den Arbeitervierteln ans Schloß, in denen ein tiefer Groll gegen den König bestand. […] Der König, erzürnt über den Lärm, gab schließlich Befehl, […] Truppen ausrücken zu lassen, um Ruhe zu stiften. […] Die Mannschaften thaten dies in ungeschickter, brutaler Weise […]. Der Angriff wirkte auf die in Jubel schwelgende Menge wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel.«164
Laut Proelß gingen die ersten Unruhen von ArbeiterInnen aus, doch habe sich die Brutalität der Soldaten auf die gesamte jubelnde Menge ausgewirkt. Später betont er, es seien »echte Berliner« gewesen, »Handwerker, Studenten, Arbeiter, auch Bürger gelehrten Berufs, die zur Waffe gegriffen hatten.«165 Damit solidarisierte er sich mit den Barrikadenkämpfen, die vielen Liberalen als Irrweg der Revolution und vor allem als Aktion des Pöbels galten, und schloss sie nicht aus der revolutionären Tradition des Bürgertums aus. Allerdings schrieb Proelß die Geschichte der 1848er Revolution hauptsächlich als eine Geschichte des nationalliberalen Kampf des Bürgertums, der schließlich durch innere Spaltung der Bewegung über den Konflikt zwischen Reform und Revolution gescheitert sei. War die Gartenlaube in ihrer Gründungszeit in den 1850er Jahren noch getragen von zahlreichen ehemaligen Revolutionären, gab es im Untersuchungszeitraum um die Jahrhundertwende kaum noch ZeitzeugInnen der Revolution, die für die Zeitschrift arbeiteten. Auch Proelß, einer der letzten politischen Gartenlaube-Redakteure in Tradition des Zeitschriftenbegründers Keil, war erst nach dem Revolutionsjahr geboren. Obgleich die Gartenlaube seit den späten 1860er Jahren, spätestens aber mit dem Tode Keils eine deutliche Abkehr von ihrem nationalliberalen hin zu einem rein nationalen Charakter vollzog, hielt sie punktuell, wie das Beispiel zeigt, noch ihre ursprüngliche liberale und demokratische Haltung aufrecht. Diese liberalen Bekenntnisse sind jedoch vor allem in einer erinnerungskulturellen Tradition zu sehen und waren keinesfalls ein oppositionelles Statement: Zugleich mit der Erinnerung an 1848 transportierte die Gartenlaube die Meinung, mit der Reichsgründung 1871 hätten sich die Ziele der nationalliberalen Kämpfe verwirklicht.
164 Ebd., S. 189f. 165 Ebd., S. 190.
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Trotz ihres Bekenntnisses zum konservativen Nationalstaat unterschied sich die Gartenlaube in ihrer Gewichtung der liberalen Bewegung deutlich von den anderen bürgerlichen Zeitschriften und ihrer Auseinandersetzung mit 1848. Die Sonntags-Zeitung veröffentlichte im Jubiläumsjahr überhaupt keinen Artikel zur Revolution. Erst vier Jahre nach dem Jubiläum widmete sie der Nationalversammlung einen Artikel,166 setzte sie jedoch nicht in Traditionslinie zu nationalliberalen Bestrebungen des Vormärz, sondern zum Parlament und zur Verfassung des Kaiserreichs. Das liberale Bürgertum war hier kein relevanter Faktor historischer Entwicklung. Im Daheim war das Jubiläum mit drei Artikeln im Jahr 1898 recht präsent; die Zeitschrift legte ihren Fokus allerdings weniger auf das Bürgertum und die liberale Entwicklung der Revolution, sondern auf die Berliner Barrikadenkämpfe und nahm eine deutlich antirevolutionäre Haltung ein. In einem der Jubiläumsartikel des Daheim schrieb Eduard Heyck das liberale Bürgertum weitestgehend aus der Revolution heraus.167 Anders als Proelß, der ausführlich die Vorgänge in Süddeutschland, Wien und Berlin schilderte und weit zurückgriff, beschränkte sich Heyck in seiner Darstellung auf den März 1848 in Berlin und erwähnte die tragende Rolle des Bürgertums in der Revolution in Süddeutschland lediglich in einem Nebensatz. In Berlin hätte sich das Bürgertum aus Angst vor der sozialen Revolution und in Sorge um seinen Besitz nicht an den Aufständen beteiligt. Wortführer der Revolution und Kämpfer auf den Barrikaden seien Studenten und Angehörige unterer Klassen gewesen – allerdings »weniger die richtigen Arbeiterkreise, als Handwerksgesellen, halbwüchsige Burschen und Müßiggänger«.168 Als Anführer und Anstifter der Kämpfe benannte er revolutionär geschulte Elemente aus dem Ausland – »von auswärts gekommene[] sachverständige[] Barrikadenmänner« – vorwiegend aus Frankreich und Polen, die die deutsche Revolution hätten vorantreiben wollen. Diese fremden Revolutionäre, gemeinsam mit dem Berliner Pöbel, seien es auch gewesen, die mit Krawallmache am 18. März vor dem Berliner Schloss einen friedlichen und reformerischen Ausgang der Ereignisse verhindert hätten:
166 Vgl. Matthießen, Lorenz, Der Vorläufer des deutschen Reichstages. Aus der Geschichte der deutschen Nationalversammlung zu Frankfurt a. M., in: SZ 1902/03, S. 824-829. 167 Vgl. Heyck, Eduard, Die Revolution von 1848 und die Märztage in Berlin, in: DA 1898, S. 384-387, 400-403. 168 Ebd., S. 387.
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»In diesen Minuten schwankte die Waage des Geschicks und schien sich gegen die unbefriedigten Hetzer zum Aufruhr, gegen die prinzipielle Revolution entscheiden zu wollen. Aber noch gaben jene ihr Spiel nicht verloren, und während die Bürger anfingen, sich zu zerstreuen und die Kaffeehäuser anzufüllen, wo man die Extrablätter vorlas und besprach, gewannen sie die Oberhand zurück. Anstatt der Hochrufe hörte man jetzt ›Militär zurück‹ und andere Radauparolen brüllen, ein wüstes Herandrängen gegen das Schloß und die Truppen begann. Da erlaubte oder befahl der König, um dem Treiben ein Ende zu machen, […] den Schloßplatz ohne Verwendung von Waffen durch das langsame Vorrücken der Truppen zu leeren.«169
Diese Deutung der Revolution stand in deutlichem Gegensatz zu der Interpretation der Gartenlaube: Wo diese 1848 in eine lange Tradition nationalliberaler Kämpfe im deutschen Norden wie Süden einschrieb und bürgerlich besetzte, wurde das Bürgertum in der Darstellung des Daheim in einen Strudel lokaler Ereignisse hineingezogen, welche proletarische Unruhestifter und professionelle Revolutionäre aus dem Ausland initiiert hätten. Während die Gartenlaube die Revolution als Gründungsnarrativ des Kaiserreichs verwendete, bezeichnete Heyck es als einen »schlechte[n] Witz des fin de siècle«, dass die Erinnerung an 1848 den »Reigen der Erinnerungstage«, die »Deutschland groß und einig gemacht haben«, abschließen solle.170 Die Revolution stand für ihn in keiner nationalen Tradition, sondern habe vielmehr die Einigung des deutschen Volkes erschwert: »Am 18. März werden fünfzig Jahre verflossen sein, daß in den Straßen Berlins die Gewehre knatterten und Bürger und Soldaten einander mordeten – sie wußten selber kaum, warum.«171 Als einzige Zeitschrift brachte das Daheim zudem mit zwei Berichten ehemaliger Soldaten die Perspektive des Militärs in die Erinnerung hinein, die Heycks Einschätzung, die Revolution sei vom Pöbel und von Ausländern initiiert worden, bestätigten: »Der Widerstand der Aufständischen war nicht im geringsten heldenmütig. Sie schossen meuchlings, dann aber im Kampfe Mann gegen Mann waren sie meist feige. Der größte Teil der Kämpfer bestand aus fremdem Gesindel und Arbeitern aus der Hefe des Volkes, in Lumpen gekleidet, bis zur Raserei berauscht.«172
169 Ebd., S. 402. 170 Ebd., S. 384. 171 Ebd. 172 Zobeltitz, Hanns von, Aus den Erinnerungen eines alten Soldaten, in: DA 1898, S. 283; vgl. auch Köppen, Fedor von, Die Märznacht im Kadettenhause zu Berlin, in: DA 1898, S. 318-319.
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So zitierte der Artikel »Aus den Erinnerungen eines alten Soldaten« die Memoiren des damaligen Offiziers Prinz Kraft zu Hohenlohe-Ingelfingen, der in der Nacht zum 18. März in Berlin gegen die Aufständischen gekämpft hatte. Auch hier wird deutlich, wie über die Kategorie der Klassenzugehörigkeit, aber auch der nationalen Zugehörigkeit eine Abgrenzung zu den RevolutionärInnen vorgenommen wurde, welche man keinesfalls als Teil einer nationalen Erinnerungskultur wissen wollte. Die Klassenzugehörigkeit markierte hier allerdings nicht allein die Grundlage für eine Teilnahme an der revolutionären Aktion: auch die Heldenhaftigkeit im Kampf verlief entlang von Klassengrenzen. Während das Lumpenproletariat feige und meuchelnd gekämpft habe und noch dazu betrunken gewesen sei, ließ der Autor keinen Zweifel am Heroismus der Soldaten, von denen kein einziger »seine Pflicht verletzt« habe.173 Zusätzlich gestand er den bürgerlichen RevolutionärInnen Tapferkeit zu: »Aus der Klasse der denkenden und gebildeten Berliner fanden sich nur einige wenige Studenten und andere junge verführte Leute, welche eben thatendurstig waren. Und diese wie einige wohlgekleidete Polen und Franzosen zeigten Mut.«174 Die klassenbedingte Tapferkeit überschritt hier sogar nationale Grenzen, wurden doch auch die polnischen und französischen Bürger als mutig gewürdigt. Wiedergegeben wurden die oben zitierten Erinnerungen durch den DaheimRedakteur Hanns von Zobeltitz, der selbst Militärangehöriger war. 1870 trat der dem neumärkischen Kleinadel entstammende Konservative als EinjährigFreiwilliger in die Armee ein, verblieb nach dem Krieg im aktiven Dienst, durchlief die Kriegsakademie und wurde bis zum Hauptmann befördert. Als Lehrer der Kriegsakademie beschäftigte er sich seit den 1880er Jahren intensiv mit Militärgeschichte (er lehrte vor allem Taktik,175 ein Fach, das die Militärgeschichte beinhaltete) und begann schon während seiner militärischen Karriere, in Zeitschriften zu publizieren und Novellen zu schreiben. 1891 schied Zobeltitz aus dem aktiven Militärdienst aus und trat Redakteursstellen beim Daheim und bei Velhagen und Klasings Monatsheften an.176 Dies war für ihn, der dem Militär
173 Vgl. Zobeltitz, Hanns von, Aus den Erinnerungen eines alten Soldaten, in: DA 1898, S. 283. 174 Ebd. 175 Vgl. Zobeltitz, Hans Caspar von: »Vater«, in: Zum Gedächtnis Hanns von Zobeltitz. 1853-1918, Bielefeld u.a.: Velhagen und Klasing 1919, S. 5-33, hier S. 7f. 176 Vgl. »Zobeltitz, Hanns von«, in: Franz Neubert (Hg.), Deutsches Zeitgenossenlexikon. Biographisches Handbuch deutscher Männer und Frauen der Gegenwart, Leipzig: Schulze & Co. 1905, S. 428.
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mit Begeisterung angehörte,177 keine leichte und unter anderem eine finanzielle Entscheidung, war sein Schreiben doch auch zuvor schon ein Nebenerwerb gewesen, um den standesgemäßen Lebensstil seiner Familie zu finanzieren.178 Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass Zobeltitz der militärischen Perspektive auf 1848 im Daheim Raum gab. Einleitend ging er auf den geschichtspolitischen Aspekt der Erinnerung ein. Der Friedrichshainer Friedhof, auf dem die Märzgefallenen begraben lagen und der seit 1848 nicht nur Ort des Gedenkens, sondern auch der Auseinandersetzung zwischen ArbeiterInnen und BürgerInnen auf der einen, der Staatsmacht auf der anderen Seite gewesen war, wurde 1898 erneut zum Zentrum geschichtspolitischer Konflikte. Die Stadtverordnetenversammlung beantragte die Errichtung eines Gedenksteins für die Märzgefallenen. Der Berliner Magistrat, der Demonstrationen und Aufstände fürchtete und keinen offiziellen Ort antiobrigkeitlichen Gedenkens ermöglichen wollte, lehnte die Errichtung eines Gedenksteins jedoch ab. Zobeltitz griff diese Debatte auf und bezeichnete den Antrag der Berliner Stadtverordnetenversammlung als »politische Machenschaften«,179 die den Friedhof mehr denn zuvor zu einem Ort politischer Demonstration machen würden. In der Armee lebe noch der Schmerz an jene Tage fort und würde durch einen Gedenkstein für deren ehemalige GegnerInnen noch verstärkt.180 Auch die Neue Welt griff die Diskussion um ein Denkmal für die Märzgefallenen auf und deutete das Zaudern der Berliner Honoratioren als Indikator für den Verrat des Bürgertums an den ehemaligen proletarischen KampfgefährtInnen: »Das verfluchte Denken! Die entsetzlichen Erinnerungen! Wie Lava siedend brennt sie ihnen im Hirn; das Waidsprüchlein von den ›Jugendeseleien‹ will nicht vorhalten, nicht lindern die Pein des Bewußtseins, einstens einmal noch nicht nationalliberaler oder obrigkeitlich approbirter ›Freisinniger‹ gewesen zu sein, sondern Bundesgenosse des ehrlichen, ach, aber so gar ›gemeinen‹, so wenig hoffähigen Proletariers mit der schwielengeschmückten Hand!«181
177 Vgl. Zobeltitz (1919), S. 15. 178 Vgl. ebd., S. 7, 18. 179 Zobeltitz, Hanns von, Aus den Erinnerungen eines alten Soldaten, in: DA 1898, S. 282. 180 Vgl. ebd., S. 282f. 181 Anonym, 1848-1898, in: NW 1898, S. 44.
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Das Bürgertum, das 1848 noch Seite an Seite mit dem Proletariat gekämpft hätte, bereute nach Meinung des anonymen Autors diesen Kampf. So sah er das Jahr 1848 als Markstein, an dem Bürgertum und Proletariat den letzten Kampf gemeinsam gefochten, bevor sie getrennte Wege verfolgt hätten. Im Gegensatz zu den Bürgern aber könnten »die Nachkommen der Proletarier von 1848« heute »reuelos und mit reinem Herzen und reinen Händen« auf damals zurückblicken und sich höchstens ihr gutgläubiges Vertrauen in das Bürgertum vorwerfen.182 Abbildung 2: Die Revolution von 1848 in der Neuen Welt
Quelle: Barrikadenscene am Alexanderplatz; Das Palais des Prinzen von Preußen zu Berlin am 20. März 1848, Illustrationen zu: Anonym, Aus den Berliner Märztagen, in: NW 1989, S. 85.
Stand in diesem Artikel die nachträgliche Entfremdung zwischen Bürgertum und ArbeiterInnen im Mittelpunkt, zeigte ein anderer Artikel zum Jubiläum den gemeinsamen Kampf, der besonders in den Illustrationen zum Ausdruck kam. Der
182 Ebd.
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anonym veröffentlichte Artikel »Aus den Berliner Märztagen 1848«, der im Text seinen Schwerpunkt auf die Ereignisse der Berliner Barrikadenkämpfe legte, war mit vier nach Zeichnungen angefertigten Holzstichen illustriert, welche Szenen aus der Berliner Revolution zeigten: Zwei Zeichnungen bildeten Barrikadenszenen ab, eine stellte den Angriff der Kavallerie auf die Demonstrierenden vor dem Berliner Schloss dar und eine Illustration zeigte eine Demonstration vor dem Palais des Preußischen Prinzen. Allen vier Illustrationen war gemeinsam, dass sie ArbeiterInnen und BürgerInnen im gemeinsamen Kampf darstellten. Im Mittelpunkt des Bildes »Barrikadenszene am Alexanderplatz« steht hochaufgerichtet ein Arbeiter mit wehender Fahne (vgl. Abbildung 2). Rechts unter ihm sind zwei Männer zu sehen, die einen dritten, der tot oder verletzt ist, von der Barrikade tragen. Auf der linken Seite hält ein weiterer Mann mit Gewehr in der Hand wachsam Ausschau. An ihrer Kleidung lässt sich die soziale Zugehörigkeit der Männer ablesen: Der Arbeiter mit der Fahne trägt Halstuch, Mütze und Oberbekleidung, die seine Klassenzugehörigkeit kenntlich machen, während die bürgerliche Herkunft des Mannes rechts im Bild vor allem durch seinen Zylinder markiert wird. Auch auf der Zeichnung »Das Palais des Prinzen von Preußen zu Berlin am 20. April 1848« sind Menschen verschiedener sozialer Schichten an ihrer Kleidung erkennbar. Die Zeichnung zeigt zudem Frauen als Teil der revolutionären Aktion; eine von ihnen schreibt gerade »Nationaleigenthum« an die Wand des Palais, während der Rest der Demonstration jubelt. Die enge Verbindung, in der ArbeiterInnen und BürgerInnen in diesen Illustrationen im gemeinsamen Kampf zu sehen sind, wurde im Text nicht prominent aufgegriffen. Der Text verwendete den Begriff des Volkes, um die AkteurInnen der Revolution zu bezeichnen, die er als »Volkskrieg« bezeichnete, ohne weiter darauf einzugehen, wer zum Volk zählte: »Am 18. März Morgens zog das Volk aus einer Versammlung zu den Stadtverordneten, diese beriefen eine allgemeine Bürgerversammlung auf den Schloßplatz […]. Preßfreiheit und Reformen wurden als bewilligt verkündet und erregten einen allgemeinen Freudenrausch […]. Der mißliebige Minister Bodelschwingh forderte das Volk auf, heimzugehen […]. Möglicherweise gaben gleiche Aufforderungen von Offizieren den Anlaß, daß der Ruf laut wurde: ›Zurück mit dem Militär!‹ Da plötzlich fielen […] zwei Schüsse[...]. ›Verrat! Waffen!‹ rief das Volk [...].«183
Dass die Neue Welt, anders als die Gartenlaube, der bürgerlich-liberalen Bewegung keine relevante Rolle in der Revolution zusprach, ist daran erkennbar, dass
183 Anonym, Aus den Berliner Märztagen, in: NW 1898, S. 86.
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der anonyme Autor die für die Gartenlaube so wichtigen Ideale von Freiheit und Einheit in einem einzigen Satz abhandelte, und die Ursachen für 1848 vor allem in der materiellen Not der Arbeiter und Arbeiterinnen verortete.184 Für die Neue Welt war die Revolution zudem ein gesamteuropäisches Ereignis und der Startpunkt für den Aufstieg der deutschen wie europäischen ArbeiterInnenklasse hin zu einer politischen Macht: In der französischen Februarrevolution habe das »moderne Proletariat zum ersten Male klassenbewußt und bis zu einem gewissen Grade selbständig in die Weltgeschichte der Neuzeit« eingegriffen.185 Der deutsche »Lohnarbeiterstand« habe 1848 gezeigt, »was er als politischer und kultureller Fortschrittsträger vermag« und sei in Folge zu einer »mächtigen, großen Klasse mit eigenen Lebensgesetzen, mit großen Aufgaben für die gesammte Kulturentwicklung der Menschheit« geworden.186 So war die Revolution nicht allein in der Neuen Welt, sondern allgemein in der sozialdemokratischen Erinnerungskultur ein wichtiges Thema zur Herstellung von Milieu- und Klassenidentitäten.187 Die Revolution hatte für das liberale, das konservativ-militärische und das sozialdemokratische Milieu höchst unterschiedliche Bedeutungen. Den drei Milieus war allerdings gemein, dass 1848 ein erinnernswertes Ereignis darstellte. Ganz anders in der katholischen Alten und Neuen Welt: Hier fehlte eine Auseinandersetzung mit der Revolution (sowohl in der Schweiz wie auch in Deutschland oder anderen europäischen Ländern) vollständig. Mit diesem Schweigen über die Revolution stellte die Zeitschrift keine Ausnahme innerhalb des katholischen Milieus dar. Lediglich in Biographien kam das Thema zuweilen zur Sprache, wo dem Bürgertum wie den KatholikInnen dann meist eine mäßigende Position zwischen Revolutionären und Regierungen zugeschrieben wurde.188 Thomas Mergel erklärt dieses Schweigen mit der widersprüchlichen Bedeutung, die die Revolution für die Katholische Kirche und Gemeinde gehabt habe: Einerseits habe man Revolutionen allgemein und so auch diese per se abgelehnt, andererseits sei der moderne deutsche Katholizismus ein Kind gerade dieser Revolution,
184 Vgl. Anonym, Aus den Berliner Märztagen 1848, in: NW 1898, S. 85. 185 Anonym, Die Pariser Februar-Revolution 1848, in: NW 1898, S. 54. 186 Anonym, Aus den Berliner Märztagen 1848, in: NW 1898, S. 87. 187 Vgl. Kössler (2005), S. 266; Mergel (1998), S. 253-256. Die Romantisierung des Barrikadenkampfes, die Stilisierung der Revolution zur Geburtsstunde der ArbeiterInnenbewegung und das Narrativ vom Verrat des Bürgertums in der Neuen Welt stimmen mit den Befunden überein, die Thomas Mergel zur Revolution in der sozialdemokratischen Erinnerungskultur des Kaiserreichs gemacht hat. 188 Vgl. Mergel (1998), S. 256f.
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ohne die es keine Freiheit der Kirche, keinen politischen Katholizismus, keine Kirchentage gegeben hätte.189 Dass nicht allein die Alte und Neue Welt, sondern auch die Sonntags-Zeitung zur Revolution weitgehend schwiegen, ist ein Hinweis darauf, dass die Erinnerung an die Revolution zwar in liberalen und sozialdemokratischen Erinnerungsgemeinschaften und im Militär identitätsbildend war, außerhalb dieser Kreise jedoch 50 Jahre später keine große Rolle spielte. Die Wechselwirkungen zwischen sozioökonomischen Verhältnissen und Geschichtskulturen, so lässt sich zusammenfassend konstatieren, fanden auf verschiedenen Ebenen statt: Das Genre der Familienzeitschrift konnte innerhalb einer industrialisierten Gesellschaft entstehen und trug durch seine günstigen Preise und seine universale Ausrichtung zu einer Demokratisierung des Medienkonsums und der Bildung bei. Auf der Ebene des Inhalts waren sozioökonomische Strukturen in der Geschichtsschreibung der Familienzeitschriften stets präsent: Zum einen wurde die klassisch-historistische Geschichte der Herrschenden, gleichwohl auch in Familienzeitschriften dominant, in den Geschichtsartikeln vielfach aufgebrochen und das Set der historischen AkteurInnen erweitert. Insbesondere die Neue Welt rückte zudem mit historisch-materialistischen Ansätzen die Bedeutung von ökonomischen und sozialen Strukturen und Transformationen in den Mittelpunkt ihres Geschichtsverständnisses. Zum anderen zeigt das Fallbeispiel des Jubiläums der Revolution von 1848, dass die soziale Herkunft der AutorInnen und der angenommenen LeserInnen, aufs engste verknüpft mit politischer Positionierung, einen bedeutenden Einfluss auf die Interpretation historischer Ereignisse nahm.
G ESCHLECHT Die Historiographie des späten 19. Jahrhunderts war in ihren akademischen wie populären Formen durch moderne bürgerliche Geschlechterverhältnisse geprägt. Dies schlug sich in geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung auf dem Gebiet der Wissensproduktion und Wissensvermittlung nieder, in den Inhalten historischer Darstellungen sowie in der Ausrichtung historiographischer Darstellungen auf geschlechtsspezifische Zielpublika.190 Das folgende Kapitel untersucht, welche
189 Vgl. ebd., S. 256. 190 Vgl. Paletschek, Sylvia/Reusch, Nina: »Geschlecht und Geschichte in populären Medien. Einleitung«, in: Cheauré et al. (2013) S. 7-37, hier S. 7-12; Epple, Angelika/Schaser, Angelika: »Multiple Histories? Changing Persepctives on Modern His-
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Rolle die Kategorie Geschlecht in der Geschichtsschreibung von Familienzeitschriften einnahm, und fragt dabei nach dem Einfluss von Geschlechterverhältnissen auf Inhalt, Produktion und Rezeption der Geschichtsdarstellungen sowie nach der Reproduktion von Geschlechterverhältnissen durch diese. Dazu werden zunächst die Möglichkeiten von Frauen als Historikerinnen und Publizistinnen in der zeitgenössischen Presselandschaft untersucht. Am speziellen Fall von Familienzeitschriften wird gefragt, inwieweit diese als weiblich markierte Presseerzeugnisse galten und ob sie für ein geschlechtsspezifisches Publikum angelegt waren. Diese Überlegungen zu Produktion und Reproduktion von Historiographie und Familienzeitschriften werden vor dem Hintergrund einer kritischen Auseinandersetzung mit der dichotomen Konzeption von Öffentlichkeit und Privatheit – sowohl als zeitgenössischer Norm als auch als historiographischer Analysekategorie – angestellt. Auf inhaltlicher Ebene schließlich untersucht das folgende Kapitel, auf welche Weise Frauen als historische Akteurinnen präsent waren und wie Männlichkeiten und Weiblichkeiten biographisch konstruiert wurden, und reflektiert abschließend, inwiefern Alltags- und Kulturgeschichte das Potential hatten, Frauen und weibliche Lebenswelten in der Geschichte sichtbar zu machen. Frauen in Historiographie und Presse Die Professionalisierung und Akademisierung der Historiographie seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts schloss die Arbeiten von Frauen weitgehend aus dem historiographischen Kanon aus. Mit ihrer Exklusion aus der politischen Gemeinschaft der Staatsbürger ging auch ihr weitgehender Ausschluss aus der wissenschaftlichen Wissensproduktion einher.191 Zu den akademischen Instituti-
toriography«, in: Dies. (Hg.), Gendering Historiography. Beyond National Canons, Frankfurt/Main, New York: Campus 2009b, S. 7-26. 191 Vgl. Paletschek/Reusch (2013), S. 8; vgl. zum Thema Geschlecht und Historiographie im 19. Jahrhundert als Auswahl: Paletschek, Sylvia/Schraut, Sylvia: The Gender of Memory. Cultures of Remembrance in Nineteenth- and Twentieth-Century Europe, Frankfurt/Main: Campus 2008; Epple/Schaser (2009a); Felber, Lynette: Clio’s Daughters. British Women Making History 1790-1899, Newark/NJ: U. of Delaware P. 2007; Paletschek, Sylvia: »Die Geschichte der Historikerinnen. Zum Verhältnis von Historiografiegeschichte und Geschlecht«, in: Freiburger Frauenstudien 20 (2007), S. 27-49; Epple, Angelika: Empfindsame Geschichtsschreibung. Eine Geschlechtergeschichte der Historiographie zwischen Aufklärung und Historismus, Köln: Böhlau 2003; Smith, Bonnie G.: The Gender of History. Men, Women and
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onen hatten Frauen nur beschränkten Zugang, durften sie doch bis Ende des 19. Jahrhunderts an deutschen Universitäten weder eine wissenschaftliche Ausbildung erhalten noch akademische Titel erwerben.192 Auch der Zugang zu den historischen Wissensbeständen in Universitätsbibliotheken und Archiven und damit zu den infrastrukturellen Voraussetzungen historischer Forschung war für Frauen lange beschränkt.193 Die Abgrenzungen gegenüber Frauen, die innerhalb des akademischen Bereichs vorgenommen wurden, dienten in erster Linie der Etablierung und Behauptung einer vor allem von Männern betriebenen akademischen Historiographie, die sich im 19. Jahrhundert selbst noch im Prozess der Aushandlung von Wissenschaftlichkeit und Professionalität befand. Dies bedeutet jedoch nicht, Geschichte sei allein von Männern verfasst worden. Geschichtsschreibende Frauen betätigten sich als Resultat des Ausschlusses aus dem akademischen Bereich vermehrt auf dem populären Markt, insbesondere im Bereich historischer Fiktion.194 Autorinnen historischer Romane waren zum Teil äußerst gefragt und auch im faktualen Bereich publizierten viele Frauen schon seit dem 18. Jahrhundert rege, insbesondere im Genre der Biographie.195 Doch die Deutungshoheit in historischen Fragen wurde Frauen auch auf dem populären Markt nicht im selben Maße zugetraut wie Männern.196 Erfolgreiche historische Sach-
Historical Practice, Cambridge, Mass, London: Harvard University Press 2001; Grever, Maria: »Die relative Geschichtslosigkeit der Frauen. Geschlecht und Geschichtswissenschaft«, in: Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Ernst Schulin (Hg.), Geschichtsdiskurs. Bd. 4: Krisenbewusstsein, Katastrophenerfahrungen und Innovationen 1880-1945, Frankfurt/Main: Fischer 1997, S. 108-123. 192 Schon im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts waren Frauen an deutschen Universitäten als Gasthörerinnen zugelassen, doch erst 1900 wurden sie zunächst an den beiden badischen Universitäten Heidelberg und Freiburg, bis 1909 auch an den restlichen deutschen Universitäten als Studentinnen zugelassen und erhielten damit die Möglichkeit, einen Abschluss zu machen. Einzelne europäische Universitäten ließen schon seit den 1860er Jahren Frauen als Studentinnen zu. Geschichtswissenschaftliche Promotionen von Frauen entstanden seit den 1890ern in der Schweiz und in anderen Ländern, zum Beispiel Großbritannien und den USA. 193 Vgl. Epple, Angelika: »Questioning the Canon. Popular Historiography by Women in Britain and Germany (1750-1850)«, in: Paletschek (2011a), S. 21-33, hier S. 27; Grever (1997), S. 116. 194 Vgl. Grever (1997), S. 209. 195 Vgl. Epple (2003). 196 Dies verdeutlicht eine Anekdote über die Schriftstellerin Henriette Feuerbach. Die Witwe des Archäologen Joseph Anselm Feuerbach hatte zur Aufbesserung ihrer
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bücher waren auch zur Jahrhundertwende, als die Medienlandschaft sich stark wandelte und die Bedingungen für publizierende Frauen sich merklich besserten, nach wie vor meist von Männern verfasst.197 Als oftmals ungenannte Mitarbeiterinnen trugen Frauen allerdings vielfach zur Entstehung historischer Werke im akademischen wie populären Bereich bei. Zahlreiche Ehefrauen und Töchter von Historikern erledigten als informelle Mitarbeiterinnen Schreibarbeiten, nahmen an Forschungsreisen teil, waren durch Recherchetätigkeiten in den Forschungsprozess eingebunden oder gaben posthum die Werke ihrer Ehemänner und Väter heraus.198 Gartenlaube-Autorin Rosalie Braun-Artaria schilderte in ihren Erinnerungen, wie sie gemeinsam mit Henriette Feuerbach Korrekturen für die »Weltgeschichte« des befreundeten Professors Weber vorgenommen habe.199 Und Eva Zeller, Tochter des Technikhistorikers Franz Maria Feldhaus, der rege in Familienzeitschriften publizierte, gibt in ihrer Autobiographie darüber Auskunft, wie nicht nur die insgesamt vier Ehefrauen, sondern auch sie selbst und die anderen Kinder ihres Vaters an dessen Werk mitarbeiteten. Die Frauen hätten, Rücken an Rücken mit dem Arbeitsplatz ihres Vaters, vor allem Schreibarbeiten für Feldhaus erledigt: »Alle seine
kargen Witwenpension in den 1850er Jahren anonyme archäologische Berichterstattungen für die Augsburger Allgemeine Zeitung verfasst. »Einer davon war so vortrefflich, daß der Redakteur Altenhöfer, selbst ein hervorragender Gräzist, der manchem Einsender Schnitzer im Text korrigierte, die bewundernde Fußnote anfügte: ›Der Artikel ist von einer Dame.‹ Sehr empört über die vermeintliche Geringschätzung schrieb ihm Frau Feuerbach: ›Wenn der Artikel schlecht war, hätten Sie ihn nicht nehmen sollen, ist er aber tauglich, so brauchten Sie ihn nicht durch diese Anmerkung herabzusetzen.‹ ›Aber Verehrteste, er ist ja ausgezeichnet‹, gab der erstaunte Altenhöfer zurück, ›die Anmerkung bedeutet ja ein hohes Lob.‹« BraunArtaria (1918), S. 22. Das Beispiel zeigt, dass Frauen um die Jahrhundertmitte auf dem populären Markt ein Auskommen als Historikerinnen finden konnten, aber auch dort um fachliche Anerkennung zu kämpfen hatten – ein exzellenter Bericht, von einer Frau verfasst, wurde nicht allein mit Bewunderung, sondern auch mit Verwunderung zur Kenntnis genommen. 197 Vgl. Nissen (2009), S. 74-77. 198 Vgl. Hoffmann, Petra: Weibliche Arbeitswelten in der Wissenschaft. Frauen an der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1890-1945, Kapitel III: Zwischen Tradition und »moderner« Weiblichkeit: Ehefrauen und Töchter, Bielefeld: transcript 2011, S. 111-160; Paletschek (2007), S. 30. 199 Gemeint ist wahrscheinlich der Historiker Georg Weber, der 1857-1880 eine »Allgemeine Weltgeschichte« veröffentlichte, vgl. Braun-Artaria (1918), S. 23.
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Frauen hat er dorthin gesetzt, alle Töchter, sofern sie sich setzen ließen, und unerbittlich den Sohn Gilbert […]«.200 Auch funktionierte die Finanzierung so manchen Forschungsprojekts nur über das Kapital der Historikergattinnen.201 Zeller deutet an, ihr Vater habe auch finanziell auf seine Ehefrauen gebaut – seine dritte Ehe sei er aus finanziellen Gründen eingegangen, um mit der erwarteten Mitgift seiner Frau seine Forschungstätigkeiten zu finanzieren – eine Mitgift, die ob der Intervention der Schwiegermutter jedoch ausgeblieben sei.202 Nicht nur die Wissenschaft, auch die Presse war durch das gesamte Jahrhundert hindurch (und auch darüber hinaus) ein männerdominierter Bereich. Redaktionsstellen mit fester Anstellung waren oft an eine akademische Ausbildung gebunden, was Frauen in Deutschland strukturell ausschloss.203 Doch schon im 18. Jahrhundert waren vereinzelt Frauen journalistisch und verlegerisch tätig,204 und im Laufe des 19. Jahrhunderts fanden sich auf dem Markt freier JournalistInnen immer mehr schreibende Frauen. Besonders Frauenrechtlerinnen beteiligten sich an öffentlichen Auseinandersetzungen; sie schrieben für politische Periodika und gaben in den 1840er Jahren und mit Aufschwung der Frauenbewegung ab den 1860ern politische Frauenzeitschriften heraus, in denen zum Großteil weibliche Autorinnen veröffentlichten.205 Neben den Zeitschriften der Frauenbewegung wurden Ende des Jahrhunderts zahlreiche populäre Frauenzeitschriften sowie Fach- und Berufsblätter etwa für Lehrerinnen und Erzieherinnen gegründet.206 Mit dem Aufkommen von Frauen- und anderen Beilagen in der Tagespresse und in Zeitschriften wuchsen die Möglichkeiten journalistischer Arbeit – weibliche Tätigkeitsfelder lagen bis in die 1920er Jahre hinein bei den Frauenbeilagen, im
200 Ebd., S. 405. 201 Vgl. Paletschek (2007), S. 30. 202 Vgl. Zeller (1981), S. 125. 203 Vgl. Requate (1995), S. 197. 204 Vgl. Weckel, Ulrike: Zwischen Häuslichkeit und Öffentlichkeit. Die ersten deutschen Frauenzeitschriften im späten 18. Jahrhundert und ihr Publikum, Tübingen: Niemeyer 1998. 205 Vgl. Wischermann, Ulla: »Bewegungs(gegen)-öffentlichkeiten. Zur Geschichte der politischen Presse von Frauen für Frauen«, in: Ariadne 44 (2003), S. 6-13, hier S. 6-9. 206 Lida Gustava Heymann zählte 1917 knapp 160 Frauenzeitschriften, darunter 45 der Frauenbewegung, 80 Fach- und Berufsorgane sowie 33 Wohlfahrtszeitschriften, vgl. Schraut, Sylvia: Bürgerinnen im Kaiserreich. Biografie eines Lebensstils, Stuttgart: Kohlhammer 2013, S. 125.
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Feuilleton und im lokalen Bereich.207 Dennoch ist die Tätigkeit von Frauen in der Presse noch immer relativ unsichtbar in der Forschung. Jörg Requate etwa geht in seiner ansonsten außerordentlich breiten Darstellung von Journalisten des 19. Jahrhunderts so gut wie gar nicht auf schreibende Frauen ein.208 Besser untersucht sind die politischen Zeitschriften der Frauenbewegung.209 Die Arbeit von Frauen in der Tagespresse und in populären Zeitschriften wurde aber bisher kaum beachtet, hier beginnt die Forschung meist erst mit den 1920er Jahren.210 Gerade die populäre Presse bot trotz ihrer prinzipiell männlichen Dominiertheit relativ gute Ausgangsbedingungen für Frauen, historiographische Artikel zu publizieren. Frauen arbeiteten hier als freie Autorinnen, teilweise als Redaktionsmitglieder, und schrieben vor allem fiktionale, aber auch faktuale Texte, so auch im hier untersuchten historischen Bereich. Insbesondere die um die Jahrhundertwende verstärkt aufkommenden Frauenbeilagen und Frauenmagazine rekrutierten weibliche Autorinnen. Die Mitarbeiterinnen der Frauenbeilagen in Gartenlaube, Alter und Neuer Welt und Daheim waren größtenteils weiblich,211 und in der Frauenzeitschrift Sonntags-Zeitung waren viele Frauen journalistisch tätig. Während Frauen oft über weiblich konnotierte Themen schrieben, war der Anteil weiblicher Autorinnen in den allgemeinen faktualen Sparten, so auch im Geschichtsprogramm aller hier untersuchten Zeitschriften, eher gering, aber doch vorhanden. Die Betätigung von Frauen als populäre Historikerinnen in Familienzeitschriften war begleitet und durchzogen von normativen und dichotomen Diskursen über weibliche Autorinnenschaft und geschlechtsspezifische Lektüre, die eng verbunden waren mit Debatten um weibliche Autorinnenschaft und geschlechtsspezifische Lektüre, um das Verhältnis von wissenschaftlichem und populärem
207 Vgl. Klaus, Elisabeth: »Journalist und Journalistin zugleich«, in: Ariadne 44 (2003), S. 14-21, hier S. 15. 208 Vgl. Requate (1995). 209 Vgl. Wischermann (2003); Korte/Paletschek (2013). 210 Ausnahmen finden wir in einer Sonderausgabe der Ariadne zu Frauen im Journalismus, vgl. Ariadne 44 (2003), darin besonders Duttenhöfer (2003); Klaus (2003); für das späte 18. Jahrhundert vgl. Weckel (1998); für Großbritannien vgl. Onslow, Barbara: Women of the Press in Nineteenth Century Britain, Basingstoke, New York, NY: Macmillan; St. Martin's Press 2000. 211 Barbara Duttenhöfer hat die Autorinnen der Gartenlaube-Frauenbeilage Die Welt der Frau biographisch nachverfolgt: Neben zahlreichen eher unbekannten Autorinnen schrieben einige erfolgreiche Schriftstellerinnen für die Beilage, ebenso Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung, vgl. Duttenhöfer (2003), S. 33.
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Wissen und um die Einordnung von Familienzeitschriften in Gender-Diskurse. Diese Debatten standen im späten 19. Jahrhundert und stehen in der gegenwärtigen Forschung immer vor dem Hintergrund einer bürgerlichen normativen Ordnung, welche die Gesellschaft in eine öffentliche und eine private Sphäre aufteilt.212 In Rekurs auf Jürgen Habermas’ idealtypische Einteilung der Gesellschaft in eine öffentliche und eine private Sphäre213 hat die historische Forschung in zahlreichen Untersuchungen die Öffentlichkeit als Männerraum konstituiert und das Wirken von Frauen in dieser weitgehend ignoriert. Auf diese Weise wurden Frauen des 19. Jahrhunderts auch durch die historische Forschung, die allzu oft einen normativen Diskurs unreflektiert als Beschreibung historischer Realitäten übernahm, aus der öffentlichen Sphäre verdrängt und ins Private verwiesen.214 Die Frauen- und Geschlechterforschung nutzte in den 1970er Jahren Konzepte von Öffentlichkeit und Privatheit, um Ausschlussmechanismen von Frauen aus der Öffentlichkeit zu untersuchen und weibliche Lebenswelten im Privaten sichtbar zu machen. Doch wurde seit den 1980er Jahren Kritik an diesem Analysemodell geübt, darauf hinweisend, dass es sich bei der Trennung von öffentlicher und privater Sphäre um einen normativen Diskurs handele, der die Marginalisierung von Frauen in der bürgerlichen Gesellschaft nicht erklärt, sondern erst maßgeblich bewirkt habe. Gleichzeitig wurde in einer Vielzahl empirischer Studien belegt, dass die Normen zwar eine unzweifelhafte Wirkung auf Handeln
212 Gundlegende geschichtswissenschaftliche Texte zum Konzept von Öffentlichkeit und Privatheit und der Kritik daran sind Hausen, Karin: »Öffentlichkeit und Privatheit. Gesellschaftspolitische Konstruktionen und die Geschichte der Geschlechterbeziehungen«, in: Dies. (Hg.), Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte, Frankfurt/Main: Campus 1992, S. 81-88; Hausen, Karin: »Die Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben«, in: Werner Conze (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, Stuttgart: Klett 1976, S. 363-393. Ein Überblick über die Forschung findet sich bei Weckel (1998), S. 7-12, sowie bei Opitz, Claudia: Geschlechtergeschichte, Kapitel 6: Öffentlich vs. Privat?, Frankfurt/Main: Campus 2010, S. 97-121. Allgemein zum Konzept von Privatheit und Öffentlichkeit in der feministischen Forschung vgl. Wischermann, Ulla: »Feministische Theorien zur Trennung von privat und öffentlich. Ein Blick zurück nach vorn«, in: Feministische Studien 21 (2003), S. 23-34. 213 Vgl. Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1971. 214 Vgl. Weckel (1998), S. 4-7, 23.
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und Lebensrealitäten bürgerlicher Frauen und Männer ausübten, aber dass die Grenzen zwischen beiden Bereichen außerordentlich brüchig und durchlässig waren.215 Die Einteilung in öffentlich und privat könne zudem nicht automatisch komplementär gesetzt werden mit der Einteilung in männlich und weiblich, bewegten sich doch immer auch Frauen im öffentlichen und Männer im privaten Raum.216 Heute herrscht in der Geschlechterforschung weitgehender Konsens, dass das Konzept der separierten Sphären dem Bedürfnis einer normativen Fixierung der Geschlechter im Bürgertum des 19. Jahrhunderts entsprach, aber praktisch auch in bürgerlichen Kreisen nur von äußerst begrenzter Reichweite war.217 Das Modell von Öffentlichkeit und Privatheit ist also in seinen verschiedenen Ebenen zu unterscheiden: Es wurde als Norm des bürgerlichen Zeitalters produziert, die den Geschlechtern ihren jeweiligen Raum zuweisen sollte. Als Alltagsmodell wurde die Öffentlich-Privat-Dichotomie schon im 19. Jahrhundert auf vielerlei Arten praktisch durchbrochen, allerdings nur selten als Norm reflektiert und kritisiert. Die Kritik setzte vor allem in der feministischen Theorie der 1980er Jahre ein. Es ist also immer zu differenzieren zwischen normativen Vorgaben, die beständig diskursiv wiederholt wurden, und tatsächlicher gesellschaftlicher Struktur mit konkreten Auswirkungen auf das alltägliche Handeln. Neben den beiden Ebenen der separierten Sphären als Norm und als Struktur steht eine dritte Ebene, die das Modell als Analysewerkzeug nutzt. Als solches birgt es allerdings gewisse Fallstricke: Duale Kategorien erweisen sich teilweise als sinnvoll, um Normen und Strukturen zu benennen, ihre Verwendung ist dabei aber gleichzeitig problematisch, da man ebendiese Dichotomien damit reproduziert und reifiziert. Eine Möglichkeit der produktiven Auseinandersetzung mit normativen Geschlechterdichotomien zeigt Monika Mommertz auf, indem sie die Zuordnung bestimmter gesellschaftlicher Bereiche zu Geschlechtern als geschlechtliche Markierung benennt.218 So wie Personen männlich oder weiblich gelesen wer-
215 Vgl. ebd., S. 7-12. 216 Vgl. Opitz (2010), S. 98. 217 Vgl. ebd., S. 98-101. 218 Mommertz untersucht historische Wissen(schaft)sräume und macht den Vorschlag, Geschlecht als Markierung, Ressource und Tracer zu nutzen: Als Ressource sei nach der Leistung der Kategorie Geschlecht für die gesellschaftliche und kulturelle Organisation und Wissensproduktion zu fragen. Als Tracer sei die Kategorie Geschlecht als Erkenntnismittel zur Erforschung verschiedenster historischer Kontexte einsetzbar, die über ihren Umgang mit Geschlechterdifferenz Aussagen über ihre Gesamtorganisation zuließen. Vgl. Mommertz, Monika: »Geschlecht als Markierung, Res-
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den, könnten auch Praktiken, Institutionen oder Diskurse geschlechtlich markiert sein. Eine männliche Markierung der (Geschichts-)Wissenschaft muss so nicht bedeuten, nur Männer seien als Historiker tätig gewesen, sondern dass die Geschichtswissenschaft als männlicher Raum und männliche Praxis konstruiert und wahrgenommen wurde. Eine Analyse von Geschichtskulturen muss diesen dichotomen Zuschreibungen Beachtung schenken, darf allerdings nicht dem Fehler verfallen, die Normen, die hier formuliert wurden, mit der historischen Realität gleichzusetzen – wenn auch diese durch normative Diskurse beeinflusst war. Dichotome Einteilungen von Öffentlichkeit und Privatheit, die teilweise mit Männlichkeit und Weiblichkeit komplementär gesetzt wurden, durchzogen zahlreiche Diskurse im Kaiserreich und waren sowohl in der Beurteilung von Familienzeitschriften als auch in der Geschichtskultur präsent. Populäre Geschichtsschreibung und populäre Printmedien bewegten sich zwischen verschiedenen normativen Dichotomien (öffentlich und privat, männlich und weiblich, wissenschaftlich und trivial), die sie teilweise reproduzierten, immer wieder aber auch durchbrachen. Dieses spannungsreiche Wechselverhältnis soll das folgende Kapitel auf Ebene von Produktion, Zielpublikum und Inhalt der Familienzeitschriften beleuchten. Die Zeitschriften waren primär der privaten Sphäre der Familie zugeordnet – weniger ob ihres Inhaltes, der ja durchaus öffentliche Themen umfasste, sondern aufgrund ihrer imaginierten Lesesituation. Auch wenn die Magazine zum Teil in öffentlichen Räumen auslagen, so etwa in Kaffeehäusern und Bibliotheken, so suggerierten sie doch das Idealbild, zu Hause im Kreise der Familie gelesen zu werden. Das spiegelt nicht allein die Genrebezeichnung »Familienzeitschrift«, sondern auch die Zeitschriftentitel wie etwa Daheim oder Gartenlaube – die Titel benannten den idealen Ort, an dem die Zeitschrift konsumiert werden sollte. Die Titelblatt-Illustration der Gartenlaube unterstrich dieses Ideal, indem sie eine familiäre Lesesituation im Garten abbildete (vgl. Abbildung 3). Die Familienzeitschrift erschien so als Medium, das die Familie zusammenbrachte. Da die (bürgerliche) Familie, wenngleich sie sich aus Männern wie Frauen zusammensetzte, mitnichten eine geschlechterneutrale Institution, sondern als Ort der Zwischenmenschlichkeit und Reproduktion stark weiblich markiert war, erfuhr auch die Familienzeitschrift regelmäßig weibliche Zuschreibungen. Die Familienzeitschrift befand sich somit in einer eigentümlichen Stel-
source und Tracer. Neue Nützlichkeiten einer Kategorie am Beispiel der Wissenschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit«, in: Christine Roll (Hg.), Grenzen und Grenzüberschreitungen. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung, Köln, Weimar, Wien: Böhlau-Verlag 2010, S. 573-592, hier S. 580-582.
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lung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit – durch ihre Aufmachung suggerierte sie Privatheit, gleichzeitig wies sie mit ihren Artikeln und Bildern inhaltlich in die öffentliche Sphäre hinaus. Abbildung 3:: Titelillustration Titelill der Gartenlaube
Quelle: GL 1898, Titelillustration.
Doch nicht nur wegen des Familiencharakters erfuhren die Zeitschriften ihre weibliche Markierung, sondern auch weil das Lesen fiktionaler und populärer Stoffe häufig weiblich konnotiert war – und damit auch die Familienzeitschriften, die ja insbesondere aufgrund ihrer Fortsetzungsromane so beliebt waren. So erinnerte sich eine Gartenlaube-Leserin Ende der 1920er Jahre, wie die Frauen in ihrem Umkreis – die Mutter, die Tante und die Frau des Schulmeisters – es mit jeder neuen Ausgabe der Gartenlaube kaum hätten erwarten können, den Roman der Marlitt weiterzulesen.219 Frauen waren während des 19. Jahrhunderts zu einer marktmächtigen Gruppe von Medienkonsumentinnen geworden, an die
219 Vgl. Jeus-Rothe, Wanda, Was die Gartenlaube meiner Kindheit war. Im dörflichen Pfarrhaus, in: GL 1928, S. 71.
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sich die AutorInnen fiktionaler Literatur und die HerausgeberInnen von Unterhaltungszeitschriften mehr oder weniger explizit wandten. Neben der weiblichen Markierung fiktionalen Lesens war es auch die Abgrenzung von zu viel Wissenschaftlichkeit, mit der man der weiblichen Leserinnenschaft entgegenkommen wollte. Ein Beispiel hierfür geben die Debatten über die Neue Welt auf diversen SPD-Parteitagen, in denen Inhalt und Selbstverständnis der Zeitschrift diskutiert wurden. Auf dem Parteitag 1873, der die Gründung der Neuen Welt beschloss, setzte sich die Haltung durch, auf Wissenschaftlichkeit zugunsten der angestrebten Zielgruppe zu verzichten, die, wie angenommen wurde, daran nicht interessiert sei.220 Als Zielgruppe wurden jene Kreise der ArbeiterInnenschaft genannt, die bisher keine politischen und theoretischen Organe abonniert hätten, und im Besonderen wurden hier Arbeiterinnen genannt, die man über eine Unterhaltungszeitschrift an die Bewegung binden wollte: »Das Unternehmen muß auch wesentlich auf die Frauen berechnet sein, denen wir bisher nichts haben bieten können«,221 betonte der spätere Chefredakteur Bruno Geiser auf dem Parteitag. Und auch in späteren Parteitagsdebatten, in denen die Neue Welt sich immer wieder der Kritik ausgesetzt sah, sie sei zu wissenschaftlich und vor allem literarisch zu avantgardistisch, brachten viele Abgeordnete das Argument, die Leser und vor allem Leserinnen würden mit zu schwerer Kost überfordert und abgeschreckt. Die Neue Welt müsse so gehalten werden, »wie es den geistigen Bedürfnissen der Leser, vor allem der Leserinnen entspricht«,222 um das »Fassungsvermögen der Frauenwelt« nicht durch »schwere wissenschaftliche Kost« zu verwirren.223 Ähnlich äußerte sich ein Rückblick zur Geschichte der Gartenlaube, der Textverständnis einerseits mit Klassenzugehörigkeit verknüpfte, andererseits mit Geschlecht: Die Artikel der Zeitschrift sollten »so geschrieben sein, ›daß sie die gewöhnlichsten Handwerker, besonders aber die Frauen verstehen könnten‹.«224 In diesen Überlegungen sieht man die Verflechtungen von Geschlecht, Klasse, Bildungsstand und Lektüre.225 Es wird zu-
220 Vgl. Protokoll über den fünften Kongreß der sozialdemokratischen Arbeiterpartei zu Eisenach vom 23. bis 27. August 1873, Leipzig 1873, S. 43f. 221 Ebd. 222 Protokoll der SPD (1896), S. 78. 223 Protokoll der SPD (1893), S. 134. 224 Proelß, Johannes, Zur Geschichte der Gartenlaube, in: GL 1902, S. 14. 225 Zur Intersektion von Gender und Genre in der Historiographie vgl. Maitzen, Rohan Amanda: Gender, Genre, and Victorian Historical Writing, New York, London: Garland 1998; Reusch, Nina/Lechner, Doris: »Klio in neuen Kleidern. Geschichte in
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gleich deutlich, dass sich Familienzeitschriften um ihr weibliches und ungebildetes Publikum bemühten. Die weibliche Markierung von Familienzeitschriften und ›unwissenschaftlicher‹ Unterhaltung ist allerdings nicht absolut für die Diskurse über Familienzeitschriften zu sehen. Gerade der Bildungsteil der Zeitschriften, zu dem auch die Geschichtsartikel gehörten, zeichnete sich durch einen wissenschaftsaffinen Zugang aus und wurde zum Teil von renommierten Wissenschaftlern verfasst, die sich wahrscheinlich vehement dagegen ausgesprochen hätten, ihre populären Arbeiten weiblich zu markieren oder nur für Frauen zu schreiben. Das Beispiel der Zeitschriften zeigt, dass Dichotomien, seien sie nun auf Geschlecht, Öffentlichkeit/Privatheit oder Wissenschaftlichkeit/Unterhaltung bezogen, zwar die Diskurse um Familienzeitschriften durchzogen, jedoch in der Praxis äußerst brüchig waren. Während bisher die vergeschlechtlichten gesellschaftlichen Strukturen analysiert wurden, die die Rahmenbedingungen für die Geschichtsschreibung in Familienzeitschriften stellten, sollen im nächsten Schritt die Geschichtsartikel selbst auf ihren impliziten und expliziten Umgang mit der Kategorie Geschlecht hin untersucht werden. Dies geschieht nach einem quantitativen Überblick am Beispiel von Biographien wie von Alltags- und Sozialgeschichte. Männer und Frauen als historische AkteurInnen in Familienzeitschriften Produktion und Rezeption populärer Geschichte in Familienzeitschriften, das hat die vorangegangene Untersuchung gezeigt, waren in Normen, Praxen und Strukturen einer bürgerlichen Geschlechterordnung eingebettet, boten aber auch Möglichkeiten, diese Ordnung punktuell zu durchbrechen. Das Spannungsverhältnis der Reproduktion von und des Bruchs mit bürgerlichen Geschlechternormen zeigte sich auch in der inhaltlichen Auseinandersetzung (oder auch gerade der fehlenden Auseinandersetzung) mit der Kategorie Geschlecht in Geschichtsartikeln. Traten Frauen in den Zeitschriften als historische Akteurinnen auf und wurden ihre Lebenswelten thematisiert? Insbesondere politische Geschichte sowie Ideen- und Wissenschaftsgeschichte thematisierten zu großen Teilen männliche Handlungsräume. Über die Hälfte aller historischen Darstellungen bezogen sich allein oder hauptsächlich auf männliche Handlungsträger und männlich markier-
Familienzeitschriften des 19. Jahrhunderts im deutsch-britischen Vergleich«, in: Cheauré et al. (2013), S. 83-104.
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te Räume (vgl. Diagramm 7). Weibliche Lebenswelten und Akteurinnen standen in 3,1% (Neue Welt) bis 6,2% (Daheim) der Artikel im Fokus der Darstellung – eine Ausnahme machte die Frauenzeitschrift Sonntags-Zeitung, die in 9,3% ihrer Artikel Frauengeschichte schrieb. Diagramm 7: Geschlecht historischer AkteurInnen in Familienzeitschriften 1890-1913 100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% alle ZS Männlich
GL
Weiblich
DA
ANW
Beide Geschlechter/Nicht markiert
NW
SZ Nicht personalisiert
Quelle: DGFZ.
Neben Darstellungen, die Frauen als historische Akteurinnen in den Blick nahmen oder sehr eindeutig lediglich auf Männer oder männliche Handlungsräume fokussierten, gab es solche Artikel, die entweder in individualisierter Form sowohl Frauen als auch Männer als historische AkteurInnen benannten, oder aber Kollektivgruppen behandelten, die – zumindest theoretisch – beide Geschlechter umfassten. In vielen dieser Artikel war Geschlecht eher implizite als explizite Kategorie der Darstellung – das heißt, vielfach wurde weder das Geschlecht der jeweiligen historischen AkteurInnen noch die Geschlechterverhältnisse, innerhalb derer diese sich bewegten, benannt oder gar reflektiert. Bei Gartenlaube, Alter und Neuer Welt und Sonntags-Zeitung lag diese beidgeschlechtliche beziehungsweise geschlechtlich nicht markierte Geschichte bei ca. einem Drittel der Gesamtdarstellungen, Ausfälle nach oben und unten dieses Durchschnitts machten die Neue Welt mit zwei Fünfteln und das Daheim mit einem Viertel geschlechterübergreifender Darstellungen.
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Gab es eine geschlechtsspezifische Ausrichtung von Themen auf ein jeweiliges imaginiertes Publikum? War Frauengeschichte spezifisch an Frauen gerichtet, während sich die »harten« Themen der Politikgeschichte eher an Männer richteten? Folgt man den Leitgedanken, die historischer Schulbildung für Mädchen zugrunde lagen, so sollten Mädchen einen anderen Geschichtsunterricht erhalten als Jungen, einen Unterricht, der weniger auf Chronologie, Politik und Jahreszahlen ausgerichtet sei, sondern den Schülerinnen im Sinne einer historia magistra vitae gute und schlechte Beispiele aus der Geschichte vorführen und sich stärker an kulturhistorischen und biographischen Themen orientieren solle.226 So (re-)produzierten Geschichtsbücher eine geschlechtsspezifische Aufteilung von Geschichte, die Kulturgeschichte der Mädchen- und Chronologie und Politikgeschichte der Jungenbildung zuordneten. Die Frage, ob sich solche Muster auch in Familienzeitschriften spiegelten, lässt sich durch einen Vergleich zwischen der Frauenzeitschrift SonntagsZeitung und den anderen Familienzeitschriften beantworten, die sich an ein gemischtgeschlechtliches Publikum richteten. Das Geschichtsprogramm der Sonntags-Zeitung unterschied sich nur geringfügig von dem der anderen Zeitschriften. Der größte Unterschied lag darin, dass die Sonntags-Zeitung einen deutlich größeren Schwerpunkt auf Frauengeschichte legte als die anderen Zeitschriften. Doch im Verhältnis von Kultur- und Politikgeschichte glichen alle Zeitschriften einander – was gegen die Vorstellung einer geschlechtsspezifischen Zielgruppenorientierung spricht. Aufschluss über die Frage, welche Form der Geschichte spezifisch für Frauen geschrieben wurde, geben zudem die Frauenrubriken der Familienzeitschriften, Die Welt der Frau in der Gartenlaube, die Rubrik Für die Frauen und Kinder in der Alten und Neuen Welt und das Frauen-Daheim im Daheim. Hier fanden sich Frauenbiographien und kulturhistorische Darstellungen von Lebensmitteln, Hausarbeit und Schmuck – mithin die üblichen ›weiblich‹ konnotierten historischen Themen. Die verschiedenen Formen der Geschichte im Hauptteil der Zeitschriften richteten sich allerdings genauso an weibliche wie an männliche LeserInnen. Die Redaktionen, die, wie wir oben gesehen haben, um ihr weibliches Publikum bemüht waren, gingen mithin von einem Interesse beider Geschlechter an Politikgeschichte, an großen Männern, an Wissenschafts- und Technikgeschichte genauso aus wie von einem Interesse des gesamten Publikums an großen historischen Frauen, weiblichem Alltag und Kulturgeschichte, verlegten aber diese Themen auch gern in die Frauenbeilagen.
226 Vgl. Nissen, Martin: »Geschichte für junge Frauen. Die Vermittlung historischer Bildung in Schulgeschichtsbüchern für das höhere Mädchenschulwesen«, in: Cheauré et al. (2013), S. 39-58, hier S. 48f.
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Am Beispiel der Geschichte ›großer‹ Männer und Frauen soll nun untersucht werden, welche Formen der Männlichkeit und Weiblichkeit historisch dargestellt wurden, aber auch, inwiefern sich die normative Setzung von Öffentlichkeit und Privatheit in den Zeitschriften niederschlug und welche Verbindungen sie mit Geschlechterdualismen einging. Historische Biographien zwischen Öffentlichkeit und Privatheit Noch in der Aufklärungshistorie des 18. Jahrhunderts war Frauengeschichte ein Thema auch etablierter Geschichtsschreiber gewesen,227 doch wurde sie im Laufe des 19. Jahrhundert allmählich aus dem historiographischen Themenkanon hinausgedrängt. Der auf männlich konnotierte Themen ausgerichtete historistische Kanon widmete sich Staaten, Kriegen und Herrschern, mächtigen Institutionen und großen Ideen – Frauen hatten in dieser stark auf öffentliche Institutionen ausgerichteten Geschichtsschreibung nur wenig Raum als historische Akteurinnen. Die wenigen männlichen Historiker, die Frauengeschichte betrieben, hatten innerhalb der Scientific Community in der Regel einen Außenseiterstatus, so etwa der Kulturhistoriker Johannes Scherr, der 1860 eine »Geschichte der deutschen Frauen«228 veröffentlichte. Doch außerhalb der Universitäten entwickelten sich frauengeschichtliche Ansätze in verschiedenen Bereichen, so zum Beispiel in biographischen Zugängen. Insbesondere die bürgerliche Frauenbewegung nutzte das Beispiel exzeptioneller Frauen als positives Vorbild für Zeitgenossinnen.229 Auch Familienzeitschriften verhandelten in historischen Biographien ideale Entwürfe von Weiblichkeit und Männlichkeit und die Möglichkeiten und Grenzen des Handelns historischer Frauen. Porträtiert wurden berühmte, aber zuweilen auch unbekannte oder »vergessene« historische Persönlichkeiten, die ob ihrer Leistungen auf dem Gebiet von Politik, Militär, Bildung oder Kunst als historische Vorbilder taugten. Der Schwerpunkt der Frauenbiographien lag dabei bei Herrscherinnen, gebildeten Frauen und Dichterinnen sowie bei Ehefrauen und Müttern berühmter Männer. Im Folgenden soll anhand von Biographien die Verhandlung von Geschlecht im Zusammenhang mit Öffentlichkeit und Privatheit untersucht werden; der Schwerpunkt liegt bei Frauenbiographien, doch soll auch immer wieder der Vergleich zur Männerbiographik gezogen werden.
227 Vgl. Stollberg-Rillinger, Barbara: »Väter der Frauengeschichte? Das Geschlecht als historiographische Kategorie im 18. und 19. Jahrhundert«, in: Historische Zeitschrift 262 (1996), S. 39-71. 228 Scherr, Johannes: Geschichte der deutschen Frauen, Leipzig: Wigand 1860. 229 Vgl. Korte/Paletschek (2013), S. 111-113, 125-127.
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Geschlecht in politischen und militärischen Biographien Ein enger Zusammenhang von öffentlicher Rolle und privatem Leben, von Politik und Familie zeigt sich sehr deutlich am Beispiel von Biographien berühmter Königinnen. Die Biographien der preußischen Königin Luise230 und der französischen Königin Marie Antoinette231 zeichneten sich durch eine enge Verknüpfung von Politik und Privatheit aus, sie waren regelrechte Alltagsgeschichten des Hoflebens.232 Die Biographien zeigten die Königinnen als private wie öffentliche Personen und machten die Verknüpfung beider Bereiche deutlich, die keine Widersprüche darstellten – vielmehr zeigte sich der Charakter der Herrscherinnen in beiden Bereichen gleichermaßen. So beschrieb Friedrich Erdmann Luise in der Sonntags-Zeitung als treue und hingebungsvolle Lebensgefährtin ihres Gatten, als aufopferungsvolle Mutter und als geliebte Fürstin, die aus Trauer um das Geschick ihrer Familie wie ihres Volkes gestorben sei.233 Gerade das Opfernarrativ funktionierte im Falle Luises als Klammer, die beide Seiten zusammenhielt. Indem die Herrscherin als Opfer und Märtyrerin erschien, agierte sie auch in ihrer politischen Rolle noch innerhalb eines idealen weiblichen Aktionsrahmens. Ebenso konnte durch die Stilisierung Luises zur Mutter der Nation das weibliche Mutterideal auf ihre politische Tätigkeit übertragen werden, so dass beide Rollen miteinander im Einklang standen.234
230 Vgl. Weber, Adelheid, Königin Luise von Preußen, in: GL 1910, S. 595-598; Erdmann, Friedrich, Königin Luise, in: SZ 1904/05, S. 64; Habel, Theodor, Am Hofe der Königin Luise. Ein Erinnerungsblatt zu ihrem 100. Todestage, in: SZ 1909/10, S. 1029-1033. Die Erinnerung an Königin Luise wurde von Birte Förster untersucht, die unter anderem der Konstruktion des Luisenmythos in der Gartenlaube nachgeht, vgl. Förster, Birte: Der Königin Luise-Mythos. Mediengeschichte des »Idealbilds deutscher Weiblichkeit« 1860-1960, Göttingen: V & R Unipress 2011, zur Gartenlaube darin S. 55-62. 231 Vgl. Steineck, Erich, Marie Antoinette, Königin von Frankreich, in den Tagen des Unglücks, in: SZ 1904/05, S. 448-452; Pantenius, Theodor H., Der Untergang Marie Antoinettens, in: DA 1894, S. 28-30. 232 Vgl. Habel, Theodor, Am Hofe der Königin Luise. Ein Erinnerungsblatt zu ihrem 100. Todestage, in: SZ 1909/10, S. 1029-1031; Le Fort, Gertrud, Marie Antoinette, Königin von Frankreich, in den Tagen des Glückes, in: SZ 1904/05, S. 272-273; Engel, Wolfgang, Königin Sophie Charlotte, die Begründerin Charlottenburgs. Zu ihrem 200-jährigen Todestage, in: SZ 1904/05, S. 349-350. 233 Vgl. Erdmann, Friedrich, Königin Luise, in: SZ 1904/05, S. 64. 234 Vgl. Planert, Ute: »Vater Staat und Mutter Germania. Zur Politisierung des weiblichen Geschlechts im 19. und 20. Jahrhundert«, in: Dies. (Hg.), Nation, Politik und
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Die Verknüpfung der privaten und der öffentlichen Person in biographischen Texten war kein reines Spezifikum weiblicher Biographien, sondern durchzog auch die Portraits berühmter Männer. In vielen Lebensgeschichten von Politikern, hohen Klerikern oder Revolutionären stand zwar die Politik und die Kriegsgeschichte im Mittelpunkt der Biographie,235 doch auch hier gingen die AutorInnen mal mehr, mal weniger ausführlich auf das Privatleben der historischen Figuren ein. Kindheit und Jugendzeit wurden immer wieder als charakterformende Lebensabschnitte beschrieben und das Alltagsleben und persönliche Vorlieben, etwa bezüglich Essen oder Lektüre, fanden Erwähnung.236 Einige Artikel nahmen ausführlich Bezug auf das Liebes- und Eheleben.237 Das Privatleben großer historischer Persönlichkeiten egal welchen Geschlechts war ein Spe-
Geschlecht. Frauenbewegungen und Nationalismus in der Moderne, Frankfurt/Main: Campus 2000, S. 15-95, hier S. 40; Förster, Birte: »Das Leiden der Königin als Überwindung der Niederlage. Zur Darstellung von Flucht und Exil Luise von Preußens von 1870/71 bis 1933«, in: Horst Carl (Hg.), Kriegsniederlagen. Erfahrungen und Erinnerungen, Berlin: Akad.-Verlag 2004, S. 299-312, hier S. 303-305. 235 Vgl. Heyck, Eduard, Washington. Zur hundertjährigen Wiederkehr seines Todestages, in: DA 1900, S. 150-152, 174-175; Kurs, A., Ernst Moritz Arndt, in: GL 1910, S. 83-85; Bauer, Heinrich, Joseph Fouché. Ein politischer Abenteurer, in: GL 1905, S. 976-979; Habel, Theodor, Kardinal Richelieu, Frankreichs größter Staatsmann, in: SZ 1907/08, S. 749-753; Conrady, Alexander, Johann Gottfried Seume, in: NW 1910, S. 189-191; Meier, Gabriel, Papst Gregor der Große. Zum dreizehnten Zentarium seines Todes, in: ANW 1904, S. 742-744. 236 Vgl. Peschel, Emil, Zu Theodor Körners hundertjährigem Geburtstag, in: GL 1891, S. 637-640; Holzhausen, Paul, Napoleons Frühstück, in: GL 1895, S. 418-419; Matthäi, Herbert, König Friedrich Wilhelm IV., der Romantiker auf dem Throne, in: SZ 1906/07, S. 353-358; Steingruber, Martin, Napoleon I. Zur 100jährigen Wiederkehr der Wahl Napoleons I. zum Kaiser der Franzosen, in: SZ 1903/04, S. 581-587. 237 Vgl. Artaria, Rosalie, Das Ehe-Idyll Eugens von Beauharnais, in: GL 1896, S. 541-543; Zieler, Gustav, Aus Moltkes Herzensleben. Ein Gedenkblatt, in: SZ 1900, S. 24-25; Halden, Fritz, Persönliches aus Schillers Leben, in: SZ 1904/05, S. 186-590; Halden, Fritz, Friedrich der Große und die Frauen. Ernste und heitere Kapitel aus dem Leben des großen Königs, in: SZ 1911/12, S. 442-448; Hartmann, E., Aus Wielands Herzensleben. Zur hundertsten Wiederkehr seines Todestages, in: SZ 1912/13, S. 418-421; Höffner, Johannes, Schillers Häuslichkeit, in: DA 1910, Nr. 6, S. 16-17. Das Liebesleben der großen historischen Gestalten war in der Gartenlaube, der Sonntags-Zeitung und dem Daheim stark präsent, weniger in der Alten und Neuen Welt und der Neuen Welt.
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zifikum populärer Geschichte, die auf individuellen Schicksalen aufbaute, auf Identifikationsmöglichkeiten der LeserInnen mit historischen Figuren. Einblicke in deren Tischsitten, ihr Familienleben, ihre private Lektüre und ihre Jugendjahre machte sie menschlicher, rückte sie näher an die LeserInnen heran. Ein Beispiel für die wichtige Funktion von Privatheit und Familie für die Formung eines Heldencharakters sind die Darstellungen des Tiroler Helden aus den Befreiungskriegen Andreas Hofer, der 1809 als Anführer eines Bauernaufstandes gegen die französische und bayerische Besatzung Tirols gekämpft hatte und 1810 exekutiert worden war.238 Hofer war der Prototyp eines bäuerlichpatriotischen Helden, dessen zentrale Motivation bei aller Tapferkeit doch die Pflichterfüllung und die Treue zum Herrscherhaus gewesen sei. Die biographischen Texte betonten durch alle Zeitschriften hindurch die Einfachheit der Bauern: Hofer sei ein »schlichter Landmann und Wirt« gewesen, »frei von jeder Heldenpose«.239 Die immense Bedeutung der Familie als durch den Krieg auseinandergerissener Gemeinschaft, vor allem aber als Kulisse für den bäuerlich-patriotischen Heroismus zeigt sich vor allem in den Illustrationen, die Hofers Abschied von Frau und Kind darstellten. Ein berühmtes Historiengemälde des Malers Carl von Blaas wurde gleich von drei Zeitschriften reproduziert.240 Es zeigt Hofer, wie er vor seinem Haus und vor den Augen seiner Familie von zwei Soldaten gefesselt wird, während weitere Soldaten seinen jungen Gehilfen abführen (vgl. Abbildung 4). Hofers Frau kniet am Boden, sein Sohn schaut entsetzt auf die Szenerie, er selbst jedoch steht aufrecht und erträgt sein Schicksal mit Tapferkeit und Würde. Der Text in der Alten und Neuen Welt ließ ihn noch heroischer auftreten:
238 Zur Erinnerung an Hofer vgl. Kern, Florian: Der Mythos Anno Neun. Andreas Hofer und der Tiroler Volksaufstand von 1809 im Spiegel der Geschichtsschreibung (1810-2005), Frankfurt/Main u.a.: Lang 2010; Holzner, Johann: Triumph der Provinz. Geschichte und Geschichten 1809-2009, Innsbruck: Innsbruck Univ. Press 2012. 239 Pohl, Robert, »Zu Mantua in Banden…«. Ein Erinnerungsblatt zu Andreas Hofers Todestage, in: GL 1910, S. 127; vgl. Anonym, Andreas Hofer, in: ANW 1893, S. 270. 240 Andreas Hofers Gefangennahme. Nach einem Gemälde von C. von Blaas. Illustration zu: Anonym, Andreas Hofer, in: ANW 1893, S. 273; Andreas Hofers Gefangennahme. Nach dem Gemälde von C. von Blaas, in: DA 1891, S. 213; Andreas Hofers Gefangennahme. Nach dem Gemälde von C. von Blaas, in: NW 1895, S. 237.
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»›Ich bin Andreas Hofer‹, rief der unerschrockene Sandwirt dem Truppenführer zu. ›Mit mir thun Sie, was Sie wollen, ich bin schuldig. Für mein Weib und mein Kind und den jungen Menschen da (den Schreiber Döllinger nämlich) bitte ich jedoch um Gnade; denn sie sind wahrhaft unschuldig.‹«241
Abbildung 4 und 5: Gefangennahme Andreas Hofers
Quelle: Bild rechts: Andreas Hofers Gefangennahme. Nach dem Gemälde von C. von Blaas, in: DA 1891, S. 213; Bild links: Andreas Hofers Abschied von Frau und Kind. Nach einem Gemälde von F. von Defregger, in: SZ 1909/10, S. 1101.
Auch ein Gemälde Franz von Defreggers griff die Thematik der Verhaftung und des Abschieds auf. Hofer wird hier in seinem Haus festgenommen und hat noch einen letzten Abschiedsmoment mit Frau und Kind, während in der Tür die Soldaten auf ihn warten. Die Charakterisierung der Figuren ist hier jedoch die gleiche: Hofer, aufrecht und gefasst, tröstet im Moment seiner Verhaftung noch seine weinende Frau und sein erschrockenes Kind (vgl. Abbildung 5).242 Die Bilder erzählen von Pflichterfüllung und Tapferkeit – der bäuerliche Held bleibt als Verteidiger seiner Familien und seines Vaterlands noch im Abschied gefasst und findet Kraft, seine Familie zu trösten.243
241 Anonym, Andreas Hofer, in: ANW 1893, S. 276. 242 Vgl. Andreas Hofers Abschied von Frau und Kind. Nach einem Gemälde von F. von Defregger, in: SZ 1909/10, S. 1101. 243 Zum Bildmotiv des sich von der Familie verabschiedenden Soldaten vgl. Becker (2001a), S. 389-392.
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Andere militärische Helden der Befreiungskriege wurden stärker in ihrem öffentlichen, politischen und militärischen Leben dargestellt; die Thematisierung des privaten Lebens war eher Ausnahme, wie etwa im Falle Theodor Körners, der nicht nur ein militärischer, sondern auch ein äußerst bürgerlicher Held war.244 In der Regel fokussierten Artikel auf die militärischen Leistungen der Kämpfer, und auf damit korrespondierende Charaktereigenschaften wie Wagemut und Tapferkeit.245 Ferdinand von Schill246 etwa war eine typische Figur militärischen Ideals. A. Kurs beschrieb ihn in der Gartenlaube 1909 als ungestümen und kühnen Heißsporn mit »glühende[r] Begeisterung«, ebenso »glühende[m] Franzosenhaß« und Hang zum eigenmächtigen Handeln.247 Er ging dabei durchaus nicht unkritisch mit Schill zu Gericht: Seine »Mißachtung jeder militärischen Disziplin« habe ihn bis zur »Unbesonnenheit« getrieben; doch letztlich war es eben dieser ungestüme Wagemut, der »einen Glorienschein um die Gestalt des kühnen Husaren wob« und vom Autor idealisiert wurde.248 Die visuellen Darstellungen von Schill entsprachen dem militärisch-heroischen Bild: Stets in Uniform dargestellt, sehen wir Schill und seine Offiziere im Schlachtengeschehen,249 den
244 Vgl. zur Konstruktion bürgerlicher und militärischer Männlichkeit am Beispiel Theodor Körners: Schilling, René: »Die soziale Konstruktion heroischer Männlichkeit im 19. Jahrhundert. Das Beispiel Theodor Körner«, in: Karen Hagemann (Hg.), Landsknechte, Soldatenfrauen und Nationalkrieger. Militär, Krieg und Geschlechterordnung im historischen Wandel, Frankfurt/Main: Campus 1998, S. 121-144. 245 Zum Komplex von Militär und Männlichkeit vgl. insbesondere Hagemann, Karen: »Mannlicher Muth und teutsche Ehre«. Nation, Militär und Geschlecht zur Zeit der antinapoleonischen Kriege Preußens, Paderborn u.a.: Schöningh 2002; Hagemann (1998); Frevert, Ute: Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart: Klett-Cotta 1997. 246 Vgl. zur Schill-Rezeption in Text und Bild Eisenlöffel, Lars: »Ferdinand von Schill. Bild und Tod eines romantischen Helden«, in: Veit Veltzke (Hg.), Für die Freiheit – gegen Napoleon. Ferdinand von Schill, Preußen und die deutsche Nation, Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2009, S. 233-244; Kandil, M. M.: »Schill und seine elf Offiziere. Rezeptionsbeispiele aus Vormärz und Kaiserzeit«, in: Veltzke (2009), S. 269286. 247 Vgl. Kurs, A., Ferdinand von Schill, in: GL 1909, S. 439f. 248 Ebd. 249 Vgl. Schills letzte Heldentat. Illustration zu: ebd. S. 439.
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Heldentod sterbend,250 oder gemeinsam mit ihren Männern in soldatischer Gemeinschaft.251 Der Fokus auf Politik und Krieg, der das private Leben der historischen Helden in den Hintergrund rückte oder überhaupt nicht thematisierte, fand sich häufig in Biographien von Männern, aber auch manche Frauen wurden ausschließlich in ihrer ›öffentlichen‹, politischen Funktion porträtiert. Die Biographie der englischen Königin Elisabeth zum Beispiel porträtierte sie und ihre Konkurrentinnen um den Thron, Maria I. von England und Maria Stuart, als machtbewusste Politikerinnen, deren Familien- und Eheleben nur zur Sprache kam, wo es mit den politischen Entwicklungen in Zusammenhang stand.252 Auch die Biographien der Sozialistin und Frauenrechtlerin Flora Tristan 253 oder der Revolutionärin Théroigne de Méricourt254 handelten von Politisierung und dem Ausbruch aus weiblichen Vorgaben, und nicht vom Eheleben der Frauen. Liebesgeschichten sucht man hier vergebens, wenn auch in diesen politischen Biographien der weibliche Liebreiz der Kämpferinnen stets betont wurde. Die in Männerkleidung kämpfenden Frauen in der Geschichte, die prominentesten darunter Jeanne d’Arc255 und Eleonore Prochaska,256 wurden in ihrer militärischen Leistung und
250 Vgl. Schills Tod. Litographie von Friedrich Hohe. Illustration zu: ebd., S. 440. 251 Vgl. In Schills Lager. Illustration zu: ebd, S. 441; Major von Schill gibt seinen Husaren ein Frühstück im April 1809. Illustration zu: ebd., S. 440. 252 Vgl. Habel, Theodor, Königin Elisabeth von England und ihre Zeit, in: SZ 1909/10, S. 936-942. Deutlich vergeschlechtlichter zeichnete Heinrich Bauer Königin Elisabeth in einem Artikel über ihren Geliebten Walter Raleigh. Der Autor betonte Elisabeths Geschlecht beständig: sie wolle »als Königin und Weib zugleich« angebetet werden – dies beurteilt er negativ, offensichtlich sollte sich die Königin für eine der beiden Rollen entscheiden. Dass sie beide eingenommen habe, sei in der Verweiblichung ihres Geliebten resultiert. Vgl. Bauer, Heinrich, Höfling, Seeheld und Märtyrer. Walter Raleigh, in: GL 1903, S. 388-392. 253 Vgl. Conrady, Alexander, Eine Vorkämpferin für die Ideen des Sozialismus, in: NW 1910, S. 138-141. 254 Vgl. Feldmann, Siegmund, Eine Frauenrechtlerin der Revolution, in: GL 1913, S. 1101-1103. 255 Vgl. Hahn, A., Die historische Jungfrau von Orleans, in: ANW 1909, S. 625-631, 657-662. Zur Erinnerung an Jeanne d’Arc vgl. Krumeich, Gerd: Jeanne dʼArc in der Geschichte. Historiographie – Politik – Kultur, Sigmaringen: Thorbecke 1989; Himmel, Stephanie: Von der »Bonne Lorraine« zum globalen »Magical Girl«. Die mediale Inszenierung des Jeanne dʼArc-Mythos in populären Erinnerungskulturen, Göttingen: V&R Unipress 2007.
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ihrem Mut erinnert – Leistungen, die umso größer schienen, weil sie weiblichen Geschlechts waren. Geschlecht in bürgerlichen und künstlerischen Biographien Dass Männlichkeiten wie Weiblichkeiten in ihren Idealen eng mit sozialer Herkunft, mit ständischen und Klassenverhältnissen zusammengingen, zeigt ein Vergleich der politischen Biographien mit Lebensgeschichten bürgerlicher Frauen und Männer, die oft auf Bildung und künstlerisches Schaffen fokussierten. Diese Biographien hatten einen weitaus größeren Fokus auf das private Leben und die Familienverhältnisse der historischen AkteurInnen als die Biographien politischer und militärischer Größen. In den Biographien gebildeter und künstlerisch tätiger Frauen wie Bettina von Arnim,257 Anette von Droste-Hülshoff,258 Madame de Staёl,259 Anna Amalia,260 oder den unbekannteren Dichterinnen Sidonie Hedwig Zäunemannin261 oder Agnes Franz262 stand häufig der Konflikt zwischen traditionellen weiblichen Rollen und dem Lebensweg der portraitierten Frauen im Vordergrund, und ihre Möglichkeiten und Grenzen als Frauen in einer männlich dominierten Welt. Ihre Bildung gab ihnen die Möglichkeit, aus der engen Welt weiblicher Räume auszubrechen. Doch sie stand nicht im Widerspruch zu Ehe, Mutterschaft und spezifisch weiblichen Tugenden – vielmehr ließen sich diese mit der Bildung in Einklang bringen und ergänzten sie. Die bürgerlichen Biographien verflochten das Geschlecht der AkteurInnen zudem meist eng mit den Kategorien Alter bzw. Generation und Familienstand und charakterisierten
256 Vgl. Heubes, Eleonore Prochaskas Heldentod, in: SZ 1912/13, S. 1199; vgl. zu kämpfenden Frauen auch: Stürmer, A., Die Amazonen in Sage, Dichtung und Geschichte, in: SZ 1910/11, S. 413-415; Anonym, Die Frauen und die Weltgeschichte, in: ANW 1907, S. 525; Bauer, Max, Frauen als Soldaten, in: SZ 1900/01, S. 408. 257 Wittich, Manfred, Eine Staatssozialistin, in: NW 1895, S. 101-103. 258 Schmitt, Victor/Wiest, Sally, Die Sängerin der Heimatliebe. Ein Besuch der Heimstätten Anettens von Droste-Hülshoff, in: GL 1897, S. 28-31. 259 Schönemann, Walther, Madame de Stael. Ein Lebensbild aus der Vorbereitungszeit der Befreiungskriege, in: SZ 1910/11, S. 1103-1106. 260 Höffner, Johannes, Anna Amalia, in: DA 1907, Nr. 27, S. 9-10. 261 Gottschall, Rudolf, Eine Dichterin zu Pferde, in: GL 1892, S. 591. 262 Höcker, Gustav, Eine vergessene Dichterin und ihr unvergessener Freund, in: DA 1906, Nr. 35, S. 14-15.
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sie über ihre familiäre Rolle als Mutter, Ehefrau oder eben auch »alternde[s] Mädchen«.263 Generation und Familienstand waren auch zentrale Kategorien in den Porträts von Müttern, Geliebten, Ehefrauen, oder Töchtern ›großer‹ Männer. Es waren in der Regel äußerst berühmte Männer wie Goethe und Schiller, Napoleon oder Theodor Körner, deren Frauen biographiert wurden, und die auf diese Weise selbst noch einmal in einem anderen Licht betrachtet werden konnten. Die Frauen waren nicht durch ihr eigenes Tun bekannt, sondern durch ihre Söhne oder Ehemänner, und wurden zum Großteil auf ihre Beziehung zum jeweils berühmten Mann reduziert. So wurde die Mutter Goethes in verschiedenen Texten als mütterliches Vorbild per se gezeichnet. Sie sei das »Ideal einer deutschen Hausfrau«264 wie auch das »Ideal einer im Beglücken des Sohnes glückseligen Mutter«.265 Als ideale Mütter waren auch die Mütter Schillers,266 Körners267 und Napoleons268 gezeichnet. Die Biographien betonen immer wieder deren weibliche Tugenden, ihre Aufopferung für die Familie und ihre Qualitäten als Haushälterinnen und Erzieherinnen. Wie die Mütter berühmter Männer als mütterliche Idealbilder schlechthin erschienen, so waren auch deren Geliebte und Ehefrauen ideale Dichtermusen und Bereitstellerinnen häuslichen Glücks. Noch weniger als die Mütter waren diese Frauen als eigenständige historische Akteurinnen dargestellt, sondern waren immer in Bezug auf ihren berühmten Mann oder Geliebten charakterisiert, hatten außerhalb dieser Liebe kein oder zumindest kein nennenswertes Leben. Bestes Beispiel hierfür ist die elsässische Pfarrerstochter Friederike Brion, die Jugendliebe Goethes, die er nach kurzer, stürmischer Annäherung und quasioffizieller Verlobung wieder verließ. Hugo Handwerck beschrieb sie im Daheim nicht nur als ideale Muse, die den großen Dichter zu einigen seiner innigsten Liebesge-
263 Schmitt, Victor/Wiest, Sally, Die Sängerin der Heimatliebe. Ein Besuch der Heimstätten Anettens von Droste-Hülshoff, in: GL 1897, S. 30. 264 Heilborn, Adolf, »Frau Rat« als Hausfrau, in: GL 1908, S. 777f. 265 Proelß, Johannes, Frau Ajas »Frohnatur«. Goethes Mutter nach neueren Quellen, in: GL 1892, S. 106, vgl. auch Höffner, Johannes, Frau Aja. Zum 100. Todestage von Goethes Mutter, in: DA 1908, Nr. 50, S. 9-12; Höffner, Johannes, Die Samstagsmädel der Frau Rat, in: DA 1911, Nr. 35, S. 23; S. 775-779. 266 Vgl. Kinze, F., Schillers Mutter, in: SZ 1901, S. 580-583; Stark, Gerta von, Frauengestalten aus Schillers Leben, in: SZ 1904/05, S. 579-585. 267 Vgl. Kohut, Adolf, Die Mutter Theodor Körners, in: SZ 1902/03, S. 96-98. 268 Vgl. Pantenius, Theodor Hermann, Die Frau Mutter, in: DA 1894, S. 102-105; Kohut, Adolf, Die Mutter Napoleons I., in: SZ 1901/02, S. 784-786.
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dichte inspiriert habe (die im Text gleichsam als Beweisführung abgedruckt waren), sondern auch als tragische Gestalt, die »das kurze Glück seiner Liebe aber mit dem Glück [ihres] Lebens bezahlt hatte«,269 habe sie sich doch nach der kurzen Liaison mit Goethe nicht verheiratet, sondern ihr Erwachsenenleben der Erziehung ihrer verwaisten Nichte gewidmet. Ähnlich dramatisch verglich Jeannot Emil Grotthuß, ebenfalls im Daheim, das Schicksal der tragisch Liebenden mit einer Blume, mit der Goethe sein Leben geschmückt habe, und die »welken mußte um seinetwillen«.270 Beide Autoren widmeten sich ausgiebig der Ehrrettung Brions und bemühten sich nachzuweisen, dass sie trotz vielerlei Gerüchten keine sexuelle Beziehung zu Goethe gepflegt habe, dass ihr »kein Gretchenschicksal« gedroht habe, sondern ihr Bild »rein« geblieben sei.271 Bodenständiger und beständiger wurde Charlotte Schiller in ihrer Beziehung zu ihrem Mann dargestellt. Sie wurde eingeführt als eine Frau, die »ihr ganzes Dasein mit all ihren Kräften in den Dienst des Gatten gestellt«272 habe und bei deren liebevollem und ruhigem Wesen der von Schicksal und Krankheit geschlagene Schiller dauerhaftes häusliches Glück habe finden können.273 Diese Aussagen über Charlotte Schiller waren auch immer Aussagen über Friedrich Schiller, sie implizierten einen getriebenen Charakter des Dichters, der einen solchen Pol in seinem Leben gebraucht habe, um inneren Frieden zu finden. Der Privatmann und Familienmensch Schiller war eine wichtige Figur in den Zeitschriften.274 Jakob Wychgram zeichnete ihn im Daheim als Wanderer, der
269 Handwerck, Hugo, Friederieke Brion, in: DA 1913, Nr. 26, S. 17. 270 Grotthuß, Jeannot Emil von, Goethe in Sesenheim. Zu dem gleichnamigen Bilde von A. Borckmann, in: DA 1890, S. 311. 271 Vgl. Handwerck, Hugo, Friederieke Brion, in: DA 1913, Nr. 26, S. 19f. Das Gretchen-Motiv griff auch Johannes Proelß in seiner Goethe-Biographie in der Gartenlaube auf und bezeichnete Brion als Vorbild der Gretchenfigur, vgl. Proelß, Johannes, Zum Goethe-Gedenktag, in: GL 1899, S. 558f. 272 Stark, Gerta von, Frauengestalten aus Schillers Leben, in: SZ 1904/05, S. 579. 273 Vgl. ebd, S. 579-585; Wychgram, Jakob, Schillers Lotte, in: DA 1905, Nr. 31, S. 13; Franken-Jena, Elle, Aus Schillers junger Ehe, in: DA 1905, Nr. 31, S. 23; Stein, Erich von, Die Frauen unserer klassischen Dichter, in: SZ 1898/99, S. 241-242. 274 Das Daheim beschäftige sich in einer Sonderausgabe zum Schillerjubiläum 1905 nicht allein mit seiner literarischen und nationalen Bedeutung, sondern neben den bereits erwähnten Artikeln auch mit Schillers Häuslichkeit und seinem Bezug zur Musik, vgl. Daheim 1905, Nr. 31. Auch in den anderen Zeitschriften, die sämtlich zum Schiller-Jubiläum 1905 über den Dichter schrieben, standen zwar Werk und nationale Bedeutung Schillers im Vordergrund, doch sein privates Leben fand immer
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die Heimat verlassen habe und unstet umhergeirrt sei. Mittellos und suizidal, sittlich verwirrt und mit dem »ärgsten Feind« in sich selbst ringend sei er in Weimar angekommen, wo erst die Beziehung zu Charlotte aus ihm einen innerlich gesunden Geist gemacht und ihm Ruhe und Glück gegeben habe.275 Männer, das suggeriert der Artikel, würden erst über ihre Frauen vollständig. Charlotte Schiller habe ihren Mann »in seinem innersten Kern verstanden, sie hat den Frieden und die Ganzheit des Wesens ihm gewährt, die wir Männer nach dem Willen der Natur von niemand anders als von der Frau erhalten können. Und wenn aus dieser Ganzheit des Wesens die unsterblichen Werke quollen, so hat Charlotte von Lengefeld ihr reichlich Ehrenteil daran.«276
Die Einschätzung Schillers als unsteter, getriebener Charakter wurde auch in einem Daheim-Artikel Carl Busses über die Freundschaft zwischen Schiller und Goethe wiederholt, der die beiden Dichter als Gegenpole darstellte, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: Der junge Schiller, »ein hagrer Mensch von zwanzig Jahren, aus niedrigen Verhältnissen stammend, ein Rotschopf mit einem Sommersprossengesicht und von ungeschickter Haltung« habe »gehetzt und von fast allen verlassen« gegen die Steine angekämpft, die das Schicksal ihm in den Weg geworfen habe, sei aber auch ein Revolutionär von »handelnde[r], aggressive[r] Natur« gewesen.277 Dagegen stellte Busse den jungen Goethe, einen »Götterliebling« von entwaffnender Schönheit dar, als »glänzende Erscheinung«
wieder Erwähnung, vgl. Federer, Heinrich, Schiller. Biographisch-literarische Studie, in: ANW 1905, S. 693-696, 723-727, 757-760, 797-800; Ziegler, Theobald, Schiller. Zum 9. Mai 1905, in: GL 1905, S. 307-311. Dies trifft besonders für die Sonntags-Zeitung zu, die in zwei aufeinanderfolgenden Ausgaben zunächst unter der Frage »Was ist uns Schiller?« auf die literarische und nationale Bedeutung des Dichters einging, vgl. Boerschel, Ernst, Was ist uns Schiller?, in: SZ 1904/05-2, S. 568570, um in der nächsten Ausgabe »Frauengestalten aus Schillers Leben« und »Persönliches aus Schillers Leben« vorzustellen, vgl. Stark, Gerta von, Frauengestalten aus Schillers Leben, in: SZ 1904/05-2, S. 579-585; Halden, Fritz, Persönliches aus Schillers Leben, in: SZ 1904/05-2, S. 586-590. Eine Ausnahme bildete die Neue Welt, die Schiller allein in seiner politischen und literarischen Bedeutung charakterisierte, vgl. Diederich, Franz, Schillers Volkstümlichkeit, in: NW 1905, S. 145-147. 275 Vgl. Wychgram, Jakob, Schillers Lotte, in: DA 1905, S. 13. 276 Ebd. (Herv. i. O). 277 Vgl. Busse, Carl, Schiller und Goethe, in: DA 1905, Nr. 31, S. 8f.
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und »Kind des Glücks«, dem alles gelungen sei und der alle verzaubert habe.278 Goethe, das Genie, und Schiller, der Revolutionär, dies waren zwei Möglichkeiten künstlerisch-bürgerlicher Männlichkeit, die Busse aufzeigte. Dementsprechend bedeutete die Beziehung zu seiner Frau für Schiller auch Mäßigung, Gesundung und einen Weg zu innerer Ruhe, während Goethes Liebschaften vor allem als Musen dargestellt wurden, die den Dichter zu höchster poetischer Leistung beflügelt hätten.279 Die AutorInnen trennten für die Person Goethes nicht zwischen dem Dichter und dem Liebenden, wurden doch seine Gedichte direkt seiner Verliebtheit zugeordnet. Während die Goethe-Biographien so das dichterische Genie eng mit den Herzensregungen des Poeten verknüpften, seinen Liebesbeziehungen also einen beträchtlichen Einfluss auf sein Werk zuschrieben, sahen die Schiller-Biographen dessen Genius vor allem seinem Idealismus entspringen.280 Bürgerliche Männlichkeiten wie Weiblichkeiten, das zeigen die Beispiele, standen immer im Zusammenhang mit Privatheit, mit Familie, mit Herzensregungen und Beziehungen freundschaftlicher und amouröser Natur. Demgegenüber waren die Biographien politischer und militärischer Größen stärker auf öffentliche Bereiche von Politik und Kriegsgeschehen fokussiert – allerdings häufig mit Bezügen auf das private Leben der großen Männer und Frauen. Eine klare geschlechtliche Zuordnung der Repräsentationen von Öffentlichkeit und Privatheit war in Familienzeitschriften keinesfalls gegeben. Gleichzeitig zeigen die Beispiele, dass biographische Frauengeschichte mitnichten automatisch eine frauenbewegte und emanzipatorische Form der Geschichtsschreibung war. Frauen, die für ihre eigene Leistung porträtiert wurden, traten als eigenständige historische Akteurinnen auf, jene jedoch, die als Frau, Geliebte oder Mutter wichtiger historischer Persönlichkeiten berühmt waren, wurden in ihren Biographien häufig auf ihre Beziehung zu den jeweiligen Männern reduziert. So diente der Bezug auf historische Frauen vielfach der Affirmation einer zeitgenössischen bürgerlichen Weiblichkeitsnorm, die in die Geschichte projiziert wurde und dort ihre idealen Vorbilder fand. Zugleich jedoch war das Genre der Biographie eines, in dem nicht allein der Lebensweg bestimmter Persönlichkeiten verhandelt wurde,
278 Vgl. ebd., S. 8. 279 Auch eine andere Geliebte Goethes, Ulrike von Levetzow, wurde nicht als eigenständige Akteurin eingeführt, sondern allein als Muse, die den schon alternden Dichter durch ihre Anmut und Schönheit betört und zu künstlerischen Leistungen inspiriert habe, vgl. Heinemann, R., Goethes letzte Liebe, in: GL 1893, S. 124-125; Halden, Fritz, Aus des jungen Goethe Zeit, in: SZ 1909/10, S. 518-521. 280 Vgl. Boerschel, Ernst, Was ist uns Schiller?, in: SZ 1904/05-2, S. 568-570.
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sondern auch deren geschlechtsspezifische Handlungsmöglichkeiten. So wurden die normativen Ideale von Männlichkeit und Weiblichkeit immer wieder neu ausgehandelt und – etwa im Falle kämpferischer und politischer Frauen – punktuell aufgebrochen. Ob auch die Geschichte weiblichen Alltags und Arbeitens dieses Potential hatte, wird im folgenden Teil analysiert. Weibliche Alltagsgeschichte und der Wandel weiblicher Arbeit »Ein tiefsinniges, edles und reines Gemüt, ein warmes Gefühl für das Hohe und Schöne, Begeisterungsfähigkeit für die Ideale der Menschheit und des Familienlebens – das sind Eigenschaften, die nur selten das Auge auf sich ziehen, denn sie wirken gern in der Stille des Hauses und des eigenen Herdes. Die Trägerinnen dieser Vorzüge werden nicht gefeiert und laut gerühmt; aber verehrungswert sind dennoch diejenigen Frauen, welche die Vorsehung mit diesen Tugenden begnadigt hat, denn sie üben den wohlthätigsten Einfluß auf die Ihrigen aus und stiften unendlich viel Segen im engeren Kreise.«281
Mit diesen Worten beschrieb Adolf Kohut 1902 in der Sonntags-Zeitung die mangelnde Sichtbarkeit weiblichen Wirkens, das sich innerhalb des Hauses abspiele. Auch andere AutorInnen merkten an, dass die Historisierung von Frauen und weiblichen Lebensrealitäten in der ›allgemeinen‹ Geschichte zu kurz komme oder ganz ignoriert werde. Ihnen war bewusst, dass die weibliche Seite der Geschichte, die sich vorwiegend im Haushalt abspielte, allzu oft in Vergessenheit geriet. Während das Tun und Treiben von Männern »mehr oder minder offen zu Tage« trete, so F. Kinze in der Sonntags-Zeitung, sei »der häusliche Kreis, in dem die züchtige Frau, die liebwarme Mutter in rastloser Thätigkeit waltet, dem Auge jedes Fernstehenden gewöhnlich weniger zugänglich«.282 Genau dieser Blick ins Innere des Hauses war es daher, den viele AutorInnen nicht nur in Biographien, sondern auch in kultur- und alltagshistorischen Artikeln einnahmen. Er ermöglichte einen Einblick in weibliche oder beidgeschlechtliche Lebenswelten – im Gegensatz zur politischen Geschichte, die sich zu großen Teilen in den männlich markierten Räumen der Regierung, der Diplomatie und des Militärs abspielte. Dies geschah etwa in Form der Geschichte von Haushalt, Küche und Handarbeit,283 von Mode, Körperlichkeit und Schön-
281 Kohut, Adolf, Die Mutter Theodor Körners, in: SZ 1902/03, S. 96. 282 Kinze, F., Schillers Mutter, in: SZ 1901, S. 580. 283 Vgl. Ziegler, Zur Geschichte des Spinnens, in: ANW 1894, S. 236-242; Rema, Else, Weibliche Handarbeiten in früheren Jahrhunderten, in: ANW 1906, S. 884-885 [Rubrik Für die Frauen und Kinder]; Anonym, Ein Beitrag zur Geschichte der Pas-
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heitspflege.284 Weiblich markierte Themen, welche die politisch ausgerichtete historistische Geschichte im Bereich anthropologischer Konstanten verortete, wurden auf diese Weise historisiert.285 Die Sonntags-Zeitung, vereinzelt auch andere Zeitschriften, thematisierten zudem historische Geschlechterverhältnisse und weibliche Lebenswelten auch jenseits der Geschichte von Haushaltsgeräten und verfolgten die Stellung von Frauen in bestimmten historischen Epochen.286 Besonders weibliche Arbeit im Haushalt wie im Gewerbe und die Wandlung weiblicher Haus- und Erwerbsarbeit im Laufe der Geschichte waren stets wiederkehrende Themen287 – so zum Beispiel die Möglichkeit städtischer Frauen im Mittelalter, ein Handwerk zu lernen und sich zünftig zu organisieren, und ihre Verdrängung aus den Zünften im Spätmittelalter.288 Aufhänger der Artikel über historische Frauenerwerbsarbeit war oft die zeitgenössische Arbeitssituation, die durch Auslagerung vieler häuslicher Arbeiten an Fachpersonal und Zunahme weiblicher Erwerbsarbeit geprägt war. Das Thema weibliche Erwerbstätigkeit war Ende des Jahrhunderts zu einer breiten gesellschaftlichen Debatte geworden.289 Jenseits des Strebens nach
tete, in: ANW 1908, S. 84-85 [Rubrik Für die Frauen und Kinder]; Buß, Georg, Alte und neue Küchen, in: DA 1908, Nr. 8, S. 16-20; Falk, M., Die Nadel als Werkzeug und Schmucksache, in: GL 1903, S. 803-806. 284 Vgl. Buchwald, Wolfgang, Eine Brunnenkur der Königin Luise, in: DA 1906, Nr. 43, S. 11; Wirth, Hans, Schönheitspflege im alten Rom, in: SZ 1902/03, S. 419; Rema, Else, Frauenmoden im alten Rom, in: ANW 1907, S. 644-646; Weiglin, Paul, Von der Krinoline zum gerafften Rock. Fünfzig Jahre Mode, in: DA 1913, Nr. 2, S. 14-19; Braun, Adolf, Von der Ueppigkeit früherer Zeiten, in: NW 1901, S. 227, 235-238. 285 Vgl. Paletschek/Reusch (2013), S. 10-11. 286 Vgl. Eckstein, Ernst, Die Frau im alten Rom, in: GL 1892, S. 522-524; Leonhardt, Ernst, Die Stellung der Frau im Wandel der Zeiten, in: SZ 1912/13, S. 162-164; Habel, Theodor, Leben und Stellung der deutschen Frau im Wandel der Jahrhunderte, in: SZ 1909/10, S. 108-110. 287 Vgl. Skalweit, August, Der Untergang der deutschen Hausfrau. Eine wirtschaftsgeschichtliche Plauderei, in: DA 1909, Nr. 22, S. 11-12; Gabriel, W., Die Entstehung und Entwicklung der Frauenberufe, in: SZ 1909/10, S. 1106-1107. 288 Vgl. Adé, Alwin, Die Frau im mittelalterlichen Handwerk, in: NW 1909, S. 115-116, 123-134; Michel, Albin, Die Frauenarbeit während der mittelalterlichen Zunftzeit, in: SZ 1912/13, S. 130-131. 289 Vgl. Schraut (2013), S. 73f.
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Selbstverwirklichung im Beruf war die Erwerbstätigkeit bürgerlicher Frauen vor allem finanziellen Zwängen geschuldet. Im kleinen und mittleren Bürgertum war es im letzten Drittel des Jahrhunderts nicht unüblich, dass erwachsene Töchter vor ihrer Heirat arbeiteten, und besonders für ledig bleibende Frauen war Erwerbsarbeit oft die einzige Möglichkeit, einem Leben in finanzieller Abhängigkeit und oft beengten räumlichen Verhältnissen bei Verwandten zu entkommen, das nicht zuletzt durch Geringschätzung ob ihres gesellschaftlichen Status als ›alte Jungfer‹ bestimmt war.290 Nach einer 1901 von Lily Braun veröffentlichten Statistik waren 51% der deutschen Frauen über 15 Jahre unverheiratet, unter den über 40-jährigen waren es 11% lediger Frauen, die darauf angewiesen waren, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen.291 »Es muß wohl kaum daran erinnert werden, in welch unglücklicher Lage sich alleinstehende Töchter befinden, welche darauf angewiesen sind, sich durch eigene Thätigkeit ihren Unterhalt zu erwerben. Das ihnen zunächstliegende Auskunftsmittel einer Stellung als Haushälterin, Gesellschafterin oder Erzieherin ist sehr schwierig zu erlangen, weil der Andrang zu solchen Stellungen ein außerordentlich großer ist. Ebenso bietet sich solchen, welche sich in Seminarien ausbilden und dem Lehrfache zuwenden, im ganzen nur wenig Aussicht darauf, eine gesicherte Zukunft zu gewinnen; denn auch auf diesem Felde ist der Wettbewerb bereits ein sehr scharfer.«292
So analysierte Hermann von Meyer 1890 in der Gartenlaube die Lage lediger Frauen und machte auf die äußerst beschränkten beruflichen Möglichkeiten für bürgerliche Frauen aufmerksam: Durch das 19. Jahrhundert hindurch war der Lehrerinnenberuf (im Mädchenschulwesen, als Hauslehrerin oder als Gouvernante) die einzige anerkannte Tätigkeit für bürgerliche Frauen, die dementsprechend überlaufen war.293 Seit den 1860er Jahren standen vermehrt Bürotätigkeiten für Frauen offen. Telegraphie und Fernsprechvermittlung waren Berufe, in denen Frauen eingestellt wurden, vor allem aber entwickelte sich das Schreiben an der Schreibmaschine geradezu zu einem Synonym weiblicher Büroarbeit.294
290 Vgl. ebd. 291 Vgl. ebd., S. 73. 292 Von Meyer, Hermann, Die Frauen und der ärztliche Beruf, in: GL 1890, S. 654. 293 Vgl. Knapp, Ulla: Frauenarbeit in Deutschland. Bd. 1: Ständischer und bürgerlicher Patriarchalismus, München: Minerva-Publikation 1986, S. 189. 294 Vgl. Hess, Christel: »Schreibmaschine – Morsetaste – Telefon. Requisiten der Frauenarbeit in Baden«, in: Otto Borst (Hg.), Ein Jahrhundert beginnt. Baden und Württemberg 1900 bis 1914, Tübingen: Silberburg-Verlag 1996, S. 180-196, hier S. 182.
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Auch im Handwerk gab es Zugangsmöglichkeiten für Frauen, als Friseurinnen und Schneiderinnen, in Putzmacherei, Buchdruck und Fotografie.295 Für proletarische Frauen und Frauen auf dem Lande waren die Voraussetzungen andere: Erwerbsarbeit hieß hier entweder Arbeit in der Fabrik oder als Dienstmädchen in der Stadt beziehungsweise als Magd auf dem Land.296 Dass im Kaiserreich breitere Debatten über bürgerliche Frauenerwerbstätigkeit geführt wurden, war nicht zuletzt Verdienst der bürgerlichen Frauenbewegung, die sich für eine Professionalisierung und Aufwertung des Lehrerinnenberufs einsetzte und Diskussionen über die beruflichen Möglichkeiten von Frauen anstieß.297 Familienzeitschriften griffen die Thematik auf, war sie doch eine Frage, die prinzipiell alle Familien betraf. Das Daheim etwa hatte eine eigene unregelmäßig erscheinende Beilage mit dem Titel Frauenerwerb, und auch Artikel über weibliche Arbeit in der Geschichte waren ein Teil des zeitgenössischen Diskurses über die Erwerbstätigkeit von Frauen, der zeitgenössische weibliche Erwerbsarbeit nicht allein an die Geschichte anband, sondern sie auch über den historischen Rückgriff legitimierte. Das Kapitel hat gezeigt, dass Familienzeitschriften zwar vielfach in dichotome geschlechtliche Zuschreibungen und Praxen eingebunden waren, diese aber auch immer wieder aufbrachen. Die Rezeption von Familienzeitschriften erfuhr immer wieder weibliche Zuschreibungen, doch präsentierten sie sich zugleich erfolgreich als Zeitschrift für alle Geschlechter. Die Presse wie die Historiographie war im Kaiserreich männerdominiert und das waren auch die Familienzeitschriften und ihr Geschichtsprogramm, doch boten sie Strukturen, in denen Frauen als Redakteurinnen und Historikerinnen tätig sein konnten. Der Großteil der Geschichtsartikel fokussierte auf männliche Akteure und männlich markierte Räume, doch machten Familienzeitschriften über Biographien und über Alltags- und Sozialgeschichte auch Frauen als historische AkteurInnen sichtbar. Dass sich weibliches Arbeiten im Haus gerade durch eine weitgehende Unsichtbarkeit auszeichnete, war einigen AutorInnen von Familienzeitschriften bewusst, und sie leisteten so ihren Beitrag an der Sichtbarmachung von Frauen in der Geschichte. Die Fallbeispiele zeigen zudem, dass die Verhandlung von Geschlecht vielfach entlang von Klassengrenzen verlief: In ihren Biographien konstruierten Fami-
295 Vgl. Schmidt, Dorothea: »Hat das Handwerk ein Geschlecht? Handwerker und Handwerkerinnen in neuerer Zeit«, in: Elisabeth Dickmann (Hg.), Politik und Profession. Frauen in Arbeitswelt und Wissenschaft um 1900, Berlin: Trafo-Verlag Weist 1998, S. 11-34. 296 Vgl. Schildt, Gerhard: Frauenarbeit im 19. Jahrhundert, Pfaffenweiler: CentaurusVerlag-Ges. 1993, S. 51-65, 101-118. 297 Vgl. Schraut (2013), S. 118-121.
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lienzeitschriften Weiblichkeiten und Männlichkeiten, die eng an soziale Herkunft gebunden waren, und auch die Auseinandersetzungen mit weiblichem Alltag und weiblicher Arbeit in der Geschichte zeigen den immensen Einfluss historischer wie zeitgenössischer sozioökonomischer Verhältnisse auf die Konstruktion und Verhandlung von Geschlecht.
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Geschichte war ein relevanter Faktor religiöser Vergemeinschaftung und Religion war eine Kategorie historischen Denkens – sowohl in den christlichen Konfessionsgemeinschaften als auch in anderen Religionen. In Bezug auf den Umgang mit Religion wiesen die fünf untersuchten Zeitschriften große Unterschiede auf: Daheim und Alte und Neue Welt waren konfessionelle Magazine und stehen hier exemplarisch für eine protestantische und eine katholische Geschichtskultur. Die anderen Zeitschriften waren nicht konfessionell verortet, doch wiesen auch sie deutlich christliche und protestantische Selbstverständnisse auf. Im folgenden Kapitel werden die Zusammenhänge von populärer Geschichtsschreibung und religiöser und konfessioneller Verortung untersucht. Zunächst wird zur Einordnung ein kurzer Überblick über die Bedeutung von Religion und Konfession im Kaiserreich gegeben. Im zweiten Schritt werden protestantische und katholische Geschichtskulturen am Beispiel der Zeitschriften Daheim und Alte und Neue Welt verglichen und untersucht, wie die Zeitschriften mit der Geschichte des Judentums und anderer nichtchristlicher Religionen umgingen. Es wird gezeigt, wie die sozialdemokratische Neue Welt die Auseinandersetzung mit Religion nutzte, um Kritik an der Institution Kirche zu üben, gleichzeitig aber mit der katholischen Erinnerungskultur den Topos des Urchristentums gemein hatte. Zuletzt wird die Auseinandersetzung mit Aberglaube als Marker für das modern-wissenschaftliche Selbstverständnis der Zeitschriften untersucht, das mit einem christlichen Selbstverständnis nicht zwangsläufig im Widerspruch stand. Dabei zeigt sich, dass Religion und Konfession auf struktureller Ebene vor allem die Hierarchien historischer Deutungshoheit regulierten. Auf identitärer Ebene waren konfessionelle Geschichtskulturen ein wichtiger Faktor der Milieubildung, aber auch eines christlich-abendländischen Selbstverständnisses.
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Die konfessionelle Spaltung von Gesellschaft und Geschichtskulturen im Kaiserreich Die Bedeutung konfessioneller Differenzierung für die Geschichtsschreibung wie auch die Bedeutung von Geschichte für religiöse Identitäten fußt auf verschiedenen Ausgangsbedingungen. Erstens waren westeuropäische Gesellschaften des 19. Jahrhunderts geprägt durch ein ambivalentes Verhältnis von Säkularisierung und religiöser Renaissance.298 Anders als in frühneuzeitlichen Gesellschaften stellten im späten 19. Jahrhundert konfessionelle Zugehörigkeiten nicht mehr den zentralen Faktor gesellschaftlicher Inklusion dar. Säkulare Ideen hatten seit der Aufklärung zusehends an Bedeutung gewonnen, und die strukturellen Veränderungen der Gesellschaft führten insbesondere in urbanen Räumen dazu, dass Glaube und Religionsausübung an Relevanz verloren. Modernisierungsprozesse stellten die Bedeutung der Religion als Sinnstiftungs- und Vergesellschaftungsmedium zunehmend in Frage – die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften, das Gedankengut der Aufklärung, die Transformationen der Gesellschaft und ihrer Organisation irritierten die religiösen Welterklärungsmuster nachhaltig. Doch gleichzeitig hatte Religion nach wie vor eine enorme Geltungsmacht in Staat, Gesellschaft, Kultur und – insbesondere auf dem Land – im alltäglichen Leben inne. Die lang angenommene Verflechtung von Modernisierung und Säkularisierung war zu großen Teilen vor allem eine Hoffnung der Intellektuellen des 19. Jahrhunderts299 und wird in der neueren Forschung hinterfragt.300
298 Vgl. Blaschke/Kuhlemann (1996b), S. 9. 299 Vgl. Kennedy, James C.: »Religion, Nation and European Representations of the Past«, in: Berger (2008), S. 104-133, hier S. 107. 300 Olaf Blaschke etwa stellt der Säkularisierungsthese entgegen, Religion habe im 19. Jahrhundert so tiefgreifende Auswirkungen auf die gesellschaftlichen Entwicklungen gehabt, dass man von einer Rekonfessionalisierung, von einem neuen konfessionellen Zeitalter im 19. Jahrhundert sprechen könne, vgl. Blaschke, Olaf: »Das 19. Jahrhundert. Ein zweites Konfessionelles Zeitalter?«, in: Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), S. 38-75, hier S. 40f. Diese These ist insofern kritisch zu sehen, als dass sie von einem vorübergehenden Verlust des Geltungsanspruchs der Religion vor der Rekonfessionalisierung ausgeht – tatsächlich ist jedoch davon auszugehen, dass Religion das gesamte 18. und 19. Jahrhundert hindurch ein wichtiger Differenzierungsfaktor der Gesellschaft war.
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Zweitens finden wir in Mitteleuropa auch in der Moderne konfessionell gespaltene Gesellschaften vor.301 Die deutsche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts war religiös zumindest punktuell separiert. Dies bezog sich nicht allein auf das Verhältnis von Protestantismus und Katholizismus, sondern auch auf die Beziehung zwischen dem dominanten Christentum und Minderheitenreligionen, insbesondere dem Judentum, aber auch religiösen DissidentInnen, wie etwa freireligiösen Bewegungen und MonistInnen. Konfessionelle Zugehörigkeiten spalteten die Gesellschaft keineswegs auf allen Ebenen, es gab vielfältige konfessionsübergreifende Allianzen und Gemeinschaften; doch stellte Religion einen wichtigen und wirkmächtigen Differenzierungs- und auch Hierarchisierungsfaktor dar. Nicht nur die Religionsausübung, sondern auch Wirtschaft, Arbeit und Freizeit, Pressewesen, familiäre Gemeinschaft etc. waren konfessionell geprägt und zu großen Teilen auch separiert. Auf politischer Ebene konstituierten sich der deutsche und auch der Schweizer Staat in den 1870er Jahren über scharfe Abgrenzung zum Katholizismus, und auch nach Ende des Kulturkampfes prägte dieser das Zusammenleben nachhaltig.302 KatholikInnen blieben im protestantisch geprägten Nationalstaat eine strukturelle Minderheit.303 Vielfach konnten sie im kapitalistischen Wirtschaftssystem nicht mit dem modernisierungsaufgeschlossenen protestantischen Bürgertum Schritt halten. Auch Bildung war durch ein konfessionelles Gefälle geprägt. KatholikInnen, die stärker als die protestantische Bevölkerung in ländlich-agrarische Lebenswelten eingebunden waren, besuchten seltener weiterführende Schulen oder Universitäten.304 Inmitten einer
301 Vgl. Smith, Helmut Walser: German Nationalism and Religious Conflict. Culture, Ideology, Politics. 1870-1914, Princeton/NJ: Princeton Univ. Press 1995, S. 13f. 302 Zum Kulturkampf vgl. Borutta, Manuel: Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010; Altermatt, Urs: Konfession, Nation und Rom. Metamorphosen im schweizerischen und europäischen Katholizismus des 19. und 20. Jahrhunderts, Frauenfeld, Stuttgart, Wien: Huber 2009, S. 111-118. 303 Vgl. zu KatholikInnen im Kaiserreich: Smith, Helmut Walser: Protestants, Catholics and Jews in Germany 1800-1914, Oxford: Berg 2001; Loth, Wilfried: »Katholische Milieus und katholische Subgesellschaft in Deutschland«, in: Michel Grunewald (Hg.), Le Milieu Intellectuel Catholique en Allemagne, sa Presse et ses Réseaux (1871-1963), Bern et al.: Lang 2006, S. 3-20; Blaschke/Kuhlemann (1996a); zum Schweizer Katholizismus vgl. Altermatt (2009). 304 Vgl. Becker, Frank: »Konfessionelle Nationsbilder im Deutschen Kaiserreich«, in: Heinz-Gerhard Haupt/Dieter Langewiesche (Hg.), Nation und Religion in der deutschen Geschichte, Frankfurt/Main: Campus 2001b, S. 389-418, hier S. 391, 417.
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sich beständig transformierenden Gesellschaft blieben ihre überwiegend ländliche und kleinstädtische Siedlungsweise, ihre klein- und mittelbäuerliche sowie handwerklich-kleingewerbliche Existenzweise wie auch die politische Zugehörigkeit in großem Maße konstant.305 Doch die deutsche Gesellschaft des späten 19. Jahrhunderts kann nicht einfach eingeteilt werden in liberale, weltoffene und gebildete ProtestantInnen und konservative, auf dem Land lebende und ungebildete KatholikInnen. Tatsächlich enthielten beide Konfessionen verschiedenste politische und reformerische Strömungen. Der deutsche Katholizismus barg zahlreiche Reformströmungen, die die Kirche modernisieren wollten und sich positiv auf den Nationalstaat bezogen, so etwa der von Akademikern getragene Altkatholizismus.306 Auch der Protestantismus war in konservative und liberale Strömungen gespalten.307 Religionsausübung war überdies nicht unabhängig von sozialer wie räumlicher Herkunft zu denken: So war die von aufklärerisch-säkularem Gedankengut beeinflusste Religiosität eines gebildeten Bürgerhaushalts etwas qualitativ anderes als die auf dem Land praktizierte Volksfrömmigkeit, die sich in Wallfahrten, Heiligenfesten etc. manifestierte.308 Neuere Forschungen betonen zudem nicht nur die Heterogenität der konfessionellen Gemeinschaften, sondern auch das spannungsreiche Zusammenleben der mehrkonfessionellen Gesellschaft sowie die Allian-
305 Vgl. Altermatt, Urs: »Zum ambivalenten Verhältnis von Katholizismus und Moderne. Epochen – Diskurse – Transformationen«, in: Zeitschrift für Schweizerische Kirchengeschichte 97 (2003), S. 165-181, hier S. 172. 306 Vgl. Blaschke, Olaf: »Der Altkatholizismus 1870 bis 1945. Nationalismus, Antisemitismus und Nationalsozialismus«, in: Historische Zeitschrift 261 (1995), S. 51-99; Nipperdey, Thomas: Religion im Umbruch. Deutschland 1870-1918, München: Beck 1988, S. 32-37; Zum Verhältnis von Nationalismus und Ultramontanismus im katholischen Lager vgl. auch Stambolis, Barbara: »Nationalisierung trotz Ultramontanisierung oder ›Alles für Deutschland. Deutschland aber für Christus‹«, in: Historische Zeitschrift 269 (1999), S. 57-97. 307 Vgl. Kaiser, Jochen-Christoph: »Die Formierung des protestantischen Milieus. Konfessionelle Vergesellschaftung im 19. Jahrhundert«, in: Blaschke/Kuhlemann (1996a), S. 257-289, hier S. 259; Nipperdey, Thomas: »Religion und Gesellschaft. Deutschland um 1900«, in: Historische Zeitschrift 246 (1988b), S. 593-615, hier S. 597-601. 308 Vgl. Nipperdey (1988a), S 20.
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zen und Gemeinsamkeiten, die sich aus der Einbindung in nicht nur konfessionelle, sondern auch politische, lokale und andere Gemeinschaften ergaben.309 Drittens vollzog sich die religiöse und konfessionelle Identifikation des späten 19. Jahrhunderts unter modernen Bedingungen – Massenmedien spielten eine wichtige Rolle für die Kommunikation innerhalb der konfessionellen Gemeinschaft und die Herausbildung konfessioneller Identitäten. Insbesondere die katholische Presse hatte schon im Vormärz, besonders aber zu Zeiten des Kulturkampfs, eine bedeutende Funktion für katholische Milieubildung.310 Die konfessionelle Presse fügte sich in tendenziell konfessionell separierte Lebenswelten ein und sorgte gleichzeitig dafür, diese Separation aufrechtzuerhalten. Presseprodukte hatten allerdings auch die Macht, konfessionelle Grenzen zu überbrücken. Gerade die Massenmedien der Zeit der Jahrhundertwende waren oftmals nicht mehr konfessionell gebunden, da sie alle Bevölkerungsgruppen anzusprechen trachteten. So positionierten sich etwa Gartenlaube, Neue Welt und Sonntags-Zeitung überkonfessionell. Konfessionell gebundene Presseprodukte erschienen aber auch gerade als Antwort auf diese Entwicklung auf dem Pressemarkt – so verstanden sich Daheim und Alte und Neue Welt als Antworten auf die säkularen und überkonfessionellen Familienzeitschriften mit dem erklärten Ziel, protestantisches beziehungsweise katholisches Gedankengut in Unterhaltungsmedien hineinzutragen. Viertens waren Universitäten und so auch die Geschichtswissenschaft, insbesondere in ihrer dominanten Erscheinungsform des Historismus, zu großen Teilen in protestantischer Hand. Der Anteil protestantischer Professoren in der Geschichtswissenschaft machte seit den 1840er Jahren bis in die 1970er zwischen 55 und 75% aus, während Katholiken im selben Zeitraum nur zwischen 20 und 40% der Professorenschaft stellten. Jüdische Geschichtsprofessoren waren seit
309 Vgl. Haupt (2004); Haupt/Langewiesche (2001); Smith (2001); Blaschke/Kuhlemann (1996a). Zu überkonfessionellen Bündnissen in Deutschland vgl. Kuhlemann, Frank-Michael: »Konfessionalisierung der Nation? Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert«, in: Haupt (2004), S. 27-63. 310 Zur katholischen Presse vgl. Schulz, Jürgen M.: »Das katholische Milieu und seine öffentliche Repräsentanz in der wilhelminischen Gesellschaft«, in: Grunewald (2006), S. 41-58; Schmolke, Michael: »Katholisches Verlags-, Bücherei- und Zeitschriftenwesen«, in: Anton Rauscher (Hg.), Katholizismus, Bildung und Wissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Paderborn: Schöningh 1987, S. 93-118.
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Mitte der 1860er Jahre bis zur NS-Zeit mit ca. 5-15% vertreten311 – diese Zahlen gelten nicht allein für den protestantisch dominierten nord- und ostdeutschen Raum, sondern auch für den deutschen Süden.312 Katholische Historiker wurden im Kreis der etablierten protestantischen Historiker nur selten rezipiert und standen somit außerhalb der dominanten akademischen Wissensproduktion.313 Katholische Universitätsgründungen wie etwa in Freiburg/Schweiz 1889 versuchten zwar, diesem Trend entgegenzuwirken – an
311 Vgl. Weber, Wolfgang: Priester der Klio. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien zu Herkunft und Karriere deutscher Historiker und zur Geschichte der Geschichtswissenschaft 1800-1970, Frankfurt/Main: Lang 1984, S. 85. 312 Vgl. Weber (1984), S. 87; Paletschek (2001), S. 314; Grill, Stefan: Konfession und Geschichtswissenschaft. Konflikte um die Besetzung und Einrichtung historischer Professuren an der Universität Freiburg im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Freiburg, München: Alber 2008, S. 140-141. 313 Vgl. Marchal, Guy P.: »Zwischen ›Geschichtsbaumeistern‹ und ›Römlingen‹. Katholische Historiker und die Nationalgeschichtsschreibung in Deutschland und der Schweiz«, in: Michael Graetz (Hg.), Krisenwahrnehmungen im Fin de siècle. Jüdische und katholische Bildungseliten in Deutschland und der Schweiz, Zürich: Chronos 1997, S. 177-210, hier S. 184. Ausnahmen bildeten katholische Historiker wie Onno Klopp, Julius Ficker oder Johannes Janssen. Aber auch diese mehr oder weniger anerkannten Historiker erhielten zum Teil keine Professuren in Deutschland, so etwa Klopp, der als Archivar und Publizist arbeitete, oder Ficker, der eine Professur in Österreich erhielt, vgl. Becker (2001b), S. 404. Der Sybel-Ficker-Streit, der meist als Präzedenzbeispiel konfessioneller Konflikte in der Geschichtswissenschaft steht, ist insofern ein Ausnahmefall, als dass hier ein katholischer Historiker vielbeachtet in einer historiographischen Debatte das Wort ergriff, was eher selten geschah. Zum Sybel-Ficker-Streit siehe Brechenmacher, Thomas: »Wieviel Gegenwart verträgt historisches Urteilen? Die Kontroverse zwischen Heinrich von Sybel und Julius Ficker über die Bewertung der Kaiserpolitik des Mittelalters (18591862)«, in: Ulrich Muhlack (Hg.), Historisierung und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland im 19. Jahrhundert, Berlin: Akademie Verlag 2003, S. 87-112. Die Dominanz protestantischer Historiker bedeutete nicht, dass diese ihre Konfessionszugehörigkeit immer herausstellten oder auf ihrer Grundlage argumentierten – vielmehr sahen sie sich als Repräsentanten der gesamten Nation, die eben dadurch zu einer protestantisch geprägten Nation werden konnte, vgl. Kennedy (2008), S. 109f. Vgl. zur konfessionellen Bindung der Geschichtswissenschaft auch Gräf, Holger: »Reich, Nation und Kirche in der groß- und kleindeutschen Historiographie«, in: Historisches Jahrbuch 116 (1996), S. 367-394.
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der Freiburger Universität wurden fünf Lehrstühle für Geschichte eingerichtet – doch wirkten katholische Historiker allzu oft an ihrer eigenen Marginalisierung mit, indem sie sich in ihrer Forschung auf innerkatholische Themen wie Kirchengeschichte konzentrierten und somit im dominanten akademischen Diskurs keinen Niederschlag fanden.314 Katholische Historiker waren Außenseiter in der Zunft und somit konnte sich auch eine katholische Geschichtsdeutung nur punktuell durchsetzen. Nicht allein die akademische Historiographie, sondern die gesamte Landschaft der Geschichtskultur war konfessionell geprägt und stand unter protestantischer Deutungshoheit. Besonders die für das Geschichts- wie Nationalbewusstsein so wichtige Zeitgeschichte überließen katholische Populärhistoriker zu großen Teilen den konfessionellen Gegnern, die dem protestantisch geprägten kleindeutschen Nationalkonstrukt eine protestantisch geprägte Geschichte schufen,315 und zogen sich auf mittelalterliche Themen zurück.316 Politische Argumentationen von protestantischer wie katholischer Seite griffen regelmäßig auf historische Themen zurück – auf protestantischer Seite insbesondere auf die Reformation, deren Erinnerung ein wichtiger Teil der Konfessionalisierung der Nation war, während katholische NationalistInnen ihren Anspruch darauf, die wahren Träger nationaler Einheit zu sein, historisch mit Heldenfiguren wie etwa dem »Apostel der Deutschen« Bonifatius oder in der Schweiz mit dem Eremiten Niklaus von Flüe untermauerten.317 Franziska Metz-
314 Vgl. Marchal (1997), S. 192-194. 315 Vgl. zum Zusammenhang von Religion und Nation Altermatt, Urs/Metzger, Franziska: Religion und Nation. Katholizismen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart: Kohlhammer 2007; Haupt (2004); Haupt/Langewiesche (2001); Altgeld, Wolfgang: »Religion, Denomination and Nationalism in Nineteenth-Century Germany«, in: Smith (2001), S. 49-66. 316 Vgl. Becker (2001b), S. 416. Vgl. dazu auch die Ergebnisse der quantitativen Analyse, die zeigen, dass in der katholischen Zeitschrift weitaus mehr mittelalterliche und weniger Zeitgeschichte dargestellt wurde als in den nicht katholischen Magazinen: Fast ein Drittel der Darstellungen der Alten und Neuen Welt thematisierten das Mittelalter, während es in den anderen Zeitschriften nur zwischen 13 und 22% der Geschichtsdarstellungen ausmachte, vgl. Diagramm 2. 317 Vgl. Kuhlemann (2004), S. 41-44, Zu Niklaus von Flüe vgl. Altermatt, Urs: »Religion, Nation und Gedächtnis im Schweizer Katholizismus. Das Beispiel von Klaus von Flüe als polyvalente Erinnerungsfigur«, in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte 10 (2006), S. 31-44; Metzger (2010), S. 13-15. Zum Bonifatiuskult vgl. Weichlein, Siegfried: »Religion und Nation. Bonifatius als politi-
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ger konstatiert ein »entanglement« von Religion, Geschichte und Nation,318 das auch die populären Geschichtsdiskurse in Familienzeitschriften durchzog. Die Untersuchung konfessionell geprägter Populärgeschichte fand bisher nur vereinzelt statt. Ebenso wurde der Faktor Konfession als konstitutives Element populärer Geschichte bisher weitgehend ausgeklammert.319 Zur Bedeutung der Reformation für die (protestantische) Erinnerungskultur sowie zur protestantischen Prägung nationaler Erinnerungskulturen liegen zwar diverse Forschungen vor,320 doch katholische Populärgeschichte ist mit wenigen Ausnahmen kaum erforscht.321
scher Heiliger im 19. und 20. Jahrhundert«, in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte 100 (2006), S. 45-58; Rasche (2002), S. 42-51. Als Bestandteil dieses nationalen Katholizismus ist auch das Interesse am und die Verehrung des Mittelalters zu lesen, die keineswegs ein rein anti- oder vornationales Phänomen war; stattdessen konnte das Mittelalter ein Leitbild für den modernen Nationalstaat bieten, vgl. Becker (2001b), S. 406; Klug, Matthias: Rückwendung zum Mittelalter? Geschichtsbilder und historische Argumentation im politischen Katholizismus des Vormärz, Paderborn: Schöningh 1995. 318 Vgl. Metzger, Franziska: »Entangled Discourses. Religion, Geschichte, Nation in der katholischen Kommunikationsgemeinschaft der Schweiz«, in: Altermatt/Dies. (2007), S. 153-175. 319 Berger nimmt Religion allerdings als Faktor der Geschichtskultur auf, vgl. Berger (2008), darin besonders Kennedy (2008). 320 Vgl. Kuhlemann (2004), S. 35-39; Metzger (2004); Eibach, Joachim/Sandl, Marcus: »Einleitung«, in: Joachim Eibach (Hg.), Protestantische Identität und Erinnerung. Von der Reformation bis zur Bürgerrechtsbewegung in der DDR, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003, S. 9-26, hier S. 9; Chaix, Gérald: »Die Reformation«, in: Franҫois/Schulze (2002a), S. 9-27; Cramer, Kevin: »The Cult of Gustavus Adolphus. Protestant Identity and German Nationalism«, in: Smith (2001), S. 97120. Gerade in der Konstruktion einer religiös geprägten deutschen Nationalgeschichte lassen sich die komplementären Phänomene der Konfessionalisierung der Nation einerseits und der Nationalisierung der Religion andererseits, gut erkennen. Zum Konglomerat aus Geschichte, Konfession und Nation siehe Becker (2001b), S. 415; Laube, Stefan: »Konfessionelle Brüche in der nationalen Heldengalerie. Protestantische, katholische und jüdische Erinnerungsgemeinschaften im deutschen Kaiserreich«, in: Haupt/Langewiesche (2001), S. 293-332. 321 Eine ausführliche Untersuchung katholischer Geschichtskultur in der Schweiz liegt von Franziska Metzger vor, vgl. Metzger (2010). Siegfried Weichlein untersucht populäre Monographien am Beispiel Ludwig Pastors »Geschichte der Päpste«, vgl.
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Der Überblick hat gezeigt, dass die konfessionelle Spaltung konstitutiv für die Gesellschaft des Kaiserreichs war und dass sowohl die Medienlandschaft als auch die Geschichtskultur konfessionell geprägt waren. Im nächsten Schritt arbeite ich von diesem Forschungsstand ausgehend die Bedeutung konfessioneller Verortung für die populäre Geschichte und insbesondere für Familienzeitschriften heraus. Katholizismus, Protestantismus und nichtchristliche Religionen in Familienzeitschriften Religiöse Kategorien durchzogen vor allem in der katholischen Alten und Neuen Welt und im protestantischen Daheim einen Großteil der Geschichtsdarstellungen. Doch auch in den anderen Zeitschriften erwies sich christliche Geschichte als äußerst dominant, sie machte im Durchschnitt um die 80% der Darstellungen aus (vgl. Tabelle 6). Auch wenn Religionszugehörigkeit nicht explizit thematisiert wurde, lag vielen Artikeln trotzdem ein christliches Selbstverständnis und ein christlicher Gegenstandsbereich zugrunde. Auf diese Weise wurde eine christliche Geschichte geschrieben, auch ohne diese zu benennen. Dieses ›implizite Christentum‹ durchzog einen großen Teil der Darstellungen – zwischen einem Drittel in der Alten und Neuen Welt und zwei Fünfteln im Daheim. Tabelle 6 fasst diese impliziten wie expliziten Bezüge auf das Christentum zusammen und verdeutlicht, welch großen Raum das Christentum gegenüber anderen Religionen einnahm. Die konfessionelle Trennung der christlichen Geschichtskultur zeigt sich besonders deutlich beim Vergleich des protestantischen Daheim und der katholischen Alten und Neuen Welt. Sowohl für protestantische als auch für katholische Gemeinschaften hatte der Rückgriff auf Geschichte wichtige gemeinschaftsstiftende Funktionen: Die Geschichte lieferte konfessionelle Vorbilder und HeldInnenfiguren und diente dazu, dass sich LeserInnen in einer langen konfessionellen Tradition verorten konnten. Gleichzeitig war der Rückgriff auf Geschichte auch ein Mittel konfessionspolitischer Auseinandersetzungen in der Gegenwart. Ge-
Weichlein (2005). Weichlein bleibt allerdings stark an Fragen politischer Instrumentalisierung haften, wenn er die katholische Populärgeschichte vor allem als ultramontane Geschichtsschreibung begreift. Einen Ansatz, der weniger politische Konfliktlinien betont, sondern katholische Geschichtskultur als Ausdrucksform sozialmoralischer Milieus begreift und die Bedeutung von Geschichte für die Konstituierung dieser Milieus herausstreicht, findet sich bei Ursula Rasches Untersuchung katholischer Verlage, vgl. Rasche (2002).
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rade in der Verhandlung konfessioneller Konflikte ließen sich konfessionelle Identitäten über Geschichte konstruieren und affirmieren. Tabelle 6: Explizites und implizites Christentum in Geschichtsdarstellungen der Familienzeitschriften 1890-1913 alle ZS
GL
DA
ANW
NW
SZ
Explizites Christentum
46,1%
48,8%
45,9%
57,0%
33,2%
44,2%
Implizites Christentum
35,1%
32,5%
41,0%
27,8%
40,1%
33,1%
Sonstige
18,8%
19,6%
13,2%
15,2%
26,7%
22,7%
Quelle: DGFZ.
Die beiden christlichen Zeitschriften widmeten dem Thema Religion in der Geschichte viel Aufmerksamkeit, wobei sie ihre je spezifischen historischen Themen und Traditionen pflegten. In den Darstellungen, die sich explizit oder implizit mit dem Christentum auseinandersetzten, beschäftigte sich die Alte und Neue Welt in 45,3% der Artikel und Illustrationen mit KatholikInnen und stellte dem Protestantismus nur 5,7% ihres Platzes zur Verfügung. Demgegenüber legte das Daheim mit 26,3% protestantischer versus 15,3% katholischer Geschichte seinen Schwerpunkt auf protestantischer Geschichte (vgl. Diagramm 8). In den nicht explizit konfessionell verorteten Zeitschriften lässt sich ein größeres Gewicht auf dem Katholizismus feststellen – was unter anderem durch den Umstand zu erklären ist, dass mittelalterliche westeuropäische Geschichte als katholische Geschichte geschrieben wurde. Der Großteil der Darstellungen aller Zeitschriften schloss jedoch beide christlichen Konfessionen ein – ein Hinweis darauf, dass trotz der konfessionellen Spaltung von Gesellschaft und Geschichtskultur ein allgemeinchristlicher Rahmen mitteleuropäischer Geschichte bestand – die Geschichten von Protestantismus und Katholizismus waren in der Neuzeit kaum voneinander trennbar. Auch die überkonfessionellen und säkularen Zeitschriften standen nicht außerhalb religiöser Einflüsse. Die hier behandelten Familienzeitschriften positionierten sich ausnahmslos und auf sehr selbstverständliche Weise in christlicher Tradition stehend. Die konfessionelle Ausrichtung äußerte sich eher implizit denn explizit – so zeigte sich der implizite Protestantismus von Gartenlaube und Sonntags-Zeitung besonders in deren Nähe zum kleindeutsch-protestantischen
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Nationalstaat;322 in der Neuen Welt wurde er meist im Antikatholizismus deutlich, der in durchaus kulturkämpferischer Tradition stand. Die protestantische Symbiose aus Religion und Nation wurde durch die Kontinuitätserzählung von preußischer hin zu nationaldeutscher Geschichte hergestellt, durch eine inhaltliche Schwerpunktsetzung auf protestantische Gebiete im Norden und Osten Deutschlands sowie durch die Konzentration auf protestantische Helden und Heldinnen der Geschichte. Diagramm 8: Christliche Geschichte in Familienzeitschriften 1890-1913323 100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% alle ZS Protestantismus
GL
DA Katholizismus
ANW
NW
SZ
Nicht konfessionell differenziert
Quelle: DGFZ.
Dieses Konglomerat machte einen wichtigen Bestandteil nationaldeutscher Geschichtskultur des Kaiserreichs aus, strukturierte also auch das Umfeld, in dem die Zeitschriften entstanden und gelesen wurden. Derartig in einer nationalen Geschichtskultur verankert, musste die Verbindung von Protestantismus und Nationalstaat meist nicht mehr expliziert werden: In der Trias deutschnational,
322 Die Gartenlaube positionierte sich im Kulturkampf klar auf Seiten des Staates gegen die katholische Kirche, vgl. Koch (2003), S. 192-194. 323 Die Grafik bezieht sich nur auf explizite Darstellungen christlicher Geschichte. Unter nicht konfessionell differenzierte christliche Geschichte fallen solche Artikel, die sich mit dem Christentum als Ganzem befassten, die beiden Konfessionen Platz einräumten, oder die die konfessionelle Zugehörigkeit ihrer AkteurInnen nicht thematisierten, aber in einem christlich-westlichen Kontext verortet waren.
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preußisch und protestantisch wurde zwar die Nation und besonders im Daheim auch die nationale Bedeutung Preußens stets betont, der Protestantismus der ProtagonistInnen jedoch nur selten.324 Eine direkte Gleichsetzung von deutscher Nation und protestantischer Konfession fand nur selten statt, indirekt aber war die Nation sehr wohl maßgeblich protestantisch definiert. Das zweite große Thema protestantischer Geschichtskultur neben der Nationswerdung war die Reformation,325 die in großem Maße personalisiert und auf die Figur Luther hin zugespitzt wurde.326 Das Thema wurde im Daheim von renommierten Autoren behandelt, so etwa von Historiker Max Lehmann. Er veröffentlichte 1899 die dreiteilige Serie »Luther vor Kaiser und Reich«, die sich mit der Anhörung Luthers vor dem Wormser Reichstag und ihrer Vorgeschichte auseinandersetzte.327 Auch andere Akademiker schrieben für das Daheim über Luther: Der Heidelberger Theologe und Professor für Kirchengeschichte Adolf Hausrath, der auf dem populären Markt vor allem für seine Biographie Luthers bekannt war,328 publizierte im Daheim einen zweiteiligen Artikel über das Leben des jungen, noch katholischen Luther.329 Auch der Bibliothekar Theodor Schott, der 1897 einen zweiteiligen Aufsatz über Luther und Melanchthon veröffentlich-
324 So etwa bei Becker, H., Schleiermachers Wirken im Dienste des Vaterlandes 1806-1815, in: DA 1912, Nr. 49, S. 18-22. 325 Zur protestantischen Historiographie und Erinnerung an die Reformation vgl. Metzger (2004); Eibach/Sandl (2003); Chaix (2002); Becker (2001b); Lehmann, Hartmut: »Er ist wir selber: der ewige Deutsche. Zur langanhaltenden Wirkung der Lutherdeutung von Heinrich von Treitschke«, in: Gerd Krumeich (Hg.), »Gott mit uns«. Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000, S. 91-104; Müller, Hans M.: »Geschichtsbewußtsein im deutschen Luthertum um 1900«, in: Jahrbuch der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte 93 (1995), S. 179-192. 326 Insgesmt 17 Artikel beschäftigen sich im Daheim innerhalb des Untersuchungszeitraumes mit der Person Luthers. Eine Personalisierung Luthers tauchte ansonsten nur einmal in der Gartenlaube auf. 327 Vgl. Lehmann, Max, Luther vor Kaiser und Reich, in: DA 1899, S. 794-798, 806-808, 822-826. 328 Vgl. Hauß, Fritz: »Hausrath, Adolf«, in: Neue Deutsche Biographie 8 (1969), S. 126-127. 329 Vgl. Hausrath, Adolf, Luther als Klosteroberer, in: DA 1899, S. 300-303, 310-314.
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te,330 war auf wissenschaftlichem wie populärem Gebiet als Kenner der Reformationsgeschichte anerkannt.331 In der katholischen Alten und Neuen Welt wurde die Reformation nicht ausgeklammert, doch nahm sie einen deutlich geringeren Stellenwert ein. Ihre eigene katholische Tradition baute die Alte und Neue Welt auf römisch-katholischer Kirchengeschichte auf. Insgesamt lag ihr Fokus stärker auf der Antike – dem Zeitraum, in dem die katholische Kirche sich konstituierte – und dem Mittelalter – der Epoche ihrer größten Macht. Große Männer der Kirche, sowohl zeitgenössische wie historische, wurden hier portraitiert,332 ebenso die Geschichte von Orden, Klöstern und Pilgerstätten.333 Das Urchristentum war ebenfalls ein wichtiger Topos. Viele Artikel der Alten und Neuen Welt bedienten antiprotestantische Ressentiments, oftmals verbunden mit einem Vorwurf des protestantischen Vaterlandsverrats334 – ein Vorwurf, der vor dem Hintergrund des Kulturkampfes und der Unterstellung, die katholische Bevölkerung verrate das Vaterland,
330 Schott, Theodor, Luther und Melanchthon – ein deutsches evangelisches Freundespaar, in: DA 1897, S. 314-317. 331 Vgl. Krauß, Rudolf: »Schott, Theodor«, in: Allgemeine deutsche Biographie (1908), S. 167-170. 332 Vgl. Meier, Gabriel, Papst Gregor der Große. Zum dreizehnten Zentarium seines Todes, in: ANW 1904, S. 742-744; Baumgartner, Alexander, Pankratius Vorster, der letzte Abt von St. Gallen und sein Geschichtsschreiber G. J. Baumgartner, in: ANW 1892, S. 336-338; Beck, Cl., Der heilige Corbinian, erster Bischof von Freising, in: ANW 1894, S. 623-627. 333 Vgl. Hirtz, Arnold, Die ehemalige Reichsabtei Lorsch, in: ANW 1902/03, S. 104108; Frohn, Joseph, Knechtsteden einst und jetzt, in: ANW 1905, S. 710-714; Söbling, W., Zwei Wallfahrtsorte im Elsaß, in: ANW 1906, S. 657-660; Jucundus, P., Die Kapuziner in der Schweiz, in: ANW 1920, S. 397-399. 334 Dass Deutschland nicht unter die Herrschaft der Türken und des Islam gefallen sei, so Ferdinand Zöhrer in der Alten und Neuen Welt, habe es allein den Habsburgern zu verdanken gehabt, die als Schutzherren der Kirche das Martyrium gegen den »Erbfeind der Christenheit« angetreten seien. Als Dank seien sie mit der Reformation bedacht worden, mit der die Protestanten der katholischen Kirche und dem Hause Habsburg, noch im Krieg mit den Türken befindlich, quasi in den Rücken gefallen seien. Vgl. Zöhrer, Ferdinand, Vom Ahn zum Enkel. Gedenkblatt zum fünfzigjährigen Regierungsjubiläum des Kaisers Franz Joseph I. von Oesterreich, apostolischen Königs von Ungarn, in: ANW 1898, S. 228; vgl. auch Stabilis, R., Markgraf Jakob der Dritte von Baden. Ein fürstliches Konvertitenbild, in: ANW 1891, S. 343-352.
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durchaus eine politische Funktion hatte – oder arbeiteten an der Wiederherstellung des katholischen Rufes in Geschichte und Gegenwart.335 Diagramm 9: Religionen in Geschichtsdarstellungen der Familienzeitschriften 1890-1913 100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% alle ZS Christentum
GL Judentum
DA Islam
ANW
NW
Heidnische Religionen
SZ Sonstige
Quelle: DGFZ.
Welche anderen Religionen jenseits des Christentums waren in den Zeitschriften präsent? Der größte Anteil nichtchristlicher Geschichte lag in allen Zeitschriften bei vorchristlichen ›heidnischen‹ Religionen des europäischen Raums (9%, vgl. Diagramm 9). Große Teile der vormittelalterlichen Geschichte Europas, insbesondere die Geschichte ›der Germanen‹ fallen unter diese Codierung. Außereuropäische Religionen waren wie auch außereuropäische Geschichte unterreprä-
335 Der Autor Karl Fried etwa überprüfte die Sage um den Mäuseturm auf ihren Wahrheitsgehalt. Die Sage erzählt vom katholischen Bischof Hatto, der während einer Hungersnot im 10. Jahrhundert seine hungernde Bevölkerung in eine Scheune gesperrt und verbrannt habe. Daraufhin sei er in eben diesem Turm von tausenden von Mäusen bei lebendigem Leibe aufgefressen worden. Diese Sage, so Fried, werde »von kirchenfeindlicher Seite« als »blanke Wahrheit« wiedergegeben und sogar in protestantische Schulbücher aufgenommen. Demgegenüber bezeugte er nach neuesten Forschungsergebnissen den vorchristlichen Ursprung der Sage und entlastete somit Bischof Hatto, aber auch die gesamte katholische Kirche, vgl. Fried, Karl, Die Mäuseturm-Sage, in: ANW 1894, S. 18.
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sentiert. Sie wurden oft in Zusammenhang mit fremden Kulturen und deren Geschichte thematisiert, meist mit einem exotisierenden Blick auf ›das Andere‹.336 Der Islam war aufgrund seiner relativen Nähe zu (West-)Europa und der gemeinsamen Geschichte die am häufigsten dargestellte nichtchristliche Religion (1%). Die Darstellungen reichten von positiven Würdigungen des Islam337 bis hin zu kritischen Auseinandersetzungen, die sich meist um die militärische Stärke muslimischer Länder drehten und den Islam im direkten Vergleich mit dem Christentum bewerteten. Welche Religion die friedliebendere sei, darüber waren sich die verschiedenen AutorInnen jedoch uneins. Walter Schönemann zeichnete in der SonntagsZeitung den Islam als Religion der militärischen Gewalt im Kontrast zum auf Nächstenliebe aufbauenden Christentum und konstatierte, aufgrund dieses Charakters könne der Islam »seine werdende Kraft nur im Orient ausüben« und müsse ob der »überlegenen Weltanschauung« christlicher Staaten an jedem Versuch scheitern, in Europa Fuß zu fassen.338 Demgegenüber würdigte H. Graf zu Dohna im Daheim die militärischen Erfolge der Türken bei der Eroberung Konstantinopels und den Aufstieg einer »kleine[n] Nomadenhorde« zu einer »Weltmacht«.339 Die Neue Welt kehrte die Argumentation um und beschrieb die katholische Kirche als gewaltvolle Religion im Gegensatz zum toleranten und friedliebenden Islam: »Die Lehre des Propheten war nicht mit Feuer und Schwert verbreitet worden, wohl aber wurde der Glaube an den Nazarener mit Galgen und Rad, mit Scheiterhaufen und Tortur, mit allen Qualen erzwungen, die die erfinderische Grausamkeit des Menschen je ersonnen hat.«340
336 Vgl. Westphal, Carl, Tjandi Boro Budur. Ein Zeuge buddhistischer Vergangenheit auf der Insel Java, in: GL 1912, S. 604-606; Gottwald, J., Im Alten Serail zu Stambul, in: ANW 1907, S. 136-142. 337 Vgl. Graf zu Dohna, H., An der Todestätte Muhammed des Eroberers im bithynischen Chersones, in: DA 1903, Nr. 19, S. 19-22. 338 Schönemann, Walter, Der Islam im Lichte der Geschichte. Mohammed und seine Religion, in: SZ 1908/09, S. 967. 339 Vgl. Graf zu Dohna, H., An der Todestätte Muhammed des Eroberers im bithynischen Chersones, in: DA 1903, Nr. 19, S. 19, 21. 340 Anonym, Zu unserem Bilde. Aus der Zeit der spanischen Judenverfolgung, in: NW 1892, S. 400.
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Dass das Judentum in fast allen Zeitschriften in weniger als 3%, meist sogar in unter 1% der Artikel verhandelt wurde, ist sicher eine Konsequenz der Quellenauswahl, die lediglich Zeitschriften mit einem explizit oder implizit christlichen (und mit Ausnahme der Alten und Neuen Welt protestantischen) Selbstverständnis umfasst.341 Doch es zeigt auch, dass auch Zeitschriften mit säkularem Selbstverständnis, namentlich Gartenlaube und Sonntags-Zeitung, tatsächlich christlich orientierte Zeitschriften waren, die die Minderheit der jüdischen Bevölkerung kaum in ihr Geschichtsprogramm aufnahmen – auch wenn diese wahrscheinlich einen Teil ihrer LeserInnenschaft stellte. Eine Ausnahme war die sozialdemokratische Neue Welt, die sich regelmäßig mit der (insbesondere mittelalterlichen) Geschichte des europäischen Judentums auseinandersetzte. Häufige Themen waren dabei christliches Zinsverbot und mittelalterliche Wirtschaftsstrukturen und deren Zusammenhänge mit Verfolgungen und Diskriminierungen jüdischer Menschen.342 Die AutorInnen erläuterten das komplexe Verhältnis von
341 Es existierte zwar im Untersuchungszeitraum eine breite jüdische Presselandschaft, doch umfasste diese nur wenige und sehr kurzlebige Familienzeitschriften, die den typischen Aufbau aus Unterhaltung und Belehrung, aus Romanen, Illustrationen und bildenden Sachtexten aufwiesen. Das Frankfurter israelitische Familienblatt (19021923) trug zwar die Genrebezeichnung im Namen, war jedoch stärker faktual und tagesaktuell orientiert als die klassischen Familienzeitschriften. Geschichtsdarstellungen fanden sich hier nur wenige. Die Familienzeitschrift Die Deborah. Ein Volksblatt zur Belehrung und Unterhaltung für Israeliten (1865-66) brachte die Mischung aus Fiktionalem und Faktualem mit einem starken Fokus auf jüdischem Leben, enthielt allerdings nur sehr wenige Beiträge zur Geschichte. Die Illustrirten Monatshefte für die gesammten Interessen des Judenthums (1865-66) hielten sich nur ein Jahr lang. Es existierten diverse Fachzeitschriften für jüdische Geschichte und viele Zeitschriften, die sich intensiv mit Fragen jüdischer Identität auseinandersetzten, doch diese gehörten nicht zum Genre der Familienzeitschrift. Es ist daher anzunehmen, dass relativ säkulare Zeitschriften wie die Gartenlaube, die SonntagsZeitung und die Neue Welt auch von jüdischem Publikum gelesen wurden. Eine digitalisierte Zusammenstellung der wichtigsten deutschsprachigen jüdischen Periodika im Zeitraum 1806-1938 bietet die Sammlung Compact Memory der Goethe Universität Frankfurt/Main, http://sammlungen.ub.unifrankfurt.de/cm/navindex/all. 342 Vgl. Demmer, A., Kapital und Arbeit im alten Florenz, in: NW 1903, S. 179-182, 188-189; Rosenow, Emil, Zins und Geldverkehr in früherer Zeit, in: NW 1903, S. 123; Wahrmund, Ernst, Christentum und Wucher. Kulturhistorische Skizze, in: NW 1896, S. 536-539; Laufenberg, Heinrich, Zinsverbot und Zinswucher, in: NW
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katholischem Zinsverbot, der daraus folgenden Übertragung von Handel und Zinsgeschäft auf Juden, die Verschuldung vieler Menschen bei jüdischen Kaufleuten und der Diskriminierung, Ausbeutung und Verfolgung von Jüdinnen und Juden durch kirchliche und weltliche Obrigkeiten, aber auch durch das ›Volk‹. Die Diskriminierung und Ausbeutung der jüdischen Bevölkerung wurden damit im Kontext gesamtgesellschaftlicher sozialer Ungleichheit verhandelt. Als Hauptakteurin der Diskriminierungen beschrieb Emil Rosenow allerdings die katholische Kirche: Diese habe die Juden in ihre Rolle als Träger des vom Christentum verbotenen Handels und Wuchers gedrängt und sie »mit finsterem Hass« verfolgt, »um sich dann alsbald wieder ihrer zu bedienen, sie zu schröpfen und auszusaugen, sich an ihrem Gelde zu bereichern.« Doch nicht allein die katholische Kirche, auch Luther habe sich durch antisemitische Schriften hervorgetan. »Wie eine blutige Spur«, schloss der Autor, »zieht sich durch das ganze Mittelalter die schreckliche Verfolgung der Juden.«343 Einen Grund für das Interesse der Neuen Welt an der Geschichte der Judenverfolgungen äußerte Jacob Stern, der selbst jüdischer Herkunft war und sich nach einer abgebrochenen Karriere als Rabbiner hauptberuflich der sozialdemokratischen Publizistik zugewandt hatte.344 Stern verglich die Lage des mittelalterlichen Judentums mit der Situation des modernen Proletariats: Beide Gruppen seien geringgeschätzt und verachtet, beinahe rechtlos und verleumdet, in unsicherer Existenz lebend und Verfolgungen ausgesetzt. Der Unterschied zwischen den Juden und den modernen Arbeitern liege jedoch darin, dass erstere den Gedanken einer »Emanzipationsbewegung durch eigene Kraft« nicht gekannt hätten.345 Die Thematisierung mittelalterlicher Judenverfolgungen fügte sich in der Neuen Welt nicht allein in ihr Programm, die Geschichte der Herrschenden geradezurücken, sondern auch in ihre Konstruktion eigener Traditionen, in die Suche nach historischen Vorläufern der modernen ArbeiterInnenklasse und -bewegung.
1909, S. 19-22, 27-29; Laufenberg, Heinrich, Die Kölner Juden im Mittelalter, in: NW 1906, S. 43, 50-54. 343 Rosenow, Emil, Zins und Geldverkehr in früherer Zeit, in: NW 1903, S. 124 344 In der Neuen Welt verfasste Stern unter anderem mehrere Beiträge zur jüdischen Geschichte, vgl. Stern, Jakob, Rabbinische Freigeister im Mittelalter, in: NW 1903, S. 364-365; Ders., Der letzte Messias, in: NW 1910, S. 51-53; Ders., Ein Heine des 13. Jahrhunderts, in: NW 1904, S. 227-228. 345 Vgl. Stern, Jakob, Ein jüdisches Parlament von hundert Jahren, in: NW 1907, S. 150.
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Innerhalb der Sozialdemokratie war die »Judenfrage«346 ein Thema theoretischer und politischer Debatten. Die Parteiführung positionierte sich spätestens seit den 1890er Jahren klar gegen Antisemitismus,347 gleichzeitig hatte aber dieser innerhalb der ArbeiterInnenbewegung und besonders im Handwerk durchaus Tradition:348 Im Bild des jüdischen Wucherers verbanden sich Antikapitalismus und Judenfeindlichkeit.349 So spiegelte die Auseinandersetzung der Neuen Welt mit historischem Antisemitismus eine allgemein in der Bewegung geführte Debatte und kann als Aufklärung einer potentiell antisemitischen LeserInnenschaft gelesen werden. Dafür spricht der Anspruch des Autors Emil Rosenow, der »Geschichtsverfälschung« vorzubeugen, die Not des Volkes im späten Mittelalter sei »die alleinige Folge der wucherischen Ausbeutung durch die jüdischen Kapitalsverleiher« gewesen.350 Gleichzeitig mit der Kritik des Antisemitismus thematisierte die Neue Welt den Ausschluss der Judenverfolgungen aus der Geschichte der europäischen Christenheit: Das »internationale Christenthum«, das die Christenverfolgungen unter den römischen Kaisern »gründlich verfluchte und verwünschte«, habe »seinerseits die Juden mindestens ebenso grausam behandelt, aber in seiner Kirchengeschichte kein Kapitel mit der Ueberschrift ›Judenverfolgungen‹ eingeführt.«351 Diese Kritik war umso treffender, als dass sich tatsächlich außer der Neuen Welt keine der untersuchten Zeitschriften ausführlich mit den antijüdischen Pogromen oder allgemein mit der Geschichte des deutschen und europäischen Judentums befasste. Inmitten des äußerst breit aufgestellten historischen Programms der Familienzeitschriften, welche die Geschichte verschiedenster Bevölkerungsgruppen im eigenen Land darstellten und über fremde Länder und deren Bevölkerung und Religionen berichteten, blieb jüdische Geschichte eine Leerstelle und bis auf wenige Ausnahmen, die antike jüdische Geschichte als
346 Vgl. Naʼaman, Shlomo: »Die Judenfrage als Frage des Antisemitismus und des jüdischen Nationalismus in der klassischen Sozialdemokratie«, in: Ludger Heid (Hg.), Juden und deutsche Arbeiterbewegung bis 1933. Soziale Utopien und religiöskulturelle Traditionen, Tübingen: Mohr 1992, S. 43-58. 347 Vgl. ebd., S. 48. 348 Vgl. Herzig, Arno: »Judenhaß und Antisemitismus bei den Unterschichten und in der frühen Arbeiterbewegung«, in: Heid (1992), S. 1-18, hier S. 9f. 349 Vgl. ebd., S. 11. 350 Rosenow, Emil, Zins und Geldverkehr in früherer Zeit, in: NW 1903, S. 124f. 351 Wahrmund, Ernst, Mittelalterlicher Antisemitismus, in: NW 1899, S. 99.
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Vorläufer früher christlicher Geschichte thematisierten,352 unsichtbar. Dieser Befund bedeutet allerdings auch, dass es in den Zeitschriften keine antisemitisch aufgeladenen historischen Beschwörungen der »Judenfrage« gab – in einer Gesellschaft, die zwar JüdInnen relativ erfolgreich assimiliert und im Laufe der 1860er Jahre beziehungsweise bis 1871 auch rechtlich gleichgestellt hatte, die jedoch auf eine lange Tradition antijüdischen Gedankenguts zurückblicken konnte und in der ein neuer aggressiver Antisemitismus vor dem Hintergrund der konservativen Wende der späten 1870er Jahre gerade salonfähig wurde. So waren Ende der 1870er Jahre mit Adolf Stoeckers Christlich-sozialer Arbeiterpartei und Wilhelm Marrs Antisemitenliga zwei radikale antisemitische Organisationen entstanden.353 Das Gros der antisemitischen Organisation vollzog sich auf Vereinsebene und an den Universitäten und wurde medial popularisiert.354 Gerade Historiker trugen dazu bei, antisemitisches Gedankengut zu verbreiten, waren doch einige der erfolgreichsten antisemitischen Schriften zugleich Geschichtswerke.355 Heinrich von Treitschkes 1879 erschienene antisemitische Streitschrift »Unsere Aussichten«, in der er eine Analyse der Lage des Kaiserreichs und des Liberalismus aufs engste mit der »Judenfrage« verknüpfte, war ein wichtiger Meilenstein, der Antisemitismus auch in der bürgerlichen Gesellschaft salonfähig machte.356 Das gebildete Bürgertum ging zwar auf Distanz zu radikalen antisemitischen Hetzern wie Stoecker und Marr und deren »Radauanti-
352 Vgl. Wendland, Paul, Palästina im Zeitalter Christi, in: SZ 1903/04, S. 218-219; Berghaus, A., Wer hat Jerusalem zerstört?, in: ANW 1902/03, S. 421-422. 353 Vgl. Jochmann, Werner: »Struktur und Funktion des deutschen Antisemitismus 1878-1914«, in: Wolfgang Benz/Werner Bergmann (Hg.), Vorurteil und Völkermord. Entwicklungslinien des Antisemitismus, Freiburg: Herder 1997, S. 177-218, hier S. 181-183. 354 Zur medialen Popularisierung antisemitischer Stereotype vgl. Hopp, Andrea: »Zur Medialisierung des antisemitischen Stereotyps im Kaiserreich«, in: Werner Bergmann/Ulrich Sieg (Hg.), Antisemitische Geschichtsbilder, Essen: Klartext-Verlag 2009, S. 23-38. 355 Vgl. Bergmann, Werner/Sieg, Ulrich: »Geschichte als Akklamationsinstanz und Waffe«, in: Dies. (2009), S. 7-22, hier S. 8; vgl. auch die anderen Beiträge des Bandes. 356 Vgl. zum Berliner Antisemitismusstreit Jensen, Uffa: Gebildete Doppelgänger. Bürgerliche Juden und Protestanten im 19. Jahrhundert, Kapitel 4: Treitschke gegen Juden. Der erste Streit über jüdische Identität in der bürgerlichen Bildungskultur, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, S. 194-268.
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semitismus«,357 konnte sich aber mit dem äußerst bürgerlichen und gebildeten Antisemitismus eines Treitschke, der seine Ideen mit »Das wird man doch noch sagen dürften«-Rhetorik verkaufte, sehr gut identifizieren.358 Insbesondere in der Studentenschaft konnte antisemitisches Gedankengut Fuß fassen und wurde in den 1880er Jahren von jungen Akademikern, aber auch von Handwerkern und Kleinbürgertum in die politischen und kulturellen Vereine auf lokaler und regionaler Ebene getragen.359 Diese antisemitische Normalität, die mit einer Abkehr von liberalem Gedankengut, mit Antimodernismus und Nationalismus zusammenging, war es, die Shulamit Volkov als »kulturellen Code« benennt.360 Vor allem im protestantischen Milieu wurden antisemitische Ideen in Vereinen und Verbänden institutionalisiert,361 doch auch die katholischen antijüdischen Stereotypen und Ideen unterschieden sich nur geringfügig von ihren protestantischen Pendants, wenn sie auch in der Regel nicht organisiert waren.362 Thomas Gräfe fasst daher katholische und protestantische Antisemitismen als »christlichkonservativen« Antisemitismus zusammen, und betont dessen Genese als Reaktion auf die Entchristlichung der Moderne.363 Dieser modernekritischen Judenfeindlichkeit stellt Gräfe den völkisch-rassistischen Antisemitismus gegenüber, der seit den 1880er Jahren an Boden gewann, aber im Kaiserreich bei weitem nicht so einflussreich gewesen sei wie der christlich-konservative. Erst in der
357 Ebd., S. 214. 358 Vgl. ebd., S. 214-216. 359 Vgl. ebd., S. 189-191, 196f. 360 Shulamith Volkov teilt die Gesellschaft in zwei kulturelle Lager ein, die sie als Antisemitismus und Emanzipation bezeichnet. Antisemitismus sei dabei eher als symbolischer Wert zu begreifen denn als eine direkte Haltung gegenüber Juden und Jüdinnen. Das Bekenntnis zum Antisemitismus und damit zu einem ganzen System von Ideen und Einstellungen, in dem Rassentheorie, soziale Frage, Antimodernismus und Nationalismus verknüpft würden, stelle ein »Signum kultureller Identität« und Zugehörigkeit dar. Das emanzipatorische Lager stehe demgegenüber für eine gesamtgesellschaftliche Emanzipation. Vgl. Volkov, Shulamit: Antisemitismus als kultureller Code. Zehn Essays, München: Beck 2000, S. 23, 28-35. 361 Gräfe, Thomas: »Katholischer und völkischer Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich. Schnittmengen und Übergänge am Beispiel des Schriftstellers Max Bewer«, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 20 (2011), S. 156-179, hier S. 157. 362 Vgl. ebd., S. 158. 363 Gräfe, Thomas: Antisemitismus in Deutschland 1815-1918. Rezensionen, Forschungsüberblick, Bibliographie, Norderstedt: Books on Demand 2007, S. 30.
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Weimarer Republik habe der völkische Antisemitismus zu einer Massenideologie werden können.364 So konnte der rassentheoretisch begründete Antisemitismus selbst in den konservativen Familienzeitschriften keinen Fuß fassen. Wolfgang E. Heinrichs hat in seiner Untersuchung des Judenbilds im Protestantismus des Kaiserreichs neben zahlreichen geistlichen Periodika auch Familienzeitschriften auf ihr Judenbild untersucht.365 Explizit für das Daheim macht Heinrichs den Befund, die Zeitschrift sei ob ihrer fortschrittbejahenden Einstellung weitgehend ohne judenfeindliche Äußerungen geblieben. Die Zeitschrift habe soziale, politische und kulturelle Errungenschaften gefeiert, egal ob sie sich mit christlichen oder jüdischen Namen verbunden hätten. So habe das Blatt jüdische Unternehmer in Nachrufen ohne antijüdische Klischees geehrt und als Typus des deutschen Unternehmers, nicht aber als Typus des Juden gezeichnet.366 Der Autor macht die interessante Entdeckung, dass antijüdische Ausfälle allerdings in Krisenzeiten vorgekommen seien, so etwa während der Gründerkrise, in der das Daheim, besonders aber der Redakteur Theodor Pantenius sich den allgemeinen antisemitischen Trends angepasst hätten. Heinrichs kommt zu dem Ergebnis, dass antijüdische Ressentiments in Unterhaltungszeitschriften mit der Haltung zur Moderne korrelierten: Je fortschrittsoptimistischer eine Zeitschrift gewesen sei, desto weniger anfällig habe sie sich für antijüdisches Gedankengut gezeigt. Ein Befund, der die These Gräfes von der Modernefeindlichkeit des christlich-konservativen Antisemitismus bestätigt. Zudem hätten die Redaktionen der zur Erbauung und Unterhaltung ausgerichteten Zeitschriften eine Diskussion der politisch aufgeheizten »Judenfrage« nicht als ihre Aufgabe angesehen.367 So fanden antisemitische aufgeladene Diskurse über JüdInnen und ihre Rolle in der Gesellschaft des Kaiserreichs bemerkenswert geringen Niederschlag in den Familienzeitschriften und ihrer Historiographie. Während sich die Zeitschriften mit offen antisemitischen Artikeln zurückhielten, fand allerdings der Antikatholizismus, in kulturkämpferischer Tradition stehend, durchaus eine Plattform, insbesondere in der Neuen Welt, die ihren Antikatholizismus in eine allgemein antiklerikale Haltung einfügte, wie im folgenden Kapitel deutlich wird.
364 Vgl. ebd., S. 30f. 365 Vgl. Heinrichs, Wolfgang E.: Das Judenbild im Protestantismus des Deutschen Kaiserreichs. Ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte des deutschen Bürgertums in der Krise der Moderne, Gießen: Brunnen-Verlag 2004, S. 224-263, S. 605. 366 Vgl. ebd., S. 608. 367 Vgl. ebd., S. 603.
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Antikatholizismus und Antiklerikalismus: Kritische Auseinandersetzungen mit Religion Die Neue Welt nutzte diverse Geschichtsartikel zur Auseinandersetzung mit dem Christentum und insbesondere mit der Institution der katholischen (und zuweilen auch der evangelischen) Kirche. Der Antiklerikalismus der Neuen Welt bezog sich vor allem auf die wirtschaftliche und politische Macht der mittelalterlichen Kirche und legte die geistlichen wie weltlichen Machtstrukturen des Mittelalters als ökonomische Verhältnisse offen.368 Die Religionskritik fokussierte auf historische Verbrechen der Kirche sowie auf deren Verknüpfung mit Klassen-, Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnissen.369 Viele dieser Verbrechen wurden bildlich dargestellt, zum Beispiel die Verbrechen der Inquisition370 oder der Mission in Südamerika371 – Bilder, die detailreich Verhaftung, Folter und Hinrichtung und von Opfern der katholischen Kirche zeigen. Eine Illustration der Judenverfolgung durch den spanischen Klerus, die nicht nur in der Neuen Welt, sondern auch in der Gartenlaube erschien, zeichnet die katholischen Priester schon beinahe dämonisch (vgl. Abbildung 6).372 Der Holzstich, eine Reproduktion des Gemäldes Michael von Zichys, bezog sich auf die Verfolgung sogenannter »Scheinchristen« – JüdInnen, die sich taufen ließen, um Diskriminierungen und Verfolgungen zu entgehen. Es zeigt eine jüdische Familie, die in ihrem Versteck von einer Gruppe Klerikern und Rittern entdeckt wird. Der Vater, am Boden sitzend, hält schützend seine Arme um Frau und Kinder, die er – nach Interpretation des Begleittextes in der Neuen Welt –
368 Die Reformation und die darauf folgenden konfessionellen Konflikte der frühen Neuzeit waren in dieser Lesart Kämpfe, die weniger in Religion, als in »Interessenund Klassengegensätzen« begründet gewesen seien. Vgl. Conrady, Alexander, Ulrich v. Hutten, in: NW 1912, S. 356. 369 Vgl. Macasy, Gustav, Das Dogma der Unfehlbarkeit. Zum 26. Gedenktage am 18. Juli 1896, in: NW 1896, S. 310-313; Wahrmund, Ernst, Christentum und Wucher, in: NW 1896, S. 536; Rosenow, Emil, Hexen und Hexenglauben im Mittelalter, in: NW 1900, S. 251-252, 259-260. 370 Vgl. Die Tortur. Nach dem Gemälde von M. Léon Olivié, in: NW 1892, S. 207-208; das gleiche Motiv findet sich auch in der Gartenlaube 1889, S. 417. 371 Vgl. Katholische Bekehrungsarbeit an dem Kaziken Hathucci, Illustration zu: Lenz, Victor, Die Entdeckung Amerikas, in: NW 1892, S. 333. 372 Vgl. Aus der Zeit der spanischen Judenverfolgung. Nach dem Gemälde von M. von Zichy, in: NW 1892, S. 399.
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mit dem Dolch getötet habe, um ihnen die Folter zu ersparen.373 Der Anführer der Verfolger, ein Mönch in schwarzer Kutte, sieht mit finsterem Blick auf die kleine Gruppe hinab; seine Ordensbrüder haben verschlagene Gesichtszüge und greifen schon nach den beschlagnahmten Truhen mit den Besitztümern der Familie, was die ökonomischen Interessen der Kirche an der Verfolgung deutlich macht. Über der gesamten Szenerie ragt ein Kruzifix, das die Verantwortlichkeit der Kirche für diese Szenerie und für Inquisition und Verfolgungen überdeutlich macht. Gleichzeitig bedient das Bild aber auch antisemitische Klischees des raffgierigen Juden, hier in Form des Mannes rechts unten im Bild, der noch im Angesicht der Lebensgefahr versucht, seine Besitztümer zu retten. Das Gemälde, 1880 als Holzstich angefertigt, entstand wahrscheinlich in den (späten) 1870er Jahren im Einklang mit der antikatholischen Tradition des Kulturkampfes.374 Abbildung 6: Antikatholische Illustrationen in der Gartenlaube und Neuen Welt
Quelle: Aus der Zeit der spanischen Judenverfolgung.Nach dem Gemälde von M. von ichy, in: NW 1892, S. 399, sowie GL 1880, S. 417.
373 Vgl. Anonym, Zu unserem Bilde. Aus der Zeit der spanischen Judenverfolgung, in: NW 1892, S. 400. 374 Zum kulturkämpferischen Antikatholizismus in der Historienmalerei vgl. Borutta (2010), S. 184-186.
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Der Antikatholizismus, der sich in der Neuen Welt zeigte, stand also auch über 20 Jahre nach Ende des Kulturkampfes durchaus noch in dessen Tradition. Doch auch der Protestantismus wurde zuweilen scharf angegangen: Emil Rosenow argumentierte, Luther habe seine zunächst antikapitalistische Meinung mit fortschreitendem Erfolg der Reformationsbewegung auch bei höheren sozialen Schichten in eine Haltung umgekehrt, die »Zins und Geldwucher das Wort« geredet habe.375 Die Kirche wurde in der Neuen Welt allerdings nicht immer blindlings verurteilt. Der Astronom und Anarchist Anton Pannekoek entlarvte in einem Artikel über Kopernikus und Galileo die angebliche Wissenschaftsfeindlichkeit der mittelalterlichen katholischen Kirche als Idee und rhetorische Strategie der bürgerlichen Aufklärung. Vielmehr habe die Kirche zu Zeiten Kopernikus die Wissenschaft als »einen schönen, erhabenen und angenehmen Zeitvertreib«376 betrachtet und gefördert. Erst mit der Bedrohung durch die Reformation sei die katholische Kirche misstrauisch gegenüber aller potentiellen Herausforderung ihrer Machtstellung geworden.377 Der Antiklerikalismus, der sich in der Neuen Welt oftmals zeigte, war weniger Ausdruck eines allgemeinen Antiklerikalismus der ArbeiterInnenbewegung, sondern eine politische Haltung ihrer Intellektuellen. Die ArbeiterInnenkultur, innerhalb derer die Neue Welt zu verorten ist, stand trotz der theoretischpolitischen Religionskritik ihrer VordenkerInnen in vielfältigen religiösen Traditionen. Katholische und evangelische Arbeitervereine waren keine Seltenheit im Kaiserreich378 und es stellte durchaus keine Ausnahme dar, der Sozialdemokratie anzugehören und sich gleichzeitig konfessionell zu verorten.379 Unter den Intel-
375 Vgl. Rosenow, Emil, Zins und Geldverkehr in früherer Zeit, in: NW 1903, S. 132f. 376 Pannekoek, Anton, Eine Umwälzung der Weltanschauung, in: NW 1910, S. 115. 377 Vgl. ebd, S. 115f. 378 Die Zahl der katholischen Arbeitervereine stieg zwischen 1895 und 1911 von 80.000 auf 435.000 an, die der evangelischen von 50.000 auf 107.000. ArbeiterInnen katholischen Glaubens hatten nicht nur mehr konfessionelle Vereine, sondern auch eine weitaus engere Bindung an Religion und Kirche als protestantische, vgl. Fricke, Dieter: »Die katholischen Arbeitervereine im Wilhelminischen Kaiserreich. Ausdruck der Einheit und inneren Widersprüchlichkeit von ›Arbeiterbewegung – Kirche – Religion‹«, in: Winfried R. Garscha (Hg.), Arbeiterbewegung – Kirche – Religion, Wien, Zürich: EuropaVerlag 1991, S. 150-163, hier S. 150f. 379 So konstatiert Pohl für München im Kaiserreich, es sei dort kein Gegensatz gewesen, Katholik und Sozialdemokrat zu sein, sondern vielmehr die Regel, vgl. Pohl, Karl H.: »Katholische Sozialdemokraten oder sozialdemokratische Katholiken in
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lektuellen der ArbeiterInnenbewegung hingegen gehörten eine atheistische und antiklerikale Einstellung durchaus zum guten Ton, und die Biographien vieler Neue Welt-Autoren zeigt, dass mit der Politisierung oftmals auch eine Abwendung von der Kirche einherging. Heinrich Laufenberg etwa, der in der Neuen Welt zu verschiedensten sozial-, kultur- und politikhistorischen Themen veröffentlichte, wuchs in einem wohlhabenden katholischen Elternhaus in Köln auf und trat nach seinem Studium der Volkswirtschaft und Philosophie 1902 in die Zentrumspartei ein, in deren Organ Germania er für zwei Jahre als Redakteur arbeitete. Nach einem Englandaufenthalt und intensivem Studium der Werke von Marx und Engels distanzierte sich Laufenberg vom Katholizismus und trat 1904 aus der Zentrumspartei aus. Er wandte sich stattdessen atheistischen Denkweisen und der SPD zu und machte bis 1913 Karriere in der parteieigenen Presse und Bildungsarbeit in Hamburg. Nicht nur antiklerikale und atheistische Ideen zeigten sich in der ArbeiterInnenbewegung und ihrer Historiographie, sondern die Bewegung war auch ein Sammelbecken für Freireligiöse, insbesondere für MonistInnen. Der Monismus war eine weltanschaulich-philosophische Haltung, die in ihren Grundprinzipien davon ausging, alle Geschehnisse, Verhältnisse und Erscheinungen der Welt seien auf ein einziges Grundprinzip zurückführbar.380 Stark an Darwin orientiert, verbanden die MonistInnen naturwissenschaftliches und philosophisches Denken und standen oft dem Pantheismus nah.381 Nicht mehr ein transzendentes göttliches, sondern der Mensch als natürliches und soziales Wesen stand im Mittelpunkt des säkularen monistischen Denkens, das konstitutiv für frei- und nichtreligiöse Strömungen wurde.382 Der deutsche Monismus war vor allem durch den Arzt Ernst Haeckel (1834-1919) geprägt, der einen wichtigen Beitrag zur Popularisierung Darwins leistete und 1906 den Deutschen Monistenbund ins Leben rief.383 Zahlreiche SozialdemokratInnen, darunter auch AutorInnen der Neuen Welt wie etwa Hannah Lewin-Dorsch, waren Mitglieder im Monistenbund. Aber nicht allein in sozialistischen, sondern auch in bildungsbürgerlichen Kreisen war
München: ein Identitätskonflikt?«, in: Blaschke/Kuhlemann (1996a), S. 233-253, hier S. 234. 380 Vgl. Mueller, Volker: »Philosophischer Monismus und Naturwissenschaft. Zu Entwicklungen monistischer Weltanschauungen in Deutschland«, in: Arnher E. Lenz/Volker Mueller (Hg.), Darwin, Haeckel und die Folgen. Monismus in Vergangenheit und Gegenwart, Neustadt: Angelika Lenz 2006, S. 33-46, hier S. 35. 381 Vgl. ebd., S. 35, 40. 382 Vgl. ebd., S. 41. 383 Vgl. ebd., S. 36-38.
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die monistische Weltanschauung verbreitet. Adolf Heilborn, der seit der Jahrhundertwende in der Redaktion verschiedener Periodika saß und als freier Autor für die Gartenlaube schrieb, wandte sich als Naturwissenschaftler und Anhänger der Darwinschen Evolutionslehre dem Monismus zu. 1901, drei Jahre nach seiner Promotion in der Medizin, trat Heilborn aus der jüdischen Gemeinde aus und setzte sich fortan in zahlreichen Publikationen und Vorträgen für seinen Lehrer Ernst Haeckel und die monistische Weltanschauung ein.384 Das Fallbeispiel zum Umgang mit Religion und Kirche in der Neuen Welt hat deutlich gemacht, dass das Verhältnis der Zeitschrift, wie auch allgemein der Sozialdemokratie, zur Religion äußerst ambivalent war. Auch wenn die Institution Kirche vielfach Kritik erfuhr, stand die Bewegung gleichwohl in verschiedenen religiösen Bindungen – neben den christlichen Konfessionen und dem Judentum waren hier vor allem freireligiöse Bewegungen wie der Monismus präsent. So war auch die sozialdemokratische Geschichtskultur nicht allein von Antiklerikalismus, sondern auch von religiöser Tradition geprägt. Dass SozialdemokratInnen und KatholikInnen auf gemeinsame religiöse Traditionen zurückblicken konnten, zeigt das folgende Beispiel des Urchristentums, das sowohl in der katholischen Alten und Neuen Welt als auch in der sozialdemokratischen Neuen Welt von Bedeutung war. Das Urchristentum: gemeinsame Tradition von Katholizismus und Sozialdemokratie Dem vielfach kritisierten mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Christentum setzte die Neue Welt ein positives Bild des Urchristentums entgegen. Dieses sei ursprünglich eine kommunistische Gemeinschaft gewesen, in der sich die Unterdrückten und Proletarisierten zusammengefunden hätten.385 In dieser Lesart erschienen die Konflikte zwischen christlicher Gemeinde und römischem Staat als Klassen- und Kulturkampf »gegen das morsch und hinfällig gewordene Heidenthum, [als] Kampf des neuen Glaubens gegen den feindlichen Staat, [als] Kampf des Niedrigen und Verachteten gegen die Vornehmen und Großen«.386 Erst mit
384 Vgl. »Heilborn, Adolf«, in: Lexikon deutsch-jüdischer Autoren, München: Saur 2006, S. 311-325. 385 Vgl. Wahrmund, Ernst, Christentum und Wucher, in: NW 1896, S. 536; Laufenberg, Heinrich, Zinsverbot und Zinswucher, in: NW 1909, S. 19; Erler, Karl [Pseudonym Heinrich Laufenberg], Kommunismus und Armenpflege im Urchristentum, in: NW 1903, S. 371-372, 379-380. 386 Macasy, Gustav, Das Dogma der Unfehlbarkeit, in: NW 1896, S. 310.
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Ende des römischen Reichs habe das Christentum sich von der Religion der Armen zu einer Religion entwickelt, die Reichtümer anhäufe, selbst ausbeuterisch wirke und sich somit von ihren einstigen Idealen entfremdet habe.387 Das Urchristentum war nicht allein in der Neuen Welt Idealbild einer ursprünglichen und unverdorbenen Religion. Während hier die Idee einer kommunistischen Gemeinschaft und die Nähe zu den armen Volksschichten im Vordergrund standen, stellten andere Zeitschriften, allen voran die Alte und Neue Welt, die Christenverfolgungen im alten Rom in den Fokus. Diese wurden meist im Bild dargestellt – immer wiederkehrender Topos waren dabei die Katakomben Roms als Zufluchts- wie Begräbnisort verfolgter ChristInnen. So etwa in der Reproduktion des Gemäldes »Begräbnis in den Katakomben« von V. Vidal, das einen christlichen Trauerzug zeigt, der einen Toten auf dem Leichentuch tragend in die Katakomben hinabsteigt (vgl. Abbildung 7).
Abbildung 7 und 8: Christliche Begräbnisse in den römischen Katakomben
Quellen: Bild links: Begräbnis in den Katakomben. Nach einem Gemälde von V. Vidal, in: ANW 1907, S. 473. Bild rechts: Ankunft eines christlichen Märtyrers in den Katakomben. Nach einem Gemälde von A. Hennebicq, in: ANW 1898/99, S. 529.
Auch das Bild »Ankunft eines christlichen Märtyrers in den Katakomben« des belgischen Malers André Hennebicq von 1894 thematisierte die Beisetzung eines
387 Vgl. Rosenow, Emil, Zins und Geldverkehr in früherer Zeit, in: NW 1903, S. 123.
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christlichen Toten in den Katakomben (vgl. Abbildung 8). Wir sehen einen Priester mit erhobenem Kruzifix am unteren Ende einer Treppe, auf der weitere Menschen Spalier stehen, alle blicken nach oben dem Leichnam entgegen, der selbst nicht im Bild ist. Theodor Temming beschrieb die Katakomben in der Alten und Neuen Welt: »Und zu Tausenden wurden sie zur letzten Ruhe gebettet in den Katakomben, unterirdischen Gängen hauptsächlich um die Stadt Rom. […] An ihren Gräbern zogen die Christen betend vorüber, sich ihrer Fürbitte empfehlend, an ihrem Siege sich ermutigend zum blutigen Martyrium. Dort, wo die Gänge sich erweiterten zu einer Art Kapelle, versammelten sie sich zum Gottesdienst, genossen das Brot des Lebens, stärkten sich an der Predigt des Evangeliums.«388
Bilder wie Text handelten von Martyrium, Verfolgung, Tod, aber auch von Andacht und Glaube.389 Martyrium und Andacht bildeten hier eine untrennbare Einheit, die auch durch das Spiel von Licht und Schatten in den KatakombenIllustrationen verstärkt wurde, erhellt doch das Licht der Christenheit die Dunkelheit der Katakomben. Sichtbar sind in der Regel nur die ChristInnen, die Opfer, während die Verfolger unsichtbar bleiben. Anders sind die Illustrationen aus der Arena aufgebaut, die den Blick auf die Tiere richten und somit exotische Elemente bedienen, während die christlichen MärtyrerInnen betend im Hintergrund zu sehen sind (vgl. Abbildung 9 und 10). Die Visualisierung von Christenverfolgungen im alten Rom war kein Spezifikum einer besonders religiösen Malerei, sondern gehörte zum Standardrepertoire der Historienmaler. Auch die Arena war ein häufig gewählter Schauplatz nicht allein für MärtyrerInnen-, sondern auch für andere Motive. Eines der bekanntesten Gemälde Jean Léon Gérômes zeigt einen Gladiatorenkampf (Pollice verseo, 1872), und auch Wagenrennen wurden als Motiv häufig aufgegriffen.390
388 Temming, Theodor, Das Konstantinische Jubiläum, in: ANW 1913, S. 661. 389 Vgl. auch: Memento in den Katakomben. Nach dem Gemälde von Vera, in: ANW 1907, S. 383. Das Bild zeigt eine junge Frau, die allein mit einem Öllicht in den Katakomben die Inschrift einer Grabplatte liest. 390 Gemälde von Gladiatorenkämpfen und Wagenrennen wurden auch in Familienzeitschriften reproduziert, vgl. Wettlauf im Circus Maximus in Rom. Gemälde von Giuseppe Sciuti, in: GL 1912, S. 248f.; Wagenrennen im Circus Maximus zu Rom. Gemälde von C. Ademollo, in: GL 1908, S. 616f.; Ein Fechterspiel im Kollosseum. Nach dem Gemälde von J. L. Gérôme, in: ANW 1895, S. 411; Der Gladiator. Von A. Stehle, in: NW 1898, S. 380; Post ludum, in: NW 1895, S. 325.
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Abbildung 9 und 10: In der Arena
Quellen: Bild links: In der Arena. Nach einer Originalzeichnung von Anton Hoffmann, München, in: ANW 1913, S. 469. Bild rechts: Das letzte Gebet. Nach dem Gemälde von J. L. Gérôme, Illustration zu: Temming, Theodor, Das Konstantinische Jubiläum, in: ANW 1913, S. 657; dasselbe Bild unter dem Titel »Aus der Zeit der Christenverfolgung unter Nero« auch in: GL 1907, S. 191.
Diese Stoffe – christliche MärtyrerInnen, die römische Arena mit ihren Gladiatorenspielen, die düsteren Katakomben – verbanden christliche Erbauung mit Spannung und unterhaltsamen Gruseleffekten und eigneten sich so hervorragend für das Unterhaltung plus Bildung-Schema der Familienzeitschriften. Dies zeigt sich auch in dem 1886 entstandenen und 1895 in der Neuen Welt reproduzierten Bild »Die Tochter des Märtyrers« von Albert Baur (1835-1906), das eine junge Christin am Grab ihres Vaters in den Katakomben darstellt, die von einer römischen Patrouille gefangengenommen wird (vgl. Abbildung 11). Der Begleittext fügte dem Bild der schönen jungen Frau in den Katakomben, die von bewaffneten Römern ergriffen wird, noch eine spannungsgeladene und tragische Liebesgeschichte hinzu. Die Frau, so erläuterte der Text, sei von der Truppe kaum überrascht, sondern habe sich mit dem Gedanken, »entdeckt und dann von der Gewalt zur Verantwortung gezogen zu werden, längst vertraut gemacht« und sehe dem Tod mit Würde und Mut ins Gesicht. Dem römischen Führer der Truppe jedoch stehe der Schrecken im Gesicht, sei er doch der Jungfrau »in Freundschaft, vielleicht gar in Liebe zugethan«, könne sie jedoch nicht mehr retten.391 Die Spannung und Unterhaltung wurde hier durch das Zusammenspiel von einem Faktualität versprechenden Bild und einer fiktionalen tragischen (Liebes-)Geschichte hergestellt, die das Bild noch lebendiger wirken ließ.392
391 Anonym, Zu unserem Bilde. Die Tochter des Märtyrers, in: NW 1895, S. 184. 392 Diese Form des Bild-Text-Verhältnisses, in dem der Text eine fiktionale Hintergrundgeschichte erzählte, die aus dem Bild selbst nicht vollständig ersichtlich war,
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Abbildung 11: Die Tochter des Märtyrers
Quelle: Die Tochter des Märtyrers. Gemalt von Albert Baur, in: NW 1895, S. 181.
Die meisten Darstellungen des Urchristentums in den römischen Katakomben verfolgten jedoch einen vorwiegend faktualen Anspruch, insbesondere dort, wo Illustrationen in einen Artikel eingebettet waren. Eine Darstellung der Alten und Neuen Welt etwa erläuterte in einem mit vielen Quellenzitaten versehenen Text die Ausbreitung des Christentums im römischen Reich und die Hintergründe der Christenverfolgung.393 Die Katakomben, in den Illustrationen primär Symbol und stimmungsvolles düsteres Ambiente, wurden hier in ihrer Funktion als Grabstätten und Zufluchtsorte erklärt, und der Autor räumte mit der Legende auf, hier habe man sich heimlich versteckt. Tatsächlich seien die ChristInnen in den Katakomben meist unbehelligt geblieben, weil die Grabstätten nach römischem Recht heilig und unverletzlich gewesen seien.394 Auch die Sonntags-Zeitung nahm sich des Themas Urchristentum mit dem Anspruch an, die vielen kursierenden falschen Geschichtsauffassungen zu korrigieren und ihnen ein Bild Roms gegenüberzustellen, »wie es wirklich in den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung aussah«. Insbesondere wollte
wurde insbesondere in der Neuen Welt auch zur Erläuterung anderer historischer Bildszenen verwendet. 393 Vgl. Temming, Theodor, Das Konstantinische Jubiläum, in: ANW 1913, S. 657664. Primär auf dem Fund neuer Quellen basierte auch ein Text im Daheim, vgl. Anonym, Neues aus altchristlichen Kämpfen, in: DA 1894, S. 636-637. 394 Vgl. Temming, Theodor, Das Konstantinische Jubiläum, in: ANW 1913, S. 661.
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der Autor Fritz Halden das Bild eines »altersmorsche[n], in völliger sittlicher und religiöser Zersetzung begriffene[n]« römischen Reichs berichtigen, das sich mit den »geschichtlichen Tatsachen« nicht decke, ja ihnen sogar widerspreche.395 So lieferte der Autor zunächst einen ausführlichen Überblick über die gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Strukturen des römischen Kaiserreichs, um dann die Bedeutung der neuen christlichen Religion zu erläutern, die für die heidnischen Römer »nichts geringeres als eine völlige Umwertung aller Werte in religiöser, politischer und sozialer Beziehung«396 gewesen sei. Gegen diese habe Rom um den Fortbestand der eigenen Ordnung willen ankämpfen müssen – ähnlich wie der gegenwärtige Staat gegen die Sozialdemokratie kämpfen müsse, um sich selbst zu erhalten. Nicht nur mit diesem Vergleich folgte die SonntagsZeitung einer durchaus sozialdemokratischen Argumentation, sondern auch indem sie das Christentum als Religion mit dem Ziel der »Emanzipation des Proletariats und vor allem der Sklaven« darstellte, die sich gegen Besitz und Reichtum gewandt habe und damit vor allem für diese niedrigen sozialen Schichten attraktiv gewesen sei und sich »Kapital und Großgrundbesitz« zu ihren Gegnern gemacht habe.397 Das Urchristentum war eine gemeinsame Tradition von Katholizismus wie Sozialdemokratie, allerdings erfüllte das Thema in beiden Geschichtskulturen äußerst unterschiedliche Funktionen. Für die katholische Alte und Neue Welt, die die meisten Bezüge auf das Urchristentum hatte, diente das Thema der Konstruktion einer identitären katholischen Geschichte und Tradition – hier fand sich ein durchweg positiv besetzbares Kapitel der katholischen Geschichte, in dem heldenhafte MärtyrerInnen noch unbefleckt waren von späteren Verbrechen der katholischen Kirche und ihrer Herausforderung durch den Protestantismus. Gleichzeitig waren die Bilder, die christliche MärtyrerInnen in den Katakomben oder der Arena zeigten, ein unterhaltsames, spannendes, gruselig-düsteres Motiv, das ein voyeuristisches Bedürfnis nach schönen Heldinnen und gewaltsamen Toden befriedigte. Das Beispiel zeigt, dass Identitätsstiftung und politische Auseinandersetzung reibungslos mit Unterhaltung zusammengingen. Damit standen die Darstellungen einerseits in der unterhaltenden Tradition der Familienzeitschriften und waren andererseits Ausdruck einer spezifisch katholischen (nicht allein Geschichts-)Kultur, in der Religions- wie Geschichtserfahrung äußerst sinnlich und schwärmerisch war und die eine Vorliebe für blutige Heiligenge-
395 Vgl. Halden, Fritz, An der Wende einer neuen Zeit. Rückblicke in die Uranfänge des Christentums, in: SZ 1908/09, S. 659. 396 Ebd., S. 682. 397 Vgl. ebd.
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schichten hatte. Demgegenüber waren die protestantischen und säkularen Darstellungen des Urchristentums sachlicher. Bilder von grausamen Märtyrertoden hatten in den nicht-katholischen Zeitschriften nur wenig oder gar keinen Raum, sondern die Christenverfolgungen wurden stärker in ihre historischen Kontexte eingeordnet. Im protestantischen Daheim war das Thema so gut wie gar nicht präsent – ein Hinweis darauf, dass die ProtestantInnen den positiven Bezug auf das Urchristentum der katholischen Geschichtskultur überließen, und sich selbst auf ihr Ursprungsnarrativ der Reformation stützten. Die sozialdemokratische Neue Welt schließlich nutzte das Urchristentum für eine religionskritische Argumentation. Die positiv bewerteten Anfänge des Christentums dienten als Ausgangspunkte, um die Entwicklung des Christentums von einer egalitären Gemeinschaft zu einer ausbeuterischen Organisation aufzuzeigen. Zugleich wurden die frühchristlichen Gemeinschaften als Beispiele für frühe kommunistische Organisation und historischen Klassenkampf in eine sozialdemokratische Traditionslinie eingespeist. Nach der Untersuchung von identifikatorischen Rückgriffen der Zeitschriften bis in die Antike soll der folgende Teil diesen Traditionen eine Auseinandersetzung mit der Moderne gegenüberstellen, die alle Zeitschriften immer wieder führten. In Bezug auf das Thema Religion war dies vor allem eine Auseinandersetzung mit Säkularisierungsprozessen auf der einen, mit Aberglauben auf der anderen Seite. Auseinandersetzungen mit der Moderne: Die Verhandlung von Säkularisierung und Aberglaube Die Auseinandersetzung mit Religion erfolgte nicht allein im Spannungsfeld der verschiedenen Konfessionen, sondern auch in jenem von Religion und moderner Säkularisierung. Während die Haltungen zur Säkularisierung je nach Zeitschrift auseinandergingen, war die Thematisierung von Aberglauben eine Möglichkeit der Zeitschriften, sich zugleich christlich wie modern und wissenschaftsaffin zu präsentieren. Die Alte und Neue Welt verurteilte die moderne Aufklärung scharf, auch und gerade weil aufklärerische Geistesströmungen in direkter Verbindung mit sozialen und wirtschaftlichen Umwälzungen seit der Französischen Revolution gesehen wurden. Die Säkularisation der napoleonischen Zeit hatte der katholischen Kirche handfeste materielle Verluste beigebracht, und aufklärerische Geistesströmungen rüttelten seit Ende des 18. Jahrhunderts beständig an den Grundfesten ihrer Weltanschauung. Seit der Revolution hätten Zeiten begonnen, »die nur
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groß waren im Zerstören«,398 schrieb Joseph Frohn 1905 in einem Artikel über die Geschichte des Klosters Knechtsteden. Er fuhr fort: »Wie ein giftiger Brodem senkte es sich aus den durch die freigeistige ›Aufklärung‹ bis ins Mark verderbten Schichten der ›oberen Zehntausend‹ herab auf das Volk, überall Glaubensliebe und Glaubensfreude ertötend. Jene Zeit, da ›freche Willkür an das Heilige rührt‹, da im Gefolge haßerfüllten Unglaubens brutale Gewalt die Herrschaft führte, zerstörte Knechtsteden in seiner Blüte.«399
Ein anderer Autor, der Schweizer Theologe und Weihbischof Anton Gisler, charakterisierte das 19. Jahrhundert als eines, das die »Feuer der Revolution« in sich getragen habe, in dem die »brüllende Flut des vierten Standes gegen die Pfeiler aller Ordnung und Autorität« gerollt sei.400 Bezüglich der Religion habe das Jahrhundert die Menschen in eine babylonische Verwirrung gestürzt: »Trunken von aberwitziger Philosophie, geblendet vom gleißenden Flitter des Wissens, schuf es außerhalb der Kirche eine verzweifelte religiöse Lage [...]«,401 in der die »Seele breiter Schichten, getauft mit dem Wasser des Atheismus« gedroht habe, sich »zum Ungeheuer auszuwachsen.«402 Der Atheismus wurde hier mit religiös konnotierten Begriffen beschrieben, schien selbst eine neue Religion zu sein, welche die alten Religionen existenziell bedrohe. Nicht alle Artikel der Alten und Neuen Welt bewerteten die Moderne derart kritisch. Viele Texte priesen die technischen und wissenschaftlichen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts, wenn auch zuweilen mit kritischem Unterton.403 Und nur selten wurde die Moderne direkt der Religion oder dem Katholizismus gegenübergestellt wie im oben zitierten Artikel. Stattdessen wurde die Aufklärung, die moderne Technik, das wissenschaftliche Wissen in Familienzeitschriften meist einem nicht spezifisch christlich gedeuteten und in der bäuerlichen
398 Frohn, Joseph, Knechtsteden einst und jetzt, in: ANW 1905, S. 712. 399 Ebd. 400 Vgl. Gisler, Anton, Eine Palme dem großen Leo, in: ANW 1904, S. 43. 401 Ebd., S. 42. 402 Vgl. ebd., S. 43. 403 Vgl. Winter, Dagobert, Verkehrsgeschwindigkeiten zu Lande einst und jetzt. Ein technisches Kapitel, in: ANW 1906, S. 476-478; Gander, P. Martin, Geschichtliches über die Lehre von den Bakterien, in: ANW 1900, S. 93-95; Karlstein, Oswald von, Die Buchdruckerkunst, ihre Vorläufer und ihre Entwicklung. Ein Gedenkblatt zu Ehren der fünfhundertsten Wiederkehr des Geburtstages Johannes Gutenbergs, in: ANW 1900, S. 577-587.
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Volkskultur verorteten Aberglauben entgegengestellt.404 So konnten Familienzeitschriften sich religiös verorten und gleichzeitig mit einem wissenschaftlich aufgeklärten Zeitalter identifizieren. Überreste des alten heidnischen Aberglaubens wurden auch für die zeitgenössische Gegenwart immer wieder konstatiert. So erzählte etwa die Gartenlaube in ihrer über viele Jahre laufenden Serie »Tragödien und Komödien des Aberglaubens« Anekdoten über abergläubische Praktiken aus der Geschichte, aber vor allem aus der Gegenwart.405 Diese Anekdoten beschrieben die Gegenwart als eigentlich aufgeklärten Ort, in dem aber gleichwohl Überreste der vormodernen Zeit schlummerten – »im Aberglauben, in der Seele und im Brauche«.406 So wurden die religiöse Traditionen der Germanen und die abergläubischen Vorstellungen des Mittelalters und der frühen Neuzeit mit einer Mischung aus Identifikation und Abgrenzung, aus Exotismus und Spurensuche behandelt. Der Aberglaube, nicht die Religion war es, gegen den die Zeitschriften sich in ihrem aufgeklärten Bildungsanspruch abgrenzten – Aberglaube war ein Vorwurf, den man erheben konnte, um einen Gegner im Streit herabzusetzen und gegen den man sich selbst verwahren musste. So beschäftigte sich ein Artikel über den »Aberglaube des ›Reformators‹ Philipp Melanchthon« in der Alten und Neuen Welt mit den abergläubischen Vorstellungen der ProtestantInnen, um die »ebenso weitverbreitete wie grundfalsche Vorstellung« zu widerlegen, die Reformation habe den Anfang der Aufklärung eingeläutet, während die katholische Kirche eine »Pflanz- und Hegestätte des Aberglaubens« sei.407 Stattdessen sei Aberglaube »nirgends stärker vertreten als in protestantischen Kreisen«.408 Der Autor führte Melanchthons Neigung zur Astrologie, zum Handlesen und zur Traumdeutung sowie dessen Zauber- und Vorzeichengläubigkeit an, um seine These zu untermauern.409 Ähnlich argumentierte Aurel Meinhold in einem Text
404 Vgl. Schenkling, C., Vom Alraun, in: DA 1910, Nr. 9, S. 20-21; Klein, Etwas über Wettervorhersagungen, in: DA 1907, Nr. 10, S. 10-11; Leonhard, Ernst, Karten im Volksaberglauben. Kulturhistorische Plauderei, in: SZ 1908/09, S. 375-376. 405 Vgl. etwa Kleinpaul, Rudolf, Tragödien und Komödien des Aberglaubens, in: GL 1892, S. 600-603, 808-812; Haushofer, Max, Tragödien und Komödien des Aberglaubens. Liebeszauber, in: GL 1897, S. 4-8. 406 Backemann, A., Altgermanischer Seelenglaube und Totenkult, in: ANW 1905, S. 339. 407 Kraus, B., Der Aberglaube des ›Reformators‹ Philipp Melanchthon, in: ANW 1891, S. 717. 408 Ebd. 409 Vgl. ebd., S. 720.
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über Hexen und Hexenverfolgungen, die Reformatoren hätten diese »mit viel größerem Eifer, ja Fanatismus« aufgegriffen als die katholische Kirche es je getan habe.410 So lösten katholische Autoren das Problem des AberglaubeVorwurfs, indem sie abergläubisches Irren dem konfessionellen Gegner zuschoben. Die Abgrenzung vom Aberglauben, verortet in einer bäuerlichen Volkskultur oder beim konfessionellen Gegner, war ein Instrument, ein christliches und ein aufklärerisches Selbstverständnis zu verbinden. Die Untersuchung von Geschichtskultur und Konfession bestätigt die These, dass Religion im späten 19. Jahrhundert ein relevanter gesellschaftlicher Faktor war und zeigt die wichtigen Funktionen von Religion für die Geschichtskultur auf. Über konfessionelle Zugehörigkeiten wurden Geschichtsinterpretationen strukturiert und zugleich war Geschichte ein wichtiger Faktor konfessioneller Identitätsbildung und Vergemeinschaftung. Dabei teilten Geschichtskulturen trotz verschiedener konfessioneller Verortung teils gemeinsame Traditionen und Geschichtserzählungen, so wie sich etwa sowohl Katholizismus als auch Sozialdemokratie auf das Urchristentum bezogen. Doch zog die katholische Geschichtskultur ihre fundierenden Narrative aus Antike und Mittelalter, während sich das protestantische Daheim primär auf die Reformation und die Neuzeit bezog. In allen Zeitschriften war das Christentum äußerst dominant. Nur die Neue Welt beschäftigte sich eingehender mit jüdischer Geschichte, die dabei immer Hintergrund antikatholischer Kirchenkritik war. Ein gemeinsames Thema aller Zeitschriften war die Auseinandersetzung mit der Moderne; in der Bewertung der Säkularisierung gingen die Meinungen dabei auseinander, einig waren sich jedoch alle Zeitschriften in der Positionierung gegen Aberglauben, die ihnen ein gleichzeitig christliches wie aufklärerisches Selbstverständnis erlaubte.
410 Vgl. Meinhold, Aurel, Hexen einst und jetzt, in: ANW 1900/01, S. 672. Aurel Meinhold war Enkel des protestantischen Schriftstellers, promovierten Theologen und Pfarrers Wilhelm Meinhold, der historische Hexenromane schrieb und alte Chroniken fälschte, was allerdings aufflog. Wilhelm Meinhold zeigte schon Hinwendungen zum Katholizismus, die Konversion wurde schließlich von seinem Sohn Aurel Meinhold vollzogen, der wahrscheinlich der Vater des Alte und Neue WeltAutors war. Vgl. Huber, Hans D.: »Meinhold, Wilhelm«, in: Neue Deutsche Biographie 16 (1990), S. 671-673. Aurel Meinhold der Jüngere bezog sich in seinem Text auf unveröffentlichte Forschungsergebnisse seines Großvaters.
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G ESCHICHTSKULTUREN IM K ONTEXT GESELLSCHAFTLICHER S TRUKTUR : Z USAMMENFASSUNG Die deutschsprachige Geschichtskultur des späten 19. Jahrhunderts entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als ein äußerst komplexes und vielschichtiges Geflecht verschiedener Geschichtskulturen im Plural. Es existierte mitnichten nur eine einzige nationale Erinnerungsgemeinschaft, sondern diverse Geschichtskulturen standen nebeneinander, überlagerten einander, standen zum Teil in gegenseitigem Widerspruch und Konkurrenzverhältnis, teilten aber auch gemeinsame Elemente. Die Historiographielandschaft des Kaiserreichs war durch Ausschlüsse diverser Gruppen gekennzeichnet. Zum einen waren Institutionen, in denen historisches Wissen produziert und weitergegeben wurde, nur für privilegierte Gruppen mühelos zugänglich; zum anderen schlossen der akademische Mainstream, aber auch viele populäre Zugänge, bestimmte soziale Gruppen aus ihren Konzeptionen von Geschichte aus – nicht alle Menschen der Vergangenheit waren Teil der Geschichte, und nicht allen Menschen der zeitgenössischen Gegenwart wurde Deutungshoheit in historischen Fragen zugesprochen. Dieser doppelte Ausschluss aus der Wissensproduktion – als Subjekt wie als Objekt historischen Wissens – betraf auf akademischer Ebene insbesondere untere soziale Schichten, Frauen, KatholikInnen und ethnische Minderheiten. Erfolgreiche deutschsprachige Historiker waren in der Regel bürgerlich, männlich und protestantisch, zudem oftmals preußisch – Ausschlüsse, die zusammen wirkten und einander verstärkten. Die Herkunftsregion und der Stadt-Land-Unterschied gingen häufig mit der sozialen Herkunft eine untrennbare Einheit ein, so dass Menschen aus ländlichen Räumen, die meist bäuerlicher Herkunft waren, keine Chance hatten, ins städtisch-universitäre Bildungssystem zu gelangen. Große Teile der katholischen Bevölkerung waren nicht allein ob ihrer Konfession aus dem Mainstream historischer Wissensproduktion ausgeschlossen, sondern auch, weil sie, in ländlichagrarischen Wirtschaftsformen lebend, weniger Zugang zu Bildungsressourcen hatten. Während die Männer der marginalisierten Gruppen – ob nun bäuerlicher, katholischer, nicht-deutscher oder proletarischer Herkunft – wenigstens theoretisch die Möglichkeit des bürgerlichen Aufstiegs qua Bildungserwerb hatten, waren sozial, konfessionell oder ethnisch marginalisierte Frauen in doppelter (oder mehrfacher) Form betroffen vom Ausschluss aus der Historiographie und anderen Bildungsberufen, da ihnen im Kaiserreich bis 1900 qua Geschlecht ein Universitätsabschluss verwehrt blieb. Populäre Geschichtsschreibung reproduzierte die vielfältigen Ausschlüsse aus der akademischen Wissensproduktion teilweise, konnte sie aber auch an vie-
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len Stellen aufbrechen. Der populäre Markt war nicht an institutionalisierte Bildung geknüpft und damit in seinen Einstiegsmöglichkeiten niedrigschwelliger; er war außerdem – und dies ist wahrscheinlich der wichtigste Punkt – äußerst vielseitig und vielfältig. Während die geschlossene Community der akademischen Historiographie geteilt war in tonangebenden Mainstream und wissenschaftliche Außenseiter, während hier die Rezipientenschaft sehr klein war und in Personalunion mit der Produktionsseite nach denselben Mechanismen von Integration und Ausgrenzung funktionierte, bot der populäre Geschichtsmarkt zahlreiche Nischen für einfach oder mehrfach marginalisierte ProduzentInnen von Wissen. Denn hier gab es Nachfrage durch die RezipientInnen populärer Geschichte, die ebenso divers waren. Marginalisierte Gruppen schufen sich ihre eigenen Medien. Die Alte und Neue Welt entstand als Zeitschrift, die von KatholikInnen für andere Menschen katholischen Glaubens gemacht wurde, ebenso war die Neue Welt ein Magazin, in dem VertreterInnen der ArbeiterInnenbewegung für Mitglieder ebendieser schrieben. Eine Ausnahme in dieser Aufzählung ist die Sonntags-Zeitung, einer Zeitschrift, die zwar für Frauen, aber nicht ausschließlich oder hauptsächlich von Frauen produziert wurde. Diese Gleichzeitigkeit von Ausschluss marginalisierter Gruppen aus der historisch-akademischen Wissensproduktion und ihrer Integration im populären Feld der Geschichtsschreibung findet sich auch auf inhaltlicher Ebene. Gegenstandsbereiche etablierter Fachhistorie waren in der Regel Staaten und Institutionen, Ideen und große Werke, Herrscher und Bürger, etablierte und einflussreiche gesellschaftliche Gruppen und Individuen. Wer in der Regel nicht darunter fiel, waren untere soziale Schichten, Frauen und andere marginalisierte Gruppen. Gerade nationale Geschichtserzählungen zeigen, dass der Ausschluss aus der nationalen Gemeinschaft auch den Ausschluss aus deren Historiographie und Erinnerungskultur bedeutete: ArbeiterInnen, KatholikInnen und Frauen wurden aus protestantisch-nationalen Narrativen und aus der ›offiziellen‹ Erinnerungspraxis häufig systematisch ausgeblendet. Marginalisierte Gruppen konstituierten dementsprechend eigene erinnerungskulturelle Erzählungen und Praxen und holten damit die jeweils eigene Gruppe in den Kreis historisch relevanter AkteurInnen hinein. So schrieb die Neue Welt eine Geschichte unterer sozialer Schichten und der ArbeiterInnenbewegung, die Alte und Neue Welt nahm sich katholischer Geschichte an, und die Sonntags-Zeitung widmete sich mehr als die anderen Zeitschriften weiblichen Lebenswelten und berühmten Frauen. Geschichtskulturelle Grenzlinien verliefen auf diese Weise teilweise entlang von Milieugrenzen. Das sozialdemokratische, das konservative, das liberale und das katholische Milieu hatten je eigene Erinnerungspraxen, Themen und Geschichtsdeutungen, aber auch eigene Zeitschriften, in denen die geschichtskultu-
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rellen Inhalte transportiert und popularisiert wurden. Milieuspezifische Geschichtskulturen lassen sich gerade anhand des Genres Familienzeitschrift gut erforschen, da diese Magazine, wenn sie auch zum Teil einen universalen Anspruch pflegten, doch ein jeweils spezifisches Milieu bedienten. Die nationalliberale Geschichtskultur, die in der Gartenlaube zum Ausdruck kam, pflegte eine intensive Erinnerung an nationsbildende Ereignisse der Zeitgeschichte, insbesondere an die napoleonische Zeit und die Reichseinigungskriege. Unterschied sie sich in dieser Themenwahl kaum vom konservativen Milieu, dessen Geschichtskultur im Daheim zum Ausdruck kam, so zeigt jedoch die Erinnerung an die Revolution von 1848 die tiefen Gräben auf, die beide Milieus in ihrer Geschichtskultur trennte: Während die einer liberalen Tradition verpflichtete Gartenlaube die Revolution als gescheiterten Aufbruch der deutschen Nation zu bürgerlicher Freiheit und nationaler Einheit sah, interpretierte sie das konservative Daheim als einen geradezu antinationalen Aufstand des proletarischem Mobs mit Unterstützung ausländischer Revolutionäre. Beide Milieus, das liberale wie das konservative, orientierten sich in ihrem Geschichtsdenken stark an der deutschen Nation und ihrer Genese, die größtenteils kleindeutsch gedacht wurde, wobei die Gartenlaube den Ursprung der deutschen Nation in den Napoleonischen Kriegen sah, während das Daheim die Anfänge des deutschen Nationalstaats in borussischer Tradition im frühneuzeitlichen Preußen verortete. Andere geschichtskulturelle Schwerpunkte herrschten im sozialdemokratischen und katholischen Milieu vor. Diese beiden Milieus, die als relativ geschlossen gelten, orientierten sich in ihren Geschichtsinterpretationen weniger an der Nation als vielmehr an Konfessions- und Klassenzugehörigkeit. Die sozialdemokratische Geschichtskultur widmete sich in größerem Maße als andere Zeitschriften und im Sinne einer materialistischen Historiographie unteren sozialen Schichten, gesellschaftlichen Ungleichheitsstrukturen und Klassenkämpfen in der Geschichte. Die katholische Geschichtskultur, hier repräsentiert durch die Alte und Neue Welt, legte ihre Schwerpunkte auf vormoderne Epochen – das Urchristentum und das klerikal geprägte Mittelalter waren hier wichtige Topoi. Religiöse und konfessionelle Zugehörigkeit waren Differenzkategorien, mit denen historische Zusammenhänge geschaffen und erklärt wurden, mit der Traditionen und Identitäten konstruiert wurden und die geschichtspolitisch funktionalisiert wurden. Dabei dominierte in allen Zeitschriften christliche Geschichte – nichtchristliche Religionen wurden am Rande thematisiert und dabei oft exotisiert, jüdische Geschichte wurde mit Ausnahme der Neuen Welt weitestgehend ausgeklammert. Daheim und Alte und Neue Welt nutzten die Kategorie funktional, um konfessionelle Identitäten herzustellen, konfessionelles historisches Wissen zu schaffen und den Kampf um die religiöse Deutungshoheit mit historischen Ar-
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gumenten zu versehen. Aber auch in säkularen Zeitschriften fanden sich Einflüsse religiösen und konfessionellen Denkens auf die Geschichtsschreibung. Gemeinsame Zugangsweisen fanden die verschiedenen Zeitschriften in der Ablehnung von Aberglauben, und das Urchristentum erwies sich nicht nur als eine geteilte Tradition von Katholizismus und Sozialdemokratie, sondern auch als ein historisches Thema, dass sich ob seiner spektakulären und spannenden Aufladung hervorragend zur Verbindung von Unterhaltung und Bildung eignete. Geschichtskulturen verliefen allerdings nicht allein entlang von Milieugrenzen. Quer zu ihren Grenzen liegend strukturierten noch andere Faktoren nicht nur soziale Ungleichheiten, sondern auch Geschichtsinterpretationen. Die Analyse hat gezeigt, dass die Nation zwar ein wichtiges, aber bei weitem nicht das einzige Identitätsangebot populärer Geschichte war. Von quantitativ und qualitativ ebenso großer Bedeutung erschienen in den Familienzeitschriften lokale und regionale Bezüge, und viele Artikel konstruierten eine europäische oder abendländische Geschichte und Identität. Erst in den historischen Darstellungen des 19. Jahrhunderts wurde die Nation zum bestimmenden Faktor historischer Entwicklung. Über räumliche und ethnokulturelle Zugehörigkeiten wurden Grenzziehungen, seien sie physischer oder kultureller Form, verhandelt: politische Grenzen, kulturelle Zugehörigkeiten, regionale, nationale und europäische Identitäten und Stadt-Land-Unterschiede. Die Zugehörigkeiten zu räumlich verorteten ethnokulturellen Gemeinschaften waren aufs Engste mit anderen Zugehörigkeiten verknüpft. In der Frage, wie die Nation konzipiert wurde, wer integriert und wer ausgeschlossen wurde, spielte die Kategorie Klasse eine wichtige Rolle. Doch sozioökonomische Ungleichheiten wirkten auch auf anderen Ebenen auf Geschichtskulturen ein: Erst die industrialisierte Klassengesellschaft ermöglichte das Aufkommen der Massenpresse und die Entstehung von Familienzeitschriften – einerseits auf der Ebene der Produktion, die durch technische Neuerungen billiger und schneller wurde, andererseits auf der Ebene der Rezeption, da ein alphabetisiertes Publikum mit ausreichend Freizeit und Geld als Abnehmer der Massenpresse die Grundlage der gesamten Produktion war. Quer zu sämtlichen Milieugrenzen stand schließlich die Differenzkategorie Geschlecht, die meist eher implizit auf die populäre Geschichte einwirkte, als dass sie explizit in dieser verhandelt wurde. Ein Großteil der Artikel legte den Fokus auf männlichen Subjekte und Handlungsbereiche, doch daneben traten auch Frauen als historische Akteurinnen in Erscheinung. Frauengeschichte wurde vor allem über Biographien betrieben, doch auch die Kulturgeschichte bot Frauen durch die Thematisierung weiblicher Lebenswelten eine historische Plattform. Dieses Interesse für weibliche, häusliche Lebenswelten war unter anderem der Zielgruppe geschuldet, die man erreichen wollte: Familienzeitschriften soll-
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ten der ganzen Familie Lesevergnügen bieten, Frauen erhielten aber besondere Aufmerksamkeit als potentielle Leserinnen – so sollten sich die Zeitschriften in Inhalt und Niveau an eine weibliche Leserinnenschaft anpassen. Der Geschlechterdualismus war punktuell mit anderen dualen Zuschreibungen und Normen verknüpft, insbesondere mit einer Dichotomie von Öffentlichkeit und Privatheit sowie von Wissenschaftlichkeit und Laientum. Die Geschichtsdarstellungen in Familienzeitschriften reproduzierten diese normativen Einteilungen in Produktion, Rezeption und Inhalt teilweise, sind aber auch ein Beispiel dafür, wie brüchig diese Ordnungsmodelle waren. Alle vier Differenzkategorien wurden teilweise sehr explizit zur Darstellung und Interpretation historischer Phänomene genutzt, meist jedoch fand eine implizite Verwendung von Differenzkategorien statt, indem die jeweils dominierende soziale Gruppe zur Norm erklärt, marginalisierte Gruppen unsichtbar gemacht wurden. Dies geschah etwa bei der Konstruktion einer christlichen europäischen Geschichte und dem daraus folgenden Ausschluss jüdischer Menschen, bei der Marginalisierung unterer sozialer Schichten in weiten Teilen der Geschichtsdarstellungen, durch eine fast ausschließliche Beschäftigung mit männlich markierten Räumen und Tätigkeiten vor allem in politikhistorischen Darstellungen oder indem die deutsche Geschichte teilweise bis ins Mittelalter zurück kleindeutsch konzipiert wurde. Gerade diese nicht benannten Selbstverständlichkeiten sind interessant, da sie viel darüber aussagen, wer und was als historisch relevant galt. Das historische Subjekt war oftmals weiß, männlich, europäisch und christlich. Diese Selbstverständlichkeit wurde nur selten benannt, strukturierte die Geschichtsbilder aber zu einem großen Maße. Die Kategorien, die von außen an die Quellen herangetragen wurden, ermöglichen es, solche Denkmuster zu explizieren und so die Analyse davor zu bewahren, innerhalb zeitgenössischer Grenzen des Sag- und Denkbaren zu verbleiben. Zugleich konnte die Analyse anhand der vier Differenzkategorien die Brüche mit dem historischen ›Normalsubjekt‹ aufzeigen, die sich in der Integration von Frauen, ArbeiterInnen und JüdInnen als Subjekte wie Objekte der Geschichtsschreibung zeigen oder in der Ausweitung räumlicher Perspektiven hin zu kleinteiligen lokalen und großräumigen gesamteuropäischen oder globalen Identifikationen.
6. Familienzeitschriften im Kontext der deutschen Geschichtskulturlandschaft
Geschichtsschreibung in Familienzeitschriften stand in beständiger Wechselwirkung mit zahlreichen anderen geschichtskulturellen Feldern. Die gegenseitigen Einflüsse liefen einerseits über den Transfer von historischen Themen, Theorien und Methoden. Andererseits waren es personelle Austauschprozesse: PopulärhistorikerInnen waren oftmals in diversen geschichtskulturellen Genres und Medien aktiv. Auch die RezpientInnen von Geschichtsschreibung fungierten als Schnittstellen zwischen verschiedenen geschichtskulturellen Bereichen, publizierten doch verschiedene Medien und Genres teilweise für ähnliche oder gleiche Zielpublika. Neben diesen Verknüpfungen mit anderen Feldern und Medien der Geschichtskultur konnte die Geschichtsschreibung der Familienzeitschriften sich aber auch zu einem mehr oder weniger eigenständigen geschichtskulturellen Genre entwickeln, das – gebunden an die medialen Vorgaben des Zeitschriftenformats – formal wie inhaltlich innovative Formen der Geschichtsschreibung einführte. Das folgende Kapitel fragt nach den Charakteristika von populärer Geschichtsschreibung im Allgemeinen und der Historiographie von Familienzeitschriften im Besonderen und geht den vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Familienzeitschriften und anderen Feldern, Medien und AkteurInnen der Geschichtsschreibung nach. Dazu gebe ich zunächst eine Hinführung zu den theoretischen Konzepten, mit denen Prozesse der Wissenspopularisierung untersucht werden. Der zweite Teil des Kapitels widmet sich der Frage, wie populäre Geschichte in Familienzeitschriften geschrieben wurde – welcher Methoden bedienten sich die AutorInnen, wie gingen sie mit Sekundärliteratur und mit Quellen um und wie funktionierte ihre Anbindung an die Fachwissenschaft? Im dritten Teil des Kapitels frage ich nach den geschichtskulturellen Kontexten der Geschichtsschreibung in Familienzeitschriften. Exemplarisch analysiere ich hier Kulturgeschichte, Militärgeschichte und die Darstellung von Ge-
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schichte über die Reproduktion von Gemälden und frage danach, in welchen populärhistorischen Traditionen die Darstellungen standen und auf welche Ressourcen sie zurückgriffen. Die spezifische Form der Geschichtsschreibung in Familienzeitschriften, so meine These dieses Kapitels, ergab sich gerade aus der Interaktion mit anderen geschichtskulturellen Akteuren, Medien und Institutionen und aus der Vereinigung verschiedener Historiographieformen. Diese wurden durch die medialen Vorgaben der Zeitschriften transformiert, geformt und vereinheitlicht – so erschufen Familienzeitschriften ein eigenes populärhistorisches Genre.
P OPULARISIERUNG UND POPULÄRE G ESCHICHTE : T HEORETISCHE ANSÄTZE Die Beziehung von Fachwissenschaft und Populärhistorie des späten 19. Jahrhunderts war äußerst komplex. Populäre Geschichtsschreibung in Familienzeitschriften baute in vielerlei Hinsicht auf denselben Prinzipien auf wie die Fachwissenschaft. Akademische Wissensbestände, Methoden und Erkenntnisinteressen konstituierten in vielerlei Formen Selbstverständnisse wie Inhalte der Geschichtsartikel. Populäre und akademische Zugänge wurden oftmals von denselben Autoren genutzt, je nachdem, in welchem Medium und für welches Zielpublikum sie publizierten. Gleichzeitig baute ein großer Teil des Geschichtsprogramms der Familienzeitschriften auf spezifisch populären Inhalten, Methoden und Wissensbeständen auf, die in Traditionslinien zu anderen populärhistorischen Zugängen standen, nicht jedoch zur Fachwissenschaft. Diese spezifische Popularität lag nicht allein in einem narrativen Schreibstil, in einer Verdichtung und zuweilen auch Skandalisierung der Inhalte, sondern auch im Erkenntnisinteresse und in der Frage, was eigentlich als lesenswertes historisches Thema gesehen wurde – so widmeten sich Familienzeitschriften Themen der Kultur-, und Alltagsgeschichte, die in der Fachwissenschaft erst im 20. Jahrhundert ›entdeckt‹ und kanonisiert wurden, visualisierten Geschichte im Bild oder verknüpften sie mit persönlichen Erinnerungen. Eine Untersuchung der Beziehungen populärer und akademischer Geschichte, ihrer Unterschiede und Gemeinsamkeiten und der Grenzverschiebungen und Transformationen historischen Wissens im Prozess der gegenseitigen Beeinflussungen sieht sich immer mit der Frage konfrontiert, ob überhaupt von einer spezifisch populären Historiographie im Gegensatz zur Fachwissenschaft gesprochen werden kann. Daher ist es notwendig, die beiden Pole von Fachwissenschaft und Populärhistorie zu problematisieren, suggeriert dieses Begriffspaar
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doch eine Abgrenzung zwischen zwei Wissensformen, die tatsächlich nicht vorhanden war – vielmehr lässt sich historisches Wissen im späten 19. Jahrhundert als Kontinuum vorstellen, das zwischen verschiedenen ProduzentInnen, unterschiedlichen Publika und durch diverse Medien hindurch seine Gestalt wandelte und sich den jeweiligen Erfordernissen anpasste. Fachwissenschaft und Populärgeschichte sind in dieser Lesart als Idealtypen zu verstehen, die in dieser Reinform nicht existierten – stattdessen spielte sich die Vielfalt historischen Wissens in dem breiten Raum zwischen beiden Polen ab. Fragen nach dem Verhältnis verschiedener Formen des Wissens, der Wissensgenerierung und der Wissensdistribution beschäftigten bereits die ZeitgenossInnen des späten 19. Jahrhunderts (und auch schon frühere Generationen). Die Vorstellung dessen, was wissenschaftliches und populäres Wissen voneinander unterscheidet, hat sich seitdem stark gewandelt. Popularisierung von Wissen wurde bis in die 1980er Jahre hinein vor allem als ein Prozess gesehen, in dem wissenschaftlich generiertes, ›wahres‹ und hochkomplexes Wissen in einem linearen Prozess von Produzenten oder von Vermittlern – einem spezifischen Expertenkreis – vereinfacht an ein undifferenziertes und passives Publikum weitergegeben werde.1 Seit den 1980er Jahren wurde dieses »diffusionistische Modell«2 von WissenssoziologInnen massiv infrage gestellt und durch interaktionistische Modelle ersetzt, die Popularisierung als einen Prozess ansehen, der auf verschiedenen Ebenen wirkt: Roger Whitley spricht von »knowledge producers« und »knowledge acquirers«,3 also von ProduzentInnen und KonsumentInnen von Wissen und rückte damit als einer der Ersten das Publikum populärwissenschaftlicher Produkte ins Zentrum der Analyse. Dieser Ansatz wurde seitdem vor allem in Untersuchungen der Distribution naturwissenschaftlichen Wissens im 19. Jahrhundert weitergedacht. Hier wird meist der Begriff der Popularisierung verwendet, so etwa bei Andreas Daum, Carsten Kretschmann und Angela Schwarz, die Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre Forschungen zur Verbreitung naturwissenschaftlichen Wissens außerhalb der Universitäten veröffentlichten. Alle drei betonen, Popularisierung sei nicht allein eine Vereinfachung, sondern vielmehr eine Transformation von Wissen, die abhängig von den jeweiligen Trägermedien sei.4 Schwarz definiert Popularisierung als eine Übertragung von Geistesprodukten aus dem Kontext ihres
1
Vgl. Daum (1998), S. 26.
2
Ebd.
3
Whitley (1985).
4
Vgl. Kretschmann (2003b), S. 14f.; Schwarz (1999), S. 43f.; Daum (1998), S. 25f. Vgl auch Cooter/Pumfrey (1994).
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Entstehens in einen anderen Kontext, als Vermittlungsprozess zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit, bei dem wissenschaftliche Erkenntnisse in allgemeinverständlicher Form an ein Publikum verbreitet würden, das ein breites Spektrum an Interessenlagen, Vorkenntnissen und Möglichkeiten vereine.5 Kretschmann benennt weitere Punkte, die den Prozess der Wissenspopularisierung charakterisieren: Im Unterschied zu anderen Formen der Kommunikation setze Popularisierung ein deutlich markiertes Wissensgefälle zwischen ProduzentInnen und RezipientInnen voraus, außerdem sei die Zahl der ProduzentInnen stets kleiner als die des Publikums, das eine gewisse Größe aufweisen und einen gewissen Teil der Gesamtgesellschaft und ihrer medialen Kommunikationsnetze ausmachen müsse.6 Die Forschungen zur Popularisierung von Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert distanzieren sich von linearen Modellen einer Vereinfachung und Weitergabe des Wissens »von oben nach unten«, doch gehen auch sie von einem Wissen aus, das auf akademischer Ebene produziert und im Popularisierungsprozess transformiert wird. Dass dieses Konzept kein allgemeingültiges Modell der Popularisierung per se ist, sondern eines, das die spezifische Wissenspopularisierung des 19. Jahrhunderts beschreibt, macht Arne Schirrmacher deutlich. Schirrmacher geht von einer Transformation von Wissensordnungen im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert aus – konkret benennt er die Zeit um 1900 als Zäsur, bei der die Praxis der Wissenschaftspopularisierung sich zur Praxis der Wissenschaftsvermittlung gewandelt habe.7 Der Begriff der Popularisierung, so Schirrmacher, verweise auf ein bürgerliches Bildungsmodell, das im 19. Jahrhundert verortet sei. Für das 20. Jahrhundert schlägt er stattdessen den Begriff der Wissenschaftsvermittlung vor, der eine stärkere Wechselwirkung zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit aufzeige und an die Entstehung eines breiten (nicht allein bürgerlichen) Massenpublikums um 1900 gebunden sei. Während der an bürgerliche Bildungskonzeptionen gebundene Popularisierungsbegriff vorwiegend linear wirke, also von den ExpertInnen in Richtung Laien, beschreibe der Begriff der Vermittlung eine größere Rückwirkung der Öffentlichkeit in die Wissenschaft – Öffentlichkeit und Wissenschaft seien jeweils Ressourcen füreinander.8 Margit Szöllösi-Janze legt die Zäsur des Übergangs zum neuen Ver-
5
Vgl. Schwarz (1999), S. 41.
6
Vgl. Kretschmann (2003b), S. 14.
7
Vgl. Schirrmacher (2008), S. 75.
8
Vgl. ebd., S. 79-85; Nikolow, Sybilla/Schirrmacher, Arne: »Das Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit als Beziehungsgeschichte. Historiographische und systematische Perspektiven«, in: Sybilla Nikolow (Hg.), Wissenschaft und Öffentlichkeit
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hältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit, das sie als Wissensgesellschaft benennt, sogar schon in die 1880er Jahre.9 Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts sei wissenschaftliches Wissen in alle Bereiche der Gesellschaft diffundiert, habe sich institutionell ausdifferenziert und sei zu einer symbolischen wie ökonomischen Ressource geworden.10 Diese Ansätze machen deutlich, dass der hier behandelte Untersuchungszeitraum eine Umbruchszeit war, in der Wissen und Wissenschaft eine neue gesellschaftliche Bedeutung erhielten und in der die Grenzen zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit aufbrachen. In diesem Befund sind sich die neueren Untersuchungen einig, auch wenn sie verschiedene Begrifflichkeiten für das Phänomen finden. Ein weiterer Begriff im Umfeld von Wissen und Wissenspopularisierung ist der Populärbegriff, der vor allem auf kulturwissenschaftliche Ansätze zurückgeht. John Storey benennt vier mögliche Interpretationen des Populären. Erstens sei etwas populär, das von vielen Menschen gemocht werde, zweitens weise der Begriff auf die Minderwertigkeit des zu Beschreibenden hin, drittens stehe er für Produkte, die geschaffen würden, um von vielen Menschen konsumiert zu werden oder viertens für solche, die vom ›Volk‹ selbst produziert würden.11 Während der vierte Begriff auf eine häufig traditionell erscheinende Volkskultur abhebt, verweisen die ersten drei Interpretationen auf die moderne Massenkultur, deren Produkte kommerziell und in hoher Auflage hergestellt werden und – gerade von VertreterInnen einer Hochkultur – gern als minderwertig gewertet werden. Dass Massen- und Hochkultur jedoch keine Gegensätze darstellen müssen, darauf verweist Storeys erste Interpretation, die einen quantitativen Ansatz verfolgt – denn auch hochkulturelle Produkte erscheinen zuweilen in hohen Auflagen und erfreuen sich großer Beliebtheit und eines kommerziellen Erfolgs.12 Die theoretische Diskussion zeigt, dass eine Unterscheidung zwischen Massen- bzw. Populär- und Hochkultur ebenso problematisch ist wie eine klare Trennung von Wissenschaft und Öffentlichkeit oder von akademischem und po-
als Ressourcen füreinander. Studien zur Wissenschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Frankfurt/Main: Campus 2007, S. 11-38, hier S. 12f. 9
Vgl. Szöllösi-Janze (2004), S. 285f.; vgl. zur Diskussion um die Historisierung der Wissensgesellschaft auch Vogel, Jakob: »Von der Wissenschafts- zur Wissensgeschichte. Für eine Historisierung der ›Wissensgesellschaft‹«, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), S. 639-660.
10 Vgl. ebd., S. 286. 11 Vgl. Storey, John: Cultural Theory and Popular Culture, Harlow, New York: Pearson Longman 2009, S. 5. 12 Vgl. ebd., S. 5-10.
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pulärem Wissen. Dennoch ist es sinnvoll, für die Analyse populärer Wissensbestände und -generierungsprozesse zwischen verschiedenen Formen des Wissens zu unterscheiden, die Inhalte und Herangehensweisen verschiedener Publikations- und Darstellungsformen zu vergleichen und die ProduzentInnen wie die Publika zu differenzieren. Auf diese Weise ist es schließlich möglich, die wechselseitigen Einflüsse und Verknüpfungen zwischen den verschiedenen Formen historischen Wissens konkret zu benennen. Das Problem der Reifizierung, also der Herstellung der Dichotomie durch ihre Benennung, ist mir dabei bewusst, doch ist eine analytische Trennung nötig, um Phänomene überhaupt benennen zu können. Wissenschaftliche Arbeit zeichnete sich idealtypisch durch ein transparentes methodisches Vorgehen aus. In einer wissenschaftlichen Abhandlung sollte jeder Schritt nachvollziehbar, sollten alle sekundären Grundlagen und Quellen überprüfbar sein.13 Populäre Geschichte war demgegenüber nicht zur Transparenz von Methoden und Quellen verpflichtet.14 Teilweise legten die AutorInnen zwar ihre Quellen und sekundären Grundlagen offen, doch stellte die Populärhistorie prinzipiell den Inhalt der historischen Erkenntnis vor den Prozess des Erkenntnisgewinns – die Ergebnisse selbst waren hier wichtig, weniger jedoch der Weg ihrer Generierung. Populärhistorie funktionierte nach anderen Spielregeln als die wissenschaftliche Geschichtsforschung, entstand sie doch in einem kommerziellen Rahmen und war daher am Erfolg auf dem Buch- und Zeitschriftenmarkt orientiert. Populäre Geschichte war an andere AdressatInnen gerichtet als akademische Texte und orientierte sich am angenommenen Wissensstand und an den vermuteten Ansprüchen dieses Publikums.15 Sylvia Paletschek definiert populäre Geschichte als »typically characterized by mediating strategies such as reduction, narration and dramatization; they personalize, emotionalize and often scandalize their subject matter. Their subject matter and representational forms are shaped by their respective medium’s conditions of production and distribution and/or the respective institutional context – in terms of audience, quantitative reception, time budget, commercial aspects, potential for re-usability and for international distribution, and so on.«16
13 Vgl. Jaeger/Rüsen (1992), S. 41. 14 Vgl. Nissen (2009), S. 236. 15 Vgl. ebd., S. 241. 16 Paletschek (2011), S. 4.
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Populäre Historiographie neigte also stärker zur Vereinfachung, Dramatisierung, Emotionalisierung und Personalisierung als die vergleichsweise trockeneren Darstellungen der Fachwissenschaft. Dass es jedoch sehr verkürzt wäre, idealtypisch von einem, von ›dem‹ populären Genre zu sprechen, wird offensichtlich, betrachtet man die vielen verschiedenen Formen populärer Geschichte, die einander keineswegs in allen Punkten glichen. Vielmehr müssen die einzelnen populären Produkte in ihrem jeweiligen Erscheinungsmedium untersucht und die Logik und Funktionsweise des jeweiligen Mediums berücksichtigt werden. Tatsächlich standen akademische und populäre Historiographie in einer Vielzahl von Austauschprozessen und beeinflussten einander in Themenwahl, Erkenntnisinteresse, Methode und Darstellungsform. Eine klare Unterscheidung zwischen populären und akademischen Veröffentlichungen ist für den gesamten Printmedienmarkt der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur schwerlich möglich, verkauften sich doch viele von renommierten akademischen Historikern geschriebene Werke äußerst gut und in hohen Auflagen auf dem kommerziellen Markt, insbesondere wenn es sich um Überblicke handelte. Rankes »Römische Päpste« (1834-1836) erlebte 1907 die elfte Auflage, und Treitschkes »Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert« (1879-1894) wurde bis 1908 siebenmal aufgelegt.17 Ein historisches Werk konnte bestimmte Signifikatoren von Wissenschaftlichkeit tragen, und trotzdem außerordentlich populär sein in dem Sinne, dass es bekannt war und häufig gekauft wurde. Zugleich waren auch wissenschaftliche Werke, gerade wenn es sich um Überblicksdarstellungen handelte, narrativ und einfach lesbar geschrieben. Auch akademische Texte arbeiteten mit Personalisierungen und Dramatisierungen. Um die Jahrhundertwende war es zwar in empirischen Detailstudien üblich, Quellen sehr genau anzugeben, doch synthetisierende Überblicksdarstellungen arbeiteten oftmals weitgehend ohne Belege. Viele Überblicksdarstellungen des 19. Jahrhunderts hatten keinen Fußnotenapparat und erzählten – fernab von theoretischen und quellenkritischen Reflexionen und ohne den Prozess und die Methoden der Forschung offenzulegen – eine Geschichte.18 Bestes Beispiel dafür ist der Nobelpreis für Literatur, den Theodor Mommsen 1902 für seine 1854-56 erschienene »Römische Geschichte« erhielt, und der sehr deutlich zeigt, dass Historiographie durchaus als Literatur wahrgenommen wurde. Aufsätze in Fachzeitschriften waren allerdings spätestens seit den 1880er Jahren durch ihren Fußnotenapparat meist sehr deutlich als wissenschaftliche Arbeiten gekennzeichnet und weniger narrativ verfasst, doch für Mo-
17 Vgl. Nissen (2009), S. 113-116. 18 Vgl. Schieder, Theodor: Geschichte als Wissenschaft. Eine Einführung, München, Wien: Oldenbourg 1965, S. 124f.
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nographien ist eine Einteilung in wissenschaftlich und populär eine mit vielen Grauzonen.19 Die Autorinnen und Autoren von Familienzeitschriften orientierten sich in Inhalt und Methode ihrer Geschichtsdarstellungen oftmals an der wissenschaftlichen Forschung, nutzten wissenschaftliche Methoden der Quellenanalyse, und bezogen ihr historisches Wissen aus Publikationen der Fachwissenschaft. Wissenschaftliche Debatten wurden in Familienzeitschriften für ein nichtakademisches Publikum zusammengefasst und teilweise sogar in populären Medien geführt. Und nicht zuletzt hatten populäre Medien eine innovative Funktion und griffen historische Themen und Darstellungsformen auf, lang bevor diese in der Fachwissenschaft etabliert wurden, wie in den folgenden Kapiteln zu zeigen sein wird.
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SCHREIBT MAN POPULÄRE
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Unter der Fragestellung, wie und mit welcher Methode Familienzeitschriften populäre Geschichte schrieben, untersucht dieses Kapitel die Generierung historischen Wissens in den Zeitschriften. Diese funktionierte zu großen Teilen über die Rezeption und Diskussion populärer wie akademischer Literatur, nicht minder aber auch über eigenständige Quellenarbeit. Es wird untersucht, welche Literatur die AutorInnen von Geschichtsartikeln rezipierten und auf welche Weise sie diese offenlegten und zitierten. Im zweiten Schritt analysiere ich an einem Beispiel den Umgang der Zeitschriften mit Forschungskontroversen, die den LeserInnen einen Einblick in die Debatten und Arbeitsweisen der Fachwissenschaft liefern sollten. Der dritte Teil widmet sich schließlich dem Umgang der AutorInnen mit Quellen: Welche Quellengattungen nutzten sie und welche Funktion und Bedeutung hatten Quellen? Hier wird auch das Objektivitätsverständnis vieler AutorInnen nachvollziehbar, das am Beispiel vom Umgang mit historischen Legenden nochmals verdeutlicht wird. Rezeption und Zitation von Sekundärliteratur Die VerfasserInnen historischer Artikel betrieben in den meisten Fällen keine eigenständige Forschung, sondern stützten sich auf bereits vorhandene Veröffentlichungen zum jeweiligen Thema. Es floss viel bereits vorhandenes Wissen akademischer wie populärer Art in die Geschichtsartikel der Familienzeitschriften
19 Vgl. Nissen (2009), S. 235.
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hinein. Dies muss jedoch nicht bedeuten, das Wissen sei unverändert weitergegeben worden. Vielmehr wurde es umgeschrieben, gekürzt oder neu verknüpft, es wurden andere Schwerpunkte gesetzt oder neue Schlussfolgerungen gezogen. Dies ist allerdings in den Fällen schwer zu erforschen, in denen die AutorInnen ihre Referenzwerke nicht angaben. So sind zwar die (transformierten) Wissensinhalte überliefert, nicht jedoch die Quelle des Wissens. In diesem Fall bleibt die Möglichkeit, die Inhalte wie Formen des Wissens mit bekannten Werken oder dem zeitgenössischen geschichtlichen Allgemeinwissen abzugleichen. Da der Großteil der Autoren studiert hatte, ist davon auszugehen, dass sie mit Forschungsliteratur und dem Umgang damit zumindest prinzipiell vertraut waren und diese auch für ihre Recherchen nutzten. Eine weitere mögliche Quelle historischen Wissens waren populäre Darstellungen sowie Handbücher und Lexika. Gartenlaube-Autorin Rosalie Braun-Artaria gab in ihrer Autobiographie Hinweise darauf, wie historische Wissensgenerierung von PopulärhistorikerInnen aussehen konnte und beschrieb ihre Vorbereitung auf Geschichtsstunden für ihre Töchter und deren Freundinnen folgendermaßen: »Ich bat mir kurze Vorbereitungszeit aus und begann dann mit der mir vertrautesten alten Geschichte, im zweiten Winter zur mittleren, im dritten zur neueren übergehend. Nun saß ich eben in der Vorbereitung zum zweiten Teil […], bestrebt, so gründlich als möglich die mir selbst nur oberflächlich bekannten Jahrhunderte durchzuarbeiten. Ich hatte mir zu diesem Zweck viele Bücher mit aufs Land genommen, darunter die schweren Bände von Giesebrechts deutscher Kaisergeschichte. Da stieß ich denn bald in der Karolingerzeit auf die pseudohistorischen Dekretalen, die den Anspruch auf die weltliche Herrschaft des Papstes begründen, von Giesebrecht aber als dreiste Fälschung erklärt werden. Nun entstand mir die Frage: Was sagt die katholische Wissenschaft zu dieser ungeheuern Beschuldigung? Zugleich wurde mir zum erstenmal bewußt, daß ich, obgleich selbst katholisch erzogen, den Unterschied der griechischen und römischen Kirche nicht kannte.«20
Weiter beschrieb sie, wie sie, auf ihre eigenen Wissenslücken gestoßen, sich mit ihren Fragen an den katholischen Historiker Ignaz von Döllinger gewandt habe, mit dem sie daraufhin sich angefreundet und oftmals Gespräche über Geschichte geführt habe.21 Historische Wissensgenerierung funktionierte bei Braun-Artaria über die Lektüre wissenschaftlicher Literatur und über den direkten Austausch mit einem Historiker. Zudem lernen wir in diesem Zitat über das Tempo, mit
20 Braun-Artaria (1918), S. 190f. 21 Vgl. ebd., S. 191-196.
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dem sie sich historische Epochen aneignete, nämlich gab sie sich je einen Winter für alte, mittelalterliche und neue Geschichte. Die Spur des historischen Wissens lässt sich in Zeitschriften relativ einfach dort verfolgen, wo die AutorInnen angaben, auf welche Werke sie sich stützten. Die Zitation der verwendeten Literatur gehörte zwar nicht zum formalen Standard der Geschichtsdarstellungen, war jedoch auch kein seltenes Phänomen. Sie war auch ein Authentizitäts- und Qualitätsmerkmal, konnte man sich so doch auf Autoritäten des Faches beziehen. Der Verweis erfolgte in der Regel im Text selbst, meist am Anfang des Artikels: Karl Hellmund verwies zum Beispiel in der Alten und Neuen Welt auf den Innsbrucker Professor und Jesuiten P. Emil Michael und sein »rasch bekannt gewordene[s]« Buch »Geschichte des deutschen Volkes seit dem 13. Jahrhundert bis zum Ausgang des Mittelalters«, das er mit vollen Angaben in einer Fußnote zitierte und dem er in der Argumentation folgte.22 Fußnoten waren allerdings eine eher ungewöhnliche Zitationsform. Meist wurde die verwendete Literatur direkt im Text angegeben, so zum Beispiel bei A. Backemann, der in einem Artikel über altgermanischen Totenkult Elard Hugo Meyers »Germanische Mythologie«, Ernst Ludwig Rochholz’ »Deutscher Glaube und Brauch«, Karl Friedrich Adolf Wuttkes »Deutscher Volksaberglaube der Gegenwart« und andere Werke in Klammern und mit Seitenangaben zitierte.23 Die Werke, auf die man sich bezog, strukturierten in manchen Fällen den gesamten Artikel in dem Sinne, dass der gesamte Text dem Aufbau einer Monographie oder eines Aufsatzes folgte und deren Inhalte wiedergab: »Ludolf Parisius, dem verdienstvollen Forscher der Altmark, gebührt der Ruhm, in den ›Bildern aus der Altmark‹, die er 1883 […] herausgab, auch in diese dunkle Angelegenheit Licht gebracht zu haben«,24 führte Friedrich Braumann 1904 im Daheim seine Referenzliteratur an. Die »dunkle Angelegenheit« war das Verfahren
22 Vgl. Hellmund, Karl, Das dreizehnte Jahrhundert im Lichte der neuesten Forschung, in: ANW 1897/98, S. 558. 23 Vgl. Backemann, A., Altgermanischer Totenglaube und Seelenkult, in: ANW 1906, S. 339-343; vgl. zur Zitation in Klammern und Fußnoten außerdem: Stein, Paul, Totenkult und Bestattungsgebräuche, in: NW 1909, S. 370-372: Raymund, P., Die Gründung des Klosters Maria-Einsiedeln, in: ANW 1902/03, S. 204; Grupp, Georg, Die Entwicklung des Schönheitssinnes in der Renaissance, in: ANW 1897/98, S. 165-168; Macasy, Gustav, Das Dogma der Unfehlbarkeit. Zum 26. Gedenktage am 18. Juli 1896, in: NW 1896, S. 311, 313. 24 Braumann, Friedrich, Grete Minde und der Brand von Tangermünde, in: DA 1904, Nr. 20, S. 14.
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um die angebliche Brandstifterin Grete Minde, die 1619 hingerichtet worden war – zu Unrecht, wie der Jurist und Heimatkundler Ludolf Parisius auf Basis von Gerichtsakten nachgewiesen habe. Braumann folgte in seinem Artikel »Grete Minde und der Brand von Tangermünde« dem Kapitel »Grete Minden und die Feuersbrunst am 13. September 1617« aus Parisius populär-volkskundlichen »Bildern aus der Altmark«, zitierte die von diesem untersuchten Quellen und stellte dessen Ergebnisse vor. Zuweilen zitierten die Artikel über lange Passagen wörtlich aus dem entsprechenden Werk, so zum Beispiel E. Pehl in einem Artikel über die Kulturgeschichte der Walpurgisfeier. Er zitierte über eine halbe Seite Eduard Heyck, den er namentlich angab, ohne freilich das Werk genau zu benennen, aus dem das Zitat stammte.25 Manche Texte waren in Gänze Auszüge aus anderen Monographien, etwa der Artikel »Was die Stadt Waldshut zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) erfahren hat«. Der Text war ein Vorabdruck eines Kapitels der Monographie Ernst Adolf Birkenmayers »Geschichte der Stadt Waldshut am Oberrhein von 1242-1805«.26 Martin Nissen weist darauf hin, dass die Nennung der verwendeten Forschungsliteratur auch in populären Monographien zuweilen nicht vorgenommen worden sei. Üblicher sei es jedoch gewesen, entweder im Text selbst oder im Vorwort Hinweise auf verwendete Quellen und Forschungsliteratur zu geben, eine Strategie, mit der gerade Autoren ohne besonderes Renommee ihre Werke legitimiert hätten und dem Dilettantismusvorwurf entgangen seien.27 Auch in der Wissenschaft war es lang üblich, nur die Ergebnisse der Forschung zu publizieren, nicht aber den Weg dorthin offenzulegen – was häufig auch beinhaltete, auf Quellenbelege zu verzichten. Ranke schrieb in diesem Stil, doch auch Fachhistoriker der zweiten Generation wie Treitschke und teilweise auch Mommsen. Die Ausführlichkeit der Quellenbelege war eine Frage des persönlichen Stils und konnte dies sein, da der Fußnotenapparat bis zum Ende des 19. Jahrhunderts noch nicht zum wissenschaftlichen Standard gehörte.28 Die Tendenz, ohne Quellenbelege zu arbeiten und den eigenen Forschungsprozess nicht transparent zu machen, wohnte insbesondere den groß angelegten synthetisierenden Über-
25 Vgl. Pehl, E., Eine Walpurgisfeier auf dem Brocken, in: SZ 1907/08, S. 826-827. 26 Birkenmayer, Ernst Adolf, Was die Stadt Waldshut zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) erfahren hat, in: ANW 1890, S. 215-219; ein Auszug aus einer Monographie war auch: Kuhn, Albert, Ueber Begriff und Bedeutung der Renaissance, in: ANW 1901/02, S. 232-235. 27 Vgl. Nissen (2009), S. 236-240. 28 Vgl. Schieder (1965), S. 124f.
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blicksdarstellungen (nicht nur des 19., sondern auch des 20. Jahrhunderts) inne.29 In dem Maße jedoch, in dem sich der Standard der Geschichtsforschung von groß angelegten Überblicken zu detaillierteren Studien entwickelte, veränderte sich auch die Darstellungsform. Um die Jahrhundertwende gehörten ein ausführlicher Fußnotenapparat, detaillierte und nachvollziehbare Quellenangaben und eine kritische Auseinandersetzung mit den Quellen und ihrer Überlieferung auch im Darstellungstext zum üblichen Stil historischen Schreibens und waren ein Ausweis von Wissenschaftlichkeit – das wird besonders deutlich, wirft man einen Blick in die Fachorgane des späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Darstellung von Forschungskontroversen Neben der Zitation von Sekundärliteratur zeigte sich das Rezeptionsverhältnis der Zeitschriften zur Fachwissenschaft in der Darstellung und Erläuterung von Themen, die in der Forschung umstritten waren. Diese Rezeptionen von Forschungskontroversen sind einerseits Ausdruck einer Orientierung der Familienzeitschriften an der Fachwissenschaft, andererseits zeigen sie auf, wie die Zeitschriften sich bemühten, den LeserInnen Einblicke in die Welt der Wissenschaft und ihrer Forschungsmethoden zu gewähren. Walter von Bremen, der im Daheim aktuelle Streitthemen der Forschung zusammenfasste und erläuterte, sah die Relevanz eines solchen Einblickes in die Forschung und ihre Debatten im Interesse gebildeter Bürger für die Geschichte per se begründet. Die Aufarbeitung historischer Wahrheit sei nicht allein für den Historiker von Interesse, sondern auch Laien sollten »teilnehmen an dem Urteil der Geschichte«.30 Hier sei zu unterscheiden zwischen untergeordneten Fragen, »sogenannte[n] ›Doktorfrage[n]‹« und solchen, die »für das ganze Volk von höchstem Interesse« seien.31 Diese wolle er seinen LeserInnen näherbringen. Bremen gab ein lebhaftes Bild akademischer Wissensgenerierung: Archivalische Forschung fördere oft neue Urkunden zu Tage, die »geradezu umwälzend« auf die Forschungsmeinung wirkten. Dieser Gedanke verweist schon auf ein spezifisches Verständnis historischer Wissenschaft, in dem Quellen als letzte historische Instanz eine zentrale Stellung einnahmen. Neue Quellenfunde führten oft, so Bremen, zu einem »Kampf der Geister« zwischen den Anhängern der alten und jenen der neuen Anschauung. Dieser werde meist in historischen Zeitschriften und anderen Fachpublikationen
29 Vgl. ebd. 30 Vgl. Bremen, Walter von, Friedrich Wilhelm III. und die Konvention von Tauroggen, in: DA 1902, Nr. 7, S. 14. 31 Ebd.
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geführt, so dass die Mehrzahl der Gebildeten davon nur hier und da erfahre, ohne jedoch einen vollen Einblick zu erhalten. Diese Lücke gelte es zu füllen.32 Eine solche Forschungskontroverse war die Frage nach Herkunft und Charakter der mittelalterlichen Femgerichte. Diese entstanden im Spätmittelalter mit regionalem Schwerpunkt in Westfalen als eine Gerichtsform außerhalb der offiziellen Rechtsprechung, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit tagte. Jeweils ein Freigraf und sieben Freischöffen richteten hier über meist schwere Gewaltverbrechen und konnten den Angeklagten auch in dessen Abwesenheit verurteilen. Die drastischste Strafe der Femgerichte war ein Todesurteil durch Erhängen, doch konnten Angeklagte auch zu Geldbußen verurteilt werden. Tatsächlich sind nur wenige Fälle bekannt, in denen das Todesurteil vollstreckt wurde. Die Feme war seit dem frühen 19. Jahrhundert ein beliebtes Thema romantischer Geschichtsbetrachtung, insbesondere infolge der literarischen Verarbeitung des Themas durch Goethe, Kleist und andere Dichter, die eine gruselig-düstere Atmosphäre darum errichteten – als ein des Nachts zusammenkommendes Straftribunal, vor dessen grausamer Strafe weder schuldig noch unschuldig Angeklagte noch zufällige Lauscher sicher waren.33 Die historische Forschung setzte sich seit Mitte des Jahrhunderts mit Femgerichten auseinander. Einen Standardtext hatte schon 1845 Karl Georg Wächter für eine Enzyklopädie verfasst.34 Der ebenfalls viel zum Thema zitierte Kulturhistoriker Johannes Scherr, der in der Frühphase der Gartenlaube regelmäßiger Autor der Zeitschrift war, beschrieb 1852/53 in seiner Deutschen Kultur- und Sittengeschichte die Feme als »echtgermanisches Institut«, das sich vom »uraltdeutschen Rechtsverfahren« der karolingischen Rechtsprechung hergeleitet habe und ein Gericht von Freien über Freie gewesen sei, unabhängig von fürstlicher Landeshoheit und unmittelbar zu Kaiser und Reich.35 Seit Mitte des Jahrhunderts dominierte die Frage nach den Ursprüngen der Feme die wissenschaftlichen
32 Vgl. ebd. Zusätzlich zu den folgenden Beispielen siehe auch: Bremen, Walter von, Wie der siebenjährige Krieg entstand, in: DA 1901, Nr. 45, S. 16-17; Kerst, Friedrich, Wie starb Theodor Körner, in: DA 1912, Nr. 47, S. 4-5; Hahn, A., Die historische Jungfrau von Orleans, in: ANW 1909, S. 626-630, 658-662. 33 Vgl. zur Feme und ihrer Rezeption Lück, Heiner: »Feme, Femgerichte«, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Berlin: Schmidt 2008, Spalte 1535-1543. 34 Wächter, Karl G.: »Fehmgericht«, in: Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste, Leipzig: Brockhaus 1845, S. 236-265. 35 Vgl. Scherr, Johannes, zit. in: H. Berdrow, Femgericht und Inquisition, in: DA 1894, S. 204.
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Auseinandersetzungen. Scherrs Sichtweise vom direkten Ursprung aus der altgermanischen karolingischen Rechtsprechung wurden komplexere Faktorengeflechte entgegengestellt, von denen nur ein Strang unter vielen auf Karl den Großen zurückgehe. Diese Auffassung vertrat insbesondere Theodor Lindner, der 1888 für seine Untersuchung der Feme erstmals eine große Anzahl von Quellen auswertete;36 nicht zuletzt aus diesem Grund gilt seine Monographie auch heute noch als ein Standardwerk in der Forschung. Ein Jahr nach Lindners Veröffentlichung entspann sich eine Debatte um die Femgerichte und ihre historische Einordnung. 1889 erregte der Jurist und Rechtshistoriker Friedrich Thudichum mit der These Aufsehen, die Gerichte hätten in keinerlei Beziehung zu germanischen Rechtstraditionen gestanden, sondern seien aus dem Geist der im Spätmittelalter neu geschaffenen Inquisition entstanden und ursprünglich Institutionen zur Verfolgung von Ketzern gewesen.37 Der bisherigen Forschung warf er zudem einen zu positiven Blick auf die Femgerichte vor. Thudichum wurde von verschiedenen Seiten für seine Thesen angegriffen, am deutlichsten von Theodor Lindner, der ihm in einer äußerst polemischen Erwiderung inhaltliche Fehler, unsaubere Quellenarbeit und fehlende Kenntnis der vorhandenen Forschungsliteratur vorwarf,38 was wiederum Thudichum zu einer Antwort und nochmaligen Erläuterung seiner Thesen in der Historischen Zeitschrift bewog.39 Die Voraussetzungen für ein reges Interesse der LeserInnen von Familienzeitschriften am Thema waren gegeben: Es bot abenteuerliche Unterhaltung mit ausreichend geheimnisvollen Schauereffekten, wies aber dennoch reale historische Wurzeln auf und reihte sich ein in die umfassende Suche nach den germanischen Wurzeln der deutschen Gesellschaft. So wundert es nicht, dass die Feme in allen hier untersuchten Zeitschriften behandelt wurde, teilweise auch zwei Mal während des Untersuchungszeitraums.40 Die Artikel strebten danach, un-
36 Vgl. Lindner, Theodor: Die Feme. Geschichte der »heimlichen Gerichte« Westfalens, Paderborn: Schöningh 1989. 37 Vgl. Thudichum, Friedrich: Femgericht und Inquisition, Gießen: Ricker 1889. 38 Vgl. Lindner, Theodor: Der angebliche Ursprung der Vemegerichte aus der Inquisition. Eine Antwort an Herrn Prof. Dr. Friedrich Thudichum, Paderborn: Schöningh 1890. 39 Vgl. Thudichum, Friedrich: »Das heilige Femgericht«, in: Historische Zeitschrift 68 (1892), S. 1-57. 40 Vgl. Wahrmund, Ernst, Das mittelalterliche Femgericht, in: NW 1898, S. 203-205; Adé, Alwin, Die Feme, in: NW 1904, S. 363-364, 371-372, 379-380; Berdrow, H., Femgericht und Inquisition, in: DA 1894, S. 204-206; Kübel, Die Feme, in: DA 1901,
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wahre Legenden über die Feme richtigzustellen – so etwa die Auffassung, die Gerichte wären bei Nacht zusammen gekommen – konnten sich aber gleichzeitig der atmosphärischen Überhöhung des Gruselfaktors teilweise nicht entziehen. Jürgen Bonorands Artikel »Die Femegerichte. Ein Kapitel aus der deutschen Kulturgeschichte« in der Sonntags-Zeitung etwa versuchte zwar im Text, den romantischen Vorstellungen der Feme historische Tatsachen gegenüberzustellen, war aber zugleich mit drei Reproduktionen von Historiengemälden illustriert, in denen eben jene Klischees wiederholt wurden. Hier war ein mit Kapuzen vermummtes Tribunal zu sehen, vor dem der in eine Ritterrüstung gewandete Angeklagte einen Eid schwor, ein Ritter, der einen Femebrief an ein Stadttor nagelte, sowie ein zum Tode Verurteilter, der von zwei Männern zu einem Baum gezerrt wurde, an dem schon der Galgenstrick vorbereitet war. Die Bilder des Malers Konrad Brüning standen hier unabhängig vom Text, der mit keinem Wort auf sie einging, und erzählten eine andere Geschichte, als Bonorands Text es tat. Der Artikel, bestehend aus Text und Bild, transportierte damit zwei verschiedene Erzählungen von der Feme.41 Die wissenschaftliche Debatte wurde von den Autoren der Familienzeitschriften verschieden intensiv wahrgenommen, wenn sie sich auch alle in ihren Darstellungen der Feme an der Forschungsliteratur orientierten. Zum Großteil bezogen sich die Autoren auf Johannes Scherr und Theodor Lindner – die Femegerichte wurden dabei (trotz der differenzierenden Auffassung Lindners) fast ausschließlich auf altgermanische Rechtstraditionen zurückgeführt. Insgesamt drei Artikel gingen jedoch auch auf den zeitgenössischen Streit zwischen Thudichum und Lindner ein und positionierten sich innerhalb der Forschungslandschaft: Ernst Wahrmund erwähnte den Streit in der Neuen Welt nur knapp, um sich von Thudichum zu distanzieren.42 H. Berdrow im Daheim hingegen beschäftigte sich ausführlich mit dessen These, die Feme sei aus dem Geist der Inquisition entstanden. Schon sein Titel »Femgericht und Inquisition« zitierte den gleichnamigen Titel der Monographie Thudichums, und der Autor nahm die Kontroverse und den Aufsatz Thudichums in der Historischen Zeitschrift zum Aufhänger, um dessen Thesen, gestützt von seinen eigenen Quellenzitaten, aus-
Nr. 47, S. 13-15; Bonorand, Jürgen, Die Femgerichte. Ein Kapitel aus der deutschen Kulturgeschichte, in: SZ 1907/08, S. 1111-1113; Lamprecht, Karl, Die heilige Feme, in: ANW 1902/03, S. 207-208; Ein Maifeld unter Karl dem Großen. Nach der Originalzeichnung von Alexander Zick, in: GL 1904, S. 324-325. 41 Vgl. Bonorand, Jürgen, Die Femgerichte. Ein Kapitel aus der deutschen Kulturgeschichte, in: SZ 1907/08, S. 1111-1113. 42 Vgl. Wahrmund, Ernst, Das mittelalterliche Femgericht, in: NW 1898, S. 203-205.
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führlich wiederzugeben. Die Thesen von Scherr, Wächter und Lindner dienten dabei dem Forschungsüberblick, wurden aber knapp abgehandelt.43 Auch die Alte und Neue Welt positionierte sich mit Karl Lamprecht als Autor in der Kontroverse um den Ursprung der Femegerichte. Lamprecht begann seine Argumentation wie Berdrow mit einem Überblick über die bisherige Forschung und zitierte dabei dieselben Sätze Scherrs und Wächters wie der Daheim-Autor. In der Beurteilung Thudichums allerdings schlug Lamprecht einen anderen Weg ein als Berdrow und argumentierte gegen dessen Thesen. Auf der Grundlage von Quellen belegte er die institutionelle Nähe der Femegerichte zu altgermanischen Freigerichten. Thudichums Theorie, Femegerichte seien ursprünglich Ketzergerichte gewesen, kritisierte er mit dem Hinweis darauf, eine weite Verbreitung von Häresie zu jener Zeit in Deutschland sei nicht erwiesen.44 Der Text von 1902/03 ist nicht allein als Antwort auf Thudichum, sondern auch als eine späte Erwiderung auf den Daheim-Artikel Berdrows von 1894 zu verstehen. Auf diesen bezog sich Lamprecht direkt, indem er ihm bezüglich der Einordnung einer bestimmten Quelle recht gab.45 Lamprecht beschäftigte sich in seinen sonstigen Publikationen nur am Rande mit der Feme; der Artikel für die Alte und Neue Welt war also offenbar kein Nebenprodukt seiner wissenschaftlichen Arbeit, sondern er beteiligte sich allein in diesem populären Medium an der Debatte – hier allerdings nicht als Vermittler fremder Forschungsmeinungen (wie Berdrow es tat), sondern mit eigener Argumentation. Historische Kontroversen, das zeigt das Beispiel, wurden in einem gewissen Maße auch auf der Plattform der Familienzeitschriften geführt. Hier lief die Diskussion mit leichter zeitlicher Versetzung parallel zur jeweiligen Debatte in der Fachwissenschaft. Allerdings waren es meist nicht die fachwissenschaftlichen Historiker selbst, die die Diskussionen in populären Medien weiterführten, sondern Autoren, die über die akademischen Debatten informiert waren und sie einem breiteren Publikum zusammenfassten und zugänglich machten. In Ausnahmefällen jedoch beteiligten sich auch akademische Historiker an populären Diskussionen, wie das Beispiel Karl Lamprechts zeigt. Die Rezeption historischer Forschungskontroversen in Familienzeitschriften lässt vermuten, dass die AutorInnen, die über solche Debatten schrieben, sich gut in der (universitären) Forschungslandschaft auskannten, erforderte die Rezeption einer Forschungskontroverse doch Kenntnis über den aktuellen Stand der Forschung und die Beteiligten an der Kontroverse, ein Wissen über die Gepflogen-
43 Vgl. Berdrow, H., Femgericht und Inquisition, in: DA 1894, S. 204-206. 44 Vgl. Lamprecht, Karl, Die heilige Feme, in: ANW 1902/03, S. 207. 45 Vgl. ebd., S. 208.
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heiten des Faches und die relevanten Fachorgane sowie Zugang zu diesen. Die Autoren waren bemüht, die LeserInnen direkt am Forschungsprozess teilhaben zu lassen, indem sie ihnen Einblicke in den Forschungsstand gaben und die Argumentationen beider Seiten an Quellenbeispielen aufzeigten. Die LeserInnen konnten sich so ein eigenes Bild machen, gleichwohl eines, das gelenkt war durch die Argumentationsführung des Autors. Sie bekamen einen Einblick in die Prozesse akademische Wissensgenerierung, lernten, dass in der Wissenschaft viele Thesen umstritten waren, dass auch die großen Meister der Historikerzunft sich durchaus irren und auf Grundlage neuer Quellenfunde oder neuer Quelleninterpretationen widerlegt werden konnten. Das Bild historischer Forschung, das hier gezeichnet wurde, war das einer Detektivgeschichte, eines kriminalistischen Puzzles, das letztlich durch Quellenfunde aufgelöst werden konnte. Das Kapitel hat bisher die vielfältigen Rezeptionsverhältnisse aufgezeigt, in denen Familienzeitschriften sich bewegten. Die AutorInnen bezogen ihr historisches Wissen aus akademischen und populären Publikationen und brachten ihren LeserInnen in Darstellungen von Forschungskontroversen die Prozesse und Debatten der Fachwissenschaft näher. Die Rezeptionsleistungen der ZeitschriftenautorInnen bildeten allerdings nur eine Form der Generierung historischen Wissens. Vielfach stellten AutorInnen auch ihre eigene Forschung vor und konstruierten Geschichtswissen in direkter Arbeit mit Quellen. Das nächste Kapitel untersucht den methodischen Umgang mit Quellen und das dahinter stehende Geschichtsverständnis der Familienzeitschriften und zieht dabei Vergleiche zur Fachwissenschaft. Quellen als letzte historische Instanz und die Erschließung neuer Quellengattungen Wissenschaftlichkeit hing im universitären wie außeruniversitären Kontext eng am Umgang mit Quellen. Quellen galten in Familienzeitschriften als Garanten korrekter und objektiver historischer Darstellungen und waren Grundlage eines spezifisch populären Wissenschafts- und Objektivitätsverständnisses, das gleichwohl nicht völlig unabhängig vom Wissenschaftsverständnis der Fachwissenschaft selbst war. Das Kapitel fragt danach, wie die populäre Geschichte Objektivität über Quellen konstruierte, welches Wissenschafts- und Geschichtsverständnis sie dabei verfolgte und wo die Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede zwischen akademischer und populärer Historiographie in der Konzeption von Objektivität und im methodischen Umgang mit Quellen lagen. Dazu werfe ich zunächst einen Blick auf die Konzeptionen wissenschaftlicher Geschichtsschreibung, die zeitgenössisch in den Universitäten galten, und untersuche dann ver-
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gleichend den Umgang mit Quellen in Familienzeitschriften. Am Beispiel des Umgangs mit historischen Legenden, die in Familienzeitschriften richtiggestellt wurden, verdeutliche ich das spezifisch populäre Objektivitäts- und Geschichtsverständnis der Familienzeitschriften. Historischen Quellen waren für die Zeitschriften von immenser Bedeutung: Auf ihnen ruhte die Beweislage historischer Forschung, hier lag die höchste Autorität und das letzte Wort historischen Wissens. Die Quellen, so die Annahme, brächten die geschichtliche Wahrheit ans Licht, die zuvor im Dunkeln geschlummert habe, und auch die Autoritäten der Geschichtswissenschaft müssten sich letztlich der größeren Autorität der Quellen beugen. Die Geschichte selbst sprach in dieser Konzeption durch die Quellen. Als Indizien historischer Wahrheit, als Authentizitätsgaranten, als Marker von Wissenschaftlichkeit und als Möglichkeit, historische Erkenntnisprozesse offenzulegen, hatten Quellen wichtige Funktionen in der populären Historiographie. Die in Familienzeitschriften verwendeten Quellen waren äußerst vielseitig – Chroniken und Gerichtsakten, Urkunden und Flugblätter, Zeitungen, politische Schriften und Briefe, oftmals bereits edierte Dokumente, seltener auch Archivalien. Die Familienzeitschriften erschlossen in vielen Fällen neue Quellengattungen, sie verwendeten Quellen, die in der stark auf politische Dokumente ausgerichteten Forschung nicht üblich waren – so etwa Periodika, private Briefe oder Gemälde. Ein Spezifikum populärer Geschichte war die Verwendung von Bildern. Diese wurden von Familienzeitschriften nicht allein illustrativ genutzt, sondern auch als Quellen. Der Architekt und Kunstkenner Georg Buß nutzte holländische Genremalerei des 17. Jahrhunderts als Quellen für einen Artikel über Küchen und Küchennutzung in der Geschichte.46 Der Artikel beinhaltete sechs viertelbis halbseitige autotypische Reproduktionen, die Küchenszenen zeigten, in denen Mägde und Köchinnen sich alltäglicher Küchenarbeit widmeten.47 Gabriel Metsus Gemälde »Holländische Köchin« etwa zeigt eine Köchin beim Apfelschälen, einen Korb noch zu schälender Äpfel vor sich, neben sich ein totes Kaninchen liegend, das darauf wartet, ausgenommen und gehäutet zu werden (vgl. Abbildung 12). Im Mittelpunkt von Nicolaes Maes’ »Schweineschlachten im Hause« ist ein aufgehängtes und teilweise ausgenommenes Schwein zu sehen,
46 Vgl. Buß, Georg, Alte und neue Küchen, in: DA 1908, Nr. 8, S. 16-20. 47 Die Küche. Gemälde von Kaspar Netscher; Das geschlachtete Schwein. Gemälde von J. W. Lausink; Holländische Köchin. Gemälde von Metsu; Die Köchin. Gemälde von Metsu; Köchin. Gemälde von G. Dou; Schweineschlachten im Hause. Gemälde von Nicolaes Maes. Illustrationen zu: ebd.
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rechts und links davon zwei Mägde, die offensichtlich die Arbeit des Ausnehmens verrichten (vgl. Abbildung 13). Abbildung 12 und 13: Holländische Genremalerei als Quelle
Quelle: Buß, Georg, Alte und neue Küchen, in: DA 1908, Nr. 8, S. 18 und 20.
Die Gemälde wurden im Text eingeleitet als Kunstwerke, welche die »gemeine Wirklichkeit« durch den Zauber des Lichteinsatzes adelten und somit die gewöhnlichen Tätigkeiten, die sie abbildeten, mit »anheimelndem Reiz« umgäben.48 Die Gemälde, auf denen »die Mägde unter Führung der Hausfrau emsig schaffen, Geflügel rupfen, Fische abschuppen, Braten spicken, den Spieß drehen, den Rost belegen, Spargel putzen, Kohl säubern, das Geschirr und die Krüge blank machen« brächten die »außerordentliche Bedeutung« der Küche als Zentrum häuslichen Lebens zum Ausdruck.49 Die berückenden Bilder sollten allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Küche ein Raum gewesen sei, »der an die Widerstandsfähigkeit der Mägde und Hausfrauen hohe Anforderungen stellte«50 und für manche zeitgenössische Hausfrau eine Zumutung wäre. Diese Zumutung beschrieb Buß detailreich: Das Kücheninventarium, der Kamin, der Rauch und Fettdunst nicht ganz aus der Küche habe halten können und durch
48 Vgl. ebd., S. 16. 49 Vgl. ebd. 50 Ebd., S. 17.
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den Regen und Schnee in die Speisen gelangt seien, die Problematik der Wasserversorgung und der Beleuchtung durch qualmende Kienspäne, der Schlachttag, der die Küche in ein Schlachthaus verwandelt habe – Verhältnisse, die es der Hausfrau schwer gemacht hätten, Ordnung in der Küche zu halten.51 Gemälde fungierten hier als Quellen der Alltagsgeschichte des 17. Jahrhunderts, als anschauliche Einblicke in alltägliche Küchenarbeit und die Bedeutung der Küche im bürgerlichen Leben. Gleichzeitig warnte Buß davor, die Gemälde als reine Abbilder der Wirklichkeit zu sehen, hätten doch die Maler mit Licht und Schatten gearbeitet und somit anheimelnde Szenen geschaffen, die allzu leicht über die wenig heimelige Realität hinwegtäuschen könnten. Andere Artikel, die Gemälde als Quellen verwendeten, widmeten sich der Darstellung historischer Persönlichkeiten in Porträts und gingen der Frage nach, wie das ästhetische Empfinden einer Zeit in solche Porträts einfließe. Die »ganze Art, wie sich die Kultur und der Wille einer Zeit betätigt«52 könne man den jeweiligen Bildnissen ansehen, konstatierte Eduard Heyck 1912 im Daheim: »Die Frauen, die um 1640 van Dyck in England zu malen findet, sind andere geworden als die backenknochigen Herzoginnen mit ihren spießig zugekniffenen Mündern, die noch Holbeins gewissenhafter und feiner Stift dort als Grundlage für Porträts zeichnerisch studierte. […] Das hohe Mittelalter hätte keine Freude gehabt, hätte man ihm eine der vollendeten Madonnen Raffaels über den Altar gesetzt.«53
Diese Unterschiede ästhetischen Empfindens seien es auch, die den zeitgenössischen Blick auf die Bildnisse Maria Stuarts lenkten, das eigentliche Thema von Heycks Artikel. Der Artikel war illustriert mit sieben Bildnissen Maria Stuarts in verschiedenen Stationen ihres Lebens und von unterschiedlichen Künstlern gemalt.54 Auf den angenommenen ersten Bildeindruck der LeserInnenschaft eingehend, schrieb Heyck:
51 Vgl. ebd., S. 18. 52 Heyck, Eduard, Die Bildnisse der Maria Stuart, in: DA 1912, Nr. 7, S. 15. 53 Ebd. 54 Maria Stuart in ihrer Jugend. Clouetsche Handzeichnung im Schlosse Chantilly; Maria Stuart als Witwe König Franz II. von Frankreich. Gemälde von Clouet in der WallaceGalerie; Maria Stuart im Jahre 1560. Gemälde in der National-Porträt-Galerie zu London (Nach einem Stahlstich); Maria Stuart zur Zeit ihrer Gefangenschaft. Kupferstich nach einem Gemälde von Zuccaro; Maria Stuart und ihr Gatte Darnley. Nach einem Kupferstich; Maria Stuart 1578. Gemälde im Besitz des Marquis von Salisbury; Maria Stuart auf dem Hinrichtungsgange 1887. Illustrationen zu: ebd. S. 15-18.
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»Der Leser hat schon, ehe er diese Zeilen liest, die zugehörigen Bilder betrachtet. Und falls er die maßgeblichsten nicht schon kannte, wird er mit Erstaunen weder eine außerordentliche Schönheit der Züge gefunden haben, noch jenen bezaubernden Charme, den holden Liebreiz, den man nicht minder von Marias früher Jugend an gefeiert hat […].«55
Heyck zeigte im Text auf, dass die Bildnisse Maria Stuarts im Laufe der Jahre und Jahrhunderte dem jeweiligen Zeitgeschmack angepasst worden seien, nicht allein was ihr Kostüm angehe, sondern auch in Bezug auf ihre Züge selbst. Daraus folgerte er, die Mehrzahl der Bilder sei nicht authentisch und daher »wertlos« – lediglich aus Maria Stuarts Jugendzeit existierten »sichere und genau authentische Bilder«.56 Heyck ging im folgenden auf sämtliche gezeigten Bilder ein und erläuterte sie in ihrem Entstehungszusammenhang, ihrer Authentizität und ihren Fehlern in der Darstellung. Dieser Artikel war einer der wenigen, der Bilder nicht allein illustrativ nutzte, sondern im Text ausführlich auf ihre Entstehungszusammenhänge einging und eine ausführliche Quellenkritik lieferte.57 Auffällig ist dabei die Einsicht in verschiedenes ästhetisches Empfinden jeder Zeit und die daraus entstehende Schlussfolgerung, nicht authentische Bilder seien als Quellen wertlos – wobei Authentizität Originaltreue in der Darstellung meinte. Häufiger als Bildquellen wurden allerdings Schriftquellen in Familienzeitschriften genutzt. Die Bedeutung der Quelle als Schriftstück, das im Prozess historischer Erkenntnisgenerierung selbstsprechend schien, kam besonders in jenen Artikeln zum Ausdruck, die sich darauf beschränkten, eine besonders aussagekräftige Quelle mit einigen einleitenden, kontextualisierenden und ergänzenden Passagen wiederzugeben. Die Quelle bildete hier das Zentrum der historischen Darstellung, die Geschichte zeigte sich durch die Quelle. Die Neue Welt beispielsweise stellte 1912 eine Schlosserzunft-Ordnung aus dem Jahr 1566 vor.58 Karl Massatsch, Autor des Artikels und selbst Metallarbeiter, gab zunächst einen einleitenden Überblick über Entstehungszusammenhang und Fundort der Quelle, um sie schließlich in vollem Umfang zu zitieren. Die einzelnen Passagen der Zunftordnung, deren jede etwa einen Absatz lang war, fasste er jeweils in einem kurzen anschließenden Abschnitt in moderner Sprache zusammen. Illustriert war
55 Ebd., S. 15f. 56 Ebd., S. 17. 57 Vgl. zur Verwendung von Porträts als Quellen auch Höffner, Johannes, Das Bild der Königin Luise, in: DA 1910, Nr. 42, S. 10-13. 58 Massatsch, Karl, Eine Schlosserzunft-Ordnung aus dem Jahre 1566, in: NW 1912, S. 61-62, 70.
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der Artikel mit drei fotografischen Aufnahmen einzelner Seiten der Zunftordnung, die ebenfalls im Text genauer erläutert wurden.59 Ähnlich ausführlich zitierte das Daheim 1892 auf vier Seiten das Protokoll eines Mecklenburgischen Patrimonialrichters, der Zwangsrekrutierungen durch das preußische Militär dokumentiert hatte. Eingeleitet durch Erläuterungen über den historischen Kontext wurde das Quellenzitat lediglich von kurzen Zusammenfassungen ausgelassener Stellen unterbrochen.60 Während die Fachwissenschaft um die Jahrhundertwende noch vorwiegend mit staatlichen und amtlichen Quellen arbeitete, erschlossen die AutorInnen von Familienzeitschriften neue Quellengattungen, an die sie alltagshistorische Fragestellungen herantrugen, wie das Beispiel des Germanisten und Schriftstellers Franz Walther Ilges zeigt, der in einem Daheim-Artikel von 1900 Blüten aus einem Lokalanzeiger von 1799 vorstellte. Er beschrieb die Faszination und den Erkenntnisgewinn von Tageszeitungen und Anzeigern als historischen Quellen: »Es mag uns sonderbar anmuten, heute einen Blick in eine alte Tageszeitung des XVIII. Jahrhunderts zu werfen. In den vergilbten Blättern zu lesen, welchen Eindruck damals Ereignisse gemacht haben, die uns gleichsam abgeklärt durch die Geschichte bekannt sind, uns mitten hinein in das Gezänke der Parteien jener Zeiten zu versetzen und zwischen den Berichten von Haupt- und Staatsaktionen die Erwähnung von kleinen und kleinsten Erlebnissen, von Taufe und Begräbnis, von Kaminbränden und Schneefalls zu finden – tout comme chez nous! Wer aber hat sich einmal die Mühe gemacht, aus dem vergessenen, verstaubten Winkel einer Bibliothek einen jener trockenen, langweiligen Anzeiger herauszusuchen, einen Anzeiger, der nichts enthält als Kauf-, Miet- und Dienstgesuchte, Verzeichnisse verlorener Gegenstände und entlaufener Möpse, nichts als eine Sammlung amtlicher Bekanntmachungen, Steckbriefe und gerichtlicher Versteigerungen? Und doch lohnt es sich, ja man könnte behaupten, schon aus einem einzigen Jahrgang ließe sich eine nette Kulturgeschichte des kleinen deutschen Spießbürgers herausschreiben – und der Humor käme dabei wahrlich nicht zu kurz!«61
Ilges stellte Periodika hier als Quellen der Alltags- und Mentalitätengeschichte vor. Sein historisches Interesse galt dabei nicht der Politik an sich, sondern vielmehr dem Eindruck, den die politischen Ereignisse damals auf die Menschen
59 Textproben aus der Rottweiler Schlosserzunft-Ordnung vom Jahre 1566. Illustration zu: ebd., S. 61. 60 Vgl. Rieben, Menschenräuberei im vorigen Jahrhundert, in: DA 1892, S. 804-808. 61 Ilges, F. Walther, Ein Lokalanzeiger vor hundert Jahren, in: DA 1900, Nr. 22, S. 21 (Herv. i. O.).
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gemacht hätten. Die vielen alltäglichen Begebenheiten, über die ein historischer Anzeiger berichte, seien Zeugnisse einer Kulturgeschichte der kleinen Leute, des deutschen Spießbürgers. Dass der Autor zudem außerordentliche Freude an seinen Quellen fand, wird offensichtlich: Die alltagshistorischen Zeugnisse erschienen als kurzweiliger, unterhaltsamer und humoriger als die großen politischen Geschehnisse der Geschichte. Und zu guter Letzt vermittelten Zeitung und Anzeiger, dass die Alltagssorgen und -freuden der Menschen im späten 18. Jahrhundert keine anderen gewesen seien als die der ZeitgenossInnen – »tout comme chez nous«.62 Auch Egodokumente dienten der Veranschaulichung historischer Begebenheiten und füllten sie mit Leben. Allerdings, so warnte Hanns von Zobeltitz einleitend zu einer Zusammenfassung eines autobiographischen Werks, dürfe man das Buch »nicht lediglich unter dem Gesichtswinkel streng historischer Kritik betrachten. Wie die ungeheure Mehrzahl aller Memoirenwerke ist es in Einzelheiten gewiß anfechtbar. Der hochverdiente Verfasser […] wollte durchaus nicht etwa Geschichte schreiben, sondern ›Selbsterlebtes, dem persönlichen Eindruck entsprechend, wahrhaft wiedererzählen‹. So ist das Buch denn ohne Zweifel stark subjektiv gefärbt. […] Wo es Selbstgesehenes, Selbsterlebtes schildert, kann man ihm freilich meist ohne weiteres folgen und thut es mit sich stetig steigerndem Interesse; wo es Vorgänge und Stimmungen wiedergibt, die der Verfasser nur von Hörensagen kannte, kann es nicht ohne weitere Nachprüfung als Quellenwerk angesehen werden.«63
Das Authentizitätsversprechen, das wird hier deutlich, konnte nach Ansicht Zobeltitz’ zwar dort nicht eingehalten werden, wo der Verfasser der Quelle gar nicht anwesend gewesen sei, doch seien Autobiographien Quellen, die Einblicke in subjektives Erleben und persönliche Eindrücke gäben. Die Idee des authentischen Einblicks in subjektive Erfahrungshorizonte wird auch im Umgang mit Briefquellen deutlich, die als Ausdruck der Gedankenwelt ihrer VerfasserInnen galten und einen scheinbar direkten Einblick in die historische Referenzzeit selbst boten. »Wir hören Napoleon selbst sprechen, sehen ihn förmlich auf und
62 Vgl. zur Verwendung von Periodika als historischen Quellen auch: Heyck, Eduard, Die Revolution von 1848 und die Märztage in Berlin, in: DA 1898, S. 384-387; Gurlitt, Cornelius, Neunzig Jahre Frauenmode, in: GL 1891, S. 8-10, 45-48, 75-78; Ders., Neunzig Jahre Männermode, in: GL 1892, S. 15-18, 76-78, 207-210. 63 Zobeltitz, Hanns von, Aus den Erinnerungen eines alten Soldaten, in: DA 1898, S. 283.
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ab gehen, hören sein herrisches Auftreten und die gebieterische Stimme zu seinen Schreibern«,64 beschrieb Eduard Engel die Wirkung der Lektüre von Napoleons Briefen. Die handelnden Personen wurden durch ihre hinterlassenen Briefe gleichsam wieder zum Leben erweckt und den LeserInnen plastisch vor Augen geführt. Briefquellen waren Mittel der Illustration, eine Methode, Geschichte zu personalisieren, zu emotionalisieren und sie unterhaltsam aufzubereiten, und fungierten gleichzeitig als Authentizitätsmarker. Eine quellenkritische Auseinandersetzung mit Briefen war eher Ausnahme denn Regel. Einer der wenigen Texte, die sich auf methodischer Ebene mit Briefquellen beschäftigten und danach fragten, was diese Quellenform für die historische Forschung leisten könne, stammte aus der Feder eines universitären Kulturhistorikers. Arthur Köhler, der am Leipziger Institut für Kultur- und Universalgeschichte eng mit Karl Lamprecht zusammenarbeitete, veröffentlichte in der Alten und Neuen Welt 1908 einen Aufruf an die Leserinnen und Leser, ihre alten Familienbriefe als historische Quellen nach Leipzig zu geben.65 Dem Aufruf voran ging eine ausführliche Reflexion über Nutzen und Verwendung von Briefen als kulturhistorische Quellen – nicht allein zur Rekonstruktion von Ereignissen, sondern vor allem zur Erforschung des geistigen Lebens der Bevölkerung. Dafür seien gerade Privatbriefe von Menschen des »schlichten Volkes« geeignet, die in der bisherigen Forschung keine Verwendung als Quellen gefunden hätten – hierin lägen laut Köhler die für die Kulturgeschichte so interessanten »Äußerungen der Volksseele«.66 Köhlers Aufruf war keine exzeptionelle Erscheinung. Die Sammlung und Publikation von Briefen und anderen Egodokumenten war seit der Jahrhundertwende auch außerhalb der Kulturgeschichte Mode und wurde als Erinnerung an den Krieg von 1870/71 zu propagandistischen Zwecken eingesetzt. 1897 veröffentlichte Edgar von Ubisch, der Direktor des Militärmuseums Königliches Zeughaus Berlin, erstmals einen Aufruf zur Sammlung von Kriegsandenken in den Grenzboten. Diesen Aufruf erneuerte er 1910 und bezog ausdrücklich Feldpost als Sammlungsobjekte mit ein.67 Der Große Generalstab hatte schon 1903
64 Engel, Eduard, Aus Napoleons Briefen, in: GL 1911, S. 1015. Vgl. auch Wisanowsky, A., Aus den Briefen eines Freiheitskämpfers, in: SZ 1912/13, S. 621-623; Jacobi, Max, Königin Luise in schwerer Zeit, in: ANW 1908, S. 144-146; Keßler, Adolf, Der Alraun, in: ANW 1893, S. 475-477. 65 Vgl. Köhler, Arthur, Die Schätze der Familienarchive, in: DA 1908, Nr. 13, S. 11-12. 66 Ebd., S. 11. 67 Vgl. Lange, Thomas: »›… da schreibt ein Volk seine Annalen‹. Die Darmstädter Weltkriegssammlungen im Kontext von Kriegsvorbereitung und Kriegsmentalität«,
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eine Sammlung mit Briefen aus dem Siebenjährigen Krieg herausgegeben, und auch Kriegserinnerungen an den Deutsch-Französischen Krieg waren äußerst populär – zwischen 1891 und 1914 sollen 584 Erinnerungsbücher veröffentlicht worden sein,68 nicht mitgezählt die vielen Zeitschriftenartikel mit Kriegserinnerungen. Die rege Sammlungstätigkeit, die von Institutionen der Regierung und des Militärs mitgetragen wurde, ist im Kontext ideologischer Aufrüstung in Vorbereitung auf den kommenden Krieg zu sehen. Hinter dem Interesse an Dokumenten ›einfacher‹ Soldaten stand ein Konzept demokratisierten Heldentums, das zur Identifikation mit Soldaten einlud und kriegerische Gewalt als Kampf für das Vaterland idealisierte.69 Der tatsächliche Rücklauf auf Ubischs Aufruf von 1910 war allerdings eher gering und offenbarte weniger die erwartete patriotisch-heroische Volksseele, sondern die Briefe aus dem Deutsch-Französischen Krieg erzählten von Alltagssorgen und Ernährungsproblemen, von Mitleid mit französischen Soldaten und ZivilistInnen, und von wenig ausgeprägtem Nationalbewusstsein.70 Unabhängig von ihrer politischen Funktionalisierung eröffneten Sammlungsaufrufe eine Perspektive auf Geschichte als alltagsnahe Kraft und zeigten, dass bedeutsame historische Quellen auf den Dachböden ganz normaler BürgerInnen lagen, die auch als Laien teilhaben konnten an der historischen Wissensgenerierung. Auch andere Artikel sprachen ihre LeserInnen als HobbyforscherInnen an, die historische Forschung im Kleinen betreiben und damit die akademische Forschung bereichern könnten. Genealogie war ein solches Feld der Laienforschung, aber auch Numismatik71 oder das Sammeln von Antiquitäten, dem im Daheim mit dem Sammler-Daheim eine eigene regelmäßige Rubrik gewidmet war. Hermann Friedrich Macco zeigte in der Gartenlaube 1912 die fruchtbaren gegenseitigen Beeinflussungen von laienhaft betriebener Familienforschung mit der Geschichts- und anderen Wissenschaften auf: Genealogie, ursprünglich lediglich bezweckend, die Abstammung einzelner Personen offenzulegen, werde neuerdings als Beitrag zur regionalen Kulturgeschichte geschätzt.72 Sie könne Aufschlüsse über Siedlungs- und Wirtschaftsgeschichte, die Entwicklung der In-
in: Ders./Ute Schneider (Hg.), Kriegsalltage. Darmstadt und die Technische Hochschule im Ersten Weltkrieg, Darmstadt: Techn. Univ. 2002, S. 105-146, hier S. 120. 68 Vgl. ebd., S. 116-119. 69 Vgl. ebd., S. 113. 70 Vgl. ebd., S. 120f. 71 Vgl. Budinsky, Gustav, Winke für angehende Münzsammler, in: ANW 1901, S. 274-276. 72 Vgl. Macco, Hermann Friedrich, Wert der Familienforschung, in: GL 1912, S. 202.
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dustrie und Architektur geben und sei von Nutzen für die topographische Forschung und ob ihres Wissens über Erbkrankheiten sogar für die Medizin. Somit sei Genealogie weit über die Familie hinaus von allgemeinem Interesse und werde von der Wissenschaft auch tunlichst gefördert.73 Die Beispiele haben die relevante Stellung gezeigt, die Quellen in der Geschichtsschreibung der Familienzeitschriften einnahmen. Quellen wurden als Authentizitätsmarker genutzt und in dieser Funktion nur selten kritisch überprüft. Sie galten als direkte und authentische Einblicke in subjektive Erfahrungswelten und zudem als unterhaltsame Lektüre, die die Vergangenheit greifbar machen konnte. Damit verbunden war die Erschließung neuer Quellengattungen in Familienzeitschriften: Vor allem solche Quellen, die Einblicke in subjektive Gefühlslagen und in Alltagswelten geben konnten, wurden für populärhistorische Darstellungen genutzt. In der zentralen Bedeutung der Quellen für die historische Erkenntnis stimmten Familienzeitschriften mit der Fachwissenschaft überein, wiesen in ihrem Umgang mit den historischen Texten und Bildern aber auch Unterschiede zu dieser auf. Diese Unterschiede lagen nicht nur in der Auswahl der Quellen, die in Familienzeitschriften bedeutend stärker alltagshistorisch geprägt war als in der Fachwissenschaft, sondern auch im methodisch reflektierten Umgang mit Quellen, der in der Fachwissenschaft zumindest theoretisch und rhetorisch Grundlage der Forschung bildete. Die historische Methode entstand bei jeder Historikergeneration in Auseinandersetzung mit und Abgrenzung zu anderen Disziplinen. Johann Gustav Droysen begründete seinen »Grundriss der Historik«,74 die erste systematische Methodologie der Geschichtswissenschaft, auf einer Abgrenzung einer verstehenden historischen Methode gegenüber der erklärenden Naturwissenschaft. Das Objekt der Geschichtswissenschaft ist nach Droysen die »sittliche Welt«, also die menschlichen Gesellschaften und ihre Entwicklungen. Die historische Me-
73 Vgl. ebd. 74 Der »Grundriss der Historik« war ursprünglich eine Vorlesungsreihe, die 1858 erstmals als Manuskript gedruckt erschien und 1868 in den Buchhandel kam. Vgl. Blanke, Horst W.: »Die Historik im Kontext der Lehr- und Publikationstätigkeit Droysens«, in: Stefan Rebenich (Hg.), Johann Gustav Droysen. Philosophie und Politik – Historie und Philologie, Frankfurt/Main: Campus 2012, S. 393-423, hier S. 403, 407. Der »Grundriss« enthielt eine Gliederung der Vorlesung und eine Explikation der Thesen und Begrifflichkeiten. Eine vollständige schriftliche Fassung der Vorlesungsreihe wurde erst 1937 von Rudolf Hübner herausgegeben, vgl. ebd., S. 394. Vgl. die Übersicht der Editionen ebd., S. 418.
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thode ist das forschende Verstehen der sittlichen Welt.75 Dies erfolgt nach Droysen in drei aufeinander aufbauenden Prozessen: Der Heuristik, der Kritik und der Interpretation. Die Quellenkritik, also die Untersuchung, ob die Quelle echt sei, welche Veränderungen sie im Laufe ihrer Überlieferung durchlief, unter welcher Motivation und zu welchem Zweck sie entstand und welche Metainformationen sie mitliefert, ist für Droysen die Vorbereitung des historischen Materials, die eine korrekte Interpretation erst möglich macht. In der Interpretation schließlich sollen die historischen Wirklichkeiten aufgedeckt werden, hier erfolgt der eigentliche Prozess des Verstehens.76 Diese Konzeption historischer Wissenschaftlichkeit sollte für die Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts grundlegend bleiben und in der für den Historismus krisenhaften Zeit um die Jahrhundertwende reformuliert werden. Seit den 1880er Jahren sah sich die Geschichtswissenschaft von verschiedenen Seiten herausgefordert. Die Naturwissenschaften gewannen in der akademischen wie der außerakademischen Welt an Einfluss und liefen der Geschichte mehr und mehr den Rang der welterklärenden Leitwissenschaft ab. Die positivistische naturwissenschaftliche Methode, die die Welt nicht mehr verstehen, sondern erklären wollte, fand auch Einzug in die sich neu formierenden Sozialwissenschaften – Soziologie, Nationalökonomie und Psychologie stellten eine mächtige Konkurrenz für die Geschichte dar, forschten sie doch mit neuen methodischen Ansätzen zu Gegenstandsbereichen, die vormals traditionell zur Geschichte gehört hatten.77 Auch im eigenen Fachbereich wurde das historistische Paradigma herausgefordert – durch Historiker, die von den Methoden des Verstehens individueller Handlungen abrückten und stattdessen ökonomische und soziale Prozesse und deren Ursachen in den Blick nahmen.78 Der öffentliche Relevanzverlust der Geschichtswissenschaft war ebenso durch interne Faktoren der Zunft bedingt. Die Neorankeaner, die Ende des Jahrhunderts den historiographischen Mainstream stellten, konnten nicht an die Erfolge der vorherigen Historikergenerationen in der Öffentlichkeit anknüpfen – zu kleinteilig und detailliert war ihre Analyse, zu positivistisch ihr Ansatz.79 Statt-
75 Vgl. ebd., S. 8f. 76 Vgl. ebd., S. 19-24. 77 Vgl. Schleier, Hans: Geschichte der deutschen Kulturgeschichtsschreibung. Bd. 1, Waltrop: Spenner 2003a, S. 145; Raphael, Lutz: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart, München: Beck 2003, S. 72; Iggers (1997), S. 175-226. 78 Vgl. Raphael (2003), S. 73-76; Jaeger/Rüsen (1992), S. 136-140. 79 Vgl. Raphael (2003), S. 74.
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dessen waren es narrativ und unterhaltsam schreibende populäre Historiker, die auf dem Buchmarkt Erfolg hatten. So trugen auch die inneren Entwicklungen der historistischen Wissenschaft und die populäre Konkurrenz zum Bedeutungsverlust der Fachwissenschaft in der Gesellschaft und in den Universitäten bei. Populäre Historiker, Kulturhistoriker und die Natur- und Sozialwissenschaften stellten in einer sich pluralisierenden Wissenschaftslandschaft noch keine existenzielle Bedrohung für die Geschichte dar – doch eine Auseinandersetzung mit dem Sinn und Zweck der eigenen Forschung, mit den eigenen Methoden und Erkenntnisinteressen wurde unabdingbar für die Geschichtswissenschaft.80 Historiker mussten sich Gedanken machen über die Funktionsweisen der eigenen und das Verhältnis zu anderen Wissenschaften. In den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende entstand so ein theoretischer Überbau, der historisches Arbeiten in seiner Abgrenzung zu den positivistischen Wissenschaften begründete. Einen Grundlagentext dieses theoretischen Überbaus verfasste 1883 Wilhelm Dilthey mit der »Einleitung in die Geisteswissenschaften«.81 Dilthey legte mit diesem Werk den Grundstein nicht allein für ein Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft, sondern entwickelte ein Konzept, das die sogenannten Geisteswissenschaften von den Naturwissenschaften wie der Philosophie trennte und theoretisch begründete. Geisteswissenschaften sind für Dilthey solche Wissenschaften, die historische menschliche Prozesse erforschen. Kultur, so der Grundgedanke, laufe nach anderen Regeln ab als Natur. Während diese nach allgemeinen, immer gleichen Gesetzen funktioniere, sei jene durch ihre Historizität charakterisiert. Daher benötige die Untersuchung der Kultur andere Methoden als die Erforschung der Natur. Als gemeinsame Methode der Geisteswissenschaften benennt Dilthey das Verstehen, das in Kontrast stehe zu den erklärenden Zugängen der Naturwissenschaften.82 In der Forschungspraxis waren diese theoretisch-methodischen Reflexionen allerdings eher unüblich. Die meisten Historiker kamen in ihrem Alltagsgeschäft ohne Gedanken über das Verhältnis der eigenen Forschung zu den Sozial- und Naturwissenschaften aus. Tatsächlich wurde Droysens »Historik«, die heute als eines der frühen Standardwerke der Geschichtswissenschaft gilt, erst im 20.
80 Vgl. Iggers (1997), S. 175-226. 81 Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften, Leipzig: Duncker & Humblot 1883. 82 Vgl. Jung, Matthias: Dilthey zur Einführung, Hamburg: Junius 1996, S. 7-16; Jaeger/Rüsen (1992), S. 146-150; Lessing, Hans-Ulrich: Wilhelm Diltheys »Einleitung in die Geisteswissenschaften«, Darmstadt: Wiss. Buchges. 2001, S. 167.
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Jahrhundert zu einem Klassiker historischer Methodenlehre erklärt.83 Dennoch wirkten die theoretisch-methodischen Reflexionen insofern auf die praktische Forschung ein, dass ein methodengeleitetes Vorgehen seit den 1880er Jahren zu einem wichtigen Ausweis von Wissenschaftlichkeit wurde. Historiker gingen in Archive, widmeten sich intensiv der Quellenkritik und wurden zu Experten auf ihren Forschungsgebieten – anders als die erste Generation wissenschaftlicher Geschichtsforscher, die noch einen größeren, universalen Blick auf die Geschichte gepflegt hatten.84 Lang tradierte Fälschungen und Irrtümer konnten durch sorgfältige Quellenarbeit aufgedeckt und korrigiert werden, man diskutierte Datierungsfragen und rekonstruierte historische Gegebenheiten detailreich. Der vormalige Universalgelehrte, ein Typus, dem die erste Historikergeneration noch angehört hatte, wurde abgelöst durch den spezialisierten Fachmann.85 Die Grundlagen des historischen Arbeitens galten dabei vielfach als so selbstverständlich, dass sie nicht weiter ausgeführt und reflektiert werden mussten. Systematische Methodenreflexionen waren zwar zuvor in Vorlesungen durchaus gängig, fanden aber außerhalb des Hörsaals nur selten eine in Umfang und Systematik vergleichbare Umsetzung und galten auch nicht als notwendig.86 So kommentierte Max Lenz 1890 das Erscheinen eines methodischen Lehrbuchs mit folgenden Worten: »Wenn Bernheim sich neuerdings dem Gebiet der historischen Methodik […] wieder zugewandt hat, so muß ich gestehen, daß mir für meine Person derartige Spekulationen über zum Theil sehr einfache, selbstverständliche Grundsätze nicht sehr nach dem Sinn sind; ich dachte, es käme für uns weniger auf das Theoretisieren an als auf das Darstellen und das Vorwärtsstreben nach dem seit Ranke unverrückbaren Ziele an.« 87
Dass dieses »Lehrbuch der Historischen Methode« trotz der von Max Lenz geäußerten Bedenken durchaus auf eine Lücke traf, beweist die relativ hohe Auflagenzahl – 1889 erstmalig herausgekommen, wurde das Buch bis 1908 sechsmal aufgelegt; die letzte Doppelauflage wurde 1914 nochmals neu gedruckt.88 Der
83 Vgl. zur Historik und ihrer Rezeption Nippel, Wilfried: Johann Gustav Droysen. Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik, München: Beck 2008, S. 219-238. 84 Vgl. Raphael (2003), S. 66. 85 Vgl. ebd. 86 Vgl. Ogrin, Mircea: Ernst Bernheim (1850-1942). Historiker und Wissenschaftspolitiker im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Stuttgart: Steiner 2012, S. 104. 87 Max Lenz, zit. in: ebd., S. 45. 88 Vgl. ebd., S. 105.
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Verfasser des Lehrbuches, der Greifswälder Geschichtsprofessor Ernst Bernheim, beklagte darin die mangelnde methodische Reflexion in der Geschichtswissenschaft. Aus Unklarheit über die Grundbegriffe und Grundprobleme der historischen Forschung resultiere methodische Uneinheitlichkeit und Unsicherheit.89 Zwar habe das 19. Jahrhundert mit der Einführung methodischer Quellenkritik die Geschichte verwissenschaftlicht, doch sei sie noch immer ein »Tummelplatz undiscipliniertester Meinungen« und auch vor Rückfällen in »Unkritik und Unmethode« nicht gefeit.90 Dieser Methodenunsicherheit stellte Bernheim den Versuch gegenüber, die historische Methode von den Grundbegriffen bis in die handwerklichen Details einheitlich darzustellen. Methodisch orientierte er sich dabei an Droysen und entwickelte dessen Ansätze weiter. Methode war für Bernheim aber nicht allein Handwerkszeug des Historikers, sondern auch ein Instrument der Abgrenzung von wissenschaftlicher und dilettantischer Beschäftigung mit der Geschichte. »Vielleicht keine Wissenschaft hat mehr vom Dilettantismus zu leiden als die Geschichte«, zitierte er Georg Waitzʼ Worte von 1859.91 Die wissenschaftliche Methodik, die in der historistischen Historiographie so eine relevante Stellung einnahm, war eng mit der Frage der Objektivität verknüpft. Objektivität im Sinne einer Überprüfbarkeit von Aussagen basierte in der historistischen Konzeption auf einer sauberen Methodik, die letztlich ein Set von Forschungsregeln war.92 Die historistische Forschung war weit davon entfernt, einem unreflektierten Objektivitätsparadigma anzuhängen. Vielmehr entstand die Auseinandersetzung mit Fragen der Objektivität erst aus der Erkenntnis, das Geschichtsschreibung immer standortgebunden war, die schon Johann Martin Chladenius Mitte des 18. Jahrhunderts mit seiner These der ›Sehepunkts‹ formuliert hatte.93 Wenn auch die Haltung historistischer Geschichtsforscher zu der Frage, ob ein Historiker diese Standortgebundenheit möglichst überwinden oder nutzen solle, höchst unterschiedlich war, so waren sie doch einig in der Idee, dass Objektivität in der methodischen Arbeit liege und ein Umgang mit der eigenen Standortgebundenheit sei.94 Tatsächlich war allerdings das Bekenntnis zur methodischen Reflexion ein rein rhetorisches, wenn es denn überhaupt geäußert
89 Vgl. Bernheim, Ernst: Lehrbuch der historischen Methode. Mit Nachweis der wichtigsten Quellen und Hülfsmittel zum Studium der Geschichte, Leipzig: Duncker & Humblot 1889, S. V. 90 Vgl. ebd., S. VI. 91 Georg Waitz in HZ 1 (1859), zit. in: ebd., S. 100. 92 Vgl. Jaeger/Rüsen (1992), S. 41, 43. 93 Vgl. ebd., S. 44. 94 Vgl. ebd., S. 45f.
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wurde, wie unter anderem Bernheims Ausspruch von der methodischen Uneinheitlichkeit zeigt. Nur einige wenige Historiker beschäftigten sich mit den theoretisch-methodischen Fragen des Quellenstudiums, für die meisten war der Umgang mit Quellen mehr oder weniger methodisch unreflektiertes Handwerk. So sind auch die zum Teil äußerst durchdachten Ansätze mancher Historiker zu Fragen der Standortgebundenheit und Objektivität gerade für die Zeit der Neorankeaner mit Vorsicht zu genießen, spiegeln sie doch nicht unbedingt den historiographischen Mainstream ihrer Zeit. Doch auch wenn methodische Reflexion in der alltäglichen historiographischen Praxis nicht zum Standard gehörte, wurde die kritische Quellenarbeit zu einem wichtigen Merkmal und einer relevanten rhetorischen Figur wissenschaftlicher historischer Forschung. Die strukturierte wissenschaftliche Methode der Quellenarbeit, die sich aus den drei Arbeitsschritten der Heuristik, Kritik und Interpretation zusammensetzte, wurde in Familienzeitschriften wahrscheinlich höchstens punktuell angewandt. Während das fachwissenschaftliche Objektivitätsverständnis sich auf den methodischen Umgang mit Quellen stützte, der eine Überprüfbarkeit der Ergebnisse sicherstellen sollte, lag die objektive Erkenntnis für die PopulärhistorikerInnen quasi in der Quelle selbst und musste nur ans Licht gebracht werden. Doch der kurze Abriss zum methodischen Verständnis der Fachwissenschaft hat auch gezeigt, dass auch in der Wissenschaft selbst ein methodisch strukturiertes Vorgehen und methodische Reflexion eher Ausnahmen denn Alltagsgeschäft waren, und dass ein Bekenntnis zur Methode tatsächlich vor allem rhetorisches Mittel war. Auch hier war die Praxis des Historikers – trotz bestehender Reflexionen über Standortgebundenheit des Forschers – in der Regel von einem an Quellen gebundenen Objektivitätsverständnis geprägt, das dem populärhistorischen Objektivitätskonzept nicht allzu fern war. Die hier angerissene These, dass das Quellenverständnis der Familienzeitschriften eng verbunden war mit einer spezifisch populären Konzeption von historischer Wahrheit, wird im folgenden Kapitel am Beispiel von Artikeln verdeutlicht, die sich mit historischen Legenden auseinandersetzten und sie richtigstellten. Dekonstruktion historischer Legenden und die Idee der historischen Wahrheit Die vorangegangenen Kapitel haben gezeigt, dass populäre Geschichtsartikel in Familienzeitschriften intensiv Forschungsliteratur und wissenschaftliche Methoden rezipierten, dass sich also die Grenzen zwischen wissenschaftlicher und populärer Geschichte hier in einem Kontinuum befanden und nicht scharf gezogen werden konnten. Zugleich war es jedoch eines der Merkmale populärer Ge-
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schichte, Wissenschaftlichkeit mit objektiver Erkenntnis gleichzusetzen und Quellen als Träger geschichtlicher Wahrheit zu betrachten – während in der Fachwissenschaft zumindest theoretisch ein Bewusstsein von der Stadtortbestimmtheit des Historikers vorhanden war und in einer langen Reflexionstradition stand. Besonders deutlich wurde dieses objektivistische Wissenschaftsverständnis der Zeitschriften in Artikeln, die sich mit geschichtlichen Mythen und Legenden auseinandersetzten und diesen eine wissenschaftlich fundierte und quellenbasierte historische ›Wahrheit‹ gegenüberstellten. Der Begriff des Mythos macht allerdings eine Unterscheidung zwischen Forschungs- und Quellenbegriffen notwendig. In der erinnerungskulturellen Forschung wird der Begriff des Mythos häufig als relevanter Teil nationaler (oder anderer gruppenspezifischer) Identitätskonstruktionen verwendet, als Ursprungsgeschichte und sinnstiftendes Narrativ. Der Mythos wird beschrieben als in der Gegenwart sozial konstruierte verdichtete Erzählung, die über Inklusion und Exklusion, über Selbst- und Fremdbilder wirke und eine kontingenzlose und sinnhafte Entwicklung hin zur Gegenwart beschreibe.95 Mythen werden in ihrer spezifisch modernen Erscheinung96 mit der nationalen Idee verknüpft: Nationen, so die gängige These, konstruierten ihre Ursprungsgeschichten über Mythen, die vielfach in den verschiedensten Medien wiederholt würden und auf diese Weise ins kollektive Gedächtnis eingingen. Geschichtsmythen hatten sich meist über Jahrhunderte hinweg aufgebaut und erhalten und wurden insbesondere durch die die romantische Literatur popularisiert, so etwa die Idee von der Erweckung des nationalen Bewusstseins der Deutschen aus den Befreiungskriegen, die Geschichte von der Varusschlacht, die Arminius als ersten Deutschen stilisierte, oder die Schweizer Legende von Wilhelm Tell, die allerdings nicht aus der Ro-
95 Der Mythosbegriff ist mittlerweile aus der Erinnerungskultur-Forschung nicht mehr wegzudenken und wird im Zusammenhang von Nationalismus und Nationsbildung in einer Vielzahl von Publikationen untersucht. Vgl. z.B. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München: Beck 1992, S. 52-80; Langewiesche, Dieter: »Krieg im Mythenarsenal europäischer Nationen und der USA. Überlegungen zur Wirkungsmacht politischer Mythen«, in: Nikolaus Buschmann/Ders. (Hg.), Der Krieg in den Gründungsmythen europäischer Nationen und der USA, Frankfurt/Main: Campus 2003, S. 13-22; Münkler, Herfried: »Politische Mythen und nationale Identität. Vorüberlegungen zu einer Theorie politischer Mythen«, in: Wolfgang Frindte/Harald Pätzolt (Hg.), Mythen der Deutschen. Deutsche Befindlichkeiten zwischen Geschichten und Geschichte, Opladen: Leske und Budrich 1994, S. 21-27. 96 Vgl. Germer (1998), S. 34.
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mantik stammte, sondern schon im späten 18. Jahrhundert durch Schiller popularisiert worden war.97 Der Gebrauch des Begriffs Mythos in Familienzeitschriften, oftmals synonym mit Legende verwendet, war jedoch ein anderer. Wenn die AutorInnen hier von historischen Mythen oder Legenden sprachen, meinten sie nicht identitätsund sinnstiftende Narrative wie die großen Erzählungen um das Werden der Nation, sondern historische Details, Anekdoten, Überhöhungen einzelner historischer Persönlichkeiten, die nach Ansicht von Geschichtsforschung und ZeitschriftenautorInnen nicht den historischen Tatsachen entsprachen, nicht wahr waren. Zur Abgrenzung vom Mythosbegriff möchte ich im Folgenden hierbei von historischen Legenden sprechen. Historische Legenden definiere ich als faktuale historische Erzählungen, die auf Basis von historischer Forschung als falsch entlarvt werden sollten. Hier ging es also weniger um Bedeutung, sondern um Fakten, die auf Grundlage wissenschaftlicher Methode und unter Heranziehung von Quellen richtiggestellt werden konnten. Die Artikel drehten sich um die Verhältnisse von Legende und Wahrheit beziehungsweise Unwahrheit. Die Wahrheit war dabei ein Begriff, der selten auf konkrete historische Aussagen angewendet, sondern eher in den Einleitungen der Texte als allgemeines Bestreben bemüht wurde: »Das Ziel kann nur die Erforschung der Wahrheit sein«,98 konstatierte A. Backemann in Bezug auf die Tellsage. Häufiger jedoch fungierte die Wahrheit in ihrer Negation als Unwahrheit, die es zu entlarven galt: Ernst Gerstenfeld nutzte den Begriff schon in seinem Titel »Unwahre Legenden der Weltgeschichte«,99 vermied es jedoch in seinem Artikel, die Wahrheit zu benennen, die es seiner Meinung nach in der Histo-
97 Der Katalog zur Ausstellung »Mythen der Nationen« im Deutschen Historischen Museum stellt als wichtige nationale Ursprungsmythen Deutschlands folgende zusammen: Die Schlacht im Teutoburger Wald, der Tod Kaiser Friedrichs I., Luther verbrennt die Banndrohungsbulle, der Aufruf der Freiwilligen 1813 sowie die Kaiserproklamation von Versailles, vgl. Flacke, Monika: »Die Begründung der Nation aus der Krise«, in: Dies. (Hg.), Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama, München, Berlin: Koehler und Amelang 1998b, S. 101-128. Für die Schweiz sind hier als nationale Mythen vertreten: Der Rütlischwur, Winkelrieds Tod in der Schlacht von Sempach, Kappeler Milchsuppe, Pestalozzi in Stans sowie die Internierung der Bourbaki-Armee, vgl. Kreis, Georg: »Nationalpädagogik in Wort und Bild«, in: Flacke (1998a), S. 446-475. 98 Backemann, A., Tell und der Apfelschuß, in: ANW 1906, S. 148. 99 Gerstenfeld, Ernst, Unwahre Legenden der Weltgeschichte, in: SZ 1906/07, S. 400-402, 590-591.
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riographie aufgrund der Phantasie des Volkes und der Standortgebundenheit der Geschichtsschreiber gar nicht geben könne: »[…] ganz gerecht richten, ganz wahr, treu und schlicht erzählen, wie die Dinge waren, das wird sie nie und nimmer.«100 Die zahlreichen Artikel, die sich historischer Legenden annahmen, sie erzählten, um sie dann zu dekonstruieren, folgten häufig einer Fortschrittsgeschichte – die Legende wurde in der vormodernen Zeit, ihre Aufklärung in der modernen Gegenwart verortetet – oder sie kontrastierten zeitgenössischen Volksglauben mit wissenschaftlicher Erkenntnis in Form von neuen Funden und Interpretationen von Quellen. So stellten die Familienzeitschriften die Legende um den Mann in der eisernen Maske richtig,101 und entlarvten den sagenhaften Schinderhannes, »der als heldenhafte Erscheinung in zahlreichen Hintertreppenromanen gefeiert und so mancher Köchin noch heute Tränen der Rührung entlockt«, auf Basis der biographischen Schriften eines Zeitzeugen als einfachen Räuber.102 Die Anekdote, der brandenburgische Feldmarschall Georg Derfflinger, der während des 30-jährigen Kriegs zu militärischen Ehren kam, habe seine berufliche Laufbahn als Schneidergeselle begonnen, wurde ins Reich der Legende verbannt103 und die Geschichte des unerwarteten und unerschrockenen Zusammentreffen Friedrichs des Großen mit österreichischen Truppen im Schloss von Lissa dekonstruiert.104 Friedrich der Große, so die Legende, habe während des dritten Schlesischen Kriegs nach der siegreich erkämpften Schlacht von Leuthen mit nur wenigen Begleitern im Schloss von Lissa Obdach gesucht und sei dort unerwartet auf eine größere Anzahl österreichischer Offiziere getroffen. Unerschrocken und voller Geistesgegenwart habe Friedrich die Offiziere nach einem ersten Schreckensmoment mit heiteren Worten begrüßt und so den Eindruck erweckt, eine starke preußische Rückendeckung zu haben. Der Historienmaler Arthur Kampf hatte diese Szene in einem Gemälde festgehalten, das 1891 vom Daheim reproduziert wurde. Der Begleittext zum Bild gab die Legende als historischen Fakt wieder.105 Dies veranlasste den Gymnasiallehrer und klassi-
100 Ebd., S. 400. 101 Vgl. Bröckling, W., Das Rätsel der eisernen Maske, in: ANW 1897/98, S. 404-408. 102 Vgl. Lippmann, Jakob, Typen aus dem Räuberleben gegen Ende des vorigen Jahrhunderts. I. Schinderhannes, in: NW 1897, S. 285. 103 Vgl. Treffenfeld, H. J., Der »alte Derfflinger« in Sage und Geschichte, in: DA 1906, Nr. 23, S. 9. 104 Vgl. Landwehr, Hugo, Friedrich der Große in Lissa, in: DA 1891, S. 399. 105 Vgl. Begegnung Friedrichs des Großen mit österreichischen Offizieren nach der Schlacht bei Leuthen am Abend des 5. Dezember 1757 im Schlosse zu Lissa. Nach
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schen Philologen Hugo Landwehr, wenige Ausgaben später korrigierend einzugreifen und die historische Faktenlage richtigzustellen. Ein Beispiel, welches zeigt, dass die Richtigstellung von Legenden sich auch auf vorangegangene Artikel in derselben Zeitschrift beziehen konnte. Landwehr folgte der Argumentation des Friedrich-Biographen Reinhold Koser, der die Geschichte auf Grundlage von Quellen in den Bereich der Sage verwiesen habe, und philosophierte über den Akt der Legendendekonstruktion: »Es mag ketzerisch erscheinen, einen Zug aus dem Leben Friedrichs des Einzigen einfach als ungeschichtlich zu bezeichnen, der uns doch immer als sicher verbürgt erzählt ist […]. Doch die Wissenschaft hat für dergleichen Sentimentalitäten ein kaltes Herz; unbeirrt durch unsere Gefühle dringt sie allein zur Wahrheit vor.«106
Ernst von Gerstenfeld stellte der in der Sonntags-Zeitung gleich dreizehn »unwahre Legenden der Weltgeschichte« richtig.107 Unter anderem widmete er sich der Geschichte vom Nachtasyl Königin Luises, das sie 1806 auf der Flucht vor Napoleon in einer ärmlichen Bauernkate gefunden habe. In das Fenster der Kate, so die Legende, habe sie mit dem Diamant ihres Ringes die Verse Goethes »Wer nie sein Brot mit Tränen aß« eingeritzt, die oft mit ihr in Verbindung gebracht werden. In Wirklichkeit, so Gerstenfeld, habe Luise diese Verse in ihr Tagebuch geschrieben, und sei niemals in eine solche Notlage geraten, dass sie Unterschlupf in einer Bauernhütte habe finden müssen. Die von Gerstenfeld als Legende beschriebene Szene war, wie auch die Szene in Lissa, künstlerisch verarbeitet worden. Die Alte und Neue Welt druckte 1906 ein Gemälde, das Luise in ebenjener Bauernkate zeigte108 und eine um 1920 entstandene Darstellung von Karl Lotzmann beinhaltete sogar die geritzten Verse in der Fensterscheibe. Die beiden Beispiele von Friedrich II. und Luise zeigen, dass viele historische Legenden, auf die sich die Familienzeitschriften kritisch bezogen, von Historienmalern bereits aufgegriffen worden waren. Die Erzählungen erlangten ihre Bekanntheit gerade durch ihre Visualisierungen im Bild – Gemälde erwiesen
dem Gemälde von Arthur Kampf, in: DA 1891, S. 301; Anonym, Leuthen und Lissa. Zu dem Bilde von Arthur Kampf, in: DA 1891, S. 300-302. 106 Landwehr, Hugo, Friedrich der Große in Lissa, in: DA 1891, S. 399. 107 Vgl. Gerstenfeld, Ernst, Unwahre Legenden der Weltgeschichte, in: SZ 1906/07, S. 400-402, 590-591. 108 Vgl. Königin Luise auf der Flucht in Memel. Nach einem Gemälde von Hugo Händler, in: ANW 1906, S. 25, 38.
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sich als wirkmächtige Träger historischer Legenden.109 Die AutorInnen, die nach historischer Wahrheit trachteten, konnten nur in der Textform gegen diese Bilder anschreiben. Eine Form des Bild-Text-Verhältnisses war also auch die sprachliche Korrektur dessen, was auf dem Bild zu sehen war. Allerdings behandelten die Artikel historische Legenden meist allein in Textform, ohne die Bilder dazu zu zeigen, die so maßgeblich zur Produktion der Legende beitrugen. Wieso nahm die Zerstörung historischer Legenden einen derart prominenten Raum im Geschichtsprogramm der Familienzeitschriften ein? Was war die Motivation der Autorinnen und Autoren, sich der unwahren Geschichten anzunehmen und sie richtig zu stellen? Wie beurteilten sie historische Legenden und ihre Wirkung? Ein anonymer Autor der Gartenlaube umschrieb 1900 historische Legendenbildung als »Unkraut«, das sich um die Gestalten der Geschichte schlinge und das in der Liebe der Menschen zum »Abenteuerlichen und Wunderbaren« wurzele, aber auch in ihrem Bedürfnis nach großen und bewunderungswürdigen Helden.110 Während die harmlose Geschichtsschreibung früherer Zeiten solche Sagen gläubig weitergegeben habe, habe erst die kritische Forschung des 19. Jahrhunderts begonnen, sie auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen »und mit wissenschaftlichem Rüstzeug zu vernichten, falls sie ihre Existenzberechtigung nicht erweisen vermochten«.111 Es war das Bild eines Kampfes, das der Autor heraufbeschwor – allerdings eines Kampfes, in dem die Sage keine Überlebenschance hatte. Die Wissenschaft, die hier als Gärtnerin erschien, merze das Unkraut der Legende unbarmherzig aus. Andere Autoren bedienten sich ähnlicher Metaphorik: Die Wissenschaft zerreiße »mit starker Hand« das »dichte[] Rankengewinde« der Legende,112 sei »unbarmherzig[]«113 und von einer »Schärfe«, der kein Mythos widerstehen könne,114 sie räume radikal mit allen Legenden auf115 und zerstöre sie.116 Die Begriffe der Wissenschaft und der Geschichte wurden dabei oftmals synonym gebraucht, Geschichte war hier wissenschaftlich fundierte Geschichte. Viele Artikel personifizierten die Geschichte zudem als
109 Vgl. Germer (1998), S. 41. 110 Vgl. Anonym, Der sächsische Prinzenraub, in: GL 1900, S. 728. 111 Ebd. 112 Bremen, Walter von, Friedrich Wilhelm III. und die Konvention von Tauroggen, in: DA 1902, Nr. 7, S. 14. 113 Braun, Karl, Der Cid in seiner wahren Gestalt, in: GL 1893, S. 440. 114 Vgl. Hennig, Richard, Die Vineta-Sage und ihre Entstehung, in: DA 1906, S. 12. 115 Vgl. Backemann, A., Tell und der Apfelschuß, in: ANW 1906, S. 148. 116 Vgl. Stahl, Fritz, Die Rolandssäulen, in: DA 1898, S. 416.
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Richterin, die sowohl Wahrheit ans Licht bringe als auch über das Handeln der historischen AkteurInnen urteile.117 Der Aufklärungsauftrag der Geschichte beziehungsweise Geschichtswissenschaft hatte nach Ansicht der AutorInnen einen Widerpart, der im Bereich des Volksglaubens und der Volkskultur gesehen wurde. Das Volk kümmere sich nicht um Forschungsresultate, so ein anonymer Gartenlaube-Autor, es brauche wunderbare Erzählungen und strahlende Helden. Daher hätten sich die alten Volkssagen aller historischen Kritik zum Trotz an den Stätten ihres Ursprungs noch unzerstörbar gehalten und genössen dort den Status einer sicheren Wahrheit.118 Ernst Gerstenfeld benannte das Bedürfnis des Volkes nach Legenden als ein Bedürfnis nach Poesie und Phantasie. Eine Weltgeschichte ohne jede Lüge sei zwar vom wissenschaftlichen Standpunkt die beste, doch sei sie gleichzeitig auch die nüchternste, sei poesielos.119 In der Volkskultur lebten also Gegenerzählungen zur wissenschaftlichen Geschichte, oder anders herum, die Wissenschaft bildete ein Gegennarrativ und Korrektiv der Volkskultur. Auch wenn einige AutorInnen das Aussterben dieser volkstümlichen Geschichte(n) bedauerten, war der Tenor der Artikel zum Großteil ein wissenschaftsbejahender. Mit den kritischen Methoden moderner Wissenschaft ließen sich historische Rätsel aufklären und falsche Darstellungen zurechtrücken. Anders als die Sage sei die (wissenschaftlich fundierte) Geschichte in ihrem Urteil nicht durch Emotionen, Vorlieben oder Abneigungen getrübt.120 Doch nicht allein die Volkskultur wurde als Urheberin historischer Legenden angeführt. Ernst Gerstenfeld benannte in der Sonntags-Zeitung die nationale Perspektive von Historikern als Ursprung von Legendenbildung und veranschaulichte, dass Geschichte immer eine Geschichte der Sieger sei: »Nicht wenige geschichtliche Lügen fallen allerdings auch den Geschichtsschreibern selbst zur Last, die, meistens ganz unbeabsichtigt, durch ihre Phantasie veranlaßt, oder aus
117 Vgl. Bremen, Walter von, Friedrich Wilhelm III. und die Konvention von Tauroggen, in: DA 1902, Nr. 7, S. 14; Lehmann, Max, Die Erhebung Tirols im Jahre 1809, in: DA 1910, Nr. 1, S. 15-17; Jacobi, Max, Königin Luise in schwerer Zeit, in: ANW 1908, S. 144. 118 Vgl. Anonym, Der sächsische Prinzenraub, in: GL 1900, S. 728. 119 Vgl. Gerstenfeld, Ernst, Unwahre Legenden der Weltgeschichte, in: SZ 1906/07, S. 400. 120 Vgl. Baldamus, Alfred, Der geschichtliche Ursprung der schweizer Eidgenossenschaft. Zum 1. August 1891, in: DA 1891, S. 696; Landwehr, Hugo, Fridrich der Große in Lissa, in: DA 1891, S. 399.
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dem engeren Standpunkt ihrer Nationalität heraus die geschichtlichen Geschehnisse mehr oder weniger korrigierten. Ein französischer Geschichtsschreiber z. B. kann doch unmöglich die Geschichte des Krieges von 1871/71 genau so schreiben wie ein deutscher Historiker, ein englischer würde sie wieder anders schreiben, weil er ja den Geschehnissen noch unparteiischer gegenübersteht. Die schlimmsten weltgeschichtlichen Lügen aber sind zurückzuführen auf das namentlich in Schulbüchern herrschende Bestreben, einzelnen Personen durch großartige oder menschlich rührende Züge ein besonderes Mäntelchen umzuhängen. [...] Derjenige, der siegt, ist auch nicht immer der, dem man den Sieg hätte wünschen können. Das wirkliche, ungeschriebene Recht hat niemals etwas mit geschichtlichen Vorgängen zu tun, sondern meistens nur die tatsächliche Macht. Der Stärkere siegt, nicht der Bessere. [...] Nachher freilich, wenn alles vorbei ist, hat der Sieger es leicht, sich als den Besseren hinzustellen, auf dessen Seite das Recht steht, besonders dann, wenn seine Worte mit einem Fuchteln des Schwertes unterstützt werden.«121
Auch Rudolf Wegwart verdeutlichte in der Sonntags-Zeitung, dass die ›Richterin Geschichte‹ in ihrem Urteil nicht immer vollkommen sei: »Die Geschichte soll eine strenge und gerechte Richterin des Vergangenen sein; [...] Aber eine absolute Gerechtigkeit scheint auf dieser unvollkommenen Erde nun einmal unmöglich zu sein, auch die Geschichte muß sich oft genug ein falsches Urteil nachweisen lassen. Auch sie ist hin und wieder launenhaft und windet Kränze diesem oder jenem, der sie nicht verdient hat. Das zeigt sich so recht, wenn man die Reihe jener historischen Persönlichkeiten betrachtet, denen das Prädikat der ›Große‹ zuteil geworden ist, die höchste Auszeichnung, die die Nachwelt zu verleihen hat.«122
Aus dem Bewusstsein heraus, dass auch die quellengestützte historische Forschung nicht vollkommen sei, reflektierten einige AutorInnen in ihren Texten das Schreiben von Geschichte und ihr eigenes Tun und riefen zu einer differenzierten und kontextualisierten Betrachtung von Geschichte und Historiographie auf. Sie erkannten die zwangsläufige Deutung der Geschichte aus der Gegenwart heraus und zeigten die Perspektivität der Historiographie auf.123 In der sozialdemokratischen Neuen Welt waren regelmäßig Analysen politischer Funktionalisierung von Geschichte zu finden, welche die Ursachen von Geschichtsverfälschungen nicht allein in Perspektivität, sondern in bewussten
121 Gerstenfeld, Ernst, Unwahre Legenden der Weltgeschichte, in: SZ 1906/07, S. 400. 122 Wegwart, Rudolf, Die »Großen« der Geschichte, in: SZ 1908/09, S. 1117. 123 Vgl. zusätzlich zu den genannten Beispielen: Lehmann, Max, Luther vor Kaiser und Reich, in: DA 1899, S. 794.
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Lügen von Chronisten und Historikern sahen, die zu Liebdienerei und Gefälligkeit gegenüber den Herrschenden neigen würden. Dorothee Goebeler nahm sich in der Neuen Welt 1896 die Biographie des brandenburgischen Hohenzollernfürsten Joachim II. vor, eines Fürsten, dessen »geschichtliches Bild am widerlichsten verzeichnet zu werden pflegt«,124 und machte den Ursprung dieser Geschichtsverfälschung in den zeitgenössischen Chroniken fest. Dort finde man an Stelle sachlicher Erwägungen eine »hündische Schweifwedelei vor dem regierenden Herrscherhause« vor: Charakterlosigkeit werde als Liebenswürdigkeit gezeichnet, Verschwendung zur Freigiebigkeit gemacht, schwarz werde weiß übertüncht. Nirgendwo, so Goebelers Urteil, trete die »Lakaienseele des modernen Deutschen« klarer zu Tage als in diesen »jämmerlichen Geschichtsklitterungen«.125 Ihre Biographie Joachims II. basierte stattdessen auf einem Kapitel aus dem Geschichtswerk »Vom Fischerdorf zur Weltstadt. 500 Jahre Berliner Stadtgeschichte« (1865) des linken Populärhistorikers Adolf Streckfuß, das sich ebenfalls Aufklärung der Lügen schmeichelnder Historiker auf die Fahnen schrieb. Die sozialdemokratischen GeschichtsschreiberInnen übten in der Neuen Welt und in anderen Medien ausgiebig Kritik an der bürgerlichen Geschichtswissenschaft und ihren Lügen.126 Methodisch jedoch bewegten sie sich nah am Wissenschaftsverständnis der bürgerlichen Zeitschriften und auch der Fachwissenschaft, war es doch letztlich nichts anderes als eine gründliche Auseinandersetzung mit den Quellen, die sie einforderten. Dorothee Goebeler warnte davor, die Worte zeitgenössischer Chronisten als Wahrheit zu nehmen127 und formulierte damit einen Grundsatz der Quellenkritik. Unterschiede zu den bürgerlichen Zeitschriften lagen allerdings in der bezweckten Funktion der kritischen Geschichtsforschung. Die sozialdemokratische Geschichtsauffassung sah Geschichte als ein Werkzeug an, mit dem Herrschaftsverhältnisse gefestigt, aber auch ins Wanken gebracht werden konnten: »[…] die Auflösung der monarchisch-patriotischen Legenden ist, wenn auch nicht gerade eine notwendige Voraussetzung der Beseitigung der die Klassenherrschaft deckenden Monarchie […], aber doch einer der wirksamsten Hebel dazu«,128 schrieb Friedrich Engels 1893 an den sozialistischen Historiker Franz Mehring. Geschichte wurde hier in ihrer politischen Funktionalität erkannt und bewusst genutzt – ein Charakteristikum populärer so-
124 Goebeler, Dorothee, Joachim II. von Brandenburg, in: NW 1896, S. 577. 125 Ebd. 126 Vgl. allgemein zur Auseinandersetzung mit Geschichtslügen in der sozialdemokratischen Historiographie Kössler (2005), S. 276-279. 127 Vgl. Goebeler, Dorothee, Joachim II. von Brandenburg, in: NW 1896, S. 577. 128 Friedrich Engels an Franz Mehring 1893, zit. in: Vogler (1965), S. 57.
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zialdemokratischer Geschichtsschreibung, das sie von der populären bürgerlichen Geschichte abhob. Diese war zwar ebenfalls funktional und politisch, doch reflektierte sie dies nur in den seltensten Fällen. Das Aufdecken von historischen Legenden war hier demnach auch kein politischer Akt, sondern einer, der mit den Resten einer unkritischen und mythenbehafteten Volkskultur aufräumen und ihr einen rationalen, kritischen, wissenschaftlichen Zugang zur Geschichte entgegenstellen sollte. Auch in der sozialdemokratischen Historiographie gab es sehr klare Vorstellungen davon, was historisch richtig und was falsch sei. Doch die Auseinandersetzung mit einer bürgerlichen Geschichtsschreibung, die als politisch funktional erkannt wurde, schärfte hier den Blick der GeschichtsschreiberInnen für die allgemeine politische Funktionalität historischen Wissens, die positiv gewendet den eigenen Kampf unterstützen konnte: Die Einsicht in den wahren Verlauf der Geschichte sollte politisierend auf die ArbeiterInnen wirken, während die bürgerliche ›Geschichtsverfälschung‹ als Instrument der Pazifizierung und Integration der ArbeiterInnenschaft in das Kaiserreich gesehen wurde. Angesichts der Dominanz der bürgerlichen Geschichtsschreibung in Wissenschaft, Schulunterricht und Populärhistorie war eine Korrektur der Geschichte eine wichtige politische Aufgabe.129 Zusammenfassend hat das Kapitel gezeigt, dass Quellen eine wichtige Funktion in Familienzeitschriften zukam: Sie waren Marker von Wissenschaftlichkeit und galten als authentische Einblicke in vergangene Lebenswelten. Familienzeitschriften erschlossen neue Quellengattungen wie Egodokumente, Bilder oder Periodika zur Untersuchung von Alltagsgeschichte und setzten sich damit von den meist politischen Dokumenten der Fachwissenschaft ab. Verbunden mit der zentralen Bedeutung von Quellen war ein spezifisch populäres Verständnis historischer Wahrheit, die in den Quellen schlummere und ans Licht gebracht werden könne. Nach diesen methodischen Einblicken in die Arbeit und das Geschichtsverständnis der Familienzeitschriften und ihre Anlehnung an die Wissenschaft untersuche ich im folgenden Kapitel am Beispiel von Kulturgeschichte, Militärgeschichte und der Darstellung von Geschichte im Bild die außerakademischen Kontexte populärer Historiographie.
129 Vgl. Kössler (2005), S. 263-264.
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Geschichtsschreibung in Familienzeitschriften griff auf verschiedenste außerakademische geschichtskulturelle Ressourcen und Traditionen zurück, die als prä- oder subdisziplinäre Felder der Geschichtsschreibung zum Teil mit langer Tradition außerhalb der Universitäten existierten. Beispielhaft dafür untersuche ich in diesem Kapitel Kulturgeschichte, Militärgeschichte und Visualisierungen von Geschichte im Bild. Dies geschieht unter der Fragestellung, in welchen geschichtskulturellen Traditionen diese Ansätze standen, auf welche Ressourcen die AutorInnen zurückgriffen und auf welche Weise sie innovative, auf das Medium der Zeitschrift angepasste Formen der Historiographie schufen. Die drei Ansätze stehen dabei exemplarisch für den kreativen Umgang der Familienzeitschriften mit geschichtskulturellen Traditionen und Ressourcen. Hier zeigen sich die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Familienzeitschriften und anderen geschichtskulturellen Feldern – die Nutzung von Zeitschriften als Plattformen für geschichtspolitische Institutionen und Akteure, die medialen Transfers zwischen Zeitschriften und anderen Printmedien, der Austausch mit anderen Disziplinen oder subdisziplinären Feldern wie etwa der Volkskunde, und die Leistung der Familienzeitschriften als Popularisierungsmedium von hochkulturellen Erzeugnissen, insbesondere Gemälden. Kulturgeschichtsschreibung in Familienzeitschriften Kulturgeschichte war eine der wichtigsten und häufigsten Formen der Geschichtsschreibung in Familienzeitschriften. In der Tradition der Kultur- und Sittengeschichte der 1850er und 1860er Jahre stehend, knüpfte die Kulturgeschichte der Zeitschriften an die alltägliche Lebenswelt der LeserInnen an und gab Einblicke in historische Alltags- und Volkskulturen. Das ›Volk‹ war dabei ein zentraler Begriff, der verschiedene Bedeutungen haben konnte. Im Folgenden werfe ich einen Blick auf die Entwicklung kulturhistorischen Denkens in Deutschland, um schließlich die spezifische Kulturgeschichte, die in Familienzeitschriften verfasst wurde, zu untersuchen und in den größeren Kontext der kulturhistorischen Landschaft des 19. Jahrhunderts zu stellen. Die Entwicklung der deutschen Kulturgeschichte Kultur ist ein Begriff, der seit dem späten 18. Jahrhundert zahlreiche Bedeutungswandlungen durchlaufen hatte, ebenso wie der Begriff der Kulturgeschichte. Damit ist heute meist die sogenannte ›Neue Kulturgeschichte‹ gemeint, die in den 1980er und 90er Jahren in kritischer Auseinandersetzung mit der Sozialge-
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schichte entstand und, beeinflusst vom Linguistic und anderen Turns, für eine Aufnahme poststrukturalistischer Theorie in die Geschichtswissenschaft steht.130 Aufbauend auf der französischen Annales-Tradition und auf sozialhistorischen Ansätzen einer Geschichte ›von unten‹,131 aber angestoßen auch von der außeruniversitären Geschichtsbewegung, die seit den 1970er Jahren unter dem Motto »Grabe, wo du stehst« in Geschichtswerkstätten lokale Alltagsgeschichten erforschte,132 blickt die Neue Kulturgeschichte wieder vermehrt auf die Menschen in der Geschichte und untersucht deren Lebenswelten, Denkweisen und Sinnstiftungsprozesse. Die deutsche Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts ist vor allem durch den Methodenstreit zwischen Karl Lamprecht und seinen Kritikern bekannt. Der auf diesen Streit fokussierende und dadurch oftmals stark verkürzte Blick wird allerdings der heterogenen Landschaft der deutschen Kulturgeschichtschreibung des 19. Jahrhunderts kaum gerecht, ist doch Lamprechts an wirtschaftlichen Entwicklungen, sozialen Strukturen und psychologischen Erklärungsansätzen interessierte Historiographie nicht repräsentativ für die Kulturgeschichtsschreibung seiner Zeit zu sehen. Vor und neben ihm gab es zahlreiche andere HistorikerInnen, die mit sehr unterschiedlichen Konzepten von Geschichte und Kultur arbeiteten. Schon im Zeitalter der Aufklärung fanden sich Anfänge wissenschaftlicher Beschäftigung mit den Lebensweisen der bäuerlichen Bevölkerung.133 Oftmals
130 Vgl. Daniel, Ute: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien – Praxis – Schlüsselwörter, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006, S. 13. 131 Um nur einige Beispiele zu nennen: Ginzburg, Carlo: Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, Frankfurt/Main: Syndikat 1979; Thompson, Edward P.: Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1987; Le Roy Ladurie, Emmanuel: Die Bauern des Languedoc, Stuttgart: KlettCotta 1983; für die deutsche Forschung vgl. Wette, Wolfram: Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, München: Piper 1992. 132 Vgl. Lindqvist, Sven: Grabe, wo du stehst. Handbuch zur Erforschung der eigenen Geschichte, Bonn: Dietz 1989; Grotrian, Etta: »Geschichtswerkstätten und alternative Geschichtspraxis in den achtziger Jahren«, in: Hardtwig/Schug (2009), S. 243-253. 133 Vgl. Schleier (2003a), S. 18-19; Weber-Kellermann, Ingeborg/Bimmer, Andreas Christian/Becker, Siegfried: Einführung in die Volkskunde – Europäische Ethnologie. Eine Wissenschaftsgeschichte, Stuttgart, Weimar: Metzler 2003, S. 9-13.
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mit dem Genre des Reiseberichts verwoben,134 aber mit Wurzeln auch in der anwendungsorientierten Statistik und Kameralistik,135 verglich die aufklärerische Kulturgeschichte die eigene Gesellschaft mit fremden und vorgeschichtlichen Kollektiven.136 Der Begriff des ›Volkes‹ spielte auch hier schon, besonders aber seit der Romantik, eine wichtige Rolle. Die RomantikerInnen fügten dem beschreibenden Zugriff der Aufklärung auf das bäuerliche Leben eine neue, idealistische Komponente hinzu und verklärten und nationalisierten die bäuerliche Bevölkerung. Im Bauerntum, so die Idee, lägen wichtige Grundlagen der deutschen Kulturnation.137 In dieser Zeit setzte eine breite Sammelbewegung ein; Forscher wie die Brüder Grimm sammelten regionale Märchen, Sagen und Lieder,138 interessierten sich aber auch für bäuerliche Sitten, Feste und Trachten. Zahlreiche Altertumsvereine wurden in den ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts gegründet, und mit dem Germanischen Nationalmuseum entstand 1852 eine berühmte Institution der deutschen Kulturgeschichte.139 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Kulturgeschichte in ihrem Interesse für bäuerliche Lebensformen weder inhaltlich noch personell von der im Entstehungsprozess befindlichen Volkskunde zu trennen. Diese hatte ebenso in der Aufklärung als gegenwartsorientierte Forschung über Bevölkerungsentwicklungen und Lebensweisen ihren Anfang genommen und sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einer idealisierten Kunde ländlichen Lebens und bäuerlicher Traditionen entwickelt.140 Die folkloristische Volkskunde wurde von wissenschaftlicher Seite durchaus kritisiert,141 doch erfreute sie sich auf dem Gebiet der Laienforschung wie auch auf dem populären Buchmarkt größter Beliebtheit. Eine wichtige Figur für die folkloristische Richtung der Volkskunde war Wilhelm Heinrich Riehl (1832-1897), der Mitte des 19. Jahrhunderts ein Ver-
134 Vgl. Kaschuba, Wolfgang: Einführung in die Europäische Ethnologie, München: Beck 2006, S. 31f.; Jacobeit, Wolfgang/Fielhauer, Helmut P.: Völkische Wissenschaft. Gestalten und Tendenzen der deutschen und österreichischen Volkskunde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1994, S. 18. 135 Vgl. Weber-Kellermann et al. (2003), S. 11; Jacobeit/Fielhauer (1994), S. 18. 136 Vgl. Daniel (2006), S. 197-198. 137 Vgl. Kaschuba (2006), S. 27. 138 Diese Volkslieder und Volksmärchen waren oftmals allerdings eher Neu- und Nachdichtungen der bürgerlichen Romantiker, als dass sie tatsächlich direkt aus der bäuerlichen Bevölkerung stammten, vgl. ebd., S. 35. 139 Vgl. Weber-Kellermann et al. (2003), S. 39-46. 140 Vgl. Jacobeit/Fielhauer (1994), S. 20, 24. 141 Vgl. ebd., S. 23.
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ständnis vom ›Volk‹ als idealisiertem Bauerntum popularisierte und vielfach als Begründer der Volkskunde gehandelt wird. Riehl, der seit 1859 an der Münchener Universität eine Professur für Kulturgeschichte und Statistik innehatte, nahm und nimmt einen festen Platz im kulturhistorischen Kanon ein und wurde auch in Familienzeitschriften zitiert.142 In seiner Forschung suchte er den organischen Unterbau des deutschen ›Volkes‹ zu ergründen, den er vor allem in der ständischen Gliederung festmachte, aber auch in einem vormodernen Familienideal des ›großen Hauses‹.143 Das Bauerntum als eine Kraft des »Beharrens« sah er als wichtige Grundlage deutschen Volkslebens an, und das Bauerntum war es auch, dem Riehls größtes Forschungsinteresse galt und das die Basis seines konservativen Welt- und Geschichtsbildes bildete.144 Quellen dienten bei Riehl nur zweitrangig dem Erkenntnisgewinn, ebenso wie er nur selten auf vorhandene Forschungsliteratur zurückgriff. Seine Methode war die eigene Anschauung: Er ging auf Wanderschaft und beobachtete und befragte die Menschen, mit denen er in Kontakt kam; in Gasthäusern und Bauernstuben protokollierte er die Sitten, Ernährungsgewohnheiten, Produktionsformen und Denkweisen der ›einfachen Leute‹. Diese Verfahren brachten ihm von akademischer Seite den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit ein, doch nahm Riehl mit dieser Form der Feldforschung schon früh Methoden der volkskundlichen und ethnologischen Forschung wie auch Praktiken der oral history vorweg.145 Die historische Dimension der Volkskultur war von großer Bedeutung für Riehl: Nicht nur »Land und Leute« der Gegenwart, sondern auch die Ursprünge des deutschen ›Volkslebens‹ suchte er zu erforschen. In seinem Hauptwerk, der »Naturgeschichte des deutschen Volkes«, in dem er in drei Teilen (»Land und Leute«, »Die bürgerliche Gesellschaft«, »Die Familie«) dieses zu erfassen suchte, rekurrierte er immer wieder auf die alten germanischen Stämme, aber auch auf historische Entwicklungen der Neuzeit.146
142 Vgl. Ziegler, Zur Geschichte des Spinnens, in: ANW 1894, S. 242. 143 Vgl. Sievers, Kai-Detlev: »Volkskundliche Fragestellungen im 19. Jahrhundert«, in: Rolf W. Brednich (Hg.), Grundriss der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der europäischen Ethnologie, Berlin: Reimer 2001, S. 31-52, hier S. 35. 144 Vgl. Oberkrome, Willi: Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1993, S. 43f. 145 Vgl. ebd., S. 44; Schleier, Hans: Geschichte der deutschen Kulturgeschichtsschreibung. Bd. 2, Waltrop: Spenner 2003b, S. 828, 838f. 146 Vgl. Riehl, Wilhelm Heinrich: Die Naturgeschichte des deutschen Volkes, Leipzig: Reclam 1934.
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Riehls Hauptwerk war in den 1850er und 60er Jahren erstmals veröffentlicht worden und fiel damit in die Blütezeit populärer Kultur- und Sittengeschichte, in der Historiker wie Gustav Freytag, Johannes Scherr, Jacob Burckhardt oder Karl Biedermann kulturhistorische Forschung in äußerst erfolgreichen Monographien popularisierten. Die Geschichtsschreibung dieser Kulturhistoriker war äußerst weitumfassend angelegt: Politische Entwicklungen standen neben gesellschaftlichen Strukturen, Arbeitsalltag, geselligem Leben, Familienleben, Wissenschaft und Kunst – die Kulturgeschichten der Jahrhundertmitte umfassten also ein thematisch größeres Feld als die stark auf Politik fokussierende Fachwissenschaft, aber auch als die auf bäuerliches Leben spezifizierte folkloristische Volkskunde. Der wohl bekannteste deutsche Kulturhistoriker der Jahrhundertmitte, der auch bis ins 20. Jahrhundert hinein gelesen wurde, war Gustav Freytag (18161895). Von Haus aus Philologe, war er mit dem universitären System aus seiner zwölfjährigen Studien-, Lehr- und Forschungstätigkeit vertraut, gab jedoch 1847 die stagnierende wissenschaftliche Laufbahn zugunsten einer zweiten Karriere als Schriftsteller und Journalist auf.147 Der liberale Freytag schrieb von dort an bewusst für den populären Markt, blieb aber weiterhin in intensivem Kontakt mit führenden geisteswissenschaftlichen Gelehrten wie Moritz Haupt, Otto Jahn, Theodor Mommsen und Heinrich von Treitschke, so dass er sich weiterhin als Teil der wissenschaftlichen Community verstand und auch die Anerkennung derselben fand.148 Freytags Hauptwerk »Bilder aus der deutschen Vergangenheit« (1859-1866) wurde bis 1909 insgesamt 32 Mal neu aufgelegt und war damit im deutschen Sprachraum das erfolgreichste populärhistorische Werk des 19. Jahrhunderts.149 In fünf Bänden behandelte das Werk die deutsche Geschichte von der »Römerzeit« bis ins Jahr 1848.150 Es war in einzelne Kapitel aufgeteilt, die jeweils Einblicke in Lebenswelten, Strukturen und Ereignisse einer Epoche gaben – etwa »Das Christentum unter den Germanen«, »Aus deutschen Dörfern (1200-1500)«, »Der Dreißigjährige Krieg. Soldatenleben und Sitten« oder »Brautstand und Ehe
147 Vgl. Nissen (2009), S. 279f. 148 Vgl. ebd., S. 280f., 289. Georg von Below, bekannt unter anderem für seine vernichtende Kritik der Lamprechtschen Kulturgeschichte, schrieb das Vorwort zur Neuauflage der »Bilder aus der deutschen Vergangenheit« von 1922 und nannte das Werk darin die »beste deutsche Kulturgeschichte«, vgl. Below, Georg von, Einführung, in: Freytag, Gustav: Bilder aus der deutschen Vergangenheit, Bd. 1: Aus dem Mittelalter, Leipzig: Hirzel 1922. S. XV. 149 Vgl. Nissen (2009), S. 113. 150 Vgl. Freytag (1922).
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am Hofe«. So setzten sich historische Epochen aus diesem Panorama einzelner »Bilder« zusammen. Seine fragmentarische Form, die Zusammensetzung aus einzelnen, in sich abgeschlossenen Bildern, erhielt das Werk aus seinem Entstehungskontext, ging es doch auf eine Reihe kulturhistorische Aufsätze zurück, die zwischen 1852 und 1864 in den Grenzboten151 erschienen waren.152 Das Fragmentarische setzte sich zugleich zusammen zu einer Entwicklungsgeschichte, die mit den ersten Spuren des deutschen ›Volkes‹ beginnend vom linearen Fortschritt des (protestantischen) Bürgertums und von deutscher Nationswerdung erzählte.153 Kulturgeschichte war so ein konstitutiver Teil des Projekts deutscher Nationalgeschichte und legte wichtige Grundlagen der Idee einer deutschen Kulturnation, die auf gemeinsame kulturelle und sprachliche Wurzeln rekurrierte. Dass sie auch über die nationale Frage hinaus immanent politisch sein konnte, zeigten demokratische und liberale Historiker der Jahrhundertmitte auf, die der Geschichte der Herrschenden eine Geschichte des ›Volkslebens‹ und der gesell-
151 Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst (1841-1922) waren eine nationalliberale Kulturzeitschrift, die Freytag von 1848 bis 1861 und wiederum ab 1867 bis 1870 herausgab. 152 Diese Aufsätze waren auf jeweils einem Quellentext aufgebaut, der ausführlich zitiert, kommentiert und kontextualisiert wurde. Für die spätere Buchform übernahm Freytag viele Texte eins zu eins, andere erweiterte er oder schrieb sie neu. Vgl. Nissen (2009), S. 281; Lindau, Hans: Gustav Freytag, Leipzig: Hirzel 1907, S. 249, 405. Dem quellenbasierten Vorgehen blieb Freytag auch in der Buchform treu: seine Recherche baute vor allem auf Quellen auf, er arbeitete mit Texten unterschiedlichster Gattungen, und zitierte insbesondere literarische Quellen. Diese wurden zum Teil als Abdrucke der Originalversion gezeigt, wie auch zahlreiche Bildquellen Einzug in das Werk fanden. Ansonsten griff Freytag für seine Recherche auf Überblickswerke und Handbücher zurück, weniger auf spezialisierte Fachliteratur. Martin Nissen hat aus Freytags Korrespondenz mit dessen Verleger Salomon Hirzel, sowie aus seiner nachgelassenen Quellensammlung die Quellen- und Literaturgrundlagen herausgearbeitet, mit denen Freytag arbeitete (da er sich, abgesehen von Quellenangaben bei wörtlichen Zitaten, mit Literaturangaben sehr zurückhielt, ist die verwendete Literatur aus dem Werk selbst nicht erschließbar). Es ist zudem Nissens Verdienst, den wichtigen Einfluss aufzuzeigen, den Hirzel als Verleger und Freund Freytags auf die »Bilder aus der deutschen Vergangenheit« nahm, habe er Freytag doch nicht allein seine umfangreiche Bibliothek zur Verfügung gestellt, sondern auch zur Konzeption des Werkes beigetragen, etwa indem er Quellen und Forschungsliteratur empfohlen habe. Vgl. Nissen (2009), S. 284f., 303. 153 Vgl. ebd., S. 282f.
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schaftlichen Entwicklung entgegensetzten. Kulturgeschichtsschreibung wurde in dieser Lesart zu einer »Oppositionswissenschaft« gegen herrschende politische Verhältnisse und Obrigkeitsstaat.154 Einer der erfolgreichsten dieser demokratischen Kulturhistoriker war Johannes Scherr (1817-1886). Der aus einem katholischen155 Elternhaus stammende Schwabe hatte Philologie und Geschichte studiert und war als Hochschullehrer tätig. Politisch tat er sich als großdeutscher Demokrat und scharfer Kritiker des preußischen Staates hervor, und musste 1849 nach der gescheiterten Revolution von Stuttgart in die Schweiz fliehen.156 Lange Zeit auf die Publikationstätigkeit als Broterwerb angewiesen, veröffentlichte er seit Ende der 1840er Jahre neben Romanen zahlreiche populärhistorische Monographien, deren erfolgreichstes die »Deutsche Kultur- und Sittengeschichte« (1858, erstmals erschienen 1852 als »Geschichte Deutscher Cultur und Sitte«) war, die bis 1909 zwölf Mal aufgelegt wurde.157 Eingeteilt in drei große Kapitel, »Vorzeit und Mittelalter«, »Das Zeitalter der Reformation« und »Die neue Zeit«, behandelte das Werk die verschiedenen Bereiche der deutschen Gesellschaft in ihrer Entwicklung: Politik, Agrarwirtschaft und bäuerliches Leben, Wissenschaft, Literatur und Kunst, häusliches und geselliges Leben, materielle Kultur, religiöse Lebensformen, Hofleben, Kriegswesen und Hexenverfolgung bilden neben anderen Themen das Panorama der deutschen Gesellschaft durch die Jahrhunderte hindurch. Zusammengehalten wurde die breit angelegte Geschichte durch die Idee der deutschen Nation, die Scherr in ihren regionalen Besonderheiten wahrnahm,158 aber auch in ihren europäischen Kontext einordnete.159 Anstatt jedoch eine glorreiche mittelalterliche oder germanische Vergangenheit zu idealisieren, nutzte Scherr, noch unter dem Eindruck der gescheiterten Revolution stehend, drastische Bilder, die soziale Ungleichheiten deutlich machten, und sparte nicht an Schilderungen der Schattenseiten der Geschichte – Armut, Judenverfolgungen, die Ausbeutung der bäuerlichen Bevölkerung und die Herrschaft der Kirche.160
154 Vgl. Schleier (2003b), S. 553; Nissen (2009), S. 182f. 155 Scherr trat Anfang der 1840er Jahre aus der katholischen Kirche aus und wurde ein scharfer Kritiker der Institution. 156 Vgl. Schleier (2003b), S. 716-719. 157 Vgl. Nissen (2009), S. 114. 158 Vgl. Scherr, Johannes: Deutsche Kultur- und Sittengeschichte, Leipzig: Wigand 1873, S. 3-4, 6-10. 159 Vgl. Schleier (2003b), S. 722. 160 Vgl. ebd., S. 724.
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Anders als Freytag, der stets seinen Anschluss an die Fachwissenschaft pflegte, fand Scherr deutlich kritische Worte über die akademische Historiographie, die er mit Bekenntnissen zur Populärhistorie verband: »nicht aus stubengelehrtem Sitzleder korrekt-langweilig zugeschnitten« sei seine Geschichte, »sondern, ganz unbekümmert um das vornehmtuende Abwinken von seiten des Zunftzopfes, aus dem Leben und für das Leben verfasst«.161 Er polemisierte gegen die Fachhistorie und deren Vorstellung, »ein richtiger deutscher Gelehrter müßte schlechterdings um keinen Preis ›populär‹ schreiben, sondern so, daß ihn die ›Laien‹ gar nicht verstehen und die Fachgenossen höchstens etwa mißverstehen könnten«162 und stellte dieser seiner Ansicht nach drögen und unverständlich geschriebenen Historiographie eine populäre Geschichte entgegen, die unterhaltsam und politisch sein sollte, und die nicht allein für Fachpublikum geschrieben war, sondern für die ganze Nation.163 Die drei Beispiele von Kulturhistorikern der 1850er und 60er Jahre zeigen auf, wie heterogen das Feld der Kulturgeschichte seit der Jahrhundertmitte war. Auf einer politischen Ebene können Riehl, Freytag und Scherr als Beispiele für konservative, liberale und demokratische Kulturgeschichte gelesen werden. In vielen zentralen Fragen wiesen alle drei ähnliche Interessen auf: Sie interessierten sich für das Bauerntum und für untere sozialen Schichten, im Falle von Scherr und Freytag aber auch für das städtische Bürgertum und das Leben am Hofe. Sie verbanden Alltagskultur mit politischer Geschichte und der Betrachtung gesellschaftlicher Strukturen, und orientierten sich an der Idee einer deutschen Nationalgeschichte, wenn sie auch einen Blick für regionale und ständische Differenzen hatten. Doch in der Frage, was Ziel und Zweck der Kulturgeschichte sein solle, in den kulturhistorischen Methoden, im Verhältnis zur Fachwissenschaft und in der politischen Funktionalisierung der eigenen Forschung unterschieden die drei Kulturhistoriker sich in beträchtlichem Maße. Dies spiegelt allgemeine Entwicklungslinien der Kulturgeschichte seit den 1860er Jahren: Viele Ansätze unterschieden sich schon in der höchst zentralen Frage voneinander, was überhaupt Kultur und der Gegenstand von Kulturgeschichte sei. Man war sich zwar in der Regel einig, dass Kultur das Produkt allgemein menschlichen Handelns in der Geschichte sei, und nicht allein das Handeln großer Individuen, sowie dass der
161 Scherr (1873), Vorwort zur fünften Auflage von 1873, S. VII. 162 Ebd. 163 Vgl. ebd., S. 3.
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Träger der Kulturgeschichte das ›Volk‹, oftmals in Form von Nationen, sei,164 doch in den genaueren Definitionen von Kultur ergaben sich große Differenzen. Die einen definierten Kultur durch Abgrenzung von der Politik, andere fassten Politik als Teil der Kultur. Ein weiterer Streitpunkt war die Auseinandersetzung um eine idealistische versus materialistische Kulturgeschichte. Vertreter einer idealistischen Ausrichtung, deren bekanntester Jacob Burckhardt war, verorteten Kultur vorrangig geistig, nahmen sich der Entwicklung von Ideen und Anschauungen an und fokussierten auf hochkulturelle Ausformungen der menschlichen Gesellschaft.165 Demgegenüber entwickelte sich seit den 1860er Jahren, vor allem aber in den letzten beiden Dekaden des Jahrhunderts, eine materialistische Form der Kulturgeschichte, die ihren Blick auf gesellschaftliche Wandlungsprozesse, Ökonomie und soziale Strukturen richtete166 und eine Synthese der geistigen wie materiellen Entwicklungen der menschlichen Gesellschaften erarbeitete.167 Stefan Haas hat herausgearbeitet, dass die materialistische Kulturgeschichte, die sich als Wissenschaft an den Universitäten zu etablieren versuchte und meist mit den Namen Karl Lamprecht, Kurt Breysig, Eberhard Gothein und Georg Steinhausen in Verbindung gebracht wird, ihre Wurzeln in der Wirtschaftsgeschichte hatte.168 Die materialistischen Kulturhistoriker übernahmen von der Wirtschaftsgeschichte den zentralen Bezug auf ökonomische Strukturen, der sie,
164 Vgl. Schorn-Schütte, Luise: Karl Lamprecht. Kulturgeschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und Politik, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1984, S. 112f., 133. 165 Vgl. Haas, Stefan: Historische Kulturforschung in Deutschland 1880-1930. Geschichtswissenschaft zwischen Synthese und Pluralität, Köln, Weimar, Wien: Böhlau 1994, S. 36. Burckhardt ging in den »Weltgeschichtlichen Betrachtungen« von drei einander gleichgestellten Potenzen aus: Kultur, Staat und Religion. In dieser Betrachtungsweise ist die Kultur als Geistes- und Hochkultur zu verstehen. Allerdings vertrat Burckhardt in anderen Werken einen weiteren Kulturbegriff, indem er die Bereiche Religion und Staat als Teile der Kultur einordnete. Vgl. Hardtwig, Wolfgang: Geschichtsschreibung zwischen Alteuropa und moderner Welt. Jacob Burckhardt in seiner Zeit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1974, S. 166-168. 166 Vgl. Haas (1994), S. 36; Daniel (2006), S. 202-204, 207-209. 167 Vgl. Haas (1994), S. 162-163. Dieser synthetisierende Ansatz wird vor allem Kurt Breysig zugeschrieben und findet sich teilweise aber auch bei Burckhardt und Lamprecht, obgleich diese gern als Vertreter einer idealistischen (Burckhardt) bzw. materialistischen Kulturgeschichte (Lamprecht) genannt werden, vgl. Daniel (2006), S. 208f. 168 Vgl. Haas (1994), S. 40-43.
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wie auch die frühen Wirtschaftshistoriker, unter den Generalverdacht des Materialismus stellte. Der Materialismusvorwurf stand im Kontext grundsätzlicher Differenzen innerhalb der Geschichtswissenschaft, aus denen die Debatten der 1890er Jahre erwuchsen: zunächst die sogenannte Schäfer-Gothein-Kontroverse (18881891)169 und dann der prominentere Methodenstreit (1891-1899) im Zusammenhang mit Lamprechts »Deutscher Geschichte«, der auf beiden Seiten mit heftigem Tonfall, polemisch und persönlich diffamierend geführt wurde (was allerdings eine zeitgenössisch durchaus übliche Form wissenschaftlicher Auseinandersetzungen war).170 Lamprechts Gegner, die aus dem Lager der Neorankeaner, der Verfassungsgeschichte und anderen historischen Schulen stammten,171 warfen ihm Unwissenschaftlichkeit, Oberflächlichkeit und Schlampigkeit in der Quellenbearbeitung vor. Er hielt seinen Kritikern entgegen, Traditionalismen anzuhängen und die wahren Kräfte historischer Dynamik zu verkennen.172 Haas führt die Auseinandersetzungen zwischen Lamprecht und seinen Gegnern auf die grundsätzliche epistemologische Frage zurück, ob die Geschichte auf ideeller oder auf materieller Grundlage stehe. Dass diese Frage derartigen Zündstoff für die Historikerzunft bot, ist nur vor dem Hintergrund der allgemeinwissenschaftlicher Entwicklungen des späten 19. Jahrhunderts zu verstehen. In eine Wissenschaftslandschaft, in der die Geschichtswissenschaft massiven Druck durch die aufkommenden Natur- wie Sozialwissenschaften bekam, hielt
169 Der Streit zwischen dem Nationalökonom und Wirtschaftshistoriker Eberhard Gothein und dem Treitschke-Schüler Dietrich Schäfer drehte sich um die Frage nach den eigentlichen Themengebieten historischer Forschung. Die Debatte entzündete sich an Schäfers Antrittsvorlesung an der Universität Tübingen 1888, in der er für eine zentrale Stellung des Staates in der historischen Forschung plädierte und die Kulturgeschichte als Kernthema der Geschichte ablehnte. Nicht nur Gothein, sondern auch der jüdische Kulturhistoriker Ludwig Geiger und der Wirtschaftshistoriker Gustav Schmoller beteiligten sich im Laufe der der Diskussion. Vgl. Nissen (2009), S. 185-188. 170 Vgl. Haas (1994), S. 149. 171 Die Gegner Lamprechts waren vor allem junge Historiker, die selbst nicht ausschließlich politische Geschichte betrieben, zum Beispiel die beiden Verfassungshistoriker Felix Rachfahl und Georg von Below, der auch Wirtschaftsgeschichte betrieb, der katholische Historiker Heinrich Fink, der in seiner Forschung Politik- und Kirchengeschichte verband, und der Neorankeaner Hermann Oncken, vgl. ebd., S. 127-129. 172 Vgl. ebd., S. 149.
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Ende des Jahrhunderts die materialistische Kulturgeschichte Einzug, eine sozialwissenschaftlich orientierte Geschichtsforschung, die die Abgrenzungsversuche der Geschichte gegenüber den Natur- und Sozialwissenschaften untergrub, anstatt die methodischen und epistemologischen Alleinstellungsmerkmale der Geschichtswissenschaft weiter idealistisch zu untermauern. Dies konnte von Seiten der etablierten Historiker nur als Affront aufgefasst werden. Die Kontroversen der 1890er Jahre waren aber auch Ausdruck dessen, dass die Fachwissenschaft Kulturhistoriker nicht länger ignorieren konnte: Seit den 1860er Jahren waren sie vereinzelt auf Lehrstühle gekommen (allerdings meist nicht in der Geschichte, sondern in benachbarten Disziplinen),173 in den 1890er Jahren kam es zur Gründung kulturhistorischer Fachzeitschriften,174 und Georg Steinhausen bemühte sich gar um eine an die MGH angelehnte kulturhistorische Quellenedition, die allerdings nach nur vier Bänden wieder eingestellt wurde.175 Kulturgeschichte war auf dem Weg der Kanonisierung und Institutionalisierung. Wirklich erfolgreich institutionalisierte sich allerdings nur die Kulturgeschichte Lamprechtscher Prägung mehrere Jahre nach Abebben des Methodenstreits im Leipziger Institut für Kultur- und Universalgeschichte, das 1909 unter der Leitung Karl Lamprechts gegründet wurde.176 Während in der akademischen Welt der Methodenstreit tobte und die Kulturgeschichte sich als Disziplin institutionell festigte, erfreuten sich kulturhistorische Darstellungen auf dem populären Buch- und Zeitschriftenmarkt nach wie vor höchster Beliebtheit – allerdings weniger die neuen wirtschafts- und sozial-
173 Vgl. Schleier (2003b), S. 937f. 174 Zeitschrift für deutsche Kulturgeschichte (1856-1859, 1872-1875, 1891-1893); Zeitschrift für Kulturgeschichte, (seit 1894, ab 1903 Archiv für Kulturgeschichte), vgl. Haas (1994), S. 253-255. 175 Die Reihe »Denkmäler der deutschen Kulturgeschichte« sollte Quellen wie Briefe, Zunft- und Hofordnungen, Tagebücher, Reiseberichte, Inschriften und Inventare, Haushaltsbücher, Handelsrechnungen etc. umfassen. Letztlich erschienen lediglich zwei Bände mit Privatbriefen sowie zwei Bände mit Hofordnungen. Auch andere, populäre Quelleneditionen erschienen seit den 1880ern, die allerdings eher als Lesebücher denn als Arbeitsgrundlage dienen sollten. Vgl. Haas (1994), S. 178-179; Schleier (2003b), S. 961-962. 176 Vgl. Haas (1994), S. 228-233; zur institutionellen Entwicklung des Instituts für Kultur- und Universalgeschichte vgl. Middell, Matthias: Weltgeschichtsschreibung im Zeitalter der Verfachlichung und Professionalisierung. Das Leipziger Institut für Kultur- und Universalgeschichte 1890-1990, Leipzig: Akad. Verlags-Anst. 2005.
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historischen Forschungen,177 als vielmehr die umfassenderen und volkstümlicheren Ansätze der Jahrhundertmitte. Die Werke von Freytag, Scherr, Burkhardt und anderen älteren Kulturhistorikern wurden wieder und wieder aufgelegt,178 und auch die meisten kulturhistorischen Artikel in Familienzeitschriften orientierten sich im narrativen Stil wie im Inhalt an dieser älteren Kultur- und Sittengeschichte. Da die Kulturgeschichten der Jahrhundertmitte auch um 1900 noch außerordentlich populär waren, ist davon auszugehen, dass vielen AutorInnen von Familienzeitschriften diese Werke bekannt waren und dass sie als mögliche Wissensgrundlage für ihre eigenen kulturhistorischen Artikel dienten. Wie auf dem Buchmarkt war Kulturgeschichtsschreibung auch in Zeitschriften keine neue Entwicklung, sondern schon zu Gründungszeiten der Blätter in den 1850er und 1860er Jahren ein fester Bestandteil ihres Geschichtsprogramms – so publizierten etwa Johannes Scherr und der Kulturhistoriker Karl Biedermann in dieser Zeit regelmäßig in der Gartenlaube. Die an der älteren Kultur- und Sittengeschichte orientierten kulturhistorischen Artikel in Familienzeitschriften rückten das (meist deutsche) ›Volk‹ in seiner regionalen Vielfalt in den Mittelpunkt, grenzten sich von einer rein politischen Historiographie ab und richteten ihr Interesse stattdessen auf Alltagskultur, auf bäuerliche und bürgerliche, aber auch höfische Lebensstile, auf Sitten und Gebräuche, auf Produktionsformen, Mentalitäten sowie auf geistige Kultur, Wissenschaft und Kunst. Was die Familienzeitschriftenartikel von den älteren kultur- und sittengeschichtlichen Monographien unterschied, war vor allem den Bedingungen des Genres geschuldet. In Monographien war es möglich, größere Panoramen zu entfalten, Zusammenhänge aufzuzeigen, differenziertere Bilder zu zeigen und lineare Geschichten über längere Zeiträume hinweg zu erzählen. Zeitschriftenartikel hingegen waren per se von fragmentarischem Charakter – sie standen für sich allein, mussten auf einer Länge von wenigen Seiten ihre Argumentation entfalten und sich daher in ihrer Themenwahl stärker einschränken. Ein zwei- bis vierseitiger Zeitschriftenartikel konnte keine gesamte Geschichte des deutschen Volkes vom Mittelalter bis in die Neuzeit schreiben, wie viele Monographien es taten, sondern musste sich entweder im Untersuchungszeitraum oder im gewählten Untersuchungsgegenstand stark eingrenzen. Ausnah-
177 Historiker aus dem Umkreis des Leipziger Instituts für Kultur- und Universalgeschichte publizierten nur punktuell in Familienzeitschriften, vgl. Lamprecht, Karl, Von einem Kriegsschauplatze, in: ANW 1901/02, S. 182-183; Ders., Die heilige Feme, in: ANW 1902/03, S. 207-208; Köhler, Arthur, Die Schätze der Familienarchive, in: DA 1908, Nr. 13, S. 11-12. 178 Vgl. Nissen (2009), S. 113-116.
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men bildeten hier lediglich Artikelserien, die über mehrere Ausgaben hinweg ein bestimmtes Thema eingehender bearbeiten konnten.179 Verfolgt man das kulturhistorische Programm einer Zeitschrift über einen längeren Zeitraum, ergibt sich dennoch eine recht ausgewogene thematische Mischung, die im Ganzen etwa dasselbe abdeckte wie die großen kulturgeschichtlichen Monographien. Doch im Gegensatz zu diesen konnte eine Zeitschrift mit ihren vielen verschiedenen Artikeln keine Einheitlichkeit in der Argumentation und weitaus weniger historische Linearität konstruieren. Die Geschichte in Zeitschriften blieb fragmentarisch. Dies war gleichwohl auch eine Stärke der Familienzeitschriften und ihres Geschichtsprogramms, ging doch eine zu gerade Linearität der Darstellung oftmals mit Teleologie einher. Den verschiedenen Beiträgen lagen zwar lineare, nationale und teleologische Vorstellungen von historischer Entwicklung zugrunde, das Format bot jedoch die Möglichkeit, eine enorme Themenvielfalt beizubehalten, regionale und soziale Unterschiede aufzuzeigen und Geschichte so in ihrer immensen Vielfalt darzustellen. Die Nähe der Familienzeitschriftenartikel zu populären Monographien galt im Übrigen auch über die Kulturgeschichte hinaus und vor allem für politikhistorische und biographische Darstellungen. Politikgeschichte wurde um die Jahrhundertwende in zahlreichen populären Monographien popularisiert, die einen ähnlichen Stil aufwiesen wie die Politikgeschichte der Familienzeitschriften und teilweise von denselben Autoren verfasst wurden. Besonders deutlich wird diese Nähe und Überschneidung populärer Monographien und Zeitschriftenartikel am Beispiel des Verlags Velhagen und Klasing, der das Daheim herausgab und eine breite Sparte historischer und anderer populärwissenschaftlicher Monographien in seinem Programm hatte. Diese Monographien verfolgten denselben Anspruch des Unterhaltens und Belehrens wie Familienzeitschriften. So waren etwa die Monographien der Reihe »Volksbücher der Geschichte« gedacht als »unerschöpfliche[r] Born der Belehrung und edelsten Unterhaltung« und als »Universum des Wissens, der Kultur unserer Zeit«.180 Die Beiträge von Gelehrten und Volksschriftstellern sollten sich hier vereinigen, »um in klarer, allgemeinverständlicher Sprache und knapper Form die verschiedensten Kreise des menschli-
179 Zur Serialisierung von Geschichte und zum Transfer von Inhalten und Texten zwischen Büchern und Zeitschriften am Beispiel der viktorianischen Leisure Hour vgl. Lechner, Doris: »Serializing the Past in and out of the Leisure Hour: Historical Culture and the Negotiation of Media Boundaries«, in: Mémoires du Livre – Studies in Book Culture 4.2. (2013), http://id.erudit.org/iderudit/1016740ar. 180 Velhagen und Klasings Volksbücher. Anzeige, in: Bremen, Walter von: Yorck von Wartenberg, Bielefeld: Velhagen und Klasing 1912, Umschlags-Innenseite vorn.
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chen Wissens zu behandeln.«181 Der günstige Preis von 60 Pfennigen war eine weitere Parallele zum Konzept der Familienzeitschriften. Die Verfasser und Herausgeber der »Volksbücher« waren teils auch Daheim-Autoren, wie etwa Walter von Bremen, der verschiedene Monographien in der Reihe der »Volksbücher der Geschichte« veröffentlichte, Hanns von Zobeltitz, der leitender Redakteur des Daheim und verantwortlicher Herausgeber der »Volksbücher der Geschichte« und der »Kulturgeschichtlichen Monographien« bei Velhagen und Klasing war, oder Daheim-Redakteur Johannes Höffner, der im Programm der Volksbücher für den Bereich der klassischen Literatur zuständig war.182 Kulturhistorische Artikel in Familienzeitschriften – wie auch politikgeschichtliche und andere Darstellungen – standen, dies ist deutlich geworden, in vielfältigen populärhistorischen Traditionen und wiesen Nähe zu populären Monographien auf. Der spezifische Stil der Zeitschriften lag dabei vor allem im fragmentarischen Charakter der Darstellungen. Im Folgenden untersuche ich zwei Leitmotive der Kulturgeschichte in Familienzeitschriften: einerseits Anbindung an die Lebenswelt der LeserInnen, andererseits die zentrale Bedeutung des Volksbegriffs. Anbindung an die eigene Lebenswelt Die Darstellung historischer Alltags- und Volkskultur war oft an spezifische Artefakte, Bräuche und Tätigkeiten gebunden, die eine Rolle im zeitgenössischen Alltag der LeserInnen spielten. Besonders beliebt waren dabei Themen wie Nahrungszubereitung und Essgewohnheiten,183 Genussmittel,184 Wohnformen und Haushaltsgegenstände,185 Haus- und Handarbeit,186 Mode und Körperpflege,187
181 Ebd. 182 Vgl. den Überblick über die Reihe der »Volksbücher«, ebd., Umschlags-Innenseite hinten. 183 Vgl. Nowy, Kurt, Einiges vom Zucker, in: ANW 1907, S. 484-485; Anonym, Ein Beitrag zur Geschichte der Pastete, in: ANW 1908, S. 84-85 [Rubrik Für die Frauen und Kinder]; Adé, Alwin, Mahlzeiten und Küche im Mittelalter, in: NW 1905, S. 14, 19. 184 Vgl. Borchardt, Julian, Etwas vom Tabak, in: NW 1901, S. 52-54; Bösch, Hans, Allerlei alte Biere, in: GL 1898, S. 63; Halden, Fritz, Vom Kaffee und Kaffeebau, in: SZ 1904, S. 472-474. 185 Vgl. Lewin-Dorsch, Hannah, Primitive menschliche Wohnstätten in alter und neuer Zeit, in: NW 1910, S. 405-407; Hillig, Hugo, Arbeiterwohnungen in alter Zeit, in: NW 1912, S. 227-281, 238; Spielberg, Hanns von [Pseudonym Hanns von Zobeltitz], Die Lampe einst und jetzt, in: DA 1900, Nr. 12, S. 17-20; Habel, Theodor, Das
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Geschlechterverhältnisse und Familienleben,188 Freizeitbeschäftigungen und Geselligkeit,189 Fortbewegung und Kommunikation,190 Feiertage,191 oder die Entstehung kultureller Codes wie etwa Schrift und Kalenderrechnungen.192 Durch die Thematisierung von vertrauten Artefakten und Bräuchen waren kulturhistorische Artikel eng an die Lebenswelt der LeserInnen angelehnt und boten zahlreiche Identifikationsmöglichkeiten aus deren eigenem Alltag. Auf diese Weise war eine intensive Anbindung der Vergangenheit an die Gegenwart möglich. LeserInnen wurden nicht nur aufgefordert, ihre eigenen Dachböden und Familienarchive zu durchstöbern und so historische Forschung in ihrer engsten Umgebung zu betreiben,193 sondern Geschichte wurde auch im wahrsten Sinne des Wortes greifbar, wenn Kleidungsstücke, die man jeden Tag benutzte, in eine historische
deutsche Bürgerhaus im Wandel der Jahrhunderte. Eine kulturgeschichtliche Plauderei, in: SZ 1908/09, S. 800-802. 186 Vgl. Ziegler, Zur Geschichte des Spinnens, in: ANW 1894, S. 236-242; Falk, M., Die Nadel als Werkzeug und Schmucksache, in: GL 1903, S. 803-806. 187 Vgl. Ifflingen, Zoa von, Schönheitspflege einst und jetzt, in: SZ 1898/99, S. 471472; Braun, Adolf, Von der Ueppigkeit früherer Zeiten, in: NW 1901, S. 227, 235-238. 188 Vgl. Edlich, Paul, Biedermeier und Familie, in: NW 1902, S. 116-118; Eckstein, Ernst, Die Frau im alten Rom, in: GL 1892, S. 522-524; Bösch, Hans, Altdeutsches Kinderleben, in: GL 1897, S. 234-238. 189 Vgl. Artaria, Rosalie, Das klassische Zeitalter der Geselligkeit, in: GL 1893, S. 638-640; Stein, Siegfried, Vom Tanzen, in: SZ 1898/99, S. 136-137; Isolani, Eugen, Was unsere Großeltern sangen, in: ANW 1906, S. 676; Adé, Alwin, Bäder und Badewesen im Mittelalter, in: NW 1907, S. 211-214; Heyck, Eduard, Der Ursprung der Gasthäuser in Deutschland, in: DA 1901, Nr. 42, S. 16-17. 190 Vgl. Jähring, Georg, Das Reisen im Altertum, in: SZ 1901, S. 863; Wohlfahrt, B., Reisekosten einst und jetzt, in: DA 1898, S. 680-683; Rosenow, Emil, Brief und Briefverkehr in vergangener Zeit, in: NW 1902, S. 155-156. 191 Vgl. Nissen, Adolf, Vom Osterei und Osterhasen, in: DA 1906, Nr. 28, S. 12; Ders., Silvesterbräuche, in: DA 1907, Nr. 13, S. 10-11. 192 Vgl. Thieme, Friedrich, Die Entstehung unseres Kalenders, in: NW 1896, S. 120122; Cunow, Heinrich, Zeit- und Kalenderrechnungen, in: NW 1909, S. 3; Schedlbaur, Wie ist unsere Schrift entstanden, in: ANW 1893, S. 130-131. 193 Vgl. Klaußmann, Oskar, Familienarchive, in: GL 1909, S. 272-274; Köhler, Arthur, Die Schätze der Familienarchive, in: DA 1908, Nr. 13, S. 11-12.
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Tradition gestellt wurden,194 wenn man die schnelle und bequeme zeitgenössische Form des Reisens im Zug der beschwerlichen, langsamen und gefährlichen Postkutschenfahrt des frühen 19. Jahrhunderts gegenüberstellte,195 oder wenn die LeserInnen erfuhren, woher eigentlich ihre Weihnachtsbräuche stammten.196 Dementsprechend bezogen die AutorInnen auch immer die zeitgenössische Gegenwart mit in ihre historischen Betrachtungen ein. Oftmals war sie Ausgangspunkt, von dem aus der Blick in die Vergangenheit geworfen wurde, wie etwa in einem Artikel über Handarbeiten seit dem Altertum, der 1906 in der Alten und Neuen Welt erschien und der schon im ersten Satz die Verbindung von Gegenwart und Geschichte herstellte: »Die Anfertigung weiblicher Handarbeiten war schon den Frauen des Altertums ein angenehmer und anregender Zeitvertreib, mit dem sie gern ihre Mußestunden ausfüllten. Die Frauen von damals hatten es allerdings bedeutend unbequemer als die moderne Damenwelt, der zierliche Stahlnadeln, sowie die verschiedensten Materialien zur Verfügung stehen, während man im Altertum nur unförmige Nadeln aus Holz oder Fischgräten kannte, mit denen die Frauen jedoch auf grobe Stoffe die kunstvollsten Handarbeiten ausführten.«197
Der Artikel erschien in der Rubrik Für die Frauen und Kinder, sprach also direkt Frauen an, denen Nähen und Sticken als Teil ihrer alltäglichen Arbeit vertraut war. Die Autorin Else Rema rekurrierte auf die Erfahrungen ihrer Leserinnen, sie konnte davon ausgehen, dass sie alle mit Nadel und Faden umgehen konnten und daher den direkten Vergleich zwischen zeitgenössischer und altertümlicher Handarbeit nachvollziehen und sich die mühsame Arbeit der Frauen in der Ver-
194 Vgl. Sendling, Hans, Strumpf und Schuh. Eine kulturgeschichtliche Fußwanderung, in: DA 1908, Nr. 42, S. 20; Ders., Aus der Geschichte des Hutes, in: DA 1906, Nr. 51, S. 13-15; Cohn, Hermann, Die Geschichte der Brillen, in: GL 1895, S. 367-371. 195 Vgl. Stürmer, Alfred, »Wenn einer eine Reise tut –«. Eine kulturgeschichtliche Reiseplauderei, in: SZ 1910/11, S. 1058-1060; Treffenfeld, H. J., Wie man zu Goethes Zeit nach Potsdam reise, in: DA 1906, Nr. 28, S. 20-21; Markovics-Zettkow, M. von, Wenn ehemals Einer eine Reise that. Kulturhistorische Skizze, in: NW 1896, S. 373-375. 196 Vgl. Schrader, Adolf, Unsere Weihnachtslieder und ihr Ursprung, in: SZ 1902/03, S. 210-211; Streit, P. Robert, Zur Geschichte des Weihnachtsspiels, in: ANW 1904, S. 303; Hagenau, M., Weihnachtsgeschenke in alter Zeit, in: GL 1898, S. 830-831. 197 Rema, Else, Weibliche Handarbeiten in früheren Jahrhunderten, in: ANW 1906, S. 884.
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gangenheit mit den unförmigen Nadeln und groben Stoffen problemlos vorstellen konnten. Mit den Illustrationen – vier Abbildungen von mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Handarbeiten – wollte die Autorin ihre Leserinnen gar »zur Nachahmung« anregen.198 Die fotografierten Ausstellungsstücke des Berliner Kunstgewerbemuseums sollten die im Text beschriebenen historischen Handarbeitstechniken veranschaulichen und dienten als Beispiele, an denen detailliert einzelne Arbeitsschritte erklärt wurden. Neben der bildlichen Darstellung kulturhistorischer Artefakte199 druckten Familienzeitschriften auch Illustrationen von Alltagsszenen zur Visualisierung von Kulturgeschichte. Die Alte und Neue Welt zum Beispiel illustrierte einen Artikel über die Kulturgeschichte des Spinnens mit Bildern, die die Praxis des Spinnens selbst darstellten. Die Holzstich-Reproduktionen von Genrebildern zeigten Handarbeitssituationen, in denen Spinnräder aus verschiedenen Epochen zu sehen waren.200 Das Motiv des geselligen Beisammenseins bei der Handarbeit fand sich auch in dem historischen Genrebild P. Piattis, das 1892 in der Gartenlaube unter dem Titel »Frauenleben im alten Rom« als Holzstich reproduziert wurde und römische Frauen höheren Standes beim Spinnen zeigte (vgl. Abbildung 14). Das Bild machte, wie bei der Darstellung historischer Alltagsszenen üblich, seinen historischen Charakter vor allem über Kulisse, Ausstattung und die Kleidung der AkteurInnen deutlich. Die Spinnrocken zeigten eine historische Form der Spinnpraxis, und über bestimmte Codes wie Togen, Haarbänder und Sandalen sowie im Hintergrund sichtbare Büsten, Statuen und Säulenarchitektur
198 Vgl. ebd., S. 885. 199 Vgl. auch Bösch, Hans, Das Spielzeug vor hundert Jahren, in: DA 1900 [Rubrik Kinder-Daheim], Nr. 13, S. 9-10. Der Artikel über Spielzeug aus der Zeit des frühen 19. Jahrhunderts war illustriert mit Fotos von Puppen, Zinnsoldaten und Puppenstuben, die im Germanischen Nationalmuseum ausgestellt waren; Gurlitt, Cornelius, Neunzig Jahre Frauenmode, in: GL 1891, S. 8-10, 45-48, 75-78; Ders., Neunzig Jahre Männermode, in: GL 1892, S. 15-18, 76-78, 207-210. Die Artikel waren illustriert mit Zeichnungen, die kleinformatig in den Text integriert Kleidungsstücke und Moden aus verschiedenen Epochen zeigten. Diese zur besseren historischen Einordnung oft mit einer Jahreszahl versehenen Bilder waren wahrscheinlich aus den historischen Modejournalen abgezeichnet, mit denen der Autor des Textes arbeitete. 200 Vgl. Ursprünglicher jetzt noch im Süden und im Orient gebräuchlicher Spinnrocken. Nach dem Gemälde von Th. Käppen; Bei der Großmutter zur Spinnstunde. OriginalZeichnung von P. Krämer; Altfranzösisches Spinnrad; Modernes deutsches Spinnrad. Illustrationen zu: Ziegler, Zur Geschichte des Spinnens, in: ANW 1894, S. 236-239.
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war für den Betrachter erkennbar, dass diese Szene in der römischen Antike verortet war. Trotz der großen zeitlichen Distanz dieser Szene war sie an die zeitgenössische Alltagswelt angebunden, verknüpfte doch das gesellige Zusammenkommen beim Spinnen die römischen Frauen auf dem Bild mit den Leserinnen der Gartenlaube. Abbildung 14: Geschichte der Alltagskultur im historischen Genrebild
Quelle: Frauenleben im alten Rom. Nach einem Gemälde von P. Piatti, in: GL 1892, S. 528-529.
Eine äußerst vergnügliche Form der Anbindung von Geschichte an die zeitgenössische Lebenswelt fand Daheim-Autor Eduard Heyck, der seine LeserInnen mit auf eine Zeitreise nahm, auf eine »Radeltour ins deutsche Altertum«. Der Autor schilderte in seinem Text von 1900 eine Radtour durch Altbayern, während der er beständig auf Überreste und Relikte des germanischen Altertums traf – so etwa geschnitzte Reliefs über den Stalltüren der Bauernhäuser, die Thinglinde im Dorf, das Bier im Gasthof, die bäuerliche Tracht, aber auch Gestalt und Körperbau der Dorfjugend, in der sich die »von den Römern gepriesene Schönheit und stolze Haltung«201 germanischer Männer bewahrt habe. Dass Kulturgeschichte immer mit einer Neugier auf Land und Leute zusammenhing, machte Heyck in den einleitenden Worten seines Artikels deutlich:
201 Heyck, Eduard, Eine Radeltour ins deutsche Altertum, in: DA 1900. S. 7.
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»Natürlich wird man nie nach Beobachtungen aus der Gegenwart und nach lustigen Einfällen Kulturgeschichte schreiben dürfen, sondern nur nach strengster Methodik auf Grund der vielgestaltigen Quellen und ihrer sorgfältigen Prüfung. Aber andererseits: nur über dem wird bei dieser Forschung der rechte Sinn schweben, der in redlichem Bemühen Land und Leute kennen und verstehen gelernt hat.«202
Kulturgeschichte, das wird hier deutlich, war für Heyck historische Wissenschaft, die nach entsprechenden methodischen Kriterien zu betreiben sei – war aber auch volkskundliche Feldforschung, die am direkten Kontakt mit den Menschen und am Interesse an ihren zeitgenössischen Lebenswelten hing. In dieser Ansicht wie auch in seiner Verbindung historischer Reflexionen mit einer Reise durch die Region bewegte er sich auf den Spuren Wilhelm Heinrich Riehls, der in seiner Forschung ebenso »Land und Leute« erkundet hatte. Die Begegnungen mit der regionalen Bevölkerung schilderte Heyck eindrücklich, indem er auf seiner Reise beständig zwischen Gegenwart und Vergangenheit wechselte und die Eindrücke aus dem alltäglichen zeitgenössischen Dorfleben als Sprungbretter zu Exkursen in die Geschichte nutzte: »Im Kirchdorf des Thales, in das ich eingeradelt bin, ist Pferdemarkt. Solches sind heute die Thingversammlungen der Umwohner. […] [A]uf solchen bayerischen Markttagen – und die Märkte sind aus den Versammlungen entstanden, nicht umgekehrt! – wird doch immer noch vieles beraten, geschlichtet und abgemacht: Angelegenheiten lokaler Öffentlichkeit, Privatinteressen und stilgemäße Einleitung von Eheverbindungen durch Übereinkommen der Gesippen, kurz ungefähr das, was Tacitus im 22. Kapitel der ›Germania‹ als dasjenige angibt, was bei der Tagfahrt zur Landsgemeinde so nebenbei in Erledigung kam.«203
Die Gewohnheiten der zeitgenössischen Dorfbevölkerung wurden hier unter Bezug auf Tacitus in Tradition zu altgermanischen Praxen des Zusammenlebens gestellt. Tacitus war eine Quelle, auf die neben Heyck auch zahlreiche andere ZeitschriftenautorInnen zurückgriffen, um das Alltagsleben der GermanInnen zu beschreiben. In der Regel wurde der Bezug auf Tacitus nicht besonders quellenkritisch gehandhabt und seine »Germania« als Dokument der Ursprünge des deutschen Volkes funktionalisiert.204 Doch was war eigentlich das ›Volk‹, von
202 Ebd., S. 6. 203 Ebd., S. 9. 204 Vgl. A. B., Das Schwarzbrot und das westfälische Pumpernickel, in: ANW 1891, S. 367; Keßler, Gottfried, Das Mutterherz in der deutschen Sage und Poesie, in:
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dem die KulturhistorikerInnen (nicht nur der Familienzeitschriften) so gern sprachen? Der dreifache Volksbegriff der Kulturgeschichte Der Begriff des Volkes war in Familienzeitschriften eine vielgenutzte, undefinierte und unhinterfragte Selbstverständlichkeit – und stand doch auf der Basis verschiedenster Konzepte. ›Volk‹ war einerseits nationale Gemeinschaft. Ein zweiter Volksbegriff konzeptionalisierte es in Anlehnung an die Volkskunde als Bauerntum. Die Trennung beider Begriffe ist lediglich eine analytische – tatsächlich verbanden viele Texte Bauerntum und nationale Gemeinschaft. Eine gesellschaftspolitischere Konzeption kam in der sozialistischen Neuen Welt, teilweise auch in der Gartenlaube zum Tragen und entwarf ›Volk‹ als untere und unterdrückte soziale Schicht, die die Triebkraft politischer Bewegungen darstellte.205 Die Konstruktion des Volkes als nationale Gemeinschaft funktionierte über die Benennung gemeinsamer Traditionen, Bräuche und Lebensstile, oft auch in Abgrenzung zu anderen nationalen Gemeinschaften. Die verschiedenen ›Völker‹ wurden auf diese Weise individualisiert und mit eigenen Charaktereigenschaften
ANW 1892, S. 669; Heyck, Eduard, Liebe und Hochzeit bei den alten Deutschen, in: GL 1904, S. 910-911. Heyck weist hier darauf hin, dass das Werk Tacitusʼ, das »bis an die jüngere Zeit der Kanon unseres Wissens von der altgermanischen Vorzeit« gewesen sei, neuerdings wissenschaftlich nachgeprüft werden könne. Diese Nachprüfungen würden jedoch nichts an den Erkenntnissen durch Tacitusʼ Schilderungen ändern, vielmehr könne das von ihm gezeichnete Bild nun ergänzt werden um frühere Entwicklungen und Vergleiche zu anderen Völkern. Vgl. ebd., S. 910. Zur Tacitus-Rezeption im 19. Jahrhundert vgl. Krebs, Christopher B.: Ein gefährliches Buch. Die Germania des Tacitus und die Erfindung der Deutschen, München: Dt. VerlagsAnst. 2012, S. 209-218. 205 Heidemarie Gruppe untersucht den Volksbegriff der Gartenlaube 1853-1914 und kommt zu dem Ergebnis, dass drei verschiedene Konzepte von ›Volk‹ in der Gartenlaube transportiert worden seien: Das Volk als gesellschaftspolitischer Begriff (Bürger), der die nationale Frage berührt habe; das Volk als sozialpolitischer Begriff (Arbeiter), der die soziale Frage berührt habe; und das Volk als Gegenbegriff zur Industriegesellschaft (Bauern), der ebenfalls die nationale Frage berührt habe, allerdings mit folkloristischem Einschlag. Vgl. Gruppe (1976), S. 103-106.
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und Entwicklungsstufen versehen.206 Oftmals griffen die AutorInnen auf die Germanen zurück, die als Ursprünge des deutschen ›Volks‹ erschienen.207 Dieses setzten sie wiederum mit der deutschen Nation gleich und verwendeten die Begriffe ›Volk‹ und ›Deutsche‹ (oder ›Germanen‹) oft synonym, so wie etwa Hans Bösch, der einen Artikel über »altdeutsches Kinderleben« mit der These einleitete: »Echter Familiensinn hat die alten Deutschen seit jeher von ihren Nachbarvölkern ausgezeichnet.«208 Mit diesem nationalen Volksbegriff neigten die AutorInnen dazu, historische Kollektivierungen vorzunehmen: Die Germanen (oder auch die Gallier etc.) erschienen so stets als sozial homogene Gruppe: »Wie alle Völker Asiens und Europas […] brauten die Germanen schon in ältester Zeit aus den ihnen bekannten Getreidearten […] das Bier«,209 schrieb etwa Reinhold Günther in einem Artikel über die Herkunft des Fasses und schuf so über gemeinsame Trinkgewohnheiten eine nationale Gemeinschaft. Während der Begriff des Volkes als nationaler Gemeinschaft zu einer Homogenisierung der Deutschen neigte, basierte die zweite Konzeption von Volk auf ständischen Unterschieden und Stadt-Land-Differenzen und verstand das Volk als Bauerntum. Bäuerliche Volkskultur galt in allen Zeitschriften, auch bei sozialistischen AutorInnen, als die wahre und authentische deutsche Kultur, in Abgrenzung nicht nur zu Adel, Klerus und städtischem Leben, sondern auch zur Modernisierung der zeitgenössischen Gesellschaft. So beklagten verschiedene AutorInnen den Verlust volkstümlicher Traditionen in der Moderne und fanden deren Überreste beim Bauerntum, zum Beispiel in der ländlichen Tracht, die in allen Zeitschriften in Text und Bild dargestellt wurde.210 Ernst Seefried bedauerte in der Alten und Neuen Welt 1906 das Verschwinden bäuerlicher Tracht, mit der »auch ein wertvolles Stück Volkstum« verloren gehe.211 Letztlich stand die Tracht für ihn nicht allein für Tradition, sondern auch für einen vernünftigen,
206 Vgl. Sendling, Hans, Aus der Geschichte des Hutes, in: DA 1906, Nr. 51, S. 13-15; Schedlbaur, D., Wie ist unsere Schrift entstanden, in: ANW 1893, S. 130-131; Ziegler, Zur Geschichte des Spinnens, in: ANW 1894, S. 236-242. 207 Vgl. Heyck, Eduard, Liebe und Hochzeit bei den alten Deutschen, in: GL 1904, S. 910-911; Roberty, Detlev, Die heilige Nacht unserer Vorfahren, in: ANW 1896, S. 575-577. 208 Bösch, Hans, Altdeutsches Kinderleben, in: GL 1897, S. 234. 209 Günther, Reinhold, Vom Fasse und seinem Herkommen. Kulturgeschichtliche Skizze, in: ANW 1907, S. 877. 210 Vgl. Heyden, August von, Etwas über Volkstrachten, in: DA 1896, S. 523. 211 Vgl. Seefried, Ernst, Überreste einer Volkstracht, in: ANW 1906, S. 827.
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sittlichen und sinnhaften ländlichen Lebensstil, den er bedroht sah. Seefried verband so Ideale der Volkstümlichkeit mit kulturpessimistischem Antimodernismus: »Das Verschwinden der Volkstracht an und für sich würde in manchen Fällen kein so großes Unglück bedeuten. Aber mit den alten Ueberlieferungen geht auch der gesunde Bauernsinn dahin, und verschiedene Zweige der häuslichen Betätigung werden in Mitleidenschaft gezogen.«212
Früher hätten Dorfbewohner der westpreußischen Heidedörfer an langen Winterabenden gesponnen und gewebt; heute hingegen kaufe man alles im Laden und verbringe viele Stunden untätig, beklagte der Autor und befand: »Schon aus sittlichen Gründen wäre die Wiederbelebung des Hausfleißes erwünscht.«213 Auch für viele andere AutorInnen galten BäuerInnen als die HüterInnen von Traditionen in ihrer regionalen Vielfalt und damit »wirklich nationales Wesen erhaltend«.214 Das Wesen von Nation und Volkstum lag hier in der Föderation. Die regionale Vielfalt wurde etwa in einem Artikel August von Heydens im Daheim mit Abbildungen illustriert, die Einzelpersonen oder Paare in regionenspezifischer bäuerlicher Tracht zeigten.215 Die Ansicht, im Bauerntum würden nationale und regionale Traditionen erhalten, zeigt die enge Verbindung, in der die beiden Konzeptionen von Volk als nationaler Gemeinschaft und als Bauerntum sich befanden: Die Grundlage nationaler Kultur wurde in der bäuerlichen Kultur gesehen und die Einheit von Bauerntum und Nation war oftmals verbunden mit einem konservativen Bewahrungsgedanken. Die Erzählungen von Aussterben und notwendigem Erhalt alter regionaler Traditionen waren zudem aufs Engste verknüpft mit der Sammel- und Museumsbewegung, die das Aussterben der Volkskultur zu verhindern suchte und in Familienzeitschriften ausgiebig besprochen wurde.216 Der Rückgriff auf agrarische Lebenswelten, auf national und bäuerlich gedachtes Volkstum, erlebte um die Jahrhundertwende einen großen Aufschwung und wurde von verschie-
212 Ebd., S. 828. 213 Ebd. Vgl. zum Verschwinden von Trachten auch: Gerbing, Luise, Thüringer Volkstrachten, in: GL 1911, S. 780. 214 Ebd. 215 Vgl. Heyden, August von, Etwas über Volkstrachten, in: DA 1896, S. 523-526. 216 Vgl. Marchionini, Karl, Das ostpreußische Heimatmuseum, in: NW 1913, S. 99-101; Klischer, Gustav, Das Volkstrachtenmuseum in Berlin, in: GL 1899, S. 364-367; Bösch, Hans, Das germanische Museum, in: GL 1902, S. 386-390.
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densten Gruppierungen gepflegt und verbreitet. Insbesondere die vielen kulturund modernekritisch inspirierten Bewegungen – von der Naturschutz- und Heimatbewegung217 bis hin zu den verschiedensten Lebensreformansätzen – bedienten sich einer Konzeption von Volkstum, die Agrarromantik mit Nationalismus verknüpfte und den Zeitgeist der Wilhelminischen Epoche stark prägen sollte. Vor dem Hintergrund von Verstädterung, Industrialisierung und industrieller Transformation der Landwirtschaft entstanden zahlreiche regionale und überregionale Vereine, die ländliches Leben, Brauchtumspflege, Zivilisationskritik und reformerische Ideen wie Naturschutz, Vegetarismus oder Naturheilkunde zusammendachten in einem vielschichtigen Volksbegriff. Das Konglomerat aus Heimatgedanke, Kultur- und Modernekritik, Nationalismus und Agrarromantik, das sich in den Familienzeitschriften niederschlug und aktiv in ihnen verbreitet wurde, war in der Wilhelminischen Epoche keine konservative Randerscheinung, sondern in politischen und kulturellen Vereinigungen und medial äußerst präsent. Aus einer anderen Stoßrichtung wurde ländliches Leben und Agrarwirtschaft seit den 1890er Jahren ein Politikum: Mit der Gründung des Bunds der Landwirte 1893 schufen die (insbesondere preußischen) Großagrarier einen machtvollen Lobbyverband, der im Lauf der Wilhelminischen Ära zu einer Massenorganisation anwuchs.218 Die alten adligen Eliten verbanden sich hier mit den neuen kapitalistischen Agrareliten zu einem konservativen Bollwerk, in dem die Konzeptionen von Volk, Agrarwirtschaft, Nation und Zivilisationskritik sich weiter ausbreiten konnten und eine politische Lobby fanden. In den Universitäten etablierte sich zeitglich die volkskundliche Wissenschaft, deren Vertreter intensiv und kontrovers über die Frage diskutierten, wer eigentlich das Volk sei.219 Der Schweizer Mediävist Eduard Hoffmann-Krayer definierte in seiner Antrittsvorlesung in Basel 1902, die Volkskunde habe sich
217 Vgl. zur Naturschutz- und Heimatbewegung im Kaiserreich Oberkrome, Willi: Deutsche Heimat. Nationale Konzeption und regionale Praxis von Naturschutz, Landschaftsgestaltung und Kulturpolitik in Westfalen-Lippe und Thüringen (19001960), Paderborn: Schöningh 2004, S. 29-56; Knaut, Andreas: »Ernst Rudorff und die Anfänge der deutschen Heimatbewegung«, in: Edeltraud Klueting (Hg.), Antimodernismus und Reform. Zur Geschichte der deutschen Heimatbewegung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1991, S. 20-49. 218 Vgl. Treskow, Rüdiger von: »Vom Café Milani zum Bund der Landwirte. Die Sammlungsbewegung der preußischen Großagrarier 1848-1893«, in: Sick, KlausPeter (Hg.), Demokratie in Deutschland. Chancen und Gefährdungen im 19. und 20. Jahrhundert. Historische Essays, München: Beck 1999, S. 50-70, hier 65f. 219 Vgl. Kaschuba (2006), S. 57, 59f.
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nicht mit dem gesamten Volk, sondern lediglich mit den traditionsverbundenen Unterschichten zu beschäftigen, die er als »vulgus in populo«, als Volk im Volke benannte.220 Dem widersprach der Philologe Adolf Strack: Die Volkskunde solle sich nicht allein mit einer sozialen Schicht befassen, sondern mit dem gesamten Volk und dessen kollektivgebundenen Wesenseigenschaften.221 Verbunden mit der Frage, wer zum Volk gehöre, waren Debatten über die Entstehung und die Trägerschaft von Volkskultur. Viele Volkskundler setzten das Volk mit dem Naturwüchsigen, Ungeformten, auch Ungebildeten gleich. Bei Hoffmann-Krayer spielte das (aus der Oberschicht kommende) Individuum als Anstoß von Entwicklungen eine wichtige Rolle, während das Volk als die unteren sozialen Schichten keine eigene schöpferische Dynamik entwickle. Strack hingegen betonte das Schöpferische des Volkstums selbst, das in seiner reinsten Form im Bauerntum auftrete, und definierte so die Volkskunde letztlich als ›Bauernkunde‹.222 Die tatsächlichen sozialen Zustände und die sozialen Kämpfe der unteren Bevölkerungsschichten blieben den Volkskundlern des späten 19. Jahrhunderts weitgehend fremd.223 So waren auch die städtischen unteren Schichten, das Proletariat, kein Gegenstand volkskundlichen Interesses. Ungeachtet der weiter gefassten Definitionsversuche blieb die Volkskunde praktisch eine ›Bauernkunde‹. Die Realitäten des ländlichen Lebens mit seinen sozialen Wandlungsprozessen der Industrialisierungszeit – die Landflucht, die soziale Differenzierung der Landbevölkerung und die Zunahme einer besitzlosen und verelendeten LandarbeiterInnenschaft in Ostelbien – blieben weitgehend unbeachtet.224 Stattdessen hielten die bürgerlichen und meist in der Stadt beheimateten Volkskundler, insbesondere in der Laienforschung, an ihrem »Urbild gesunden Bauerntums«225 fest und blieben damit den Traditionen der Romantik treu. Diese Agrarromantik, die den Volksbegriff in Politik, Reformbewegungen, Wissenschaft wie Laienvolkskunde durchzog, wurde auch in zahlreichen kulturhistorischen Artikeln in Familienzeitschriften reproduziert. Der dritte Volksbegriff, der gesellschaftspolitisch motiviert war, kam fast ausschließlich in der sozialdemokratischen Neuen Welt zum Tragen. In sozialistischen Konzeptionen war das Volk die von herrschenden Kräften unterdrückte
220 Vgl. ebd., S. 58; Weber-Kellermann et al. (2003), S. 87. 221 Vgl. Weber-Kellermann et al. (2003), S. 88-90. 222 Vgl. ebd., S. 89. 223 Vgl. ebd., S. 92. 224 Vgl. ebd. 225 Ebd., S. 91f.
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soziale Schicht der ProletarierInnen, KleinbäuerInnen, KleinbürgerInnen. Das Volk war hier ein politisches Konzept, bildeten doch die unterdrückten Bevölkerungsgruppen die Triebkraft der politischen Bewegung.226 Dieser Volksbegriff, der mit dem Industrialisierungsprozess entstand, war auf die Bedingungen der modernen Gesellschaft zugeschnitten und damit auch vor allem zur Beschreibung moderner Gesellschaften geeignet. Die Neue Welt-AutorInnen verwendeten für die Geschichte des 19. Jahrhunderts allerdings die Begriffe Arbeiter und Proletariat, um die AkteurInnen von Emanzipationskämpfen zu bezeichnen,227 und weniger den Volksbegriff. Dafür projizierten sie ihn in die vormoderne Vergangenheit, etwa indem sie nach frühen Formen von Proletariat und Klassenkämpfen, aber auch von sozialistisch organisierten Gemeinschaften fragten. So habe die bäuerliche Bevölkerung des 16. Jahrhunderts zur »Volksklasse«228 werden können, deren emanzipatorisches Potential dem konservativen und staatserhaltenden zeitgenössischen Bauerntum gegenübergestellt wurde: »Es hat Zeiten gegeben, in denen der deutsche Bauer nichts weniger als staatserhaltend war, in denen er ein Revolutionär war von der Fußsohle bis zum Scheitel. Das waren die Zeiten, als […] Hunderttausende von Bauern sich gegen ihre Bedrücker erhoben und in hellen Haufen in’s Feld zogen. Damals war der deutsche Bauer nicht mehr konservativ, er war revolutionär, sehr revolutionär.«229
Dass das Volk als Gegenstand der Geschichte wie auch als Rezipient historischer Forschung ein relevanter Faktor der Historiographie sein sollte, zeigt auch ein Artikel, den die katholische Alte und Neue Welt zu Rankes 100. Geburtstag 1896 brachte und der sich mit dessen Konzeption von Geschichte auseinandersetzte. Autor war der promovierte Historiker und Journalist Karl Hoeber, der in verschiedenen katholischen Periodika publizierte und spätestens seit 1907 als Chefredakteur der Kölnischen Volkszeitung eine wichtige Stellung innerhalb der katholischen Presselandschaft einnahm. Hoeber nutzte das Jubiläum des Historikers nicht allein als Anlass, diesen zu ehren, sondern auch zu einigen Reflexionen darüber, wie Geschichte geschrieben werde und wie sie geschrieben werden
226 Vgl. Sievers (2001), S. 46. 227 Vgl. Demmer, A., Die Anfänge der Internationale, in: NW 1911, S. 138-139; Conrady, Alexander, Berliner Lohnkämpfe aus dem Frühjahr 1848, in: NW 1908, S. 83. 228 Anonym, Die Vorgeschichte des großen deutschen Bauernkriegs von 1525. Ein Beitrag zur materialistischen Geschichtsauffassung, in: NW 1894, S. 391. 229 Ebd., S. 387.
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solle. Zentraler Punkt war dabei die Volksnähe des Historikers. Im Gegensatz zu ihren französischen und englischen Kollegen, deren Werke die Interessen des Volkes berührten und von diesem mit Leidenschaft aufgenommen würden, die zeitgenössischen Strömungen folgten und parteilich und mitreißend seien, mangele es den deutschen Historikern in ihrer akademischen und systematischen Gründlichkeit an Volksnähe.230 In dieser Tradition verortete Hoeber auch Ranke. Nicht allein sei eine beträchtliche Vorbildung nötig, um Rankes Texten zu folgen,231 sondern der Autor attestierte Ranke auch eine beschränkte Geschichtsauffassung – er schreibe die Geschichte von Staaten und Staatsmännern, nicht aber die des Volkes, »wie es betet und glaubt, dichtet und philosophiert, wirtschaftet, leidet und sittlich thätig ist.«232 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Kulturgeschichte, die einer der wichtigsten historischen Zugänge in Familienzeitschriften war, ihren Fokus auf Alltags- und Volkskultur legte. Sie war charakterisiert durch eine enge Anbindung an die Lebenswelt der LeserInnen sowie eine zentrale Stellung des Volkes, das in dreifacher Form als nationale Gemeinschaft, Bauerntum und Unterschicht konzipiert wurde. In ihrer identitätsstiftenden Funktion zur Herstellung einer föderal gedachten deutschnationalen Gemeinschaft, die über regionale Besonderheiten konstruiert wurde, prägten kulturhistorische Artikel das Geschichtsprogramm der Familienzeitschriften in hohem Maße. Die Verankerung in den Traditionen der Kultur- und Sittengeschichte, die seit der Jahrhundertmitte den populären Markt erobert hatten, ist ein Beispiel dafür, wie Familienzeitschriften in außerakademische Kontexte der Geschichtskultur eingebunden waren. Eine weitere Form solcher geschichtskultureller Kontextualisierung ist die Anbindung an außerakademische Institutionen und deren Historiographie, die im Folgenden am Beispiel der Militärgeschichte dargestellt wird. Zeitschriften als Plattformen geschichtspolitischer Institutionen: Das Beispiel Militärgeschichte Familienzeitschriften werden in dieser Arbeit als geschichtskulturelle Akteure verstanden, die in vielfältigen Wechselwirkungen mit anderen Akteuren und Institutionen der Geschichtskultur standen. Zugleich waren sie aber auch Plattformen, die es Personen und Institutionen ermöglichten, ihre Geschichtsinterpretationen zu popularisieren. Ein Beispiel für eine solche geschichtskulturelle Insti-
230 Vgl. Hoeber, Karl, Leopold von Ranke, in: ANW 1896, S. 211. 231 Vgl. ebd. 232 Ebd.
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tution, die über personelle Bindungen in Familienzeitschriften präsent war, war das Militär, genauer gesagt die kriegsgeschichtliche Abteilung des Generalstabs. Als aktiver Akteur der geschichtskulturellen und geschichtspolitischen Landschaft des Kaiserreichs war das Militär vor allem im konservativen Daheim regelmäßig präsent. Am Beispiel dieser Zeitschrift ist erkennbar, wie die militärische Durchdringung der Gesellschaft des Kaiserreichs bis in Unterhaltungsmedien und in die populäre Historiographie wirksam war. Das Kaiserreich war eine militaristische Gesellschaft,233 das Militär in allen Bereichen der Gesellschaft präsent, so auch in der Geschichtsschreibung und in Familienzeitschriften. Das Daheim galt unter seinen GegnerInnen auch als »Kasernenblatt« – ein Attribut, das nicht nur auf die soziale Verortung der Redaktion, sondern auch der LeserInnenschaft anspielte. Es ist wahrscheinlich, dass ein beträchtlicher Teil des Lesepublikums des Daheim in den Kasernen zu finden war. So äußerte die Redaktion auch öffentlich, sie empfinde das negativ gemeinte Attribut »Kasernenblatt« als einen Ehrentitel.234 Die Nähe zum Militär wurde auch in der sogenannten Roon-Affäre offenbar: Der preußische Kriegsminister Albrecht von Roon empfahl das Daheim kurz nach dessen Erscheinen 1864 in einer vertraulichen Verfügung »zur Lektüre in militärischen Kreisen, selbst in denen der Unteroffiziere und Soldaten«235 und als in der Gesinnung vortreffliche Alternative zur angeblich regierungsfeindlichen Gartenlaube. Diese Art der Unterstützung regierungsfreundlicher Blätter war in Preußen durchaus nicht ungewöhnlich. Jedoch führte sie, als die Empfehlung publik wurde, zu einem Zeitungsskandal, der das neu gegründete Daheim zwar rasch bekannt machte, sich jedoch negativ auf Auflage und Reputation der Zeitschrift auswirkte.236 Die Zeitschrift beschäftigte zahlreiche Autoren, die ehemalige oder aktive Militärs waren und brachte so immer wieder eine spezifisch militärische Perspektive in seine Geschichtsartikel hinein. Am deutlichsten wird dies in autobiographischen Texten, die von Krieg und Militärzeit handelten. Die militärische
233 Vgl. zur Bedeutung des Militärs in der Gesellschaft des Kaiserreichs Frevert, Ute: Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland, München: Beck 2001; Rohkrämer, Thomas: Der Militarismus der »kleinen Leute«. Die Kriegervereine im Deutschen Kaiserreich 1871-1914, München: Oldenbourg 1990; Förster, Stig: Der doppelte Militarismus. Die deutsche Heeresrüstungspolitik zwischen Status-quo-Sicherung und Aggression 1890-1913, Stuttgart: Franz-SteinerVerlag 1985. 234 Vgl. Graf (2003), S. 23. 235 Albrecht von Roon, zit. in: ebd. 236 Vgl. ebd.
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Perspektive in autobiographischen Texten, bei denen meist der Deutsch-Französische Krieg im Fokus stand, fand sich auch in Gartenlaube und SonntagsZeitung. Doch das Daheim bot neben den Erinnerungen ehemaliger Soldaten auch der amtlichen Kriegsgeschichte des Generalstabs eine Plattform. Die Kriegsgeschichte als vom Militär betriebene Historiographieform entwickelte sich Anfang des 19. Jahrhunderts aus der Offiziersausbildung heraus. Seit der preußischen Heeresreform war Kriegsgeschichte ein Teil der Ausbildung von Offizieren, und machte in der preußischen Kriegsakademie, einer Stätte militärischer Elitenausbildung, einen beträchtlichen Teil des Lehrstoffes aus.237 Eingebettet in Taktikunterricht, war die Kriegsgeschichte eine unerschöpfliche Quelle von Fallbeispielen, an denen taktisches Denken und Entscheidungskompetenz geschult wurden.238 Anfang der 1880er Jahre begann die Kriegsgeschichtliche Abteilung, die 1896 in zwei Abteilungen (für ältere und neuere Kriegsgeschichte) aufgeteilt wurde, neben ihren Lehraufgaben eine rege Publikationstätigkeit zu entwickeln. Zunächst stand die militärhistorische Aufarbeitung der Reichseinigungskriege im Zentrum, in den späten 1880ern beschäftigte sich die Abteilung zusehends mit den Kriegen Friedrichs des Großen und den Antinapoleonischen Kriegen239 und gab zudem in den 1890er Jahren eigenständige Quellenpublikationen heraus.240 Die Monographien des Generalstabs richteten sich vor allem zur fachlichen Weiterbildung an Offiziere, über militärische Kreise hinaus erreichten sie kein großes Publikum.241 Ausgehend von der Annahme, nur Angehörige des Militärs seien ob ihrer eigenen Erfahrung dazu befähigt, Kriegsgeschichte zu schreiben,242 blieb der Austausch mit der Fachwissenschaft gering und äußerte
237 Vgl. Millotat, Christian: Das preußisch-deutsche Generalstabssystem. Wurzeln – Entwicklung – Fortwirken, Zürich: vdf HochschulVerlag 2000, S. 86; Raschke, Martin: Der politisierende Generalstab. Die friderizianischen Kriege in der amtlichen deutschen Militärgeschichtsschreibung 1890-1914, Freiburg: Rombach 1993, S. 33-39. 238 Vgl. Millotat (2000), S. 87. 239 Vgl. Raschke (1993), S. 40f.; Brühl, Reinhard: Militärgeschichte und Kriegspolitik. Zur Militärgeschichtsschreibung des preußisch-deutschen Generalstabes 1816-1945, Berlin: Militär Verlag der DDR 1973, S. 118-122. 240 Vgl. ebd., S. 122. 241 Vgl. Raschke (1993), S. 43-45. 242 Vgl. Salewski, Michael: »Zur preußischen Militärgeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert«, in: Johann Christoph Allmayer-Beck (Hg.), Militaergeschichte in Deutschland und Oesterreich vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Herford: Mittler 1985, S. 47-69, hier S. 51.
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sich in der Regel in gegenseitiger Kritik. So sprachen Angehörige der Kriegsgeschichtlichen Abteilung dem zivilen Militärhistoriker Hans Delbrück regelmäßig den militärischen Sachverstand ab.243 Delbrücks Forschung wurde nicht allein als bedrohlicher und dreister Einbruch eines Zivilisten in eine ureigene militärische Domäne gesehen,244 sondern er machte sich zudem durch seine Thesen über Friedrichs II. militärische Strategie unbeliebt. Diese lösten 1878 den sogenannten »Strategiestreit« aus, der jahrzehntelang währen sollte.245 Fachhistoriker wiederum kritisierten die unzureichende Methodik und Zitierweise der Kriegsgeschichtlichen Abteilung sowie deren Nichtbeachtung ziviler Forschungsergebnisse – eine Kritik, auf die der Generalstab ab 1900 durch gewissenhaftere Methodik und wissenschaftliche Schulung reagierte.246 Die Militärhistoriker des Generalstabs publizierten ihre Hauptwerke in Monographien und verfassten daneben zahlreiche Artikel, meist in militärischen Zeitschriften wie dem Militär-Wochenblatt, aber auch in zivilen Zeitschriften wie am Beispiel Karl Taneras und Walter von Bremens deutlich wird. Walter von Bremen, Offizier im Westfälischen Regiment, lehrte von 1890 bis 1892 an der Kriegsakademie und war im Anschluss bis 1893 in der Kriegsgeschichtlichen Abteilung tätig. 1899 kehrte er, als inzwischen pensionierter Hauptmann, zur Abteilung zurück und verblieb dort bis 1910 als unentgeltlicher Mitarbeiter.247 Der Experte für Friedrich II. war als Mitautor der 13-bändigen Reihe »Der siebenjährige Krieg« an zwei Bänden beteiligt.248 Neben seiner Publikation im Rahmen des Generalstabs veröffentlichte Bremen militärhistorische Monographien beim Verlag Velhagen und Klasing sowie regelmäßig militärhistorische Artikel im Daheim. Dabei nutzte er die Zeitschrift, um Forschungen der Kriegsgeschichtlichen Abteilung zu popularisieren. Dies wird an einem Beispiel deutlich, in dem sich Bremen der Debatte um den Ur-
243 Vgl. Raschke (1993), S. 13, 45; Brühl (1973), S. 148f. 244 Vgl. Lange, Sven: Hans Delbrück und der »Strategiestreit«. Kriegsführung und Kriegsgeschichte in der Kontroverse 1879-1914, Freiburg: Rombach 1995, S. 40. 245 Vgl. zum Strategiestreit ebd.; Schleier, Hans: »Hans Delbrück. Ein politischer Historiker zwischen Preußenlegende, amtlicher Militärgeschichtsschreibung und historischer Realität«, in: Gustav Seeber (Hg.), Gestalten der Bismarckzeit, Berlin: Akademie-Verlag 1978, S. 378-403, hier S. 380-383. 246 Vgl. Lange (1995), S. 58f. 247 Vgl. ebd., S. 78; Raschke (1993), S. 77, 192. 248 Generalstab (Hg.): Die Kriege Friedrichs des Großen. Der Siebenjährige Krieg 1756-1763. Bd. 1: Pirna und Lobositz, Berlin: Mittler und Sohn 1901; Bd. 5: Hastenbeck und Rossbach, Berlin: Mittler und Sohn 1903.
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sprung des Siebenjährigen Krieges annahm, die zu Max Lehmanns bereits erwähntem Bruch mit den meisten seiner Historikerkollegen geführt hatte. Lehmann hatte 1894 auf Grundlage des bis dato nicht veröffentlichten politischen Testaments Friedrichs II. dem allgemeinen noch auf Ranke zurückgehenden Konsens in Militär und Fachwissenschaft widersprochen, Friedrich II. habe 1756 einen Verteidigungskrieg geführt.249 Stattdessen, so Lehmann, habe seine Motivation für den Krieg gegen Maria Theresia in der Absicht der Eroberung Sachsens und Westpreußens gelegen.250 Lehmanns Thesen stießen in Fachwissenschaft wie Militär auf helle Empörung und viel Widerspruch,251 nicht zuletzt auch da er die gesamte borussische Historikerschaft in polemischer Wortwahl attackierte. Der Direktor des preußischen Staatsarchivs Reinhold Koser nahm 1895 in der Historischen Zeitung Stellung zu Lehmanns These.252 Mit Ausnahme Delbrücks schlugen sich sämtliche einflussreichen Historiker auf Seite Kosers. Der 1901 erschienene erste Band des Generalstabs über den Siebenjährigen Krieg bekräftigte die Defensivhaltung Friedrichs II. erneut.253 Von Bremen nahm diese Publikation, an der er selbst mitgewirkt hatte, zum Anlass, im selben Jahr die Debatte im Daheim in Erinnerung zu rufen und dem breiten Publikum zugänglich zu machen. Im Ursprung der These vom Verteidigungskrieg bis auf Ranke zurückgehend, zeichnete von Bremen die Diskussion und die verschiedenen Positionen Lehmanns und Kosers nach, um schließlich das neu erschienene Werk des Generalstabs als finalen Beleg gegen Lehmanns These anzuführen, freilich ohne seine eigene Autorentätigkeit an diesem Buch zu erwähnen.254 Eine stärkere Trennung zwischen seiner Arbeit bei der Kriegsgeschichtlichen Abteilung und seinen populärhistorischen Publikationen nahm Daheim-Autor Karl Tanera vor, der zwischen 1882 und 1887 in der Kriegsgeschichtlichen Abteilung des Großen Generalstabs tätig war. Nach Ausscheiden aus dem aktiven militärischen Dienst 1887 widmete er sich einer publizistischen Karriere und wurde mit Erinnerungen an den Deutsch-Französischen Krieg, Reiseliteratur und populären militärhistorischen Werken äußerst erfolgreich. Der aus Speyer stam-
249 Vgl. Raschke (1993), S. 98f. 250 Vgl. Lehmann, Max: Friedrich der Große und der Ursprung des siebenjährigen Krieges, Leipzig: Hirzel 1894, S. VI, 57-69. 251 Vgl. Raschke (1993), S. 98-103. 252 Vgl. Koser, Reinhold: »Zum Ursprung des Siebenjährigen Krieges«, in: Historische Zeitschrift 74 (1895), S. 69-85. 253 Vgl. Generalstab (1901). 254 Vgl. Bremen, Walter von, Wie der siebenjährige Krieg entstand, in: DA 1901, Nr. 45, S. 16.
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mende Tanera war 1866 der bayerischen Armee beigetreten und kämpfte als einundzwanzigjähriger Leutnant im Deutsch-Französischen Krieg. Seine Erlebnisse hielt er in seinen 1887 erschienen Erinnerungen in humorigem Stil fest, der aber immer von ernsten Passagen durchzogenen war, die den Schrecken des Krieges verdeutlichten.255 Das Buch wurde ein voller Erfolg und erlebte bis 1902 neun Auflagen,256 so dass Tanera von nun an von seiner Schriftstellerei leben konnte. 1887 quittierte er den aktiven Militärdienst und ging in den 1890er Jahren bis zu seinem Tod 1904 auf zahlreiche Reisen in Europa, Nordafrika, Asien und Nordamerika, die er in Reiseberichten und Romanen verarbeitete. Seinen anekdotenhaften und autobiographischen Stil behielt Tanera auch in DaheimArtikeln bei, in denen er Geschichten aus dem Deutsch-Französischen Krieg erzählte.257 Neben diesen autobiographischen Werken verfasste Tanera populäre militärhistorische Monographien: die neunbändige Reihe »Deutschlands Kriege von Fehrbellin bis Königgrätz«,258 die bei Beck erschien, sowie vier Bände der Reihe »Der Krieg von 1870/71.259 Karl Tanera ist ein Beispiel für einen bürgerlichen Militärangehörigen, der als Mitglied der Kriegsgeschichtlichen Abteilung amtliche Kriegsgeschichte schrieb, und dessen militärische Erfahrungen gleichzeitig Grundlage für seine Karriere als Autor populärhistorischer Werke waren. Er konnte im beliebten Genre der Kriegserinnerung wie im Genre des populären historischen Sachbuchs mit Militärgeschichte Erfolge feiern. Noch enger verknüpfte Walter von Bremen als etablierter und langjähriger Mitarbeiter der Kriegsgeschichtlichen Abteilung seine amtliche mit seiner populären historiographischen Tätigkeit: Im Daheim bemühte er sich, seinen LeserInnen aktuelle Forschungskontroversen nahe zu bringen, wobei er klar auf der Linie des Generalstabs blieb, ohne allerdings seine eigene Mitarbeit dort zu thematisieren. So ist die Nähe des Daheim zum Militär
255 Vgl. Tanera, Carl: Ernste und heitere Erinnerungen eines Ordonnanzoffiziers, Nördlingen: Beck 1887-1888. 256 Vgl. Holland, Hyac.: »Tanera, Karl«, in: Biographisches Jahrbuch und deutscher Nekrolog, Vom 1. Januar bis 31. Dezember 1904, Berlin 1906, S. 510. 257 Vgl. Tanera, Karl, Wie ich Soldat wurde, in: DA 1890, S. 196-198; Ders., Ein Weihnachtsabend nördlich der Loire vor 20 Jahren, in: DA 1891, S. 188-189. 258 Tanera, Karl: Deutschlands Kriege von Fehrbellin bis Königgrätz. Eine vaterländische Bibliothek für das deutsche Volk und Heer, München: Beck 1891-94. 259 Tanera, Karl: Die Belagerung von Paris, München: C.H. Beck 1890; Ders.: Die Schlachten von Beaumont und Sedan, Nördlingen: C.H. Beck 1888; Ders.: An der Coire und Sarthe, München: C. H. Beck 1892; Ders.: Weissenburg, Wörth, Spichern. Mit 4 Karten, München: C.H. Beck 1896.
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und zu dessen amtlicher Geschichtsschreibung ein Beispiel dafür, dass Zeitschriften durch personelle Überschneidungen als Plattformen für geschichtspolitische Institutionen und deren Historiographie dienten. Als drittes Beispiel für geschichtskulturelle Kontexte der Familienzeitschriften untersuche ich im nächsten Kapitel, wie die Zeitschriften mithilfe von Gemäldereproduktionen Geschichte darstellten und auf diese Weise die Verbindung von Geschichte und Kunst popularisierten. Visuelle Geschichte: Gemäldereproduktionen in Familienzeitschriften »Ferne Zeiten rücken heran, Helden treten uns lebendig gegenüber, gewaltige Taten spielen sich sichtbar vor unseren Augen ab, deutlich zeigt uns die Vorzeit Sitte und Brauch, Haus und Herd, Waffe und Gewand. Wer vermöchte z.B. eine faßbarere und fesselndere Geschichte des größten Preußenkönig zu erzählen, als es der Altmeister Menzel in seinen Gemälden und Zeichnungen getan hat? Wer kann die kühnen Taten des treuen Sandwirts vom Passeiertale lebendiger verkünden, als es Franz Defregger gelungen ist? Und nicht nur Gestalten und Ereignisse versinnlicht uns ein gutes Bild; es zeigt uns auch die maßgebenden Charakterzüge der Geschilderten und die geheimen Ursachen, aus denen die Ereignisse hervorgingen. Aus dem Bismarckbild von Lenbach leuchtet die ganze weltbewegende Kraft und Einsicht des Verherrlichten, und aus dem Gemälde Kampfs vom ›Choral von Leuthen‹ spricht in eindringlichen Zügen der Geist einer Armee, die ihrem Führer zum Sieg verhelfen mußte. Dazu kommt, daß das Geschaute dem Gedächtnis länger und lebendiger erhalten bleibt als die durch das Wort übermittelte Vorstellung. Besonders dem schlichten Mann, an dem das bloße Wort leicht vorbeirauscht, dem kindlich einfältigen Gemüt, das in dem Wort die Wahrheit nicht immer zu finden weiß, prägt sich eine Geschichte in Bildern oft untilgbar ein […].«260
Mit diesen Worten umschrieben Adolf Bär und Paul Quensel, die Herausgeber eines 1890 erschienenen Bildbandes zu Themen der deutschen Geschichte, die Relevanz und Wirkung visueller Geschichtsdarstellungen. Visualisierungen von Geschichte waren laut den Autoren nicht nur lebendiger und einprägsamer als es Texten möglich war, sondern Bilder vermochten auch zu zeigen, was im weniger sinnlich angelegten Text nur schwerlich beschreibbar war. Historienmalerei wurde die Fähigkeit zugesprochen, historischen Sinn darzustellen, historisch-
260 Bär, Adolf/Quensel, Paul: Bildersaal deutscher Geschichte. Zwei Jahrtausende deutschen Lebens in Bild und Wort, Struckum/Nordfriesland: Verlag für Ganzheitl. Forschung u. Kultur 1989, S. XI.
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weltbewegende Kräfte zu erkennen und geheime Ursachen der Geschichte ans Licht zu bringen. Zudem bewerteten Bär und Quensel das Medium als eines, das bildungsferne Schichten einfacher erreichen könne als der geschriebene Text. Das Zitat zeigt, welche immense Funktion Bildern in der Popularisierung von Geschichte und in der Vermittlung von Bildung zugeschrieben wurde. Auch Familienzeitschriften setzten auf die sinnliche Wirkung von Bildern in ihren Geschichtsdarstellungen und druckten zahlreiche Historiengemälde, historische Genrebilder oder historische Ereignisbilder entweder als Einzeldarstellungen oder eingebettet in Artikel. Die Bilder waren dabei nicht allein Geschichtsdarstellungen, sondern immer auch Darstellungen von Kunst. An Fallbeispielen sollen die drei Bildgattungen und ihre Verwendung in Zeitschriften im Folgenden veranschaulicht werden. Historienmalerei: Visualisierung konkreter Ereignisse im Bild 1901 druckte die Sonntags-Zeitung als Kunstbeilage ein Gemälde des französischen Malers Nicolas Grosse, das das Monarchentreffen 1807 in Tilsit zeigt, bei dem Napoleon, das preußische Königspaar und der russische Zar zusammenkamen, um einen Friedensschluss auszuhandeln (vgl. Abbildung 15). Im Mittelpunkt des 1837 entstandenen Gemäldes stehen Napoleon und die preußische Königin Luise gemeinsam mit dem preußischen König Friedrich Wilhelm III. und dem russischen Zaren Alexander I. am Fuße einer Treppe, auf der, am Bildrand zu sehen, der französische Außenminister Talleyrand steht. Napoleon, den Hut in der rechten, hält mit der linken die Hand Luises, die den Blick zu Boden richtet. Die Blicke der anwesenden Monarchen und Talleyrands sind auf Napoleon gerichtet. Gesäumt wird die Gruppe von einer Kulisse aus Spalier stehenden Soldaten, im Hintergrund beobachten Adlige interessiert das historische Zusammentreffen. Das Treffen der Monarchen und der Abschluss des Friedens von Tilsit war ein wichtiger Bestandteil europäischer Erinnerungskultur, und wurde im Lauf des 19. Jahrhunderts von zahlreichen Malern festgehalten. Einen besonderen Stellenwert in der deutschen Erinnerung nahm die Zusammenkunft von Luise und Napoleon ein, traf doch hier die verehrte Ikone preußisch-deutscher Geschichte auf den gleichzeitig berüchtigten wie heroisierten Napoleon. Der Verlauf und Ausgang dieses Treffens wurde in der preußischen und deutschnationalen Erinnerung zu einer persönlichen Schmach und Demütigung Luises stilisiert, konnte doch Napoleon gegen ihre Einwände einen Diktatfrieden durchsetzen, der Preußen territorial um die Hälfte halbierte und politisch empfindlich
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schwächte.261 In diese Kerbe schlug auch der Begleittext zur Kunstbeilage, der den Verlauf der Unterhaltung zwischen Luise und Napoleon nach Aufzeichnungen des schwedischen Gesandten Karl Gustav von Brinckmann schilderte, und das Treffen in Tilsit als »eine der schwersten Episoden in dem an Prüfungen so reichen Leben der großen Königin« beschrieb, und als »schwere[s] Opfer«, das Luise ihrem Gatten und ihrem Volke gebracht habe.262 Abbildung 15: Napoleon und Königin Luise in Tilsit
Quelle: Napoleon I. und Königin Luise in Tilsit, in: SZ 1901/02, Nr. 24 (Kunstbeilage). ).
Die Kunstbeilage ist ein typisches Beispiel einer HistoriengemäldeReproduktion. Die ganzseitige Autotypie stellte ein Ereignis dar, das als Schlüsselszene deutscher Geschichte galt. Dass sich hier zudem deutsche und französische Geschichtskulturen kreuzten, wird daran deutlich, dass die SonntagsZeitung das Bild eines französischen Malers abdruckte, der ein Ereignis deutschfranzösischer Geschichte festgehalten hatte. Das Beispiel zeigt, dass viele Schlüsselszenen nationaler Geschichte oftmals tatsächlich in verschiedene nationale Erinnerungskulturen eingingen. Die historischen AkteurInnen, die auf eine überschaubare Zahl berühmter und klar erkennbarer Figuren reduziert waren, bestanden, wie so oft in der Historienmalerei, aus Angehörigen des Adels, waren
261 Zur Erinnerung an Königin Luise vgl. Förster (2011). 262 Vgl. Napoleon I. und Königin Luise in Tilsit. Zu unserer Kunstbeilage, in: SZ 1901/02, S. 440.
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die politisch Mächtigen. Der Malstil des Bildes war realistisch, er suchte die Szene möglichst wirklichkeitsgetreu einzufangen. Die Authentizität lag dabei weniger in der konkreten Szene selbst – ob ein Zusammentreffen in dieser Konstellation am Fuße jener Treppe stattgefunden hatte, kann bezweifelt werden – sondern vielmehr in der korrekten Darstellung der anwesenden Personen, ihrer Kleidung und Uniformierung, und der Kulisse Tilsits. In diesen Details zeigte sich die historische Authentizität einer Szene, die genau so vielleicht nicht stattfand, aber stattgefunden hätte haben können.263 Das Bild steht beispielhaft für die europäische Historienmalerei des 19. Jahrhunderts und vereinigt, wie oben gezeigt, viele ihrer Charakteristika. Historienmalerei, die in dieser Dekade ihre bedeutendste Zeit erlebte, war allerdings keine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Tatsächlich malten schon die Künstler der Renaissance historische Szenen. In jener Zeit entstand eine über Jahrhunderte wirksame Gattungshierarchie, welche Historienmalerei als »Krönung künstlerischer Tätigkeit« an die Spitze bildender Kunst stellte.264 Historienmalerei der Renaissance und der frühen Neuzeit sollte vor allem anderen moralische und überzeitliche Werte vermitteln und drehte sich daher weniger um die konkret dargestellte historische Situation, sondern vielmehr um die aus der Geschichte zu ziehende Lehre und das moralische Vorbild.265 Dieser Charakter sollte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts wandeln, und war gleichzeitig Grundlage der zentralen Auseinandersetzungen um die moderne Historienmalerei. Die Debatte, wie sie betrieben werden und was ihre Funktion sein solle, bewegte sich entlang der Fragen von Realismus und Idealismus. Stefan Schweizer macht in einer Lokalstudie über visuelle Erinnerungskultur in Kassel deutlich, wie das historische Genre der Malerei sich einerseits durch den Anspruch auszeichnete, detailgetreu die Wirklichkeit wiederzugeben: Das Ideal war lang eine fast schon fotografisch anmutende Wiedergabe des Gegenstandes. Als Meister dieser Kunst galt Adolph Menzel, dem eine »daguerrotypische Lebendigkeit« zugeschrieben wurde.266 Andererseits sollten Historienmaler die Dinge zeigen, wie sie sein sollten, und arbeiteten mit allegorischen und ikonographischen Elementen. Ein Historienbild zeigte in dieser Lesart nicht die vielen Details einer vergangenen Wirklichkeit,
263 Vgl. Schweizer (2004), S. 61f.; Germer (1998), S. 41. 264 Vgl. den historischen Überblick zur Historienmalerei bei Gaehtgens (2003), S. 16. 265 Vgl. ebd., S. 58. 266 Vgl. Schweizer (2004), S. 47, 61f.
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sondern arbeitete stattdessen das Charakteristische einer Epoche heraus.267 Das Genre stand zwischen den Polen der detailgetreuen Rekonstruktion vergangener Wirklichkeiten und der abstrakteren Darstellung von Charakteristika einer Epoche beziehungsweise der Vermittlung überzeitlicher Wahrheiten und des höheren Sinnes der Geschichte.268 Stefan Germer liefert eine Zusammenfassung der Funktion und des Funktionierens von Historienbildern, auf die ich mich hier hauptsächlich beziehe.269 Historiengemälde rekurrierten in der Regel auf sprachliche Erzählungen, sie wandelten diese in Bilder um. Dies ging einher mit einer notwendigen Unterteilung und Verdichtung des Erzählflusses in einen oder einige signifikante Momente und zugleich mit einer notwendigen Komplexitätsreduktion, die die Gruppe der AkteurInnen auf eine überschaubare Zahl schrumpfen ließ. Stärker noch als Texte brauchte ein Gemälde eine Hauptfigur und ein klar überschaubares Motiv, und so personalisierten Historienmaler die Geschichte und präsentierten sie als eine Abfolge dramatisch zugespitzter Ereignisse.270 Diese Charakteristika werden in vielen Forschungsansätzen auch allgemein populären und narrativen Zugängen zur Geschichte zugeschrieben – hier zeigt sich also, dass narrative wie visuelle populäre Darstellungen von Geschichte in vielen Punkten in ihren Charakteristika übereinstimmten. Neben ihrer Position zwischen Realismus und Idealismus stand die Historienmalerei zwischen Kunst271 und politischer Funktionalisierung. Zwar entsteht Kunst nie in einem politikfernen Raum, doch war die Historienmalerei des 19. Jahrhunderts in besonderem Maße offizielle Staatskunst, ging sie doch durch Legitimierung und Preisung staatlicher Herrschaft einen engen Pakt mit der Macht ein272 und war durch ihre Visualisierung von Nationalgeschichte ein entscheidendes Medium zur Schaffung nationaler Mythen.273 So leistete das eingangs gezeigte Bild vom Zusammentreffen Napoleons mit der preußischen Kö-
267 Vgl. Busch, Werner: »Die fehlende Gegenwart«, in: Reinhart Koselleck (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil II: Bildungsgüter und Bildungswissen, Stuttgart: Klett-Cotta 1990, S. 286-316, hier S. 293-297. 268 Vgl. Gaehtgens (2003), S. 58-61; Busch (1990), S. 293-297. 269 Vgl. Germer (1998). 270 Vgl. ebd., S. 41. 271 Zum Lesen von Kunstwerken als Quellen vgl. Roeck, Bernd: Das historische Auge. Kunstwerke als Zeugen ihrer Zeit, von der Renaissance zur Revolution, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004. 272 Vgl. Busch (1990), S. 286; Gaehtgens (2003), S. 61f., 65f. 273 Vgl. Germer (1998), S. 41.
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nigin sowohl Arbeit am Luisenmythos, als auch am Mythos des Ursprungs der deutschen Nation aus der Schmach der napoleonischen Besatzung und der darauf folgenden Erhebung in den Befreiungskriegen. Historiengemälde-Reproduktionen hatten in Zeitschriften auch eine kulturelle Funktion, brachten sie doch Kunst in die Wohnzimmer der LeserInnen. Die ursprünglich nur für einen kleinen Kreis zugängliche Historienmalerei wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem konstitutiven Bestandteil von populärer Historiographie wie von Familienzeitschriften. Gleichzeitig gewannen sie eine völlig neue Materialität, indem sie als Druckgrafiken in Zeitschriften (aber auch in anderen Printmedien) massenhaft reproduziert wurden – aus dem ursprünglich elitären und einmaligen Kunstwerk wurde Massenware. Allerdings war es eine sehr konventionelle Bildwahl, die Familienzeitschriften ihrem Publikum präsentierten. Neuere künstlerische Entwicklungen wie etwa der damals äußerst innovative Impressionismus fanden auch außerhalb von Geschichtsdarstellungen keinen Weg in die Zeitschriften, so dass die Popularisierung von Kunst sich auf Historiengemälde und Genrebilder beschränkte.274 Es war gerade ihr Status als Kunst, der die Historienmalerei zu solch einem wirkmächtigen Genre der Geschichtskultur machte. Gemälde konnten über Generationen hinweg wirksam ein Geschichtsbild prägen – durch ihren Status als Kunst unterlagen sie anderen Aktualitätsansprüchen als wissenschaftliche (aber auch populäre) Sachtexte, die beständigem Aktualisierungsdruck unterlagen und kontinuierlich durch neue Forschungsergebnisse überprüft werden konnten. Sachtexte haben in der Regel ein Verfallsdatum – Produkte mit künstlerischem Anspruch hingegen können in ihrer Wirkung langfristiger sein. Anders als die abgedruckten Texte entstanden die Gemälde, die in Zeitschriften reproduziert wurden, nicht zeitnah zur Herausgabe der Zeitschrift, sondern konnten bis zu 80 Jahren alt sein, in der Regel jedoch waren sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden, oft in den 1870er, 80er oder 90er Jahren. Die Wirkung und Bedeutsamkeit geschichtskultureller Produkte war nicht unbedingt an ihren direkten Entstehungszeitraum gekoppelt. So sind auch die bereits zur Jahrhundertmitte entstandenen Historiengemälde als Repräsentationen der Geschichtskultur um 1900 zu sehen. Bekannte Historiengemälde des 19. Jahrhunderts prägen zudem bis heute unsere Vorstellungen bestimmter historischer Szenarien. Familienzeitschriften veröffentlichten viele berühmte Werke renommierter Historienmaler. Wilhelm Kaulbach, Karl von Piloty oder Alexander Zick waren Künstler, die wiederkehrend reproduziert wurden. Viele berühmte Gemälde wurden in den Zeitschriften gezeigt, so etwa Anton von Werners »Kaiserpro-
274 Vgl. Wildmeister (1998), S. 55.
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klamation in Versailles«275 oder die Bilder Adolph Menzels, die Friedrich den Großen zeigen.276 Diese heute noch zum Bildungskanon gehörenden Gemälde konnten auch deshalb derart ikonographisch werden, weil sie von Zeitschriften und anderen populären Printmedien so massenhaft reproduziert wurden. Zeitschriftenredaktionen hatten durch ihre Auswahlfunktion einen großen Einfluss auf die durch Malerei transportierten Geschichtsbilder. Allerdings sollten die Auswahlmöglichkeiten der Redaktionen auch nicht überschätzt werden, waren sie doch davon abhängig, welche Gemälde von Reproduktionsanstalten zum Druck bearbeitet wurden und welchen Preis die Druckstöcke hatten. Dennoch zeigt ein Vergleich der gedruckten Historiengemälde in den fünf untersuchten Zeitschriften, dass die Redaktionen in ihrer Auswahl der Bilder durchaus in der Lage waren, zeitschriftenspezifische Schwerpunkte zu setzen. Gartenlaube, Daheim und Sonntags-Zeitung veröffentlichten zahlreiche Bilder zu historischen Themen des 19. Jahrhunderts, insbesondere mit Motiven aus der Napoleonischen Zeit – zum Beispiel dramatische Schlachten, Heldentaten, Gefangennahmen und Tode von KriegsheldInnen wie Gebhard Leberecht von Blücher277 oder Eleonore Prochaska.278 Die katholische Alte und Neue Welt legte ihren Schwerpunkt stärker auf Darstellungen des Mittelalters und visualisierte zum Beispiel die Kreuzzüge279 oder das dramatische Schicksal der Jungfrau von Orléans.280 Die Neue
275 Die Kaiserproklamation in Versailles 1871. Gemalt von A. von Werner, in: DA 1896, S. 253. 276 Vgl. Friedrich der Große auf Reisen. Von Ad. Menzel, in: DA 1910, Nr. 46, S. 24-25; Zusammenkunft Friedrichs II. und Josephs II. zu Neisse. Nach dem Gemälde von Menzel, in: GL 1904, S. 644-645. 277 Vgl. Blücher reist nach Belgien, um das Kommando der Armee gegen Napoleon I. zu übernehmen. Nach dem Gemälde von F. Messerschmidt, in: DA 1901, Nr. 2, S. 19; Blücher bei Waterloo. Von R. Eichstädt, in: DA 1906, Nr. 30, S. 11; Blücher auf dem Marsch nach Belle-Alliance. Nach dem Gemälde von Rudolf Eichstädt, in: GL 1897, S. 12. 278 Vgl. Eleonore Prochaska wird in der Schlacht an der Göhrde am 16. September 1813 tödlich verwundet. Nach einem Gemälde von C. Röchling, in: SZ 1912/13, Nr. 51, Kunstbeilage. 279 Vgl. Überführung der Reliquien der hl. Drei Könige. Originalzeichnung von H. Mosler, in: ANW 1890, S. 201; Schmerzliche Kunde vom fernen Kreuzfahrer. Nach der Zeichnung von G. Doré, in: ANW 1890, S. 369; Friedrich des I. Kreuzzug (1190). Nach der Zeichnung von Ehrhardt, in: ANW 1890, S. 533. 280 Vgl. Letzte Begegnung der Jungfrau von Orleans mit ihrem Vater. Nach dem Gemälde von G. Jourdain, in: ANW 1894, S. 441; Jeanne dʼArc bei der Salbung Kö-
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Welt druckte viele Szenen aus der Antike und hier wiederum des Öfteren Bilder, die SklavInnen zeigten.281 Unabhängig jedoch von der dargestellten Epoche lag der thematische Schwerpunkt eines Großteils der Historiengemälde bei Szenen aus Krieg und Militär; dieses Thema zog sich – wenn es auch am wenigsten in der sozialdemokratischen Neuen Welt zu finden war – durch die Historiengemälde aller Zeitschriften. Beispiele für die Visualisierung von Krieg und Militär waren etwa Bilder der Varusschlacht,282 der Französischen Revolution und der Napoleonischen Zeit283 der oder des Tiroler Bauernaufstands.284 Historienmalerei, das hat die Untersuchung gezeigt, eignete sich vor allem zur Darstellung von politischer Geschichte, die an konkrete Individuen und Ereignisse geknüpft war. Neben diesen ereignisbasierten Bildern standen historische Genrebilder, die sich meist lediglich durch ihre historische Kulisse von zeitgenössischen Genremotiven unterschieden, und somit Alltagsszenen gleichzeitig historisierten wie auch enthistorisierten.
nigs Karl VII. im Dome zu Reims (17. Juli 1429). Nach dem Gemälde von P. C. Comte, in: ANW 1890, S. 653. 281 Vgl. Sub hasta. Verkauf von Sklaven. Nach dem Gemälde von R. Cogghe, in: NW 1892, S. 367; Römischer Sklavenmarkt. Nach dem Gemälde von G. Boulanger, in: NW 1894, S. 175; Aus dem alten Rom: Des Majordomus Instruktionen im Sklavengang. Gemalt von Alb. Baur, in: NW 1895, S. 212; Aus dem alten Rom: Beim Weinmischen im Sklavengang. Gemalt von Alb. Baur, in: NW 1895, S. 213. 282 Vgl. Die Hermannschlacht im Teutoburgerwalde. Gezeichnet von Plüddemann, in: ANW 1892, S. 349; Hermann der Befreier. Nach dem Gemälde von Fritz Grotemeyer, in: DA 1902, Nr. 23, S. 11. 283 Vgl. Der Morgen des 10. Thermidor, Jahr II der Republik (1794). Nach dem Gemälde von M. Lucien Mélingue, in: ANW 1892, S. 656-657; Maxime Faivre: Die Frauen der Revolution, in: NW 1905, S. 85; Charlotte Corday bei Marat, in: SZ 1900/01, S. 689-690; Napoleon I. auf der Kriegsschule zu Brienne. Nach dem Gemälde von M. Realier-Dumas, in: ANW 1911, S. 457; Napoleon bei Waterloo. Von Bleibtreu, in: NW 1897, S. 61. 284 Vgl. Andreas Hofers Gefangennahme. Nach dem Gemälde von C. von Blaas, in: DA 1891, S. 212; Nach dem Friedensschluß in Tirol. Gemälde von A. Egger-Lienz, in: DA 1906, Nr. 16, S. 11; Andreas Hoferʼs Gefangennahme. Nach dem Gemälde von C. von Blaas, in: NW 1895, S. 237; Aus dem Tiroler Freiheitskampfe. Von M. Artaria, in: ANW 1894, S. 105.
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»Als der Großvater die Großmutter nahm«: Historische Genrebilder Historische Genrebilder waren, im Gegensatz zur Visualisierung konkreter Ereignisse in Historiengemälden, an keine tatsächlich stattgefundenen Ereignisse geknüpft, sondern suchten über Alltagsszenen die Charakteristika einer Epoche zu erfassen. Diese Szenen aus dem historischen Volksleben zeigten Arbeitssituationen, religiöse Praktiken, Feste und geselliges Beisammensein der bäuerlichen wie städtischen Bevölkerung.285 Abbildung 16: Historische Genrebilder: »Als der Großvater die Großmutter nahm«
Quelle: Als der Großvater die Großmutter nahm, in: GL 1890, S. 232-233.
Als beispielhaftes Motiv soll im Folgenden die visuelle Darstellung der Brautwerbung im frühen 19. Jahrhundert untersucht werden, die in drei verschiedenen Zeitschriften mit den Worten »Als der Großvater die Großmutter nahm« betitelt
285 Vgl. Aus der Zeit der Fugger. Nach dem Gemälde von F. Messerschmidt, in: DA 1902, Nr. 26, S. 19; Volksfest im Mittelalter. Von Paula Monje, in: NW 1894, S. 135; Altdeutsche Spiele. Nach dem Gemälde von A. Tademann, in: GL 1891, S. 184-185.
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war.286 Die Gartenlaube zeigte unter diesem Titel zwei zusammengehörende Bilder auf einer Doppelseite, die ein junges Paar vor einer Parklandschaft zeigen (vgl. Abbildung 16). Der junge Mann auf dem linken Bild, mit Blumenstrauß in der Hand und mit galanter Geste eine Verbeugung andeutend, wirbt offensichtlich um die junge Frau im rechten Bild, die ebenso schüchtern wie kokett ihren Fächer halb vor das Gesicht hält und mit der Linken ihren Rock leicht anhebt. Ihre Körpersprache drückt aus, dass sie dem Antrag durchaus nicht abgeneigt ist. Die Kleidung der beiden damals noch jungen Großeltern signalisiert ihre Zugehörigkeit zu einer gehobenen sozialen Schicht des frühen 19. Jahrhunderts. Die Bildunterschrift »Als der Großvater die Großmutter nahm« bezog sich – ohne es allerdings über die Überschrift hinaus zu zitieren – auf ein populäres Lied gleichen Titels, das in humoriger Weise Kritik an der modernen Zeit und ihren Geschlechterverhältnissen nahm und die alte Zeit, die Jugendzeit der Großeltern, verklärte: »[…] Als der Großvater die Großmutter nahm Da herrschte noch sittig verschleierte Scham Man trug sich fein ehrbar und fand es nicht schön In griechischer Nacktheit auf die Straße zu geh’n Als der Großvater die Großmutter nahm, Da war ihr die Wirtschaft kein widriger Kram; Sie las nicht Romane, sie ging vor den Herd, Und mehr war ihr Kind als der Schoßhund ihr wert. […] Als der Großvater die Großmutter nahm Da war noch die Tatkraft der Männer nicht lahm; Der weibische Zierling, der feige Phantast Ward selbst von den Frauen verhöhnt und verhaßt. […]«287
Das Lied, auch bekannt als der »Großvatertanz« oder das »Großvaterlied«, wurde seit der Wende zum 19. Jahrhundert in Volksliederbüchern gedruckt, und
286 Als der Großvater die Großmutter nahm. Nach dem Gemälde von F. Vezin, in: ANW 1894, S. 600-601; »Als der Großvater die Großmutter nahm«. Nach dem Gemälde von Carl Marr, in: DA 1893, S. 261; Als der Großvater die Großmutter nahm, in: GL 1890, S. 232f. 287 Langbein, August Friedrich Ernst: A. F. E. Langbein's sämmtliche Schriften. Bd. 3: Gedichte, dritter Teil, Stuttgart: Scheible 1841, S. 191.
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stellte sogar den Titel eines populären Liederbuches des späten 19. Jahrhunderts.288 Die Wanderung des Motivs und der Textzeile von einem Liedtext hin zu Visualisierungen im Gemälde, die wiederum in das Medium der Familienzeitschrift reproduziert wurden, ist ein Beispiel für den intermedialen Transfer von Motiven.289 Das Beispiel zeigt, dass sich in diesen Transferprozessen Anachronismen einschleichen konnten: Die Familienzeitschriften nutzten die Textzeile, um auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zu verweisen, in der die Großeltern der ZeitgenossInnen jung waren und sich verlobten. Dass das Lied eigentlich aus dem späten 18. Jahrhundert stammte und die Geschlechterverhältnisse jener Zeit kritisierte (deutlich wird dies etwa an der Zeile über die »griechische Nacktheit«, die auf die um 1800 übliche ›antike‹ und durchaus körperbetonte Mode verwies), hinderte nicht daran, den Liedtitel mit Szenen eben aus dem frühen 19. Jahrhundert zu visualisieren – die im Lied kritisierte Epoche wurde so zu einer goldenen und etwas altmodischen Vergangenheit umgedeutet. Diese Zeitsprünge funktionierten problemlos, war doch der Antimodernismus des Liedes selbst zeitlos und bediente antiemanzipatorische Ressentiments, die sich über viele Epochen hinweg hielten und noch halten. Die gewisse Zeitlosigkeit war zugleich Charakteristikum historischer Genrebilder. Diese zeigten Szenen aus dem täglichen Leben, in denen lediglich Kleidung und Hintergrund auf den historischen Charakter des Bildes verwiesen. In dem Beispiel der Großeltern verwiesen Dreispitz, Halstuch und Gehrock des Großvaters sowie das hoch taillierte und locker fallende Kleid der Großmutter auf das frühe 19. Jahrhundert. Historische Genrebilder waren an kein konkretes historisches Ereignis gebunden, sondern sollten vielmehr den Charakter einer Epoche ausdrücken und spielten mit bestimmten Symbolen, die mit der jeweiligen Epoche in Verbindung gebracht wurden.290 Auf diese Weise wurde den LeserInnen von Familienzeitschriften über wohlbekannte Alltagsszenen Geschichte nah gebracht und greifbar gemacht – so erfüllten historische Genrebilder eine ähnliche Funktion wie alltagshistorische Artikel. Wiederum stärker ereignisgebunden war schließlich eine dritte Form der bildlichen Geschichtsdarstellung, die des historischen Ereignisbildes.
288 Wustmann, Gustav: Als der Großvater die Großmutter nahm. Ein Liederbuch für altmodische Leute, Leipzig: Grunow 1887. 289 Irina Rajewsky definiert Intermedialität sehr weit als »Mediengrenzen überschreitende Phänomene, die mindestens zwei konventionell als distinkt wahrgenommene Medien involvieren.« Rajewsky, Irina O.: Intermedialität, Tübingen: Francke 2002, S. 13. 290 Vgl. Schweizer (2004), S. 47.
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Kriegsdarstellungen als Ereignisbilder Ereignisbilder waren Illustrationen, die nicht retrospektiv, sondern zeitnah zur dargestellten Szene entstanden und so aus dem Schema des Historiengemäldes teilweise herausfielen.291 Die visuellen Darstellungen des Deutsch-Französischen Krieges in Familienzeitschriften sollen hier als Beispiele für Ereignisbilder untersucht werden. Nicht nur in der Berichterstattung während des Krieges, sondern auch in der Erinnerung an den Krieg konnte Malerei zu einem wichtigen, wenn nicht zu dem wichtigsten Element der Medialisierung und Popularisierung werden. Frank Becker hat herausgearbeitet, dass die Visualisierung der Einigungskriege, besonders des Krieges von 1870/71 größtenteils über illustrierte Zeitschriften vollzogen wurde, die eigene Bildberichterstatter an die Front schickten und zeitnah deren Skizzen und Zeichnungen als Holzstiche reproduzierten.292 Viele dieser vor Ort angefertigten Zeichnungen dienten den Malern in den Jahren und Jahrzehnten nach dem Krieg als Vorlagen für Schlachten- und Genregemälde, die wiederum in Zeitschriften reproduziert wurden. Auf diese Weise wanderten zahlreiche Bildmotive durch verschiedene Medien.293 Die Gartenlaube etwa, die sich des Themas nicht nur während des Krieges, sondern auch in der späteren Erinnerung besonders intensiv annahm, druckte 1870/71 in beinahe jeder Ausgabe Holzstichreproduktionen von Zeichnungen von der Front. In späteren Jahren reproduzierte sie fast ausschließlich retrospektiv entstandene Gemälde über den Krieg, die von deutlich besserer Qualität waren als die während des Kriegs entstandenen Zeichnungen. Auch das Daheim druckte im Untersuchungszeitraum regelmäßig Gemälde des Deutsch-Französischen Krieges, seltener die Sonntags-Zeitung und die Alte und Neue Welt. Lediglich die Neue Welt, die den Krieg im Text nur in Bezug auf die Pariser Commune erinnerte,294 re-
291 Vgl. Becker (2001a), S. 429f. Natürlich ist die Frage, wann Retrospektivität beginnt, relativ, konnten doch auch Ereignisbilder immer erst nach dem abgebildeten Ereignis entstehen oder fertiggestellt werden. Und auch zeitnah entstandene Darstellungen ließen sich in der Retrospektive der Rezeption wie ein Historiengemälde lesen, sie dienten der Visualisierung von Geschichte und waren so im Nachhinein ›historisch‹ geworden. 292 Vgl. ebd., S. 384-386. 293 Vgl. Becker, Frank: »Deutungswaffen und Leitbilder. Die Bildwelt des DeutschFranzösischen Krieges von 1870/71«, in: Gerhard Paul (Hg.), Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, S. 114-133, hier S. 125f. 294 Vgl. Brod., J., Das Ende. Erinnerungen an die Kommune. Nach C. Pelletan, in: NW 1901, S. 155-156, 163-164; Demmer, A., Bilder aus der Märzrevolution von 1871, in: NW 1912, S. 85-86.
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produzierte im Untersuchungszeitraum kein einziges der zahlreichen im Kaiserreich entstandenen Kriegsbilder. Abbildung 17: Schlachtenmalerei des Deutsch-Französischen Krieges
Quelle: In der vordersten Linie bei Sedan. Nach einem Gemälde von Prof. C. Röchling; in: SZ 1909/10, S. 1195.
»Die vorderste Linie bei Sedan«, die halbseitige Reproduktion eines Gemäldes des berühmten Militärmalers Carl Röchling in der Sonntags-Zeitung 1909/10, war in vielerlei Hinsicht ein typisches Beispiel für die visuelle Darstellung des Deutsch-Französischen Krieges. Das Gemälde, das für den Druck abfotografiert und autotypisch reproduziert worden war, zeigt eine Armeeeinheit im Kampf; der Blick des Betrachters reicht weit über das Schlachtfeld, hinten links ist Feuer zu sehen, dessen Rauch Richtung Bildmitte zieht, im Mittelpunkt der Darstellung sieht man Infanteristen mit einer Flagge (vgl. Abbildung 17). Das Bild foondern auf ihre Masse; nicht der Einzelne kussiert nicht auf einzelne Soldaten, sond ist hier Akteur, sondern die gesamte Kompanie. Der halbseitige Begleittext schilderte den Schlachtverlauf detailreich und klärte darüber auf, dass es sich bei der gezeigten Einheit um das sechste und siebte bayrische Regiment handle, die sich im Kampf um Sedan durch »Tapferkeit und Todesverachtung«295 ausgezeichnet hätten.
295 Anonym (H.), In der vordersten Linie bei Sedan. Zu unserem Bilde auf Seite 1195, in: SZ 1909/10, S. 1208.
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Carl Röchling, Schüler des Historienmalers Anton von Werner, war ein erfolgreicher und berühmter Militärmaler, dessen zahlreiche Bilder aus dem Deutsch-Französischen Krieg auch in anderen Zeitschriften reproduziert wurden.296 Es war üblich, zur Visualisierung des Kriegs von 1870/71 auf die Werke etablierter Militärmaler zurückzugreifen, so fanden sich in Familienzeitschriften etwa auch Bilder von Karl Becker.297 Die Werke standen in einer langen Tradition der Militär- und Schlachtenmalerei, die ursprünglich an höfische Kultur gebunden war und im Auftrag von Fürsten ausgeführt wurde. Die Nähe zur Historienmalerei lag in der Wahl der Bildmotive begründet. Diese visualisierten Wendepunkte des Schlachtenverlaufs und rekurrierten damit auf den Anspruch der Historienmalerei, entscheidende Schlüsselszenen der Geschichte zu markieren. Zudem verwies der Anspruch auf authentische Abbildung der Wirklichkeit auf das Genre der Historienmalerei.298 Der Anspruch manifestierte sich vor allem in der Darstellung von Uniformen und Waffen, die korrekt bis ins letzte Detail abgebildet wurden.299 Auch die zugehörigen Textelemente wiederholten die kleinteilige Genauigkeit: Bildtitel wie »Sturm der Garde auf Le Bourget (30. Oktober 1870)« beinhalteten oftmals ein genaues Datum des dargestellten Ereignisses,300 und die Begleittexte griffen die genaue Datierung der Szenen bis hin zur Uhrzeit auf, erläuterten die Vorgeschichte und die gezeigte Szene detailreich und nannten nicht allein die Kompanie, sondern auch beteiligte Personen namentlich, so auch der Begleittext zum oben gezeigten Bild Röchlings:
296 Sturm der Garde auf Le Bourget (30. Oktober 1870). Nach einem Gemälde von C. Röchling, in: GL 1897, S. 736-737; Erbeutung einer Fahne bei Amiens durch die 69er am 27. November 1870. Nach dem Gemälde von C. Röchling, in: GL 1904, S. 481; Das Gefecht von Bussurel am 15. Januar 1871 während der Kämpfe an der Lisaine. Nach einem Gemälde von Professor Karl Röchling, in: SZ 1908/09, S. 373. 297 Die Leibhusaren in der Schlacht bei Artenay am 10. Oktober 1870. Gemälde von Karl Becker, in: GL 1904, S. 885; Die »Elfer« bei Le Mans am 11. Januar 1871. Gemälde von Karl Becker, in: GL 1905, S. 69. 298 Vgl. Becker (2001a), S. 429-432. 299 Vgl. zur Authentizitätskonstruktion über die exakte Darstellung materieller Details Germer (1998), S. 45. 300 Vgl. Sturm der Garde auf Le Bourget (30. Oktober 1870). Nach einem Gemälde von C. Röchling, in: GL 1897, S. 736-737; vgl. auch Die Leibhusaren in der Schlacht bei Artenay am 10. Oktober 1870. Gemälde von Karl Becker, in: GL 1904, S. 885; Die Sechzehner bei Mars-La-Tour am 16. August 1870, in: SZ 1911, S. 1138-1139.
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»Als der Kommandant General den Kanonendonner von der Givonne her vernahm und den Befehl des Kronprinzen von Preußen erhielt, das I. bayrische Korps zu unterstützen, ordnete er sofort an, daß die 5. Brigade, Regimenter 6 und 7 mit zwei Batterien und dem 1. Chevauleger-Regiment, nach Bazeilles abrücken sollte […]. Um elf Uhr hier angekommen, erhielt die Brigade vom General von der Thann den Befehl, sich gegen Balan und die anstoßenden Höhen zu wenden. Infolgedessen ging die Brigade westlich Bezeilles vorbei in der befohlenen Richtung vor, vorn im ersten Treffen das 6. Regiment, dahinter das 7. als Reserve.«301
Diese Detailtreue war sicherlich nicht allein eine Authentifizierungsstrategie, sondern mochte sich auch an mögliche Veteranen unter den Lesern richten, die sich auf diese Weise als relevante Akteure der Geschichte in ihren Zeitschriften wiederfanden. Dementsprechend zeigten die Schlachtenbilder in der Regel auch nicht die Heldentaten Einzelner, so wie etwa in Visualisierungen der Befreiungskriege üblich, sondern häufig war wie im Beispiel Röchlings die gesamte Kompanie im Angriff zu sehen. Hier lag ein wichtiger Unterschied zur Historienmalerei, die meist auf individuelle Personen und deren historische Leistungen fokussierte. Dies rekurrierte, wie Frank Becker herausgearbeitet hat, auf ein neues Verständnis von Heldentum, das nicht auf den individuellen Heroismus des Einzelnen fokussierte, sondern auf Pflichterfüllung, Anstand und Professionalität, auf genuin bürgerliche Heldentugenden also.302 Die Visualisierung von Geschichte durch Historienmalerei-Reproduktionen war ein Spezifikum populärer Geschichte im Allgemeinen und von Familienzeitschriften im Besonderen. Der bildlichen Darstellung von Geschichte wurde eine große sinnliche Wirkmächtigkeit zugesprochen. Die drei Genres historischer Malerei haben gezeigt, dass die bildliche Darstellung von Geschichte im Gemälde verschiedene Funktionen hatte: Sie war Repräsentation vergangener Ereignisse, Anbindung der Vergangenheit an das Vertraute und Alltägliche, die mit Romantisierung und Verklärung einhergehen konnte, und diente der Wiedererkennung von Ereignissen der jüngsten Geschichte. Gleichzeitig war die Darstellung von Geschichte im Gemälde auch immer eine Darstellung (und Demokratisierung) von Kunst, so dass nicht unbedingt die historischen Inhalte im Vordergrund der Rezeption stehen mussten.
301 Anonym (H.), In der vordersten Linie bei Sedan. Zu unserem Bilde auf Seite 1195, in: SZ 1909/10, S. 1208; vgl. auch Tanera, Karl, »Auf dem Wege nach Orleans« (Zu dem Bilde von L. Kolitz), in: DA 1900, S. 104-107; Bremen, Walter von, Zwei preußische Fahnen im Kriege 1870, in: DA 1903, Nr. 16, S. 18-21. 302 Vgl. Becker (2001a), S. 434f., 443f.
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F AMILIENZEITSCHRIFTEN IM K ONTEXT DER DEUTSCHEN G ESCHICHTSKULTURLANDSCHAFT : Z USAMMENFASSUNG Das Kapitel hat die Charakteristika populärer Geschichte in Familienzeitschriften untersucht und Familienzeitschriften innerhalb der deutschsprachigen Geschichtskulturlandschaft des späten 19. Jahrhunderts verortet. Die Fragestellung lautete dabei, auf welche Weise Familienzeitschriften historisches Wissen generierten, auf welche Ressourcen und Traditionen sie dabei zurückgriffen, und welche innovativen Leistungen sie erbrachten. Die Analyse hat gezeigt: Die Zeitschriften verknüpften zahlreiche geschichtskulturelle Zugänge, standen in verschiedensten Traditionslinien und interagierten mit vielen anderen geschichtskulturellen Feldern und Institutionen. Gerade diese Wechselwirkungen, aber auch die spezifische mediale Form, die fragmentarisch war und Vielfalt zuließ, waren die wichtigsten Charakteristika populärer Geschichte in Familienzeitschriften. Auf Ebenen von Inhalt, Methoden, AkteurInnen, Medien und Erkenntnisinteressen standen Familienzeitschriften in Interaktionen mit anderen geschichtskulturellen Feldern. So waren ihre Autoren oftmals in verschiedensten geschichtskulturellen Feldern tätig, wie am Beispiel von Militärhistorikern und auch bereits am Beispiel der Karrierewege verschiedenster AutorInnen in Kapitel 3 deutlich geworden ist. Auch in der Rezeption von Sekundärliteratur zeigt sich die enge Bindung der Familienzeitschriften an andere populäre Historiographie und an die Fachwissenschaft: Die Zeitschriften rezipierten Fachliteratur und brachten ihren LeserInnen Forschungskontroversen und damit auch die Prozesse akademischer Wissensgenerierung näher. Die Nähe zur Fachwissenschaft lag zudem im Umgang mit Quellen, waren doch in der populären wie der akademischen Geschichte Quellen zentral für die historische Erkenntnis. Zugleich konstituierte sich aber gerade ein spezifisch populäres Geschichtsverständnis über Quellen, die als letzte und absolute Garanten historischer Objektivität behandelt wurden und als Träger der historischen Wahrheit galten, die gleichsam in ihnen schlummere. Dieses spezifisch populäre Objektivitätsverständnis wurde vor allem in Artikeln deutlich, die sich der Aufklärung historischer Legenden widmeten. Legenden als faktuale Geschichtserzählungen, die nach Ansicht der AutorInnen unwahr waren, wurden auf die Phantasie und das Bedürfnis nach HeldInnenverehrung der bäuerlichen ›Volksschichten‹ zurückgeführt, aber auch auf die jeweilige Perspektive des Historikers, die oftmals eine objektive Geschichtsbetrachtung verunmögliche. Noch weiter ging die sozialdemokratische Neue Welt, die »Geschichtslügen« auf bewusste Verfälschungen bürgerlicher und herrschaftstreuer
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Historiker zurückführte. Hinter beiden Konzeptionen, die davon ausgingen, dass HistorikerInnen auch irren könnten, stand die Annahme einer historischen Wahrheit, die gleichsam hinter der Historiographie stehe. Hier unterschieden sich die populären Zeitschriften von der Fachwissenschaft, bei der die Objektivitätskriterien im Forschungsprozess selbst lagen, indem sie ausgehend vom Bewusstsein über die Standortgebundenheit des Historikers durch strenge Methodik die Überprüfbarkeit der Ergebnisse sicherte. Doch auch über ihre Funktion als Authentizitätsmarker hinaus waren Quellen wichtige Bestandteile der Geschichtsschreibung in Familienzeitschriften. Sie wurden als unterhaltsame Einblicke in die Vergangenheit genutzt, und insbesondere über Alltagsgeschichtsschreibung erschlossen Familienzeitschriften neue Quellengattungen, die in der Fachwissenschaft in der Regel nicht verwendet wurden, so etwa Periodika, Egodokumente und Bilder. Ein wichtiges Spezifikum populärer Historiographie war die Verbindung der Vergangenheit mit der Lebenswelt der LeserInnen, die Geschichte greifbarer und anschaulicher machte. Dies geschah vor allem über die Kulturgeschichte, die an den Alltag der LeserInnen anschloss, und als zentrales Moment den Begriff des Volks in drei Bedeutungen als nationale Gemeinschaft, Bauerntum und als soziale Unterschicht nutzte. Diese Form der Kulturgeschichte befand sich in Tradition zur älteren Kultur- und Sittengeschichte der 1850er und 1860er Jahre. Im narrativen Stil und der Konzentration auf bäuerliche Volks- und Alltagskultur ähnelten viele Artikel den zeitgenössisch bekannten und beliebten Werken Riehls, Scherrs oder Freytags. Die eigene und innovative Form der Zeitschriften ergab sich dabei vor allem aus dem medialen Format, das ihr einen fragmentarischen und wenig teleologischen Charakter gab und eine große thematische Bandbreite zuließ. Als weitere Form spezifisch populärer Geschichte wurden Reproduktionen von Gemälden untersucht, die als Historienbilder konkrete Ereignisse visualisierten, in Form historischer Genrebilder zeitlose Szenen zeigten, die nur durch Kulisse und Ausstattung historisiert wurden, und in Gestalt historischer Ereignisbilder inhaltlich nah am Historienbild waren, aber zeitnah zum jeweiligen Ereignis produziert worden waren anstatt retrospektiv. Die bildliche Darstellung von Geschichte unterschied populäre Zugänge klar von der Fachwissenschaft und war zugleich ein Spezifikum des Zeitschriftengenres, das seine Beliebtheit zu großen Teilen aus seiner Illustration zog. Die Reproduktion von Historiengemälden macht zudem deutlich, dass Geschichte und Kunst in Zeitschriften nicht immer klar trennbar waren, bedienten die Bilder doch beide Sparten und waren Zeitschriften doch Medien der Popularisierung nicht nur von Geschichte, sondern auch von Kunst.
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Mit diesen spezifischen Formen der Geschichtsschreibung hatte populäre Geschichte in Familienzeitschriften zum Teil eine Innovationsfunktion und historisierte diverse Themen, lang bevor die Fachhistorie sich mit diesen beschäftigte. Die Rückwirkungen des populären Wissens auf die Wissenschaft lassen sich am besten langfristig untersuchen. Kulturgeschichte, Alltags- und Frauengeschichte, die Arbeit mit Bildern als Quellen oder auch Sozialgeschichte fanden erst mit großer Verzögerung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihren Weg in die Universitäten. Ob die Aufstiege der Sozialgeschichte in den 1960er und 70er Jahren und der Neuen Kulturgeschichte in den 1980er und 90er Jahren jedoch als eine direkte Rückwirkung der früheren populären Historiographie zu sehen sind, bleibt fraglich, bezogen und beziehen Sozial- und KulturhistorikerInnen des 20. und 21. Jahrhunderts sich doch in der Regel nur wenig auf die älteren populären Ansätze. Ein verstärkter Rückgriff auf diese älteren Formen populärer historischer Darstellung wäre allerdings in vielerlei Hinsicht lohnend, waren doch viele innovative Ansätze der Geschichtswissenschaft des 20. und 21. Jahrhunderts schon in der Populärhistorie des 19. Jahrhunderts angelegt.
7. Populäre Geschichte in Familienzeitschriften 1890-1913 Resümee
Die Geschichtskulturlandschaft des Wilhelminischen Kaiserreichs war ein weit gespanntes Netzwerk unterschiedlichster Erinnerungsgemeinschaften und Institutionen, die Anknüpfungspunkte teilten, sich gegeneinander abgrenzten und in Bezug auf die Vergangenheit verschiedenste Zugänge und Deutungen pflegten. Familienzeitschriften agierten innerhalb dieser Landschaft als Medien und Akteure der Geschichtskultur. Geschichtskultur, verstanden als die Art einer Gesellschaft, mit Geschichte umzugehen, konstituierte sich durch verschiedene Faktoren: Die Medien, in denen Geschichte dargestellt und transportiert wurde; die AkteurInnen, die am Prozess der Generierung und Distribution von Geschichtswissen beteiligt waren; die gesellschaftlichen Strukturen, Normen und Diskurse, innerhalb derer Geschichte be- und verhandelt wurde; und nicht zuletzt die Inhalte der Geschichtsschreibung selbst. Dieses breite Verständnis, das Geschichtskultur in enger Verknüpfung mit gesellschaftlichen Strukturen, Gruppenidentitäten und Normierungsprozessen sieht, lag der vorliegenden Arbeit zugrunde. Ausgehend von Geschichtsartikeln in Familienzeitschriften wurden die ProduzentInnen und RezipientInnen dieser Zeitschriften in den Blick genommen und die Wechselwirkungen von Geschichtsschreibung mit Milieubildungsprozessen und sozialen Ungleichheitsstrukturen untersucht. Da Geschichte nicht allein mit gesellschaftlichen Strukturen, Normen und Identitäten interagierte, sondern auch in historiographischen Netzwerken und Traditionslinien verortet war, untersuchte diese Arbeit die Charakteristika der populären Geschichtsschreibung in Familienzeitschriften vor dem Hintergrund der zeitgenössischen deutschen Geschichtskulturlandschaft. Populäre Geschichtsschreibung in Familienzeitschriften, so kann zusammenfassend festgehalten werden, stand in vielfältigen Wechselwirkungen einerseits
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mit ihrem gesellschaftlichen Umfeld, andererseits mit den AkteurInnen, Medien, Institutionen und Denkweisen der breiten deutschen Geschichtskulturlandschaft. Familienzeitschriften zeichneten sich durch den prinzipiell universalen Anspruch aus, ein Medium »für alle« zu sein, also von allen Generationen, beiden Geschlechtern, allen sozialen Schichten und in Stadt und Land gelesen zu werden. Faktisch traf dies höchstens auf die Gartenlaube zu, die in ihrer Verbreitung eine Sonderstellung einnahm, und damals wie heute als ›die‹ deutsche Familienzeitschrift galt. In der Regel erreichten die Zeitschriften ein (klein-)bürgerliches Publikum und waren durch ihre politische und konfessionelle Ausrichtung milieugebunden. So sprach die Alte und Neue Welt eine katholische, das Daheim eine protestantische LeserInnenschaft an. Das Daheim verstand sich zudem als eine nicht nur christliche, sondern auch konservative Antwort auf die liberalere Gartenlaube. Die Neue Welt hingegen war in der sozialdemokratischen Presselandschaft situiert und richtete sich an ein vorwiegend proletarisches Publikum. Anhand des Milieumodells von Lepsius konnten die vier Zeitschriften Alte und Neue Welt, Daheim, Gartenlaube und Neue Welt im katholischen, protestantischkonservativen, protestantisch-liberalen sowie sozialdemokratischen Milieu verortet werden. Die Sonntags-Zeitung wurde hier insofern aus der MilieuVerortung herausgenommen, als dass sie ein geschlechtsspezifisches Publikum ansprach und sich weniger an den konfessionellen und sozioökonomischen Faktoren der Milieubildung orientierte als die anderen Zeitschriften. Im Vergleich der Zeitschriften zeigte sich, dass Geschichtskulturen sich in hohem Maße durch Milieugebundenheit auszeichneten. Gleichzeitig wiesen sie aber auch viele milieuübergreifende Gemeinsamkeiten auf und waren zudem durch weitere soziale Differenzen strukturiert, die quer zu Milieugrenzen lagen. Die Arbeit konnte vier Kategorien sozialer Differenz ausmachen, die deutsche Geschichtskulturen des späten 19. Jahrhunderts auf struktureller wie auf identitärer Ebene in hohem Maße konstituierten: ethnokulturelle und räumliche Zugehörigkeit, Klasse/Stand, Geschlecht sowie Religion und Konfession. Diese vier Kategorien waren wichtige Faktoren von Milieubildungsprozessen, stellten aber auch soziale Ordnungsfaktoren dar, die sowohl milieuübergreifend als auch intern hierarchisch strukturierend wirkten. Die Kategorien sozialer Differenz wirkten in ihrem Zusammenspiel mit sozialen Milieus in verschiedener Weise auf Geschichtskulturen ein: Sie regelten Zugänge zu Bildung und zu historischer Deutungshoheit, sie strukturierten das jeweilige Lesepublikum der einzelnen Zeitschriften und deren AutorInnenschaft, und sie hatten Einfluss auf Inhalte und Geschichtsdeutungen der Zeitschriften. Die Untersuchung ethnokultureller Zugehörigkeiten ergab, dass die Geschichtsschreibung von Familienzeitschriften durch verschiedenste Bindungen
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und Zugehörigkeiten geprägt war. Identitäten wurden über lokale, regionale, nationale oder gesamteuropäische Geschichtserzählungen hergestellt. Dabei stellte sich heraus, dass die Frage des Raumes nicht ohne den zeitlichen Faktor gedacht werden kann: So wurde etwa nationale Geschichte zu großen Teilen über die Geschichte des 19. Jahrhunderts konstruiert. Sämtliche Zeitschriften legten ihren Schwerpunkt auf die Geschichte des deutschsprachigen Raumes, doch auch andere europäische Länder oder Europa als Kulturraum wurden häufig thematisiert, wobei allerdings der außereuropäische Raum oftmals enthistorisiert und als anthropologische Grundlage der eigenen Kultur angenommen wurde. In allen Zeitschriften erwies sich das Christentum als dominante Religion der Geschichtsdarstellungen. Die konfessionelle Verortung war vor allem in der katholischen Alten und Neuen Welt und im protestantischen Daheim ein äußerst wichtiger Faktor der Geschichtsschreibung. Religion war hier ein viele Artikel durchziehendes Thema. Beide Zeitschriften verfolgten nicht nur unterschiedliche Interpretationen von Ereignissen wie etwa der Reformation, sondern wiesen auch andere inhaltliche Schwerpunkte auf: Während für das protestantische Daheim die neuere Geschichte seit der Reformation, und zu großen Teilen auch die jüngste Geschichte des 19. Jahrhunderts, wichtige Identitätsfaktoren waren, legte die Alte und Neue Welt einen ungleich größeren Schwerpunkt auf das Mittelalter und das Urchristentum der Antike. Im Urchristentum ergab sich ein geteilter Schwerpunkt mit der sozialdemokratischen Geschichtskultur, die auf der Suche nach historischen Vorläufern der ArbeiterInnenbewegung bei der verfolgten Gemeinschaft der frühen ChristInnen fündig wurden. Kontinuitäten zu zeitgenössischen sozialen Ungleichheiten und Herrschaftsverhältnissen fand die Neue Welt zudem in der Diskriminierung und Verfolgung von Juden und Jüdinnen in der Geschichte – die Zeitschrift war damit die einzige, die sich ausführlich mit jüdischer Geschichte auseinandersetzte. Alle Zeitschriften befassten sich intensiv mit Aberglauben – die Abgrenzung von diesem war eine Möglichkeit, sich sowohl religiös als auch wissenschaftlich-aufgeklärt zu präsentieren. In der Verhandlung von Klassenverhältnissen und -identitäten unterschied sich vor allem die sozialdemokratische Neue Welt inhaltlich von den anderen Zeitschriften, da sie ihren Schwerpunkt auf sozioökonomische Ungleichheiten und Wandlungen in der Geschichte legte und sich für Arbeitsorganisation und Arbeitskämpfe interessierte. Die Geschichtsschreibung diente hier nicht allein der Erklärung zeitgenössischer sozialer Verhältnisse in ihrer historischen Genese, sondern auch der eigenen Historisierung der ArbeiterInnenbewegung, die sich in eine lange Tradition historischer Klassenkämpfe stellen konnte. Theoretisch orientierte sich die Neue Welt dabei am Konzept des Historischen Materialismus, den die AutorInnen zugleich allgemeinverständlich zu erklären versuch-
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ten. Das Beispiel der verschiedenen Deutungen der Revolution von 1848 hat auch für die anderen Zeitschriften deutlich gemacht, wie eng soziale Herkunft, politische Positionierung und Geschichtsinterpretation zusammenhingen und dass Geschichtsschreibung immer auch ein politisches Projekt war. Die Kategorie Geschlecht schließlich zeigte sich als am wenigsten milieugebunden, durchzog aber die Geschichtsschreibung in Familienzeitschriften auf verschiedenen Ebenen. Die Ausschlüsse von Frauen sowohl aus der Fachwissenschaft als auch weitgehend aus den Inhalten der Geschichtsschreibung wurden zwar von Familienzeitschriften vielfach reproduziert, aber häufig auch aufgebrochen, indem Frauen hier als Historikerinnen tätig waren und als historische Akteurinnen sichtbar gemacht wurden. Dies geschah vor allem über Biographien berühmter oder auch unbekannterer Frauen, aber auch über die Thematisierung weiblicher Lebensbereiche in der Kultur- und Sozialgeschichte. Der zweite Teil dieser Arbeit untersuchte die Geschichtsschreibung von Familienzeitschriften im Kontext der deutschen Geschichtskulturlandschaft des 19. Jahrhunderts. Die Zeitschriften erwiesen sich dabei als Knotenpunkte in einem breiten geschichtskulturellen Netzwerk und standen in vielfältigem personellem wie inhaltlichem Austausch mit anderen geschichtskulturellen Institutionen und Medien. So waren die AutorInnen von Familienzeitschriften in der Regel auch in anderen Bereichen der Geschichtskultur aktiv: Sie betrieben historische Forschung innerhalb oder außerhalb der Universitäten, verfassten historische Romane, oder waren in Archiven, Bibliotheken und Museen tätig. Gerade zwischen dem akademischen und dem populären Bereich der Geschichte existierten viele personelle Verbindungen. Zahlreiche Zeitschriftenautoren waren Grenzgänger, die akademisch wie populär tätig waren, so dass sich schon hier zeigt, dass beide Bereiche der Geschichtsschreibung höchstens analytisch voneinander trennbar sind. Die Wechselwirkungen mit der akademischen Historiographie zeigten sich auch in den Inhalten der Familienzeitschriften: Die AutorInnen rezipierten neben anderen populären Werken auch die Forschungen der Fachwissenschaft und suchten ihren LeserInnen die akademischen Arbeitsweisen und Erkenntnisprozesse nahe zu bringen, indem sie sich ganzer Forschungskontroversen annahmen. In der Konzeption der Familienzeitschriften von Wissenschaftlichkeit zeigte sich dabei sowohl die Nähe zur Fachwissenschaft als auch das spezifisch Populäre der Historiographie in Familienzeitschriften: Sichere historische Erkenntnis, so die Meinung vieler ZeitschriftenautorInnen, sei einzig über das Studium von Quellen möglich. Hier befand man sich nah an der Fachwissenschaft. Doch konstruierten Familienzeitschriften über Quellen eine Vorstellung von historischer Objektivität, die kein derartiges Äquivalent in der Fachwissenschaft hatte: Quel-
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len galten als letzte historische Instanz, welche die Wahrheit, die gleichsam in ihnen schlummerte, ans Licht bringen würden. Die Geschichte selbst war auf diese Weise in den Quellen repräsentiert und wurde oftmals als Richterin umschrieben, welche die Wahrheit schonungslos aufdecken würde. Dieses Verständnis von quellenbasierter Objektivität wurde etwa in dem Bestreben aller Zeitschriften deutlich, unwahre historische Legenden richtigzustellen: Diese wurden auf eine bäuerliche Volkskultur und das Bedürfnis der Menschen nach strahlenden HeldInnen zurückgeführt, galten manchen AutorInnen aber auch als bewusste oder unbewusste Fälschungen im Sinne einer Geschichte der SiegerInnen. Gemein war allen Artikeln, die sich mit solchen Legenden auseinandersetzten, dass sie von einer geschichtlichen Wahrheit ausgingen, die es aufzudecken gelte. Auch die Fachwissenschaft knüpfte ihr Objektivitätsverständnis an die korrekte Handhabe der Quellen, doch war die Idee der Genese objektiver Erkenntnisse auf Basis eines überprüfbaren methodischen Vorgehens hier zumindest theoretisch dem Wissen geschuldet, dass historisches Wissen immer standortgebunden und perspektivisch sei, wenn auch die akademische Praxis in der Regel wenig methodisch und theoretisch reflektiert war. So war das Objektivitätsverständnis der Familienzeitschriften, die von der Existenz einer aufzudeckenden historischen Wahrheit ausgingen, ein spezifisch populäres, das aber dennoch Nähe zur fachwissenschaftlichen Praxis aufwies. Spezifisch populär war auch die Erschließung neuer Quellengattungen durch die Zeitschriften. Die AutorInnen, die oft selbst historische Forschung betrieben, nutzten Egodokumente, Periodika oder Gemälde als historische Quellen der Alltagsgeschichte und hoben sich dabei sowohl in ihrem Fokus auf Alltagskultur als auch in ihrer dabei verwendeten Quellenauswahl von der stärker politikbasierten Fachwissenschaft ab. Die Thematisierung historischer Alltagskulturen war ein Weg, Geschichte an die Lebenswelt der LeserInnen anzubinden und somit greifbar und erfahrbar zu machen. Auch politische Geschichte und die Biographien ›großer‹ Männer und Frauen waren in den Zeitschriften äußerst präsent. Dieser Kreis der historischen AkteurInnen wurde ausgeweitet und das ›Volk‹ in vielen Artikeln in den Mittelpunkt der Geschichtsschreibung gerückt. Der Begriff des Volkes konnte dabei äußerst unterschiedliche Gruppen benennen: Er konnte nationale Gemeinschaft bedeuten oder – in der Regel eher regional gedacht – für das Bauerntum stehen. Eine dritte Konzeption war vor allem in der sozialdemokratischen Neuen Welt zu finden und bezeichnete das Volk als die unteren sozialen Schichten, die als Motor gesellschaftlicher Veränderung gesehen wurden. Der folkloristische Volksbegriff, der an die in Entstehung befindliche Wissenschaft der Volkskunde anlehnte, romantisierte im Bauerntum nicht nur authenti-
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sches und einfaches Leben, sondern verortete hier auch Zentrum und Herz einer föderal gedachten nationalen Gemeinschaft. Diese Konzeption von ›Volk‹ war vor allem in kulturhistorischen Artikeln präsent. Kulturgeschichte war ein äußerst wichtiger Teil des Geschichtsprogramms aller untersuchten Zeitschriften. Diese Artikel legten ihren Fokus auf regionale Bräuche und Traditionen und auf historische Alltagskulturen, welchen man sich häufig über zeitgenössisch bekannte Artefakte näherte. Diese Form der Kulturgeschichtsschreibung, die in lokalen bis hin zu globalen Zusammenhängen angesiedelt sein konnte und das alltägliche Leben der meist bäuerlichen Bevölkerung in den Mittelpunkt rückte, war an die Kultur- und Sittengeschichte der Jahrhundertmitte angelehnt und teilte viele Merkmale mit den Werken von Gustav Freytag, Johannes Scherr, Wilhelm Heinrich Riehl und anderen. Die Unterschiede zu deren erfolgreichen kulturhistorischen Monographien lagen vor allem im Zeitschriftenformat begründet, das statt einer zusammenhängenden Erzählung fragmentierte Geschichten zusammenstellte und weniger teleologisch angelegt war. Neben der Kultur- und Sittengeschichte verfolgten die Zeitschriften zahlreiche andere historiographische Ansätze, die populär in dem Sinne waren, dass sie kaum Einzug in die Universitäten hielten. Ein wichtiges populäres Charakteristikum der Zeitschriften war die Darstellung von Geschichte im Bild. Familienzeitschriften druckten regelmäßig Reproduktionen von Historiengemälden, historischen Genrebildern und historischen Ereignisbildern. Diese hatten die doppelte Funktion, zugleich Geschichte zu visualisieren und die Betrachtung von Kunst zu ermöglichen. Die Reproduktionen hatten einen wichtigen Einfluss auf die in Zeitschriften hergestellten Geschichtsbilder und auf die zeitgenössische Geschichtskultur, ihre Wirkung wurde als sinnlicher und oft einprägsamer als die von Texten angenommen. So prägen bekannte Historiengemälde des 19. Jahrhunderts häufig bis heute die Bilder, die wir uns von bestimmten Ereignissen und Epochen machen. Diese Beispiele zeigen, dass Familienzeitschriften ihre Geschichtsdarstellungen an verschiedenste bereits vorhandene Teile der Geschichtskultur knüpften – die dort popularisierte Geschichte blickte teilweise auf lange Traditionen zurück. Zugleich war es aber gerade das Zusammenbringen der vielen Formen von Geschichtsschreibung, das die Historiographie der Familienzeitschriften charakterisierte und einzigartig machte. Das Genre Familienzeitschrift stellte den formalen Rahmen, innerhalb dessen die diversen Inhalte und Zugänge vereinheitlicht und zu einer eigenen Form der Geschichtsschreibung transformiert wurden. Das Forschungsfeld der Geschichtskulturforschung, in welchem in den letzten 20 Jahren viele spannende Studien entstanden sind, weist noch diverse Leerstellen auf, in denen weitere Forschung möglich wäre. Im Bezug auf die hier un-
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tersuchte populäre Geschichtsschreibung in Familienzeitschriften wäre ein nächster Schritt ein Vergleich zwischen verschiedenen europäischen Ländern, der punktuell schon vorgenommen wurde. Familienzeitschriften waren kein rein deutsches Phänomen, sondern entstanden zeitgleich auch in anderen europäischen Staaten. Hier sind Vergleiche von nationalen Print- und Pressekulturen und Geschichtskulturen möglich, wie auch Untersuchungen der transnationalen Austauschprozesse von Inhalten, Texten und Bildern. Erste Ansätze eines Vergleichs wurden bereits im Rahmen der Forschergruppe »Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen der Gegenwart« unternommen und die Geschichtsschreibung deutscher und britischer Zeitschriften zusammen analysiert.1 Auch ein derzeit laufendes Forschungsprojekt in Siegen nimmt sich der Geschichtsschreibung in Familienzeitschriften im europäischen Kontext an.2 Transferprozesse fanden aber nicht allein zwischen verschiedenen Ländern statt, sondern, wie diese Arbeit gezeigt hat, auch zwischen verschiedenen Medien. So gelangten etwa Texte und Inhalte von Monographien oder Reproduktionen von Gemälden in die Zeitschriften. Diese intermedialen Transfers wurden hier ansatzweise untersucht, wobei eine genauere Analyse dieser Prozesse unter der Fragestellung, welche AkteurInnen und Institutionen daran beteiligt waren und wie die Inhalte sich im Transfer veränderten, lohnend wäre. Weitere mögliche Forschungsfelder sind die einzelnen Schnittstellen, an denen Personen oder Institutionen verschiedene geschichtskulturelle Felder bedienten, so etwa die amtliche Militärgeschichte des Generalstabs oder die Kulturgeschichte aus dem Umfeld des Germanischen Nationalmuseums. Zusammenfassend lassen sich die Ergebnisse dieser Arbeit folgendermaßen festhalten: Die Geschichtskulturen des späten Kaiserreichs sind nur im Plural als ein Nebeneinander verschiedener geschichtskultureller Gemeinschaften zu erfassen. Familienzeitschriften waren Akteure, die innerhalb der verschiedenen Gemeinschaften agierten, zugleich aber auch Verbindungen zwischen diversen geschichtskulturellen AkteurInnen, Institutionen, Praktiken und Denkweisen herstellten. Geschichtsschreibung in Familienzeitschriften zeichnete sich durch eine große Heterogenität von Themen und Ansätzen aus und interagierte mit verschiedensten Traditionen und Feldern der Geschichtskultur. Angepasst an die spezifische mediale Form des Zeitschriftengenres wurden die vielseitigen Inhalte zu einer eigenständigen und innovativen Form der Geschichtsschreibung transformiert, welche partiell bis heute in populären und akademischen Geschichtskulturen nachwirkt.
1
Vgl. Reusch/Lechner (2013); Korte/Paletschek (2013).
2
Vgl. http://www.uni-siegen.de/phil/geschichte/geschichte_fuer_alle/.
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren historischer Artikel in Familienzeitschriften
Alexander Baumgartner (1841-1910) Nach Abschluss des Gymnasiums trat der Schweizer Literaturwissenschaftler 1860 in den Jesuitenorden ein und übernahm in der Redaktion der Ordenszeitung »Stimmen aus Maria Laach« die Literatursparte. Baumgartner publizierte Monographien über das Leben und Werk verschiedener Literaten, hinterließ eine unvollendete »Geschichte der Weltliteratur« und verfasste erfolgreiche populäre Reiseschilderungen. Vgl. Kratz, Wilhelm: »Baumgartner, Alexander«, in: Neue Deutsche Biographie 1 (1953), S. 666. Bruno Borchardt (1859-1939) Der aus einem bürgerlichen jüdischen Elternhaus stammende promovierte Mathematiker und Physiker arbeitete als Gymnasialund Hochschullehrer in Berlin. Er war Mitglied der SPD, saß für die Partei im Brandenburgischen Proviniziallandtag und im Preußischen Staatsrat, und war als Lehrer im Arbeiterbildungsverein tätig. In der Neuen Welt veröffentlichte Borchardt wissenschafts- und kulturhistorische Artikel. Borchardt starb nach einem Überfall der SA während des Novemberpogroms 1938 an den Folgen seiner Verletzungen. Vgl. »Borchardt, Bruno«, in: Salomon Wininger (Hg.), Grosse jüdische National-Biographie, Bd. 6, Cernăuţi: Druck ›Orient‹ 1932, S. 282-283. Julian Borchardt (1868-1932) Der Sohn eines jüdischen Kaufmanns studierte Nationalökonomie und arbeitete seit den 1890er Jahren als Redakteur für verschiedene Zeitungen der Sozialdemokratie. Borchardt war neben seiner journalistischen Tätigkeiten von 1907 bis 1913 als Wanderlehrer für den Bildungsausschuss der SPD tätig und saß von 1911 bis 1913 für die SPD im preußischen Abgeordnetenhaus. 1914 verließ Borchardt, der zum linken Parteiflügel gehörte, die SPD aufgrund ihrer Bewilligung der Kriegskredite. Vgl. Schröder, Wilhelm Heinz: Sozialdemokratische Parlamentarier in den deutschen Reichs- und Landtagen 1867-1933. Biographien – Chronik – Wahldokumentation. Ein Handbuch,
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Düsseldorf: Droste 1995, S. 380; Weber, Hermann/Herbst, Andreas: Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945, Berlin: Dietz 2008, S. 112-113. Wilhelm Bölsche (1861-1939) Der studierte Philosoph und Kunsthistoriker stammte aus einem bildungsbürgerlichen Kölner Elternhaus. In den 1880er und 1890er Jahren war er in Berlin als Redakteur der Neuen Rundschau tätig, war Mitbegründer der »Freien Volksbühne« und verfasste Romane. Unter anderem aus finanziellen Zwängen heraus begann Bölsche Ende der 1890er Jahre seine Tätigkeit in der populären Naturwissenschaft. Er hielt Vorträge bei Arbeiterbildungsvereinen und publizierte zahlreiche Monographien und Aufsätze, in denen er evolutionsbiologische Ansätze popularisierte. Vgl. Bolle, Fritz: »Bölsche, Wilhelm«, in: Neue Deutsche Biographie 2 (1955), S. 400. Hans Bösch (1849-1905) Der bayrische Kulturhistoriker war seit 1867 am Germanischen Nationalmuseum tätig, zunächst als Kanzlist und Sekretär, seit 1890 als Zweiter Direktor und seit 1892 als Leiter des Kupferstichkabinetts. Als Kulturhistoriker war Bösch Autodidakt und veröffentlichte zahlreiche kulturhistorische Aufsätze und Monographien. Vgl. Deneke, Bernward: Das Germanische Nationalmuseum Nürnberg 1852-1977. Beiträge zu seiner Geschichte, München: Dt. Kunstverlag 1978. Adolf Braun (1862-1929) Braun entstammte einer bürgerlichen jüdischen Familie aus Österreich und schloss sich, wie auch seine Geschwister, der Sozialdemokratie an. Braun studierte Nationalökonomie und Statistik in Basel und Freiburg, schloss mit einer Promotion ab und war seit den späten 1880er Jahren bei verschiedenen SPD-nahen Zeitungen als Redakteur tätig. Vgl. Kotowski, Georg: »Braun, Adolf«, in: Neue Deutsche Biographie 2 (1955), S. 545-546. Rosalie Braun-Artaria (1840-1918) Einer bildungsbürgerlichen katholischen Mannheimer Familie entstammend, genoss Braun-Artaria eine umfassende Bildung. Sechzehnjährig verlobte sie sich mit dem Kunsthistoriker Julius Braun und lebte in Tübingen und München. Als Braum 1869 an Tuberkulose starb, musste Braun-Artaria allein für sich und ihre beiden Töchter sorgen und begann zu schreiben. Seit 1886 war sie als Redakteurin bei der Gartenlaube tätig. Vgl. Duttenhöfer, Barbara: »Emanzipationspotentiale in ›typischen‹ Frauenzeitschriften? Journalistinnen und Leserinnen der Illustrierten Die Welt der Frau 1904-1920«, in: Ariadne 44 (2003), S. 30-35, hier S. 33.
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Walter von Bremen Der Militärhistoriker von Bremen war Offizier im Westfälischen Regiment und in den frühen 1890er Jahren als Lehrer der Kriegsakademie und als Mitarbeiter der Kriegsgeschichtlichen Abteilung des Großen Generalstabs tätig, der er nach seiner Pension 1899 als unentgeltlicher Mitarbeiter bis 1910 angehörte. Bremen veröffentlichte diverse militärhistorische Monographien im Rahmen des Generalstabs und beim Verlag Velhagen und Klasing und militärhistorische Artikel im Daheim. Vgl. Lange, Sven: Hans Delbrück und der »Strategiestreit«. Kriegsführung und Kriegsgeschichte in der Kontroverse 18791914, Freiburg i. Br: Rombach 1995, S. 78; Raschke, Martin: Der politisierende Generalstab. Die friderizianischen Kriege in der amtlichen deutschen Militärgeschichtsschreibung 1890-1914, Freiburg: Rombach 1993, S. 77, 192. Columban Brugger (1855-1905) Geboren und aufgewachsen in Basel, trat Brugger 1868 als Klosterschüler in das Stift Einsiedeln ein, wo er Priester wurde und schließlich seit 1896 das Amt des Abtes inne hatte. Der studierte Theologe, Physiker und Chemiker lehrte am Stiftsgymnasium Einsiedeln und lebte sein Interesse für Naturwissenschaften und Technik unter anderem durch die frühe Einführung von elektrischem Licht im Kloster oder den Betrieb einer kleinen Klosterdruckerei aus. Vgl. Netzhammer, P. Raymund, P. Kolumban Brugger, O.S.B. Der neu erwählte Stiftsabt von Maria Einsiedeln, in: ANW 1896, S. 500-502. Georg Buß (*1850) Der aus Köln stammende Buß lebte in Berlin als Architekt und Redakteur der Kunstzeitschrift Moderne Kunst. Daneben verfasste er diverse Monographien über Architektur, Kunst und Kunstgeschichte. Vgl. Wrede, Richard: Das geistige Berlin. Eine Encyklopädie des geistigen Lebens Berlins, Leipzig: Zentralantiquariat der DDR 1987, S. 95. Emil Cartaus (1860-1933) Der promovierte Geologe und Höhlenkundler war bei Ausgrabungen tätig und publizierte wissenschaftliche wie populäre Werke über seine Forschungsgebiete. Er berichtete etwa in einem Artikel in der Gartenlaube direkt von seiner Forschung auf Java. Vgl. Cartaus, Emil, Auf der Suche nach dem Pithecanthropus, in: GL 1911, S. 486-490. Alexander Conrady (*1875) Der in Burscheid geborene Historiker war im Archiv der SPD tätig. Er veröffentlichte zahlreiche populärhistorische Monographien und Aufsätze in sozialdemokratischen Zeitschriften. Vgl. Kosch, Wilhelm: Deutsches Literatur-Lexikon. Bd. 2, Bern: Francke 1969.
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Heinrich Cunow (1862-1936) Aus unteren sozialen Verhältnissen stammend, machte der Sohn eines Bühnenarbeiters einen Abschluss an der höheren Bürgerschule. Nach Abschluss einer kaufmännischen Lehre arbeitete er in Hamburg als Buchhalter und schloss sich der Sozialdemokratie an. Cunow bildete sich selbst im Bereich der marxistischen Theorie und der Ethnologie weiter und betrieb als Autodidakt ethnologische Forschung. Als Redakteur und wirtschaftspolitischer Experte war er bei verschiedenen sozialdemokratischen Periodika tätig – unter anderem der Neuen Zeit, die er ab 1917 leitete – und lehrte seit 1907 an der sozialdemokratischen Parteischule in Berlin. Auch außerhalb des sozialdemokratischen Milieus konnte sich Cunow einen Namen machen und wurde 1919 außerordentlicher Professor an der Berliner Universität und Direktor des Berliner Völkerkundemuseums. Vgl. Grebing, Helga: »Cunow, Heinrich Wilhelm Carl«, in: Neue Deutsche Biographie 3 (1957), S. 439-440. Friedrich Delitzsch (1850-1922) gilt als einer der Gründer der Assyriologie. Der in eine bürgerliche Familie geborene Lutheraner war seit 1893 Ordinarius der Assyriologie zunächst in Breslau, ab 1899 in Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte lagen in der Erforschung alter vorderasiatischer Sprachen und des Alten Testaments. Vgl. »Delitzsch, Friedrich Conrad Gerhard«, in: Neue Deutsche Biographie 3 (1957), S. 582. Willy Doenges (1866-1935) Der Sohn eines Schuldirektors studierte in Leipzig und war Redakteur und Herausgeber verschiedener lokaler Zeitungen und der Zeitschrift Für die kleine Welt. Zudem war er ab 1898 für die sächsische Regierung als Beamter tätig. Vgl. Kosch, Wilhelm/Kuri, Eugen: Biographisches Staatshandbuch, Bd. 1, Bern: Francke 1963, S. 417. Karl Theodor von Eheberg (1855-1941) Einer katholischen bayrischen Familie entstammend, widmete sich Eheberg nach dem Studium der Rechtswissenschaften als Schüler Schmollers der Nationalökonomie, wo er sich 1880 habilitierte. Seit 1884 ordentlicher Professor der Universität Erlangen, gilt Eheberg als wichtiger Vertreter der historischen Schule der Nationalökonomie. 1905 wurde er geadelt. Vgl. Stucken, Rudolf: »Eheberg, Karl Theodor von«, in: Neue Deutsche Biographie 4 (1959), S. 342. Heinrich Federer (1866-1928) Der Schweizer Schriftsteller studierte Theologie und war von 1893 bis 1900 als Kaplan tätig. Aus gesundheitlichen Gründen musste er seine klerikale Karriere aufgeben und war ab 1900 als Redakteur der Neuen Züricher Nachrichten angestellt. Seit 1907 lebte er als freier Schriftsteller
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und wurde zu einem der bekanntesten katholischen Erzähler der Schweiz. Vgl. Fehr, Karl: »Federer, Heinrich«, in: Neue Deutsche Biographie 5 (1961), S. 41-42; Meier, Pirmin: Der Fall Federer. Priester und Schriftsteller in der Stunde der Versuchung. Eine erzählerische Recherche, Zürich: Ammann 2002. Franz Maria Feldhaus (1874-1957) Seit seiner Jugend war der aus einem Apothekerhaushalt stammende Feldhaus an Technik und Erfindungen interessiert und bildete sich ohne höheren Schulabschluss autodidaktisch in diesem Bereich weiter. 1908 gründete er mit der Historia-Foto GmbH das erste kommerzielle Bildarchiv in Deutschland und baute 1909 das private Archiv Quellenforschungen zur Geschichte der Technik und der Naturwissenschaften auf. Seit 1914 war Feldhaus Mitherausgeber und Autor der Geschichtsblätter für Technik, Industrie und Gewerbe. Nach dem Ersten Weltkrieg gründete er die Agentur Quellenforschungen zur Geschichte der Technik und Industrie GmbH. Feldhaus verfasste überdies zahlreiche wissenschaftliche wie populärwissenschaftliche Bücher und Aufsätze. Vgl. »Feldhaus, Franz Maria«, in: Neue Deutsche Biographie 5 (1961), S. 68; Popplow, Marcus: »Franz Maria Feldhaus – die Weltgeschichte der Technik auf Karteikarten«, in: Anke te Heesen (Hg.), Cut and Paste um 1900. Der Zeitungsausschnitt in den Wissenschaften, Berlin: Vice Versa 2002, S. 100-115; Lessing, Hans-Erhard: »Franz Maria Feldhaus. Kann man von Technikgeschichte leben?«, in: Peter Blum (Hg.), Pioniere aus Technik und Wirtschaft in Heidelberg, Aachen: Shaker 2000, S. 80-93. Gertrud Le Fort, Pseudonym Gerta von Stark (1876-1971) Die westfälische Schriftstellerin aus einem Militärhaushalt studierte seit 1908 Geschichte, Theologie und Philosophie in Heidelberg. In ihrem dichterischen Werk setzte Le Fort sich mit Religiosität und Kirchengeschichte auseinander. 1926 konvertierte sie vom Protestantismus zum Katholizismus. Vgl. Meyerhofer, Nicholas J.: Gertrud von LeFort, Berlin: Morgenbuch-Verlag 1993, S. 27. Alfred Funke (1869-1941) arbeitete als Journalist, Schriftsteller und Schulleiter. Er wurde vor allem für sein fiktionales Werk und seine Reiseberichte und Biographien bekannt. Vgl. Gödden, Walter/Nölle-Hornkamp, Iris: Westfälisches Autorenlexikon, Bd. 3, Paderborn: Schöningh 1997, S. 42-46. Anton Gisler (1863-1932) Der Priester und Professor für Dogmatik lehrte seit 1893 am Priesterseminar St. Luzu in Chur und war 1900 Mitbegründer und späterer Mitarbeiter der Schweizer Rundschau. Gisler stand auf der antimodernistischen Linie Pius X. Sein Hauptwerk »Der Modernismus« (1912), das im
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Benziger-Verlag erschien, richtete sich gegen diverse geistige Strömungen der Moderne. Vgl. Ettlin, Leo: »Gisler, Anton«, in: Historisches Lexikon der Schweiz (2006), http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D3031.php. Dorothee Goebeler (1867-1945) Die aus einem katholischen Elternhaus stammende preußische Schriftstellerin war seit Ende der 1880er Jahre ständige Mitarbeiterin verschiedener Periodika, unter anderem auch der Gartenlaube. 1904 übernahm sie die Redaktionsleitung der Berliner Hausfrau. Neben ihrer journalistischen Tätigkeit verfasste sie Romane und Erzählungen. Vgl. Budke, Petra/Schulze, Jutta: Schriftstellerinnen in Berlin 1871 bis 1945. Ein Lexikon zu Leben und Werk, Berlin: Orlanda Frauenverlag 1995, S. 144-146. Rudolf von Gottschall (1823-1909) machte sich vor allem als Roman- und Bühnenautor einen Namen. Der Sohn eines preußischen Offiziers studierte Rechtswissenschaften in Königsberg, Breslau und Berlin. Während seines Studiums schloss er sich Burschenschaften und der liberalen Bewegung an und veröffentlichte erste politische Lyrik. Zu Zeiten des Vormärz noch dem radikal-liberalen Jungen Deutschland nahestehend, vertrat er in späteren Jahren nationalkonservativere Ansichten. Neben seiner dichterischen Tätigkeiten war von Gottschall in den 1860er bis 1880er Jahren als Redakteur und Herausgeber verschiedener Zeitschriften tätig. Seit 1869 gehörte er der Gartenlaube-Redaktion an. Gottschall veröffentlichte zahlreiche Romane, Stücke und Gedichte sowie eine vierbändige „Geschichte der deutschen Nationalliteratur des 19. Jahrhunderts“. 1877 wurde er ob seiner Verdienste um die deutsche Literatur geadelt. Vgl. »Gottschall, Rudolf Karl von«, in: Helge Dvorak (Hg.), Biographisches Lexikon der Deutschen Burschenschaft, Heidelberg: Winter 1999, S. 162-163. Curt Grottewitz (1866-1905) Der promovierte Naturwissenschaftler war Autor verschiedener populärer Werke über Natur und Ökologie. Jeannot Emil von Grotthuß (1865-1920) Der aus Riga stammende Grotthuß war ein protestantischer konservativ-nationalistischer Schriftsteller und Redakteur, der seit seinem unabgeschlossenen Studium der Philosophie, Geschichte und Literatur vorwiegend in Berlin tätig war. Er war 1886 Mitbegründer der Deutschen Post, einer Zeitschrift für Auslanddeutsche, und gründete 1898 die erfolgreiche kulturpolitische Zeitschrift Der Türmer. Monatsschrift für Gemüt und Geist, die großen Einfluss in konservativ-autoritären und monarchistischen Kreisen erlangte. Nach dem Ersten Weltkrieg tat Grotthuß sich in seiner publizistischen Tätigkeit vor allem als Gegner der Weimarer Republik und als Verfechter der Dolch-
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stoßlegende hervor. Vgl. Glotz, Peter: »Grotthuß, Jeannot Emil Freiherr von«, in: Neue Deutsche Biographie 7 (1966), S. 171. Reinhold Günther (1863-1910) Der promovierte Schweizer Schriftsteller und Historiker veröffentlichte mehrere militär- und kulturhistorische Monographien. Günther gehörte nach seinem Studium als Offizier der schweizerischen Armee und in späteren Jahren der Landwehr an; 1899-1904 war er als Redakteur der Schweizer Heereszeitung tätig. Vgl. Wer istʼs (1909), S. 340. Konrad Haenisch (1876-1925) Aus einer Familie von Akademikern und hohen preußischen Beamten stammend, brach Haenisch als Schüler mit seiner Herkunft und wandte sich der Sozialdemokratie zu. Seine politische und journalistische Laufbahn begann er als Volontär der Leipziger Volkszeitung, war fortan bei verschiedenen sozialistischen Periodika tätig und wurde schließlich Chefredakteur der Dortmunder Arbeiterzeitung. Zudem lehrte er an der ArbeiterbildungsSchule. Im Kaiserreich hatte er dem linken Flügel der Sozialdemokratie angehört, während des Krieges vollzog er einen Rechtsruck. Nach dem Krieg leitete Haenisch, der schon 1913-1918 für die SPD im Preußischen Abgeordnetenhaus saß, in der sozialdemokratischen Preußischen Regierung das Ressort für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung. Vgl. Hofmann, Wolfgang: »Haenisch, Benno Fritz Paul Alexander Konrad«, in: Neue Deutsche Biographie 7 (1966), S. 442-444. Agnes Harder (1864-1939) Die Tochter eines ostpreußischen Juristen arbeitete als Lehrerin und gab diesen Beruf in den 1890er Jahren für die Schriftstellerei auf. Sie veröffentlichte Texte in der Magdeburger Zeitung, dem Daheim und anderen Periodika. Zudem publizierte Harder erfolgreiche Romane, die meist in Ostpreußen angesiedelt waren, von häuslichem Glück und Leid handelten und die gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer Zeit spiegelten. Vgl. Wilhelm, Gertraude: »Harder, Agnes Marie Luise Gabrielle«, in: Neue Deutsche Biographie 7 (1966), S. 664-665. Max Haushofer (1840-1907) Seit 1880 war der aus einem katholischen Elternhaus stammende Haushofer ordentlicher Professor der Nationalökonomie an der Technischen Universität München. Neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit war er politisch in liberalen Kreisen aktiv und schrieb literarische Werke. Vgl. Thieler, Edith: Max Haushofer. Literaturhistorische Untersuchungen über sein Leben und seine Dichtungen mit Herausstellung seines Zentralproblems, Königsberg: Buchdruckerei P. Escher 1932.
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Adolf Hausrath (1837-1909) Aus einer protestantischen bildungsbürgerlichen Familie stammend, promovierte Hausrath in der Theologie und verfolgte danach sowohl eine kirchliche als auch eine universitäre Karriere. Seit 1871 war er ordentlicher Professor für Kirchengeschichte und neutestamentliche Exegese an der Heidelberger Universität und gehörte seit den 1860er Jahren der Leitung der Landeskirche an. Er machte sich neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit als Verfasser von historischen Romanen mit kirchengeschichtlichen Themen einen Namen. Vgl. Hauß, Fritz: »Hausrath, Adolf«, in: Neue Deutsche Biographie 8 (1969), S. 126-127. Adolf Heilborn (1873-1941) der seit der Jahrhundertwende in der Redaktion verschiedener Periodika saß und als freier Autor für die Gartenlaube schrieb, wandte sich als Naturwissenschaftler und Anhänger der Darwinschen Evolutionslehre dem Monismus zu. 1901, drei Jahre nach seiner Promotion in der Medizin, trat Heilborn aus der jüdischen Gemeinde aus und setzte sich fortan in zahlreichen Publikationen und Vorträgen für seinen Lehrer Ernst Haeckel und die monistische Weltanschauung ein. Vgl. »Heilborn, Adolf«, in: Lexikon deutsch-jüdischer Autoren, München: Saur 2006, S. 311-325. Adolf Hepner (1846-1923) Der sozialdemokratische Journalist und Verleger begann seine Karriere beim Volksstaat und gründete in den 1870er Jahren einen eigenen Verlag. Während seiner Zeit im US-amerikanischen Exil saß Hepner in den Redaktionen zweier deutschsprachiger Zeitungen und schrieb nach seiner Rückkehr nach Deutschland 1908 für verschiedene sozialdemokratische Periodika. Vgl. »Hepner, Adolf«, in: Lexikon deutsch-jüdischer Autoren, München: Saur 2006, S. 93-97. Eduard Heyck (1862-1941) Der konservative Populärhistoriker entstammte einem wohlhabenden bürgerlichen Elternhaus. Er studierte vergleichende Sprachwissenschaft, Germanistik und Geschichte und arbeitete nach seiner Habilitation als außerordentlicher Professor, Archivdirektor und schließlich seit 1989 bis zu seinem Tode als freischaffender Gelehrter, Publizist und Herausgeber. Heyck publizierte ein breites populärhistorisches Werk, das in Zeitschriften und als Monographien beim Verlag Velhagen und Klasing erschien. Sein Hauptwerk war eine dreibändige populäre »Deutsche Geschichte« und er war Herausgeber der »Monographien zur Weltgeschichte« und »Monographien zur Kunstgeschichte« bei Velhagen und Klasing. Vgl. Killy, Walther: Deutsche biographische Enzyklopädie, Darmstadt: Wiss. Buchges. 1998, S. 814-815.
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Claudius Hirt (1864-1931) war als Lehrer an der Stiftsschule Einsiedeln tätig und bekleidete für kurze Zeit das Amt des Unterarchivars am Stiftsarchiv. Vgl. Aellen, Hermann: Schweizerisches Zeitgenossenlexikon, Bern: Gotthelf-Verlag 1923, S. 266. Karl Hoeber (1867-1942) Der Journalist publizierte in verschiedenen katholischen Periodika. 1907 wurde er Chefredakteur der Kölnischen Volkszeitung und nahm damit eine wichtige Stellung innerhalb der katholischen Presselandschaft ein. Vgl. Braun, Lothar: »Hoeber, Karl«, in: Siegfried Koss (Hg.), Biographisches Lexikon des KV, Essen, Schernfeld: Akadpress; SH-Verlag 1993, S. 55-57. Paul Oskar Höcker (1865-1944) Der ursprünglich gelernte Komponist und Dirigent kam 1894 über ein Jugendbuch über Haydn, Mozart und Beethoven zur Schriftstellerei und publizierte Artikel in verschiedenen Berliner Zeitschriften sowie äußerst erfolgreiche Romane und Theaterstücke. 1905 wurde er Herausgeber von Velhagen und Klasings Monatsheften, wo er bis 1935 verblieb. Vgl. Schulz, Eckhardt: »Höcker, Paul Oskar«, in: Neue Deutsche Biographie 9 (1972), S. 305-306. Johannes Höffner (1868-1929) Der protestantische Pfarrer und Redakteur war freier Mitarbeiter verschiedener Berliner Zeitungen und seit 1906 Mitherausgeber des Daheim. Vgl. Barth, Dieter: »Das Familienblatt. Ein Phänomen der Unterhaltungspresse des 19. Jahrhunderts«, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens (1975), S. 121-316, hier S. 236. Paul Kampffmeyer (1864-1945) Der Sozialdemokrat studierte in Zürich Nationalökonomie und bewegte sich nach in den 1890er Jahren gemeinsam mit seinem Bruder in der Berliner Theaterszene und in sozialistischen und anarchistischen Kreisen. Seit 1890 war Kampffmeyer bei verschiedenen sozialdemokratischen Zeitungen und Zeitschriften sowie als literarischer Berater und Archivar des Dietz-Verlags tätig. Vgl. Kutzbach, Karl A.: »Kampffmeyer, Paul«, in: Neue Deutsche Biographie 11 (1977), S. 91-92. Oskar Klaußmann (1851-1916) arbeitete seit den 1870er Jahren als Redakteur verschiedener lokaler und regionaler Periodika. Vgl. Heiduk, Franz: Oberschlesisches Literatur-Lexikon, Bd. 2, Berlin: Gebr. Mann, S. 399-402.
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Adolf Kohut (1848-1917) Der Sohn eines ungarischen Talmud-Gelehrten schloss sein Studium der Neuen Philologie und Kunstgeschichte mit der Promotion ab und arbeitete in Berlin und Dresden hauptberuflich als Redakteur verschiedener lokaler Zeitungen. Er veröffentlichte zahlreiche Zeitschriftenaufsätze und Monographien mit biographischer und kulturhistorischer Thematik. Vgl. Hanus: »Kohut, Adolf«, in: Österreichisches biographisches Lexikon, Wien: Verlag d. Österr. Akad. d. Wiss. 1969, S. 67-68; »Kohut, Adolph«, in: Lexikon deutschjüdischer Autoren, München: Saur 2006, S. 196-211. Arthur Köhler (*1876) Der aus Sachsen stammende Kulturhistoriker promovierte 1904 in Leipzig und forschte und lehrte am Leipziger Institut für Kultur- und Universalgeschichte. Vgl. zu Köhlers Lehrveranstaltungen das Historische Vorlesungsverzeichnis der Universität Leipzig, http://histvv.uni-leipzig.de/dozenten/koehler_a.html. Robert König (1828-1900) Der studierte Philologe und Theologe arbeitete als Lehrer und Schulrektor, bevor er 1864 als erster Chefredakteur des Daheim eingestellt wurde. 1899 schied er aus gesundheitlichen Gründen aus der Redaktion aus. Vgl. Barth, Dieter: »Das Familienblatt. Ein Phänomen der Unterhaltungspresse des 19. Jahrhunderts«, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens (1975), S. 121–316, hier S. 224-236. Fedor von Köppen (1830-1904) Aus Pommern stammend, durchlief von Köppen eine militärische Karriere im Preußischen Heer. Schon während seiner militärischen Laufbahn widmete er sich der Schriftstellerei und verließ die Armee 1871, um hauptberuflich zu schreiben. Er verfasste Romane, Sachbücher und Biographien mit thematischem Schwerpunkt in der Preußischen Militärgeschichte. Vgl. Brümmer, Franz: »Köppen, Fedor von«, in: Biographisches Jahrbuch und deutscher Nekrolog 9. Vom 1. Januar bis 31. Dezember 1904, Berlin 1906, S. 510. Albert Kuhn (1839-1929) Der Theologieprofessor machte sich vor allem als Kunsthistoriker einen Namen. Beim Verlagshaus Benziger publizierte er unter anderem eine sechsbändige allgemeine Kunstgeschichte sowie Monographien zur Geschichte des Klosters Einsiedeln. Vgl. Mittler, Otto/Boner, Georg: Biographisches Lexikon des Aargaus. 1803-1957, Aarau: Sauerländer 1958, S. 251. Karl Lamprecht (1856-1915) wurde vor allem für seine Kulturgeschichtsschreibung und den sich daran entzündenden Methodenstreit berühmt. Seit 1891 hatte Lamprecht eine Professur in Leipzig inne und war zudem Geschäftsführer des
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historischen Seminars und 1910/11 Rektor der Leipziger Universität. Sein zwölfbändiges Hauptwerk »Deutsche Geschichte« (1891-1909) löste in den 1890er Jahren den sogenannten Methodenstreit aus, in dem er von zahlreichen Historikern für sein Geschichtsverständnis und seinen methodischen Zugriff angegriffen wurde. Lamprecht institutionalisierte seine Geschichtsauffassung 1909 mit der Gründung des Leipziger Instituts für Kultur- und Universalgeschichte. Politisch stand er als Mitglied im Alldeutschen Verband der nationalen Rechten nah. Vgl. Chickering, Roger: Karl Lamprecht. A German Academic Life (18561915), New Jersey: Humanities Pr. 1993; Schorn-Schütte, Luise: Karl Lamprecht. Kulturgeschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und Politik, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1984. Heinrich Laufenberg, Pseudonym Karl Erler (1872-1932) Aus einem bürgerlichen katholischen Elternhaus stammend, trat Laufenberg nach seinem Studium der Volkswirtschaft und Philosophie 1902 in die Zentrumspartei ein und arbeitete in deren Organ Germania für zwei Jahre als Redakteur. 1904 trat er aus der Zentrumspartei aus und distanzierte sich vom Katholizismus. Laufenberg wurde Mitglied der SPD und war fortan in der sozialdemokratischen Presse und Bildungsarbeit tätig. Schon vor dem Krieg ein Vertreter des linken Parteiflügels, näherte er sich mit dem Krieg als Kritiker der Burgfriedenspolitik rätekommunistischen und syndikalistischen Richtungen an und wurde schließlich zum prominentesten deutschen Vertreter nationalbolschewistischer Ideen, wegen derer er 1920 innerhalb von kurzer Zeit sowohl aus der KPD als auch aus der KAPD geworfen wurde. Vgl. Weber, Hermann: »Laufenberg, Heinrich«, in: Neue Deutsche Biographie 13 (1982), S. 709-710; Weber, Hermann/Herbst, Andreas: Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945, Berlin: Dietz 2008, S. 443-444. Max Lehmann (1845-1929) Lehmann war nach seiner Promotion in Geschichte zunächst als Gymnasiallehrer tätig und übernahm 1875 die Redaktion der Historischen Zeitschrift und einen Posten im Berliner Geheimen Staatsarchiv. Seit 1888 hatte Lehmann Professuren in Marburg, Leipzig und Göttingen inne. Seine Forschungsschwerpunkte lagen bei den preußischen Reformen; als Kritiker borussischer Geschichtsschreibung geriet er seit den 1890er Jahren zunehmend in Isolation innerhalb der Zunft, brach schließlich 1894 infolge eines Streits um die Deutung des Siebenjährigen Kriegs mit den meisten borussischen Historikern und schied aus der Historischen Zeitschrift aus. Lehmann lehrte bis zu seiner Emeritierung 1921 in Göttingen. Vgl. vom Bruch, Rüdiger: »Lehmann, Max«, in: Neue Deutsche Biographie 14 (1985), S. 88-90; Vogler, Günter: »Max Leh-
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mann«, in: Joachim Streisand (Hg.), Die bürgerliche deutsche Geschichtsschreibung von der Reichseinigung von oben bis zur Befreiung Deutschlands vom Faschismus, Berlin: Akademie-Verlag 1965, S. 57-95; »Max Lehmann«, in: Sigfrid H. Steinberg (Hg.), Die Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Leipzig: Meiner 1925, S. 206-226. Hannah Lewin-Dorsch (1875-1911) Nach ihrer Ausbildung und Tätigkeit als Krankenschwester nahm die Sozialdemokratin in Zürich ein Studium auf. Lewin-Dorsch beschäftigte sich in ihren historischen Publikationen mit der Urzeit und verfasste ein dreibändiges Werk über »Die Technik der Urzeit und auf primitiven Kulturstufen«, das nach ihrem Tod von Heinrich Cunow fortgesetzt und herausgegeben wurde. Daneben publizierte sie in der sozialdemokratischen Presse. Lewin-Dorsch war Mitglied im Monistenbund. Vgl. Wedel, Gudrun: Autobiographien von Frauen. Ein Lexikon, Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2010, S. 503-504. Theodor von Liebenau (1840-1914) Der Spross eines schweizerischen katholischen Adelsgeschlechts studierte in Innsbruck und München und arbeitete seit 1867 als Archivar, zunächst in Donaueschingen, seit 1871 als Staatsarchivar in Luzern. Liebenau war Mitglied in diversen historischen Verbänden. Er publizierte zahlreiche historische Schriften, insbesondere Genealogisches und Lokalhistorisches über Luzern. Vgl. Historisch-biographisches Lexikon der Schweiz, Bd. 4, Neuenburg: Administration d. hist.-biogr. Lexikons d. Schweiz 1927, S. 114. Karl Massatsch (1866-1914) Der Gewerkschafter stammte aus einem katholischen Arbeiterhaushalt. Er arbeitete zunächst als Metallarbeiter und von 1900 bis zu seinem Tode als Angestellter im Metallarbeiterverband in Stuttgart. Massatsch war führender Funktionär der SPD auf lokaler Ebene. Vgl. Schröder, Wilhelm Heinz: Sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete und Reichstagskandidaten 1898-1918. Biographisch-statistisches Handbuch, Düsseldorf: Droste 1986, S. 389. Gabriel Meier, Pseudonym Alwin von Baldingen (1845-1924) Der Benediktiner war von 1878 bis 1916 als Bibliothekar des Stifts Einsiedeln sowie bis 1896 als Lehrer des Stiftsgymnasiums tätig. Er war Mitglied verschiedener lokaler, regionaler und nationaler historischer Vereine und Verbände und entfaltete zudem eine rege historiographische Publikationstätigkeit. Seine Schwerpunkte lagen in der Kirchengeschichte und Hagiographie. So publizierte er zahlreiche Monographien und Zeitschriftenartikel über katholische Heilige, über Schweizer Kirchen-
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und Reformationsgeschichte und über die Geschichte des Unterrichtswesens. Vgl. Kosch, Wilhelm: Das katholische Deutschland. Biographisch-bibliographisches Lexikon, Bd. 2, Augsburg: Haas & Grabherr 1937, S. 484; Mittler, Otto/Boner, Georg: Biographisches Lexikon des Aargaus. 1803-1957, Aarau: Sauerländer 1958, S. 441. Anton Pannekoek (1873-1960) war ein niederländischer Astronom und Astrophysiker. 1906 siedelte er nach Deutschland über, trat in die SPD ein und war als Dozent der Parteischule sowie im Parteiarchiv tätig. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs ging Pannekoek zurück in die Niederlande, blieb aber der deutschen Linken verbunden. Pannekoek gilt als wichtiger Theoretiker des Rätekommunismus und war seit 1918 Mitglied in der niederländischen kommunistischen Partei (CPN) und ab 1921 in deren linker Abspaltung Kommunistische Arbeiterpartei der Niederlande (KAPN). Vgl. Brendel, Cajo: Anton Pannekoek. Denker der Revolution, Freiburg im Breisgau: ça-ira-Verlag 2001. Theodor Hermann Pantenius (1843-1915) Der Prediger und Redakteur stammte aus einer protestantischen deutsch-baltischen Familie. Seit 1876 war er beim Daheim tätig, ab 1889 als leitender Redakteur. Zudem arbeitete Pantenius als Redakteur bei Velhagen und Klasings Monatsheften und der Baltischen Monatsschrift. Vgl. »Pantenius, Theodor Hermann«, in: Meyers großes KonversationsLexikon, Bd. 15, Leipzig, Wien: Bibliogr. Inst. 1908, S. 366. Johannes Proelß (1853-1911) Der Redakteur und Historiker wuchs in einem bildungsbürgerlichen Dresdner Elternhaus auf und studierte Philosophie und Geschichte in Jena und Leipzig. Seit den 1870er Jahren arbeitete er als Redakteur verschiedener Periodika, unter anderem des Leipziger Börsenblatts für den deutschen Buchhandel, der Frankfurter Zeitung und des Magazins Vom Fels zum Meer und der Gartenlaube. Hier war er von 1894 bis 1903 leitender Redakteur. Proelß betrieb historische Forschung über die frühe liberale Bewegung in Deutschland. Vgl. Killy, Walther (Hg.): Deutsche biographische Enzyklopädie, Bd. 8, Darmstadt: Wiss. Buchges. 1998, S. 119; Klötzer, Wolfgang/Hock, Sabine/Frost, Reinhard: Frankfurter Biographie. Personengeschichtliches Lexikon, Frankfurt/Main: Kramer 1996, S. 156. Odilo Ringholz (1852-1929) war seit 1881 Priester und Archivar in Einsiedeln. Als Historiograph des Klosters veröffentlichte er verschiedene historische Monographien zur Geschichte Einsiedelns. Vgl. Aellen, Hermann: Schweizerisches Zeitgenossenlexikon, Bern, Leipzig: Gotthelf-Verlag 1923, S. 329-330.
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Emil Rosenow (1871-1904) Der Sohn eines Schuhmachers begann eine Buchhandelslehre und eine bankkaufmännische Lehre, die er nach seinem Eintritt in die SPD infolge von Auseinandersetzungen mit seinem Arbeitgeber 1888 abbrach. Fortan war Rosenow hauptberuflich in der Parteipresse der SPD tätig, 1892-1898 als Chefredakteur des sozialdemokratischen Chemnitzer Beobachters und 1898-1900 als Redakteur der Rheinisch-Westfälischen Arbeiterzeitung. Rosenow lehrte als Dozent für Geschichte im Arbeiterbildungsverein und saß seit 1889 als jüngster Abgeordneter für die SPD im Reichstag. Zudem schrieb er politische Schriften, Romane und Stücke. Neben anderen sozialdemokratischen Periodika veröffentlichte er in der Neuen Welt zahlreiche Geschichtsartikel sowie fiktionale Geschichten. Rosenow ist heute vor allem als Dramatiker bekannt. Vgl. Münchow, Ursula: »Rosenow, Emil«, in: Simone Barck (Hg.), Lexikon sozialistischer Literatur. Ihre Geschichte in Deutschland bis 1945, Stuttgart, Weimar: Metzler 1994, S. 392-393. Jacob Stern (1843-1911) Aus einer württembergischen jüdisch-orthodoxen Familie stammend, wandte sich Stern während seines theologischen Studiums dem Reformjudentum zu. Nach dem Studium war er als Rabbiner tätig, wurde allerdings 1880 ob seiner freidenkerischen Äußerungen und seiner antisemitische Züge tragenden Kapitalismuskritik vom Rabbineramt suspendiert. Stern wurde Atheist und wandte sich der Sozialdemokratie zu, in deren Organen er fortan als Schriftsteller und Journalist tätig war – er gehörte zur festen Redaktion der Neuen Welt, war aber unter anderem auch als Redakteur des Wahren Jacob tätig. Seine zahlreichen Aufsätze und Monographien behandelten Themen der Theologie und Politik, der Kulturgeschichte und Philosophie. Vgl. Jestrabek, Heiner/Chlada, Marvin: »Jakob Stern oder: Vom Weg eines württembergischen Rabbiners zum Philosophen des Atheismus«, in: Heiner Jestrabek (Hg.), Vom Rabbiner zum Atheisten. Ausgewählte religionskritische Schriften, Aschaffenburg, Berlin: IBDK-Verlag 1997, S. 7-23, hier S. 8-11. Robert Streit (1875-1930) war Priester und Missionswissenschaftler. Vgl. Killy, Walther (Hg.): Deutsche biographische Enzyklopädie, Bd. 9, Darmstadt: Wiss. Buchges. 1998, S. 225. Karl Tanera (1849-1904) 1866 trat der aus Speyer stammende Tanera der bayerischen Armee bei, kämpfte als Leutnant im Deutsch-Französischen Krieg und verblieb bis 1887 im Militär, in den 1880er Jahren als Mitglied der Kriegsgeschichtlichen Abteilung des Großen Generalstabs. Nach Ausscheiden aus dem militärischen Dienst widmete er sich einer publizistischen Karriere und wurde
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mit Erinnerungen an den Deutsch-Französischen Krieg, Reiseliteratur und populären militärhistorischen Werken äußerst erfolgreich. Vgl. Holland, Hyacinth: »Tanera, Karl«, in: Biographisches Jahrbuch und deutscher Nekrolog 9. Vom 1. Januar bis 31. Dezember 1904, Berlin 1906, S. 510. Hanns von Zobeltitz, Pseudonym Hanns von Spielberg (1853-1918) Zobeltitz, dem neumärkischen Kleinadel entstammend, begann seine militärische Laufbahn 1870 als Einjährig-Freiwilliger und verblieb nach dem Krieg beim Militär. Er wurde nach Durchlaufen der Kriegsakademie bis zum Hauptmann befördert, lehrte in der Kriegsakademie und beschäftigte sich mit Militärgeschichte. Schon während seiner militärischen Karriere begann Zobeltitz, in Zeitschriften zu publizieren. 1891 trat er aus finanziellen Gründen aus dem Militär aus und war fortan beim Verlag Velhagen und Klasing tätig: als Redakteur der Zeitschriften Daheim und Velhagen und Klasings Monatsheften sowie als Herausgeber populärhistorischer Monographien. Vgl. »Zobeltitz, Hanns von«, in: Franz Neubert (Hg.), Deutsches Zeitgenossenlexikon. Biographisches Handbuch deutscher Männer und Frauen der Gegenwart, Leipzig: Schulze & Co. 1905, S. 428; Zum Gedächtnis Hanns von Zobeltitz. 1853-1918, Bielefeld: Velhagen und Klasing 1919.
Abkürzungsverzeichnis
ANW DA DGFZ GL MGH NW SAP SDAP SPD SZ
Alte und Neue Welt Daheim Datenbank Geschichtsdarstellungen in Familienzeitschriften 1890-1913 Die Gartenlaube Monumenta Germaniae Historica Die Neue Welt Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands Sozialdemokratische Arbeiterpartei Sozialdemokratische Partei Deutschlands Sonntagszeitung für Deutschlands Frauen/Sonntags-Zeitung fürs Deutsche Haus
Quellen- und Literaturverzeichnis
Abdruck sämtlicher Abbildungen dieser Arbeit mit freundlicher Genehmigung der Staatsbibliothek Berlin. Archivalien Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 210,40/Velhagen&Klasing Fram-Museum Einsiedeln, Bestand Firmengeschichte Benziger-Verlag Familienzeitschriften (Jahrgänge 1890-1913) Alte und Neue Welt. Illustriertes katholisches Familienblatt zur Unterhaltung und Belehrung Daheim. Ein deutsches Familienblatt mit Illustrationen Die Gartenlaube. Illustrirtes Familienblatt Die Neue Welt. Illustrierte Unterhaltungsbeilage Sonntags-Zeitung für Deutschlands Frauen. Illustrierte Familien- und Modezeitung, ab 1905: Sonntags-Zeitung fürs Deutsche Haus. Illustrierte Familienund Frauenzeitung Sonstige Zeitschriften (einzelne Ausgaben) Der Volksstaat. Organ der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands Die Deborah. Ein Volksblatt zur Belehrung und Unterhaltung für Israeliten Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst Die Neue Zeit. Revue des geistigen und öffentlichen Lebens, ab 1901: Die Neue Zeit. Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie Frankfurter israelitisches Familienblatt Historische Zeitschrift Illustrirte Monatshefte für die gesammten Interessen des Judenthums Preußische Jahrbücher Socialistische Monatshefte
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Historiographische Werke Bär, Adolf: Bildersaal deutscher Geschichte. Zwei Jahrtausende deutschen Lebens in Bild und Wort, Struckum/Nordfriesland: Verlag für Ganzheitl. Forschung u. Kultur 1989. Bernheim, Ernst: Lehrbuch der historischen Methode. Mit Nachweis der wichtigsten Quellen und Hülfsmittel zum Studium der Geschichte, Leipzig: Duncker & Humblot 1889. Borchardt, Julian: Der historische Materialismus. Eine für jedermann verständliche Einführung in die materialistische Geschichtsauffassung, Berlin, Lichterfelde: Verlag d. Lichtstrahlen 1919. Borchardt, Julian: Deutsche Wirtschaftsgeschichte, Berlin: VIVA Vereinigung Internat. Verlags-Anstalten 1922. Bremen, Walter von: Yorck von Wartenburg, Bielefeld: Velhagen und Klasing 1912. Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften, Leipzig: Duncker & Humblot 1883. Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik, Leipzig: Veit & Comp. 1882. Freytag, Gustav: Bilder aus der deutschen Vergangenheit, Leipzig: Hirzel 1922. Generalstab: Die Kriege Friedrichs des Großen. Der Siebenjährige Krieg 1756-1763. Band 1, Pirna und Lobositz, Berlin: Mittler und Sohn 1901. Generalstab: Die Kriege Friedrichs des Grossen. Der Siebenjährige Krieg 1756-1763. Band 5, Berlin: Hastenbeck und Rossbach 1903. Heyck, Eduard: Deutsche Geschichte, Bielefeld, Leipzig: Velhagen und Klasing 1905-1906. Koser, Reinhold: »Zum Ursprung des Siebenjährigen Krieges«, in: Historische Zeitschrift 74 (1895), S. 69-85. Lehmann, Max: Friedrich der Große und der Ursprung des siebenjährigen Krieges, Leipzig: Hirzel 1894. Lehmann, Max (Hg.): Historische Aufsätze und Reden, Leipzig: Hirzel 1911. Lehmann, Max: »Achtzehnhundertundzwölf«, in: Daheim-Schriftleitung (Hg.), Daheim-Kalender für das Deutsche Reich auf das Jahr 1912, Bielefeld, Leipzig: Velhagen und Klasing 1912, S. 52-66. Lindner, Theodor: Der angebliche Ursprung der Vemegerichte aus der Inquisition. Eine Antwort an Herrn Prof. Dr. Friedrich Thudichum, Paderborn: Schöningh 1890. Lindner, Theodor: Die Feme. Geschichte der »heimlichen Gerichte« Westfalens, Paderborn: Schöningh 1989. Proelß, Johannes: Das junge Deutschland. Ein Buch deutscher Geistesgeschichte, Stuttgart: Cotta 1892.
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Wolfgang Hochbruck Geschichtstheater Formen der »Living History«. Eine Typologie 2013, 154 Seiten, kart., 22,99 €, ISBN 978-3-8376-2446-5
Elisabeth Cheauré, Sylvia Paletschek, Nina Reusch (Hg.) Geschlecht und Geschichte in populären Medien 2013, 316 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2373-4
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Eva Ulrike Pirker, Mark Rüdiger, Christa Klein, Thorsten Leiendecker, Carolyn Oesterle, Miriam Sénécheau, Michiko Uike-Bormann (Hg.) Echte Geschichte Authentizitätsfiktionen in populären Geschichtskulturen 2010, 318 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1516-6
Barbara Korte, Sylvia Paletschek (Hg.) History Goes Pop Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres 2009, 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1107-6
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