Im deutschen Kaiserreich: Eine Bildungsgeschichte des Bürgertums 1871-1918 [1 ed.] 9783412500603, 9783412500580


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German Pages [557] Year 2018

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Im deutschen Kaiserreich: Eine Bildungsgeschichte des Bürgertums 1871-1918 [1 ed.]
 9783412500603, 9783412500580

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Carola Groppe

Im deutschen Kaiserreich Eine Bildungsgeschichte des Bürgertums 1871–1918

B Ö H L AU V E R L AG W I E N KÖ L N W E I M A R



Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2018 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildungen: Fotografien aus Privatbesitz, Familie Colsman, Nordrhein-Westfalen. Umschlaggestaltung: Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-50060-3

Für Jörn

Inhalt

I.

Einleitung .......................................................................................................

1

1. Vorbemerkung .......................................................................................... 1 2. Eine sozialisationshistorische Bildungsgeschichte des Kaiserreichs: Grundlagen und Forschungsperspektiven ............................................ 5 3. Konzeption des Buchs und Untersuchungsgegenstand ..................... 18 4. Fragestellungen, Analyseperspektiven und Stand der Forschung zum deutschen Kaiserreich ..................................................................... 31 5. Quellenlage und Auswertungsmethodik ............................................... 41

II. Paar-Positionen: Eheschließungen und Ehebeziehungen im Kaiserreich ............. 47 1. Ein Brief am Beginn des Kaiserreichs: Bürgerliche Lebensform und Lebensideale in einer Unternehmerfamilie ................................... 2. Ein Familienunternehmen im Kaiserreich. Anmerkungen zu Unternehmen und Familie bis zur Jahrhundertwende ....................... 3. Zwischen Biedermeier und Bismarckära: Wilhelm Colsman und Adele Bredt ....................................................... 3.1 Eheschließung und Beziehungsbeginn in den 1850er Jahren ..... 3.2 Von den 1850er zu den 1890er Jahren: Verhandlungen über Gleichrangigkeit und Lebensformen .............................................. 3.3 Das Lebensmodell der Balance: Die bürgerliche Lebensform und das Gefühl ................................................................................... 3.4 Regionalität und Globalität: Bürgerliche Welten und die nationale Politik .................................................................... 4. Firma, Nerven und Familie: Emil Colsman und Mathilde Schniewind ............................................. 5. Maschinen und Tempo: Paul Colsman und Elisabeth Barthels ................................................... 6. Gefühl und Unternehmen: Peter Lucas Colsman und Tony Klincke .............................................. 7. Ausblick und Forschungsperspektiven .................................................

47 49 58 58 65 77 80 89 103 130 137

III. In der Familie: Frühkindliche Erziehung und Sozialisation ..................................... 141 1. Die Familie als Ort für Kinder ............................................................... 141 2. Kinderwille und geistige Entwicklung: Bürgerliche Familienerziehung und -sozialisation in den 1860er und 1870er Jahren ........................................................... 152 VII

3. Von den 1880er Jahren bis zur Jahrhundertwende: Kontinuitäten und Veränderungen in der frühkindlichen Erziehung und Sozialisation .................................................................... 178 4. Ausblick und Forschungsperspektiven ................................................. 195

IV. Jungen außer Haus: Schulbesuch und Sozialisation der männlichen Kinder und Jugendlichen zwischen Reichsgründung und Erstem Weltkrieg ............................................................................... 199 1. Vorbemerkung .......................................................................................... 2. Institutionalisierte höhere Bildung im deutschen und englischen Bürgertum im Vergleich ........................................................................... 3. Sozialisationsordnungen .......................................................................... 4. Schulische Sozialisation zwischen Reichsgründung und Erstem Weltkrieg .............................................................................. 4.1 Die Schulsituation in Langenberg unter Berechtigungsund Geschlechteraspekten ................................................................. 4.2 Vorgeschichte in den 1840er Jahren: In Herrn Kortegarns Institut ........................................................... 4.3 Away from home: Herkunfts- und Ersatzfamilien mit Disziplinproblemen in den 1870er und 1880er Jahren ......... 4.4 Schulische Sozialisation zwischen Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg ....................................................................... 5. Fazit und Forschungsperspektiven ........................................................

199 202 211 224 224 228 240 272 291

V. Ein Mädchen werden: Mädchensozialisation von 1850 bis 1918 ......................................... 299 1. Vorgeschichte in der Mitte des 19. Jahrhunderts ................................ 1.1 Mädchen mit Indianerbuch .............................................................. 1.2 Mädchen ohne Indianerbuch ........................................................... 2. Mädchenbildung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Mädchenpensionate und Haustochterstellen ....................................... 2.1 Sozialisationsordnungen für bürgerliche Mädchen ....................... 2.2 Allgemeine Merkmale von Mädchenpensionaten ......................... 2.3 Das Institut Huyssen am Niederrhein: Mädchensozialisation im Pensionat in weiblichen Kontexten .......................................... 2.4 Haustochterstellen .............................................................................. 3. Höhere Töchterschulen und Mädchenpensionate vor der Jahrhundertwende: Unternehmertöchter zwischen Bildungsambitionen und Eheschließung .............................................. 4. Nach 1900: Neue Perspektiven für Mädchen ...................................... 5. Fazit und Forschungsperspektiven ........................................................

VIII

299 299 309 316 316 318 322 331 336 361 366

VI. Ein Jahr der Freiheit: Einjährige, Militär und Männlichkeit im Kaiserreich ................... 371 1. Der Sozialmilitarismus im Kaiserreich als Forschungsproblem ....... 2. Der einjährig-freiwillige Militärdienst: Rahmenbedingungen des Militärjahres ................................................. 3. Die Einjährig-Freiwilligen beim Militär: Sozialisationserfahrungen zwischen Herkunftsfamilie, Kaserne und Großstadtleben ................ 4. Männlichkeit und Sexualität in der Metropole ..................................... 5. Ausblick und Forschungsperspektiven .................................................

371 385 397 419 438

VII. Der Erste Weltkrieg als Jugend- und Generationserfahrung .. 439 1. Vorbemerkung: Das Ausland ist nah .................................................... 2. Das ‚Augusterlebnis‘ und der ‚Geist von 1914‘: Mythen und Realitäten ............................................................................. 3. Der Krieg als Generationserfahrung: Eltern, Söhne und Töchter ... 3.1 Die ältere Generation im Gespräch über den Krieg .................... 3.2 Die Kriegsbereitschaft der bürgerlichen Jugend ........................... 3.3 Kriegserfahrungen der jüngeren Generation: Interpretationen im Austausch mit der ‚Heimatfront‘ ................. 4. Ausblick und Forschungsperspektiven .................................................

439 442 454 454 461 464 480

VIII. Schlussbetrachtung ................................................................................. 485 Anlagen ................................................................................................................... 493 Die Personen ................................................................................................... 493 Die Teilhaber des Unternehmens Gebrüder Colsman im Kaiserreich ................................................................................................. 495 Unternehmensgründungen von Söhnen im Kaiserreich, die nicht Teilhaber von Gebrüder Colsman wurden ................................ 495

Quellen und Literatur ........................................................................................ 496

IX

Dank

Ein Buch zu schreiben ist eine Herausforderung, nicht nur für eine Autorin, sondern auch für ihre Umgebung. Daher gilt mein Dank in allererster Linie meinem Mann, der die Entstehung dieses Buchs liebevoll unterstützt und geduldig über eine lange Zeit begleitet hat. Ihm ist das Buch gewidmet. Die Grundlage des Buchs ist eine Fülle ungedruckter Quellen, ohne die es nicht hätte geschrieben werden können. Mein Dank gilt der Familie Colsman, die mir ihre privaten Archive voller Engagement und mit viel Interesse für meine Forschung geöffnet hat. Ich danke Herrn Dr. Alexander Colsman (Gebrüder Colsman, Essen-Kupferdreh), Herrn und Frau Wilhelm und Helga Colsman (Velbert-Langenberg), Herrn und Frau Dr. Albrecht Colsman und Dr. Edla Colsman (Köln), Herrn Eduard Colsman (Velbert-Langenberg) und Herrn und Frau Wolfgang und Sonnhild Wruck (Velbert-Langenberg) und ihren Kindern. Meinen Mitarbeiterinnen an der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg möchte ich danken, weil sie engagiert und beharrlich mit mir über das deutsche Kaiserreich diskutiert und mich bei der Abfassung des Buchs entlastet und bei seiner Endkorrektur in jeder Hinsicht unterstützt haben. Ich danke Frau Dr. Morvarid Götz-Dehnavi, Frau Dr. Julia Kurig, Frau Johanna Lauff, M. A., Frau Julia Petruv, M. A., und Frau Dr. Andrea Wienhaus für ihren wunderbaren Teamgeist. Meine 1905 geborene Großmutter hat mir während meiner Grundschulzeit gelegentlich ein Lied vorgesungen, das wohl alle Schulkinder im deutschen Kaiserreich kannten: „Der Kaiser ist ein lieber Mann, er wohnet in Berlin, und wär es nicht so weit von hier, dann ging ich heut noch hin.“ Was ein Kaiser war, wusste ich damals nicht genau und konnte mir auch nicht vorstellen, warum ihn viele Leute offenbar gern in Berlin besuchen wollten. Aber meine Neugier auf diese Zeit war geweckt. Während meines Studiums war das deutsche Kaiserreich dann in vielfacher Weise präsent: Bildungsgeschichte, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Literatur- und Wissenschaftsgeschichte, Politik- und Militärgeschichte ergaben ein vielfältiges und widersprüchliches Bild. In meinen wissenschaftlichen Forschungen und Publikationen ist das Kaiserreich deshalb stets ein Thema geblieben. Mit dem vorliegenden Buch lege ich mit neuen Fragestellungen und Quellen eine Interpretation des Bürgertums im deutschen Kaiserreich aus bildungsgeschichtlicher Sicht vor. Hamburg, im August 2018

Carola Groppe

XI

I. Einleitung

„Ich bin ein Mitglied der bürgerlichen Klassen, fühle mich als solches und bin erzogen in ihren Anschauungen und Idealen.“ Max Weber, Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik, 1895

1. Vorbemerkung Das deutsche Kaiserreich (1871–1918) war eine Wendezeit der deutschen Geschichte. Staat und Gesellschaft sahen sich nicht nur vor die Aufgabe gestellt, ein neues Gemeinwesen zu schaffen, sondern standen ohne es zu wissen auch vor der Herausforderung, den politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert zu gestalten. Dabei gab es spezifisch deutsche Voraussetzungen, welche die Bürgerinnen und Bürger als Erinnerung und Erfahrung prägten und welche den neuen Nationalstaat in der Mitte Europas von seinen großen und kleinen Nachbarstaaten unterschied. Anders als Großbritannien, die damals führende Industriemacht der Welt, und anders als Frankreich als zentralistisch regierter Staat war das deutsche Kaiserreich zunächst weder ein Industriestaat, noch war oder wurde es zentralistisch organisiert. Mit der Gründung des „Deutschen Reiches“1 im Januar 1871 nach dem Krieg gegen Frankreich stellte sich zudem die Frage, wie aus Preußen, Sachsen, Bayern, Württembergern, Elsässern, Lothringern usw. Bürgerinnen und Bürger eines gemeinsamen Staats werden konnten. Aus der Idee einer deutschen Kulturnation war die Tatsache einer Staatsnation geworden, die freilich nur einen Teil der deutschsprachigen Länder umfasste. Und anders als zahlreiche zeitgenössische Verlautbarungen glauben machen wollten, welche die Gründung des deutschen Kaiserreichs als endlich gelungene Vollendung der Nation feierten, stand seine innere Gründung sowohl politisch als auch sozial, ökonomisch und kulturell noch aus. Schließlich und endlich wurde der Prozess der Hochindustrialisierung zu einem wesentlichen Merkmal des Kaiserreichs, welches zugleich die damit einsetzende ungeheure Dynamik der lebensweltlichen Veränderungen bewältigen und gestalten musste. So nachdrücklich sich die Bundesrepublik Deutschland in den gut vierzig Jahren zwischen ihrer Gründung 1949 und der Wiedervereinigung 1990 veränderte, so gravierend waren auch die Unterschiede zwischen dem Kaiserreich der 1870er Jahre und demjenigen der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg. Das Kaiserreich wurde von einem Agrarstaat zu einem hoch industrialisierten Staat, seine 1

Die in der Reichsverfassung 1871 festgelegte Bezeichnung „Deutsches Reich“ ist nicht trennscharf z. B. gegenüber der Weimarer Republik, deren Staatsname ebenfalls „Deutsches Reich“ lautete. In der Forschung hat sich daher die Benennung ‚deutsches Kaiserreich‘ oder einfach ‚Kaiserreich‘ durchgesetzt.

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Bevölkerung wuchs von 41 Millionen zum Zeitpunkt der Reichsgründung auf knapp 64,5 Millionen 1910 an, aus acht Städten mit über 100.000 Einwohnern 1871 wurden bis 1910 48 Städte. Berlin besaß kurz vor dem Ersten Weltkrieg bereits eine Einwohnerzahl von über zwei Millionen und einschließlich seiner vorstadtähnlichen Nachbarstädte und -gemeinden als Metropolregion fast vier Millionen. Im Westen des Reiches entwickelte sich mit dem Ruhrgebiet ein riesiges industrielles Zentrum, das zu einem Magneten für in- und ausländische Zuwanderinnen und Zuwanderer wurde und von etwa 500.000 Bewohnerinnen und Bewohnerm am Beginn der 1860er Jahre auf 2,6 Millionen nach der Jahrhundertwende anstieg. Im Kontext solcher Entwicklungen veränderten sich die Sozialstruktur, die Arbeitswelten, die staatlichen Institutionen, die Kultur und die Lebensperspektiven im deutschen Kaiserreich gravierend. Nach wie vor ist das Kaiserreich einer der Brennpunkte der neueren Geschichtsschreibung. In den 1970er Jahren wurde das Kaiserreich vornehmlich als eine Epoche interpretiert, in der sich politische und soziale Kräfte organisierten und Orientierungen durchsetzten, welche durch ein Autoritätsprinzip gekennzeichnet waren, mit Langzeitwirkungen für die deutsche Geschichte mindestens bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Obrigkeitsstaat und Untertanengesellschaft waren maßgebliche Beschreibungskategorien für das deutsche Kaiserreich. Seit den 1990er Jahren ist jedoch neue Bewegung in die Kaiserreichforschung gekommen. Das Kaiserreich wird durch vergleichende und transnationale Fragestellungen stärker in die europäische und globale Geschichte eingeordnet und unter neuen Gesichtspunkten auf seinen Ort im nationalstaatlichen Gefüge und im transnationalen Geschehen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts untersucht. Im vorliegenden Buch wird das Kaiserreich zum Kontext und Fragerahmen einer bildungshistorischen Analyse. Ich werde darstellen, wie sich Bildung, Erziehung und Sozialisation in der Epoche des Kaiserreichs in einer weitverzweigten bürgerlichen Familie vollzogen, wie sie sich zwischen dem Beginn des Kaiserreichs 1871 und seinem Ende 1918 veränderten und wie das Kaiserreich von den Familienmitgliedern zu verschiedenen Zeitpunkten erlebt, mitgestaltet und interpretiert wurde. Ich werde dies nicht mittels erinnernder autobiographischer Texte untersuchen, deren retrospektive Darstellungen nicht von den späteren Selbstpositionierungen und Weltdeutungen der Schreiberinnen und Schreiber getrennt werden können, sondern mithilfe mehrerer tausend zeitgenössischer Briefe, in denen die Schreiberinnen und Schreiber direkt mit ihren Zeitgenossinnen und Zeitgenossen kommunizierten und sich in ihrer historischen Epoche positionierten. Am Beispiel der Unternehmerfamilie Colsman, die in der preußischen Rheinprovinz lebte, wird mithilfe ihrer Briefe erörtert, wie während des Kaiserreichs Prozesse des Aufwachsens und der Persönlichkeitsentwicklung im Bürgertum vonstattengingen, d. h. welche historische Sozialisation Mädchen und Jungen, Frauen und Männer im Bürgertum durchliefen. Die Fragen, wie sich im Kaiserreich bürgerliche Sozialisation konkret in der Familie, in der Schule, in Freundesgruppen, im Militär und im Beruf vollzog, wie zu unterschiedlichen Zeitpunkten des Kaiserreichs Mädchen und Jungen, 2

Frauen und Männer ihr Leben führten, wie sie sich als Ehefrauen und Ehemänner, als Mütter und Väter, Töchter und Söhne, Freundinnen und Freunde, als Unternehmer und als Bürgerinnen und Bürger des Deutschen Reiches präsentierten, werden die Darstellungen in diesem Buch daher ebenso leiten wie das Interesse an den Rahmenbedingungen, unter denen sich dies vollzog. Die Veränderungsdynamik im deutschen Kaiserreich brachte auffallend unterschiedliche Persönlichkeitsprofile hervor; Jungen und Mädchen, Männer und Frauen agierten und präsentierten sich zu Beginn des Kaiserreichs anders als am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Wie sich die Unterschiede beschreiben lassen und auf welche Weise sie zustande kamen, wird eine in diesem Buch ebenfalls behandelte Frage sein. Zur thematischen Analyse von Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter in der Epoche des Kaiserreichs werden an die verschiedenen Generationen der Unternehmerfamilie acht Fragen gerichtet: 1. Erlebten die Personen im Kaiserreich einen Obrigkeitsstaat mit entsprechenden Institutionen und Persönlichkeitsidealen? 2. Entwickelten sich demzufolge obrigkeitshörige Untertanen? 3. Wenn nicht, wie lassen sich die Persönlichkeitsideale und die Selbstpräsentationen von Männern und Frauen im Kaiserreich kennzeichnen? 4. Welche Ideale und Formen von Männlichkeit und Weiblichkeit entwickelten sich in der Familie in den verschiedenen Generationen? 5. Das Kaiserreich, dessen Politik, Ökonomie und Kultur spätestens seit den 1890er Jahren eine intensive globale Verflechtung aufwiesen, eröffnete aufgrund der technischen und wirtschaftlichen Entwicklung dem Bürgertum zunehmend auch Aufenthalte und Reisen im Ausland. Welche Rolle spielte das Ausland als Sozialisationsraum für die Familienmitglieder? 6. Welchen Einfluss hatten insbesondere in einer Unternehmerfamilie internationale Geschäftstätigkeit und Verkehrskreise auf Selbstpräsentationen und Handlungsorientierungen? 7. Wie stellte sich für die Familienmitglieder vor diesem Hintergrund ein nationales Bewusstsein dar, und was bedeutete es für sie, Staatsbürgerinnen und -bürger des deutschen Kaiserreichs zu sein? Schließlich wird diskutiert (8.), inwiefern meine andernorts entwickelte These, dass sich die bürgerliche Lebensform und das bürgerliche Lebensideal vom späten 18. Jahrhundert bis zum Ende des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts als ‚Lebensmodell der Balance‘ kennzeichnen lassen,2 einer genaueren Analyse bürgerlicher Sozialisationsprozesse, Selbstpräsentationen und Handlungsorientierungen im Kaiserreich standhält. Dieses Lebensmodell hatte sich im späten 18. Jahrhundert als Reaktion und Selbstbeschreibung des Bürgertums angesichts der zunehmenden Ausdifferenzierung der sozialen Felder zu Bereichen mit eigenen Normen und Handlungslogiken (ökonomisches Feld, religiöses Feld, politisches Feld, familiales Feld usw.) herausgebildet. Für die bürgerliche Person war seitdem eine konkrete ‚Arbeit am Selbst‘ erforderlich geworden. 2

Vgl. Groppe, Der Geist des Unternehmertums, S. 236f., S. 362, S. 512f.; dies., Bildung und Habitus in Bürgerfamilien um 1900; dies., Bürgerliche Lebensführung im Zeichen der Balance.

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Diese enthielt sowohl neue Momente der Freiheit als auch eine neue Integrationsarbeit, um die sozialen Felder in der eigenen Lebensform in eine sinnvolle Koexistenz und Balance zu bringen. Innengeleitete Handlungsregulierung und Maßhalten in der Praxis der Lebensführung wurden die sich durchsetzenden neuen Normen des Bürgertums und erhielten den Stellenwert einer bürgerlichen Sinnordnung. Das individuelle Streben nach der Umsetzung dieser bürgerlichen Sinnordnung und die damit zusammenhängenden Sozialisationsprozesse können auch mit dem Begriff der Bildung beschrieben werden. Neben einer Beschreibung von Rahmenbedingungen und Inhalten formaler Bildung in Schulen wird der Bildungsbegriff in den folgenden Kapiteln vor allem in dieser Hinsicht empirisch verwendet: Bildung wird gefasst als Entwicklung, Einübung und Praxis eines Lebensmodells der Balance. Wilhelm von Humboldts prägnante Beschreibung der Bildung als „Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung“3 meint letztlich Vergleichbares. Bildung wird im vorliegenden Buch mit dem Lebensmodell der Balance ganz pragmatisch konzeptualisiert, um den für eine Bildungsgeschichte zentralen, gleichwohl philosophisch vielschichtigen und normativen Bildungsbegriff nicht nur als allgemeinen Orientierungsrahmen oder ideengeschichtliches Thema zu verwenden,4 sondern auch als Element eines historisch-empirischen Forschungsdesigns, das Entwicklungsprozesse von Personen zum Thema hat.5 Im Buch werde ich daher der Frage nachgehen, welche Kontinuitäten, Modifikationen oder grundlegenden Veränderungen das Lebensmodell der Balance – als Bildungsidee und -praxis der Personen – im Kaiserreich aufwies oder ob es angesichts der rasanten Veränderungen der Lebenswelt radikal in Frage gestellt und möglicherweise durch ein anderes Modell ersetzt wurde. Schließlich werde ich in jedem Kapitel des Buchs erörtern und bilanzieren, welche Erkenntnisse, Forschungsthesen und Forschungsperspektiven sich aus den vorgenommenen Analysen für das deutsche Kaiserreich bildungshistorisch gewinnen lassen. Das vorliegende Buch ist meine zweite Studie, welche die Unternehmerfamilie Colsman zum Thema hat.6 Sie ist dessen ungeachtet keine Fortschreibung der ersten. So setzt das vorliegende Buch mit seinen Fragestellungen erst im 3 4

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Humboldt, Theorie der Bildung des Menschen (1794/95), S. 235f. Vgl. als Überblick zu den ideengeschichtlichen Debatten um Bildung vom frühen 19. Jahrhundert bis zur Reichsgründung Jäger/Tenorth, Pädagogisches Denken; zur Ideengeschichte der Bildung im Kaiserreich vgl. Groppe, Die Macht der Bildung; Bollenbeck, Bildung und Kultur, S. 160ff. Zur Diskussion einer empirieorientierten Revision des Bildungsbegriffs vgl. Tenorth, Wie ist Bildung möglich. Die zentralen ideengeschichtlichen Konnotationen des Bildungsbegriffs werden mit der obigen Fassung des Lebensmodells der Balance zugleich aufgenommen, insbesondere „Bildung als Arbeit des Subjekts und zugleich als öffentlich kontrollierter Prozess der Ausstattung zum Verhalten in der Welt“ (ebd., S. 428). Das Konzept des Lebensmodells der Balance vermeidet aber deren normative Aufladung. Vgl. Groppe, Der Geist des Unternehmertums.

Kaiserreich ein und nimmt dabei nur gelegentlich Bezug auf vorausgehende Jahrzehnte, wohingegen die erste Studie bereits mit Beginn der 1840er Jahre endet. Das vorliegende Buch diskutiert zudem vorrangig bildungshistorische Fragen zum deutschen Kaiserreich und tut dies anhand vieler verschiedener Personen aus der Unternehmerfamilie Colsman, anstatt die Unternehmergeschichte dieser Familie selbst, wie in der ersten Studie, in den Mittelpunkt zu stellen. Während die erste Studie für den Zeitraum 1649–1840 insbesondere nach den außerhalb des eigentlichen unternehmerischen Handelns liegenden pädagogischen Aspekten der Unternehmenstradierung und nach den Sozialisationskontexten und -instanzen der jeweiligen Nachfolgergeneration gefragt hat, richtet sich mein Forschungsinteresse in diesem Buch auf die Bildung, Erziehung und Sozialisation im Bürgertum des deutschen Kaiserreichs, wozu die Familienmitglieder der weitverzweigten Unternehmerfamilie Colsman als Fallbeispiele herangezogen werden. Im folgenden Teilkapitel werde ich zunächst ein von mir bereits früher formuliertes Konzept Historischer Bildungsforschung vorstellen, das die Grundlage für die Fragestellungen des Buchs darstellt. Im Anschluss werde ich daraus die Konzeption des Buchs ableiten und den Untersuchungsgegenstand genauer beschreiben. Darauf folgen die Darstellung der konkreten Fragestellungen und Analyseperspektiven und deren Einbettung in die Forschungsgeschichte zum deutschen Kaiserreich. Das Kapitel endet mit einer Beschreibung der vorhandenen Quellen und ihrer Auswertung.

2. Eine sozialisationshistorische Bildungsgeschichte des Kaiserreichs: Grundlagen und Forschungsperspektiven Die Historische Bildungsforschung widmet sich der Analyse des Verhältnisses von Person und Gesellschaft in seiner Vermittlung durch Erziehungs-, Bildungs- und Sozialisationsprozesse im historischen Wandel.7 Damit schließt sie eine umfassende historische Sozialisationsforschung ebenso ein wie die historische Institutionen- und Professionsforschung und die Ideen-, Theorie- und Diskursgeschichte. Bildungshistorische Forschung beschränkt sich somit nicht auf das im engeren Sinne pädagogische Feld, welches die Entwicklung des Bildungssystems umfasst sowie der Erziehungs- und Fürsorgeeinrichtungen, die 7

Vgl. Groppe, History of Education, S. 179. Zum Begriff der Person ist festzuhalten, dass dieser zunächst aus pragmatischen Gründen gewählt worden ist. Es ist zwar auf der Theorieebene möglich, von dem „Subjekt“ oder dem „Individuum“ zu sprechen, nicht aber in der Verbindung mit einer konkreten Person, ohne dass dies durch die alltagssprachliche Mehrdeutigkeit eine unvermeidbar ambivalente Konnotation erhält („das Subjekt Emil Meier“, „das Individuum Anna Müller“). Mit der Begriffswahl sind aber auch weitergehende konzeptionelle Überlegungen verbunden, die in diesem Kapitel am Ende von Teilkapitel 2 ausgeführt werden.

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Professionalisierung der pädagogischen Tätigkeiten und die damit verbundene Diskussion und Theoretisierung von Erziehung und Bildung. Vielmehr untersucht sie auch Prozesse der Persönlichkeitsentwicklung, kollektiv und individuell, in ihren institutionellen und nicht-institutionellen Kontexten und erforscht zudem das generelle Verhältnis von Bildung und Gesellschaft in seiner historischen Entwicklung.8 Erst ein Einbezug gesamtgesellschaftlicher Kontexte vermag dabei das pädagogische Feld, dessen Autonomie immer nur relativ ist, adäquat in seiner Bedeutung und Funktion zu erfassen. Gleichermaßen können auch Sozialisationsinstanzen (die Familie, die Schule, der Beruf, die Peer Groups etc.) nur durch ihre Einbettung in größere gesellschaftliche, ökonomische, kulturelle und politische Zusammenhänge begriffen werden. Eine Historische Bildungsforschung, die ihre Forschungsgegenstände nicht kontextualisiert, kann diese nur sehr begrenzt verstehen und erklären.9 Vor wenigen Jahren wurde in der Historischen Bildungsforschung – wie in allen historischen Disziplinen – eine vehemente Debatte über sozial- und kulturhistorische Zugänge zur Geschichte und über ihre jeweilige theoretische Konsistenz, interpretatorische Bedeutung und empirische Reichweite ausgetragen.10 Geklärt worden sind die aufgeworfenen Fragen historischer Forschung aus meiner Sicht bislang nicht, denn gestritten wurde letzten Endes über die Fundamentalfrage nach dem Beweggrund der Geschichte. Vielmehr hat sich die Diskursdominanz einfach zugunsten der Kulturgeschichte verschoben, es ist eine Art forschungspraktische Ko-Existenz mit einem Übergewicht der Kulturgeschichte eingetreten. Um die in der Debatte aufgeworfenen Fragen für die folgenden Analysen aber produktiv nutzbar zu machen, werde ich beide Analyseparadigmen, Sozialgeschichte und Kulturgeschichte, im Folgenden einer knappen, vergleichenden Revision unterziehen und aus der Kritik das Forschungsdesign einer sozialisa8

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Während für die Untersuchung der Persönlichkeitsentwicklung in erster Linie qualitative Methoden gewählt werden, sind zur Analyse des Verhältnisses von Bildung und Gesellschaft historische Strukturanalysen des Bildungssystems ebenso notwendig wie quantitativ-serielle Analysen zur Entwicklung der Bildungsbeteiligung oder die Analyse des Verhältnisses von Sozialstruktur und Schulsystem. Für die Epochen vor dem 18. Jahrhundert in Europa müssten die Perspektiven der Bildungsgeschichte allerdings anders gefasst werden. Ein eigenständiges pädagogisches Feld oder ein Schulsystem gab es beispielsweise nicht, denn Institutionalisierungsprozesse sind verknüpft mit der Entwicklung des modernen Staats. Sie sind „Sozialregulationen“ (Rehberg), welche die kollektive Interaktion in einer Gesellschaft verbindlich regeln und ordnen und ihre Normen und Werte zum Ausdruck bringen. Vgl. Rehberg, Institutionen als symbolische Ordnungen, S. 56, Zitat ebd. Zu Problematik und Forschungsperspektiven des Verhältnisses von Bildung und Gesellschaft in der Vormoderne vgl. exemplarisch Hanschmidt/Musolff, Elementarbildung und Berufsausbildung. Für die Ideengeschichte vgl. hierzu Skinner, Bedeutung und Verstehen in der Ideengeschichte, S. 69ff. Für die Biographieforschung Rosenthal, Die Biographie im Kontext der Familien- und Gesellschaftsgeschichte. Vgl. Priem, Strukturen – Begriffe – Akteure; Popkewitz/Franklin/Pereyra, Cultural History and Education.

tionshistorisch orientierten Bildungsgeschichte entwickeln, das ich der vorliegenden Untersuchung zugrunde lege. Die zum Teil hitzig geführte Diskussion über die beiden Forschungsparadigmen lässt sich interpretieren als Debatte über die entscheidenden Einflussgrößen für die Entwicklung und den Verlauf des historischen Prozesses.11 Sind es Institutionen, Klassenlagen und davon abhängige Interessen, kurz: ‚Strukturen‘, oder sind es Personen und Sinnsysteme, mithin einzelne und kollektive Orientierungen, Handlungen und Deutungen, welche den Geschichtsverlauf entscheidend prägen? Um die mit der Sozialgeschichte verbundenen theoretischen und methodologischen Grundlagen zu analysieren, beziehe ich mich auf die Theorie und Empirie sozialhistorischer Forschung, wie sie die sogenannte ‚Bielefelder Schule‘ entwickelt hat. Diese hat sich in der Bundesrepublik Deutschland als Modell sozialhistorischer Geschichtsschreibung durchgesetzt. Ihre Grundüberzeugungen sind in der sozialgeschichtlich arbeitenden Historischen Bildungsforschung weithin übernommen worden. Grundsätzlich handelt es sich hierbei um eine Konzeption, die den ‚objektiven Verhältnissen‘, d. h. Sozialstruktur, Institutionen, Ökonomie und materiellen Lagen, quasi-determinierende Wirkungen auf individuelle und kollektive Persönlichkeitsentwicklungen und Bewusstseinslagen sowie auf das politische und gesellschaftliche Handeln zuschreibt.12 Damit wird in der Sozialgeschichte die Bedeutung von Ereignissen und individuellen Handlungen ebenso in Frage gestellt wie die Bedeutung von Personen für den Verlauf der Geschichte generell. Institutionen werden zugleich von übergeordneten politischen Zielen und gesellschaftlichen Interessenlagen her interpretiert und historische Personen in die Funktionslogik der Institutionen und sozialen Strukturen eingeordnet.13 Dabei geht es in den sozialhistorischen Analysen immer auch um ein kritisches Anliegen, nämlich soziale Ungleichheiten und Benachteiligungen innerhalb von Strukturen und 11

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Vgl. zur Diskussion beider Richtungen Mergel, Kulturgeschichte; Welskopp, Die Sozialgeschichte der Väter; Sieder, Sozialgeschichte; Gestrich, Einleitung: Sozialhistorische Biographieforschung, S. 9ff. Die sogenannte Bielefelder Schule verknüpft sich insbesondere mit den Namen und Werken von Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka. Zu ihr zählen aber auch Historiker, die an anderen Universitäten tätig waren, z. B. Hans und Wolfgang J. Mommsen in Bochum und Düsseldorf, Hans-Jürgen Puhle in Münster/Bielefeld/Frankfurt a. M., Reinhard Rürup und Rolf Engelsing in Berlin u. a. Dass es auch andere Möglichkeiten sozialhistorischer Forschung gegeben hätte, zeigt die Auseinandersetzung der ‚Bielefelder‘ mit der stärker subjektorientierten und alltagsgeschichtlichen Sozialgeschichte z. B. britischer Provenienz (insbesondere Geoff Eley, David Blackbourn und Richard Evans). Im anglo-amerikanischen Raum waren die Übergänge zwischen Sozial- und Kulturgeschichte fließend und weniger konflikthaft als in Deutschland. Vgl. zur Entwicklung der bundesdeutschen Sozialgeschichte Kroll, Historiographiegeschichte als Zeitgeschichte und Dehnavi/Kurig/Wienhaus/Groppe, Gedächtnispolitik in den Geisteswissenschaften. Als Überblick vgl. Maeder/Lüthi/Mergel, Wozu noch Sozialgeschichte, sowie mit Quellentexten Hitzer/Welskopp, Die Bielefelder Sozialgeschichte.

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Institutionen historisch sichtbar zu machen sowie die – diese bedingende – Herrschaft von Eliten und Kapital. In der sozialhistorischen Bildungsforschung kam in diesem Zusammenhang der historischen Bildungssystemanalyse eine große Bedeutung zur Erklärung sozialer Ungleichheit und ihrer Langfristigkeit zu. Systemstrukturanalysen sollten dies aufklären und ‚Klassenschulsysteme‘ in ihren institutionellen Mechanismen und bildungspolitischen Zielsetzungen durchsichtig werden.14 Der sozialhistorischen Bildungsforschung fehlte zugleich eine differenzierte Sicht auf die Personen und die mikro-, meso- und makrohistorische Bedeutung ihrer individuellen und kollektiven Handlungen. Am ehesten traten historische Personen – wie in der sozialhistorischen Fachgeschichte auch – noch in Gestalt gesellschaftlicher Interessengruppen oder Eliten auf,15 die gesellschaftliche Strukturen und Institutionen, beispielsweise das Bildungssystem, für sich zu gestalten und zu nutzen verstanden. So ist der Staat – und hier bleibt Sozialgeschichte jeglicher Couleur immer eine sozialhistorisch inspirierte Politikgeschichte16 – der Agent bevorzugter sozialer Klassen. Aber auch hier waren diese Gruppen letztlich Teil einer Gesellschaftsinterpretation, in der sie funktional – im Sinne der vorgegebenen Strukturen – handelten.17 Wie dann aber innerhalb dieser Strukturen individuelle und kollektive kritische Bewusstwerdung einerseits und soziale und politische Veränderung andererseits sich vollziehen konnten, blieb theoretisch und empirisch unklar. Die Frage, auf welche Weise und gegebenenfalls mit welcher Reichweite Personen historisch agierten, blieb gleichfalls unbehandelt. Betrachtet man vor diesem Hintergrund die kulturgeschichtlichen Ansätze, dann gewinnt man den Eindruck, dass Institutionen, Sozialstruktur oder soziale Felder wie die Ökonomie und die Politik überhaupt keine eigenständige Substanz besitzen und keine historisch gewachsene, gesellschaftsprägende Geltung 14 15

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Detlef K. Müllers Buch „Sozialstruktur und Schulsystem“ von 1977 trägt diese Programmatik im Titel. Vgl. exemplarisch Müller, Qualifikationskrise und Schulreform. Zu Klassen und Massenorganisationen als „Sozialstruktur-Agenten“ in der Sozialgeschichte vgl. Kroll, Historiographiegeschichte als Zeitgeschichte, S. 178, Zitat ebd. Vgl. Mergel/Lüthi/Maeder, Einleitung, S. 14f. Daher sprechen Mergel, Lüthi und Maeder von der Notwendigkeit einer „Ent-Reifizierung der ‚Gesellschaft‘“, um die Sozialgeschichte mit moderneren Sozialtheorien zu versöhnen. Mergel/Lüthi/Maeder, Einleitung, S. 11. Für die Konzentration der Sozialgeschichte auf Strukturen und Großgruppen stehen exemplarisch Kocka, Die Angestellten in der deutschen Geschichte, und Ringer, Die Gelehrten. Kritisch dazu Mergel, Kulturgeschichte, S. 43ff. Auch in Kockas „Arbeiterleben und Arbeiterkultur“ (2015) werden z. B. unter „Kindheit und Sozialisation“ (S. 266ff.) vorwiegend prägende Erfahrungswelten referiert. Ergänzend werden aus den Erinnerungen von Arbeiterinnen und Arbeitern „Dimensionen des damaligen Arbeiterlebens“ (S. 266), insbesondere sozialhistorische Bedingungsgefüge, erschlossen. Dennoch zeigt schon die Titelgebung des Buchs, dass die Perspektiven der Kulturgeschichte hier nicht ohne Einfluss geblieben sind. Die Personen im Buch haben an ihrer Persönlichkeitsentwicklung zwar keinen starken Anteil, aber sie sind auch nicht mehr nur Produkte der Verhältnisse.

aufweisen. Die Kulturgeschichte verweist in Abgrenzung von der Sozialgeschichte insbesondere auf die Bedeutung von individuellen und kollektiven Handlungen und von Sinnkonstruktionen und -ordnungen zur Interpretation der historischen ‚Realität‘. Damit verläuft die Verschiebung der Analyseperspektiven von Gesellschaft, Struktur und Funktion zum „Gesamtkomplex von […] Denkformen, Empfindungsweisen, Werten und Bedeutungen […], der sich in Symbolsystemen materialisiert“.18 Während die Sozialgeschichte ‚Akteure‘ konzipiert, deren Verhalten durch staatliche Institutionen und gesellschaftliche Strukturen faktisch determiniert ist, geht die Kulturgeschichte von ‚Subjekten‘ aus, die diese Institutionen und Strukturen zuallererst interpretierend und handelnd herstellen und ihnen Sinn und Bedeutung verleihen.19 Gleichzeitig existieren in der Kulturwissenschaft (in ihrer Bedeutung als neue Sozialtheorie) zwei Ansätze nebeneinander, deren fundamentale Differenz kaum thematisiert wird. Der eine Ansatz begreift Wissensordnungen und Symbol- bzw. Sinnsysteme als die entscheidende Größe, um die Gesellschaft und das Handeln der Personen zu verstehen, der andere Ansatz geht von den Personen aus, die diese Wissensordnungen und Symbol- bzw. Sinnsysteme erst konstituieren. Die Differenz besteht in der Konzeption des Verhältnisses von Person und Umwelt, die jedoch weder innerhalb noch zwischen den Ansätzen diskutiert und problematisiert wird.20 Grundsätzlich spielen im Rahmen kulturgeschichtlicher Ansätze Erzählungen, Rituale und Symbole sowie kulturelle Systeme für den Zusammenhalt der Gesellschaften einerseits und für die Entwicklung von Weltdeutungen und Selbstpräsentationen der Personen andererseits eine zentrale Rolle. Diesen Erzählungen, Ritualen, Symbolen und kulturellen Systemen wird ein tieferliegender ‚Sinn‘, als Ebene der Verständigung der Menschen über sich und die Welt, zugeschrieben, den es zu entschlüsseln gilt, um die Vergangenheit(en) zu begreifen.21 Dadurch wird die gesamte Vergan18

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Nünning, Kulturwissenschaft, S. 355; vgl. auch Priem, Strukturen – Begriffe – Akteure, S. 352f.; Gilcher-Holtey, Kulturelle und symbolische Praktiken: das Unternehmen Pierre Bourdieu, S. 111f. Mit dem Subjektbegriff wird deshalb in der Regel eine willentlich handelnde und sinnentwerfende, die Welt konstituierende Instanz bezeichnet. Vgl. dazu im Überblick Kurig, Bildung für die technische Moderne, S. 47ff. Vgl. Reckwitz, Die Transformation der Kulturtheorien, S. 548. So forscht der eine Ansatz makrohistorisch-gesamtgesellschaftlich und der andere Ansatz mikrohistorischalltagsgeschichtlich, aber es wird kaum darüber reflektiert, inwieweit damit bereits eine sozialtheoretische Grundsatzentscheidung gefällt worden ist. Dass eine solche Grundsatzentscheidung aber nicht zwingend getroffen werden muss, werden die nachfolgenden Ausführungen in diesem Kapitel zum Thema historische Sozialisationsforschung zeigen. Vgl. zu einigen Theorien sozialer Praktiken als Versuch einer Verbindung ebd., S. 558ff. Vgl. kritisch Mergel, Kulturgeschichte, S. 59ff.; Priem, Strukturen – Begriffe – Akteure, S. 352f.; Reckwitz, Die Transformation der Kulturtheorien, S. 22. Reckwitz arbeitet verschiedene Kulturbegriffe in den Kulturtheorien heraus, einen normativen, einen totalitätsorientierten, einen differenzorientierten und einen bedeutungs- und wissensorientierten Kulturbegriff. In der aktuellen Kulturgeschichte ist vor allem letzterer dominant,

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genheit zu einem Bedeutungsgewebe, das wie ein Text gelesen und mit unterschiedlichen textanalytischen Methoden interpretiert werden muss.22 Die an der Bedeutung kultureller Ordnungen und Systeme orientierte Kulturgeschichte hält allerdings fest, dass durch textliche wie bildliche Inszenierungen, kollektive Symboliken usw. machtvolle Grenzziehungen und Einflussnahmen entstehen, welche die Deutungsmacht und -freiheit der Personen beschränken oder sogar aufheben können und bei Regelverletzungen Sanktionen bereithalten (z. B. Diskursausschlüsse). Vertreterinnen und Vertreter dieser stark durch Michel Foucault geprägten Argumentationslinie sehen daher auch keine gestaltenden Subjekte in der Geschichte am Werk, sondern zentrumslose staatliche und gesellschaftliche Regulierungs- und Machttechniken, welche – in der Neuzeit – durch Subjektivierungspraktiken die Machtzentren gleichsam ins Innere der Personen verlegen.23 Dann kann jedoch von einer Hervorbringung im eigentlichen Sinne nicht mehr die Rede sein,24 sondern höchstens noch von gewissen Spielräumen, die trotz der Diskurszwänge und Handlungsregulierungen bestehen bleiben. Wenn dagegen programmatisch von der Performativität des Sozialen, vom ‚Making‘ desselben25 und von der Relevanz der Weltdeutungen die Rede ist, wird eine erzeugende, schöpferische Person angenommen. Aber die praxeologische Hinwendung zum ‚Making‘ und zur Performativität sowie die Aufmerksamkeit für die Deutung der Welt durch historische Personen und Kollektive bieten bislang keine Erklärungen an, woher die Handlungskategorien und die Sinnelemente der Welt- und Selbstdeutung der Personen denn zuvorderst stammen, auf welche Weise sie historisch verstetigt oder verändert werden und

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der die „Dimension kollektiver Sinnsysteme, die in Form von Wissensordnungen handlungsanleitend wirken“, betont. Vgl. ebd., S. 64ff., Zitat S. 90. Es blieb in der Kulturgeschichte jedoch nicht allein beim ‚linguistic turn‘, durch den alles Historische zum Text erklärt wurde und durch den sprachphilosophische Fragen und sprachanalytische Verfahren in den Mittelpunkt rückten. Es folgten diverse ‚turns‘ wie der ‚visual turn‘ und der ‚performative turn‘. Methodisch verband die ‚turns‘ die Herkunft aus den klassischen Geisteswissenschaften, wodurch deren Methodenarsenal in die Geschichtsforschung eingeführt wurde. Vgl. Bachmann-Medick, Cultural Turns. Dabei definierten sich nicht nur die so arbeitenden Historikerinnen und Historiker als Kulturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, sondern auch diejenigen Geisteswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, die in der Ausdehnung ihrer Paradigmen eine Möglichkeit der Wiedereroberung verlorengegangener Forschungsterrains sahen. Vgl. Reckwitz, Die Transformation der Kulturtheorien, S. 25. Vgl. grundlegend Foucault, Die Ordnung des Diskurses; ders., Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit Bd. 3. In der Forschungspraxis elaboriert und differenziert z. B. Caruso, Biopolitik im Klassenzimmer. Vgl. Reckwitz, Die Transformation der Kulturtheorien, S. 562ff. Aktuell z. B. Butler, Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung; in älterer Perspektive z. B. britische Historiker und ihr Konzept des „Making of …“, z. B. Thompson, The Making of the English Working Class, S. 7: „Es heißt Making, denn was hier untersucht wird, ist ein aktiver Prozeß, Resultat menschlichen Handelns und historischer Bedingungen. Die Arbeiterklasse trat nicht wie die Sonne zu einem vorhersehbaren Zeitpunkt in Erscheinung; sie war an ihrer eigenen Entstehung beteiligt.“

warum sie gruppenspezifisch variieren können.26 Selbst wenn ‚Kultur‘ – individuell oder übersubjektiv, interpretations- oder praktikengeleitet – als ein Deutungsrahmen begriffen wird, durch den Ereignisse, Institutionen und Verhaltensweisen erst beschreibbar und verstehbar werden,27 muss dieser Deutungsrahmen gleichzeitig sowohl in seiner Genese und Veränderung durch die Personen als auch in seiner konkreten Einwirkung auf diese erklärt werden.28 Das aber geschieht nicht. Die der Kulturgeschichte zugrunde liegende Kulturtheorie will soziales Verhalten und Handeln und deren Entstehung erklären, greift aber nach meiner Kenntnis nirgends auf die Theorieangebote und Forschungsergebnisse der Erziehungswissenschaft, zum Beispiel bezüglich der Sozialisation, zurück. Nicht geklärt sind daher in der Kulturgeschichte, trotz der Betonung der historischen Personen und ihrer Interpretationen und Handlungen, das Grundverständnis von ‚Subjekt‘ bzw. Person und das Verhältnis von Person und Gesellschaft.29 Die Vorstellung von gruppenspezifisch oder gesamtgesellschaftlich hergestellten Sinnsystemen, Weltinterpretationen und Handlungsorientierungen als Ergebnis von Personenhandeln ist stark verkürzt; sie vergisst, dass Personen Sinnsysteme vorfinden und zuallererst in ihnen und durch sie agieren und interpretieren. So führt dies schließlich in eine unerkannte Determination der Personen, die in der Kulturgeschichte keineswegs, trotz der nachdrücklichen Anteilnahme an ihnen, als ‚makers of history‘ erscheinen. Sie werden nicht anders als in der Sozialgeschichte zu Marionetten, die an Fäden geführt werden.30 Letztlich kann dadurch auch in der Kulturgeschichte – wie in der Sozialgeschichte – historischer Wandel nicht konsistent erklärt werden. 26

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Vgl. Reckwitz, Die Transformation der Kulturtheorien, S. 571. Vgl. exemplarisch als eine der ersten Studien Ginzburg, Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600 (1979). Dieses Problem bleibt aber auch bei Pierre Bourdieus Habitusbegriff bestehen. Es werden zwar dessen Bedingungen, nicht aber seine konkrete Entstehung thematisiert. Der Habitus kann zudem zwar heuristisch beschrieben, aber kaum empirisch geprüft werden, da er alles enthält, was die Person in Bourdieus Theorie ausmacht: Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata, Körperlichkeit, Moral, Geschmacksempfindungen und ästhetische Einstellungen, darüber hinaus dies alles bedingend und zugleich hervorbringend: auch objektive Strukturen der Klassenlage, des Milieus usw. Der Habitus ist „Erzeugungsprinzip objektiv klassifizierbarer Formen von Praxis und Klassifikationssystem […] dieser Formen“ zugleich. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 277. Vgl. Geertz, Dichte Beschreibung. Bemerkungen, S. 21. Zu dieser Problematik vgl. Mergel, Kulturgeschichte, S. 70f. Die Kulturgeschichte changiert hier zwischen poststrukturalistischer Uneinsehbarkeit in die Grundlagen des Handelns (der Text ist der Text und nichts sonst) und Parteinahme für die Person und ihre Hervorbringungen. Vgl. Mergel, Kulturgeschichte, S. 64f., S. 69ff. Vgl. Mergel, Kulturgeschichte, S. 70. Zu einer alternativen kulturgeschichtlichen Programmatik vgl. ders., Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik. Zur Bedeutung einer relativ autonom agierenden historischen Person für das Verständnis historischer Vorgänge vgl. Kurig, Bildung für die technische Moderne, S. 51f.

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Gleichermaßen bleibt in der Kulturgeschichte unklar, in welchem Verhältnis Symbol- und Sinnsysteme sowie Handlungen zu sozialen Strukturen und Institutionen stehen, die bei genauerer Hinsicht keineswegs ständig ‚hergestellt‘ werden im Sinne eines Neubeginns. Im Gegenteil besitzen Sozialstruktur und Institutionen eine eigene Substanz, die durch politische Entscheidungen, Gesetze und Verordnungen stabilisiert, reguliert oder auch verändert wird. Selbst wenn Institutionen wiederum als kodifizierte, symbolische Ordnungen von Werte- und Normensystemen gedeutet werden, ist in der Kulturgeschichte doch ungeklärt, welchen Einfluss die dann bestehenden Institutionen auf Orientierungen und Handlungen nehmen31 und wie das Verhältnis von Person und Institution oder Sozialstruktur generell konzipiert ist. Sollten auch hier letztlich nicht mehr als gewisse Interpretations- und Handlungsspielräume gegenüber Institutionen und Strukturen gemeint sein, dann entfällt die scharfe Entgegensetzung zur Sozialgeschichte, mit der sich die Kulturgeschichte profiliert hat. Werden aus kulturgeschichtlicher Sicht zudem Diskursregime und Regierungstechniken in den Vordergrund gestellt, dann besteht der Gegensatz zur Sozialgeschichte nicht in der Subjektkonzeption, sondern in den Ursachen von dessen Determination. Sollte jedoch ein grundlegend schöpferischer Impuls gemeint sein, der die Person auszeichnet und der den historischen Verlauf vorantreibt, dann vernachlässigt die Kulturgeschichte Handlungs- und Interpretationsvorgaben der Personen, die gesellschaftlich, d. h. übersubjektiv, vorhanden sind. Meine Kritik an beiden Paradigmen, Sozialgeschichte und Kulturgeschichte, lautet daher, dass ihnen eine differenzierte Fassung des Verhältnisses von Person und Gesellschaft fehlt. Um die Differenzen und die theoretischen Probleme der Sozial- und Kulturgeschichte zu bearbeiten, eignet sich eine erziehungswissenschaftliche,32 insbesondere eine sozialisationshistorische Perspektive. Durch sie können Sozial- und Kulturgeschichte theoretisch konsistent als sich ergänzende Zugänge gefasst werden. Sozialisation ist in neuerer Theorieperspektive eine grundlegend interaktionistische soziale Praxis.33 Sie ist, da stimmen ältere und neuere Sozialisa31 32

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Vgl. Gilcher-Holtey, Kulturelle und symbolische Praktiken: das Unternehmen Pierre Bourdieu, S. 127. Rita Casale hat in einem Beitrag zur Erziehung des bourgeois gentilhomme im Frankreich des 16. und 17. Jahrhunderts aus bildungshistorischer Sicht z. B. dafür plädiert, „das Kulturelle selbst“ „als sozial relevant“ zu denken, also die „sozialen Dynamiken an kulturellen Phänomenen hervorzuheben“. Auf diese Weise kann die Analyse von Erziehungstraktaten dieser Zeit z. B. einen kultur- wie sozialhistorisch relevanten Beitrag der Bildungsgeschichte zur Entwicklung eines französischen Nationalbewusstseins leisten. Vgl. Casale, Die italienische Erziehung des bourgeois gentilhomme, Zitate S. 512. Vgl. exemplarisch Grundmann, Sozialisation, S. 17ff., S. 56ff.; Grundmann/Fuß/Suckow, Sozialökologische Sozialisationsforschung, S. 18. Bis in die 1980er Jahre war die erziehungswissenschaftliche Sozialisationsforschung dagegen stark aus der Sicht der Gesellschaft konzipiert gewesen. In einer deterministischen Akteurskonzeption wurden hier schichtspezifische ökonomische und soziokulturelle Lagen zu gleich-

tionstheorien überein, mit zwei Zielen verbunden: erstens der Mitgliedwerdung in sozialen Gruppen und Formationen, inklusive der Fähigkeit zur Rollenübernahme, und zweitens der Persönlichkeitsentwicklung.34 Wenn Sozialisation als Interaktion verstanden wird, müssen zunächst soziale Nahverhältnisse genauer gefasst werden: „Eine […] Bestimmung von Sozialisation als mikrosoziale Praxis des Zusammenlebens hat den Vorteil, dass der Gegenstandsbereich der Sozialisationsforschung [sich] durch die Analyse von Sozialbeziehungen als formale Gestaltung sozialisatorischer Praxis, vornehmlich von Generationenbeziehungen im weitesten Sinne (die nicht nur Eltern-Kind-, sondern auch Lehrer-Schüler- und Gleichaltrigenbeziehungen umfassen […]) und der sich daraus ergebenden ‚gemeinsamen Lebensführung‘ in Familie, Verwandtschaft und sozialen Bezugsgruppen erschließen lässt.“35

Daraus ergibt sich eine sozialisationshistorische Forschungsperspektive, die eine Verschränkung von Individual- und Gesellschaftsgeschichte zu leisten vermag. Die historische Sozialisationsforschung kann beschreiben, wie sich „Akteure (z. B. Eltern und Kinder oder auch Peers untereinander) verständigen und ihre Erfahrungen austauschen“ und wie sie über soziale Prozesse „eine gemeinsame Vorstellung über ihre Lebensführung entwickeln“.36 Auf diese Weise entstehen Erfahrungszusammenhänge und vergleichsweise stabile Handlungsorientierungen,37 welche die Mitwirkung am sozialen Leben langfristig bestimmen. Über die Interaktion in sozialen Nahverhältnissen wird eine Person zugleich Mitglied weiterer Bezugsgruppen und -systeme; über die Familie beispielsweise eines bestimmten sozialen Milieus, über die Peer Group einer sozialen Bewegung oder einer Partei, über Berufskollegen eines bestimmten Berufsfeldes etc.38

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sam undurchdringlichen Bastionen der Reproduktion sozialer Ungleichheit. Vgl. dazu Groppe, Erziehung, Sozialisation und Selbstsozialisation, S. 85f. Ähnlich Bauer, Keine Gesinnungsfrage, S. 64ff. Früh dagegen die Bedeutung der handelnden Person betonend Hurrelmann, Das Modell des produktiv realitätverarbeitenden Subjekts (1983). Für die Bildungsgeschichte konzeptionell wichtig Herrmann, Historische Sozialisationsforschung, sowie Gestrich, Vergesellschaftungen des Menschen. Ebenso Cloer/Klika/ Seyfarth-Stubenrauch, Versuch zu einer pädagogischen-biographischen historischen Sozialisations- und Bildungsforschung, S. 88ff. Vgl. Herrmann, Historische Sozialisationsforschung, S. 236; Grundmann, Sozialisation, S. 19. Grundmann, Sozialisation, S. 37. Vgl. Grundmann/Fuß/Suckow, Sozialökologische Sozialisationsforschung, S. 28. Grundmann, Sozialisation, S. 38. Handlungsorientierungen beschreiben in diesem Zusammenhang diejenigen Einstellungen, welche Handlungen vorbereiten, bewerten und in größere Zusammenhänge einordnen. Vgl. dazu Nohl, Zur intentionalen Struktur des Erziehens, S. 127f.; Dehnavi, Das politisierte Geschlecht, S. 58f., S. 78ff. Vgl. Grundmann, Sozialisation, S. 38. Dabei muss bedacht werden, dass Sozialisation ein so umfassendes Geschehen ist, nämlich den gesamten Interaktionsprozess zwischen Person und Umwelt meint, dass – ähnlich wie beim Habitusbegriff Pierre Bourdieus – dies durch die empirische Forschung nicht eingeholt werden kann, sondern letztlich nur theoretisch beschrieben werden kann. Dazu kommt noch, dass insbesondere die sozia-

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Mikrosoziale Interaktionen sind dabei gesellschaftlich präformiert: „In ihnen kommen die gesellschaftspolitischen, mitunter strukturfunktionalen Imperative zum Vorschein, unter denen sich sozialisatorische Interaktion und Praxis etablieren.“ Gleichzeitig greifen die am Interaktionsgeschehen „beteiligten Personen bereits auf Sozialisationserfahrungen zurück“, sie handeln „vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungsbiografie und individuellen Lebensführung“.39 Personen bringen ihre Sozialisationserfahrungen in ihr Handeln ein, gestalten dadurch die ihnen angetragenen Rollen und wirken somit mittelbar auch auf Institutionen und auf die Gestaltung sozialer, kultureller und politischer Räume ein.40 In der Theorieperspektive einer interaktionistischen Sozialisationsforschung bleibt die Umwelt als dinglich-materiale Welt,41 als personaler Interaktionspartner, als Rollenanforderung in Institutionen und als Idee und Diskurs substantiell erhalten; sie ist das ‚Gegenüber‘, an und mit dem sich die Person reflexiv entwickelt.42 Jedes Sprechen und jede Handlung ist dabei immer auch eine Re-Aktion, also eine Bezugnahme auf konkrete oder implizite Anforderungen, auf komplexe Problemlagen oder auf neue Umwelterfahrungen. Ohne zu wissen, worauf eine Aussage oder eine Handlung reagiert, kann man diese nur eingeschränkt verstehen. Daher wird in der interaktionistischen Sozialisationsforschung auch explizit auf den Zusammenhang der Persönlichkeitsentwicklung mit der „Strukturgenese sozialer Handlungsweisen“ verwiesen.43 Historische

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lisationshistorische Forschung es zumeist mit einer eingeschränkten Quellenlage zu tun hat. Historische Sozialisationsforschung muss sich deshalb an manchen Stellen mit Kontextbeschreibungen begnügen, und zwar dort, wo die Quellenlage defizitär ist. Grundmann, Sozialisation, S. 42. Auch Rollen (als von der sozialen Umwelt formulierte und sanktionierbare Erwartungshaltungen) müssen in dieser Konzeption somit durch jeden Einzelnen aktiv umgesetzt und dabei handelnd ‚interpretiert‘ werden, ohne von der Umwelt und ihren Vorgaben (als einem Rahmen) unabhängig sein zu können. Darauf verweist bereits Giddens 1988 in „Die Konstitution der Gesellschaft“. Vgl. dazu aus mikrohistorischer Sicht am Beispiel eines Unternehmers des frühen 19. Jahrhunderts Groppe, Der Geist des Unternehmertums, S. 521ff. Die Perspektive des ‚role making‘ war auch in der älteren Sozialisationstheorie vorhanden, sie zog daraus aber keine Konsequenzen hinsichtlich des Verhältnisses von Person und Gesellschaft. Vgl. Groppe, Erziehungsräume; dies., ‚Doing Family‘; Löw, Raumsoziologie. Vgl. dazu auch konzeptionell Groppe, Der Geist des Unternehmertums, S. 22ff.; Dehnavi, Das politisierte Geschlecht, S. 69ff.; ebenso Cloer/Klika/Seyfarth-Stubenrauch, Versuch zu einer pädagogischen-biographischen historischen Sozialisations- und Bildungsforschung, S. 90. Zur Kritik eines emphatischen, sozial unbedingten Subjektbegriffs in der Sozialisationsforschung vgl. Bauer, Keine Gesinnungsfrage, S. 70ff. Hurrelmann/Grundmann/Walper, Zum Stand der Sozialisationsforschung, S. 25. Vgl.: „Sozialisation ist ein Prozess, durch den in wechselseitiger Interdependenz zwischen der biopsychischen Grundstruktur individueller Akteure und ihrer sozialen und physischen Umwelt relativ dauerhafte Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsdispositionen auf persönlicher ebenso wie auf kollektiver Ebene entstehen.“ Ebd. Vgl. zur Kontextanalyse und ihrer Bedeutung für die Darstellung von historischen Sozialisationsprozessen Dehnavi, Das politisierte Geschlecht, S. 64, S. 70. Die Historiker

Bildungsforscherinnen und -forscher sprechen mitunter von epochenspezifischen „Sozialisationsordnungen“, womit konzeptionell ebenfalls ein Rahmen gebildet wird, in dem sich Persönlichkeitsentwicklung vollzieht.44 Der Philosoph Edmund Husserl (1859–1938) formulierte diesen Zusammenhang am Beginn des 20. Jahrhunderts für seine eigene Sozialisation folgendermaßen: „Ich bin als Deutscher erzogen, nicht als Chinese. Aber auch als Kleinstädter in einer kleinbürgerlichen Häuslichkeit und Schule, nicht als adeliger Großgrundbesitzer in einer Kadettenschule.“45 Ein sowohl gesamtgesellschaftlicher als auch klassenspezifischer Rahmen wird hier durch Husserl gefasst als Grundlage seiner Erziehung und Sozialisation. Sozialisationsinstanzen sind, so lese ich Husserl, begrenzend; durch sie wird der soziale Raum abgesteckt, in dem sich die Person entwickelt. Durch diese sozialräumliche Begrenzung wird die Person auch zum Mitglied kleinerer und größerer Kollektive: Kleinbürger oder Großgrundbesitzer, Deutscher oder Chinese. Pierre Bourdieu hat die Sozialisationsbedingungen der Person daher als einen „Möglichkeitsraum“ bezeichnet, in dessen Rahmen Personen ihr Leben selbst gestalten können.46 Ein solcher Möglichkeitsraum setzt aber nicht nur äußere Grenzen, sondern erzeugt, wie bei Husserl angedeutet, auch innere. Für Bourdieu ist dieser Möglichkeitsraum konstitutiver Teil der Entstehung der ‚inneren Grammatik‘ einer Person, ihres „Habitus“.47 Gleichzeitig werden durch die innere Grammatik, bildlich gesprochen, zwar die Regeln der Sprache und die Aussageformen festgelegt, nicht aber die Aussagen selbst. Die Person ist bei Bourdieu, ebenso wie in den neueren interaktionistischen Sozialisationstheorien, also nicht determiniert.48

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Thomas Mergel und Thomas Welskopp plädieren generell für eine Konzeptualisierung des Historischen als Handeln im Kontext von Strukturen, ohne dies allerdings sozialisationshistorisch auszulegen. Vgl. Mergel/Welskopp, Geschichtswissenschaft und Gesellschaftstheorie, S. 32f. Vergleichbar Hettling, Bürgerliche Kultur – Bürgerlichkeit als kulturelles System, S. 321. Tenorth, Klassiker in der Pädagogik, S. 13. In seiner „Geschichte der Erziehung“ unterscheidet Tenorth eine politische, wirtschaftliche und kulturelle Lebensordnung und die Sozialisationsordnung. Vgl. Tenorth, Geschichte der Erziehung, S. 25. Vergleichbar Fend, Neue Theorie der Schule, S. 23f. Husserl, Zur Orientiertheit des Verstehens, S. 161. Bourdieu, Die biographische Illusion, S. 81. Gleichwohl spricht Bourdieu lieber von Akteuren als von Subjekten oder Personen, weil er den Bedingungsgefügen letztlich doch eine größere Bedeutung einräumt als den Individuen. Aber seine Theorie des Habitus bietet Raum für eine Konzeption der Person. Vgl. Bourdieu, Unterrichtssysteme und Denksysteme, S. 86ff.; ders., Die feinen Unterschiede, S. 277f. Vgl. Bourdieu, Unterrichtssysteme und Denksysteme, S. 93ff. Zur theoretischen Begründung eines die Welt innerhalb und mithilfe von Strukturen gestaltenden und deutenden Subjekts vgl. auch Kurig, Bildung für die technische Moderne, S. 47ff., S. 59. Zur Interpretation des Bourdieuschen Ansatzes für die Sozialisationsforschung vgl. Bauer, Keine Gesinnungsfrage, S. 73ff.

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Edmund Husserl benannte in dem vorausstehenden Zitat indirekt einen weiteren wichtigen Aspekt von Sozialisation, nämlich ihre Prozesshaftigkeit. Auf die zeitlich wie in ihrer Bedeutung primäre Sozialisation in der Familie folgt in Europa seit dem 19. Jahrhundert in der Regel der Kontakt mit Sozialisationsinstanzen wie der Schule, den Peer Groups, dem Beruf etc. Dadurch können sich familial erworbene Einstellungen und Handlungsorientierungen verstärken, es kann aber durch die unterschiedlichen Sozialisationsinstanzen auch zu Erfahrungen kommen, die widersprüchlich sind und zur Abschwächung erworbener Positionen führen. Sozialisation ist ein lebenslanges, komplexes Geschehen, und die Persönlichkeitsentwicklung und Mitgliedwerdung sind nicht mit dem Beginn des Erwachsenenalters abgeschlossen. Zugleich ist Sozialisation ein kumulativer Prozess; erreichte Entwicklungen werden als Erfahrungszusammenhänge und Handlungsausrichtungen nicht einfach überwunden, sondern werden aufgehoben (latent bewahrt, verfestigt oder modifiziert) in den darauffolgenden Entwicklungsschritten.49 Über die historische Sozialisationsforschung und die neuere Sozialisationstheorie kann die Differenz zwischen Sozial- und Kulturgeschichte aufgelöst werden zugunsten eines dialektischen Verhältnisses. Die historischen Personen erfahren und internalisieren durch Erziehung, Bildung und Sozialisation die Strukturen, Praxisformen, Normen, Werte und Sinnordnungen ihrer Lebenswelt; sie greifen aber auch handelnd in sie ein, indem sie diese vor dem Hintergrund ihrer spezifischen Sozialisationserfahrungen interpretieren und gestalten. Vor diesem Hintergrund wird die ‚Person‘ von mir als eine relativ autonome Instanz gefasst, die weder von Sinnsystemen noch von Strukturen deterministisch abhängig ist. Mit dem Begriff der Person wird zugleich vermieden, die Bedeutung des persönlichen Handelns in der Geschichte entweder gering zu gewichten (‚Akteur‘) oder zu überhöhen (‚Subjekt‘).50 Zudem vermeidet der Begriff die Problematik 49

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Miriam Gebhardt hat das kürzlich an der Entstehungsgeschichte der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ gezeigt, indem sie die einzelnen Biographien der Widerständlerinnen und Widerständler als Lern- und Erfahrungsgeschichten analysiert hat. Vgl. Gebhardt, Die Weiße Rose, S. 37ff. Vgl. konzeptionell und empirisch zu Sozialisation als biographische Akkumulation von Erfahrungen auch Dehnavi, Das politisierte Geschlecht. Ich schließe hier an Überlegungen von Ian Hunter, Conal Condren und Stephen Gaukroger an, welche in kritischer Auseinandersetzung mit der politischen Ideengeschichte der Cambridge School versuchen, den Begriff der ‚Persona‘ als zentrales Konzept ideengeschichtlicher Forschung zu entwickeln. Vgl. dies., The Philosopher in Early Modern Europe und Hunter, Die Geschichte der Philosophie und die Persona des Philosophen. Hunter hält in dem letztgenannten Beitrag fest, dass er unter dem Begriff der Persona eben kein abstraktes „philosophisches Konzept des Erkenntnissubjekts“ (S. 259) versteht, sondern sehr konkret ein durch historische Forschung zu ermittelndes Selbst, das „als Träger eines spezifischen Ensembles solcher [geistiger] Fähigkeiten in vornehmlich der Weitergabe bestimmter philosophischer Traditionen verpflichteten Institutionen fungiert“ (S. 260). Hunter kommt daher nah an die Fragestellungen historischer Sozialisationsforschung heran, wenn er die Persona des Philosophen so konzi-

von ‚Individualität‘, deren Bedeutung und Bestimmung nicht nur historisch schwierig ist. Ein an solchermaßen verstandenen historischen Personen und ihren Geschichten, und nicht an sozialen Klassen, gesellschaftlichen Teilsystemen etc., entlanggehendes Buch wie das vorliegende ist gleichzeitig geeignet, kulturhistorische Annahmen der gesellschaftlichen Durchschlagskraft von ‚Konzepten‘, ‚Diskursen‘, ‚symbolischen Konstrukten‘ usw. zu untersuchen und dazu die Ebenen des Privaten und Persönlichen differenzierend einzubeziehen.51 Sinndeutungen, Selbstpräsentationen und Handlungen von Personen entstehen immer in einem historischen Rahmen und beziehen sich auf ihn.52 Jede Person der Vergangenheit ist eine ganz und gar ‚historische Person‘ und besitzt eine andere innere Grammatik als eine Person der Gegenwart. Wann, wie und wo jemand am historischen Prozess teilnimmt, strukturiert die Wahrnehmung, die Formen der Selbstpräsentation und die Handlungsoptionen und -weisen. Karl Mannheim beschreibt dieses Phänomen als Erlebnisschichtung und macht dadurch deutlich, dass unterschiedliche Alterskohorten zur selben Zeit in ganz verschiedenen Zeiten leben, d. h. sie legen dieselbe Zeit verschieden aus und handeln dadurch unterschiedlich.53 Es sind also die zeitlich versetzten Sozialisationserfahrungen und gleichzeitig die sich im Zeitverlauf verändernden Sozialisationskontexte und -instanzen, die unterschiedliche Weltinterpretationen, Selbstpräsentationen und Handlungsausrichtungen erzeugen und dadurch zu historischem Wandel führen.54

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piert, dass er „den Wunsch, Philosophie zu treiben“, „als Resultat bestimmter Systeme der Infragestellung und Veränderung des Selbst“ begreift (ebd.). Dies scheint z. B. hinsichtlich vieler neuer Publikationen zur Geschlechtergeschichte und Gefühlsgeschichte notwendig, die oft recht schnell von öffentlich-intellektuellen Debatten und Äußerungen im künstlerischen Feld auf gesamtgesellschaftliche Strukturen und Praktiken schließen. Vgl. z. B. Brunotte/Herrn, Statt einer Einleitung. Männlichkeiten und Moderne; Borutta/Verheyen, Vulkanier und Choleriker. Zur generellen Kritik daran vgl. Langewiesche, Gefühlsraum Nation, S. 196 und S. 210f. Vgl. Gestrich, Vergesellschaftungen des Menschen, S. 12; Dehnavi, Das politisierte Geschlecht, S. 72. „In derselben chronologischen Zeit leben verschiedene Generationen. Da aber wirkliche Zeit nur die erlebte Zeit ist, leben sie alle eigentlich in einer qualitativ völlig verschiedenen Zeit.“ Mannheim, Das Problem der Generationen, S. 517. Vgl. auch die Ausführungen in Teilkapitel 3 dieses Kapitels. Vgl. Gestrich, Vergesellschaftungen des Menschen, S. 30. Dazu treten noch klassenoder milieuspezifische Sozialisationserfahrungen. Die zeitliche Differenz von Sozialisation ist eine zentrale Kategorie, um historische Subjekte und historischen Wandel zu begreifen. Sie ist aber nicht die einzige. Deshalb kann auch nicht von Generationen gesprochen werden, die sich gesamtgesellschaftlich voneinander abheben lassen. Die Heterogenität der sozialen Erfahrungsräume durchkreuzt die Homogenität der Zugehörigkeit zu bestimmten Alterskohorten. Vgl. Jaeger, Generationen in der Geschichte, S. 429ff.; Lepsius, Kritische Anmerkungen zur Generationsforschung. Da es im vorliegenden Buch aber überwiegend um die Mitglieder einer Familie und um das Wirtschaftsbürgertum einer Region geht, kann mit dem Generationskonzept dennoch gewinnbringend gearbeitet werden.

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Wenn die Historische Bildungsforschung ihr Erkenntnisinteresse wie ausgeführt fokussiert, nämlich das historische Verhältnis von Person und Gesellschaft in seiner Vermittlung durch Erziehungs-, Bildungs- und Sozialisationsprozesse zu analysieren, kann sie sozial- und kulturhistorische Perspektiven integrieren und die jeweilige Schwerpunktsetzung dann durch ihr konkretes Forschungsinteresse bestimmen. Vor diesem Hintergrund kann es also beispielsweise eine Historische Bildungsforschung als kulturhistorisch inspirierte Sozialgeschichte geben oder aber eine Historische Bildungsforschung als sozialhistorisch inspirierte Kulturgeschichte.55 Wenn kulturhistorische Fragen dagegen nicht mit sozialhistorischen verbunden werden, dann bleiben Fragen nach der gesellschaftlichen Funktion von Handlungen, Symbolen, Texten etc. unbeantwortet. Wenn umgekehrt sozialhistorische Fragen nicht mit kulturhistorischen Perspektiven verbunden werden, dann bleiben wiederum Fragen nach den persönlichen Voraussetzungen und Auswirkungen, insbesondere hinsichtlich sozialer Hierarchien und politischer Macht, ausgeblendet. Kurz: Auf die Integration des ‚Sozialen‘ kann nicht ohne deutlichen Verlust an Erkenntnis verzichtet werden. Im vorliegenden Buch entscheidet die jeweilige Fragestellung in den einzelnen Kapiteln, ob eine kultur- oder eine sozialgeschichtliche Perspektive jeweils den Schwerpunkt bildet.

3. Konzeption des Buchs und Untersuchungsgegenstand Das vorliegende Buch ist als eine Reihe von ‚case studies‘ angelegt. Demgemäß entsteht anders als in meiner ersten Studie keine chronologische Familienbiographie, sondern es werden an konkrete Fälle aus der Unternehmerfamilie Colsman die eingangs dieses Kapitels formulierten acht Fragen gerichtet, welche den aktuellen bildungshistorischen Diskussions- und Forschungsstand zum Kaiserreich kritisch aufgreifen. Die Unternehmerfamilie mit ihren verschiedenen Kernfamilien und vielfältigen Verwandtschaftsbeziehungen wird in diesem Zusammenhang als ein dynamisches, gleichwohl auf das Familienunternehmen bezogenes Beziehungsgeflecht verstanden,56 das sich einerseits in seinen Interaktionsformen während des Kaiserreichs veränderte, andererseits aber stets ein wichtiger Bezugsrahmen für alle Familienmitglieder blieb.

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Vgl. Groppe, Die Macht der Bildung, S. 11ff.; Groppe, Der Geist des Unternehmertums, S. 20ff.; Dehnavi, Das politisierte Geschlecht, S. 47ff. Der Begriff der ‚Unternehmerfamilie‘ wird im Buch genutzt, um die Unternehmerfamilie Colsman insgesamt, als Verwandtschaftsfamilie, synchron wie diachron zu bezeichnen. Die Begriffe ‚Kernfamilie‘ und, zur leichteren Lesbarkeit, ‚Familie‘ bezeichnen dagegen Eltern-Kind-Konstellationen ohne Seitenverwandte oder Großeltern.

‚Case studies‘ setzen auf „Prüfung oder Erweiterung bestehender oder Gewinnung neuer wissenschaftlicher Erkenntnis“.57 So kann einerseits vermeintlich Individuelles in seiner historischen ‚Typik‘ und als „Gesellschaftliches“58 sichtbar werden. Andererseits können ‚case studies‘ von bisherigen Forschungspositionen abweichende Ergebnisse erzielen, die neue Thesen generieren und damit zu weiterer Forschung auffordern. Die Aufmerksamkeit der Forschenden richtet sich bei Fallstudien naturgemäß vor allem auf Phänomene, die den vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht entsprechen, also auffällig und erklärungsbedürftig sind. Letztlich können auch nur durch solche Phänomene die wissenschaftlichen Großerzählungen neu befragt und gegebenenfalls korrigiert werden. Emma Rothschild hat den Forschungsansatz für ihre Familiengeschichte der Johnstones im 18. Jahrhundert daher so beschrieben: „The new possibility, in late-modern microhistories, is of connecting micro- and macrohistories by the history of the individuals’ own connections. It is this possibility that I have tried to explore in the Johnstones’ story: to proceed, encounter by encounter, from the history of a family to the history of a larger society of empire or enlightenment or ideas.“59

Die Geschichte von Familien durch deren Verbindungen und Erfahrungen mit konkreten Ereignissen, Personen und Spezifika einer Epoche zu einem besonderen Blick auf ein ganzes Zeitalter zu machen, ist eine fruchtbare Möglichkeit biographischer und sozialisationshistorischer Forschung in allgemeiner Absicht. Ich verwende für mein eigenes, sozialisationshistorisches Vorgehen den Bourdieuschen Begriff des „Möglichkeitsraums“ deshalb noch in einer zweiten, bei Bourdieu ebenfalls angelegten Weise. Möglichkeitsräume verstehe ich nicht nur als die Summe derjenigen Sozialisationskontexte, in denen sich eine Person konkret bewegt und sozialisiert, sondern ich begreife sie auch als Teilelemente zu rekonstruierender größerer gesellschaftlicher Zusammenhänge. Eine Schule ist Teil eines bestimmten Schultyps innerhalb eines Bildungssystems, ein Regiment ist Teil einer in bestimmter Weise verfassten Armee usw. Erst durch die Rekonstruktion solcher Zugehörigkeiten entsteht eine klare Kontur der Sozialisationskontexte, welche als Möglichkeitsräume die Optionen der Persönlichkeitsentwicklung bereitstellen. Durch solche Rekonstruktionen entstehen zugleich Teile eines größeren Mosaiks zu einer Bildungsgeschichte des Kaiserreichs. ‚The people’s connections‘ werden zu deren Ausgangspunkt. 57 58

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Vgl. Fatke, Fallstudien in der Erziehungswissenschaft, S. 59, Zitat ebd. Kurig, Bildung für die technische Moderne, S. 64, dort in Zitierung von Gabriele Rosenthal, Die Biographie im Kontext der Familien- und Gesellschaftsgeschichte. Durch biographische Fälle lassen sich „Muster der individuellen Strukturierung und Verarbeitung von Erlebnissen in sozialen Kontexten“ herausarbeiten, die „immer auf gesellschaftliche Regeln, Diskurse und soziale Bedingungen“ Bezug nehmen. Völter/Dausien/Lutz/Rosenthal, Einleitung, S. 7. Zur Fallstudienkonzeption und Fallstudienarbeit in der Erziehungswissenschaft vgl. ausführlich Fatke, Fallstudien in der Erziehungswissenschaft; auch Oswald, Was heißt qualitativ forschen. Rothschild, The Inner Life of Empires, S. 7.

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Clifford Geertz’ Überlegungen zu seinem Erkenntnisinteresse und seiner Arbeitsweise in ethnographischen Studien sind eine dritte Möglichkeit, das Besondere mit dem Allgemeinen zu verknüpfen und lassen sich ebenfalls auf historische Fallstudien übertragen: Ziel ist, so Geertz, mit dem erhobenen Material und seiner Interpretation „den gigantischen Begriffen, mit denen es die heutige Sozialwissenschaft zu tun hat – Legitimität, Modernisierung, Integration, Konflikt […] – jene Feinfühligkeit und Aktualität […] [zu verleihen], die man braucht, wenn man nicht nur realistisch und konkret über diese Begriffe, sondern – wichtiger noch – […] mit ihnen denken will“.60 Das vorliegende Buch versucht beides, eine Bildungsgeschichte des Kaiserreichs zu schreiben und darüber hinaus einen Beitrag zur Debatte um Prozesse und Ambivalenzen der Modernisierung zu leisten: zu Fragen der Autorität in politischen, gesellschaftlichen und privaten Sphären, zu Nationalismus und Globalisierung, zu Geschlecht als gesellschaftlicher Strukturkategorie, zur Bürgergesellschaft und zu neuen Massenphänomenen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. In einem an Fallstudien aus einer wirtschaftsbürgerlichen Familie entlanggehenden Buch können nicht alle Phänomene einer Gesellschaft in den Blick genommen werden. Vielmehr treten nur bestimmte Aspekte hervor. Daher muss dargelegt werden, wofür der ausgesuchte Fall bzw. die Fälle denn stehen bzw. worüber sie etwas aussagen können, insofern die Familienmitglieder nicht schon in politischer, ökonomischer oder kultureller Hinsicht von herausragendem Interesse sind.61 Percy Ernst Schramm, Pionier einer wissenschaftlichen Familienbiographik, hat Kriterien benannt, die eine Familie erfüllen muss, um zum Gegenstand einer Untersuchung zu werden, die zur Überprüfung historischer Wissensbestände herangezogen werden soll: regionale Konstanz, kontinuierliche Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht, übersichtlicher Personenbestand, keine herausragenden Persönlichkeiten, weder als nationale Berühmtheiten noch als problematische Fälle innerhalb des Familienverbandes, Teilnahme der Familie an den Ereignissen und Prozessen der Geschichte und eine kontinuierlich dichte Quellenlage.62 Die Erfüllung der genannten Kriterien macht die Unternehmerfamilie Colsman zu einem aufschlussreichen Prüfstein für bildungshistorische Fragen an die Epoche des Kaiserreichs und sein Bürgertum: Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts besitzt und führt die Familie ihr Unternehmen. Heute leitet sie es in der achten Generation und blickt auf eine über 250 Jahre währende Geschichte in der Textilindustrie zurück. Die männlichen Familienmitglieder haben ihr Unternehmen als aktive Eigentümer-Unternehmer 60 61

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Geertz, Dichte Beschreibung. Bemerkungen, S. 33f. Dies wäre z. B. der Fall, wenn eine Person in politische Entscheidungen von großer Tragweite eingreift oder es sich um einen herausragenden Künstler oder eine herausragende Künstlerin handelt. Obwohl sich hier dieselbe Frage stellen ließe, nämlich die nach dem Stellenwert des Falles, wird dies in der Regel nicht getan, sondern die Bedeutsamkeit wird vorausgesetzt. Vgl. dazu auch Oswald, Was heißt qualitativ forschen, S. 73. Vgl. Schramm, Neun Generationen, Bd. 1, S. 5f.

dabei stets selbst geführt.63 Die Unternehmensleitung organisierten sie im Kaiserreich in Form einer offenen Handelsgesellschaft mit mehreren Teilhabern, so dass sich fortwährend mehrere Familienmitglieder (Brüder, Onkel, Cousins etc.) die Führung des Unternehmens teilten.64 Aber auch die jüngeren Brüder oder männliche Seitenverwandte, die nicht in die Leitung des Familienunternehmens aufgenommen wurden, suchten in der Regel nicht den Umstieg in bildungsbürgerliche Berufe, Rentierexistenzen oder in den Adelsstand, sondern gründeten eigene Textilunternehmen.65 Die Geschichte der Unternehmerfamilie Colsman fügt sich sozial, ökonomisch und kulturell in die Geschichte vieler Kaufmanns- und Industriellenfamilien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ein.66 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war das Bürgertum insgesamt in Zahl und Berufsgruppen stark expandiert; das Wirtschaftsbürgertum, d. h. die Industriellen, Großkaufleute und Bankiers, hatte dagegen eine hohe Konstanz in den unternehmerisch tätigen Familien behalten.67 Für den Zeitraum von 1800 bis in die 1870er Jahre ist es auffällig, „wie sich im Verlauf eines frühen Konzentrationsprozesses eine relativ kleine oligarchische Funktionselite aus Industriellen und Bankiers, Kapi63

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Obwohl vertraglich nicht ausdrücklich ausgeschlossen, wurde für den Zeitraum von der Unternehmensgründung bis zum späten 20. Jahrhundert nur eine männliche Nachfolge in Erwägung gezogen. Frauen waren nicht de jure, aber de facto von der Unternehmensnachfolge ausgenommen. Der Unternehmerbegriff beschreibt in meiner Untersuchung die Tätigkeit im sekundären und tertiären Sektor als Fabrikant, Kaufmann oder Bankier. Unternehmer werden demnach in meiner Untersuchung bestimmt als diejenigen, die als Eigentümer-Unternehmer oder angestellte Unternehmer sich in einer Position befinden, in der sie in den und für die Unternehmen aktiv die wesentlichen Entscheidungen treffen können und zugleich über deren Zielsetzung und Positionierung am Markt verantwortlich bestimmen können. Zu einer solchermaßen positionalen Unternehmerdefinition vgl. in Anlehnung an Toni Pierenkemper Schumann, Bayerns Unternehmer, S. 18f. Auch das war nicht untypisch. Schumann hat für die Großunternehmer in Bayern gezeigt, dass auch hier eine Reihe von Familien mit langen Unternehmertraditionen existierten (vgl. Schumann, Bayerns Unternehmer, S. 213ff.) und auch deren Söhne und Schwiegersöhne, insbesondere in Industriellenfamilien, wiederum überwiegend (zu zwei Dritteln) Unternehmer wurden (S. 199). Vgl. Schramm, Neun Generationen; Kraus, Die Familie Mosse; Chernow, Die Warburgs; Soénius, Wirtschaftsbürgertum. Bis zum Ersten Weltkrieg war die überwiegende Mehrheit der deutschen und europäischen Industrieunternehmen in Familienbesitz, in denen die Familienmitglieder entweder aktiv handelnd im Unternehmen tätig waren oder aber die Leitung des Unternehmens Managern übertragen hatten, ohne jedoch ihren Unternehmensbesitz aufzugeben. Vgl. Cassis, Unternehmer und Manager, S. 46. Vgl. Ziegler, Großbürger und Unternehmer. Zum Wirtschaftsbürgertum zählen auch nicht unternehmerisch tätige Kapitalbesitzer als Investoren oder Rentiers. Da diese aber das Wirtschaftsbürgertum des Kaiserreichs nicht prägten, sondern dies vielmehr die aktiven Unternehmer sowohl quantitativ als auch in der öffentlichen Wahrnehmung taten, wird in diesem Buch auf eine weitere Unterscheidung zwischen Unternehmern und anderen Wirtschaftsbürgern verzichtet. Der Begriff des Wirtschaftsbürgertums wird überwiegend dann benutzt, wenn es um Abgrenzungen von anderen sozialen Klassen geht. Vgl. dazu Schumann, Bayerns Unternehmer, S. 19.

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talbesitzern, Managern und Anwälten immer wieder in den Schlüsselpositionen der großen Unternehmen traf“.68 Das Unternehmertum blieb aber auch über diesen Zeitraum hinaus sozial exklusiv: Rund 76% der Großunternehmer stammten zwischen 1890 und 1914 aus Großunternehmer- und gewerblichen Unternehmerfamilien.69 Konzentriert man den Blick auf im 19. und 20. Jahrhundert industriell führende Regionen, zum Beispiel auf die preußische Rheinprovinz und die Provinz Westfalen, so wird die Dominanz der etablierten und vermögenden Unternehmerfamilien noch deutlicher: Die rheinisch-westfälischen Unternehmer stammten hier bis 1870 zu rund 84% aus Unternehmerfamilien oder sehr gut situierten Handwerkerfamilien und besaßen in ihrer Mehrheit bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine höhere Schulbildung.70 Bei den Textilfabrikanten stammten im rheinisch-westfälischen Raum zwischen 1871 und 1914 sogar fast 100% aus Unternehmerfamilien.71 Die Unternehmerfamilie Colsman mit ihrer langen unternehmerischen Tradition ist also kein singulärer Fall, sondern steht mit ihren sozialen und ökonomischen Rahmendaten stellvertretend für eine Mehrheit der Unternehmerfamilien im Kaiserreich. Sie ist zugleich Teil eines Wirtschaftsbürgertums, das im Verlauf des Kaiserreichs zunehmend an ökonomischer Bedeutung, politischem Einfluss und öffentlicher Resonanz gewann.72 So nahmen die Debatten in Parlamenten, Vereinen, Zeitungen und Zeitschriften in wachsendem Maß Bezug auf eine Gesellschaft, in der wirtschaftliche Fragen, d. h. die Industrie, die Technik und die Welt der Arbeit, immer wichtiger wurden.73 Dabei unterschied sich die Unternehmerfamilie Colsman – und mit ihr die große Mehrheit des deutschen Wirtschaftsbürgertums74 – deutlich von jenen Unternehmerfamilien, deren Unternehmen, Vermögen und Lebensform nicht eine größere Fraktion innerhalb des etablierten Wirtschaftsbürgertums repräsentierten, sondern die eine sehr kleine, äußerst reiche und über riesige Unternehmensimperien verfügende Gruppe an dessen 68 69

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Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 3, 1849–1914, S. 113. Vgl. Zunkel, Das Verhältnis des Unternehmertums zum Bildungsbürgertum, S. 91; Kaelble/Spode, Sozialstruktur und Lebensweisen deutscher Unternehmer, S. 167ff.; Schumann, Bayerns Unternehmer, S. 204ff. Vgl. Lesczenski, Die „nächst den Kirchenführern am wenigsten flexible Elitegruppe“, S. 172; Beau, Das Leistungswissen des frühindustriellen Unternehmertums, S. 66; Lundgreen/Kraul/Ditt, Bildungschancen und soziale Mobilität, S. 233, S. 265ff. Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 3, 1849–1914, S. 116, S. 716. Vgl. Kroll, Geburt der Moderne, S. 70f. Vgl. zur Entwicklung des Mediensektors im Kaiserreich Bösch, Öffentliche Geheimnisse; Kroll, Geburt der Moderne, S. 90ff. Zur Vermögenslage z. B. des Kölner Wirtschaftsbürgertums derselben Zeit vgl. OepenDomschky, Kölner Wirtschaftsbürger im Deutschen Kaiserreich, S. 44ff. Vergleichbar in Unternehmen und Vermögenslage mit der Unternehmerfamilie Colsman ist die Tuchfabrikantenfamilie Scheidt im benachbarten Kettwig, vgl. Soénius, Wirtschaftsbürgertum, S. 56ff. Zu den vergleichbaren Vermögen auch der bayerischen Großunternehmer im Kaiserreich vgl. Schumann, Bayerns Unternehmer, S. 218.

Spitze darstellten.75 Unternehmerfamilien wie die Colsmans waren während des gesamten Kaiserreichs Teil eines vermögenden und ökonomisch wie gesellschaftlich etablierten Wirtschaftsbürgertums, aber sie gehörten nicht zu den neuen Magnaten, wie sie in Deutschland die Krupps und Thyssens repräsentierten oder – noch symbolträchtiger für die ‚neue Zeit‘ – die neuen US-amerikanischen Öl-, Stahl- und Eisenbahntycoons wie Carnegie, Rockefeller, Stanford und Vanderbilt, deren Aufstieg und sagenhafter Reichtum in der Forschung im Kontext des industriellen Take-Off der Vereinigten Staaten im ‚Gilded Age‘ und in der ‚Progressive Era‘ zwischen dem Ende des Bürgerkriegs und dem Beginn der 1920er Jahre gedeutet werden.76 Gleichwohl war auch das deutsche Wirtschaftsbürgertum in seiner Gesamtheit im Kaiserreich deutlich vermögender geworden; es wurde zugleich selbstbewusster, öffentlich sichtbarer und gesellschaftlich einflussreicher und war mit der Politik und der höheren Beamtenschaft immer besser vernetzt. Das Unternehmen Gebrüder Colsman nahm zudem an den zentralen ökonomischen Entwicklungen im Kaiserreich teil. Bereits ab der Mitte des 19. Jahrhunderts agierte das Unternehmen in wachsendem Maße global, mit Kunden für seine Seidenstoffe in den USA, Südamerika, Japan und Indien; der Export in das europäische Ausland, insbesondere Großbritannien, und in die USA nahm dabei an Bedeutung stetig zu. Damit hatte das Unternehmen Anteil an der ‚ersten Globalisierung‘ (C. Torp) der Ökonomie zwischen den 1860er Jahren und dem Beginn des Ersten Weltkriegs, in der sich die deutschen Exporte mehr als vervierfachten und sich die deutsche Wirtschaft zunehmend international verflocht.77 Gleichzeitig war das Unternehmen Teil der rasanten Hochindustrialisierung im deutschen Kaiserreich. 1886 wurde mit dem Bau einer mechanischen Weberei in der Gemeinde Kupferdreh (heute ein Stadtteil der Stadt Essen im Ruhrgebiet) begonnen, welche in der Nachbarschaft des Wohnorts der Familie, der Kleinstadt Langenberg, lag. 1887 wurde die Produktion dort aufgenommen. Die Fabrikfertigung mit dampfmaschinengetriebenen Webstühlen ersetzte in den folgenden Jahren erfolgreich die Manufakturarbeit und die 75

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Dies waren insbesondere Industrielle aus Chemie-, Elektro- und Schwerindustrie und Bankiers, z. B. Bertha Krupp von Bohlen und Halbach mit 187 Mark Vermögen und 17 Millionen Mark Einkommen, Eduard Veit von Speyer, der Mitinhaber des Bankhauses Lazard-Speyer-Ellissen, mit 76 Millionen Mark Vermögen und 2–3 Millionen Mark Einkommen oder August Thyssen mit 55 Millionen Mark Vermögen und 2,6 Millionen Mark Einkommen. Vgl. Martin, Jahrbuch des Vermögens und Einkommens, Bd. 1, S. 1. Die Verlässlichkeit der Berechnungen von Martin hat Augustine überprüft und bestätigt, vgl. Augustine, Patricians and Parvenus, S. 22f. Sie selbst hat die 500 reichsten deutschen Unternehmer mit Vermögen über 6 Millionen Mark untersucht. Vgl. ebd., S. 19. Vgl. exemplarisch Link/Link, The Gilded Age and Progressive Era, mit zeitgenössischen Dokumenten. Der deutsche Export stieg in diesem Zeitraum in laufenden Preisen von 2,3 Milliarden Mark 1872 auf über 10 Milliarden Mark 1913 an. Das deutsche Kaiserreich stieg neben Großbritannien und den USA zur exportstärksten Wirtschaft weltweit auf. Vgl. Torp, Erste Globalisierung und deutscher Protektionismus, S. 427f.

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Heimweberei. Aus nach Stücklohn bezahlten Heimwebern und einem Betrieb mit wenigen fest angestellten Manufakturarbeitern und Verwaltungskräften entstand eine dauerhaft beschäftigte Arbeitnehmerschaft aus Arbeitern und Angestellten in einer Fabrik. 1904 waren 1.040 Personen im Unternehmen beschäftigt.78 Es gehörte damit im deutschen Kaiserreich zu den Großunternehmen mit über 1.000 Beschäftigten und seine Inhaber zu den Großunternehmern.79 Die Geschichte der Unternehmerfamilie Colsman weicht aber auch in einigen Punkten von den großen Linien der Geschichte des Kaiserreichs ab. Die Familie lebte insgesamt nicht großstädtisch, sondern blieb kleinstädtisch. Der große Trend der Urbanisierung, die sich insbesondere in einer deutlichen Zunahme der Großstadtbevölkerung ausdrückte (1910 gab es bereits 48 Großstädte mit einer Einwohnerzahl über 100.000, während es 1871 erst acht gewesen waren),80 und die wachsende Siedlungsmobilität81 spiegelten sich nicht in der Lebensform der Familie wider. Aber ein ‚Mitglied der bürgerlichen Klassen‘ (Max Weber) und ein Teil der ökonomischen Elite oder der Bildungselite zu sein, bedeutete nicht zwangsläufig, ein Großstädter zu sein. Die Provinz war nicht zwingend provinziell, wie sich am akademischen ‚Weltdorf‘ Heidelberg zwischen den 1880er und 1920er Jahren und an vielen kleinstädtisch situierten, aber weltweit operierenden Unternehmen und ihren Inhabern zeigen lässt.82 Die Unternehmerfamilie Colsman war als Teil des Wirtschaftsbürgertums auch Teil des Bürgertums insgesamt. Die soziale Formation des Bürgertums 78

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Vgl. FFA, 9.27, Aufzeichnungen zur Firmengeschichte; FFA, 9.34, Firmengeschichte Gebrüder Colsman. Vor der Errichtung der Fabrik waren 1884 etwa 800 Stühle durch Handweber in Betrieb. Vgl. FFA, B4g242, Paul Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 22. November 1884. Bedingt durch die Problematik der Herstellung sehr feiner Gewebe auf den mechanischen Webstühlen wurde die Seidenweberei erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts vom Handwebstuhl auf mechanische Fertigung umgestellt. 1904 liefen bereits 879 mechanische Webstühle im Unternehmen. Vgl. FFA, 9.27, Aufzeichnungen zur Firmengeschichte. 1907 gehörten in diese Kategorie 478 Unternehmen mit insgesamt knapp 900.000 Beschäftigten. Das waren zwar erst 8% aller Erwerbstätigen, aber bereits ein Drittel aller in Industriebetrieben mit über zweihundert Arbeitern beschäftigten Arbeiter und Angestellten. Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 3, 1849–1914, S. 622. Betriebe, die mehr als 50 Beschäftigte aufwiesen, stiegen von knapp 23% 1882 auf über 42% 1907. Vgl. Mommsen, Wirtschaft, Gesellschaft und Staat im deutschen Kaiserreich, S. 247. Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1, S. 34. Für die Zeit von der Mitte des 19. Jahrhunderts, insbesondere aber von den 1890er Jahren bis zum Ersten Weltkrieg, spricht die Forschung von der „größten Bevölkerungsbewegung in der deutschen Geschichte“. So lebten 1907 bereits 48% der Bevölkerung nicht mehr an ihrem Geburtsort, wobei der Pull-Effekt von den neuen urbanen und industriellen Zentren ausging. Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 3, 1849–1914, S. 504, Zitat S. 503. Vgl. Treiber/Sauerland, Heidelberg im Schnittpunkt intellektueller Kreise; Groppe, Die Macht der Bildung, S. 561ff. Zu einem kleinstädtischen Unternehmen mit globalisiertem Export vgl. exemplarisch Berghoff, Zwischen Kleinstadt und Weltmarkt, S. 143ff.

wird in der Forschung in der Regel in zwei Großgruppen eingeteilt: in das Wirtschafts- und das Bildungsbürgertum, die sich durch unternehmerische Tätigkeit und Besitz (Industrielle, Großkaufleute und Bankiers, aber auch reine Investoren und Rentiers) bzw. akademische Bildung (höhere Beamte, freie Berufe sowie alle, welche eine entsprechende Qualifikation beruflich nutzen wie Zeitungsredakteure, Schriftsteller usw.) auszeichnen. Beide Großgruppen sind von herausragender Bedeutung für die Geschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in Europa: „Wir könnten das 19. Jahrhundert […] auch apostrophieren als das Zeitalter des Bürgertums schlechthin, denn so gut wie alles, was diese Epoche an Neuem hervorbrachte in Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst, wurde geschaffen und getragen von Angehörigen der bürgerlichen Schichten.“83 In diesem Zusammenhang erweist sich insbesondere das Bildungsbürgertum als sozial sehr offene Formation. Zu Beginn des Kaiserreichs stellte es mit rund 40% noch das größte Herkunftsmilieu der Studenten; um 1900 war es vom alten und neuen Mittelstand (Handwerker, kleinere Kaufleute, untere und mittlere Beamte und Angestellte) mit über 50% der Studenten abgelöst worden. Die Söhne der Akademiker und des Wirtschaftsbürgertums stellten zu diesem Zeitpunkt gemeinsam nur noch etwas über 30% der Studenten.84 Über die Hälfte der späteren Angehörigen des Bildungsbürgertums (Einstiege in das Wirtschaftsbürgertum mithilfe eines Studiums ohne entsprechenden familialen Hintergrund waren sehr selten) besaß also bereits um 1900 keinen wirtschaftsoder bildungsbürgerlichen Sozialisationshintergrund mehr. Die Werte und die Lebensform des Bürgertums und ihre teilweise Übernahme durch nichtbürgerliche Klassen beschäftigt die Forschung seit langem, nicht zuletzt weil sich die Frage nach Abgrenzungskriterien des Bürgertums, nicht nur im Kaiserreich, stellt.85 Da Bürgerlichkeit als „kulturelles System“ eben nicht ausschließlich klassenspezifisch ist,86 entsteht einerseits die Frage nach anderen Kriterien der Kohäsion des Bürgertums. Andererseits stellt sich die Frage nach den Voraussetzungen der mentalen Öffnung und der Befähigung anderer sozialer Klassen für die Übernahme bürgerlicher Lebensform und Werte. In beiden Fällen lässt sich die Frage mit ‚Bildung im Bildungssystem‘ beantworten. Auch das Wirtschaftsbürgertum besuchte im Kaiserreich öffentliche höhere Schulen, mindestens bis zum sogenannten ‚Einjährigen‘, also der erfolgreichen Versetzung in die Obersekunda, die Klasse 11 einer höheren Schule, verbunden mit einem wissenschaftlichen Befähigungsnachweis, der im Kaiserreich zur Verkürzung des Wehrdienstes auf ein Jahr berechtigte. Friedrich 83 84

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Bauer, Das ‚lange‘ 19. Jahrhundert, S. 17. Vgl. Groppe, Die Universität als pädagogische Institution, S. 63; Jarausch, Deutsche Studenten, S. 72ff.; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 3, 1849–1914, S. 1210ff. Vgl. exemplarisch Kocka, Bürgertum im 19. Jahrhundert. 3 Bde.; Lundgreen, Sozialund Kulturgeschichte des Bürgertums. Vgl. Hettling, Bürgerliche Kultur – Bürgerlichkeit als kulturelles System, S. 320ff.,

S. 336ff.

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Paulsen, Professor für Philosophie und Pädagogik an der Berliner FriedrichWilhelms-Universität, definierte 1895 ironisch: „[…] gebildet ist, wer eine ‚höhere‘ Schule durchgemacht hat, mindestens bis Untersekunda, natürlich ‚mit Erfolg‘.“87 Die schulische Sozialisation im höheren Schulsystem des Kaiserreichs schuf bei aller Unterschiedlichkeit der familialen Herkunft und Sozialisation gemeinsame Habitualisierungen des Lernens, erzeugte in der Regel eine Wertschätzung theoretischen Wissens, förderte eine Anstrengungs- und Leistungsbereitschaft, vermittelte die Kenntnisnahme kanonischer Belletristik und vieles mehr. Die Teilnahme am höheren Schulsystem war die Grundlage bürgerlicher Kohäsion und der Attraktivität bürgerlicher Lebensform und Werte in nichtbürgerlichen Klassen, vom Adel im Staatsdienst bis zum alten und neuen Mittelstand, selbst dann, wenn die höhere Schule im Kaiserreich von Frühabgängern nach Ableistung der Unterrichtspflicht schon auf einer niedrigeren Klassenstufe wieder verlassen wurde.88 Die Attraktivität des höheren Schulbesuchs bestand nicht allein im ideellen Wert der persönlichen Bildung, sondern insbesondere im deutschen Berechtigungssystem, also in der Verknüpfung von Bildungsabschlüssen öffentlicher Schulen mit Laufbahnzugängen im öffentlichen Dienst, welche im Kaiserreich auch von Handel und Industrie übernommen wurde.89 Dadurch wurden einerseits sozialer Aufstieg bzw. soziale Reproduktion ermöglicht, andererseits aber auch die vorausgehend skizzierten Dispositionen und Werthaltungen erzeugt. Das Bildungsbürgertum mit seinen akademischen Abschlüssen war einbezogen in ein es umgebendes Bildungssystem, durch das im 19. Jahrhundert Bildung im Sinne schulischer und universitärer Qualifikationen ein zentrales Kriterium der sozialen Stratifizierung in der deutschen Gesellschaft geworden war.90 Dies erklärt zum Teil die gegenüber anderen europäischen Staaten herausgehobene soziale und kulturelle Bedeutung des deutschen Bildungsbürgertums, durch das die im eigentlichen Sinne meinungsbildenden Bildungsbürger – Universitätsprofessoren, Oberlehrer, Journalisten, Schriftsteller – im 19. Jahrhundert ein großes Gewicht in öffentlichen Debatten erhielten. Für das deutsche Wirtschaftsbürgertum war das Erreichen des Einjährigen ab der Mitte des 19. Jahrhunderts eine unerlässliche Qualifikation, welche nur 87 88 89

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Paulsen, Bildung, S. 128. Vgl. dazu ausführlich Groppe, Die Macht der Bildung, S. 24ff. Detlef K. Müller hat dies anhand des Berufslaufbahnsystems der Reichspost exemplarisch dargestellt. Unterer Dienst: Schüler aus Volksschulen mit guten Leistungen; Tätigkeit: Facharbeiter in festen Beschäftigungsverhältnissen. Unterer mittlerer Dienst: Schüler aus voll ausgebauten achtklassigen Volksschulen mit sehr guten Noten, Frühabgänger aus höheren Schulen bis Sekunda; Tätigkeit: Assistenten höherer Beamter. Mittlerer Dienst: Einjährige bis Abiturienten; Tätigkeit: Sekretär, Assistent, untergeordnete, aber weitgehend selbstständige Verwaltungstätigkeiten. Unterer höherer Dienst: Abiturienten; Tätigkeiten: Sekretär, Postinspektor, Postdirektor. Höherer Dienst: Studium, Staatsexamen, Referendarzeit; Tätigkeiten: Postrat, Oberpostrat, Oberpostdirektor. Vgl. Müller/Zymek, Sozialgeschichte und Statistik des Schulsystems, S. 16. Vgl. Müller/Zymek, Sozialgeschichte und Statistik des Schulsystems, S. 17.

die öffentlichen höheren Schulen bereitstellten; nach der Jahrhundertwende waren wirtschaftsbürgerliche Familien aufgrund steigender Anforderungen an den Unternehmerberuf dann auch offen für Abitur und Studium der Söhne. Für alle Schüler höherer Schulen aber galt, dass die Schule Fähigkeiten und Handlungsorientierungen vermittelte, welche die Wertschätzung und die Übernahmefähigkeit eines bürgerlichen Lebensmodells der Balance – eigenständige Integration der sozialen Felder in einem Lebensentwurf, innengeleitete Handlungsregulierung und Maßhalten in der Praxis der Lebensführung – förderte. Da alle geschilderten Mechanismen bis nach der Jahrhundertwende nur das Knabenschulsystem betrafen, insbesondere die Möglichkeit sozialen Aufstiegs, müssen die Mädchen und Frauen gesondert betrachtet werden. Private Höhere Töchterschulen waren zunächst Orte bürgerlicher Reproduktion, nicht eines möglichen sozialen Aufstiegs; sie vermittelten Bildung, aber keine verwertbaren Qualifikationen. Das änderte sich erst nach der Jahrhundertwende mit der Eröffnung des Mädchenabiturs. Dennoch spielten Frauen eine wichtige Rolle im Kontext der bürgerlichen Lebensform:91 Sie sorgten nicht zuletzt für eine Familiensozialisation und -erziehung, durch welche ein Lebensmodell der Balance und dessen Akzeptanz und Umsetzungsfähigkeit vorbereitet wurden, und dies nicht nur im Bürgertum. Dennoch dauerte es bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, bis Frauen dies auch gezielt auf sich selbst anwenden konnten, indem sie ihrem eigenen Lebensmodell der Balance auch qualifizierte Berufstätigkeit und Unabhängigkeit von der Familie hinzufügen konnten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts spielte sich nur zehn Kilometer westlich vom Lebensort der Unternehmerfamilie Colsman, der Kleinstadt Langenberg im Bergischen Land, Teil der preußischen Rheinprovinz, einer der gewaltigsten Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozesse der deutschen Geschichte ab: Das Ruhrgebiet entstand. Binnen weniger Jahrzehnte wuchsen Städte wie Essen, Bochum und Dortmund explosionsartig an; Bochum gewann beispielsweise zwischen den 1840er und den 1910er Jahren 2.700%(!) an Einwohnern hinzu, die absolute Zahl der Einwohner stieg von rund viertausend auf hundertzwanzigtausend. Die Arbeiterschaft machte in den Industriestädten des Ruhrgebiets etwa 80% der Einwohnerschaft aus.92 In direkter Nachbarschaft zur Idylle der Kleinstadt Langenberg entstand ein Moloch aus „Industriebetrieben, Verkehrseinrichtungen, Versorgungsleitungen, Abraumhalden, Kanälen und Wohnquartieren“.93 Zieht man die Städte und Dörfer, die das Ruhrgebiet bildeten, zusammen, so stieg deren Bevölkerungszahl von knapp 475.000 1858 auf knapp 2.614.000 1905 an, d. h. sie hatte sich etwa versechs91 92

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Zu weiteren Perspektiven einer Verbindung von Geschlechts- und Klassenfragen vgl. Frevert, „Mann und Weib, und Weib und Mann“, S. 139ff. Vgl. Köllmann/Hoffmann/Maul, Bevölkerungsgeschichte, S. 113ff., S. 158ff., S. 177f. Zur Bevölkerungs- und Stadtentwicklung im Ruhrgebiet auch Reulecke, Das Ruhrgebiet als städtischer Lebensraum, S. 81ff. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 3, 1849–1914, S. 23.

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facht und stieg bis 1933 schließlich auf fast vier Millionen. Gleichzeitig war das Wanderungsvolumen im Kaiserreich, d. h. der stetige Zuzug und Wegzug, noch weit höher; dieses Volumen betrug circa das Achtfache des Wanderungsgewinns, d. h. des konkreten Einwohnerzuwachses.94 Die Bevölkerung wurde in ihrer Zusammensetzung vielfältig, neben Bewohnern der ländlichen Nachbarregionen wanderten viele Polen (als deutsche oder russische Staatsbürger) ein, ebenso Italiener, Iren, Engländer usw.; um 1900 waren 50% der Einwohner im Ruhrgebiet Zuwanderer aus den deutschen Staaten und dem Ausland. Es ist sachlich angemessen, diesen Prozess mit dem Wachstumstempo und dem Aussehen sowie der Bevölkerungszusammensetzung großer US-amerikanischer Industriestädte wie Chicago, Detroit oder New York in derselben Zeit zu vergleichen.95 Der Kontrast zur Kleinstadt Langenberg mit ihrem Stadtkern aus dem 17. und 18. Jahrhundert und den umgebenden bürgerlichen Villen aus dem 19. Jahrhundert hätte nicht schärfer sein können. 1905 besaß Langenberg rund 9.600 Einwohner und war im Kaiserreich zwar auch deutlich gewachsen (1871 waren es rund 4.300 Einwohner gewesen), aber dies war weitgehend durch Eingemeindungen umliegender Dörfer und nicht durch Zuzug geschehen.96 Ohnehin lebten 1910 noch etwa 50% der Bewohner des Deutschen Reiches in Städten und Dörfern unter 5.000 Einwohnern.97 Die Unternehmerfamilie Colsman blieb darüber hinaus einem traditionellen Wirtschaftssektor, der Textilindustrie, verhaftet und gehörte mit ihrem Unternehmen nicht den neuen Leitsektoren Kohle und Stahl, Chemie, Elektrotechnik oder Maschinenbau an.98 Gleichwohl nahm die Verflechtung des Unternehmens mit dem Ruhrgebiet zu. Die Errichtung einer mechanischen Weberei mit großen Maschinensälen in direkter Nachbarschaft zu den Zechen und Stahlwerken war nicht nur geographischen Überlegungen wie dem Zugang zu einem großen Fluss, der Ruhr, geschuldet, sondern folgte auch dem Angebot eines wachsenden Arbeitskräftepotentials im Ruhrgebiet.99 Die Unternehmerfamilie Colsman nahm zugleich teil an der wachsenden internationalen Verflechtung des Kaiserreichs. Nicht nur das Unternehmen agierte bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts global; auch in der Familie wurden die Lebensformen globaler.100 Das reichte von Heiraten der Frauen 94

Vgl. Köllmann/Hoffmann/Maul, Bevölkerungsgeschichte, S. 154; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 3, 1849–1914, S. 505f. 95 Vgl. Mergel, Das Kaiserreich als Migrationsgesellschaft, S. 382f.; Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, S. 35; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 3, 1849–1914, S. 505f. 96 Vgl. Rheinischer Städteatlas, Langenberg, S. 11. 97 Vgl. Kroll, Geburt der Moderne, S. 99. 98 Vgl. Plumpe, Eine wirtschaftliche Weltmacht, S. 47f. 99 Vgl. FFA, 9.27, Aufzeichnungen zur Firmengeschichte; FFA, 9.34, Firmengeschichte Gebrüder Colsman. 100 Der Unterschied zwischen internationaler Verflechtung und Globalisierung kann darin gesehen werden, dass das Internationale als relationaler Bezug zwischen Nationen bzw.

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nach England über die Bildung und Ausbildung der Mädchen und Jungen in Frankreich, der Schweiz, Großbritannien und in den USA bis zu Geschäftsund Privatreisen von Italien bis in den Nahen Osten und nach Nordamerika. Gleichzeitig blieb die Unternehmerfamilie bürgerlich. Kommerzienrats- und Geheime Kommerzienratstitel wurden den männlichen Familienmitgliedern von Staatsseite vielfach verliehen, und diese Titel wurden gern akzeptiert als staatliche Anerkennung ökonomischen Erfolgs und philantropischen Engagements. Ein Adelstitel wurde jedoch in keinem Familienzweig angestrebt oder verliehen. Das war nach aktueller Forschungslage durchaus typisch für das Wirtschaftsbürgertum des Kaiserreichs. Etwa drei Viertel der Industriellen, Großkaufleute und Bankiers besaßen im Kaiserreich keinen Adelstitel, auch sehr vermögende und gesellschaftlich exponierte Schwerindustrielle wie August Thyssen oder Hugo Stinnes lehnten angebotene Nobilitierungen ab. Die Heiratskreise blieben überwiegend bürgerlich, man verblieb in den bürgerlichen Berufsfeldern. Die in der Forschung zuvor lange vertretene Feudalisierungsthese hat sich als nicht haltbar erwiesen.101 Auch kulturell nahm die Unternehmerfamilie Colsman an den Entwicklungen im Kaiserreich aktiv teil: Philosophische und theologische Debatten wurden interessiert wahrgenommen und in Lesezirkeln und Vereinen mitverfolgt und diskutiert; die künstlerische Moderne (insbesondere Malerei und Literatur) wurde aufmerksam, wenn auch überwiegend kritisch-distanziert, in einigen Kernfamilien aber auch euphorisch, rezipiert. Nationalstaaten gefasst wird, während das Globale, ebenso wie das Europäische, nationalstaatsübergreifende Entwicklungen oder Einstellungen beschreibt. Vgl. Caruso/Tenorth, „Internationalisierung“ vs. „Globalisierung“. Jürgen Osterhammel hat allerdings auf die Schwierigkeiten einer Globalgeschichte aufmerksam gemacht, indem er sechs typische Denkfiguren der Globalgeschichte ausmacht und deren epistemologische Probleme beschreibt: Expansion, Zirkulation, Vernetzung, Verdichtung, Standardisierung/Universalisierung und Asymmetrie. Vgl. Osterhammel, Globalifizierung, S. 11ff. 101 Hans-Ulrich Wehler versucht gleichwohl die von ihm lange vehement vertretene Feudalisierungsthese zumindest in Teilen aufrechtzuerhalten, indem er dem Wirtschaftsbürgertum eine besondere Staatsnähe und ein staatshöriges Verhalten (Autoritätsfixierung) zuschreibt. Dazu träten ein klassisch autoritäres ‚Herr-im Haus-Verhalten‘ in den Betrieben und ein in Teilen adelsähnlicher Lebensstil. Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 3, 1849–1914, S. 719ff. Thomas Nipperdey hatte als einer der ersten betont, dass die Übernahme einiger adliger Stilelemente: Schloss, Jagd, aufwendiger Lebensstil, eben noch keine Feudalisierung bedeutet: „Das war alles mehr plutokratisch als feudal, zumal wenn man bedenkt, daß wenigstens der preußische Normaladel ja nur moderat bemittelt war. […] Die westeuropäische Symbiose von Geld und Adel ist in Deutschland nicht zustandegekommen.“ Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866– 1918, Bd. 1, S. 391, sowie Kaudelka-Hanisch, Preußische Kommerzienräte, die ebenfalls der Feudalisierungsthese widerspricht. Weit eher gilt diese für England, wo die gemeinsamen Sozialisationsinstanzen (Public Schools und die Universitäten von Oxford und Cambridge) eine Adel und Bürgertum verbindende Oberklasse schufen und sich darin Bourgeoisie, landed gentry und aristocracy vermischten. Vgl. Berghoff/Möller, Wirtschaftsbürger in Bremen und Bristol 1870–1914.

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Innerhalb der vorausgehend skizzierten soziokulturellen und ökonomischen Rahmenbedingungen spielten sich das Leben der verschiedenen Kernfamilien der Unternehmerfamilie und die Prozesse des Aufwachsens der Familienmitglieder ab. Daher werden in der Untersuchung auch der rasante Umbau des Kaiserreichs von einem Agrar- zu einem Hochindustriestaat und die damit verknüpften Veränderungen – von den gesellschaftlichen Strukturbedingungen bis zu den individuellen Einstellungen und dem Modus der Lebensführung – ausführlich thematisiert. Die Geschichte des Kaiserreichs zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sich dieses innerhalb von vierzig Jahren grundlegend veränderte und sich die von den Familiengenerationen gemachten Erfahrungen zum Teil dramatisch unterschieden. Gleichwohl gab es – so viel sei hier vorweggenommen – in den Briefen der Mitglieder der Unternehmerfamilie keine ‚Krise der Moderne‘: keine krisenhaften Beschleunigungserfahrungen, keine Technikkritik und keine Verlustprosa.102 Aus sozialisationshistorischer Sicht ist dies durchaus zu erklären.103 Die vierte das Unternehmen leitende Generation, geboren im Zeitraum der 1830er und frühen 1840er Jahre, erlebte die Reichsgründung im Erwachsenenalter und führte als männliche Generation das Unternehmen bis zur Jahrhundertwende, zum Teil noch darüber hinaus. Die fünfte Generation erlebte die Reichsgründung als Kind und wuchs bereits im Kaiserreich auf. Die fünfte Generation ist zugleich diejenige, die den Übergang in die Weimarer Republik markiert und das Unternehmen im Ersten Weltkrieg, in der Revolutionszeit und in den ersten Jahren der Weimarer Republik leitete. Ihre Kinder werden als sechste Generation ebenfalls in die Analyse einbezogen, sofern ihre Kindheitsund Jugendphasen noch im Kaiserreich liegen. In der Unternehmerfamilie Colsman spiegeln sich damit in diesen drei Generationen unterschiedliche ‚Erlebnisschichtungen‘ (Karl Mannheim), die das Wirtschaftsbürgertum in seiner Entwicklung im und in seiner Haltung zum Kaiserreich in Fallstudien differenziert analysieren lassen.104 Einbezogen werden auch seitenverwandte Kernfami102

Werner Plumpe hält für die Ökonomie des Kaiserreichs fest, dass auch hier von Krise vor dem Ersten Weltkrieg nicht die Rede sein konnte: „Das Gegenteil war der Fall.“ Plumpe, Eine wirtschaftliche Weltmacht, S. 59. Frank-Lothar Kroll bestätigt dies in seinem Überblick für die Gesellschaftsentwicklung, den Sozialstaat, das Bildungssystem etc. Vgl. Kroll, Geburt der Moderne. Auch die Kulturkritik im Kaiserreich, die weniger eine Kritik der Kultur als eine der modernen Gesellschaft war, spiegelte keineswegs krisenhafte gesamtgesellschaftliche Entwicklungen. Man würde dem Diskurs der Kulturkritiker folgen, würde man ihre Äußerungen in den Rang einer Realitätsbeschreibung erheben. Im Gegenteil, es waren vor allem bildungsbürgerliche Programmatiken, die sich in der Kulturkritik Resonanz verschafften und die sich angesichts eines ab den 1890er Jahren verminderten gesellschaftlichen und diskursiven Einflusses des Bildungsbürgertums einen neuen Referenzrahmen schufen. Vgl. dazu Groppe, Kulturkritik und ‚Geistesgeschichte‘. 103 Vgl. dazu Teilkapitel 2 und 4 dieses Kapitels. 104 Zu Generationskonzepten und ihrer historischen Verwendung vgl. Groppe, Die Macht der Bildung; Groppe, Universität, Generationenverhältnisse und Generationenkonflikte um „68“ sowie Rosenthal, Historische und familiale Generationsabfolge.

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lien, deren jeweilige Väter nicht Teilhaber des Unternehmens Gebrüder Colsman waren, aber im Untersuchungszeitraum in Langenberg lebten und eigene Textilunternehmen führten. Die enge Verwandtschaft – es handelt sich um Brüder der Teilhaber von Gebrüder Colsman –, dieselbe berufliche Tätigkeit und die vergleichbare soziale Lage machen diese Kernfamilien für bestimmte bildungshistorische Fragen deshalb interessant, weil sich hier die Analyse der Lebensformen und Lebensideale, der Erziehung und Sozialisation um Fälle außerhalb des engen Bezugs auf das traditionsbehaftete Familienunternehmen ergänzen lässt.

4. Fragestellungen, Analyseperspektiven und Stand der Forschung zum deutschen Kaiserreich In diesem Buch wird die Mitgliedwerdung und Mitgliedschaft in sozialen Bezugsgruppen und die konkrete Teilnahme an Institutionen mit dem Begriff der Lebensform charakterisiert und als Sozialisationsprozess der Personen analysiert. Mit dem Begriff Lebensform wird verdeutlicht, dass es sich hier nicht nur um vorgefundene ‚Strukturen‘ handelt, sondern auch um aktiv mitgestaltete soziokulturelle Prozesse. Die Lebensform umfasst dabei den Bereich der Familie, der Schule und der Universität, der beruflichen Ausbildung und der Berufstätigkeit, der Peer Groups im Jugend- und Erwachsenenalter, der Vereinstätigkeit etc., also diejenigen Sozialisationsinstanzen und sozialisierenden Institutionen, in denen die jeweiligen Personen aktiv handelnd präsent sind. Die Lebensform beschreibt somit den von Personen erfahrenen und mitgestalteten Nahbereich ihres Lebens,105 ihren Sozialisationskontext. Im Zusammenhang der Lebensform entwickeln Personen dann Weltdeutungen und Handlungsorientierungen, mit denen sie ihr Leben führen; das sind die Ergebnisse ihrer Sozialisationserfahrungen in diesen Kontexten. Gruppenspezifisch gerahmt und zugleich individuell entstehen mit der Lebensform Lebensideale, d. h. Sinndeutungen des Lebens und Ziele, die für das eigene Leben implizit oder explizit formuliert und verfolgt werden und die beide mit Werten, Normen und Weltdeutungen verknüpft sind. Von den Lebensformen analytisch abgehoben wird im vorliegenden Buch die 105

Vgl. zum Begriff und zur Analyse von Lebensformen als „trägen Zusammenhang von Praktiken“ Jaeggi, Kritik von Lebensformen, S. 94ff., Zitat S. 94. Wichtig für mich ist dabei, dass Jaeggi Lebensformen als etwas versteht, das durch Gewohnheiten und Regeln konstituiert wird, innere Zusammenhänge der Praktiken aufweist, überindividuell ist und zugleich in spezifischen gesellschaftlichen Kontexten steht (vgl. S. 102f.). Lebensformen sind zugleich etwas, das durch Zuschreibung von Bedeutung entsteht (vgl. S. 106f.). Die Aufgabe von Lebensformen ist es, sich stellende Probleme auf eine bestimmte Weise zu bearbeiten und zu lösen (vgl. S. 200ff.). Sowohl die Probleme als auch die Lebensformen sind für Jaeggi historisch kontextualisiert und dadurch bis zu einem gewissen Grad auch normiert. Vgl. S. 313ff., S. 330ff.

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Lebenswelt als die gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen (‚als Deutscher erzogen, nicht als Chinese‘, wie es Edmund Husserl formuliert hat), in denen sich die Lebensformen ausbilden. Der Begriff der Lebenswelt umfasst als Sozialisationsrahmen die grundlegenden Strukturelemente einer Gesellschaft: Politik (Herrschaft), Sozialstruktur, Wirtschaft und Kultur.106 Dabei stehen diese vier Dimensionen nicht nur miteinander in Wechselbeziehung, sondern auch mit den Lebensformen und Lebensidealen sozialer Klassen, Schichten und Gruppen und auch mit internationalen Austauschprozessen.107 Analysiert und befragt werden die Lebensformen und die Lebensideale der Unternehmer und ihrer Familien im Kaiserreich über sozialisationshistorische Fallstudien. In den analytischen Blick genommen werden kann dabei nur die historisch einzig zugängliche Seite der Persönlichkeitsentwicklung, nämlich das, was Personen von sich gegenüber anderen preisgeben. Deshalb geht es einerseits um Selbstpräsentationen, also um Vorgänge, durch die Personen sich ihrer Umwelt als Personen mit bestimmten Eigenschaften und Fähigkeiten zeigen möchten, und andererseits um Handlungsorientierungen (Wahrnehmungsweisen und Absichten), also darum, wie sich Personen in sozialen Feldern kommunizierend platzieren und positionieren und wie sie diese Felder mitgestalten wollen. Diese Positionierungen werden wie die Selbstpräsentationen in ihren Potentialen strukturiert und begrenzt durch die soziokulturellen ‚Möglichkeitsräume‘ (Pierre Bourdieu), die den Personen zur Verfügung stehen. Die Kategorie der Generation (in diesem Buch bezogen auf die Familiengenerationen) dient dann dazu, Wandlungsprozesse und Kontinuitäten der Lebensformen und der Lebensideale in familialen Zusammenhängen, also in der Abfolge von Familiengenerationen, sichtbar zu machen. Gleichermaßen sollen so Veränderungen in den Generationsbeziehungen selbst, also im Verhältnis der Eltern zu den Kindern und generell der jungen zu der älteren Erwachsenengeneration, erkennbar werden. Es gibt wohl keine zweite Epoche in der neueren deutschen Geschichte, die wissenschaftlich so unterschiedlich beurteilt wurde – und auch weiterhin wird – wie das deutsche Kaiserreich. Aus seiner Forschungsgeschichte ließen sich daher ohne weiteres die Grundzüge einer Geschichte der neueren Geschichtswissenschaft und auch die Etappen und Veränderungen des öffentlichen histo106

Vgl. zu diesen Kategorien Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 1, 1700–1815, S. 10. 107 Vgl. zu den Analysekategorien Lebensform, Lebensideal und Lebenswelt ausführlich Groppe, Der Geist des Unternehmertums, S. 22ff., sowie Groppe, Theoretische und methodologische Voraussetzungen und Probleme einer bildungshistorischen Familienbiographie – Versuch einer Modellbildung, S. 103ff. Am nächsten steht meinem Konzept einer Verbindung von Lebensform und Lebenswelt Paul Münch, der die Darstellungen in seinen „Lebensformen in der frühen Neuzeit“ nach lebensweltlichen Rahmenbedingungen (Das Reich und die Länder; Stände und Schichten) und nach den in ihnen sich entfaltenden Lebensformen (Lebensrhythmus, Zeitmessung; Haus und Familie; Kindheit, Jugend, Partnerwahl etc.) ordnet. Vgl. ebd., S. 20f.

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rischen Gedächtnisses in der Bundesrepublik Deutschland entwickeln. Zunächst war es die sogenannte ‚Jahrhundertgeneration‘ (Jürgen Reulecke),108 die das Bild dieser Epoche zeichnete, und es war zugleich die Epoche ihrer eigenen Kindheit und Jugend. Historiker wie Hans Rothfels (1891–1976), Gerhard Ritter (1888–1967), Theodor Schieder (1908–1984) und Karl Dietrich Erdmann (1910–1990), welche die neuzeithistorischen Lehrstühle bis in die 1960er Jahre in Westdeutschland besetzten, prägten die Sicht auf das Kaiserreich mit Monographien wie „Bismarck, der Osten und das Reich“ (Hans Rothfels, 1960) oder „Das deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat“ (Theodor Schieder, 1961). Männliche Politiker (‚große Männer‘) und ihre Aktionen (Geschichte der Innen- und Außenpolitik und der Diplomatie) sowie staats- und verfassungsgeschichtliche Fragen dominierten die Forschung. Auf diese Situation reagierte eine Gruppe jüngerer Historiker, die in den 1960er Jahren ihre Karrieren vorbereiteten und zunächst um Einfluss und Stellen rangen. Mit ihnen begannen die ‚Kämpfe um Deutungsmacht‘ im Feld der Geschichtswissenschaft der Bundesrepublik.109 War das Kaiserreich für die Jahrhundertgeneration eine historische Epoche unter anderen und zugleich in ihren sozialen, ökonomischen, kulturellen und technischen Errungenschaften durchaus positiv besetzt gewesen, so wurde das Kaiserreich für die jungen Sozialhistoriker zur weichenstellenden Vorgeschichte des NS-Staats. Mit diesem Perspektivenwechsel verband sich eine theoretische Konzeption, die Strukturen für historisch wirksamer hielt als individuelle Entscheidungen und Handlungen. Zugleich wies die neue Historikergeneration, die selbst überwiegend in den 1930er Jahren geboren worden und somit nicht mehr den Tätergenerationen des NS-Staats zuzurechnen war, einen Kulminationspunkt aus, auf den sie ihre Analysen richteten: die Erklärung der Entstehung des Nationalsozialismus jenseits kurzfristiger historischer Ereignisse und politischer Handlungen. HansUlrich Wehler formulierte dies 2010 so: „[…] was die [die an der 1967 gegründeten Universität Bielefeld sozialhistorisch arbeitenden Historiker, die sog. ‚Bielefelder Schule‘, CG] dann alle gemeinsam teilten […], das war das Inte108

Vgl. Reulecke, Im Schatten der Meißnerformel, S. 11; ders., Generationseinheiten als Erinnerungsgemeinschaften, S. 56. Reulecke schränkt diese Bezeichnung auf die Geburtsjahrgänge 1900–1914 und deren Teilnahme an der Jugendbewegung ein. Man kann die Bezeichnung aber auch in einem größeren Rahmen verwenden, weil Grundkategorien auch für die Geburtsjahrgänge der 1880er und 1890er Jahre gelten: Auch diese wuchsen im Kaiserreich auf, erlebten den Ersten Weltkrieg, zum Teil als junge Soldaten (bis einschließlich des Jahrgangs 1901), waren Jugendliche und junge Erwachsene in der Weimarer Republik, waren Erwachsene in der Zeit des NS-Staats und des Zweiten Weltkriegs und als ältere Erwachsene am Wiederaufbau der BRD und an deren Entwicklung bis in die späten 1960er Jahre, zum Teil entscheidend, beteiligt, ebenso in der DDR. 109 Vgl. zur neuen deutschen Sozialgeschichte ab den 1960er Jahren Stelzel, Rethinking Modern German History, insb. S. 167ff., S. 182f.; Kroll, Historiographiegeschichte als Zeitgeschichte; Dehnavi/Kurig/Wienhaus/Groppe, Gedächtnispolitik in den Geisteswissenschaften. Theoretisch grundlegend zu Kämpfen um Platzierung im Feld der Wissenschaft Bourdieu, Vom Gebrauch der Wissenschaft.

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resse, warum ausgerechnet und nur in Deutschland sozusagen eine radikale Variante des Faschismus sich durchsetzen konnte mit den Folgen eines barbarischen Vernichtungskrieges und des Holocaust.“110 Die hiermit angesprochene ‚Sonderwegsthese‘ wurde in den Werken ihrer Verfechter dann vielfach in Analysen zum Kaiserreich verfolgt.111 Das deutsche Kaiserreich wurde als Konstitutionsepoche interpretiert, in der sich diejenigen politisch-sozialen Kräfte, staatlich-gesellschaftlichen Strukturen und allgemeinen Orientierungen durchgesetzt hätten, die schließlich den Nationalsozialismus ermöglicht hätten: eine Kontinuität der alten Eliten und eine „Matrix der autoritären Gesellschaft“.112 Damit verbunden gewesen sei ein defizitäres bürgerliches Selbstbewusstsein und eine allgemeine Untertanenmentalität sowie die unkritische Akzeptanz eines Obrigkeits- und Interventionsstaats und eine mangelnde gesamtstaatliche Demokratisierung.113 Letztlich formulierten die Sozialhistoriker damit auch eine 110

Hans-Ulrich Wehler im Gespräch mit [transcript] über die Bielefelder Schule (2010). https://www.youtube.com/watch?v=ESwanMtnEWo, Abschrift aus dem Video des Interviews durch die Verf., Zitat: Min. 2:37ff. 111 Vgl. insbesondere Wehlers Buch „Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918“ (1973), das den Auftakt der sozialhistorischen Forschung zum Kaiserreich darstellte und zugleich die zentralen Interpretationslinien vorgab. Thomas Nipperdey setzte sich mit Wehlers Kaiserreich-Buch frühzeitig ausführlich auseinander, die theoretischen, methodischen und politischen Implikationen des Buches kritisch in ihrer interpretatorischen Einseitigkeit aufzeigend. Vgl. Nipperdey, Wehlers „Kaiserreich“ (1975). Im Kontrast zu Wehlers Thesen hatten Geoff Eley und David Blackbourn bereits 1980 eine Interpretation der Geschichte des Kaiserreichs vorgestellt, die das Sonderwegsnarrativ zurückwies und dennoch eine politisch linksorientierte Deutung darstellte. Weder habe es einen auszumachenden Normalweg Frankreichs und Großbritanniens in die Moderne gegeben, noch sei das Deutsche Reich durch ein schwaches Bürgertum und die Dominanz ‚alter Eliten‘ gekennzeichnet gewesen. Im Gegenteil habe es das Bürgertum verstanden, die politischen Strukturen des Kaiserreichs für sich zu nutzen, insbesondere auch gegenüber der Arbeiterschaft. Zugleich müsse das Kaiserreich aber aus seinen spezifischen, eigenen Bedingungen heraus interpretiert werden und nicht aus angenommenen Kontinuitäten vorindustrieller Entwicklungen. Vgl. Eley, Deutscher Sonderweg und englisches Vorbild, S. 56ff. Vgl. zur Forschungsgeschichte zum Kaiserreich auch Berghahn, Das Kaiserreich 1871–1914, S. 37ff. 112 Wehler, Das Deutsche Kaiserreich, S. 122. Wehler benennt in seiner Schlussbilanz in diesem Zusammenhang die „ungebrochenen Herrschaftstraditionen vorindustrieller Machteliten, die Verlängerung des Absolutismus im Militärwesen, die Schwäche des Liberalismus […], die Barrieren gegen soziale Mobilität“. Dazu träten „der eigentümliche Überhang an ständischen Unterschieden und Normen“ und „der geistesaristokratische Grundzug des Bildungswesens, der aus politischen Schwächen und Niederlagen des Bürgertums im 19. Jahrhundert resultierte“. Wehler, Das Deutsche Kaiserreich, S. 235. 113 Vgl.: „Lang ist die Reihe der Hypotheken und Defizite, die dieser Sichtweise zufolge nicht nur die Geschichte des Kaiserreichs, sondern die deutsche Geschichte weit darüber hinaus belasteten: die verhinderte Parlamentarisierung und die steckengebliebene Demokratisierung; die Schwäche des politischen Liberalismus, dem sozial ein Defizit an Bürgerlichkeit entsprach; die unzeitgemäße Dominanz vorindustrieller Normen und Wunschbilder und schließlich die anachronistische Vorherrschaft der alten Machteliten, die ihre überkommene Vormachtstellung mit Zähnen und Klauen verteidigten und zu diesem Zweck auf ebenso erfolgreiche wie folgenreiche Herrschaftsstrategien zurück-

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Interpretation des Sozialisationsrahmens ihrer akademischen Vorgängergeneration. Das Paradigma der Sozialgeschichte und die sich damit verknüpfende Sonderwegsthese schufen eine deutliche Distanz zu dem Welt- und Selbstbild der akademischen Väter und waren zentraler Bestandteil eines Kampfs der jüngeren Wissenschaftler um prominente Positionierung und letztlich um hegemoniale Positionen im akademischen Feld der 1970er Jahre.114 Insbesondere als Geschichte sozialer Klassen, aber auch in der Wirtschafts- und Politikgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wurde die sozialhistorische Perspektive und mit ihr die Sonderwegsperspektive in den 1980er Jahren zeitweilig hegemonial. In den 1990er Jahren veränderten sich die Forschungsperspektiven zum Kaiserreich erneut. Ein einseitig positives Verständnis von Modernisierung, das sich an idealisierten anglo-amerikanischen Entwicklungen orientiert hatte und der Sonderwegsthese unterlegt gewesen war,115 wurde nun ebenso in Frage gestellt wie die nationalstaatliche Begrenzung der Forschungsfragen durch die griffen.“ Torp/Müller, Das Bild des Deutschen Kaiserreichs im Wandel, S. 11f. Torp und Müller konstatieren, dass die „master narrative vom deutschen ‚Sonderweg‘“ sich auf dem Rückzug befinde und „die einst stolze Phalanx der ‚Sonderwegshistoriker‘ auf einzelne Kämpfer zusammengeschrumpft ist“. Zugleich sei die Geltung der Sonderwegsthese „auf den engeren Bereich staatlicher Herrschaft zurückgenommen“ worden. Ebd., S. 14. Vgl. auch Mergel/Lüthi/Maeder, Einleitung, S. 7ff. Als frühen kritischen Beitrag zur Sonderwegsdebatte vgl. Nipperdey, 1933 und die Kontinuität der deutschen Geschichte (1978). Zur aktuellen Evaluation der Sonderwegsthese vgl. Sheehan, Paradigm Lost; Ullmann, Politik im deutschen Kaiserreich 1871–1918, S. 60ff. und Fitzpatrick, A State of Exception. 114 Unter Heranziehung der wissenssoziologischen Ansätze Karl Mannheims und Pierre Bourdieus können innerhalb von Institutionen und ‚intellektuellen Feldern‘ (Wissenschaft, Kunst) die ‚Kämpfe um Deutungsmacht‘ auch als immanente Konflikte von Generationen interpretiert werden (vgl. Mannheim, Das Problem der Generationen). In Pierre Bourdieus Theorie des Feldes (vgl. Bourdieu, Homo academicus; ders., Vom Gebrauch der Wissenschaft) liegt die Betonung dabei auf dem orts- bzw. personengebundenen Charakter von Ideen und Positionen. Diese können prinzipiell nur in ihren komplementären oder oppositionellen Positionen zueinander bestimmt und charakterisiert werden. Begleitet von dem Ziel, eine hegemoniale Position in dem Feld oder der Institution zu erringen, sind die Kämpfe zugleich konflikthafter Ausdruck der ‚Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen‘ (Mannheim), d. h. zeitlich unterschiedlicher Sozialisationsprozesse und entsprechender Problemwahrnehmungen und Lösungsansätze. Vgl. Groppe, Universität, Generationenverhältnisse und Generationenkonflikte um „68“. 115 Im soziologischen Modernisierungskonzept bedeutet Modernisierung den gleichzeitigen Prozess der Industrialisierung, Urbanisierung, Verwissenschaftlichung und Professionalisierung unter sukzessiver Erfassung aller Lebensbereiche. Verbunden mit diesen Entwicklungen ist in diesem Konzept nicht nur eine wachsende Demokratisierung und Liberalisierung von Staat und Gesellschaft, sondern auch ein umfassender Mentalitätsund Wertewandel, der die Prinzipien der Leistung, der Arbeit und des Fortschritts in den Vordergrund stellt und daher zumeist mit Individualisierung verbunden ist. Vgl. zum Konzept der Modernisierung in geschichtswissenschaftlicher Perspektive Nipperdey, Probleme der Modernisierung in Deutschland; Torp/Müller, Das Bild des Deutschen Kaiserreichs im Wandel, S. 14f.

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Sozialgeschichte.116 Transnationale und Globalgeschichte, Geschlechtergeschichte, postmoderne Perspektiven, kulturhistorische Zugänge und – erneut – eine Auseinandersetzung mit und Distanzierung von den Forschungsperspektiven der akademischen, jetzt sozialhistorischen Väter ließen das Kaiserreich neu erforschen und bewerten.117 In der Historischen Bildungsforschung ist seit den 1990er Jahren ebenfalls zu beobachten, dass sich die Forschungsfragen und Interpretationen zum Kaiserreich, die lange Zeit der Sonderwegsthese verhaftet waren, verändern.118 Dabei geht es – wie auch in einem großen Teil der Geschichtswissenschaft – weniger um neue Perspektiven auf das Kaiserreich selbst als um Forschungsfragen, die sich den Vorbedingungen des 20. Jahrhunderts zuwenden und deren Ausgangspunkt im späten Kaiserreich identifizieren. In diesen Untersuchungen werden beispielsweise Entwicklungen des Bildungssystems, der Fürsorgeeinrichtungen, der Unterrichtsregime, der Erziehungs- und Bildungskonzepte und der Lebensphasen Kindheit und Jugend im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert behandelt.119 Die Untersuchungen nehmen dabei häufig ihren Ausgang von den letzten beiden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg, die in der Forschung inzwischen zu den großen europäischen und transkontinentalen Ach-

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Vgl. Mergel/Lüthi/Maeder, Einleitung, S. 16f. Auch wenn die Sonderwegsthese nur in Relation zu anderen Industriestaaten konzeptionell sinnvoll zu denken gewesen war, so dominierte doch die nationalstaatliche Perspektive, zu der die Vergleichsstaaten, insbesondere England und Frankreich, lediglich die idealisierten Reflektoren abgaben. Zur scharfen Kritik an dieser nationalstaatlichen Verengung der Analyseperspektiven und den Auswirkungen vgl. Kroll, Geburt der Moderne, S. 8ff. 117 Vgl. Welskopp, Die Sozialgeschichte der Väter. Ein Beispiel dafür ist der von Sven Oliver Müller und Cornelius Torp herausgegebene Sammelband „Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse“, in dem die neuen Perspektiven auf das Kaiserreich und wichtige neuere Forschungsergebnisse gebündelt werden. 118 Vgl. exemplarisch den von Christa Berg herausgegebenen Band IV des „Handbuchs der deutschen Bildungsgeschichte“ für den Zeitraum 1870–1918. In der Einleitung ist der nationalstaatliche Blick noch dominant sowie die die Sonderwegsthese anleitenden Perspektiven ‚Untertanengesellschaft‘, ‚Obrigkeitsstaat‘ und ‚Militarismus‘ in ihren bildungshistorischen Dimensionen. Vgl. Berg/Herrmann, Einleitung. Industriegesellschaft und Kulturkrise, S. 10ff. Viele Beiträge des Handbuchs zeigen dann aber auch andere Perspektiven auf. Eine recht zugespitzte Darstellung in Richtung ‚Untertanengesellschaft‘ findet sich noch bei Doerry, Übergangsmenschen. Die deutsch-englische Vergleichsstudie von Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben, greift zwar auch auf klassische Interpretationsschemata zurück (autoritäre deutsche Untertanengesellschaft vs. liberalere englische Bürgergesellschaft), zeigt aber ebenso die Ambivalenzen sowie die nationalstaatsübergreifenden Gemeinsamkeiten der Bürgerlichkeit auf. Zum Bürgertum im 19. Jahrhundert jetzt als ausgezeichneter Überblick Budde, Blütezeit des Bürgertums. Zur bildungshistorischen Kritik an der These von Obrigkeitsstaat und Untertanengesellschaft vgl. Kuhlemann, Das Kaiserreich als Erziehungsstaat. 119 Vgl. exemplarisch Kurig, Bildung für die technische Moderne; Baader/Eßer/Schröer, Kindheiten in der Moderne; Caruso, Biopolitik im Klassenzimmer. Paul Nolte spricht für die Geschichtswissenschaft sogar vom „Abschied vom 19. Jahrhundert“. Zit. nach Torp/Müller, Das Bild des Deutschen Kaiserreichs im Wandel, S. 18.

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senzeiten und Liberalisierungsphasen der Neuzeit gezählt werden.120 Politische Epochen und Staatsgrenzen spielen in der neueren Forschung dabei eine eher untergeordnete Rolle. Dies hat den Vorteil, dass der Blick auf epochen- und staatenübergreifende Entwicklungen nicht mehr verstellt ist121 und zum Beispiel die letzten beiden Jahrzehnte des Kaiserreichs nicht nur als eben diese begriffen werden, sondern als Auftakt und Geburtsstunde von Entwicklungen und Problemstellungen, die für das 20. Jahrhundert wesentlich werden sollten. Der Nachteil ist, dass mit der Vernachlässigung politischer Entitäten, d. h. nationaler Staaten und Gesellschaften, deren Komplexität auch nicht mehr in den Blick genommen werden kann.122 Es ist ein Unterschied, ob eine dann notwendigerweise sehr spezifische Fragestellung transnational unter Einbezug des Kaiserreichs untersucht wird oder ob eine umfassendere Frage explizit für das Kaiserreich gestellt wird. Auch im vorliegenden Buch wird das Kaiserreich in dem vorausgehend skizzierten mehrfachen Spannungsverhältnis analysiert. Es geht nicht mehr um eine vermeintliche Grundkonfiguration, wie sie die Sozialgeschichte mit der Reichsgründung und den auf sie folgenden Gründungsjahren, mit Langzeitwirkung auf das gesamte Kaiserreich und noch weit darüber hinaus bis zum Nationalsozialismus, auszumachen meinte. Vielmehr geht es um die Erforschung des Spannungsverhältnisses zwischen den ersten beiden Jahrzehnten nach der Reichsgründung (1871–1890) und den darauffolgenden Jahrzehnten bis zum Ersten Weltkrieg (1890–1914). Reichten die ersten beiden Jahrzehnte in den Lebens120

Vgl. Torp/Müller, Das Bild des Deutschen Kaiserreichs im Wandel, S. 17f. Vgl. als Beispiel Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. Herbert teilt die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert in zwei Hälften ein, die erste bis 1945, die zweite bis zur Gegenwart, welche in den Fragestellungen aufeinander bezogen werden. Die epochenübergreifende Perspektive lässt sich insbesondere an folgender Fragestellung ablesen: „die Durchsetzung der Industriegesellschaft in den beiden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg und die Auswirkungen dieser fundamentalen Umwälzung auf die Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und namentlich auf die Politik in Deutschland im 20. Jahrhundert“. Ebd., S. 17. Vergleichbar Kroll, Geburt der Moderne, sowie Angelow, Der Weg in die Urkatastrophe. 121 Vgl. z. B. Jacobi, Mädchen- und Frauenbildung in Europa; Ginsborg, Die geführte Familie. Ginsborg nimmt für die erste Hälfte des 20. Jahrhundert die Sowjetunion, die Türkei, Italien, Spanien und Deutschland in den Blick. Stärker als interkulturelle Geschichte aus deutscher Sicht angelegt Gippert/Kleinau, Bildungsreisende und Arbeitsmigrantinnen. Symptomatisch für die Tendenz zu staaten- und epochenübergreifender Geschichtsschreibung ist die Reihe des Penguin-Verlags zur europäischen Geschichte, die „Penguin History of Europe“, 2011ff. 2016 erschien der siebte Band der Reihe: Evans, The Pursuit of Power. Europe 1815–1914. Vgl. auch Lenger, Metropolen der Moderne, der ebenfalls eine europäische Perspektive einnimmt. 122 Anders löste dies bereits Gerhard Kluchert. In dem überwiegend von ihm stammenden Text (S. 1–364 in Becker/Kluchert, Die Bildung der Nation) geht es um politische, soziale und kulturelle, insbesondere bildungssystembezogene Kontinuitäten und Brüche über die Epochengrenze des Kaiserreichs hinweg mit dem Ziel, einen Beitrag zur Bildungsgeschichte des beginnenden 20. Jahrhunderts zu leisten.

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formen ihrer Bürgerinnen und Bürger, in Wirtschaftsweise, Kultur und Sozialstruktur weit ins 19. Jahrhundert zurück, so verwiesen die folgenden Jahrzehnte mit ihrer Veränderung der Gesellschaft durch Technik, Industrie, Urbanisierung, Medien usw. voraus auf ein beginnendes, neues Zeitalter.123 Die Übergänge geschahen in den gesellschaftlichen Feldern sukzessive (so hatte sich die Industrie bereits in den 1880er Jahren in der Wirtschaft „strukturdominant durchgesetzt“)124 und waren unterschiedlich stark spürbar, aber „1910 ist es deutlich anders als 1870“.125 Das Diktum vom ‚langen 19. Jahrhundert‘,126 das von der Französischen Revolution 1789 bis zum Ersten Weltkrieg gereicht habe, wird in den folgenden Analysen infolgedessen in Frage gestellt werden. Die gesamtgesellschaftlichen Konstellationen des 20. Jahrhunderts – Verstädterung und Technisierung der Lebenswelt, Politisierung und Partizipation der Massen, Verwissenschaftlichung und Expertenkulturen, Konsumgesellschaft und Massenkultur, rasanter Bevölkerungszuwachs und demographische Frage, Wohlfahrtsstaat und Sozialpolitik, wachsende soziale und räumliche Mobilität, Pluralisierung und Liberalisierung der Lebensformen und Diversifizierung der Lebensideale – entstanden alle in den letzten beiden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg, prägten sie und unterschieden diese deutlich von früheren Jahrzehnten. Die ‚neue Zeit‘ wurde zudem vehement diskutiert. Sie prägte ab den 1890er Jahren die Debatten in der deutschen Politik ebenso wie jene in der Kunst, der Wissenschaft und der Wirtschaft. Wie diese ‚neue Zeit‘ wahrgenommen wurde, ob als fundamentale Veränderung oder als selbstverständlicher Kontext der Lebensführung, hing dabei maßgeblich vom Zeitpunkt der Geburt ab. 1928 beschrieb Karl Mannheim dies in 123

Ob dabei die Schwelle genau um 1890 liegt oder, wie in manchen Publikationen postuliert, erst um 1900, was zugleich eine symbolischere Epochenschwelle wäre, ist für die vorliegende Untersuchung nicht entscheidend. Wichtig ist, dass sich das Kaiserreich so rasant und deutlich veränderte, dass von zwei verschiedenen Zeitabschnitten des Kaiserreichs gesprochen werden kann. Vgl. dazu Herbert, Europe in high modernity, S. 10: „The new element compared with previous decades was that in the most developed countries the tendencies inherent in modern industrial society were no longer limited to specific groups and only some regions, but that life of nearly the entire population in these countries changed.“ Vgl. zur Epochenscheide 1900 auch Kühne, Die Jahrhundertwende, die ‚lange‘ Bismarckzeit und die Demokratisierung der politischen Kultur, S. 117, sowie Kroll, Geburt der Moderne, S. 9, der den Jahren 1900 bis 1914 eine eigene Bedeutung, abgehoben von den Vorjahrzehnten, geben will. 124 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 3, 1849–1914, S. 618. Zur Diskussion um Epochalisierungen des 19. Jahrhunderts vgl. auch Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 99ff. Osterhammel plädiert sogar für eine ‚Vorverlegung‘ einer weltweiten Epochenschwelle in die 1880er Jahre, die er als „Schwellenjahrzehnt“ bezeichnet. Vgl. ebd., S. 103, S. 109ff., Zitat S. 109. 125 Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1, S. 59. Nipperdey trifft diese Aussage im Zusammenhang mit der Familienentwicklung im Kaiserreich. 126 Vgl. Kocka, Das lange 19. Jahrhundert, insb. S. 138ff.; Bauer, Das ‚lange‘ 19. Jahrhundert, S. 30ff.

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seiner Generationentheorie als „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“, um darauf hinzuweisen, dass die Wahrnehmung und Beurteilung von Ereignissen und Veränderungen vom Eintrittszeitpunkt in den Geschichtsprozess abhängt, also von der Zugehörigkeit zu Alterskohorten.127 Es war ein Unterschied, ob jemand – wie die jüngeren Protagonisten im vorliegenden Buch – bereits in zunehmend globalisierten Lebensformen aufwuchs oder ob diese – wie von den älteren Familienmitgliedern – erst im Erwachsenenalter als Neuerung erfahren wurden. Entsprechend verschieden waren Erleben und Interpretation. Dass ‚Normalität‘ eine historisch und generationell variable Einschätzung ist, lässt sich daran gut ablesen. Zugleich wird das deutsche Kaiserreich in den folgenden Kapiteln in einen internationalen Zusammenhang gestellt. Die wachsenden Weltmarktverflechtungen, die für die Epoche des Kaiserreichs von einer ersten Globalisierungsphase sprechen lassen,128 betrafen nicht nur die im- und exportierenden Wirtschaftsbranchen und die Politik, sondern auch die Bürgerinnen und Bürger als Verbraucher, die von importierten Waren und niedrigeren Preisen profitierten. Im Rahmen großer internationaler Migrationsprozesse wurde das Kaiserreich ab 1890 zudem von einem Auswanderungs- zu einem Einwanderungs- und Transitland.129 Erfahrungen mit dem und den Fremden in vielerlei Hinsicht und in der Fremde waren Alltagserfahrungen unzähliger Bürgerinnen und Bürger des Kaiserreichs. Reisen in das europäische und in das US- und südamerikanische Ausland waren – zunächst aber nur für das Bürgertum und den Adel – keine Sensation mehr, und auch die Medien orientierten sich in ihren Berichten in wachsendem Maße international,130 so dass Nachrichten aus dem Ausland zum Alltag der Berichterstattung in den neuen Massengazetten gehörten. Während größere internationale Reisen sowie längere Auslandsaufenthalte für das vermögende Wirtschaftsbürgertum in der Regel kein finanzielles Problem darstellten, konnte das Bildungsbürgertum allerdings nur ins weiter entfernte Ausland reisen, sofern es über mehr finanzielle Ressourcen verfügte als das durchschnittliche Einkommen eines höheren Beamten.131 Historische Forschungen zeigen 127

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Mannheim, Das Problem der Generationen, S. 517. Denselben Zusammenhang, nämlich die unterschiedliche Gegenwartsdeutung je nach Zeitpunkt des Eintritts in den Geschichtsprozess, formulierte 1935 auch Ernst Bloch. Vgl. zur historischen Analyse des Topos Landwehr, Von der ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘. Vgl. Torp, Erste Globalisierung und deutscher Protektionismus, S. 427f.; Torp, Die Herausforderung der Globalisierung; Conrad, Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich. Vgl. Bade, Europa in Bewegung, S. 86ff., S. 108ff.; Mergel, Das Kaiserreich als Migrationsgesellschaft. Vgl. z. B. Bösch, Öffentliche Geheimnisse. Das durchschnittliche Einkommen eines Amtsrichters oder Universitätsprofessors war so knapp, dass ständiges Rechnen und Sparen die Haushaltsführung in Akademikerhaushalten bestimmte. Vgl. Hattenhauer, Geschichte des Beamtentums, S. 269. Max Webers dreimonatige Auslandsreise in die USA 1904 überstieg die Möglichkeiten seiner Kollegen und die der meisten höheren Beamten bei weitem. Seine USA-Reise kostete ihn über 7.000 Mark (abzüglich eines Vortragshonorars von 1.200 Mark), eine Summe,

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zudem neuerdings, wie stark die vorausgehend geschilderten Entwicklungen auch Teil transnationaler Entwicklungsprozesse des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts waren.132 Besonderes Augenmerk richtet sich in den Fallstudien daher auf politische, soziale, ökonomische und kulturelle Wandlungsprozesse im Kaiserreich und wie diese durch eine Unternehmerfamilie verarbeitet und mitgestaltet wurden. Im Schwerpunkt geht es dabei erstens um Fragen der Globalisierung und des nationalen Bewusstseins (Interpretationen und Handeln in globalen und/oder nationalen Zusammenhängen bzw. Präferenzen). Mit der Gründung des deutschen Kaiserreichs konnte ein nationales Bewusstsein (‚deutsch‘/‚Deutschland‘) sich auf den neuen Staat beziehen, und die bisherige Idee der deutschen Kulturnation konnte mit der neuen deutschen Staatsnation amalgamiert werden. Ob und wie das geschah und was gegebenenfalls darüber hinaus unter dem ‚Nationalen‘ verstanden wurde, wird eine der Fragen der folgenden Kapitel sein. Gleichzeitig nahmen ökonomische und lebensweltliche Internationalisierung und Globalisierung im Verlauf des Kaiserreichs deutlich zu. Zweitens geht es um Geschlechterfragen, also um Männlichkeits- und Weiblichkeitsideale und deren Relation zueinander133 sowie um geschlechtsbezogene Selbstpräsentationen und Handlungsorientierungen in unterschiedlichen sozialen Feldern. Drittens wird in den Fallstudien der Themenkomplex Autorität (Anerkennung oder Ablehnung obrigkeitlicher Herrschaftsformen, Praktiken machtförmiger und hierarchischer Sozialbeziehungen in allen Feldern und Bereichen der Gesellschaft und deren Akzeptanz oder Zurückweisung)134 behandelt, der ausgehend von der älteren

die angesichts des durchschnittlichen Jahresverdiensts höherer Beamter, z. B. eines preußischen Amtsrichters oder Professors, von etwa 6.000 Mark enorm war. Vgl. zu Max Webers Reisekosten Scaff, Max Weber in Amerika, S. 222; Radkau, Max Weber, S. 368f. 132 Vgl. Conrad, Globalisierungseffekte. Conrad kommt zu dem Ergebnis: „Die großen nationalen Auseinandersetzungen der Zeit – Protektionismus, Industrie- oder Agrarstaat, Flottenrüstung, Rassedenken und so fort – waren in einem Maße transnational aufgeladen, das eine analytische Beschränkung auf interne Konfliktlagen unzulässig erscheinen lässt.“ Ebd., S. 421. Vgl. auch Plumpe, Eine wirtschaftliche Weltmacht; Kroll, Geburt der Moderne, S. 8f. und Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 355ff., S. 565ff. 133 Vgl. zur Relationalität als zentraler Kategorie in der Geschlechterforschung grundlegend Scott, The Evidence of Experience. Auch Hausen, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“. 134 Vgl. zum Begriff der Autorität grundlegend Arendt, Was ist Autorität; zur Autorität in Eltern-Kind-Beziehungen ebd., S. 32f. Entscheidend ist in Arendts Argumentation, dass Macht legitim, also als Autorität erscheinen kann, oder illegitim und dann mit Gewalt durchgesetzt werden muss. Autorität ist dagegen grundsätzlich auf Anerkennung verwiesen und damit auf Legitimität. Vgl. zum Autoritätsbegriff, differenziert nach sozialen Feldern, auch Casale, Krise der Repräsentation, S. 213ff. Die väterliche Autorität begründet sich, so argumentiert Casale, z. B. über ihre Repräsentation der bestehenden Welt und deren Ordnung und über die Einführung der nachfolgenden Generation in das Wissen und die Handlungsformen der Vergangenheit und Gegenwart. Pädagogi-

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These Hans-Ulrich Wehlers von der Matrix der Autorität im Kaiserreich135 geprüft und diskutiert wird. Diese These spielt in vielen (bildungs-)historischen Untersuchungen immer noch eine wichtige Rolle, entweder als Interpretationsfolie oder als zu diskutierender Bezugsrahmen.136 In beiden Fällen ist das Autoritätsthema zentral und strukturiert die Analyse. Die drei übergeordneten Perspektiven, Globalisierung/Nationalbewusstsein, Geschlecht und Autorität, werden jeweils auf sämtliche Untersuchungsbereiche angewendet: Ehe und Familie, Bildung und Ausbildung inklusive der Militärzeit, Beruf und Peer Groups. Dabei wird sichtbar werden, dass die drei Perspektiven in einem Bezug zueinander stehen. Geschlechterfragen lassen sich nur schwer ohne das Thema Autorität behandeln. Fragen der Globalisierung und des Nationalbewusstseins weisen wiederum Bezüge zur Autorität in gesellschaftlichen und familialen Verhältnissen und auch zu Geschlechterfragen auf. Weitere Stationen des Lebenslaufs als Erwachsene werden in ihrer sozialisatorischen Bedeutung ebenfalls einbezogen. Dazu gehört an erster Stelle die Berufstätigkeit der männlichen Eigentümer-Unternehmer. Ihre Bedeutung als Sozialisationsinstanz für die Unternehmer selbst und für die Erziehung und Sozialisation der weiteren Familienmitglieder werden in der Analyse umfassend berücksichtigt. Ebenfalls in den sozialisationshistorischen Blick genommen werden bürgerliche Geselligkeiten sowie die Rolle von Kunst und Wissenschaft. Gefragt wird schließlich auch nach der Rolle des Auslands als Teil des Sozialisationsrahmens und als konkreter Sozialisationskontext in Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter und nach dessen Bedeutung zwischen 1871 und 1918.

5. Quellenlage und Auswertungsmethodik Die Quellen zur Unternehmerfamilie Colsman bestehen überwiegend aus EgoDokumenten,137 die für den Untersuchungszeitraum 1871–1918 sehr umfangreich vorliegen. Der Archivbestand setzt sich zusammen aus dem Firmen- und sche Autorität ist somit im Unterschied zur politischen notwendigerweise zeitlich begrenzt. 135 Vgl. Wehlers Schlussbilanz in „Das Deutsche Kaiserreich“, S. 227ff. Kroll nennt Wehlers Kaiserreich-Interpretation schlicht eine „Fehldeutung“. Kroll, Geburt der Moderne, S. 165. 136 Vgl. aus älterer Sicht Heydorn/Koneffke, Zur Bildungsgeschichte des deutschen Imperialismus; diskutierend und differenzierend Becker/Kluchert, Die Bildung der Nation; Caruso, Biopolitik im Klassenzimmer. Als thematischer Überblick Herrlitz/Hopf/ Titze/Cloer, Deutsche Schulgeschichte, S. 63ff.; Geißler, Schulgeschichte in Deutschland, S. 185ff. 137 Unter die Quellengattung der Ego-Dokumente fallen sämtliche Dokumente, aus denen Selbstpräsentationen, Weltdeutungen, Lebensideale und Handlungsorientierungen historischer Personen abgeleitet werden können. Vgl. Schulze, Ego-Dokumente, S. 28.

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Familienarchiv im Unternehmen Gebrüder Colsman GmbH & Co in EssenKupferdreh sowie zahlreichen, im Besitz unterschiedlicher Zweige der Familie befindlichen weiteren Privatarchiven. Diese Archive stellen die Quellenbasis des Buches dar. Die nutzbar gemachten Archivalien bestehen fast ausschließlich aus expliziten Selbstzeugnissen,138 insbesondere aus privaten Briefschaften, in erster Linie aus den umfangreichen Briefwechseln zwischen Braut- und Ehepaaren, zwischen Eltern und Kindern sowie zwischen Geschwistern und zwischen Freundinnen und Freunden. Viele der Briefwechsel enthalten mehrere hundert Briefe und decken einen längeren Zeitraum ab, manchmal mehrere Jahrzehnte. Nicht immer sind beide Seiten eines Briefwechsels erhalten, manchmal gibt es nur eine Seite, also Briefe an einen Freund oder an die Geschwister, zu denen die Antworten fehlen. In keinem einzigen Fall handelt es sich aber nur um wenige verstreute Einzelbriefe, sondern regelmäßig sind es lebensabschnittsweise oder sogar lebenslang geschriebene private Briefe und Briefwechsel, die von rund zwanzig bis zu mehreren hundert Briefen pro Briefschreiber und Briefschreiberin reichen. Die kontinuierliche und umfangreiche Überlieferungslage von mehreren tausend Briefen macht diese geeignet, nicht nur einzelne, auf bestimmte Aspekte bezogene Fragestellungen zu behandeln, sondern auch Verläufe und Entwicklungen in der Epoche des Kaiserreichs mit ihnen zu verfolgen und zu analysieren. Darüber hinaus ermöglicht es die Dichte der Quellenlage, Aussagen und Positionen miteinander zu vergleichen, weil Ereignisse, Fragen oder Probleme zum Teil mehrfach wiedergegeben und geschildert wurden, zum Beispiel gegenüber der Ehefrau, dem Sohn, dem Bruder usw., oder aber von unterschiedlichen Schreiberinnen und Schreibern dargestellt und interpretiert wurden. Briefe sind in der Historischen Bildungsforschung bislang kaum als Quellen zum Tragen gekommen. Dabei enthalten sie die besondere Möglichkeit, historische Personen direkt bei der Kommunikation mit ihren Zeitgenossen beobachten zu können. Sie präsentieren sich diesen gegenüber, so wie sie von ihnen gesehen werden wollen und äußern ihnen gegenüber direkt oder indirekt Einstellungen und Zielsetzungen. Auf diese Weise führen Briefe weit überzeugender als autobiographische Erinnerungstexte zu den Weltdeutungen, Selbstpräsentationen und Handlungsorientierungen der Schreiberinnen und Schreiber,139 die sie meinten im Kontext zeitgenössischer Bedingungsgefüge darstel138

Selbstzeugnisse sind ein Teilbereich der größeren Gattung der Ego-Dokumente. In ihnen, also in Briefen, Tagebüchern und Erinnerungen, erteilt eine Person bewusst Auskunft über sich selbst. Vgl. dazu Trepp, Sanfte Männlichkeit, S. 32ff.; Krusenstjern, Was sind Selbstzeugnisse; von Greyerz, Spuren eines vormodernen Individualismus, S. 132. 139 Dagmar Günther hat die epistemologischen Grenzen und Möglichkeiten der Forschungsarbeit mit Erinnerungen überzeugend dargelegt. Letztlich kann, so Günther, mit ihnen nämlich nicht das Beschriebene untersucht werden, sondern nur die „autobiographischen Sinnkonstruktionen“ und die Selbstpositionierungen der Schreiberinnen und Schreiber in Bezug auf zurückliegende Ereignisse und Entwicklungen im Kontext ihrer Gegenwart. Vgl. Günther, Das nationale Ich, S. 5ff., Zitat S. 9. Die autobiographi-

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len, begründen oder durchsetzen zu müssen. Beobachtbar und analysierbar wird durch Briefe zudem die Positionierung der Schreiberinnen und Schreiber in ihrer zeitgenössischen Lebenswelt und Lebensform, welche dadurch ebenfalls zugänglich werden. Briefe als Quellen helfen darüber hinaus das methodische Problem zu vermeiden, Orientierungen und Selbstverortungen historischer Personen von der Meta-Ebene öffentlicher Dokumente und ihrer Politiken und Regime her rekonstruieren zu müssen. Neben solchen expliziten Selbstzeugnissen, zu denen im vorliegenden Buch noch einige Tagebücher sowie wenige vereinzelte Erinnerungstexte140 treten, werden weitere, ebenfalls für alle untersuchten Familiengenerationen zahlreich vorhandene Ego-Dokumente aus den Archiven einbezogen: Nachlassregelungen und Testamente, Familienchroniken, Stammbücher, Geburts- und Verlobungsanzeigen, Erinnerungsstücke (Einladungskarten, Speisefolgen festlicher Diners etc.) und Fotoalben. Haushaltsrechnungen, private Inventarien und Reiseberichte ergänzen den Bestand. Als amtliche Zeugnisse treten Dokumente wie Grundstücksangelegenheiten, Kommerzienratspatente und Ordensverleihungen sowie Schul- und Lehrzeugnisse und im öffentlichen Rahmen entstandene Dokumente hinzu: Zeitungsartikel sowie Unterlagen zu Mitgliedschaften und Tätigkeiten in Vereinen und kirchlichen Organisationen. Neben den Ego-Dokumenten wurden auch Archivalien zur Unternehmensgeschichte für die Fragestellung nutzbar gemacht: Bilanzen, Inventarien, Abnahmebücher, Kundenverzeichnisse, Geschäftsbriefe, Gesellschaftsverträge etc. Sie informieren über die Entwicklung des Unternehmens ebenso wie über die Anforderungen des Berufsalltags und die Bedingungen und Strategien unternehmerischen Handelns. Das Quellenmaterial ist insgesamt so umfangreich und ergiebig, dass die vorausgehend entwickelten Forschungsfragen umfassend daran erarbeitet und Veränderungen im Untersuchungszeitraum detailliert sichtbar gemacht werden können. Interpretiert werden die Quellen hermeneutisch; es geht um das Sinnverstehen historischer Personen und ihrer Welt.141 Mit Bezug auf die historischen Personen geschieht dies allerdings mit der Akzentuierung, dass sich dieses Sinnversche Sinnkonstruktion und die Selbstpositionierung gelten natürlich, wie Günther zu Recht festhält, auch für Briefe und Tagebücher. Allerdings haben diese den unschätzbaren Vorteil, dass sich die Schreiberinnen und Schreiber in solchen Quellen in ihrer Zeit, und nicht jenseits davon, präsentieren. Vgl. dazu auch Habermas, Frauen und Männer des Bürgertums, S. 26f.; Molthagen, Das Ende der Bürgerlichkeit, S. 37f. 140 Erinnerungstexte werden im Buch nur herangezogen, um Sachinformationen zu gewinnen und Sachzusammenhänge zu rekonstruieren sowie um die Erinnerungen und ihre Präsentation selbst zum Thema zu machen, nicht aber zur Analyse von Handlungsorientierungen und Selbstpräsentationen der in den Texten erinnerten Zeit. 141 Hermeneutik wird hier verstanden als eine Interpretationsphilosophie und -technik, die den Text als „Ausdruck individueller, zur Artikulation auf vorgegebene sprachliche Strukturen angewiesener Erfahrung“ begreift. Kurig, Bildung für die technische Moderne, S. 58.

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stehen nicht auf deren Innenleben bezieht. Ziel ist vielmehr, durch die Interpretation ihrer Selbstzeugnisse zu verstehen, wie sich historische Personen vor sich selbst und anderen innerhalb ihrer Welt durch ihre „geäußerte Vorstellung vom Selbst“ darstellen.142 Dies wiederum kann nur verstanden werden, wenn gleichzeitig ihre Lebenswelt und Lebensform rekonstruiert werden. Es wird im vorliegenden Buch daher nicht versucht, sich „als jemand anderen […] vorzustellen und dann herauszufinden, wie ein solcher denkt“, sondern es werden „die symbolischen Formen – Worte, Bilder, Institutionen, Verhaltensweisen –, mit denen die Leute sich tatsächlich vor sich selbst und vor anderen darstellen“, untersucht.143 Clifford Geertz’ an Zeichen und ihrer Deutung orientierter Kulturbegriff hilft in diesem Zusammenhang, historische Personen interpretierend zu verstehen, ohne historische Abstände zu vernachlässigen, indem eine Ebene – die der symbolischen Formen – dazwischen geschaltet wird, welche der grundsätzlichen Fremdheit der Personen Rechnung trägt. Diese Ebene muss möglichst genau beschrieben und in ihren Strukturen, Regeln und Mechanismen erklärt werden: „Um einem Fußballspiel folgen zu können, muß man wissen, was ein Tor, ein Freistoß, ein Abseits, ein Libero und so weiter ist und worum es in diesem Spiel, zu dem diese ‚Dinge‘ gehörten, überhaupt geht.“144 Die Frage ist somit nicht: Wer ist eine spezifische historische Person, sondern: Welche Strukturen, Symbole und Handlungen konstituierten deren Selbstpräsentation, Handlungsorientierung und Weltdeutung. Auf diese Weise wird ein „Zugang zur Gedankenwelt der von uns untersuchten Subjekte […] [erschlossen], so daß wir – in einem weiteren Sinn des Wortes – ein Gespräch mit ihnen führen können“.145 Je näher die historische Forschung der Gegenwart kommt, desto wichtiger wird die Frage nach der historischen Besonderheit der Personen. Allzu leicht entsteht die Vorstellung, deren Denk- und Handlungsformen seien den eigenen ähnlich oder gar gleich. Europäische Selbstzeugnisse des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts können aufgrund der im Rahmen der modernen Industriegesellschaft sich entfaltenden Denkformen leicht als eng verwandt empfunden werden; sie scheinen in spezifischer Weise ‚nah‘, während zum Beispiel mystische Texte des Spätmittelalters aufgrund der nicht mehr ähnlichen Erfahrungsmodi besonders ‚fern‘ scheinen. Für die Textauslegung bedeutet dies, dass der Geertzsche Vorschlag, ein Gespräch mit den historischen Personen zu führen, indem in erster Linie die Bedingungen ihres Denkens und Handelns analysiert und ihre Selbstpräsentationen in ihren symbolischen Formen erschlossen werden, umso wichtiger wird, je vermeintlich ‚näher‘ uns die historischen Personen sind. Denn sie sind und bleiben fern.

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Vgl. Geertz, ‚Aus der Perspektive des Eingeborenen‘, S. 292f., Zitat S. 293. Geertz, ‚Aus der Perspektive des Eingeborenen‘, S. 293. Geertz, ‚Aus der Perspektive des Eingeborenen‘, S. 307. Geertz, Dichte Beschreibung. Bemerkungen, S. 35.

Als Sozialisationsgeschichte geht das Buch in den folgenden Kapiteln an Lebensphasen entlang. Auf ein Kapitel über Eheschließungen und Ehebeziehungen (II) folgt eines über die frühkindliche Erziehung und Sozialisation in der Familie (III), ein Thema, über das die Bildungsgeschichte bislang nur wenig weiß. Die hier zur Analyse herangezogenen Selbstzeugnisse, vorwiegend Briefe, geben vielfältige Auskunft über eine familiale Säuglings- und Kleinkindanthropologie, über Erziehungseinstellungen und -ziele der Eltern und über die Konstruktion von Sozialisationskontexten für diese Altersphase. Das anschließende Kapitel befasst sich mit der formalen Bildung und der schulischen und außerschulischen Sozialisation bürgerlicher Jungen (IV). Das Besondere ist hier, dass mithilfe zahlreicher Selbstzeugnisse nicht nur erstmals solche Sozialisationsprozesse in ihrem Verlauf und in ihrer Veränderung zwischen Reichsgründung und Erstem Weltkrieg differenziert sichtbar gemacht werden können, sondern zugleich auch ein ganz neues Thema erschlossen werden kann. In der Bildungsgeschichte ist bislang nirgends untersucht worden, dass während des gesamten Kaiserreichs rund ein Drittel aller höheren Schüler für mehrere Jahre in auswärtigen Schülerpensionen lebte. Dies kann nun erstmals ausführlich dokumentiert und als Sozialisationserfahrung an einer Reihe von Fällen analysiert werden. Das darauffolgende Kapitel widmet sich dann der formalen Bildung und der schulischen und außerschulischen Sozialisation bürgerlicher Mädchen (V). Auch hier kann durch die Quellen neben einer dichten Rekonstruktion bürgerlicher Mädchensozialisation in Schule und Freundeskreis ein neues Themenfeld erschlossen werden. Erstmals können auch die Sozialisationserfahrungen bürgerlicher Mädchen in Mädchenpensionaten und Haustochterstellen erfasst und in ihrer Entwicklung zwischen Reichsgründung und Erstem Weltkrieg analysiert werden. Ein weiteres Kapitel befasst sich mit der sozialisatorischen Bedeutung des Militärdiensts für junge bürgerliche Männer (VI). Durch die Menge der Selbstzeugnisse kann die militärische Sozialisation im Kaiserreich an vielen Fällen konkret analysiert und diskutiert und in ihrer Entwicklung zwischen 1871 und 1914 verfolgt werden. Den Abschluss stellt ein Kapitel zum Ersten Weltkrieg dar, das die Sozialisationserfahrung männlicher Jugendlicher und Erwachsener an der Front und von Männern, Frauen und Kindern im Alltag während der Kriegszeit zum Thema hat (VII). Auch hier kann auf eine dichte Überlieferung von Briefen zurückgegriffen werden. In jedem Kapitel wird die Sozialisationsgeschichte der Unternehmerfamilie Colsman zudem mit der Lebenswelt und den Lebensformen im deutschen Kaiserreich in Beziehung gesetzt und zum Anlass genommen, bildungshistorische Fragen zu dieser Epoche zu diskutieren. Gleichzeitig wird in jedem Kapitel explizit danach gefragt, wie groß oder klein der Spannungsbogen war, der zwischen 1871 und 1914/18 bestand.

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II. Paar-Positionen: Eheschließungen und Ehebeziehungen im Kaiserreich

1. Ein Brief am Beginn des Kaiserreichs: Bürgerliche Lebensform und Lebensideale in einer Unternehmerfamilie 1874 belehrte Wilhelm Colsman-Bredt1 (1831–1902) eine Cousine freundlich, aber bestimmt über das Gebaren eines ehrbaren Kaufmanns. Deren Ehemann befand sich in erheblichen geschäftlichen Schwierigkeiten und hatte gefälschte Wechsel auf das Unternehmen Gebrüder Colsman ausgestellt, dessen Teilhaber, einer von insgesamt sechs, Wilhelm Colsman-Bredt zu dieser Zeit war. Er schrieb ihr, es sei nicht das erste Mal, „daß Dein Mann zur Fälschung von Wechseln seine Zuflucht genommen! Wir fühlen ganz tief mit dir, daß die Folgen des Leichtsinns jetzt ihre traurigen Früchte tragen, wollen Niemanden anklagen oder verklagen, sind es aber uns selbst schuldig uns vor der Wiederholung solches Missbrauchs unserer Firma zu schützen […]. Gut daß meine Brüßeler Freunde mir sofort reinen Wein einschenkten!“2

Es lässt sich aus den Quellen nicht mehr rekonstruieren, was genau vorgefallen war. Aufschlussreicher ist aber ohnehin, was der Briefempfängerin durch Wilhelm Colsman-Bredt ansonsten präsentiert wurde: nämlich die Wir-Identität einer Unternehmerfamilie. Hier wurden ein bestimmtes Lebensideal und eine darauf bezogene Lebensform zur Grundlage der Bürgerlichkeit und der Solidarität der Familie erklärt und deren Nichtbeachtung scharf kritisiert: „Mit solcher Handlungsweise kommt man nicht durch’s Leben! Darauf ruht kein Segen! Was dein Mann augenblicklich treibt, womit er Dich ernährt, sagst du nicht, ich will Dir nicht vorenthalten, daß wir hier, wenn wir die Überzeugung haben daß er wirklich arbeitet, sei es was es sei, wenn es nur ehrliche reale Arbeit ist, und es ihm nicht gelingt, Dich ausreichend zu ernähren, wir hier gerne bereit sind, Dir beizustehen und zu helfen. Sollte aber noch immer kein ernstlicher Sinn zur Arbeit da sein, vielmehr immer von Neuem versucht werden, durch Gründung irgendwelchen Geschäfts neuem Banquerott zuzueilen, würden wir wirklich nicht helfend eintreten können, ich habe es schon vor Jahren deinem Mann gesagt, daß knappes Brod in strenger Arbeit viel mehr Erfolg & auch Befrie-

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Wilhelm Colsman-Bredt benannte sich mit dem Doppelnamen inoffiziell nach der Familie seiner Frau Adele, um von Familienmitgliedern gleichen Vornamens unterscheidbar zu sein und verwies darüber hinaus auf seine Zugehörigkeit zu der vermögenden und traditionsreichen Unternehmerfamilie Bredt in Barmen. Gleichzeitig – wenn auch nur inoffiziell – trug er damit als Mann einen Doppelnamen, der auch den Nachnamen seiner Ehefrau enthielt. In diesem Buch wird er zur besseren Unterscheidbarkeit von namensgleichen Verwandten ebenfalls mit seinem Doppelnamen bezeichnet. FFA, B4g52, Wilhelm Colsman-Bredt an Alwine, Nachname unbekannt (unterzeichnet mit „Dein Vetter W. Colsman“), 2. Juli 1874.

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digung gewährt, als erwarteter leichter Gewinn in Geschäften die man nicht versteht und nicht kennt.“3

Da Wilhelm Colsman-Bredt ausdrücklich von „wir“ sprach, formulierte er Dinge, von denen er offenbar sicher war, dass sie von seiner Kern- und Verwandtschaftsfamilie und von den Mitinhabern des Unternehmens geteilt würden. Er unterschied in dem Brief auch nicht zwischen Familie und Unternehmen, sondern sprach von „unserer Firma“, die vor Betrug zu schützen sei, und dann wieder von „wir“, wenn von möglichen familialen Unterstützungsleistungen die Rede war. Wer also bei einem neuerlichen Bankrott nicht mehr helfend eintreten würde, ob die Familie oder das Unternehmen, blieb offen. Der zentrale Wert in dem Brief ist die „ehrliche reale Arbeit“. Sie ist verbindendes Element zwischen Verwandtschaftsnetz und Unternehmen und die Voraussetzung von Solidaritätsleistungen. Weiterhin beschreibt der Brief eine grundsätzliche Haltung zu Erwerb und Gewinn: „knappes Brot in strenger Arbeit“. Den männlichen Unternehmer sollten Arbeitsaskese in der Lebensform und ein „ernstlicher Sinn zur Arbeit“ als Werthaltung bestimmen. Gewährleistet wird dies im Brief durch Selbstverantwortung und Selbstbeherrschung. Ausbildung und Kenntnisse, nicht Spekulation und Risiko, sollten die bürgerliche Reputation und den ökonomischen wie sozialen Erfolg garantieren. Deshalb war für Wilhelm Colsman-Bredt auch nicht der zu erzielende Gewinn lobenswert, sondern die Arbeit selbst. Sie sollte Beruf und Berufung sein.4 Die Arbeit steht aber nicht für sich, sondern ist eingebunden in ein Bezugssystem. Sie ist Arbeit für die Familie; religiöse Bezüge sind in dem Brief nur andeutend („Segen“) vorhanden.5 Die Religion war persönliche, innere Konfession geworden und bestimmte nicht länger die Lebensform. Ein öffentliches religiöses Engagement zeigte Wilhelm Colsman-Bredt demgemäß hauptsächlich als Vorstands- und Aufsichtsratsmitglied in religiösen Stiftungen.6 3 4

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FFA, B4g52, Wilhelm Colsman-Bredt an Alwine, Nachname unbekannt, 2. Juli 1874. Vgl. Groppe, Der Geist des Unternehmertums, S. 277f. Zum vergleichbaren Arbeitsethos in der Hochfinanz des Kaiserreichs vgl. Reitmayer, „Bürgerlichkeit“ als Habitus, S. 75ff. Grundlegend dazu Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1905). Weber hält fest, dass es in dieser Ethik nicht um Gewinnmaximierung geht, auch nicht um den Genuss an dem erzielten Gewinn, sondern um eine „ethisch gefärbte Maxime der Lebensführung“ (S. 43), durch welche die Arbeit als Pflicht und Wert im Mittelpunkt einer bürgerlich-kapitalistischen „Sozialethik“ steht (S. 45). Dieses Lebensideal hatte sich in der in den 1750er und 1760er Jahren geborenen Unternehmergeneration der Familie Colsman herausgebildet. Für sie war der Lebenssinn innerweltlich akzentuiert. Auch wenn die darauffolgende Generation durch die protestantische Erweckungsbewegung des frühen 19. Jahrhunderts stark religiös geprägt war, ließ sich die langfristige Entkoppelung von Lebensform und Religion doch nicht aufhalten. Vgl. Groppe, Der Geist des Unternehmertums, passim. Vgl. auch Groppe, Bildung und Habitus in Bürgerfamilien um 1900. Zu dieser Entwicklung protestantischer Religiosität im 19. Jahrhundert vgl. Hölscher, Geschichte der protestantischen Frömmigkeit, S. 181ff. Zur Bedeutung für das Bürgertum vgl. Budde, Blütezeit des Bürgertums, S. 74. Wilhelm Colsman-Bredt war z. B. neunundzwanzig Jahre als Schatzmeister und zwei Jahre lang als Vorstandsvorsitzender

Alle in den folgenden Kapiteln untersuchten Unternehmer arbeiteten vom Ende ihrer Ausbildungszeit bis zu ihrem Tod in ihren Betrieben. Es handelte sich dabei aber nicht um eine „rastlose Berufsarbeit“, wie sie Max Weber in seiner „Protestantischen Ethik“ als Kennzeichen des Kapitalismus in dramatischer Tonlage entwickelt hatte.7 Nicht rastlos von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, sondern aus Sicht heutiger Leitungstätigkeiten fast gemächlich wurde der Tag in den 1870er und 1880er Jahren mit etwa acht Stunden beruflicher Arbeit ausgefüllt, unterbrochen von längeren Mittagspausen, die mit der Ehefrau und den Kindern daheim verbracht wurden.8 Dies änderte sich tendenziell, als in den 1880er Jahren das Unternehmen Gebrüder Colsman mit der Errichtung einer Seidenweberei mit mechanischen Webstühlen in eigenen Fabrikgebäuden begann. Andere Seidenwebereien am Ort taten dasselbe. Dadurch wurden überall Arbeitsabläufe konzentriert und Tempo und Menge der Produktion gesteigert. Die jüngsten in diesem Buch behandelten Unternehmer, Paul und Johannes Colsman, verbrachten ab den 1890er Jahren deutlich mehr tägliche Arbeitszeit in der 1887 eingeweihten Fabrik des Familienunternehmens in der benachbarten Gemeinde Kupferdreh (heute zur Stadt Essen gehörend und bis heute Sitz des Familienunternehmens), welche rund zehn Kilometer entfernt vom Wohnort der Familie, der Kleinstadt Langenberg im Bergischen Land, lag.

2. Ein Familienunternehmen im Kaiserreich. Anmerkungen zu Unternehmen und Familie bis zur Jahrhundertwende Das in dem eingangs zitierten Brief beschriebene „knappe Brod in strenger Arbeit“ entsprach im Kaiserreich nicht mehr der Lebensrealität der Inhaber von Gebrüder Colsman und ihrer Familien. Gegründet in den 1750er Jahren, hatte sich das Familienunternehmen bis zu den 1820er Jahren bereits zu einem prosperierenden Betrieb entwickelt, dessen Inhaber zu wohlhabenden Seidenfabri-

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der Kaiserswerther Diakonie tätig sowie als Kuratoriumsmitglied der von Kaiser Wilhelm II. 1889 gegründeten Evangelischen Jerusalem-Stiftung. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, S. 129. Zeitweilig konnte die Arbeitsbelastung durchaus höher sein. Vgl. Hoffmann, Auswandern und Zurückkehren, S. 82. Dies galt insbesondere für die Arbeitszeiten auf Geschäftsreisen: „Hier ist die Concurrenz fürchterlich und wer nicht sehr auf dem qui vive, kommt sofort aus dem Geschäft und hat das Nachsehen! […] Morgens geht’s in die City an die Arbeit und Abends zieht man um 7 müde wieder heimwärts.“ Archiv WHC, Sign. 142, Wilhelm Colsman-Bredt an seinen Sohn Paul Colsman, 18. November 1879. Gelegentlich, je nach Geschäftslage, war aber auch die Arbeitsbelastung zuhause groß: „[…] es ist mir ungemein lieb, daß ihm [Wilhelm Colsman-Bredt, CG] mal eine kl. Erholung u. Abwechslung zu Theil wird, er hatte es so nöthig u. hier ist das Leben für ihn nicht so ganz geeignet, die Arbeit geht ihm zu sehr nach, ins Haus, u. wehrt der Erholung.“ Archiv WHC, Sign. 51, Adele Colsman an ihren Sohn Paul Colsman, 6. Mai 1884.

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kanten aufgestiegen waren. Schon zu dieser Zeit waren eigene Fabrikgebäude für die Seidenweberei in der Kleinstadt Langenberg errichtet worden, in denen Teile der Produktion manufakturell konzentriert worden waren und große Lagerräume ihren Platz gefunden hatten.9 Am Beginn des 19. Jahrhunderts hatten sich darüber hinaus weitere Seidenwebereien im Ort angesiedelt, deren Inhaber mit den Inhabern von Gebrüder Colsman vielfach verwandt und vernetzt waren. Die eigentliche Webarbeit der Seiden- und Halbseidentücher fand jedoch bis ins Kaiserreich hinein im Unternehmen Gebrüder Colsman und in den anderen Betrieben überwiegend durch Heimweber und nur zu einem kleinen Teil im eigenen Betrieb statt. Ab den späten 1880er Jahren verdrängte die Arbeit an betriebseigenen mechanischen Webstühlen in einem eigenen Fabrikgebäude in der Nachbargemeinde Kupferdreh bei Gebrüder Colsman die Heimweberei in wachsendem Maße und hob sie noch vor der Jahrhundertwende ganz auf. Die anderen Seidenwebereien am Ort wiesen vergleichbare Entwicklungen auf. Im Bilanzjahr 1873 waren für Gebrüder Colsman etwa 1.000 Heimweber tätig, die auf eigene Rechnung arbeiteten und nach Stücklohn bezahlt wurden. Auswärtige Lager und Agenturen für das seit den 1830er Jahren international agierende Unternehmen gab es in den meisten europäischen Hauptstädten.10 Während in den 1850er und 1860er Jahren Mittel- und Südamerika noch ein großer Absatzmarkt für die Kleider- und Krawattenstoffe des Unternehmens gewesen waren, verlagerte sich der Export ab der zweiten Hälfte der 1860er Jahre in das europäische Ausland, insbesondere nach Großbritannien,11 und in das schon seit den 1850er Jahren bedeutsame Nordamerika.12 1887 wurde der erste dampfmaschinengetriebene mechanische Webstuhl in der neu errichteten 9 10 11

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Vgl. zur Unternehmensgeschichte von Gebrüder Colsman im 18. und frühen 19. Jahrhundert Groppe, Der Geist des Unternehmertums, S. 103ff., S. 259ff. Vgl. FFA, 4.21–4.24, Inventarien 1873, 1876, 1879, 1882. Der große Exporterfolg war Teil eines insgesamt steigenden Exports aus den deutschen Staaten nach Großbritannien seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Aufgrund der geringeren deutschen Löhne und zunächst der kostengünstigen Nachahmung von Fabrikaten konnten viele Industriegüter vergleichsweise billig produziert und exportiert werden. Vgl. Buchheim, Deutsche Gewerbeexporte nach England, S. 31ff. Gleichzeitig entstand in den 1860er Jahren, beginnend mit dem sogenannten Cobden-Vertrag zwischen Großbritannien und Frankreich, sukzessive ein europäischer Freihandelsraum, „ein gemeinsamer europäischer Markt“. Torp, Die Herausforderung der Globalisierung, S. 121; zur Entstehung der europäischen Freihandelszone und der aktiven Rolle des Deutschen Zollvereins vgl. ebd., S. 124ff. Dass sich das Unternehmen Gebrüder Colsman ab den 1860er Jahren stärker am europäischen Ausland als Markt ausrichtete, steht im Zusammenhang dieser Entwicklungen. 1862 war der preußisch-französische Handelsvertrag geschlossen worden, 1865 schloss der Deutsche Zollverein weitere mit Großbritannien, Belgien und Italien. Vgl. FFA, 9.34, Firmengeschichte Gebrüder Colsman; FFA, 4.13, Inventarium 1852; FFA, 4.18, Inventarium 1864; FFA, 4.21, Inventarium 1873. Inventarien wurden wie die Bilanzen kumuliert und alle drei Jahre im Mai aufgestellt. Ab 1892 wurden die Inventarien jährlich erstellt und für den 31. Dezember des Jahres ausgewiesen. Die Bilanzen wurden ebenfalls ab 1892 auf Jahresbilanzen am Jahresende umgestellt.

Fabrik in Betrieb genommen. 1904 besaß das Unternehmen bereits rund 900 solcher mechanischen Webstühle im eigenen Betrieb und hatte eine Belegschaft von rund 1.000 Arbeitern und Angestellten.13 Der jeweils über drei Jahre kumulierte Gewinn des Unternehmens verdreifachte sich fast von knapp 250.000 Talern 1864 auf knapp 620.000 Taler 1873. Der jährliche Umsatz betrug 1864 knapp 900.000 Taler, 1873 dagegen fast 1.500.000 Taler und hatte sich damit annähernd verdoppelt.14 Diese rasante Entwicklung verweist nicht nur auf eine erfolgreiche Unternehmertätigkeit, sondern auch auf epochentypische nationale und internationale ökonomische Konstellationen, an denen das Unternehmen teilhatte.15 Die deutschen Staaten befanden sich wie auch die USA und viele andere Staaten erst am Beginn der Hochindustrialisierung, in deren Rahmen auch die Löhne schließlich zu steigen begannen, aber bis zum Ersten Weltkrieg im Deutschen Reich immer noch niedriger blieben als in Großbritannien und auch erst 1914 französisches Niveau erreichten.16 Die im internationalen Vergleich günstigen textilen Produkte von Gebrüder Colsman konnten im In- und Ausland daher sehr gut und zu steigenden Preisen verkauft werden. Zudem stellten die Jahre zwischen 1850 und 1873 eine der erfolgreichsten Hochkonjunkturperioden der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts dar, so dass der Konsumgüterabsatz auch im Inland merklich zunahm. Gleichzeitig wuchs der Welthandel in diesem Zeitraum um 260%.17 Vom erzielten Gewinn des Unternehmens kamen Wilhelm Colsman-Bredt 1873 31,5% zu. Einen gleichen Anteil erhielt sein älterer Onkel Eduard, während zwei weitere Teilhaber zu diesem Zeitpunkt 15% und zwei stille Teilhaber je kleine einstellige Prozentanteile erhielten.18 Umgerechnet auf das Jahr waren 13

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Vgl. FFA, 9.27, Aufzeichnungen zur Firmengeschichte; FFA 4.81, Webstuhlverzeichnis 1905/06; Archiv WHC, Sign. 46, Familienchronik Paul und Elisabeth Colsman, 1880– 1931. Die Umsätze wurden ebenfalls kumuliert und dann der jährliche Durchschnitt im dreijährigen Bilanzzeitraum gebildet. Vgl. FFA, 4.30, Übersicht über Geschäftsbilanzen 1810–1882. Gerechnet wurde bis 1873 in „Thalern Preußisch Courant“. Ab 1873 wurde in der nach der Reichsgründung eingeführten neuen Reichswährung Mark gerechnet, wobei ein Taler den Wert von drei Mark besaß. Ab 1876 war die Mark einziges gültiges Zahlungsmittel im Deutschen Reich. Zum langanhaltenden Wirtschaftsaufschwung in der Frühindustrialisierung der deutschen Staaten von den 1850er Jahren bis zum Gründerzeitkrach 1873 vgl. Plumpe, Eine wirtschaftliche Weltmacht, S. 45f. Vgl. Plumpe, Eine wirtschaftliche Weltmacht, S. 48. Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 3, 1849–1914, S. 67. Vgl. FFA, 2.51a, Gewinn- und Verlustbeteiligungen der Teilhaber 1794–1922. 1873 besaß das Unternehmen sechs Teilhaber: Eduard Colsman (1812–1876), seinen jüngeren Bruder Carl als stillen Teilhaber (1815–1894), Wilhelm Colsman-Bredt (1831–1902) und seinen jüngeren Bruder Adalbert (1839–1917), einen Sohn Eduard Colsmans, Andreas (1840–1917), sowie Wilhelm Colsman-Bredts Mutter als stille Teilhaberin. Vgl. FFA, 4.100, Gesellschaftsvertrag vom 5. Mai 1872. 1880 wurde die Gewinnbeteiligung neu berechnet, so dass jeder der fünf aktiven Teilhaber etwa 20% erhielt. Die stillen Teilhaber erhielten keine Vergütungen mehr und schieden schließlich ganz aus.

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dies für Wilhelm Colsman-Bredt Einkünfte in der Höhe von etwa 65.000 Taler, knapp 200.000 Mark in der neuen Reichswährung (ein Taler besaß den Wert von drei Mark). An Entnahmen wurden für ihn für drei Jahre (1870–1873) rund 23.000 Taler verzeichnet, im Jahr etwa 7.700 Taler, das entsprach rund 23.000 Mark.19 Das Einkommensniveau Wilhelm Colsman-Bredts lag in den 1870er Jahren auf dem Niveau des Einkommens Kölner Großunternehmer,20 hatte aber, wie das der meisten Großunternehmer der Zeit, dasjenige hoher preußischer Staatsbeamter weit überholt: Der Oberpräsident der Rheinprovinz verdiente nach der Reichsgründung 7.000 Taler (21.000 Mark) jährlich.21 Dass Wilhelm ColsmanBredt eine sehr viel höhere Entnahme aus seinem Gewinnanteil hätte tätigen können, aber einen Großteil seines Gewinnanteils im Unternehmen beließ, verweist auf eine bürgerliche Lebensform, in der das Maßhalten, wenn auch auf sehr annehmlichem Niveau, eine wichtige Rolle spielte. Während in den Haushalten höherer Beamter das Sparen eine schlichte Notwendigkeit war,22 war die sparsame Lebensführung in den Familien vieler Unternehmer eine bewusste Entscheidung. Gleichzeitig hatte sich Wilhelm Colsman-Bredt in der Mitte der 1860er Jahre eine repräsentative Villa erbauen lassen können, im neoklassischen Stil, in Sichtweite der Firmengebäude am Rande der Kleinstadt Langenberg und ausgeführt vom Baumeister der Berliner Börse.23 19

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Vgl. FFA, 4.37, Bilanzkonten 1855–1891. An Eigenkapital im Geschäft besaß Wilhelm Colsman-Bredt im Unternehmen 1873 rund 620.000 Taler. Der älteste Teilhaber, Eduard Colsman (1812–1876), besaß 1873 rund 1.250.000 Taler an Eigenkapital im Geschäft. Vgl. ebd. sowie FFA, 2.51a, Gewinn- und Verlustbeteiligungen der Teilhaber 1794–1922. Zu den Einkommen Kölner Fabrikanten und Bankiers in den 1870er Jahren vgl. Oepen-Domschky, Kölner Wirtschaftsbürger im Deutschen Kaiserreich, S. 45. 1901 besaß Wilhelm Colsman-Bredt ein im Unternehmen verbleibendes Vermögen von über zwei Millionen Mark, die anderen Teilhaber zwischen einer und zwei Millionen Mark, sein Sohn Paul als jüngster Teilhaber gut 600.000 Mark. Vgl. FFA, 4.35, Bilanz-Konten 1895–1908. Dazu kam noch Wertpapier- und Immobilienbesitz. Das Vermögen der Spitzenverdiener im Kölner und im bayerischen Wirtschaftsbürgertum lag jedoch deutlich über den Vermögen der Teilhaber von Gebrüder Colsman. Vgl. Oepen-Domschky, Kölner Wirtschaftsbürger im Deutschen Kaiserreich, S. 44f.; Schumann, Bayerns Unternehmer, S. 218ff. Damit befanden sich die Teilhaber von Gebrüder Colsman im Mittelfeld, aber nicht in der Spitzenverdienergruppe der Großindustriellen, wie sie Schumann ermittelt hat (vgl. ebd.). Vgl. Oepen-Domschky, Kölner Wirtschaftsbürger im Deutschen Kaiserreich, S. 46; Hattenhauer, Geschichte des Beamtentums, S. 270. Noch 1895 besaß trotz steigender Löhne nur 1% der preußischen Bevölkerung ein Einkommen von 9.000 Mark und darüber. Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 3, 1849–1914, S. 710f. „Die Kaufkraft der Beamtengehälter war drastisch gesunken, was die Beamten um so empfindlicher spürten, als die Gehälter in Industrie und Wirtschaft die ihren inzwischen weit überholt hatten. Man mußte zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einem Maße sparen, wie man dies noch drei Jahrzehnte vorher nicht für möglich gehalten hatte.“ Hattenhauer, Geschichte des Beamtentums, S. 269. Vgl. Felbert, Villen in Langenberg, S. 44.

Einen Großteil des Gewinns beließen alle Teilhaber von Gebrüder Colsman im Unternehmen, um dieses finanziell handlungsfähig zu halten. Die Guthaben der Teilhaber wurden dort mit 4% verzinst.24 Bankkredite wurden aus Unabhängigkeitserwägungen bis zum Ende des Kaiserreichs nicht aufgenommen. Das Unternehmen Gebrüder Colsman hielt aber auch selbst Beteiligungen an diversen Unternehmen, unter anderem Kuxen (Anteilsscheine) im Ruhrbergbau und Beteiligungen an Stahlwerken im Ruhrgebiet und am Rhein sowie Bankaktien, Aktien großer Schifffahrts- und Handelsunternehmen wie der HamburgAmerika Paketfahrt Aktiengesellschaft (HAPAG) und des Norddeutschen Lloyd und vieles mehr.25 Die damit erzielten Gewinne wurden wiederum in das Unternehmen investiert. Wilhelm Colsman-Bredt war es gewesen, der mit Beginn der 1860er Jahre den britischen Markt für das Unternehmen entdeckt und energisch ausgebaut hatte. Großbritannien hatte 1860 den Zoll auf Seiden- und andere Fertigwaren aufgehoben, und Wilhelm Colsman-Bredts Aktivitäten waren Teil einer rasch einsetzenden und sich rasant entwickelnden Exportzunahme insbesondere rheinischbergischer sowie französischer und Schweizer Seidenwaren dorthin. So führte die französische Seidenindustrie in den 1890er Jahren rund 75% ihrer Produktion nach Großbritannien aus, die Schweiz rund 80% und die Krefelder Seidenindustrie rund 60%. Textilien machten bis zur Jahrhundertwende insgesamt rund 40% des deutschen Industriegüterexports nach Großbritannien aus; erst danach begann ihr Anteil durch die Zunahme anderer deutscher Exportartikel zu sinken, auf 24% kurz vor dem Ersten Weltkrieg.26 Wilhelm Colsman-Bredt konnte für den Eintritt in den britischen Markt auf Verwandtschaftsnetzwerke und entsprechende Empfehlungsschreiben an Agenturen zurückgreifen.27 Die Verwandtschaftsfamilie war ein unersetzliches Reservoir an Informationen und Geschäftsbeziehungen, die zur gegenseitigen Unterstützung zur Verfügung gestellt wurden. Die Empfehlungen für Agenten waren dabei detailliert, und die Beschreibungen betrafen immer auch die Persönlichkeit der Empfohlenen. Solide Kenntnisse, bürgerliches Arbeitsethos, bürgerliche Umgangsformen und Verkehrskreise und ein tragfähiges Geschäftsnetzwerk, kurz: der ‚ehrliche Kaufmann‘ und sein erfolgreiches Handeln bildeten die Urteilskriterien. Geschäftsbeziehungen waren im gesamten 19. Jahrhundert und noch bis zum Ersten Weltkrieg in hohem Maße persönliche Beziehungen. Ein Verwandter schrieb an Wilhelm Colsman-Bredt, der einen Agenten für Gebrüder Colsman in London suchte: „Otto Schüller […] bat mich, da er wußte, daß Du das auswärtige Departement hauptsächlich zu besorgen hast, Dir besonders Herrn Twentymen zu empfehlen, was ich in al24 25 26 27

Vgl. FFA, 4.100, Gesellschaftsvertrag Gebrüder Colsman vom 5. Mai 1872. Vgl. FFA, 2.51, Lagerbuch. Beteiligung an verschiedenen Unternehmen, 1876–1902. Zur Entwicklung des deutschen Seidenexports nach Großbritannien vgl. Buchheim, Deutsche Gewerbeexporte nach England, S. 35ff., S. 60ff., S. 70. Vgl. FFA, 5.10, Friedrich Wilhelm Strücker an Wilhelm Colsman-Bredt, 17. Mai 1860.

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ler Bescheidenheit aber mit gutem Gewissen auch thun kann. Ich habe früher mit Twentymen in Geschäften persönlich viel verkehrt & mit seiner früheren Firma Bennoch Twentymen & Rigg, die 1857 durch unglückliche Speculationen in Rohseide fallirte bedeutend gearbeitet, wobei ich T. der das Manufacturfach dabei leitete, als einen außergewöhnlich thätigen & ehrenhaften Mann kennen gelernt habe, der die Seidenmanufactur Branche & das englische Geschäft durch und durch versteht & überhaupt als sehr tüchtiger und umsichtiger Geschäftsmann nur Geschäfte mit Kopf & Fuß machen wird.“28

In solchen Umgebungen war es kaum möglich, gefälschte Wechsel, wie der unbekannte Verwandte in dem eingangs dieses Kapitels zitierten Brief, auf ein Unternehmen auszustellen, ohne dass dies ruchbar wurde. Familie, Verwandtschaft und geschäftlicher Erfolg waren eng verbunden: Die Verwandtschaftsfamilie vergab Kredite, schrieb Empfehlungsbriefe und öffnete Kundenstämme und Märkte; die Kernfamilien stellten durch Familienerziehung und -sozialisation und die Eröffnung einer adäquaten Schulbildung und Ausbildung das grundlegende kaufmännische Knowhow und die erforderlichen Selbstpräsentationen und Handlungskompetenzen zur Verfügung.29 Dazu sicherten und erweiterten sie durch Heiraten bürgerliche Verkehrskreise und Geschäftsfelder, die Verwandtschaftsfamilie signalisierte gegenüber Dritten geschäftliche Seriosität und war der Ermöglichungsraum für innovative Geschäftsmodelle und neue Geschäftsfelder. Dies alles brachte enorme Wettbewerbsvorteile für die einzelne Unternehmerpersönlichkeit mit sich. Die wenigen Newcomer aus anderen Milieus, zum Beispiel aus dem Bildungsbürgertum oder Aufsteiger aus Handwerkerkreisen, hatten es schwer, diese Startvorteile aufzuholen.30 Die Verwandtschaftsfamilie war aber auch Teil der geschäftlichen Konkurrenz. Wilhelm Colsman-Bredt suchte nach Möglichkeit vor der mit eigenen Seidenwebereien unternehmerisch tätigen Verwandtschaft zu verheimlichen, zu welchen Kunden er im In- und Ausland reiste. Seine Frau Adele ärgerte dies sehr, war sie doch in der misslichen Lage, seine Reisen gegenüber der ebenfalls unternehmerisch tätigen Verwandtschaft zu erklären: „Es sollte ja wieder Niemand wissen, wo Du bist, es ärgerte mich gestern, daß doch davon gesprochen wird; gieb Dir auch nie mehr Mühe es zu verbergen, man ist hier viel zu neugierig u. geschwätzig, als daß es gelingen könnte; u. ich habe dann außer der Verlegenheit noch den Ärger darüber […] Ehe ich wieder einen Brief abschicke, erwarte ich zu hören, ob nach Paris od. London, vielleicht auch nach Ostende oder sonst einem Ort.“31

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FFA, 5.10, Albert Heilenbeck an Wilhelm Colsman-Bredt, 12. Februar 1860. Zu neuen Geschäftsgründungen auf der Grundlage familialer Wissensbestände und Netzwerke vgl. in diesem Kapitel die Teilkapitel 4 und 6 zu Emil Colsman und zu Peter Lucas Colsman. Zu den vielfachen Funktionen von Unternehmerfamilien vgl. Groppe, Der Geist des Unternehmertums, S. 233ff. Vgl. als Überblick dazu Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 3, 1849–1914, S. 112ff., S. 716ff.; Groppe, Familienstrategien und Bildungswege in Unternehmerfamilien 1840–1920. FFA, B4g53, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 3. August 1869.

In einem scharf konkurrenzorientierten Markt waren die familial bedingten Wettbewerbsvorteile einerseits erheblich; andererseits trafen die Unternehmer bei ihren Kundenstämmen immer wieder auf die heimische Konkurrenz, die über dieselben Wissensbestände, dieselben geschliffenen Umgangsformen und zum Teil dasselbe Warensortiment verfügte.32 Die Firma Gebrüder Colsman erweiterte in den 1860er Jahren ihre Angebotspalette durch gezielt auf den britischen Markt ausgerichtete seidene und halbseidene Schirm- und Futterstoffe und konnte an der Jahrhundertwende sogar die British Navy als Kundin gewinnen.33 Nach dem innerdeutschen Markt wurde der britische bereits in den 1870er Jahren zum zweitwichtigsten und in den 1880er Jahren schließlich zum Hauptabsatzmarkt.34 Mehrere Agenturen in der Londoner City und in Manchester vertrieben die Waren des Unternehmens in Großbritannien.35 Seit den 1890er Jahren wurde dieses dann zeitweilig von den USA als größtem Exportmarkt für das Unternehmen abgelöst; eigene Lager hatten bereits in den 1830er Jahren in New York bestanden, im Kaiserreich übernahm die New Yorker Agentur Fredk. Vietor & Achelis exklusiv den Vertrieb der Stoffe des Unternehmens für die gesamten USA.36 Daneben existierten seit den 1860er Jahren Lager und Agenturen in den wichtigsten europäischen Hauptstädten Berlin, Wien, Paris, Amsterdam und Brüssel. Auch Japan und Indien spielten mit Lagern in Yokohama und Kalkutta eine gewisse Rolle.37 An der Jahrhundertwende und bis zum Ersten Weltkrieg machte die Produktion für die Märkte in Großbritannien und in den USA schließlich mehr als drei Viertel der Gesamtproduktion des Unternehmens aus.38 Gebrüder Colsman 32

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„Es ist hier doch ein arges Getriebe & die Concurrenz mehr als schrecklich! besonders quälen uns jetzt die Italiener mit ganz billigen auch schlechten Waaren & daß wir überhaupt ein Geschäft hier machen verdanken wir nur der sorgfältigen Arbeit & regelmäßigen Waare! […] Oncel Gottfried [Conze, Seidenfabrikant in Langenberg, CG] ist seit gestern auch hier, so daß der ganze ‚Clan‘ der Colsleute hier ist!“ Archiv WHC, Sign. 183, Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman aus London, 15. Mai 1884. Vgl. FFA, 9.34, Firmengeschichte Gebrüder Colsman; FFA, 4.81, Webstuhlverzeichnisse 1905–1914. Seit den 1860er Jahren nahm der Konsum ausländischer Seidenfabrikate in Großbritannien deutlich zu; die Importsumme stieg von 2,2 Millionen Pfund 1858 auf 9,4 Millionen Pfund an der Jahrhundertwende. Vgl. Buchheim, Deutsche Gewerbeexporte nach England, S. 61. Vgl. FFA, 4.28, Inventarien 1892–1899. Vgl. FFA, 4.23–4.29, Inventarien 1879–1910; FFA, 4.8, Inventarium 1837. FFA, 5.71, Kundenregister 1900 bis 1919. Dass die USA ein wachsender Absatzmarkt wurde, war durchaus typisch für die deutsche Seidenindustrie dieser Zeit, vgl. Buchheim, Deutsche Gewerbeexporte nach England, S. 61. Vgl. FFA, 4.21–4.29, Inventarien 1873–1910. Vgl. FFA, 4.29, Inventarien 1900–1910, Inventarium vom 31. Dezember 1900. Die Dominanz ausländischer Märkte lag in den 1870er und 1880er Jahren zunächst noch an der Konsumschwäche des heimischen Marktes. Davon konnte aber ab den 1890er Jahren keine Rede mehr sein. Vgl. Plumpe, Eine wirtschaftliche Weltmacht, S. 41, S. 46. Dennoch blieb das Unternehmen Gebrüder Colsman auch in den 1890er Jahren bis

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waren bis zum Ersten Weltkrieg ein klar exportdominiertes Unternehmen mit weltweiten Lagern, Agenturen und Verkaufsbüros für Kleider-, Krawatten-, Schirm- und Futterstoffe, das insbesondere mit der anglo-amerikanischen Welt hervorragende Geschäfte machte. Damit gehörte das Unternehmen zu den Global Playern der deutschen Wirtschaft dieser Zeit. Geschäftsreisen der Teilhaber mehrmals im Jahr für mehrere Wochen nach Großbritannien und ab den 1890er Jahren längere, ein- bis zweijährige Aufenthalte während der Ausbildung in den USA waren die Regel; beide Staaten spielten auch für das Privatleben der Familien eine wichtige Rolle. Die Firma war Teil der „Belle Époque“ der ersten wirtschaftlichen Globalisierung vor dem Ersten Weltkrieg.39 Deshalb konnte Wilhelm Colsman-Bredt in der Angelegenheit seiner Cousine und ihres Ehemannes in dem eingangs zitierten Brief auch auf ein internationales Netzwerk von Freunden, Bekannten und Geschäftspartnern verweisen: Seine „Brüßeler Freunde“ hatten ihn über die gefälschten Wechsel des Ehemanns seiner Cousine informiert. Über den neuen deutschen Nationalstaat legte sich für Wilhelm Colsman-Bredt ein seit Beginn seines Berufslebens bestehendes Netz von internationalen Freundschaften, Geschäftsbeziehungen, Reisen und Korrespondenzen, die als Sozialisationserfahrung bedeutsam waren und sein Leben und das seiner Familie stark bestimmten. Seine bürgerliche Welt war international. Wie passten die Geschäftsentwicklung und das erwirtschaftete Vermögen Wilhelm Colsman-Bredts nun mit den eingangs zitierten Ratschlägen zusammen, die er seiner Cousine gab, nämlich strenge, auch wenig Einkünfte verheißende Arbeit zu bevorzugen statt nach leichter Gewinnmaximierung zu streben? Seine persönliche Lebensform, die durch regelmäßige Berufsarbeit und bürgerlichen Wohlstand, nicht aber durch ein üppiges Rentier-Dasein unter Verbrauch des Vermögens geprägt war, sprach dafür, dass es sich hier nicht ausschließlich um eine asymmetrische Kommunikation zwischen einem erfolgreichen Großunternehmer und einer aus der bürgerlichen Wohlanständigkeit herausgefallenen Verwandten handelte, auch wenn das soziale Gefälle zwischen den Briefpartnern unverkennbar war. Vielmehr wurden in dem Brief Werte und Normen artikuliert, die zum allgemeinen bürgerlichen Bewusstsein gehörten und als solche formuliert und eingefordert wurden: Stetige Berufsarbeit zählte dazu, und die Familie war deren Sinnstiftung und moralisches Regulativ. Daher musste die Arbeit ausbalanciert werden: Sie durfte den sozialen Status der Familie nicht gefährden, beispielsweise durch riskantes Handeln, sollte aber gleichzeitig die Familie absichern und deren Wohlstand mehren. Obwohl sich hier insbesondere ein männliches bürgerliches Bewusstsein artikulierte, da die bürgerliche Lebensform für Frauen keine Berufsarbeit vorsah, war doch eine

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zum Ersten Weltkrieg dominant exportorientiert; Großbritannien und die USA blieben mit Abstand die wichtigsten Märkte. Vgl. Torp, Erste Globalisierung und deutscher Protektionismus, S. 422, Zitat ebd. Der deutsche Anteil am Weltexport stieg von 9,5% 1874/78 auf 12,2% 1909/13, während der Anteil Großbritanniens im selben Zeitraum von 17,3% auf 13,5% sank. Vgl. Torp, Die Herausforderung der Globalisierung, S. 62.

solche Interpretation der Berufsarbeit bürgerlich-allgemein. Zudem sollte grundsätzlich jede bürgerliche Person in der Lage sein, ihr Leben selbstständig und selbstverantwortlich zu gestalten und ihre Selbstpräsentation und ihre Handlungsorientierungen darauf zu beziehen (wenn auch an geschlechtsspezifischen Orten und mit ebensolchen Aufgaben und Abstufungen), kurz: Sie sollte ein Leben in innerer und äußerer Balance führen. Die Vernachlässigung der Geselligkeit zugunsten rastloser Berufsarbeit war in der Unternehmerfamilie Colsman ebenso verpönt wie beispielsweise die Überbetonung der Kunst als eigentlich sinngebende Sphäre des Lebens mit einer entsprechenden Investition von Zeit. Die eigentliche Kunst bestand darin, die Felder der Lebensführung in ein Gleichgewicht zu bringen. Diese Überzeugungen waren meines Erachtens auch das Fundament der kulturellen Vergesellschaftung40 des Bürgertums über dessen Großgruppen (Bildungsbürger, Wirtschaftsbürger) und Berufsklassen hinweg und entwickelten im Verlauf des 19. und frühen 20. Jahrhunderts eine wachsende Faszination über das Bürgertum hinaus. Sie boten zudem Raum für ganz unterschiedliche lebenspraktische Konkretisierungen. In den folgenden Teilkapiteln werden am Beispiel von vier verschiedenen Ehen Eheschließungen und Ehebeziehungen kurz vor und während des Kaiserreichs behandelt: Wilhelm Colsman und Adele Bredt (Heirat 1856), Emil Colsman und Mathilde Schniewind (Heirat 1877), Paul Colsman und Elisabeth Barthels (Heirat 1888) und Peter Lucas Colsman und Antonia Klincke (Heirat 1891). Für alle Ehepaare liegen umfangreiche und langjährig geführte Verlobungs- und Ehebriefwechsel sowie ergänzende Briefe von Freundinnen und Freunden, Eltern, Geschwistern und Geschäftspartnern vor. Zugänglich wird mit den Briefen der Ehepaare und Freunde dasjenige, was die Schreiberinnen und Schreiber über ihre Beziehung ihren Ehepartnern und Zeitgenossen mitteilen wollten. Sie beschrieben, bewerteten und positionierten ihre Beziehung nicht, wie dies bei Erinnerungen und Autobiographien der Fall ist, reflexiv und historisierend, sondern positionierten sich gegenüber ihren Briefpartnerinnen und -partnern im Kontext zeitgenössischer bürgerlicher Lebensformen und Lebensideale, welche dadurch für die Analyse aufgeschlossen werden können. Die Ehebeziehungen können durch die Dichte der Briefwechsel zudem als interaktives Geschehen zwischen zwei Personen analysiert werden, durch das Selbstpräsentationen, Handlungsorientierungen, Lebensideale und Weltdeutungen in Gespräch und Auseinandersetzung mit dem Ehemann und der Ehefrau entwickelt wurden. Die Aufmerksamkeit der Analyse richtet sich dabei neben allgemeinen Charakteristika der bürgerlichen Lebensform auf Fragen der Geschlechterideale und rollen, auf Fragen von Hierarchie und Autorität in den Ehen sowie auf Aspekte von Globalität und Nationalbewusstsein bei Männern und Frauen. Gefragt wird 40

Vgl. zur Frage der Kohäsion des Bürgertums Ziegler, Das wirtschaftliche Großbürgertum, S. 124; Hettling/Hoffmann, Der bürgerliche Wertehimmel; Hettling, Eine anstrengende Affäre, S. 224; zu bürgerlicher Kultur als einem kulturellen System vgl. Hettling, Bürgerliche Kultur – Bürgerlichkeit als kulturelles System.

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auch nach Veränderungen innerhalb der vierzig Jahre des Bestehens des Kaiserreichs bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs.

3. Zwischen Biedermeier und Bismarckära: Wilhelm Colsman und Adele Bredt 3.1 Eheschließung und Beziehungsbeginn in den 1850er Jahren 1856 schrieb Adelheid Bredt ihrer Tochter Adele Colsman (1836–1893) einen Brief, während diese sich auf ihrer Hochzeitsreise in Italien befand: „Daß Ihr Euch beide so befriedigt an Eurem gegenseitigen Besitz fühlt, freut uns sehr […].“41 Adelheid Bredt wählte eine Formulierung für die eheliche Zuneigung, die der ihr vertrauten Geschäftswelt entnommen war: befriedigt am gegenseitigen Besitz. Das klang in der Sprache der Mutter wenig nach dem bürgerlichen Ideal der romantischen Liebe zu dem einzigartigen Menschen, dem man bestimmt war. Vielmehr artikulierte sich hier aus elterlicher Sicht die Zufriedenheit am Gelingen der Verbindung zweier etablierter Unternehmerfamilien. Die Unternehmerfamilie Bredt aus der benachbarten Stadt Barmen gehörte zu den vermögendsten und angesehensten Familien des Wuppertals. Adele Colsmans Vater Emil Bredt (1808–1874), der aus einem Seitenzweig der Familie stammte, hatte nach seiner Heirat mit Adelheid Heilenbeck (1813–1884) die Leitung der Heilenbeckschen Band- und Litzenfabrik in Barmen übernommen und war Teil der wohlhabenden Barmer Honoratiorenschaft geworden.42 Mit der Eheschließung Wilhelm Colsmans und Adele Bredts 1856 setzte sich ein bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts in der Familie Colsman etabliertes Heiratsmuster fort, das auch während des gesamten Kaiserreichs Bestand haben sollte: Die potentiell für die Nachfolge im Unternehmen Gebrüder Colsman vorgesehenen Söhne gingen Ehen mit Töchtern aus Unternehmerfamilien der Region ein. Die Töchter der Familie heirateten dagegen flexibler, nämlich entweder in das regionale oder internationale Wirtschaftsbürgertum oder in das Bildungsbürgertum hinein.43 Aber bis auf eine einzige Ehe, Emil Colsman und Mathilde Schniewind, kamen die Beziehungen nicht durch den geschickt eingefädelten Zufall44 der Begegnung zweier vorab durch die Eltern füreinander bestimmter Partner zustande. Vielmehr entstanden sie durch die bürgerlichen Verkehrskreise, an denen die männlichen und weiblichen Jugendli41 42 43

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Vgl. Archiv WHC, Sign. 50, Adelheid Bredt an ihre Tochter Adele, o. D., 1856. Vgl. Bredt, Geschichte der Familie Bredt, S. 219ff. Zu wirtschaftsbürgerlichen Eheschließungen vgl. Augustine, Patricians and Parvenus, S. 64ff.; Ziegler, Das wirtschaftliche Großbürgertum, S. 118, sowie Schumann, Bayerns Unternehmer, S. 186ff., die alle für die Großunternehmer des Kaiserreichs ähnliche Muster des Heiratsverhaltens feststellen. Vgl. Kaplan, The Making of the Jewish Middle Class, S. 108ff.

chen teilhatten und die von den Eltern diesen nachdrücklich empfohlen wurden. So waren zum Beispiel für die Eltern Wilhelm Colsman-Bredts Tanzenlernen, Singen und Klavierspielen und ein gewandtes Auftreten in der Gesellschaft für ihren Sohn sehr wünschenswert, trotz einer eigenen streng religiösen Lebensführung. Und so war Wilhelm Colsman-Bredt in seiner Lehrzeit in Barmen auch Mitglied im Gesangsverein, nahm Tanzstunden und besuchte regelmäßig Konzerte und Gesellschaften.45 Die bürgerlichen Verkehrskreise und Organisationen waren zugleich der sozial zugelassene Rahmen für die außerschulische Sozialisation der Jugendlichen. Hier war ein Kennenlernen nicht nur möglich, sondern explizit erwünscht und konnte zugleich sozial kontrolliert werden. Der soziale Raum, in dem sich die männlichen und weiblichen Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und dem Ende des Ersten Weltkriegs im Wuppertal und im Bergischen Land bewegten, war zugleich groß genug, dass sich zahlreiche sozial gleichrangige Jugendliche und junge Erwachsene begegnen konnten. Die dortige wirtschaftsbürgerliche Gesellschaft mit ihrer großen Zahl vermögender Fabrikanten und Kaufleute bot zudem hinreichend Gelegenheit, sich in Musikvereinen und karitativen Organisationen oder auf privaten Gesellschaften und Bällen kennenzulernen.46 Die wirtschaftsbürgerliche Erziehung und Sozialisation sorgten zusätzlich dafür, dass vergleichbare Lebensstile, Erfahrungswelten und Einstellungen aufeinandertrafen und der ‚Gleichklang der Herzen‘ neben einer sozialen auch eine habituelle Basis besaß.47 So waren die in diesem Kapitel analysierten Beziehungen durchweg Neigungsehen, und Erziehung und Sozialisation bewirkten, dass sich Partner fanden, die in Lebensform und Lebensidealen grundlegend übereinstimmten und auch ihren Herkunftsfamilien passend erschienen. Wilhelm Colsman-Bredt hatte seine Lehrzeit von 1849 bis 1852 in Barmen im Textilunternehmen Ph. Barthels-Feldhoff absolviert, welches Nähgarne produzierte. Obwohl nicht überliefert, kann eine Bekanntschaft mit der Fabrikantentochter Adele Bredt bereits in dieser Zeit zustande gekommen sein. Die Verbindung, die er im Alter von fünfundzwanzig Jahren schließlich mit der fünf Jahre jüngeren Adele Bredt einging, war eine Liebesehe. Ein halbes Jahr nach der Hochzeit präsentierte er seiner Frau in einem Brief von einer Geschäftsreise überschwänglich seine Gefühle: „Gestern war nun der 5te März u wie habe ich da schon in Erinnerung geschwebt & gelebt; wie habe ich die ganze Scene des Tages noch mal durch gemacht [...]; Gott dem Herrn sei Dank das er seinen Segen in so reichem Maaßen dazu gegeben! Nun ist heute der 6te das war eigentlich der schönste, wie ich da so mit Windeseile Dir entgegenreiste […]. Wie wir nun spazierengingen & endlich an dem Lichterschein im Graben uns erfreuten, wie die günstige Gelegenheit sich stets schneller & mehr ihrem Ende neigte & 45 46 47

Vgl. FFA, B4g52, Wilhelm Colsman-Bredt an seinen Vater Johann Wilhelm Colsman, 29. Januar 1850. Vgl. dazu auch Kapitel V über die Sozialisation der Mädchen, Teilkapitel 1. Vgl. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 277; Bauer, Keine Gesinnungsfrage, S. 74ff.

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ich wol mit Grüßen herausstotterte; weißt Du es noch, wie es da weiter ging; was Du mir sagtest & wie du eilig in’s Haus schlüpftest nachdem du mir doch vorher so lieb die Hand in der Meinigen gelassen & ich an Deinem wenn auch noch so flüchtigen Händedruck merken durfte: sie will es, merken durfte: sie ist mein!! Folgte dann nun auch gleich nachher in der Stube die Stillschweige Scene, so mag das in unserer beider Befangenheit gelegen haben, macht auch nichts, aber als ich Dir endlich endlich den ersten Kuß geben durfte oder vielmehr gab! o da durchrieselte mich unaussprechliche Freude & die Gott sei Dank stets wiederkehrt & bis an mein Ende stets wiederkehren wird, wenn ich daran denke & des so recht gewiß bin, daß Du meine liebe theure Adele für dies ganze Leben mir, ausschließlich mir gehörst […].“48

Eine deutliche religiöse Verortung seiner Ehe nahm Wilhelm Colsman-Bredt nicht vor, obwohl seine Eltern aktive Mitglieder der bergischen protestantischen Erweckungsbewegung gewesen waren und er selbst streng religiös erzogen worden war.49 Vielmehr war die Eheschließung mit Adele Bredt selbst der Sinn, sie bedeutete innerweltliches Glück. Gottes Segen sollte gleichwohl auf der Ehe ruhen, aber dieser Segen war weniger Ursache als Wirkung eines gelingenden, säkularen Lebensentwurfs. Wilhelm Colsman-Bredts spätere Frau Adele Bredt war wie er im reformierten Glauben erzogen worden. Gleichzeitig hatte sie aber, im Unterschied zu ihrem Ehemann, eine liberale häusliche Erziehung und Sozialisation erfahren.50 Dabei hing es vom jeweiligen Gesprächspartner und der Situation ab, welche Eigenschaften und Einstellungen eine junge Frau oder ein junger Mann hervorkehrten und als ihr ‚Selbst‘ präsentierten. So hatte sich Adele Bredt beispielsweise in Briefen an eine Freundin am Beginn der 1850er Jahre nicht nur als begehrte und flirtbereite junge Frau dargestellt, sondern auch die vielfachen Verwicklungen des Verliebtseins innerhalb der bürgerlichen Jugendzirkel Barmens beschrieben. Dies lässt darauf schließen, dass – den konkreten Realitätsgehalt der Darstellungen dahingestellt – das Thema nicht nur aufregend, sondern auch eine in der jugendlichen Peer Group erwünschte und ersehnte soziale Praxis war.51 Gleichwohl veränderte sich der Ton der Briefe an ihre Freundin deutlich, als Adele Bredt 1855 mit neunzehn Jahren kurz vor ihrer Verlobung mit Wilhelm Colsman-Bredt stand. Obwohl sie weiterhin ihre eigene Attraktivität als junge Frau beschrieb, zum Beispiel anlässlich einer Postkutschenfahrt („Die vielen albernen Redensarten, die ich hören mußte, sind mir glücklicherweise entfallen, seine Blicke hatten fast den ganzen Weg auf mir geruht, wie froh war ich als ich auf dem Markt aussteigen konnte“52), tat sie dies nun in einer sich davon distanzierenden Weise. 48 49

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FFA, B4g57, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 6. März 1857. Zur Elterngeneration und deren Bestreben, aus dem reformierten Glauben wieder ein die gesamte Lebenspraxis bestimmendes religiöses Lebenskonzept zu machen, vgl. Groppe, Der Geist des Unternehmertums, S. 479ff. Vgl. dazu Kapitel V über die Sozialisation der Mädchen, Teilkapitel 1.1 und 2.3. Vgl. FFA, B4g54, Adele Bredt an Maria Esch, Briefe aus den Jahren 1849–1855. Vgl. dazu ausführlich Kapitel V über die Sozialisation der Mädchen, Teilkapitel 1.1. FFA, B4g54, Adele Bredt an Maria Esch, 6. Dezember 1855.

In der gleichen distanznehmenden Form beschrieb sie in dem Brief an ihre Freundin einen festlichen Empfang bei Verwandten in Barmen. Dieser Bericht der Neunzehnjährigen ist gleichzeitig eine so eindrucksvolle Schilderung einer bürgerlichen Abendgeselligkeit der Jahrhundertmitte, dass er in einem längeren Zitat wiedergegeben wird: „[…] wir waren alle zu Carl Bredts eingeladen, mir standen die Sinne nicht zu solcher Gesellschaft, um ¼ nach 7 saßen wir aber in ziemlicher Eleganz im Wagen um hin zu fahren. Der Bediente kam uns schon in weißen Handschuhen entgegen, wir wurden in einen hell erleuchteten Saal geführt, die Herren standen, die Damen nahmen sitzend ihren Thee. Musikdirektor Reineke ermangelte auch nicht uns durch seine Gegenwart zu erfreuen, Frl. Mann eine Sängerin war auch dort, so hatten wir einen herrlichen Abend, Herr Reineke spielt so entzückend, mit so viel Ausdruck, ich hätte ihm stundenlang zuhören mögen, u. die junge Dame sang so fröhlich, es sah so lieblich aus, aber ich mußte unwillkürlich denken, ob sie wohl so glücklich ist, wie sie beim Gesang aussieht, ich glaube nicht. Ich habe den Abend mancherlei Betrachtungen angestellt, Adeline und Carl waren in der größten Liebenswürdigkeit, gingen hin u. her u. hatten für jeden viel freundliche Worte, der Saal war voller geputzter Damen u. galanter Herren, u. doch mußte ich mir sagen, u. nachher trat es mir noch mehr hervor, man wandelt auf unsicherm Boden, mit Traumbildern zu allen Seiten, man fühlt sich in angenehmer Aufregung, u. dahinter ist das graue Nichts, da ist es so leer, so öde, ein Genuß ohne Frieden! […] Um 10 Uhr setzten wir uns zu einem sehr feinen Essen nieder, an verschiedenen Tischen, ich natürlich neben Julius, er hat rathen müssen! Ich habe gesprochen mein meistes u. bestes, denn in Pausen, waren meine Gedanken in Langenberg u. sind sie auch noch. Hugo war unendlich albern, Emil angenehm, nach dem Essen hörte man plötzlich Musick, die Tische waren wie weg geblasen, ich begreife nicht wie sie es anfingen, u. eine Galoppade begann. Noch nie hatte ich Erwachsene tanzen sehen, abscheulicher Anblick! Die Herren sind noch erträglich, aber diese Weltlust u. Eitelkeit der Damen, die man ihnen in den Augen ansah, das war schrecklich, wenn ich früher nicht tanzte weil ich nicht dazu angeleitet war, so thue ich es jetzt nicht weil ich es so häßlich finde, ich dachte die Menschen sind doch zu etwas besserm gut.“53

In dem Brief präsentierte sich das vormals lebhafte und flirtbereite Mädchen nun als melancholische Neunzehnjährige, die ‚oberflächliche‘ Vergnügungen ablehnte. Gleichzeitig beobachtete sie weiterhin genau und sparte nicht mit scharfen Urteilen. Welche Einflüsse dazu geführt hatten, dass sich ihre Selbstpräsentation zu diesem Zeitpunkt so deutlich veränderte, konnte anhand der Archivalien nicht festgestellt werden. Vermutlich wird die Vorbereitung auf ihre Rolle als Ehefrau eine Bedeutung gehabt haben. Ihre Hochzeitsreise im September 1856 verbrachten Wilhelm ColsmanBredt und Adele Colsman in Italien. Die Reise führte zunächst an den Rhein, dann nach Frankfurt und Bad Homburg, gefolgt von Heidelberg und dem Schwarzwald. Anschließend ging es zum Rheinfall bei Schaffhausen und in die 53

FFA, B4g54, Adele Bredt an Maria Esch, 6. Dezember 1855. Die Aussage, sie hätte früher nicht tanzen können, ist nachweislich falsch. In Briefen an dieselbe Freundin fünf Jahre zuvor hatte sie von Tanzvergnügen berichtet, an denen sie aktiv teilgenommen hatte.

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Schweiz. Von dort ging es an den Lago Maggiore, dann nach Mailand, Venedig und Genua, schließlich über Südfrankreich zurück. Während des ersten Teils der Reise führte Wilhelm Colsman-Bredt ein Tagebuch, in dem er nicht nur den Reiseverlauf und die kleineren und größeren Ereignisse und Sehenswürdigkeiten festhielt, sondern auch seinen Genuss an der Ehebeziehung und der körperlichen Nähe: „Eine Beschreibung der Rheinfahrt kann man in vielen Büchern lesen; & das genügt für andere Leute; eine Beschreibung unseres Glückes ist nicht möglich es war zu groß & zu lieblich. Gegen 6 kamen wir nach Castell, Mainz gegenüber & freuten uns sehr daß es uns gelang ein leeres Coupé zu finden, denn man denke sich, den ganzen Tag hatten wir nur durch Blicke correspondiert & fanden nun einen reichlichen Ersatz für die leider nur zu lange Entbehrung.“54

Seine Frau Adele führte dieses Tagebuch auf dem zweiten Teil der Reise durch Italien anstelle ihres Mannes fort und trug dort ebenfalls nicht nur die besuchten Sehenswürdigkeiten ein, sondern auch ihre ersten Eheerfahrungen. Neben dem sich harmonisch anlassenden Zusammenleben mit ihrem Mann hielt sie kritisch fest, dass auf der Hochzeitsreise große Teile des Tages ihres Mannes mit Geschäftsbesuchen und geschäftlicher Korrespondenz ausgefüllt waren: „Wilhelm ging bald nach dem Frühstück aus, u. ich amüsire mich indessen mit Walter Scott u. s. w. Gegen ½ 2 Uhr kam Wilhelm wieder um mich zu einem Frühstück in einem nahen Caffe abzuholen ich war recht froh ihn wieder zu sehen, hörte aber zu meinem großen Bedauern daß er mich noch einmal verlassen mußte, auch waren wir im Caffe mit einem Geschäftsfreund, der aber zum Glück Deutsch sprach zusammen. Zu Hause beschäftigte ich mich wieder mit Lesen, was ich noch nicht lange gethan hatte, als Herr de Bon erschien, der schon 2 mal vergeblich dort gewesen war. Wir unterhielten uns eine kurze Zeit allein, dann kam Wilhelm, u. es wurde meist über Geschäfte gesprochen, schließlich aber überlegt, den Abend zusammen in’s Theater zu gehen.“55

An ihre Mutter schrieb sie leicht verärgert: „Ihr werdet Euch wundern, daß wir noch immer in Lyon sind, u. vielleicht nicht begreifen, was uns hier so lange fesselt.“ Und sie berichtete weiter: „Aber Wilhelm ist ein rechter Geschäftsmann, ich hätte nicht gedacht, daß er solchen Eifer entwickeln könnte, denke Dir nur, diesen Morgen begann er schon um ½ 7 Uhr seinen Cursus […].“56 In den Aufzeichnungen und Briefen Adele Colsmans klang bereits zu diesem Zeitpunkt leise an, was in ihrer Ehe später eine wichtige Rolle spielen sollte: die Frage eines gleichberechtigten Bedürfnisausgleichs, die Herstellung emotionaler Nähe und die gleichzeitige Anerkennung gegenseitiger Freiräume, zugleich aber auch das Ringen Adele Colsmans um eine sinnstiftende Lebensinterpretation. Während ihr Mann durch die Heirat einen weiteren Lebenskreis, nämlich Ehe 54 55 56

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Archiv WHC, Sign. 64, Wilhelm Colsman-Bredt, Notizen auf der Hochzeitsreise, September 1856. Archiv WHC, Sign. 64, Adele Colsman, Notizen auf der Hochzeitsreise, September 1856. FFA, B4g55, Adele Colsman an Adelheid Bredt, 18. Oktober 1856.

und Familie, hinzugewann, musste sie ihr früheres Leben aufgeben und ihr neues Leben als Ehefrau arrangieren und interpretieren. Zunächst aber beschrieb sie in ihren Briefen an ihre Eltern und Freunde diejenigen Verhaltensformen, die auch im öffentlichen Diskurs von jungen verheirateten Frauen erwartet wurden: bescheidene Zurückhaltung, Einordnung in vorgegebene Strukturen, Akzeptanz der Autorität zunächst der Eltern und dann des Ehemanns, sparsame Gefühlsäußerungen bei gleichzeitiger Demonstration von Gefühlswärme und Natürlichkeit.57 Letztere spielte als Verhaltensnorm für Wilhelm Colsman-Bredt und seine Frau eine wichtige Rolle. Über eine Bekannte schrieb er ihr in den 1870er Jahren diesbezüglich ironisch: „Du hättest Louise F. sehen müssen als ich sie […] im Eisenbahnwagen frug ob Prof Fink zu Hause sei! wie ein schüchternes verliebtes Mädchen, neigte sie erst den Kopf und schwieg eine Weile still, um dann mit leisem Erröthen ganz schüchtern zu sagen, ‚gewiß ist er da‘! Es war zu komisch! Bertha und ich haben uns fast schief gelacht über dies alberne Gestelle. […] Dabei ist sie cocuett in Extrem und stets mindestens à demi decoltirt!“58

Frauen sollten in der Regel zwar nicht (zumindest nicht in der Öffentlichkeit) tatkräftig und aktiv sein, sondern sanftmütig und geduldig, keinesfalls aber sollten sie nach der Vorstellung Wilhelm Colsman-Bredts aber affektiert sein. In den Briefen nach der Heirat, die Adele Colsman ihrem Mann auf dessen zahlreichen Geschäftsreisen schrieb, wird deutlich, dass sie um eine Beziehung rang, die durch Präsenz und emotionale Nähe des Ehepartners geprägt sein sollte. Dabei geriet sie offenbar in einen inneren Konflikt zwischen den gesellschaftlichen Rollenvorgaben für Mann und Frau und ihren eigenen Wünschen. Vier Monate nach der Hochzeit, im Februar 1857, schrieb sie an ihren Ehemann: „Du plagst Dich ja den ganzen Tag für mich, ich muß wohl recht undankbar u anspruchsvoll sein. […] Daß ich oft nicht so ganz froh u. glücklich bin, kann keinen Grund in äußern Dingen haben, denn da habe ich alles, wonach sich mein Herz jemals gesehnt hat […]. Wenn man allein ist, ist man so geneigt gute Vorsätze zu fassen, aber das wollte ich hier nicht, die werden meistens nicht erfüllt, ich fühle nur, daß es anders mit mir werden muß, u. bin froh, daß ich dich habe, dem ich alles sagen kann, dies Dir auszusprechen, hat mein Gemüth schon ganz erleichtert u. Du hast gewiß auch geduldig zu gehört, nun erzähle ich Dir auch von etwas anderm, Du müßtest ja doch alles wissen, was in mir vor geht. […] Wenn wir diesen Abend die Ruhe suchen bist Du auch wohl in Berlin angekommen, wie müde wirst Du dann sein, könnte ich dann doch so bei Dir sein, u. Deinen Kopf ein wenig an mich legen, das war Dir oft so behaglich!“59

Ihr Mann antwortete ihr von einer Geschäftsreise nach Leipzig auf diesen und zwei weitere Briefe, indem er in seinen Ausführungen nicht die Bedeutung der männlichen Berufsarbeit oder eine männliche Autorität in den Vordergrund 57 58 59

Vgl. Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben, S. 25ff., S. 149ff. FFA, B4g58, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 11. August 1875. FFA, B4g57, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, Februar 1857.

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stellte, sondern die Wünsche und Bedürfnisse seiner Frau. Die in der Publizistik der Zeit propagierten Geschlechterrollen und -ideale, die ein hierarchisches Gefälle zwischen Mann und Frau vorsahen und der Frau zugleich die Aufgabe der Beziehungsarbeit zuwiesen, spiegelten sich hier nicht: „Du hast Deiner Mutter recht berichtet mein Schatz, ich bin glücklich, sehr glücklich Dich die Meine nennen zu dürfen; […] Sind Deine Wünsche, die sich damals mit den Meinigen begegneten in Erfüllung gegangen? ich hoffe wenigstens einige & wenn noch nicht alle, so wird dies hoffentlich noch immer mehr & mehr der Fall werden, mein Bestreben ist & bleibt es; Gott verzeihe mir die Menschlichkeiten & Schwachheiten die zuweilen deinen klaren freundlichen Augen, ich muß es zu meiner großen Beschämung bekennen, – Thränen entlockten, – mein lieber Schatz, Du weißt Du bist mir das Theuerste auf Erden, denke nicht mehr an deine verschiedenen Scenen, deren erste ja in Paris zur Aufführung kam, in der Folge wird’s mit Gott besser gehen, in der letzten Zeit warst Du doch auch im Ganzen reichlich zufrieden mit mir, nicht wahr?“60

Die bürgerlichen Ideale von Männlichkeit (Rationalität, Aktivität) und Weiblichkeit (Emotionalität, Passivität) sind in den beiden Briefen durchaus präsent; sie sind der diskursive Kontext, in dessen Zusammenhang sich die Argumente und Positionierungen des Ehepaars und die Gestaltung ihrer Beziehung entwickeln. Durch einen solchen diskursiven Kontext, d. h. durch eine mediale Öffentlichkeit, werden Perspektiven und Interpretationen der Wirklichkeit konstituiert, indem Regeln und Kriterien für zugelassene oder unzulässige Aussagen geschaffen werden. In der Forschung wird zumeist nur diese öffentlich-mediale Seite eines Diskurses behandelt. Wenn Personen dadurch implizit aber nur als Träger oder Teil dieses Diskurses begriffen werden und nicht als relativ autonom handelnde, denkende und sprechende Personen, wird es überflüssig, die Geschichte des Privaten in der Diskursanalyse zu berücksichtigen.61 Wie immer lässt uns die Aufhebung von Differenzierungen aber nicht mehr sehen, sondern weniger. Daher wird in diesem Buch im Kontrast zu klassischen diskursanalytischen Zugängen zwischen einem öffentlichen Diskurs (den in publizierten Dokumenten niedergelegten Aussagen und Positionen) und privaten Verhandlungen und privat bekundeten Einstellungen unterschieden.62 Während der 60 61

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FFA, B4g57, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, o. D., März 1857. Vgl. Landwehr, Historische Diskursanalyse, S. 91ff., der die privaten Äußerungen in seinem Überblick über die historischen Möglichkeiten der Diskursanalyse als Bestandteile des Diskurses einschließt und beschreibt, aber die damit oben aufgeworfenen grundlegenden Fragen nicht adressiert, weil diese quer zu klassischen Diskurskonzepten stehen. Durch die Emotionshistoriographie ist neuerdings ebenfalls deutlich geworden, wie wichtig es ist, zwischen öffentlicher Evokation von Gefühlen, z. B. im Rahmen von Staatsaktionen, und privaten Gefühlsäußerungen zu unterscheiden. Allerdings verbleibt die Emotionsgeschichte selbst noch überwiegend bei der Analyse von Gefühlspolitik im öffentlichen Raum. Kritisch die Ebenen Privatheit und Öffentlichkeit z. B. hinsichtlich der Bedeutung des Nationalen unterscheidend Günther, Das nationale Ich, S. 445ff.; auch Borutta/Verheyen, Vulkanier und Choleriker, S. 22ff. Die Formulierung „hegemoniale Männlichkeitskonstrukte westlicher Gesellschaften“ (S. 15) legt dann bei Borutta/Verheyen aber doch eine klassische Diskursperspektive mit Konzentration auf

öffentliche Diskurs „soziale Beziehungen legitimiert bzw. transformiert, sozialer Integration oder Desintegration dient und soziales Handeln mobilisiert“,63 beziehen sich private Äußerungen darauf und positionieren sich implizit im und zum Diskurs, der davon ebenfalls berührt wird. Um Weltdeutungen, Handlungsorientierungen und Selbstpräsentationen von Personen rekonstruieren und begreifen zu können, müssen meines Erachtens private Äußerungen als weitere Diskursebene einbezogen werden.64

3.2 Von den 1850er zu den 1890er Jahren: Verhandlungen über Gleichrangigkeit und Lebensformen In den frühen Ehebriefen, die zwischen Wilhelm und Adele Colsman getauscht wurden, wurde die Ehe als Liebesgemeinschaft entworfen, in der es keine Hierarchien geben sollte. Aus unterschiedlichen Perspektiven wurde von den Briefschreibern das Ideal einer Ehe- und Liebesbeziehung entwickelt und die eigene Beziehung daran diskutierend gemessen. Das Fundament der Beziehung, von dem aus dem Blickwinkel der Ehepartner alles abhing, war das tiefe und anhaltende Gefühl füreinander („treu“) und die Aufgabe einer gemeinsamen Lebensgestaltung als gleichrangiges Paar. So schrieb Wilhelm Colsman-Bredt von einer Geschäftsreise im ersten Ehejahr: „Es ist doch ganz sonderbar, so allein zu sein, ich muß gestehen ich hätte mir gedacht man könnte sich leichter in die Trennung schicken […] ein so einsames Leben ist auch immer einseitig, das fühlte ich ganz bedeutend wenn ich gestern an unsere gemeinschaftlichen langen Eisenbahnfahrten auf der Hochzeitsreise dachte; wurde einem da oft die Zeit was lange oder man wurde gar müde & abgesponnen & wie erfreute mich da ein Blick meiner lieben theuren Lebensgefährtin!“65

Die rund 600 Briefe, die sich aus der Ehe Adele Colsmans und Wilhelm Colsman-Bredts als Briefwechsel zwischen 1857 und 1893 erhalten haben, sprechen dann eine Sprache der Selbstreflexion im Kontext des gemeinsam entwickelten Eheideals eines gleichrangigen Paares. Dazu gehörten auch Urteile über das eigene Verhalten und das des Ehepartners: „Ich bin froh, daß Du so gut bist, von Zeit zu Zeit thue ich so angenehme Blicke in Dein Wesen, dann bin ich sehr froh über Dich, Du lieber Mann! Es ist gut, daß ich immer

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die mediale Öffentlichkeit nahe, die in den Beiträgen des Bandes auch weitgehend verfolgt wird. Kurig, Bildung für die technische Moderne, S. 64. Vgl. dazu die Ergebnisse z. B. bei Trepp, Sanfte Männlichkeit, welche durch die Auswertung privater Dokumente (Briefe, Tagebücher usw.) zu ganz anderen Ergebnissen bezüglich Geschlechterrollen und -verhältnissen im Bürgertum zwischen 1770 und 1840 kommt als im öffentlichen Diskurs der Zeit vorgesehen. Zu deutlichen Differenzen zwischen Expertendiskursen und privaten Handlungsorientierungen und Debatten vgl. auch Kapitel III über frühkindliche Erziehung und Sozialisation. FFA, B4g57, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, o. D., 1857.

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mehr merke wie Du bist, ich wollte, was Du mir am Samstag vor dem Essen sagtest hätte ich besser behalten, ich bin oft so confus.“66 „Mein lieber Schatz ich bin sehr glücklich daß ich Dich mein nennen darf & gebe Gott daß mir dies stets & in allen Lebensverhältnissen recht klar vor Augen stehe & ich nicht so leicht wieder, durch mein Glück wieder übermüthig gemacht den Beleidigten & Empfindlichen spiele, wie dies ja in den letzten Tagen so oft der Fall gewesen.“67

Es war keineswegs nur die Frau, die im öffentlichen Diskurs ohnehin stärker in der Rolle der Beziehungsarbeiterin gesehen wurde, welche hier brieflich ein Ideal der Beziehung entwarf und das eigene Verhalten daran maß, sondern dies geschah auch durch den Mann. Dagegen oblag im bürgerlichen Ehe- und Familienideal der Frau zwar die Gestaltung des Ehe- und Familienlebens, moralische und rechtliche Letztinstanz war in Entscheidungsfällen aber stets der Mann. Im öffentlichen Diskurs der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war diese Hierarchie das Ergebnis einer Anthropologie der Geschlechter, die der Frau Emotionalität, Passivität sowie physische und geistige Schwäche als biologisch verankerte Wesensmerkmale zuschrieb, dem Mann dagegen Rationalität und Aktivität, aber auch einen starken Willen, Schöpfertum und Kraft.68 Der bürgerliche Mann sollte idealerweise in der Lage sein, seine Kraft und seinen starken Willen durch Rationalität zu regulieren; Selbstbeherrschung war sein wichtigstes Merkmal, gleichsam als innere Seite einer ausbalancierten Lebensführung. Dagegen bedurfte die Frau einer stärkeren Leitung durch den Mann. Beruf, Politik und aktive Teilnahme an gesellschaftlichen Debatten, mithin der überwiegende Teil der Öffentlichkeit, wurden demgemäß männlich konnotiert, Haus, Familie und Kinder der weiblichen Sphäre, der Privatheit, zugeschrieben.69 Wilhelm Colsman-Bredt war hingegen von Eltern erzogen worden, in deren Ehe sich die protestantische Erweckungsbewegung stark auf die Geschlechterrollen ausgewirkt hatte. Seine Eltern hatten die Ehe als gemeinsamen Pilgerweg zu Gott begriffen, auf dem die Frau auch die Position einer Lenkerin und Füh66 67 68

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FFA, B4g57, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 11. April 1858. FFA, B4g57, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, im September 1857. Vgl. Frevert, „Mann und Weib, und Weib und Mann“, S. 133ff., insb. S. 142f., S. 145f. Begriffsgeschichtlich entfaltet Frevert dies an den Einträgen zu „Geschlecht“, „Mann“ und „Frau“ in Konversationslexika (ebd., S. 13–60). Dabei wird deutlich, dass insbesondere die ab der Mitte des 19. Jahrhunderts vorherrschende Biologisierung der männlichen und weiblichen Eigenschaften und Fähigkeiten soziale Tätigkeitsfelder deterministisch zuwies (vgl. ebd., S. 21, S. 31f., S. 38). Mit etwas anderer Argumentation, nämlich bezüglich der Männlichkeit eine weitere Konstruktion in Form einer ‚Ganzheit‘ ermittelnd Kessel, The ‚whole man‘. In der von Kessel neben der Relationalität ausgemachten Ganzheits-Perspektive in historischen Geschlechterdiskursen des 19. Jahrhunderts bleibt der Mann die dominante und stets bedeutsamere Person in einer Beziehung, weil sie letztlich alles umfasst. Das Ganzheits-Konstrukt, so Kessel, war einerseits Grundlage rein männlich definierter Gesellschaftsutopien, wurde aber gleichzeitig der Angriffspunkt für eine zeitgenössische Kritik an dominanter Männlichkeit durch Frauen. In den von mir ausgewerteten Quellen kommen solche männlichen GanzheitsVorstellungen allerdings nicht vor. Vgl. Hausen, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“.

rerin einnehmen konnte.70 Voraussetzung der religiösen Gleichberechtigung war allerdings, dass sich die Frauen ebenso engagiert erweckungsbewegt zeigten wie die Männer. Dies war bei Wilhelm Colsman-Bredts Mutter Emilie der Fall gewesen. Wo das hingegen nicht der Fall war, verstärkten sich Geschlechterhierarchien eher noch. So wuchs beispielsweise die mit Adele Bredt gleichaltrige Laura Colsman (1839–1906) in einer Familie auf, in der ihr Vater, Eduard Colsman (1812–1876), Wilhelm Colsman-Bredts Onkel, die einzige religiöse Autorität in der Familie darstellte.71 Seine Frau Sophie, die erst durch die Eheschließung mit der Erweckungsbewegung in Kontakt gekommen war, spielte eine ihm gegenüber marginalisierte und untergeordnete Rolle im Familienleben. Dies galt auch für die Kindererziehung, da jeder Erweckte die Missionierung der Mitmenschen vorantreiben sollte. Kindererziehung war demgemäß eine wichtige Aufgabe. Wilhelm Colsman-Bredt hatte dagegen eine Mutter gehabt, die sich selbst als gleichrangig in der religiösen Erweckung und in der daraus abgeleiteten religiösen Arbeit begriffen hatte. Gleichzeitig hatte sich sein erweckungsbewegter Vater verantwortlich für die Erziehung der Kinder gefühlt und hatte dies nicht als ‚Richtlinienkompetenz‘, sondern als permanente erzieherische Praxis verstanden.72 Wilhelm Colsman-Bredt war somit in einem Sozialisationskontext und Erziehungsmilieu aufgewachsen, in dem er seine Mutter als ebenbürtig agierende religiöse Instanz und die Eltern als gleichrangige Erzieher erfahren hatte. Seine Frau Adele war dagegen durch ihre Eltern liberal erzogen worden und in einem ebensolchen Sozialisationskontext aufgewachsen.73 Sie traf auf einen Ehemann, für den Selbstständigkeit und Gleichrangigkeit der Frau aus anderen Gründen nicht neu waren. Die ersten Ehejahre von Wilhelm Colsman-Bredt und Adele Colsman waren geprägt vom brieflichen Ausloten und Herstellen gemeinsamer Positionen zur männlichen Berufsarbeit und zu weiblichen Tätigkeitsfeldern und von dem Ziel der Entwicklung gemeinsamer Haltungen zum Zusammenleben, das auch die Beschreibung und Bewertung körperlicher Nähe einschloss. Die Briefe des Ehepaars lassen sich als intensive Verhandlungen über Autonomie und Gleichrangigkeit von Mann und Frau kennzeichnen, wobei die im öffentlichen Diskurs definierten Geschlechterrollen und -aufgaben als Bezugsgrößen fungierten. Daher ging es nicht um Grundsatzdebatten der Bestimmung von Männlichkeit und Weiblichkeit, wie sie beispielsweise in der Revolution von 1848/49 für kurze Zeit von Frauen geführt worden waren,74 sondern in den Briefen existierte durchaus eine akzeptierte Ordnung der Geschlechter. Es gab geschlechts70 71 72 73 74

Vgl. dazu Groppe, Der Geist des Unternehmertums, S. 500ff. Vgl. Kapitel V über die Sozialisation der Mädchen, Teilkapitel 1.2. Vgl. FFA, B4g53, Briefe der Eltern an Wilhelm Colsman-Bredt, 1846–1856; Archiv WHC, Sign. 139, Briefe von Emilie Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 1859–1879. Vgl. Kapitel V über die Sozialisation der Mädchen, Teilkapitel 1.1. Vgl. Jacobi, Mädchen- und Frauenbildung in Europa, S. 238ff., im europäischen Vergleich. Als Überblick über die Frauenbewegung in der Revolution von 1848/49 vgl. Schaser, Frauenbewegung in Deutschland, S. 18ff.

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spezifische Aufgaben, die nicht verhandelt wurden: Das waren die männliche Berufsarbeit, die damit verbundene Reisetätigkeit und das männliche Engagement in Stiftungen und Vereinen. Auf der weiblichen Seite standen ganz traditionell die Verantwortung für den Haushalt, die Pflege sozialer Kontakte und die Repräsentation. Die Kindererziehung war dagegen ein Thema, das zwischen den Ehepartnern in Bezug auf Zuständigkeiten, Erziehungsziele und Erziehungseinstellungen intensiv diskutiert wurde.75 Dass trotz aller Verhandlungen und Auseinandersetzungen eine bürgerliche Ehe aber nicht scheitern durfte, spiegeln die Briefe ebenso wie das Bemühen, dem romantischen Ideal der stetig andauernden Liebe zueinander auch über einen langen Zeitraum gerecht zu werden. Eine Hierarchisierung männlicher und weiblicher Tätigkeiten wurde in den Briefen nicht vorgenommen. Weibliche Tätigkeiten waren gleichwertiger Teil der bürgerlichen Lebensform. So schrieb Wilhelm Colsman-Bredt an seine Frau anlässlich ihrer Abwesenheit: „[...] den Salat anzumachen war mir sehr schwierig, es kam mir bei jeder Gabel voll des selbst begossenen leider sehr sauren Fabrikates schmerzlich in’s Gedächtniß, wie nöthig ich Dich habe & wie unselbstständig ich ohne Dich bin! […] Gottfried [Conze, Seidenfabrikant in Langenberg, CG] ist abgereist & hat schon von Berlin geschrieben daß er keine Wäsche mitgenommen!! & August hätte einstweilen aushelfen müssen. So etwas kommt nicht vor, wenn die Hausfrau den Koffer packt!! Für heute Adieu! Küß die beiden Schätze [die beiden erstgeborenen Kinder, CG] von mir & sei auch Du herzlich umarmt & geküßt von Deinem Wilhelm.“76

Während für Adele Colsman durch die häufigen längeren Geschäftsreisen ihres Mannes insbesondere die Einsamkeit ein schwer zu bewältigendes Problem ihrer Ehe war,77 waren es für ihren Mann die vielfachen Zeit- und Sachzwänge des Familienunternehmens, unter denen er stand, wie die Austarierung der Geschäftspolitik in Absprache mit den anderen Teilhabern, die Kundenwerbung und -betreuung im In- und Ausland und die Balance dieser Aufgaben mit Ämtern in der Kommunalpolitik und in Stiftungen und Vereinen. Vor diesem Hintergrund wurde in vielen Briefen der jeweils andere als der wichtigste persönliche und emotionale Bezug beschrieben, der ebendiese Befindlichkeiten und Zwänge bewältigen helfen könne, hier durch Adele Colsman: „Dieser Brief kann Dir fast keine Freude machen, weil ich so niedergeschlagen bin […] oft kommt dann der Kleine zu mir, um meine Einsamkeit zu unterbrechen […] Du kannst mich oft so gut trösten, u. ich bedarf oft vielen Trost, außer Dir kann das hier

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Vgl. dazu Kapitel III über frühkindliche Erziehung und Sozialisation, Teilkapitel 2. FFA, B4g57, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 7. Juli 1859. Vgl.: „Der Abschied von Dir wurde mir heute so schwer, als ich zu Hause war, mußte ich ordentlich weinen, nahm mich aber in Gedanken an die nahe Essenszeit schnell zusammen u. trocknete meine Thränen […].“ FFA, B4g58, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 24. August 1872.

kein Mensch.“78 „Du weißt am Besten, wie sehr Du mir fehlst, wenn Du abwesend bist.“79

Auch Wilhelm Colsman-Bredt formulierte – und wiederholte dies in Briefen vielfach – den Wunsch nach möglichst großer Nähe und Vertrautheit und erhob die Beziehungsarbeit zur Aufgabe beider Ehepartner. „Wir müssen mehr geistig zusammen verkehren, mehr lesen, uns gewöhnen regelmäßig die geheimsten Falten des Herzens gegeneinander auszukehren, das habe ich schon oft sagen, oft mit dir ruhig besprechen wollen, aber da sind dann immer äußere Dinge die einem nicht dazu kommen lassen, ich hoffe deßhalb hiermit wenigstens einen Anfang gemacht zu haben & wollen wir dann bei hoffentlich recht baldigem, fröhlichem Wiedersehen mündlich darüber sprechen das geht doch besser & leichter.“80

Seine Frau antwortete auf diesen Brief, indem sie die Haltung ihres Ehemanns bestätigte und explizit die körperliche Nähe hinzufügte: „Die Hauptfreude dabei ist mir auch immer, wenn ich sehe, mit welcher Liebe Du meiner gedenkst, und wie Du darauf bedacht bist, mir das Leben angenehm zu machen, und dafür bin ich Dir sehr dankbar. Mein lieber Wilhelm, Du schreibst mir so über unser Leben, u. wie vieles darin anders werden muß, da hast Du mir so ganz aus der Seele gesprochen, es thut mir sehr wohl, zu hören, daß Du gleicher Meinung mit mir bist. Es muß ja auch im ehelichen Leben ganz besonders wichtig sein, in geistigem Zusammenhang zu stehen, u. wie das körperliche Leben eins ist, so muß doch auch das Seelenleben eins sein. Es kann dabei bei uns beiden sehr verschieden sein, aber es muß doch alles darin ausgesprochen u. zusammen durchgemacht werden, wie im äußern Leben. […] Du sagst auch, daß wir nothwendig mehr zusammen lesen müßten, u. wie sehnlich wünsche ich das!!“81

Adele Colsman übte in ihren Briefen aber auch offene Kritik an ihrem Mann bezüglich dessen Verhalten in der Ehe: „Es ist nicht nöthig, daß Du meine Briefe jemand lesen läßt, es paßt sich nicht, Deine bleiben auch nur in meinen Händen [...]. Wenn Du nicht wünschtest, nur Thatsachen zu hören, so würdest Du längere Briefe bekommen, aber Gedanken u. dergleichen scheust Du ja jetzt auch in Briefen, darum nimm auch so vorlieb. Ich denke auch so viel weniger als sonst, u. bin wie Du merkl. ein bischen trübselig gestimmt, das kommt so leicht, wenn ich mir so viel selbst überlassen bin.“82

Sie konnte gelegentlich auch noch deutlicher werden: „Wenn Du hier den kleinen Dingen dieselbe Theilnahme u. Aufmerksamkeit zu wenden wolltest, wie in London, ich bin überzeugt, Du würdest Andre u. Dich selbst mehr beglücken.“83 Auf solche Briefe antwortete Wilhelm Colsman-Bredt erklärend und 78 79 80 81 82 83

FFA, B4g57, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 13. April 1858. FFA, B4g58, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 2. September 1878. FFA, B4g57, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, o. D., im Februar 1857. FFA, B4g57, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 1. März 1857. FFA, B4g57, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 9. August 1861. FFA, B4g60, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 1. März 1885. Vgl. auch: „Als Du am Samstag hier warst, noch ehe ich Kopfweh hatte, war Dein Blick u. Wesen so,

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die Gefühlslage seiner Frau erwägend, aber nicht mit autoritär-hierarchischer Kommunikation. Gleichzeitig begründete er in seiner Antwort auf die Kritik seiner Frau sein Bedürfnis nach Berichten aus der Familie, wenn er auf Geschäftsreisen war: „Daß Du mir von deinen Gedanken keine mehr schreibst & mir zugleich sagst, daß Du jetzt auch nicht mehr Gedanken habest, thut mir recht leid, ich bin indeß ohne Schuld daran, wenn ich mich mal über Briefe geäußert die nur Philosophie & Gedanken Ergüsse enthielten so finde [ich] dies ganz erklärlich, denn ist man in der Fremde, so interessiert man sich für Alles viel mehr was in der lieben Heimath passiert als wenn man zu Hause ist & oft sind es die Mittheilungen der kleinsten Bagatellen die einem so recht das Bild der Heimath & des häuslichen Kreises vor Augen stellen! Doch darum keine Feindschaft nicht, das Eine thun & das Andere nicht lassen & nicht immer von einem Extrem in’s Andere.“84

Dass ihre Ehe in erster Linie eine lebenssinnstiftende Bindung zwischen zwei Menschen sein sollte, ließ Adele Colsman deutlich verlauten: „Hast Du auch in dem Buch von Gasparin85 gelesen, wie die Ehe etwas vollkommenes sei, auch ohne Kinder? Das fand ich wunderschön, wenn man darüber denkt, ist es auch so richtig, u. gerade in der jetzigen Zeit wäre es wohl angemessen solchen Wahrheiten mehr Eingang zu verschaffen.“86

Die Nähe sollte dabei auch eine körperliche sein, und beide Ehepartner formulierten dies wiederholt: „[…] ich sehnte mich recht mal so mit Dir in der schönen Natur zu schwärmen, gestern hätte ich die Freude noch haben können, ich habe viel daran gedacht, u. wie ich nachher auf Deinem Schooß saß.“87 „Ich habe oft solche Sehnsucht, mal ein Wort mit Dir sprechen zu können, was ich Dir zuerst sagen würde, weiß ich zwar nicht, aber noch mal einmal so bei Dir sein u. Deine Hand in meiner fühlen, das möchte ich gerne.“88 „Du bist meine liebe kleine Frau und sehr gut für mich, könnte ich Dir jetzt gleich mal einen schönen Kuß geben, das wäre eine Freude! Doch das kommt in einigen Tagen.“89 „Ich hoffe mit Dir unsere Liebe wird immer inniger & wenn ich mich so ausdrücken solle immer geistiger, daß sich wie die Körper so auch die Seelen an & in einander schmiegen & sich gegenseitig fördern & Frucht bringen für Zeit […].“90

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daß es den Kindern auffiel […], u. ich muß seitdem immer denken, Du hast irgend eine schwere Sorge, die Du mir nicht sagen willst um mich nicht mit zu beschweren. Bitte, thu das doch nicht, u. laß uns alles, was kommen mag, gemeinsam tragen […].“ FFA, B4g58, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 11. Juli 1877. FFA, B4g57, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 12. August 1861. Vermutlich: Agénor Etienne de Gasparin, La famille. Ses devoirs, ses joies et ses douleurs, Paris 1865. FFA, B4g58, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 8. Juli 1870. FFA, B4g57, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, im Februar 1857. FFA, B4g57, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 3. März 1857. FFA, B4g57, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, o. D., etwa 1857. FFA, B4g57, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Coslman, o. D., etwa 1857.

Dass Sehnsucht nach dem Körper des Anderen, Berührungen und der Austausch von Zärtlichkeiten zur Ehe gehörten, war für beide selbstverständlich. Der Briefwechsel belässt es jedoch bei solchen Andeutungen und wird nicht expliziter.91 Die Ehe Wilhelm Colsman-Bredts und Adele Colsmans entwickelte sich im Laufe der Jahre zu einer für beide Seiten glücklichen Beziehung, in der aber Konflikte weiterhin ihren Platz hatten, wie Adele Colsman an ihrem neunzehnten Hochzeitstag bilanzierte: „Kein Tag glänzt so hell u. freundlich, so glücklich u. froh in meiner Erinnerung als dieser liebe 4te Sept. an dem ich vor 19 Jahren Deine Frau wurde! So lange der Tag auch hinter mir liegt, nichts kann die Freude an ihm trüben, als das Gefühl daß ich nicht immer gewesen bin, was ich sein wollte u. daß wohl viel Unvernunft, aber auch viel Lieblosigkeit u. Heftigkeit manche Freude gestört u. getrübt hat.“92

Aus Adele Colsmans Brief spricht auch der Kampf, dem entwickelten Ideal ihrer Ehe durch ihr eigenes Verhalten gerecht zu werden und die darin vorhandene Asymmetrie der Tätigkeiten – Einsamkeit, Abwesenheit des Mannes und Kindererziehung hier, Berufstätigkeit und vielfache öffentliche Ämter da – zu bewältigen. Ein halbes Jahr später schrieb ihr Mann von einer Reise, insbesondere die gelungenen Aspekte der Beziehung betonend: „Der erste Gruß am heutigen Tage soll dir und den Erinnerungen gelten, die sich an jene Stunde knüpfen, die uns heute vor 20 Jahren vereinigten [Verlobung, CG]! eine lange Zeit! und wie viel, unendlich viel Gutes haben wir darin genossen! sind wir auch dankbar genug?“93

Bei Abwesenheit seiner Frau übernahm Wilhelm Colsman-Bredt die Verantwortung für den Haushalt, der in der Mitte der 1870er Jahre aus einer Hausdame, die sich auch um die älteren Kinder kümmerte, einem Hausdiener sowie zwei Dienstmädchen bestand. Dazu kamen Mietmägde für besondere Zeiten und Tätigkeiten, zum Beispiel zum Waschen und Bügeln. Wilhelm ColsmanBredt kümmerte sich um die Organisation des Haushalts inklusive der Anleitung des weiblichen Hauspersonals. Seine Frau erteilte ihm gleichwohl klare Anweisungen: „Von Bertha höre ich eben, daß Küchenemilie nicht wohl war, sag ihr doch, sie möchten sich Alle nicht so besonders anstrengen, Malchen wird es sonst auch zu viel, es macht ja nichts, wenn die Wäsche auch später fertig wird u. dann sag auch, Bertha möge die

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Vgl. dazu Gay, Erziehung der Sinne, S. 93ff., S. 122ff., über die bürgerlichen Codes des Andeutens im Bereich der Sexualität im 19. und frühen 20. Jahrhundert, mit vielen Beispielen. FFA, B4g58, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 4. September 1875. FFA, B4g58, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 4. März 1876.

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Rechn. bei Kistemann nicht bezahlen, da ich mich nicht entsinnen kann, in den letzten Jahren dort gekauft zu haben.“94

Wilhelm Colsman-Bredt seinerseits ärgerte sich wiederholt über die Untätigkeit der Hausdame und deren mangelnde Anleitung des Personals und schrieb an seine Frau: „Deinen sonstigen Ansichten über Kinder etc stimme ich zu, nur muß ich es ganz entschieden ablehnen der Im [Hausdame, CG] schon wieder Deinen Dank, Dein Compliment auszudrücken: ich scheue diese Glorifizierung, sie thut höchstens ihre Schuldigkeit und braucht dafür nicht jedes Mal extra in den Arm genommen zu werden! Haushaltungsleistungen sind über Haupt noch nicht zu Tage getreten! unsre Mägde habe ich wiederholt auf den Trapp gebracht […] Gestern hatte ich Kränzchen [Lese- und Diskussionszirkel der männlichen Wirtschafts- und Bildungsbürger Langenbergs, CG], es ging gut, nur behielten sie z. B. Sachen draußen die für den Tisch bestimmt und beachteten die leeren Schüsseln gar nicht, die bis auf den letzten Fetzen fast geleert waren; von Sachen nach denen ich schellte, hatten sie Nichts mehr! Im Uebrigen ging es gut, wir waren zu 12 und unterhielten uns lebhaft […]!“95

Was in den Briefen Wilhelm Colsman-Bredts durchweg fehlte, war ein belehrender Ton, der auch in Fragen der männlich konnotierten sozialen Felder wie Beruf und Politik gegenüber der Ehefrau nicht angeschlagen wurde, wie ein Brief aus London aus dem Jahr 1880 zeigt: „Geschäftlich geht es noch so ziemlich, ich […] [zerstörte Briefstelle, CG] doch für Arbeit sorgen können, so daß wir diesen Sommer nicht traurig drein zu schauen brauchen. Den Marine Contract hat der jetzt abgesetzte Minister an englische Fabrikanten trotz höherer Preise vergeben, um damit für die Parlamentswahlen günstig für sich zu wirken! es hat ihm Nichts genutzt, er ist abgesetzt & wird dafür gesorgt, daß ihm auch dies Böse & Schlechte noch eingetränkt wird! so wird auch hier mit Wasser gekocht, genau wie an der Spree!“96

Gleichermaßen konnte seine Frau deutliche Worte über die Geschäftsführung von Gebrüder Colsman finden: „[…] mir kommt Euer Geschäftsleben unbeschreiblich kritisch vor, es scheint mir immer so planlos und ungeordnet, indem jeder für Alles od. Nichts verantwortlich ist.“97 Sie gab auch Ratschläge und Empfehlungen bezüglich der Geschäftsführung: „Gestern sprach ich mit Oheim Eduard über Eure Verhältnisse, ich wollte es schon aus eigenem Antrieb thun, aber seine Bestätigung meiner Vermuthung, daß Ihr zu wenig Leute auf dem Comptoir habt, macht es mir noch besonders wichtig. Ich dachte nämlich als ich neulich auf dem Comptoir war, mit Herr Kistemann u. Herr Brauß, das kann am 94 95 96

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FFA, B4g58, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 4. August 1875. FFA, B4g59, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 7. Juli 1881. FFA, B4g59, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Bredt, 8. Mai 1880. Vgl. auch: „Gottfried [Conze, Seidenfabrikant in Langenberg, CG] hat hier sehr billig verkauft, er ist kein angenehmer Concurrent, auch andere klagen sehr daß es ihm nicht möglich sei ein Geschäft fahren zu lassen, ich sah hier Einzelnes wo mir der Verstand etwas still stand.“ FFA, B4g57, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 3. August 1866. FFA, B4g59, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 7. Mai 1884.

Ende nur noch kurz sein, denn Herr Brauß ist ein prekärer Charakter, wenn Dir ein brauchbarer junger Mann begegnet, den würde ich wirklich engagieren […].“98

Ebenso deutlich wurde sie, wenn ihr das gesellschaftliche Verhalten ihres Mannes nicht gefiel: „Und dann, mein l. Wilhelm, wollte ich Dich herzlich bitten, diese Angelegenheit nicht Jedermann mitzutheilen, in dieser Beziehung warst Du früher viel zarter, ich weiß gar nicht, von wem Du das gelernt hast […]. Wenn man verheirathete Kinder hat, ist es unumgänglich nöthig, daß man das, was sie einem anvertrauen, zu bewahren weiß, sonst muß man sich nicht wundern, wenn einem nächstens nichts mehr mitgetheilt wird.“99

Insgesamt wurden anstehende Entscheidungen grundsätzlich erst dem Ehepartner zur Überlegung vorgelegt, er oder sie um seine oder ihre Meinung gebeten und dann gemeinsam Für und Wider abgewogen. In der Frage der Gründung einer privaten Höheren Töchterschule in Langenberg schrieb Wilhelm Colsman-Bredt an seine Frau: „[…] gestern hatten [wir] Schulvorstand; Krüger meint ich könne eine Lehrerin anstellen damit den Beginn einer Töchterschule machen, die Rectorat Lehrer könnten dann einige Stunden mit geben! Ich habe ablehnend geantwortet & darauf hingedeutet, daß ich nicht so ‚verwegen‘ sein würde, ohne dich zu bestimmen. Der Meldungen habe ich Manche & hoffe Dir erschöpfende Auskünfte unterbreiten zu können!“100

Anlässlich der Reichstagswahlen 1881 und der parallel abgehaltenen Kommunalwahl zum Langenberger Stadtrat diskutierte Wilhelm Colsman-Bredt in einem Brief mit seiner Frau auch politische Fragen. So schilderte er die Positionsund Konkurrenzkämpfe der örtlichen Unternehmer und vermerkte nicht ohne Stolz, dass die Wähler der dritten Klasse (im preußischen Dreiklassenwahlrecht, das auch auf die Wahlen zu den Stadtverordnetenversammlungen angewendet wurde), die Arbeiter und Angestellten mit geringem Steueraufkommen,101 sich nachdrücklich für ihn als ihren Kandidaten ausgesprochen hatten: 98 99 100

FFA, B4g58, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 2. Juli 1870. FFA, B4g59, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 7. Juni 1881. FFA, B4g59, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 9. November 1879. 1884 wurde dann eine private Höhere Töchterschule in Langenberg gegründet, da durch die Umwandlung der höheren Bürgerschule in ein Realprogymnasium dort keine Mädchen mehr unterrichtet werden durften. Vgl. Rheinischer Städteatlas, Langenberg, S. 11. 101 Das preußische Dreiklassenwahlrecht regelte die Bedeutung der Wählerstimmen nach dem Steueraufkommen, verteilte also die Stimmengewichte ungleich. Aus dem Steueraufkommen einer Gemeinde wurden drei Wählerklassen gebildet, welche jeweils dieselbe Steuersumme aufbrachten. Dadurch wählten die Wähler mit hohem Steueraufkommen in der ersten Klasse dieselbe Zahl von Wahlmännern, welche dann die Abgeordneten wählten, wie die riesige Mehrheit der Wähler mit geringem Steueraufkommen in der dritten Klasse. In Langenberg wählten im Kaiserreich zwischen 0,5% und 2% der Wähler in der ersten Klasse, zwischen 1% und 16% in der zweiten Klasse und zwischen 80% und 98% in der dritten Klasse. Vgl. Quandt, Sozialgeschichte der Stadt Langenberg, S. 287. Zum preußischen Wahlrecht vgl. zusammenfassend Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2, S. 511.

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„Hier ist man jetzt flott am Wüthen für die Reichstags & neue Stadtrath Wahl! ich halte mich daraus! höre aber zu meinem Gaudium daß die Bürger der vereinigten Stadt, die Masse der III Abtheilung, denen Conze & Comp zugemuthet Feldh[off] & J Köttgen zu wählen, erklären, die könnten sie selbst in der I Abtheilung wählen, sie würden resp meinen Namen oben an auf ihre Liste setzen & mich in erster Linie in den Stadtrath wählen! sonst in ihrer Classe bleiben! Das ist nett von den Leuten & würde mir Freude machen!“102

Wilhelm Colsman-Bredt wurde schließlich mit großer Mehrheit und vielen Stimmen aus der dritten Klasse als deren Kandidat in den Stadtrat gewählt und ordnete das in einem Brief an seine Frau machtstrategisch äußerst zufrieden ein, indem er seine zukünftige politische Unabhängigkeit betonte: „Es macht Allen Bürgern viel Spaß & mir nicht am wenigsten! Bin ich doch jetzt nicht von Conzen & Co Gnaden! sondern durch die Mehrzahl der Bürger besonders ausgezeichnet! sie wählten sonst nur principiell in ihrer Classe! […] Conze gratulierte nicht zuerst zur Wahl, ich nahm es sehr cooly auf.“103

Auch in Verwaltungsangelegenheiten der Stiftungen und Vereine, in denen er tätig war, fragte Wilhelm Colsman-Bredt seine Frau um Rat, so anlässlich der Übernahme und Betreibung eines Krankenhauses in Ägypten, die Wilhelm Colsman-Bredt als Schatzmeister der Kaiserswerther Diakonissenanstalten mitentscheiden musste.104 „[…] ich bin in Gedanken viel in Cairo, Disselhoff hat nemlich etwas leichtfertig die Uebernahme eines dortigen Krankenhauses in feste Aussicht gestellt & nachdem ich in letzter Sitzung meine Bedenken deutlich über die weitere Verzettelung der Kräfte, statt deren Ausnutzung hier in der Heimath geredet, empfange ich von ihm einen langen Brief, der mir zeigt, daß auch er stutzig geworden! ich weiß nicht was ich machen soll […] was meinst Du? Hier schreit alle Welt nach der Hülfe der Diaconissen & bekommt keine! Dort soll man den Türken & Armeniern sofort wieder 3–5 auf Ewigkeit hinstellen! es scheint mir so unnatürlich?“105

Seine Frau nahm Stellung zu der Krankenhausangelegenheit und unterstützte ihn in seiner distanzierten Haltung zur Finanzierung des Krankenhauses.106 Wilhelm Colsman-Bredt fragte seine Frau auch in privaten Geldangelegenheiten um Rat, so beim Kauf eines Nachbarhauses. Derlei Dinge wurden gemeinsam entschieden. Adele Colsman schrieb: „[…] wenn ich ja auch nicht viel Erfahrung in dergleichen Dingen habe, weiß ich doch, daß Du meine Meinung gern hörst. Wir haben ja im Ganzen oft mit einander gesorgt, 102 103

FFA, B4g59, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 13. März 1881. FFA, B4g59, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 20. Oktober 1881. Vgl. zu Kommunalwahlen in Langenberg auch Quandt, Sozialgeschichte der Stadt Langenberg, S. 219ff. 104 Vgl. Archiv WHC, Sign. 72, Unterlagen der Kaiserswerther Diakonie zu Wilhelm Colsman-Bredt und Paul Colsman. 105 FFA, B4g59, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 11. Juli 1883. 106 Vgl. FFA, B4g59, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 12. Juli 1883.

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daß wir hinreichend Grundbesitz haben, zumal auch all die Fabrikhäuser auf Deinem Namen stehen […]. Nun ist in diesem Fall ja allerdings der Gegenstand vielleicht nicht so sehr werthvoll, u. ein Nachbarhaus in der Hand zu haben ist ja sehr, sehr angenehm aus verschiedenen Gründen, u. wenn ich auch ganz damit einverstanden bin, daß man nicht Alles meint haben zu müssen, so meine ich doch, wenn es unsre Verhältnisse gestatteten, solltest Du die Sache prüfen.“107

In den ersten Ehejahren hatten sich auch die Frage der persönlichen Autonomie innerhalb der Beziehung geklärt: Für beide Ehepartner bedeutete das gemeinsame Leben, sich auch regelmäßig ‚Auszeiten‘ von Familie und Kindern nehmen zu dürfen. Diese wurden nicht nur zugestanden, sondern vom Ehepartner dem anderen auch verordnet. Solche Reisen bestanden in mehrwöchigen Kuraufenthalten oder Reisen durch Deutschland und Europa für beide Ehepartner, zu unterschiedlichen Zeitpunkten und mit oder ohne die Kinder. Längere Besuche bei Verwandten und Freunden kamen dazu. Die Reisen nahmen nicht selten vier und mehr Wochen in Anspruch.108 Es ist hervorhebenswert, dass sich beide über Gefühle und familiäre Konflikte offen aussprachen. Weil Wilhelm Colsman-Bredt aufgrund der Bedeutung des britischen Marktes für Gebrüder Colsman viel in England weilte und seine älteste Tochter zudem in London lebte, reflektierte er häufiger über seine Abwesenheit vom „Central Punkt“ (d. i. Langenberg) und seinen Gemütszustand: „[…] [es ist] ein Vortheil der großen Städte, wo nicht jeder dem Anderen so auf dem Nacken sitzt & auf die Finger sieht wie im Central Punkt. Ich weiß nicht, die Engländer sind mir sehr unsympathisch, aber hier in London bin ich gerne & fühle mich frei & sogar etwas leichtsinnig! dort ist mir oft so schwer zu Muth, als wenn Centner allen möglichen Krames auf mir lägen! mag Einbildung sein, liegt auch wohl sehr an mir, indeß es ist so & ich weiß selbst nicht, weßhalb! Habe ich dort doch überall wohin ich blicke, Grund & Veranlassung zur größten Zufriedenheit […].“109

Seine Frau führte seine manchmal gedrückte Stimmung vor allem auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Kleinstadt Langenberg zurück. Gleichzeitig forderte sie ihren Mann auf, eigene Verhaltensweisen und die Auswirkungen seines Verhaltens zu überdenken und analysierte dabei seine Gefühlslage: „Sehr gerne höre ich, daß Du Dich in London u. namentlich bei den Kindern so glücklich fühlst, man sollte sich fast versucht fühlen den Schauplatz hier zu verlassen, denn mir ist er auch zuweilen bodenlos langweilig. Aber wohin wir auch gehen, uns selbst können wir doch nicht los werden, u. was uns das Leben hier so trübt ist eigentlich nur die schlechte Laune, die so vielfach die Stimmung beherrscht. […] Es kommt mir wirklich oft sonderbar vor, wie Du aus der Ferne auch hier alles in freundlichem Licht siehst, u. mich zum Dank ermunterst, u. wenn Du hier bist, bist Du doch eigentlich mit Allem un-

107 108

FFA, B4g60, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 11. Juni 1891. Vgl. FFA, B4g58, Briefwechsel Wilhelm Colsman-Bredt und Adele Colsman, 1869– 1879. 109 FFA, B4g60, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, o. D., etwa 1885.

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zufrieden, mit den Kindern, mit mir, mit fast all unserm Thun u. Lassen, da ist es wirklich schwer für mich, dankbar u. fröhlich zu sein.“110

Verhandlungen über Autonomie und über die gemeinsame Lebensform wurden in dieser Paarbeziehung häufig von der Präsentation von Gefühlen begleitet. Das Einverständnis bei Entscheidungsfragen wurde ebenso mit Gefühlsbegriffen wie Zufriedenheit oder Freude kommentiert wie Konflikte durch die Beschreibung eigener Befindlichkeiten wie Traurigkeit oder Zorn unterstrichen wurden. Dadurch spielten ‚Ich-Botschaften‘ in der Kommunikation eine wichtige Rolle. Gleichermaßen bedeutsam waren dabei die Analyse und das Verständnis der emotionalen Lage des Ehepartners. Gefühlsbekundungen sind allerdings nicht automatisch Ausdruck einer gleichrangigen Partnerschaft. Ihre verbale oder non-verbale Artikulation kann auch eingesetzt werden, um Autorität zu unterstützen und Hierarchien zu fixieren. Sie sind die nicht-rationale Seite der Person, die in unterschiedlichsten Konstellationen und Interaktionen zum Ausdruck kommen kann. In der Ehe Adele Colsmans und Wilhelm Colsman-Bredts waren sie Teil einer Gefühlskultur, in der Ereignisse und Entscheidungen durchgängig von Empfindungsbeschreibungen begleitet wurden. Gefühlsäußerungen waren kein weibliches Privileg, sondern ebenso Teil der männlichen Persönlichkeit. In seinen Briefen präsentierte sich Wilhelm ColsmanBredt als Mann mit Gefühlen. Das Ideal männlicher Härte und Gefühlsbezwingung, der soldatische Mann, war in den Briefen nicht vorhanden.111 Stattdessen wurden die Rollen als Ehemann und Familienvater in den Briefen verstanden als Mitwirkung an einer gefühlsbestimmten Gemeinschaft. Dem Ehemann kam dabei grundsätzlich keine andere Rolle zu als der Ehefrau. Wilhelm ColsmanBredts Selbstpräsentation in Bezug auf Ehe und Familie lässt sich am besten als die eines gefühlvollen, gleichwohl rational agierenden Mannes beschreiben, der stets maßvoll und ausbalanciert zu agieren verstand oder es versuchte. Auch seine Frau war, gemessen am weiblichen Ideal einer natürlichen, gefühligen Schlichtheit, kontrolliert und reflektiert in ihren Gefühlsäußerungen. Ihre Briefe unterschieden sich in dieser Hinsicht nicht von denen ihres Mannes. Adele Colsman präsentierte sich nicht vorherrschend als Gefühlswesen, sondern ebenso als gedankenreiche und begründet urteilende Frau.

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FFA, B4g60, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 21. August 1887. Vgl. dazu Ginsborg, Die geführte Familie, S. 453ff.; Borutta/Verheyen, Die Präsenz

der Gefühle.

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3.3 Das Lebensmodell der Balance: Die bürgerliche Lebensform und das Gefühl Die Geschichte von Gefühlen ist aktuell ein rasch wachsender Forschungsbereich in den Geistes- und Sozialwissenschaften.112 Dabei wird leider bislang kaum mit Quellen aus dem privaten Raum gearbeitet, sondern es werden überwiegend die öffentlichen Diskurse herangezogen.113 Damit bleibt die Gefühlsgeschichte bisher weitgehend eine Geschichte des öffentlichen Sprechens über Gefühle: im Feld der Wissenschaft, der Tagespublizistik, der Literatur und der Politik. Analysiert man dagegen Selbstzeugnisse, so wird anderes sichtbar als die Meta-Ebene der Gefühlspolitiken und -regimes.114 Die Selbstzeugnisse verschieben die Aufmerksamkeit von dem, was über Gefühle öffentlich ausgesagt wird, was in welcher Weise als Gefühl beschrieben wird und wie im öffentlichen Raum Gefühle erzeugt und zelebriert werden, hin zu Äußerungen, in denen individuelle Gefühlslagen thematisiert werden. Auch gefühlsbetonende Selbstpräsentationen beziehen sich aber auf einen reflexiven Prozess der Positionierung im sozialen und kulturellen Raum. Das Sprechen über eigene Gefühle ist seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Bürgertum (Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum) verbunden mit einem spezifischen, die heraufziehende Moderne prägenden Bewusstsein von sich selbst als individueller Person.115 Da Gefühle wie Liebe, Trauer oder auch Wut seit Beginn des 19. Jahrhunderts besonders im Bürgertum zu Ausdrucksmitteln von Individualität wurden,116 musste gleichzeitig ein Weg gefunden werden, diese Gefühle in Bezug auf die Sozialität der Personen zu kontrollieren und zu kanalisieren. Ab 1800 kann man die neuen Anforderungen an das Bürgertum mit dem modernen Theoriebegriff der ‚agency‘ charakterisieren, gefordert wurde eine in den sozialen Räumen zunehmend selbstverantwortlich handelnde Person.117 Die Staats- und Gesellschaftsentwicklung war im 19. Jahrhundert dann in ganz Europa und den USA eng mit der Entstehung und Entwicklung des Bürgertums verwoben, erforderte aber in wachsendem Maße auch von allen 112 113

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Vgl. exemplarisch Plamper, Geschichte und Gefühl; Stalfort, Die Erfindung der Gefühle. Vgl. exemplarisch die Beiträge in Borutta/Verheyen, Die Präsenz der Gefühle. Die Herausgeber bestätigen diese Tendenz auch in ihrem einleitenden Forschungsüberblick, vgl. dies., Vulkanier und Choleriker, S. 18. Programmatisch differenziert beschreibt dies Langewiesche, der die Grenzen zwischen öffentlichem und privatem Gefühlsraum explizit zum Thema macht. Vgl. Langewiesche, Gefühlsraum Nation. Wohl niemals in der Geschichte ist der Mensch dabei vollständig in seinen Rollen und Standeszuschreibungen aufgegangen, davon geben die seit der Antike erhaltenen autobiographischen Zeugnisse Auskunft. Das ‚Selbst‘ des Autors oder der Autorin wurde jedoch stärker oder schwächer an die ‚Welt der Bezüge‘ und damit an soziale Gruppen gekoppelt. Vgl. dazu Groppe, Der Geist des Unternehmertums, S. 166ff., S. 375ff., S. 479ff. Vgl. Krewer/Eckensberger, Selbstentwicklung, S. 575; Orth-Peine, Identitätsbildung, S. 222ff.; Eibl, Die Entstehung der Poesie, S. 44.

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anderen Gesellschaftsmitgliedern das, was ursprünglich bürgerliches Selbstkonzept und bürgerliche Lebensform gewesen waren. Je autonomer im 19. Jahrhundert die sozialen Felder (Politik, Ökonomie, Religion, Familie, Kultur usw.) und die in ihnen geltenden Handlungslogiken wurden – pointiert formuliert: Gewinnmaximierung und Rationalität im Geschäft, Liebe und Glück in der Familie –, umso stärker wurde der oder die Einzelne für deren möglichst widerspruchsfreie Koexistenz und Balance im individuellen Lebensentwurf verantwortlich. Dies gelang nur, wenn die Felder der Lebensführung gleichmäßig besetzt und keinem ein übermäßiges Gewicht verliehen wurde. So entstand im frühen 19. Jahrhundert zunächst im Bürgertum das, was ich als die Lebensform und die Lebensideale strukturierendes ‚Lebensmodell der Balance‘ bezeichne.118 Äußeres Maßhalten in jeder Hinsicht und innengeleitete Handlungsregulierung wurden im 19. Jahrhundert die Leitnormen des Bürgertums.119 Sie prägten in wachsendem Ausmaß auch die Gesamtgesellschaft. Gefühlsäußerungen waren im Bürgertum ebenfalls diesen Leitnormen unterworfen. Nicht maßlose Leidenschaft, sondern durch einen bürgerlichen Bildungsprozess regulierte Empfindungen sollte die Person gegenüber anderen zeigen und artikulieren. Diese durch Bildung ermöglichte Selbstregulierung, das Lebensmodell der Balance, 118

Vgl. Groppe, Bildung und Habitus in Bürgerfamilien um 1900, S. 63ff.; dies., Bürgerliche Lebensführung im Zeichen der Balance. Zur neuen Integrationsarbeit als Anforderung aufgrund lebensweltlicher Differenzierungsprozesse im 19. Jahrhundert Rosenbaum, Formen der Familie, S. 272ff.; Hettling, Die persönliche Selbständigkeit, S. 59ff.; Krappmann, Soziologische Dimensionen der Identität, S. 208. Panajotis Kondylis spricht in „Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform“ von einer „bürgerlichen synthetischen Harmonisierungsbestrebung“ (S. 53), mit der die Pluralität der Welt durch Vernunfttätigkeit in eine geistige Synthese und eine darauf bezogene Lebensführung gebracht werden sollte. Er unterscheidet eine bürgerliche, synthetisch-harmonisierende Denkfigur der Moderne (seit Beginn der Neuzeit) von einer analytisch-kombinatorischen Denkfigur der Postmoderne im 20. Jahrhundert, welche die bürgerliche Denkfigur schließlich auflöst (vgl. S. 5ff.). Die bürgerliche Denkfigur formuliere eine harmonische Integration von Gegensätzlichem in „übergeordneten vernünftigen Zwecken“ (S. 15) und in einem „Schema Ganzes-Teile“ (S. 26), das im Lebensvollzug individuell konkretisiert werde. Bei Kondylis leistet die Integration insbesondere das bürgerliche Berufsverständnis, das „ethischen Sinn und materiellen Nutzen, rationales Kalkül und Tatendrang, Selbstzucht und Streben nach Erfolg“ verbindet (S. 40). Die gesuchte Synthese von Vernunft, Gefühl und Trieb sei im Bürgertum insbesondere hier gefunden worden. Damit subsumiert Kondylis allerdings auch alle bürgerlichen Frauen, ohne dass diese bis ins 20. Jahrhundert an einer qualifizierten Berufstätigkeit hätten teilhaben können. Im Unterschied zu Kondylis, der dem Bürgertum ein grundlegendes Harmoniebewusstsein zuschreibt, das eine in ihren Bezügen und Verhältnissen existente und sinnvoll bestimmbare Verfassung der Welt annimmt, welche die Person bestrebt ist zu erkennen, komme ich durch meine Quellen zu dem Schluss, dass genau dieses Harmoniebewusstsein den bürgerlichen Personen seit Beginn des 19. Jahrhunderts fehlte. An dessen Stelle trat die männliche oder weibliche Person selbst, welche eine Ordnung der Welt erst entwickeln und dann selbstständig umsetzen musste. 119 Vgl. dazu Groppe, Der Geist des Unternehmertums, S. 200ff., S. 276ff., S. 354f.; Groppe, Bürgerliche Lebensführung im Zeichen der Balance.

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war eine eigenständige Sinnorientierung. Daher blieb das zu dieser Fähigkeit gebildete Individuum, seine bewusste Selbstregulierung und Handlungsautonomie, Leitbild der bürgerlichen Lebensführung auch im Kaiserreich.120 Die bürgerliche Person sollte die Fäden in der Hand behalten. Die Welt mochte unübersichtlich, gar sinnlos sein, die Person war es nicht. Vielmehr wurde sie als ausbalancierendes Zentrum begriffen, welche die Fliehkräfte der Welt zusammenhielt und Unübersichtlichkeit auf sinnvolle Weise ordnete. Dieses Selbstverständnis konnten bürgerliche Männer und Frauen häufig nicht in gleicher Weise in ein Lebensmodell umsetzen. Bürgerliche Frauen waren in ihrer Rolle als Ehefrauen und Mütter abhängig vom Einkommen und Sozialstatus ihrer Ehemänner; es hing darüber hinaus stark von der Lebensform und den Vermögensverhältnissen ab, wie sehr sie in der Lage waren, dieses bürgerliche Leitbild auf sich selbst anzuwenden und für sich durch Bildungsprozesse zu gestalten. Je größer Eigenständigkeit und Selbstverantwortung in der Lebensform waren, desto stärker formulierten und praktizierten aber auch Frauen, wie zum Beispiel Adele Colsman, Lebensmodelle der Balance. Bildung, so schrieb der Soziologe Friedrich H. Tenbruck in den 1960er Jahren, „meint nämlich vor allem eine Begrenzung der Person. Person kann der Mensch nur dort sein, wo er sich den eigenen Möglichkeiten und Impulsen wie auch der Umwelt nicht beliebig und grenzenlos überläßt“.121 Bildung als Entwicklung aller dem Menschen eigentümlichen Kräfte im Rahmen eines Bildungskanons, der diese Entfaltung ermöglichte, war daher das Konzept, das der neuen Lebensführung des Bürgertums im Zeichen der Balance angemessen schien. Die Bildungstheorie kommentierte in diesem Zusammenhang die bürgerliche Lebensform und formulierte diese – dem Anspruch des Bürgertums gemäß – zu einem gesamtgesellschaftlichen Programm aus. Gleichzeitig zeigen sich im Verlauf von Familiengenerationen unterschiedliche Konzepte von Bildung, Gefühl und Balance. Wilhelm Colsman-Bredts Onkel Eduard Colsman (1812–1876), der aktives Mitglied der protestantischen Erweckungsbewegung war, operierte mit starken Emotionen, als es darum ging, neben seinem ältesten Sohn Andreas (1840–1917) auch seinen jüngeren Sohn Eduard (1842–1913) als Teilhaber in die Firmenleitung aufnehmen zu lassen, wozu ein mehrheitlicher Beschluss der Teilhaber erforderlich war. Wilhelm Colsman-Bredt und sein Bruder Adalbert hatten dies zunächst kritisch gesehen; dennoch erfolgte die Aufnahme kurze Zeit später. Eduard Colsman hatte an Wilhelm Colsman-Bredt geschrieben: „Seit der gehabten kurzen Unterredung am Montag auf der Lieferkammer bin ich in meinem Gemüthe wie geschlagen und Manches Gute & Schöne ist mir fast gleichgültig. Angst u. Schmerz geht durch mein Gemüth. Solltest Du, eventuell auch dein Bruder Adalbert in fraglicher Angelegenheit die mir angedeutete Stellung behaupten wollen, so, ja was dann?? Ich weiß kaum für meine Empfindungen Worte zu finden. Ich meine, das könnte ich nicht ertragen, in welchem Lichte erscheint dann Vergangenheit, Gegenwart, 120 121

Vgl. Hettling, Die persönliche Selbständigkeit, S. 72ff. Tenbruck, Bildung, Gesellschaft, Wissenschaft, S. 371.

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Zukunft. Deine Ansichten brächten mir eine Bürde, so schwer, wie ich noch keine glaube getragen zu haben.“122

Hier wurde eine Gefühlspolitik betrieben, welche weiblich konnotierte Gefühle, schmerzhaftes Erleiden und passives Ertragen, mit der eigenen Befindlichkeit verband. Diese Männlichkeit reagierte auf Verletzung nicht aggressiv, sondern, auch bedingt durch die protestantische Erweckungsbewegung, mit verbalen Gefühlsaufwallungen, die zugleich dem Briefempfänger als deren Verursacher aufgebürdet wurden. Dagegen gingen Wilhelm Colsman-Bredt und seine Frau in ganz anderer Weise mit Gefühlen um. Beide brachten Gefühle balanciert zum Ausdruck und versuchten sie mit Rationalität und Selbstbeherrschung zu verbinden. Dadurch näherten sich männliche und weibliche Gefühlsäußerungen einander an. Beide bemühten sich in ihren Briefen um Vermittlung und Ausgleich von Rationalität und Gefühl, so dass ihre Lebensmodelle der Balance zwar geschlechtsspezifische soziale Räume aufwiesen, sich aber in Selbstpräsentation und Handlungsorientierungen stark ähnelten.123 Erst in späteren Familiengenerationen trat eine Änderung ein. Paul Colsman, 1861 geboren, wuchs bereits im Kaiserreich auf und präsentierte sich in Briefen an seine Frau weit stärker mit dem im öffentlichen Diskurs der Zeit als hegemonial bestimmten Männlichkeitsideal der Aktivität und Autorität. Dass damit dennoch keine hierarchischen Ehebeziehungen verbunden sein mussten, wird weiter unten in diesem Kapitel ausgeführt.124

3.4 Regionalität und Globalität: Bürgerliche Welten und die nationale Politik Die Berichte Adele Colsmans und Wilhelm Colsman-Bredts über ihre Verkehrskreise zeigen eine international vernetzte bürgerliche Welt. Die Verkehrskreise führten von den verwandten und bekannten Unternehmerfamilien in der Kleinstadt Langenberg, die den räumlich nächsten und häufigsten Kontakt darstellten, über Geschäftspartner und Freundschaften im nationalen und 122

FFA, B4g53, Eduard Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 27. März 1873. Als Eduard Colsmans zweiter Sohn Eduard nach kurzer Bedenkzeit Wilhelm Colsman-Bredts und seines Bruders doch in das Unternehmen eintreten konnte, notierte der Vater am 17. April 1873 in sein Tagebuch: „Viktoria! […] Gebrüder Colsman nehmen den Sohn Eduard als Kompagnon auf!!!“ Archiv AC, Tagebuch Eduard Colsman, 1840–1876. 123 Vgl. dagegen Reckwitz, der die Diametralität der Geschlechterrollen, aber auch ihre prekäre Konstruktion betont: Gefühl bei der Frau, Rationalität beim Mann. Er argumentiert allerdings ausschließlich aus der Perspektive der öffentlich-medialen Diskurse und gesamtgesellschaftlichen Ordnungsmechanismen. Reckwitz, Umkämpfte Maskulinität, S. 66f. Frevert plädiert daher dafür, Geschlechterstereotype wie das des rationalen Mannes und der empfindungsstarken Frau im privaten Raum historisch zu überprüfen und mit den Idealen der medialen Öffentlichkeit in Beziehung zu setzen. Vgl. Frevert, Was haben Gefühle in der Geschichte zu suchen, S. 200. 124 Zu Paul und Elisabeth Colsman vgl. in diesem Kapitel Teilkapitel 5. Zum Konzept einer hegemonialen Männlichkeit vgl. Connell, Der gemachte Mann.

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schließlich internationalen Raum. Dabei gestalteten sich die Beziehungen zu anderen wirtschaftsbürgerlichen Familien deutlich enger als zu bildungsbürgerlichen. 1875 machte Wilhelm Colsman-Bredt einen Besuch beim Bochumer Landrat125 und berichtete darüber seiner Frau: „Ich aß heute beim Boch. Landrath, ganz gelungen! Wassersuppe ohne Nix und Leber mit Reis, auf letzterem Zucker […] dann etwas Käse! dabei können die Leute nicht gedeihen! Sie waren sehr liebenswürdig lassen dich sehr grüßen und versprechen uns s. Z. zu besuchen! sie reisen diese Tage nach Scheveningen ins Bad. Ich finde es sehr nette Leute mit denen ich tausendmal lieber verkehre als mit Tiedemann.“126

Ein preußischer Landrat war Vertreter der Regierung in seinem Kreis, er war Staatsbeamter und besaß eine juristische Ausbildung. Staatsloyalität war mit der Amtsführung selbstverständlich verbunden, auch eine politisch konservative Grundhaltung war erwünscht.127 Während die Gespräche offenbar angenehm und symmetrisch verliefen, fiel Wilhelm Colsman-Bredt die spartanisch-einfache Haushaltsführung des Landrats, die durch ein schmales Gehalt bedingt war, als so abweichend von der eigenen Lebensführung auf, dass er regelrecht betroffen war. Ein preußischer Landrat verdiente nur etwa 4.500 Mark jährlich, dazu kamen Wohngeldzuschüsse und Dienstaufwandsentschädigungen.128 Während sich die bürgerlichen Verhaltensformen nicht unterschieden, machten Einkommen und Vermögen den Unterschied aus. Gleichwohl fuhr auch der Landrat zur Erholung in ein Seebad, wenn er auch vermutlich mit seiner Familie ein Zimmer in einer preisgünstigen Pension bewohnte. 1891 heiratete Wilhelm Colsman-Bredts Tochter Laura einen promovierten Juristen und Theologen, Ernst Gisbert Groos,129 und zog mit ihm nach Berlin. Auch hier bemängelte Wilhelm Colsman-Bredt vorsichtig die bescheidene Lebensführung, die sich für ihn in der Lage der Wohnung spiegelte: „Die Wohnung ist sehr nett, still & mit Blick in Gärten die allerdings schmal & durch himmelhohe Stück Mauern mehr doch den Blick in die Tiefe als in die Weite 125

126 127 128 129

Wilhelm Colsman-Bredts neue Villa befand sich in Oberbonsfeld (‚Märkisch-Langenberg‘), das, anders als die Stadt Langenberg, nicht zur preußischen Rheinprovinz, sondern zur preußischen Provinz Westfalen und zum dortigen Landkreis Bochum gehörte. Zudem lagen die Firmengebäude von Gebrüder Colsman in ‚Märkisch-Langenberg‘. Es gab bereits seit den 1850er Jahren Bestrebungen, diesen Teil mit der benachbarten Stadt Langenberg in der preußischen Rheinprovinz zu verbinden, was schließlich 1881 gelang, gegen Wilhelm Colsman-Bredts Willen, der lieber in der Provinz Westfalen verblieben wäre (u. a. wegen des geringeren Steuersatzes in der Bauerschaft gegenüber der Stadt Langenberg). Vgl. Rheinischer Städteatlas, Langenberg, S. 2; Ophüls, Alt-Langenberg, S. 174ff.; Quandt, Sozialgeschichte der Stadt Langenberg, S. 80ff. FFA, B4g58, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 29. Juli 1875. Vgl. Hattenhauer, Geschichte des Beamtentums, S. 226ff.; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2, S. 116ff. Vgl. die Erinnerungen von Walter Pauly, Als Landrat in Ostpreußen (1957), in Auszügen abgedruckt bei Ritter, Das deutsche Kaiserreich, S. 74ff. Ernst Gisbert Groos war sowohl promovierter Jurist als auch promovierter Theologe. Er arbeitete in einem Berliner Ministerium.

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zwingen.“130 Gleichzeitig statteten die Eltern die Tochter mit einer aus ihrer Sicht angemessenen Mitgift aus. Die Tochter erhielt unter anderem einen 24teiligen Silberbestecksatz, um Einladungen statusgemäß ausrichten zu können. Auch die Wohnungseinrichtung wurde überwiegend von den Brauteltern finanziert.131 Am Wohnort waren die Kontakte zum Bildungsbürgertum auf den Arzt, die Pfarrer, die Juristen, höheren Beamten und die Lehrerschaft der örtlichen höheren Schule, die klassische Honoratiorenschaft kleiner Städte und Dörfer, beschränkt. Diese Kontakte bewegten sich jedoch nicht in einem privaten, sondern in einem semi-öffentlichen Rahmen: So wurden die Bildungsbürger zu größeren offiziellen Ereignissen in der Unternehmerfamilie wie beispielsweise Firmenjubiläen eingeladen. Die männlichen Bildungsbürger waren darüber hinaus Mitglieder des sogenannten „Kränzchens“, eines wöchentlichen Leseund Diskussionszirkels gemeinsam mit den männlichen Unternehmern Langenbergs, der seit den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts existierte und an dem regelmäßig circa zehn Personen reihum in den Häusern der Unternehmer und Akademiker teilnahmen.132 Diese Form praktisch-bürgerlicher Vergesellschaftung133 führte zum Austausch über politische, soziale und kulturelle Fragen innerhalb des männlichen Wirtschafts- und Bildungsbürgertums, sie führte auch zur Verständigung über Normen und Lebensideale, aber nicht zur Amalgamierung der bürgerlichen Fraktionen. Vielmehr erwiesen sich die Unternehmer als von den Bildungsbürgern abgehobene ‚global men‘, die internationale Geschäftskontakte pflegten und durch Verwandtschaften, private Freundschaften und Netzwerke verbunden waren, auch wenn sie in Konkurrenz zueinander standen. Wilhelm Colsman-Bredt schilderte dies 1879 in einem Brief aus London an seinen Sohn Paul: „Oncel Hermann ist auch hier, wir beackern die gleichen Kunden und können Reibungen leider nicht ausbleiben! doch ist die Welt zu groß und suchen wir uns gegenseitig nicht auf. […] Fritz Hoddick war auch hier, ist aber schon wieder in Langenberg; der kann es besser als wir! Oncel Emil ist in Wien! So werden überall von Langenberg her, die Fühlhörner ausgestreckt!“134

130 131

FFA, B4g60, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, o. D., 1892. Vgl. FFA, B4g60, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 26. Juni 1891. Vgl. auch FFA, B4g48, Haushaltsrechnungen Wilhelm Colsman-Bredts und Adele Colsmans 1858–1886. 132 Vgl. FFA, B4j71, Chronik des Kränzchens, chronologische handschriftliche Aufzeichnungen, 3 Bde., 1826–1926. 133 Vgl. Lepsius, Zur Soziologie des Bürgertums und der Bürgerlichkeit; Hettling, Eine anstrengende Affäre, S. 220ff. 134 Archiv WHC, Sign. 142, Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 18. November 1879.

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Dagegen blieben die Bildungsbürger, schon aus finanziellen Gründen,135 in ihrer Lebensform und in ihren Verkehrskreisen stärker auf den deutschen Nationalstaat beschränkt; allerdings waren sie binnenmobil. Versetzungen waren für Beamte üblich; sehr viele von ihnen lebten und arbeiteten im Erwachsenenalter nicht mehr an ihrem Geburtsort. Gleichzeitig orientierten auch sie sich im Kaiserreich kulturell und politisch zunehmend international: Während bildende Kunst, Literatur und Musik schon längst europäisch und zunehmend auch USamerikanisch zirkulierten, wurde nun auch über Politik und die Entwicklung anderer Staaten in deutschen Tageszeitungen ebenso berichtet und diskutiert wie über Fragen der Außenpolitik und Diplomatie des deutschen Kaiserreichs.136 Sparsam durchgeführte Reisen in ein ausländisches Seebad oder Besichtigungsreisen in angrenzende Länder konnten darüber hinaus auch Bildungsbürger mit Eisenbahn- und Schiffsverkehr bewältigen.137 Selbst wenn die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung im Kaiserreich in ihrer ohnehin knapp bemessenen Freizeit nicht reisen konnte, so waren doch ausländische Produkte (Lebensmittel, Kleidung, Mobiliar usw.) im Kaiserreich in immer größerer Zahl und nicht nur im Luxussegment zu erwerben.138 Hochmobil, sowohl als Binnenwanderer als auch als Aus- und Einwanderer, waren zudem große Teile der ärmeren Landbevölkerung und der Arbeiterschaft, die in die Industriegebiete zogen und von dort aus in andere Industriezentren weiterwanderten oder, insbesondere bis 1890, nach Übersee auswanderten.139 Unternehmer wie die Colsmans waren dagegen sehr ortsstabil und führten am Ort ihrer Vorfahren ihre Unternehmen weiter; gleichzeitig führten sie ein globales Leben. Es entstand mit dem geschäftlich global operierenden Wirtschaftsbürgertum eine international vernetzte soziale Klasse, die zwar nationale Eigenheiten aufwies, aber über nationale Grenzen hinweg miteinander im engen beruflichen, oftmals auch privaten Kontakt stand. Das Ausland war für solche Unternehmer nicht nur Absatzmarkt oder Konkurrenz, sondern auch Partner, vielfach war man in Zulieferung und Absatz aufeinander angewiesen; Kunden und Großlieferanten wurden Teil des eigenen geselligen Verkehrs, Kinder gingen Ehen ein, so Wilhelm Colsman-Bredts Tochter Adele 1880 mit einem Londoner Großkaufmann aus dem Kreis der Geschäftsfreunde ihres Vaters. Wilhelm ColsmanBredt verbrachte im Kaiserreich regelmäßig mehrere Wochen im Jahr in London und darüber hinaus in fast allen Hauptstädten Europas von Wien bis Paris. Seine Frau wiederum verbrachte ebenfalls einige Wochen im Jahr in London, 135

136 137 138 139

Vgl. zu den durchschnittlichen Einkünften beispielsweise Tübinger Professoren von circa 5.000–6.000 Mark im Jahr um 1900 Biastoch, Tübinger Studenten im Kaiserreich, S. 71. Vgl. Conrad, Globalisierungseffekte, S. 418ff. Vgl. zur Freizeit des Bürgertums zusammenfassend Budde, Blütezeit des Bürgertums, S. 121ff. Vgl. Prinz, Der lange Weg in den Überfluss; Torp, Erste Globalisierung und deutscher Protektionismus, S. 427ff. Vgl. Mergel, Das Kaiserreich als Migrationsgesellschaft, S. 380f.; Köllmann/Hoffmann/Maul, Bevölkerungsgeschichte, S. 158ff.

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zudem verreiste sie regelmäßig zur Kur an die Nordsee oder in die Schweiz.140 Wilhelm Colsman-Bredts und Adele Colsmans Briefwechsel zeigt beispielhaft eine bürgerliche Lebensform, in der sich Regionalität und Internationalität durch Bekanntschaften, Freundschaften und Verwandtschaften zu einer europäisch vernetzten Bürgergesellschaft der Wirtschaftsbürger verbanden. Kontakte zu anderen sozialen Klassen, am Heimatort oder auch darüber hinaus, beschränkten sich dagegen auf berufliche Kontakte der Männer in ihren Betrieben oder auf Geschäftsreisen, d. h. mit den Arbeitern und Angestellten in den eigenen Unternehmen und mit kleineren Lieferanten und Kaufleuten im Inund Ausland. Die Lebensform der Unternehmerfamilie Colsman war international und ihre nationalen Vernetzungen nicht stärker als die internationalen. Kontakte zum Adel suchte die Unternehmerfamilie nicht. Wilhelm Colsman-Bredt und seine Kinder, aber auch die seitenverwandten Familien, heirateten nicht nur wiederum fast ausschließlich in Unternehmerfamilien ein, sondern verblieben auch mit ihren beruflichen und privaten Kontakten vollständig im bürgerlichen Milieu. In Briefwechseln der Familie werden keine beruflichen oder privaten Kontakte zu Adelsfamilien beschrieben, welche über oberflächliche Begegnungen auf Gesellschaften hinausgereicht hätten. Lediglich die jüngste Tochter Wilhelm Colsman-Bredts und Adele Colsmans, Clara, heiratete 1890 einen Mann mit Adelstitel, einen Oberst der kaiserlichen Armee, der aber einer bildungsbürgerlichen Familie entstammte, welcher der Adelstitel erst kürzlich verliehen worden war. Die bürgerliche Lebensform Wilhelm Colsman-Bredts und Adele Colsmans blieb aber nicht ohne Bezüge zu dem neuen Nationalstaat, den das Kaiserreich darstellte. So wurde die Gründung des Deutschen Reiches durch beide als Errungenschaft begrüßt. Ein nationales, auf das Kaiserreich bezogenes ‚Wir‘ entstand in der Familie allerdings erst in der kommenden Generation.141 Während Wilhelm Colsman-Bredt und seine Frau Adele in ihren Selbstpräsentationen vor allem ‚Preußen‘ waren und sich erst über diese Zugehörigkeit – vergleichbar dem Staatsbürgerrecht142 – als Bürgerin und Bürger des Deutschen Reiches begriffen, wurde in der Generation ihrer Kinder die Zugehörigkeit zum Deutschen Reich dominant und schob sich vor die preußische. In den Briefen ihres Sohnes Paul finden sich dann ab den späten 1870er Jahren Äußerungen, in denen er von „uns Deutschen“ spricht; das sind Formulierungen und Selbstpräsentationen, die es in den Briefen seiner Eltern nicht gibt.143 Wilhelm ColsmanBredt redete vielmehr von „dem Reich“ oder „dem Vaterland“, wenn er vom 140

Vgl. FFA, B4g59 und B4g60, Briefwechsel Wilhelm Colsman-Bredt und Adele Colsman, 1879–1884; 1885–1893. Vgl. auch Kapitel IV und V über die Sozialisation von Jungen und Mädchen. 141 Vgl. dazu in diesem Kapitel die Teilkapitel 4–6. 142 Das neue Staatsbürgerrecht des Kaiserreichs sah vor, dass das Bürgerrecht in einem seiner Staaten automatisch zur deutschen Staatsbürgerschaft führte. Vgl. Gosewinkel, Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit, S. 395f. 143 Vgl. dazu Kapitel IV über Schulbesuch und Sozialisation der Jungen, Teilkapitel 4.3. Zu den Haltungen Paul Colsmans zum Kaiserreich vgl. auch Teilkapitel 5 dieses Kapitels.

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Kaiserreich sprach.144 Auch seine Frau sprach, sogar im Zustand großer Betroffenheit, von „Deutschland“ und nicht von „uns“ oder „wir“: „Aber ist es nicht schrecklich, dieses zweite Attentat auf den Kaiser, u. er ist wirklich verwundet, wie kann u. darf ein einzelner Mann, od. wenn er das Werkzeug einer Partei ist, eine solche Schande über Deutschland bringen, es ist ja schauderhaft!“145 In den jüngeren Familiengenerationen entstand durch die sich wandelnden Sozialisationskontexte und eine dadurch veränderte Erfahrungs- und Erlebnisschichtung146 eine neue, nationalere Selbstpräsentation. Gleichzeitig blieb die Lebensform auch der jüngeren Generationen international ausgerichtet. Das musste sich nicht widersprechen. Im Gegenteil bildete sich eine Handlungsorientierung heraus, zum Beispiel bei Emil Colsman und Paul Colsman und ihren Ehefrauen, welche den ökonomischen Erfolg des eigenen Unternehmens auch auf die Prosperität der deutschen Wirtschaft insgesamt und ihre politischen Rahmenbedingungen zurückführte. Die vielfachen persönlichen Verbindungen und Reisen ins Ausland, insbesondere nach Großbritannien und in die USA, führten aber gleichzeitig dazu, dass sich die Positionierung als Deutsche – zumindest im Vergleich mit anderen Industrienationen – nicht zu einem nationalen Überlegenheitschauvinismus entwickelte, sondern sich vielmehr mit der Wahrnehmung von Gemeinsamkeiten wie Differenzen verband. Aber der Nationalismus erhielt in der Generation der jüngeren Brüder und der Kinder Wilhelm Colsman-Bredts und Adele Colsmans auch durchaus wettbewerbliche Züge. Sie handelten als Unternehmer nun gleichsam mit dem Deutschen Reich hinter sich und empfanden sich auch als dessen Vertreter im Ausland. Anlässlich einer großen Abendeinladung mit rund 150 Personen beim Reichskanzler Otto von Bismarck in Berlin berichtete Wilhelm Colsman-Bredt 1879 beeindruckt und begeistert an seine Frau: „Samstag Abend war bei dem Fürsten schrecklich interessant, er kam mir mit der größten Freundlichkeit entgegen, reichte mir die Hand & hieß mir willkommen, unterhielt sich längere Zeit mit mir, kurz, so beklommen ich der Begegnung entgegensah, so heiter und erleichtert war ich nachher! […] man war in der ersten halben Stunde vollständig zu Hause, trotz dem daß sämtliche Minister, Gesandte etc mit ihren großen Ordenssternen alle anwesend, Moltke Stephan, kurz Alles was berühmte Namen hat! […] Der Fürst war ein famoser Wirth! wir saßen mal eine Stunde lang um einen runden Tisch, […] der Fürst in heiterster Laune plaudernd & scherzend über die wichtigsten Tagesfragen, jeder sein Seidel Bier oder Champagner vor sich! es war ganz famos gemüthlich & dabei seine Bemerkungen, seine schlagenden geistreichen Äußerungen über die ganze Situation des Reiches! er ist ein ganzer Mann! […] Diener mit silbernen Kannen boten Bier & Sect zum

144 145

Archiv WHC, Sign. 142, Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 30. Mai 1879. FFA, B4g58, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 2. Juni 1878. Adele Colsman sprach in der Regel von „dem lieben Vaterland“ und von „unser Volk u. unser Kaiser“, als stünde sie beobachtend außerhalb. Vgl. FFA, B4g58, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 3. September 1873. 146 Vgl. dazu Mannheim, Das Problem der Generationen, S. 517.

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Ueberfluß! Wir blieben bis ½ 1 wo der Fürst sich die Pfeife bringen ließ & sich mit Frau & Tochter zurückzog! Es war ein ganz famoser Abend! mündlich mehr davon!“147

Da Wilhelm Colsman-Bredt politisch nationalliberal eingestellt war und deshalb anders als viele preußische Konservative die Reichsgründung begrüßt hatte,148 war er durch die ‚große Politik‘ und ihre Vertreter fasziniert und ließ sich von der neuen großpolitischen Bühne in Berlin nachhaltig beeindrucken. Gleichzeitig dachte er als exportorientierter Unternehmer, der von ausländischen Importen (Rohseide, Maschinen) abhängig war, freihändlerisch und war mit der am Ende der 1870er Jahre beginnenden Schutzzollpolitik des Reiches nicht einverstanden.149 1878 und 1879 hielt er sich deshalb mehrfach zu politischer Lobbyarbeit bei Reichstagsabgeordneten in Berlin auf, um auf die Zollpolitik Einfluss zu nehmen.150 An seinen achtzehnjährigen Sohn Paul schrieb Wilhelm Colsman-Bredt 1879 über eine weitere Einladung beim Reichskanzler, die er im Zuge seiner Lobbyarbeit in Berlin erhalten hatte, einen euphorischen Brief, in dem sich die Bewunderung für den Politiker und Staatsmann verband mit dem Gefühl eigener Teilhabe an der Staatslenkung, das Bismarck offenbar geschickt zu inszenieren verstand: „[…] ich war wegen des Zollwesens in Berlin und viel in Verkehr mit dem Reichstage, wo ich manche interessante Bekanntschaft machte. Auch hatte ich Samstag die Ehre beim Fürsten Bismarck eingeladen zu sein! du kannst denken, wie mir das Herz erbebte als ich durch die weitauffliegenden Thüren mich dem Heros gegenüber befand! er stand vom Sopha auf, ging mir einige Schritte entgegen & indem er mir die Hand reichte, hieß er mich in seinem Hause willkommen! wunderbar, jede Scheu war beseitigt und sofort eine lebhafte Unterhaltung im Gange, wobei der Fürst über Alles Bescheid wußte. Er war der liebenswürdigste Wirt den man sich denken konnte, bald saßen wir an einem langen Tisch und in der lebhaftesten Unterhaltung mit dem Fürsten über die brennenden Tagesfragen, die er mit großem Verständnis in Ernst & Scherz, oft unter schallendem Gelächter zu verhandeln verstand! An kostbarem Bufet stärkte sich Jeder, alle Minister, so wie Moltke viele Gesandte z. B. Hohenlohe aus Paris, im Ganzen 60–70 Personen auch einige Damen waren anwesend; man kam um 9 und ging erst gegen 1. […] Später wurde sogar in Gegenwart der Fürstinnen & Gräfinnen, Ministerfrauen etc. geraucht und ging Graf Herbat, der Sohn, selbst mit den Cigarren Kistchen herum! […] Gott erhalte den Mann dem Vaterlande noch recht lange! ich habe so recht den Eindruck in Berlin, in den 147 148

FFA, B4g59, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 24. Mai 1879. 1880 setzte er neben das Datum in einem Brief an seinen Sohn Paul folgenden Zusatz: „18. Januar 80, am Geburtstage des deutschen Kaisers, 1871, Versailles! Spiegelsaal!“ Archiv WHC, Sign. 142, Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 18. Januar 1880. Der konservative Adel Preußens, aber auch ein Teil des Bürgertums sah dagegen mit der Reichsgründung das alte agrarisch-ländliche und kleinstädtische, aus ihrer Sicht durch harmonisch-hierarchische Sozialbeziehungen gekennzeichnete Preußen in Gefahr. Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2, S. 314ff., S. 331ff. 149 Auch damit stand er politischen Positionen der Nationalliberalen Partei nahe (vgl. Kroll, Geburt der Moderne, S. 56f.; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2, S. 396ff., S. 405f.), ohne dass sich in den Quellen eine Parteizugehörigkeit oder eine klare Parteipräferenz festmachen ließen. 150 Vgl. FFA, B4g58, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 20. Februar 1878.

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verschiedenen Kreisen gehabt, daß auf seinen 2 Augen allein das große Reich ruht & sich aufbaut!“151

Wilhelm Colsman-Bredts Briefe über seine Einladungen beim Reichskanzler offenbaren zwei Dinge: einerseits die hohe Akzeptanz der Reichsgründung, des politischen Systems des Kaiserreichs und der Gestaltung der Politik durch Reichskanzler und Minister, andererseits die aktive Vertretung eigener politischer Interessen. Ohnehin bestimmte Wilhelm Colsman-Bredt, wie vorausgehend geschildert, die kommunale Politik der Kleinstadt Langenberg als langjähriger Stadtverordneter entscheidend mit. Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, dass man bei der Beurteilung der politischen Bedeutung des Bürgertums im Kaiserreich nicht nur auf die große Politik schauen dürfe; jenseits der Ministerämter und des diplomatischen Dienstes waren die politischen kommunalen Ämter, große Teile der parlamentarischen Repräsentation in Land- und Reichstagen und auch die hohen Verwaltungsämter längst bürgerlich dominiert und blieben es:152 „Kein Gaswerk wurde errichtet, keine Straßenbahn geplant, keine Stadtbeleuchtung installiert, kein Abwassersystem angelegt, keine Schule gebaut und keine Kunsthalle eröffnet ohne die maßgebliche Teilnahme des städtischen Bürgertums.“ In diesem Kontext betont Budde auch die Zusammenarbeit von Beamten- und Bürgerschaft, „die in den kommunalen Selbstverwaltungen, in den Magistraten und Stadtparlamenten tonangebend wirkten“.153 Die Unternehmer in Langenberg wählten nationalliberal oder konservativ; sie waren zugleich Anhänger eines Parteiensystems als Möglichkeit der Artikulation und der Durchsetzung von Partikular-Interessen.154 Dies prägte sie ebenso wie die Akzeptanz des „monarchisch-bürokratischen Staats“ als Agenten „eines neutralen und sachverständigen Ausgleichs gegenüber Parteien und Klassen“.155 In den Briefen Wilhelm Colsman-Bredts traten die ihn beeindruckende Vorderbühne der staatlich-politischen Repräsentation und die Hinterbühne der eigenen politischen Lobbyarbeit und seiner eigenen kommunalen Politikgestaltung auseinander. Sieht man nur die eine Seite, so entsteht das einseitige Bild einer unkritischen und passiven Affirmation obrigkeitlicher Politik durch das Bürgertum im Kaiserreich. Dass der klassenübergreifenden Mehrheit der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger die konstitutionelle Monarchie, ein starker Reichskanzler und ein Reichstag mit beschränkten Rechten als ein ak151 152

Archiv WHC, Sign. 142, Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 19. Oktober 1879. Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2, S. 158, S. 161. Plumpe verweist aber auch auf das Arrangement des Bürgertums mit der „gemäßigt-konstitutionellen Politik“ in Preußen seit den 1850er Jahren, die mit einem anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwung einherging, welche zur Akzeptanz dieses Politikstils beitrug. Vgl. Plumpe, Eine wirtschaftliche Weltmacht, S. 45. 153 Budde, Blütezeit des Bürgertums, beide Zitate S. 47. Zur Bedeutung des Bürgertums in der Kommunalpolitik zusammenfassend ebd., S. 43ff. 154 Vgl. Quandt, Sozialgeschichte der Stadt Langenberg, S. 184f.; Soénius, Wirtschaftsbürgertum, S. 476ff. 155 Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1, S. 636.

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zeptables politisches System erschien, gleichzeitig aber eine dynamische „Fundamentalpolitisierung“156 im Kaiserreich stattfand, stellt einen der Spannungsbögen des Kaiserreichs dar. Mit ‚Obrigkeitsgehorsam‘ kann die politische Haltung der Bevölkerung daher nur eingeschränkt beschrieben werden. Denn die Wahlbeteiligung bei den Reichstagswahlen stieg im Verlauf des Kaiserreichs deutlich an: Parteien, Parteikandidaten und Wahlkämpfe bestimmten die Wahlen zum Reichstag, an denen sich 1871 51% und 1912 knapp 85% der Wahlberechtigten beteiligten.157 Politik wurde zum Thema in der Bevölkerung. Die Politik war nicht mehr nur die Sache ‚derer da oben‘, sondern wurde Teilnahme, insbesondere an der Kommunalpolitik, aber auch an Landtags- und Reichstagswahlen. Diese wachsende Teilnahme war nicht zuletzt das Resultat eines flächendeckend ausgebauten staatlichen Bildungssystems und eines sich in der Gesamtgesellschaft verbessernden Bildungsniveaus.158 So wenig sich das Kaiserreich auf die einfache Formel eines autoritären Obrigkeitsstaats bringen lässt,159 so wenig waren seine Bürgerinnen und Bürger in einem solchen System sozialisierte Untertanen. Vor dem Hintergrund des in der Einleitung entwickelten Sozialisationskonzepts sind die Handlungsorientierungen und Selbstpräsentationen Wilhelm Colsman-Bredts auch als interaktives Ergebnis entsprechender Sozialisationskontexte und Sozialisationserfahrungen zu interpretieren. Das galt für seine Ehe ebenso wie für seine politischen Aktivitäten. Die Vorstellung, dass die Nationalstaatsbildung durch ‚Blut und Eisen‘ eine entsprechende bürgerliche Akzeptanz unbürgerlicher Werte und Normen zur Folge gehabt habe, lässt sich weder an den hier behandelten Personen (Männern wie Frauen) feststellen noch wäre dies vor dem Hintergrund bürgerlicher Verkehrskreise und durchweg bürgerlicher Sozialisationskontexte mit entsprechenden Werten und Normen plausibel. Dies zeigen auch neuere Biographien bürgerlicher ‚Meisterdenker‘ (Ute Frevert) des Kaiserreichs wie beispielsweise Max Webers oder Werner Sombarts.160 Auch an ihnen wird sichtbar, dass ihre Handlungsorientierungen, Weltdeutungen und ihre Selbstpräsentationen durchweg von bürgerlichen Werten und Normen geprägt waren: von Arbeit und Leistung, von Wissen, Können und ökonomischer Solidität, von Bildung und Qualifikation. Das konnte sich mit Verklärungen des Obrigkeitsstaats und mit nationalistischen Chauvinismen verbinden, aber das war nicht zwingend. Wilhelm Colsman-Bredt und Adele Colsman überlegten in den späten 1880er Jahren eine gemeinsame Übersiedlung nach London, weil sie die Welt156 157

Ullmann, Politik im deutschen Kaiserreich, S. 32. Vgl. zu steigender Wahlbeteiligung und Politisierung Ullmann, Politik im Kaiserreich, S. 32ff. 158 Vgl. zum Ausbau des Bildungssystems bilanzierend Tenorth, Schule im Kaiserreich; Kuhlemann, Das Kaiserreich als Erziehungsstaat; Becker/Kluchert, Die Bildung der Nation, S. 1ff. 159 Differenziert die Entwicklung der Forschungspositionen und ihr Abrücken von der Formel des Obrigkeitsstaats referierend Ullmann, Politik im deutschen Kaiserreich, S. 87ff. 160 Vgl. Lenger, Werner Sombart; Radkau, Max Weber.

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stadt außerordentlich schätzten. Wilhelm Colsman-Bredt schrieb: „Sonst gefällt es mir hier wieder so gut, daß wir den Gedanken einer Uebersiedelung […] doch festhalten wollen!“161 Es kam nicht dazu. 1893 starb Adele Colsman während eines Besuchs bei ihrer Tochter in London im Alter von siebenundfünfzig Jahren an einem Schlaganfall.

4. Firma, Nerven und Familie: Emil Colsman und Mathilde Schniewind 1877 heiratete Emil Colsman (1848–1941), der jüngste Bruder Wilhelm Colsman-Bredts, mit neunundzwanzig Jahren Mathilde Schniewind (1853–1933), die vierundzwanzigährige Tochter des vermögenden Textilfabrikanten Heinrich Ernst Schniewind aus dem benachbarten Elberfeld. 1873 hatte Emil Colsman die Seidenbandweberei „Colsman & Seyffert“ in Langenberg gemeinsam mit einem Associé gegründet. Diese wurde rasch international erfolgreich, nicht zuletzt – wie auch Gebrüder Colsman – durch die Etablierung auf dem britischen und US-amerikanischen Markt. Emil Colsmans Schwiegervater Heinrich Ernst Schniewind besaß eine Weberei für Seidentücher und -bänder in Elberfeld und gehörte zu den sehr vermögenden Männern Preußens. Mitinhaber des Unternehmens war sein gleichnamiger Sohn Heinrich Ernst.162 1912 zählte schließlich auch Emil Colsman zu den vermögenden preußischen Bürgern.163 Als jüngster Sohn mit fünf älteren Brüdern hatte es für Emil Colsman nicht eben chancenreich ausgesehen, eine Karriere als Teilhaber von Gebrüder Colsman anzustreben. Dies lag jedoch nicht an einer Nachfolgeregelung, durch die beispielsweise die Erstgeborenen bevorzugt worden wären. Eine solche Regelung existierte nicht.164 Vielmehr wurden in der Unternehmerfamilie Brüder und Cousins in einen internen Wettbewerb versetzt; prinzipiell sollten die Geeignetsten im Unternehmen nachfolgen. Dabei hatten bei Eignung und Interesse aufgrund der Geburtenfolge die älteren Söhne jedoch ungleich höhere Chancen als die jüngeren. Um die jüngeren aber nicht über Gebühr zu benachteiligen, wurden diese bei Wunsch und Eignung gezielt und unter der Aufwendung erheblicher Mittel auf eine Unternehmertätigkeit vorbereitet. Bei Emil Colsman folgte auf eine dreijährige Lehrzeit in einer Kordel- und Litzenfabrik 161 162

FFA, B4g60, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 18. November 1888. Vgl. Eckardt, Art. Schniewind; Martin, Jahrbuch des Vermögens und Einkommens, Bd. 2, S. 322f. Das Vermögen Heinrich Ernst Schniewinds (Sohn) wird 1912 mit 12–13 Millionen Mark angegeben. Vgl. Martin, Jahrbuch des Vermögens und Einkommens, Bd. 1, S. 15. 163 Emil Colsman besaß 1912 ein Vermögen von circa 5–6 Millionen Mark und ein jährliches Einkommen von circa 300.000 Mark. Vgl. Martin, Jahrbuch des Vermögens und Einkommens, Bd. 1, S. 70, S. 830. 164 Vgl. FFA, 4.100, Gesellschaftsverträge Gebrüder Colsman 1794–1921.

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in Elberfeld auf Vermittlung seines ältesten Bruders Wilhelm Colsman-Bredt 1868 ein Volontariat in einer Seidenweberei in der Schweiz. Im Sommer 1869 besuchte er eine Webschule in Mülheim am Rhein (heute zu Köln gehörend), um seine Bandwebereikenntnisse zu vertiefen. Nach seinem einjährig-freiwilligen Militärjahr bei den Garde-Ulanen in Berlin165 und der Teilnahme als Unteroffizier (dem militärischen Rang, den Einjährig-Freiwillige in ihrem Militärjahr nach neun Monaten erreichen konnten) am Krieg von 1870/71 ging er 1871 zu einem längeren Volontariat nach London in ein Rohseidenwarengeschäft und verbrachte zwischenzeitlich ein halbes Jahr in Mailand an der Rohseidenbörse. 1873 eröffnete er gemeinsam mit einem Sozius seine eigene Seidenbandweberei in Langenberg. Ermöglicht wurde dies durch einen Familienkredit von rund 150.000 Mark. Technische Beratung und kaufmännische Unterstützung leistete darüber hinaus sein ältester Bruder Wilhelm Colsman-Bredt, der für das Unternehmen auch die Prokura übernahm, um die häufigen Auslandsreisen Emil Colsmans nach London, Wien, Berlin usw. zu erleichtern.166 Das brüderliche Unternehmen, dessen Geschäfte Wilhelm Colsman-Bredt nun mitbetreute, war keine Konkurrenz, denn dieses fertigte seidene Bänder,167 während bei Gebrüder Colsman seidenes Tuch gewebt wurde. Reisen durch Deutschland, ausgestattet mit Mustern und einem in der Textilbranche sehr gut bekannten Namen, folgten und bereits sechs Monate nach der Geschäftsgründung die erste Reise als selbstständiger Unternehmer nach England und die Errichtung einer eigenen Agentur in London für ein beginnendes Geschäft mit Großbritannien. 1877 folgte die Verlobung mit Mathilde Schniewind und im selben Jahr die Heirat. Im Vorfeld hatten die weiblichen Verwandten den neunundzwanzigjährigen Emil unter erheblichen Druck gesetzt, endlich eine Ehe einzugehen. Ein unverheirateter ‚Hagestolz‘ zu werden, war für einen Geschäftsmann in der ‚Familiengesellschaft‘ des Kaiserreichs und der europäischen Nachbarstaaten nicht opportun und der Reputation seiner Firma nicht zuträglich. Da der junge Unternehmer aber zunächst keine Anstalten zeigte, sich nach einer Braut umzusehen, schenkten ihm seine Schwägerinnen ironisch einen Ruhesessel zum Geburtstag und stellten ihn im Haus seiner Mutter auf, bei der er immer noch wohnte.168 Wilhelm Colsman-Bredt lernte die Braut schließlich auf einem Fest kennen und war zunächst nicht angetan, fand aber seinen Bruder sehr verliebt: „Ich kann mich mit dem Wesen der Braut noch immer nicht behaglich & gemüthlich fühlen, macht auch Nichts – Emil ist

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Vgl. dazu Kapitel VI über Einjährige, Militär und Männlichkeit. Vgl. zu Ausbildung und Unternehmensgründung Archiv EC, D 2/36, Emil Colsman, Lebenserinnerungen, S. 30ff. 167 Das gewebte Seiden- und Halbseidenband wurde sowohl für männliche als auch für weibliche Kleidung als Hutband und als Kleidungsbesatzband verwendet sowie als Damenhaarschmuck und als Trauerflor. 168 Vgl. Archiv EC, D 2/36, Emil Colsman, Lebenserinnerungen, S. 40.

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complet Maikäfer & die Umschlingungen in unbeobachteten Augenblicken unglaublich.“169 Nach der Hochzeit folgte eine sechswöchige Hochzeitsreise durch die Schweiz und Oberitalien, was sich als Muster bereits in der Generation Wilhelm Colsman-Bredts und Adele Colsmans herausgebildet hatte und sich für die jüngeren Paare im Kaiserreich verstetigen sollte. Allerdings wurde die Hochzeitsreise Emil und Mathilde Colsmans anders als bei Wilhelm Colsman-Bredt und Adele Colsman konkret als Bildungsreise arrangiert. Nicht nur der Genuss der Landschaft und der fremden Städte sollte die Reise prägen, sondern insbesondere sollte die bildende Kunst das Bild Italiens bestimmen: „Wir sehen hier so gewaltig viel Schönes, daß es uns fast zu viel ist […]. Wir haben zum Führer in der italienischen Kunst außer Baedecker noch ein vorzügliches Buch von J. Burckhardt, der durch eine äußerst interessante Schreibweise das Interesse für jeden einzelnen Künstler, ja für jedes der bedeutenden Werke zu wecken weiß. Diesen studiren wir in unsern Mußestunden, u. suchen dann in den Sammlungen nur die besten, schon in etwa bekannten Bilder aus. Trotzdem sind wir immer gründlich müde, wenn wir eine Sammlung inspicirt, u. wir haben beschlossen, nie mehr über 2 Stunden zu ‚arbeiten‘, ohne uns durch ein energisches Frühstück zu stärken.“170

Vergleichbar mit Wilhelm Colsman-Bredt und Adele Colsman war auch hier die Braut in demselben sozialen Milieu wie der Bräutigam sozialisiert worden. Als Unternehmertochter brachte sie ebenfalls Vermögen und Netzwerke mit in die Ehe. Wie im Falle Wilhelm Colsman-Bredts und Adele Colsmans waren Braut und Bräutigam Mitglieder der wirtschaftsbürgerlichen Verkehrskreise im Bergischen Land gewesen. Männliche Jugendfreundschaften Emil Colsmans (hier die Söhne der Unternehmerfamilien Molineus, Erbslöh und Schniewind aus Barmen und Elberfeld) konturierten in diesem Fall die Begegnungsräume der Geschlechter. So heiratete Emil Colsmans jüngere Schwester Hulda seinen Jugendfreund Eduard Molineus und er selbst schließlich die Schwester seines Jugendfreundes Julius Schniewind. Das Kennenlernen kam auf Vermittlung Julius Schniewinds zustande, der wiederum auf Betreiben seiner Eltern die Eheschließung der Schwester forcierte. Auch Mathilde Schniewind hatte mit vierundzwanzig Jahren den Eindruck, dass die Zeit zum Heiraten gekommen sei, nicht zuletzt aufgrund entsprechender Bemerkungen ihres sozialen Umfelds auf einer Sommerreise: „[…] ein anständiger junger Mann für Frl. Schniewind ist hier schon ganz sprichwörtlich geworden, aber sei still, für die Lebensreise bringe [ich] mir doch keinen Gefährten nach Hause mit das hab’ ich Vater ja auch versprochen.“171 Die Eltern Schniewind arrangierten einen Besuch Emil Colsmans in ihrer Villa in Elberfeld, um den möglichen Bräutigam kennenzulernen. Auffällig ist, dass sich das Brautpaar vor der Eheschließung nur wenige Male 169 170

FFA, B4g58, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 4. Juli 1877. Archiv ACE, Sign. V,18, Emil Colsman an die Schwiegermutter Mathilde Schniewind, 17. Oktober 1877. 171 Archiv ACE, Sign. V,11, Mathilde Schniewind an ihre Mutter Mathilde Schniewind, 4. März 1877.

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persönlich getroffen hatte. Anders als bei Wilhelm Colsman-Bredt und Adele Colsman ging hier der Impuls, das einzige Mal bei den in diesem Kapitel beschriebenen Ehen, von den Familien aus; als ‚passende Partien‘172 wurden zwei Personen miteinander vermittelt, die aus Sicht der Familien zugleich die jeweiligen sozialen und beruflichen Netzwerke hervorragend ergänzten. Nach Emil Colsmans Lebenserinnerungen war es erst nach der Verlobung, dass ein engerer Kontakt zwischen den Brautleuten entstand und diese Gelegenheit fanden, sich „gegenseitig im Innersten auszusprechen“.173 Die Ehebeziehung gestaltete sich jedoch schließlich nicht weniger vertraut als die zwischen Wilhelm Colsman-Bredt und Adele Colsman. Allerdings gab es auch deutliche Unterschiede: Obwohl seine Frau in einer schwierigen Geburt gerade das erste Kind bekommen hatte, begab sich der Vater unmittelbar nach der Geburt für mehrere Wochen in eine Kur.174 Arbeitsbelastung und häufige Geschäftsreisen ins Ausland, insbesondere nach Großbritannien, führten bei Emil Colsman wiederholt zu einem ‚Nervenversagen‘, das 1885 nochmals eine längere Kur an der See zur Folge hatte: Nach der sehr schweren Geburt des dritten Kindes im selben Jahr, die eine mehrmonatige, lebensgefährliche Erkrankung der Mutter zur Folge hatte, war es wiederum der Ehemann und nicht die Mutter, der aufgrund von Nervenschwäche zur wochenlangen Erholung an den Luganer See fuhr. Das Nervenleiden, verbunden mit Hals- und Magenproblemen, wurde jedoch schlimmer, und erst eine asketische Kur zu Hause mit Diät, Gymnastik und Frischluftbädern half.175 Die ‚Nerven‘ waren im Kaiserreich ein epochentypisches Leiden, das als Neurasthenie oder Nervosität insbesondere bei Männern als zivilisationsbedingte Krankheit diagnostiziert wurde. Verdauungsbeschwerden, körperliche Schwäche und Schlaffheit sowie Arbeitsunlust, geistige Erschöpfungszustände, geringe Belastbarkeit und überhöhte Reizbarkeit waren die Symptome. Zurückgeführt wurde die Krankheit auf hohe Arbeitsbelastung, insbesondere in verantwortlichen, leitenden Positionen, auf die neuen Tempoerfahrungen der technischen Moderne sowie auf die Belastungen eines modernen, städtischen Lebens.176 Zur Therapie dieses um sich greifenden Krankheitsbildes wurden – klassenspezifisch abgestufte und ausgestattete – Therapiezentren (Nervenheilstätten) gegründet, die als zum Teil riesige Gebäudekomplexe mit unterschiedlichsten Therapieansätzen aufwarteten: Luftkuren, Kaltwasserbäder und Lichtkuren, verbunden mit therapeutischen Sitzungen und vieles mehr. Neben den Lungensanatorien waren die Nervenheilstätten eine medizinische Boombranche; viele Kurorte entwickelten ein neues Geschäftsmodell aus der Heilung 172 173 174 175 176

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Vgl. zur Bedeutung der passenden Partien für die Eheschließungen Kaplan, The Making of the Jewish Middle Class, S. 89ff. Archiv EC, D 2/36, Emil Colsman, Lebenserinnerungen, S. 44. Vgl. Archiv EC, D 2/36, Emil Colsman, Lebenserinnerungen, S. 59. Vgl. Archiv EC, D 2/36, Emil Colsman, Lebenserinnerungen, S. 67ff. Vgl. zum gesamten Komplex dieser Erkrankungen umfassend Radkau, Das Zeitalter der Nervosität, S. 49ff.

nervöser Beschwerden. Waren auch die Bürgerlichen die besonders Nervenleidenden, so waren die ‚Nerven‘ doch klassenübergreifend und trafen auch Arbeiter und Angestellte.177 Als Krankheitsbild war es stark mit Arbeit und modernem Lebenstempo verbunden, so dass es eher Männer als Frauen traf; gleichwohl konnten auch Frauen nervös sein, insbesondere wenn sie in modernen, temporeichen Umgebungen arbeiteten, zum Beispiel als Telefonistinnen.178 Aber auch berufslose Frauen konnten als nervös diagnostiziert werden. In der Unternehmerfamilie Colsman gab es zwei Fälle von ‚Nerven‘; beide waren männlich. Während Emil Colsman in der ersten Hälfte seines Lebens viel Zeit mit dieser Krankheit und entsprechenden Therapieversuchen verbrachte, war Wilhelm Colsman-Bredt davon nur zeitweilig betroffen. Angesichts seiner offensichtlichen Ignoranz gegenüber einer möglichen Nervenerkrankung schrieb ihm seine Frau Adele: „[…] wollt ich Dich bei der Gelegenheit inständig u. freundlich bitten, doch Deine Anwesenheit bei den Geschwistern zu einer Consultation mit einem vernünftigen Arzt zu benutzen. Andern Leuten wird doch zuweilen von ihrer Krankheit geholfen, warum sollte für Dich kein Rath sein, wenn Du mal wirklich Dein Leiden ordentlich mit einem besprichst? Wenn es körperliche Schmerzen wären, wollte ich Dich gerne pflegen, aber dein Leiden liegt in den Nerven […]. Bitte, lieber Schatz, laß Dich diesmal nicht vergeblich bitten, Dein Bruder Emil ist doch auch nach langem curgemäßem Leben wieder gesund geworden […].“179

‚Nerven‘ zu haben und auch zu zeigen, war nicht gerade ein Ausweis harter, gefühlskalter Männlichkeit, von der für das Kaiserreich als ‚hegemonialem Männlichkeitskonstrukt‘ oftmals die Rede ist.180 „Die deutschen Nervenärzte glaubten nicht im Traum, daß der deutsche Mann ein hürnener [sic!] Jung Siegfried sei.“181 Gefühlsäußerungen und Verhaltensweisen, die im 19. Jahrhundert im öffentlichen Diskurs den Frauen zugewiesen worden waren wie Weinen, passives Erleiden, Entscheidungsschwäche, aber auch Exaltiertheit und Kontrollverlust, wurden durch das Krankheitsbild der ‚Nerven‘ auch Männern zugeschrieben. Und so konnten sich Geschlechterzuschreibungen im privaten Diskurs umkehren, wenn beispielsweise Adele Colsman ihren Mann ermahnte, durch „energische Beaufsichtigung des inneren Menschen“ die „geheimnißvollen Nerven“ in den Griff zu bekommen.182 Im Unterschied zu den Ergebnissen, welche Joachim Radkau aus dem öffentlichen Diskurs und aus Therapieberichten entwickelt, legen die Briefe der in diesem Kapitel untersuchten Unternehmerehepaare es nicht nahe, dass sich 177 178 179 180

Vgl. Radkau, Das Zeitalter der Nervosität, , S. 107ff.; S. 215ff. Vgl. Radkau, Das Zeitalter der Nervosität, S. 227. FFA, B4g60, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 31. Dezember 1887. Vgl. Borutta/Verheyen, Vulkanier und Choleriker, S. 18; die militärische Prägung der Männlichkeitskonstrukte betonend Frevert, Das Militär als Schule der Männlichkeiten. Zum Konzept ‚hegemonialer Männlichkeit‘ vgl. Connell, Der gemachte Mann. 181 Radkau, Das Zeitalter der Nervosität, S. 135. 182 FFA, B4g60, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 26. Juni 1888.

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gegen Ende des Kaiserreichs die Neurasthenie und Nervosität in einer neuen Kultur des Willens aufhoben.183 Willenskraft als Beherrschung von Schwäche und Reizbarkeit spielte zwar eine Rolle, doch ging es stärker um eine Wiederherstellung ausbalancierter Lebensführung, also im Grunde um eine Equilibrierung wachsender lebensweltlicher Herausforderungen. Diese erforderte weniger Stärke und eisernen Willen als ruhige Überlegung, rasche, gleichwohl konzentrierte Aktivität und einen individuellen Ausgleich von Gefühlszuständen. In den Briefen der Unternehmer wird allerdings auch deutlich, dass insbesondere die die Gründung des Kaiserreichs als Erwachsene erlebenden Unternehmer zu Neurasthenie und Nervosität neigten. Ihre Sozialisationskontexte hatten sich durch die technischen Entwicklungen im Kaiserreich maßgeblich verändert. Aus Kontoren und kleineren Manufakturgebäuden mit begleitender Heimweberei wurden in den 1880er Jahren Fabrikgebäude mit großen und lauten Maschinensälen und ständig anwesenden Großgruppen von Arbeitern und Angestellten. Der Unternehmer war nicht mehr nur der Organisator teilweise unsichtbarer Fertigungsvorgänge (Heimweberei), sondern er wurde Fabrikherr und verantwortlicher Leiter technisch hochgerüsteter, lauter und temporeicher Maschinen und Arbeitsabläufe. Das Textilunternehmen als Sozialisationskontext der männlichen Unternehmer änderte sich im Kaiserreich fundamental; in allen Betrieben der Unternehmerfamilie wurden am Ende der 1880er Jahre dampfmaschinengetriebene mechanische Webstühle in großen Maschinensälen aufgestellt: Das galt für Gebrüder Colsman ebenso wie für Colsman & Seyffert, Conze & Colsman, Peter Lucas Colsman und die weiteren Seidenwebereien in und um Langenberg. Für die jüngeren Familiengenerationen, zum Beispiel Paul und Peter Lucas Colsman, die Söhne Wilhelm Colsman-Bredts und Eduard Colsmans, welche ihre Jugend bereits im Kaiserreich verbrachten, waren die technischen Entwicklungen schon Teil ihrer Sozialisationskontexte. Sie reagierten nicht ‚nervös‘, sondern entwickelten Männlichkeitsmodelle, welche die ökonomisch-technischen Entwicklungen und den sich verändernden lebensweltlichen Rahmen (Verdichtung des Eisenbahnnetzes, Tempo des Reisens, Geschäftsreisen nach Übersee, Telefon, Automobile, Industriestädte und Metropolen) nachvollzogen.184 Dagegen hatte Emil Colsman die rasche Veränderung seiner Lebenswelt noch deutlich wahrgenommen: „Gestern gab es nichts mit meinem Schreiben an dich, kaum daß ich in Leipzig noch eben Zeit fand dem Geschäft, meine etwas spärliche, aber doch immerhin sehr dankenswerthe Ausbeute zu senden, da dampfte auch schon wieder gegen 5 Uhr Abend der Courirzug ab, um mich gegen ½ 9 Uhr sicher hier abzuliefern. Der Weg nach Leipzig passirt Wittenberg […]; er passirt auch Jüterboch, wo wir vor 13 Jahren, aus Frankreich nach fast 80stündiger Fahrt kommend, sr. Zeit Roß u. Reiter ausluden, um zum Einzug in Berlin zu marschiren. Damals dauerte es bis Berlin noch ca. 5 Tage, jetzt mit dem Courir

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Vgl. Radkau, Das Zeitalter der Nervosität, S. 364ff. Vgl. dazu Kapitel IV über Schulbesuch und Sozialisation der Jungen, Teilkapitel 4.3 und 4.4 sowie in diesem Kapitel die Teilkapitel 5 und 6.

1 Stunde! Wundergroße Änderungen damals jetzt! Auch an Berlin wahrnehmbar, das jedes Jahr ein großstädtischeres Gepräge erhält.“185

Es war dann Paul Colsman (1861–1922), der älteste Sohn Wilhelm ColsmanBredts, der die Errichtung der mechanischen Weberei in Kupferdreh durchsetzte und durchführte.186 Er drängte seinen noch zögernden Vater, die Produktion vollständig auf Fabrikfertigung umzustellen: „Es ist & bleibt ein ebenso trauriges wie sicheres factum, daß sich das Geschäft von uns mehr & mehr zurückzieht, wenn wir versuchen an der Handweberei festzuhalten. Wir müssen […] der Gefahr in’s Auge sehen & Ernst mit der Umwälzung in unserem Geschäft machen, damit wir rasch die Drehe bekommen & bald wieder in der ersten Reihe mitmarschiren!“187

Für die älteren Unternehmer waren ihre ‚Nerven‘ aber keine Schande. Wilhelm Colsman-Bredt schrieb offen an seinen zweiunddreißigjährigen Sohn Johannes: „[…] ich soll mich sonst stille halten und die Ruhe pflegen, ich habe schreckliches Nerven Krabbeln & Müdigkeit wie ein hysterisches Frauen Zimmer, was vielleicht nicht bedenklich, aber jedenfalls höchst unbehaglich ist!“188 Während die ‚Nerven‘ in Wilhelm Colsman-Bredts Briefen zwischen den späten 1880er Jahren und der Jahrhundertwende wiederholt auftauchen,189 ist in den beiden Folgejahren bis zu seinem Tod 1902 davon nicht mehr die Rede, und auch Emil Colsman war am Ende der 1890er Jahre von seinem Nervenleiden genesen. Der Briefwechsel zwischen ihm und seiner Frau aus dem Zeitraum der Eheschließung 1877 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs enthält ab der Jahrhundertwende keine Hinweise mehr auf Erschöpfung, Reizbarkeit oder Verdauungsstörungen, den typischen Symptomen nervöser Störungen. Deutlich wird in dem gesamten Briefwechsel zwischen Emil und Mathilde Colsman das Bemühen um Anerkennung und Gleichrangigkeit der männlichen und weiblichen Lebensform, wenn auch deutlich weniger darum gerungen und verhandelt wurde als in der Ehe Wilhelm Colsman-Bredts und Adele Colsmans. In Mathilde Colsmans Briefen ist zudem kaum von Einsamkeit die Rede; ihr fiel die Annahme und Gestaltung der Rolle einer Unternehmergattin ohne eigenes, vom Mann unabhängiges Tätigkeitsfeld offenbar leichter als Adele Colsman,190 oder sie äußerte entsprechende Probleme nicht. Die gezielte Zusammenführung des Brautpaares durch die Verwandtschaft wurde in ihren Briefen nachträglich 185 186 187 188 189

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Archiv ACE, Sign. V,17, Emil Colsman an Mathilde Colsman aus Berlin, 1. Dezember 1889. Vgl. FFA, 9.27, Aufzeichnungen zur Firmengeschichte; FFA, 9.34, Firmengeschichte Gebrüder Colsman. FFA, B4g242, Paul Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 19. Mai 1891. FFA, B4g52, Wilhelm Colsman-Bredt an Johannes Colsman, 12. Juni 1900. „Mir geht es so ziemlich, ich bin leicht müde & nervös erregt, habe auch oft Flimmern vor den Augen! indeß sonst geht es doch noch gut, der Kurmel wird mir oft etwas viel & hoffe ich du kannst bald einen ordentlichen ‚Pöngel‘ mir abnehmen!“ Archiv WHC, Sign. 183, Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 1. März 1884. Vgl. dazu Kapitel V über die Sozialisation der Mädchen, Teilkapitel 3.

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als Schicksal und göttliche Schickung interpretiert, so dass auch diese Beziehung mit dem bürgerlichen Konzept der ‚romantic love‘ konform gehen konnte, wie hier bei Emil Colsman: „[…] unwillkürlich zaubern sich meine Gedanken Dein liebes Gesicht herbei, u. malen mir vor, wie so köstlich es wäre, wenn Du jetzt bei einem freundlichen Blick aus Deinen lieben Augen auf mich werfen, und mir so treu ins Herz rufen könntest, Gott sei Dank, daß er uns zusammengeführt hat, das ganze Dasein wird zwar in seinen ganzen Grundlinien ein anderes, aber auf den neuen Fundamenten wird unser treuer Gott uns helfen ein Haus aufzubauen, daß wie die rechte Gothik zum Licht, nach oben strebt; […] aber wie auch, in der erhabensten Gothik selbst, die fröhlichen Privat Thürmchen, die launigen Figuren an den Dachgesimsen, mit dem Laubwerk u. den Kreuzblumen nicht fehlen, so soll auch bei uns, so Gott will, fröhlicher lustiger Sinn mit dem nöthigem Ulk sein Recht behalten. Sind wir doch eher noch so ’nem gemüthlichen ‚alten Haus‘ zu vergleichen in welchem die lauschigen Erker (à la Heisterberg) Ihr Recht voll fordern!“191

Die Vorstellung, die Emil Colsman hier mit religiöser Bildlichkeit entwickelte, war die eines gemeinsamen Baues. Ideen männlicher Vorherrschaft und Autorität fehlten in diesem Brief wie auch in allen folgenden. Ganz praktisch war die Frage der Einrichtung des ersten eigenen Hauses in Langenberg dann bis zur Tapetenwahl ebenso Aufgabe und Engagement des Mannes wie der Frau: „Doch Du hörst gewiß auch noch gern kurz von Cöln; den Möbelschreinern habe ich also alles Mahagoni, excepted deiner Toilet Commode u. unsern 2 Betten bestellt. Auch 2 hübsche Stühle; nur das Tischchen auf der Vorstube ist noch zu bestimmen, da ein so kleines wie dort nöthig, zum Ausziehen nicht vorräthig war; meinst Du ich soll eines bauen lassen, oder sollen wir zunächst eventuel das von der Fremdenstube benutzen?“192

Vorschläge für die Einrichtung, von den Tischgrößen bis zu den Küchenmöbeln, kamen von Seiten Mathilde wie Emil Colsmans. Emil Colsman redete auch von seiner „Aussteuer“, die er mit in die Ehe zu bringen gedachte, und meinte damit unter anderem Öfen, Schränke, Vorhänge und Teppiche.193 Gleichermaßen sah er sich bemüßigt, seiner Braut schon in der Verlobungszeit über Erfolg oder Misserfolg seiner Geschäftstätigkeit zu berichten: „Im Geschäft geht es noch langsam, doch scheint mir, u. dies war auch mein Cölner Eindruck, einige Wendung zur Belebung da. Ich habe denn auch einige Seide, u. zwar so billig wie im billigsten Moment vorigen Jahres gekauft, u hoffe daß es der richtige Moment sein wird. Speculirt wird natürlich absolut nicht, nur unser völlig geleertes Lager etwas auf assortirt.“194 „Es geht mir, Gott sei Dank, befriedigend, u auch geschäftlich habe ich Grund zu Zufriedenheit, da ich mit 2 Kunden schon ein ganz nettes Pöstchen

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Archiv ACE, Sign. IV,5, Emil Colsman an Mathilde Schniewind, o. D., etwa 1877. Archiv ACE, Sign. IV,8, Emil Colsman an Mathilde Schniewind, 7. Juli 1877. Archiv ACE, Sign. IV,8, Emil Colsman an Mathilde Schniewind, 24. August 1877: „[...] heute Morgen, vor dem Geschäft, habe ich mit Mütterchen an meiner Aussteuer gearbeitet;“ 194 Archiv ACE, Sign. IV,8, Emil Colsman an Mathilde Schniewind, 11. Juli 1877.

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gemacht, […] u morgen mit dem dicken Hauptfreund noch ernstlich zu conferieren habe. Im Allgemeinen ist das ganze Geschäft sehr schlecht in allen Branchen.“195

Geldangelegenheiten waren in Unternehmerehen, zumindest wenn die Ehefrau aus demselben Milieu stammte, nicht allein Aufgabe des Mannes: „[…] wir sind ja nun einmal Fabrikantenkinder“, schrieb Emil Colsman seiner Braut.196 In der Ehe wiederholten sich dann nicht nur in fast jedem Brief Emil Colsmans die Geschäftsberichte,197 sondern auch die Aushandlungen um Ausgaben und Lebensstil; Sparsamkeit war dabei eine Tugend, die von beiden Seiten verfolgt wurde. Emil Colsman legte seiner Frau regelmäßig sein Geschäftsgebaren und seine Aufträge sowie die Lage seiner Firma dar;198 und auch ihr Schwager Wilhelm Colsman-Bredt sprach mit ihr über geschäftliche Fragen: „Sonst ist es gar nicht so schlimm, wenn ich einen Tag nichts von meinem Alten höre, ich weiß ihn ja wohl u. frisch u. dabei in gründlicher Thätigkeit. Hoffentlich machen Dir die Herrn Engländer mehr Freude, wie Du am ersten Tag den Eindruck hattest. Wilhelm [Colsman-Bredt, CG] der mich liebenswürdiger Weise heute Morgen resp. Mittag besuchte hielt mir einen kleinen Vortrag über Licht u. Schattenseiten der 3 Agenten von Feldhof Andreae u. Colsman u. Seyffert […].“199

Aus der gestifteten Beziehung entwickelte sich den Briefen nach zu urteilen eine tiefe Zuneigung. In den Selbstpräsentationen Mathilde und Emil Colsmans stellte die innige Liebe zueinander das Eheideal dar, welche sie in vielen Briefen im Verlauf ihrer Ehe artikulierten: „Meine Geliebte! Immer noch bist Du’s, wenn der Ausdruck auch seltener nur heraus kommt, so ist das Bräutigams Gefühl doch noch stets das Gleiche u. auch mich faßt’s oft sehnsüchtig nach meiner treuen Gefährtin! Daß Dir die stillen Tage etwas lang u nicht leicht geworden sind, verstehe ich gut, ein Glück noch, daß Du kein Neuling in Geduldsproben bist […].“200

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Archiv ACE, Sign. IV,8, Emil Colsman an Mathilde Schniewind, 19. Juli 1877. Archiv ACE, Sign. IV,8, Emil Colsman an Mathilde Schniewind, 21. Juni 1877. Vgl. exemplarisch: „Nach einer Pause mit Otto & Lieschen zog ich dann allein in’s Geschäft u. hatte bis zum Abend hin voll zu thun. So auch heute – von 9–7 Uhr, munteres Tummeln, das, wie ich stets neu empfinde, dringend nöthig für mich als den Fabrikanten ist um volle Fühlung mit dem Markt u. der Concurrenz zu halten. Unsere geschäftl. Lage ist recht schwierig, da die Vorräthe der Kundschaft aus billigen Waaren noch zu groß zum Neubestellen sind. Hoffentlich gibt’s doch das tägliche Brod, besonders an Arbeit für unsere Leute auf den Stühlen!“ Archiv ACE, Sign. IV,2, Emil Colsman an Mathilde Colsman, 6. Mai 1893, aus Berlin. 198 Vgl. exemplarisch: „Gottes Güte war wieder um mich 600 Cts p Liebmann […]. wirklich sehr dankenswerth, obwohl Preise schlecht, aber wir können unsre Arbeiter in Gang halten, was doch die Hauptsache wenn denn das Verdienst für uns auch mal schwächer, das tägliche Brod bleibt doch noch reichlich.“ Archiv ACE, Sign. V,12, Emil Colsman an Mathilde Colsman, 4. November 1882. 199 Archiv ACE, Sign. V,17, Mathilde Colsman an Emil Colsman, 5. Mai 1882. 200 Archiv ACE, Sign. V,17, Emil Colsman an Mathilde Colsman, 25. November 1882.

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„Das Schreiben an Dich macht mir jetzt solche Freude, ich komme mir vor, als ob ich dir mündlich all’ mein Erleben auskehre, gerade so plaisirlich ist es freilich nicht, denn ich hab meinen Herzens Mann, mein anderes u. besseres Ich schrecklich gern bei mir. Du bist auch die richtige Ergänzung meines Wesens, Du lieber Schatz. Mit dieser Liebeserklärung will ich denn auch Schluß machen […].“201

Brieflich wurden nicht nur Liebesbezeugungen, sondern auch damit verbundene körperliche Berührungen zum Thema gemacht: „Aber ich will jetzt nicht noch hinterher knurren, lieber nähme ich Dich tröstend in den Arm Du mein liebstes Herz, aber ich hoffe, Du hast es jetzt schon nicht mehr so nöthig, aber innerlich gut thut es mir doch, daß Du Deine Alte gern bei Dir hast – wie oft habe ich in diesen Wochen Gott gedankt, daß ich dir für’s Leben gehöre u. philosophierte dann immer weiter, für dies plaisirliche, dankenswerthe Gefühl könnte ich dich doch einige Wochen gut missen.“202

Die stetige Beziehungsarbeit, die in den Briefen Emil und Mathilde Colsmans ebenso präsent war wie in den Briefen Wilhelm Colsman-Bredts und Adele Colsmans, wenn auch weniger konfliktreich als dort, geschah auf zweierlei Weise: Einmal als permanent wiederholte Verhaltensnorm, zum anderen als Selbstpräsentation als innig Liebende(r): „Mein liebstes Herz! […] es ist mir immer ein Hochgenuß, Schriftstücke von Dir zu erhalten. […] Einen Wunschzettel soll ich Dir schreiben, du alter Strick? […] Bei Dir wünsche ich mir da ich doch nun so gut im Zug bin 1) in der 2ten Hälfte des Jahres ein Storchenkindchen, 2) für’s ganze kommende Jahr Deine Liebe – 3) für mich einen gesunden Rücken u. für meinen Mann einen dito Hals 4) Einen leichten, warmen Abendmantel 5) eine Nußbaumetagèrechen auf die Vorstube. 6) 7) u 8 einige Kleinigkeiten. etc. etc. Gute Nacht mein alter treuer, bester, blonder (nicht rother) innigst geliebter Herzens Mann.“203 „Abends nach meiner Heimkehr habe ich fast immer noch eine Stunde im Junggesellen Sessel unterm Gaslicht gesessen u. […] gelesen, u. dann vergnügt mein einsam Ehebett aufgesucht. Wie köstlich wäre es doch, wen wir nächstens einmal wieder gesund zusammen sein dürften! u. wir können’s doch von Gottes Güte hoffen u. wollen auch stets dankbar sein, daß wir so zum wirklich besten Doctor204 mit unserm kleinen Defect gehen konnten.“205

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Archiv ACE, Sign. V,17, Mathilde Colsman an Emil Colsman, 5. Mai 1882. Archiv ACE, Sign. VII,33, Mathilde Colsman an Emil Colsman, 9. August 1885. Archiv ACE, Sign. V,17, Mathilde Colsman an Emil Colsman, 22. November 1882. Das klang einige Jahre später noch genauso: „Am Donnerstag will meine Mutter dem Brautpaar eine Fête geben, ich denke aber durch Abwesenheit zu glänzen. Immer […] werde ich innerlich so froh u. dankbar, daß Du mein Herzens Schatz mich freitest u. zu Deinem Weibe machtest, besseres konnte mir doch niemalen passiren.“ Archiv ACE, Sign. IV,4, Mathilde Colsman an Emil Colsman, 5. April 1886. 204 Das war der Professor für Gynäkologie Friedrich Wilhelm Scanzoni in Würzburg. Vgl. Archiv EC, D 2/36, Lebenserinnerungen Emil Colsman, S. 64. 205 Archiv ACE, Sign. V,17, Emil Colsman an Mathilde Colsman, 6. November 1882.

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Der „kleine Defect“ waren die beiden Fehlgeburten des Paares zwischen 1880 und 1882, die vom Ehemann in dem Brief nicht als Problem der Frau, sondern als gemeinsames Problem definiert wurden. In beiden vorausgehend zitierten Briefen war zudem vorsichtig andeutend von Sexualität die Rede. Und so wie sich auch über Krankheiten oder Nerven die Körperlichkeit zum Thema machen konnte, konnte in deren Geleit auch über tabuisiertere Themen wie die Sexualität andeutungsweise gesprochen werden. So antwortete Emil Colsman auf den Kinderwunsch seiner Frau in derselben Diktion: „Du wolltest auch von mir Christkindchens Wünsche? Du hast dies aber schon Alles Beste gewünscht, u. da was Dein ist, auch mein ist, so thue ich halb part an Storchenkindchen, gesunden Rücken Liebe etc.“206 Für Emil und Mathilde Colsman spielten Malerei, bildende Kunst, Musik und Theater in ihrer Ehe eine wichtige Rolle. Jede seiner Geschäftsreisen und ihre gemeinsamen Privatreisen waren begleitet von abendlichen Besuchen von Konzerthäusern oder Theatern. Emil Colsman besuchte regelmäßig Orgel- und Chorkonzerte in St. Paul’s in London oder im Berliner Dom,207 besuchte die Oper und die Museen in Wien und sah sich klassische Dramen auf den Berliner Bühnen an.208 Diese beurteilte er in Briefen an seine Frau regelmäßig: „Gestern war ich mit Paul [Colsman] u. Friedr. [Colsman] in Schillers ‚Braut von Messina‘; herrliche Sprache, aber in der furchtbaren Schicksalstragödie kein dramatischer Zusammenhalt, wenigstens vermißte ich die Shakespear’sche Klarheit und Wahrheit. […] Heute habe ich mich hieher auf meine Stube retirirt, um nachher vielleicht noch bei ‚Bilse‘ [privates Berliner Konzerthaus, CG] in der Leipzigerstraße die eine od. andere ‚Symphonie‘ mit Otto u. Peter zu hören.“209

Emil und Mathilde Colsman wandten sich im Kaiserreich verstärkt dem Feld der Kunst zu. Dies durfte für sie aber nicht zulasten anderer sozialer Felder wie des Berufs oder der Familie gehen. Die eigentliche Kunst war die Ausbalancierung der Felder innerhalb der Lebensführung. Welche Felder dies im Einzelnen waren, musste die einzelne Person entscheiden. Dieses gesamtbürgerliche Lebensideal bewirkte keine vollständige soziale Kohäsion des Bürgertums, die bürgerlichen Großgruppen des Wirtschafts- und des Bildungsbürgertums bestanden weiterhin. Aber die bürgerlichen Wissenskulturen und Lebensformen 206 207

Archiv ACE, Sign. V,17, Emil Colsman an Mathilde Colsman, 7. Dezember 1882. Vgl. Archiv ACE, Sign. IV,8, Emil Colsman an seine Verlobte Mathilde Schniewind, 17. Juli 1877. 208 „Gestern Abend hörten wir herrliche Domchor Musik im Dom, meist Bach u. Palestrini. Kostbar – schade daß du nicht dabei sein konntest. Einzelnes war wie warmes Gebet!“ Archiv ACE, Sign. V,17, Emil Colsman an Mathilde Colsman, 10. November 1882, aus Berlin. Vgl. auch Archiv ACE, Sign. V,12, Emil Colsman an Mathilde Colsman, 20. und 21. November 1879. 209 Archiv ACE, Sign. V,12, Emil Colsman an Mathilde Colsman, 28. November 1883. Vgl. Archiv ACE, Sign. IV,2, Emil Colsman an Mathilde Colsman aus Hamburg, 21. November 1893: „Ich will noch eben einige Geschäftszeilen schreiben u. dann sehen, ob noch Zeit für Vortrag od. Trobadour Musik ist!“

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des Kaiserreichs, „auf der einen Seite die Welt des Beamtentums“, „auf der anderen Seite […] die Welt der Wirtschaft und Technik“,210 waren doch nicht scharf getrennt. Das steigende Bildungsniveau der Unternehmer – im Kaiserreich in der Familie Colsman mindestens die Einjährig-Freiwilligen-Berechtigung, nach der Jahrhundertwende schließlich regelmäßig das Abitur211 – ließ den Abstand zwischen den erreichten Bildungspatenten ohnehin schrumpfen und machte bei steigendem Interesse vieler Unternehmer an Kultur und Wissenschaft auch den Bildungsdünkel mancher Akademiker obsolet.212 Vergleichbar mit Wilhelm Colsman-Bredt und Adele Colsman war auch für Emil und Mathilde Colsman Großbritannien eine wichtige Referenz, sowohl geschäftlich als auch in der Lebensführung. Wie ihr Ehemann beherrschte Mathilde Colsman die englische Sprache sehr gut. In ihrem Berliner Mädchenpensionat waren die modernen Fremdsprachen besonders wichtig genommen worden, insbesondere der alltägliche Umgang mit den britischen Mitpensionärinnen sollte die Mädchen dazu anhalten, viel Englisch zu sprechen.213 Da dieses Berliner Pensionat aber nach Auskunft Mathildes auch viele Töchter hochrangiger Militärs beherbergte, war die englische Sprache nicht nur ein gezieltes Angebot an die Töchter international engagierter Unternehmer, sondern Teil eines realistischen Bildungsangebots auch für andere soziale Schichten, hier Teile des Offizierskorps, die sich mit dieser Pensionatswahl in der Bildung weniger national positionierten als man annehmen könnte.214 Emil und Mathilde Colsman korrespondierten miteinander auch in englischer Sprache, wobei solche Briefe zumeist geschrieben wurden, wenn sich Emil Colsman auf einer seiner vielen Englandreisen befand wie hier in London: „A first letter from old England to my dear girl in the Fatherland may begin in the language of the country, and tell her ‚that she is always the same, my own & my all!‘ […] Yes, my darling, the distance that separates us now has become some miles larger, but I could not say really that my thoughts were afraid of the way & wondered more seldom to you, & I trust it was the same with you.“215

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Titze/Herrlitz/Müller-Benedict/Nath, Wachstum und Differenzierung der deutschen Universitäten, S. 19. Vgl. Kapitel IV über Schulbesuch und Sozialisation der Jungen sowie Zunkel, Das Verhältnis des Unternehmertums zum Bildungsbürgertum, S. 84ff.; Augustine, Patricians and Parvenus, S. 55ff. Vgl. Budde, Blütezeit des Bürgertums, S. 11; Groppe, Familienstrategien und Bildungswege in Unternehmerfamilien 1840–1920. Vgl. dazu Kapitel V über die Sozialisation der Mädchen, Teilkapitel 3. Vgl. Archiv ACE, Sign. VI,22, Mathilde Colsman an ihren Vater Heinrich Ernst Schniewind, 19. Dezember 1869. Archiv ACE, Sign. IV,8, Emil Colsman an Mathilde Schniewind aus London, 17. Juli 1877. Anreden an seine Frau lauteten häufiger „My own beloved darling“. Archiv ACE, Sign. V,17, Emil Colsman an Mathilde Colsman, o. D., etwa 1884. Viele Briefe schlossen auch mit englischen Sätzen: „Also, take it cool by all means and be very careful & happy in all regards, won’t you my darling?“ Archiv ACE, Sign. VII,33, Emil Colsman an Mathilde Colsman, 3. Mai 1883.

Auch Wilhelm Colsman-Bredt streute in seine Briefe häufig Anglizismen ein. An seinen Sohn Paul in der Ausbildung im Ausland schrieb er beispielsweise, er wolle diesen nur in einer Gesellschaft sehen, die „tip top & first rate in Gesinnung & Erziehung“ sei. Auch in Briefen an seine Frau gab es solche Wendungen: „Als Verkäufer von schwarzen Seiden Waaren umherzuziehen ist wahrlich kein Spaß, allein es gehört mal zum Beruf & so it must be done.“216 Wie für Wilhelm Colsman-Bredt und Adele Colsman waren die Gründung des Kaiserreichs und seine politische und ökonomische Entwicklung auch für Emil Colsman und seine Frau eine positive Errungenschaft. Als früherem Unteroffizier im deutsch-französischen Krieg 1870/71 fehlte es Emil Colsman nicht an Begeisterung für Kaiser und Reich, und er schrieb 1882 an seine Frau aus Berlin: „Nachher wollten wir dem lieben Kaiser unsern u. Eure Grüße bringen, aber er ließ uns mit Tausenden vergeblich mit den Soldaten der Hauptwache an seinem Fenster vorüberziehen.“217 Gleichzeitig unterstützte er parteipolitisch aktiv die freikonservative Partei („Deutsche Reichspartei“), wie dies auch sein älterer Bruder Adalbert tat, eine Bismarckpartei ohne Wenn und Aber, jedoch anders als die traditionellen Konservativen pro-kapitalistisch und politisch kompromissfähig, das Deutsche Reich als Errungenschaft begrüßend, die Monarchie ohne Einschränkung unterstützend und eine durchgreifende Parlamentarisierung des politischen Systems, wie dies auch die Nationalliberalen taten, ablehnend.218 Sein Vetter Andreas Colsman (1840–1917), wie Wilhelm Colsman-Bredt Teilhaber von Gebrüder Colsman, war wie Emil Colsman Kriegsteilnehmer im Rang eines Offiziers im deutsch-französischen Krieg gewesen, war jedoch wie Wilhelm Colsman-Bredt nationalliberal gesinnt und politischer Sprecher und Organisator der Nationalliberalen in Langenberg vor dem Ersten Weltkrieg, die sich ab den 1880er Jahren allerdings dem konservativen Parteienspektrum annäherten.219 Zugleich hielt Emil Colsman mit wachsender Berufspraxis als international agierender Unternehmer zunehmend Distanz zum Militär und war in Selbstpräsentation und sozialer Interaktion wenig geneigt, dem Militär eine herausgehobene gesellschaftliche Position zuzugestehen:

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Archiv WHC, Sign. 142, Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 19. Oktober 1879; FFA, B4g57, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 2. Mai 1865. 217 Archiv ACE, Sign. V,17, Emil Colsman an Mathilde Colsman, 12. November 1882. Ähnlich schon 1879: „Der treue, alte Kaiser war auch andächtig da, u mir kam eine Thräne ins Aug, dass Gott ihn uns u unserm Volk so wunderbar noch gelassen hat.“ Archiv ACE, Sign. V,12, Emil Colsman an Mathilde Colsman, 23. November 1879. 218 Vgl. zu den konservativen Parteien im Überblick Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2, S. 332ff. 219 Vgl. zu den parteipolitischen Präferenzen der Langenberger Unternehmer Quandt, Sozialgeschichte der Stadt Langenberg, S. 184f., S. 228ff. Die nationalliberale Partei durchlief am Beginn des Kaiserreichs mehrere programmatische Stadien und wurde in den 1880er Jahren schließlich „bismarck-treu, etatistisch, stramm national, imperialismusfreundlich“. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 3, 1849–1914, S. 873.

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„Gestern kam plötzlich ein militärischer Besuch in Gestalt meines Landwehr Commandeurs Oberst Lt. von Heye an; er unterhielt uns einige Tage resp. Stunden ganz gut, aß mit uns u empfahl sich glücklicherweise am Nachmittag wieder. Unsereins paßt doch nicht so arg gut mehr zum bunten Rock u. bin ich dankbar in der Landwehr bereits eine entferntere Stufe erreicht zu haben, in der man so als alter erfahrener Krieger sich als manches Fernbleiben von allen möglichen Geschichten erlauben kann.“220

Für Wilhelm Colsman-Bredt spielten der Militärdienst und Militärisches ohnehin sein ganzes Leben lang keine Rolle. Weder nahm er das Militär als eine schätzenswerte soziale Formation in der Gesellschaft wahr, noch romantisierte er als Erwachsener seine eigene Militärzeit. Das Militär kam in seiner wirtschaftsbürgerlichen Welt nach dem abgeleisteten Wehrdienst schlicht nicht mehr vor. Erst sein Sohn Paul sollte das Militär stärker schätzen, aber auch für ihn besaß es nach dem Wehrdienst nur noch eine geringe Bedeutung in seinen Selbstpräsentationen und Handlungsorientierungen.221 Wie auch Wilhelm Colsman-Bredt und seine Frau waren Emil und Mathilde Colsman stolze Bürgerinnen und Bürger des neuen deutschen Kaiserreichs. Gleichwohl besaßen sie in ihrer Lebensform einen internationalen Referenzrahmen, der insbesondere Großbritannien, aber auch weitere europäische Staaten und die USA einschloss. Da Wohlstand und geschäftlicher Erfolg eng mit internationalen Geschäftsbeziehungen verflochten waren, waren deutsche Chauvinismen nicht hilfreich. Weit eher zeigte sich auch in ihrer Ehe die horizontale Vernetzung eines internationalen Wirtschaftsbürgertums, das mehr mit den britischen oder US-amerikanischen Geschäftskollegen und ihren Familien als mit dem deutschen Adel und Bildungsbürgertum Umgang pflegte. Während wirtschaftsbürgerliche Kontakte intensiv gepflegt wurden, waren Verbindungen zum Adel gar nicht existent, und die Verbindungen zum Bildungsbürgertum beschränkten sich auf die Gesprächskreise der Unternehmer mit den bildungsbürgerlichen Honoratioren im sogenannten „Kränzchen“ am Heimatort.222 Leistungen in der Ökonomie, Kultur und Politik wurden zwar inzwischen deutlich als ‚nationale‘ deutsche Errungenschaften betont, Großbritannien und andere Staaten blieben aber weiterhin die ‚Märkte‘, auf welche die eigenen Unternehmen angewiesen waren, und wurden im Bewusstsein der Unternehmer nicht primär zu nationalen Konkurrenten. Zugleich waren die europäischen Nachbarstaaten und die USA Orte sowohl geschäftlicher als auch persönlicher Kontakte und Beziehungen: Wachsender Nationalstolz verband sich auch weiterhin mit internationaler Lebensführung. 220

Archiv ACE, Sign. IV,8, Emil Colsman an seine Verlobte Mathilde Schniewind, 7. Juli 1877. 221 Vgl. zum einjährig-freiwilligen Militärdienst und zu den militärischen Sozialisationserfahrungen der männlichen Familienmitglieder Kapitel VI über Einjährige, Militär und Männlichkeit. 222 Alle Langenberger Unternehmer waren dort Mitglied, ebenso wie die örtlichen Bildungsbürger. Emil Colsman trat Ende der 1870er Jahre ein. Vgl. FFA, B4j71, Chronik des Kränzchens, Bd. 1.

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Innerhalb der Ehe agierten Mathilde und Emil Colsman ähnlich wie Wilhelm Colsman-Bredt und Adele Colsman. Während die Geschlechterräume klar definiert waren, dem Mann der Beruf und das Unternehmen, der Frau das Haus und die Kinder, bedeutete dies nicht, dass berufliche Arbeit, Firmenentwicklung und Geschäftsprobleme rein männliche Angelegenheiten blieben. Genaue Informationen für die Ehefrau und gemeinsame Beratungen darüber waren auch für dieses Ehepaar selbstverständlich.223 Die mehrfachen Nervenerkrankungen Emil Colsmans präsentierten zudem innerhalb der Unternehmerfamilie und der Semi-Öffentlichkeit des Unternehmens ein Männlichkeitsbild, das nicht auf Willenskraft, körperlicher Stärke und permanenter Leistungsfähigkeit beruhte, sondern auch Schwäche, Überlastung und zeitweise Passivität beinhaltete. In diesen Zeiten avancierten die Ehefrauen zu denjenigen, die das bürgerliche Lebensmodell der Balance aufrechterhielten. Je schwächer die Selbstpräsentation des Mannes, umso stärker („energischer“) wollten die Frauen sein. Auf diese Weise konnten ausbalancierte Lebensführungen interaktiv aufrechterhalten werden, als Austarierung zwischen nervösen Männern und energischen Frauen; langfristig aber auch als wiederhergestellte innere Balance jeder einzelnen Person.

5. Maschinen und Tempo: Paul Colsman und Elisabeth Barthels Paul Colsman (1861–1922) war der älteste Sohn Wilhelm Colsman-Bredts und Adele Colsmans. Er absolvierte ab 1880 wie schon sein Vater vor ihm eine zweijährige Lehrzeit in der Firma Ph. Barthels-Feldhoff in Barmen und ab 1882 ein einführendes Praktikum im Familienunternehmen Gebrüder Colsman, verbunden mit Auslandsreisen. 1883/1884 schloss sich der Militärdienst an, im Herbst 1884 erfolgte ein erneutes Praktikum im Familienbetrieb, 1885 dann ein mehrmonatiger Aufenthalt bei Geschäftspartnern in der Schweiz und in Lyon. 1886 trat er in das Familienunternehmen ein, 1888 heiratete er mit siebenundzwanzig Jahren Elisabeth Barthels (1866–1965), die zweiundzwanzigjährige Tochter seines ehemaligen Lehrherrn, 1891 erfolgte die Aufnahme als Teilhaber bei Gebrüder Colsman.224 Die Eheschließung und Ehebeziehung Paul und Elisabeth Colsmans waren begleitet von Konflikten zwischen Paul Colsman und seinem Vater Wilhelm „Ich habe bisher hard work nicht gerade mit viel Plaisir gehabt; es ist sehr gut, daß ich mal wieder dazwischen, die Concurrenten haben unser Fernsein nach Kräften benutzt Kuckuckseier zu legen, deren herauswerfen zunächst meine angenehme Thätigkeit sein muß, was um so schwieriger als wir noch mit ungelegten Eiern resp. Waaren, die erst geliefert werden sollen, zu thun haben! Nun ich thue mein Bestes u der Segen dazu ist Geschenk; im Ganzen haben wir ja viel Grund zu danken, weil reichlich Arbeit.“ Archiv ACE, Sign. VII,33, Emil Colsman an Mathilde Colsman aus London, 1. Juni 1886. 224 Vgl. Archiv WHC, Sign. 46, Familienchronik Paul und Elisabeth Colsman, 1880–1931. 223

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Colsman-Bredt, die sich aber nicht auf einen Vater-Sohn-Konflikt beschränkten, sondern im Unternehmen zwischen den älteren Teilhabern insgesamt und dem jüngeren ausgetragen wurden. Dreh- und Angelpunkt war die Umgestaltung des Unternehmens zu einem Fabrikbetrieb mit mechanischen Webstühlen. Obwohl die älteren Teilhaber von der Notwendigkeit überzeugt waren, betrachteten sie doch den konkreten Umbau mit Skepsis und überließen ihn fast vollständig dem erst sechsundzwanzigjährigen Paul Colsman. Während seines Aufenthalts in der Schweiz (Rapperswil, Rüti) und in Lyon 1885/86 hatte dieser, neben dem Erwerb von weiteren Kenntnissen in der Seidenweberei, im Auftrag der älteren Teilhaber Studien zu den neuesten Entwicklungen der Textilmaschinen und mechanischen Webstühle gemacht.225 Parallel diskutierte Paul Colsman mit seinem Vater einen möglichen Standort für die neue Fabrik und bestärkte seinen Vater in der Entscheidung für die Umstellung auf Fabrikfertigung: „Daß man mechanisch den größeren Theil unserer Artikel heute herstellen kann & herstellt unterliegt keinem Zweifel & ich pflichte Deiner Ansicht voll & ganz bei, daß der letzte Moment zum rechtzeitigen Eingreifen entschieden gekommen ist. H. Vollenweider in Zürich, Antheilhaber bei Stehli & Hirt, mit dem ich vor meiner Abreise noch einen gemüthlichen Abend hatte, sagte mir: ‚Ich rathe Ihnen als Freund, obgleich wir Concurrenten, zögern Sie nicht mehr mit der mechanischen Weberei. Das Heil liegt im Dampf!‘ […] Stehlis Absatz ist hauptsächlich London, wo es, wie mir gestern noch mein Freund sagte, ordentliche Orders gibt von 500, 600 Stück & hie & da 1000 ganz & halbseidene Waare am Strang gefärbte Satins, Merveilles, Serges etc. können wir da keinen Happen von mit bekommen?“226

Im Frühjahr 1886 entschieden sich die Teilhaber von Gebrüder Colsman für einen Bauplatz in der der Stadt Langenberg benachbarten Gemeinde Kupferdreh, und Paul Colsman schrieb an seinen Freund Peter Conze: „[…] es kommt mir oft noch selbst wie ein Traum vor, daß ich nun endgültig in das elterliche Heim zurückgekehrt bin. Noch gerne wäre ich in Lyon geblieben, aber Papa wünschte, daß ich so plötzlich zurückkehrte, da der Gedanke an eine Dampfweberei plötzlich Gestalt & Form in ihm bekam & Papa der Ansicht ist, daß diese Arbeit mal meinen jungen Schultern aufgeladen werden soll & ich so Gelegenheit finde, mir die Sporen zu verdienen.“227

Nach den vielen Auslandsaufenthalten im Rahmen seiner Ausbildung präsentierte sich Paul Colsman bei seiner Rückkehr gegenüber seinem in Berlin studierenden Freund Peter Conze als durch das Kleinstadtleben in Langenberg gelangweilt und einsam. „Das dörfliche Leben ist mit kleiner Ausnahme einförmig & einthönig“,228 schrieb er ihm. Als Fünfundzwanzigjähriger wieder im elterlichen Haus lebend, bewertete er den Generationsabstand zwischen sich und den 225 226 227 228

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Vgl. FFA, 5.31, Reisebriefe Paul Colsmans an Wilhelm Colsman-Bredt, 1886. FFA, 5.31, Paul Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 11. März 1886. Archiv WHC, Sign. 2, Paul Colsman an Peter Conze, 24. Juli 1886. Archiv WHC, Sign. 2, Paul Colsman an Peter Conze, 14. September 1886.

Eltern neu: „Meinen Eltern geht es so ziemlich gut; ich finde Papa ungemein alt geworden & Mama eigentlich weniger widerstandsfähig. Wir leben so still beschaulich in unserem Bau.“229 Damit wurde die Eltern-Kind-Beziehung in dem Brief neu definiert, nämlich als Konstellation eines jungen Erwachsenen mit alternden Eltern, der sich durch die Wohn- und Arbeitssituation gleichwohl noch im Status eines Abhängigen befand. Die Problematik, die daraus erwuchs, sollte sich, wie im Verlauf dieses Kapitels noch geschildert wird, vor allem in Konflikten um die Unternehmensleitung ausdrücken.230 Im August 1887 wurde die neue Fabrik eingeweiht. An seine Verlobte Elisabeth schrieb Paul Colsman: „Heute Morgen fuhr Papa & ich programmgemäß nach Kupferdreh um den Bau quasi seiner edlen Bestimmung zu übergeben. Auf den beiden vorderen Ecken der Fabrik hatten die Meister große Fahnen befestigt, die munter im frischen Winde flatterten. Papa brachte dann eigenhändig den ersten Seidenpack in den Websaal & setzte ich den ersten Strang zum Abwinden auf der Windemaschine in Bewegung. Soweit wären wir dann glücklich mit dem Bau gediehen & wollen wir hoffen, daß der liebe Gott unsere Arbeit dort im schönen Ruhrthal segnet […].“231

Um die Jahrhundertwende liefen in der Fabrik bereits rund 900 Stühle, und das Unternehmen beschäftigte rund 1.000 Arbeiter und Angestellte.232 Zu dieser Zeit betrug der Anteil des Kupferdreher Betriebs am Gesamtumsatz rund fünf Millionen Mark von insgesamt rund sechs Millionen.233 Die Handweberei wurde um die Jahrhundertwende vollständig eingestellt. Die Inventare des Unternehmens zeigen in den Jahren zwischen Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg große Auslieferungslager bei den Agenturen in London und New York, welche alle anderen im verzeichneten Wert so weit übertrafen (z. B. London mit rund 513.000 Mark und New York rund 577.000 Mark im Jahr 1900), dass sie drei Viertel des Gesamtumsatzes ausmachten.234 Ein ab 1900 geführtes 229 230

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Archiv WHC, Sign. 2, Paul Colsman an Peter Conze, 24. Juli 1886. Thomas William Taylor führt die männlich-bürgerlichen Generationskonflikte im deutschen Kaiserreich vor allem auf die langen Bildungswege und Ausbildungsphasen bis ins junge Erwachsenenalter zurück und nicht auf autoritäre Erziehungsstile und Familienverhältnisse. Vgl. Taylor, The Crisis of Youth in Wilhelmine Germany, S. 36ff., S. 190ff. Ähnlich Augustine, Patricians and Parvenus, S. 92. Meine eigenen Analysen stützen diese These, vgl. auch Kapitel IV über Schulbesuch und Sozialisation der Jungen, Teilkapitel 4.3. FFA, 5.31, Paul Colsman an Elisabeth Barthels, o. D., im August 1887. Vgl. FFA, 9.27, Aufzeichnungen zur Firmengeschichte; FFA 4.81, Webstuhlverzeichnis 1905/06; Archiv WHC, Sign. 46, Familienchronik Paul und Elisabeth Colsman, 1880– 1931. Vgl. FFA, 9.34, Firmengeschichte Gebrüder Colsman. Als jüngster Teilhaber war Paul Colsman mit dem geringsten Anteil am Firmengewinn (17%) beteiligt. Ab 1902, nach dem Tod seines Vaters, wurde der Gewinnanteil neu berechnet, so dass alle älteren Teilhaber 22% erhielten und der neu eingetretene Teilhaber Johannes Colsman, der jüngere Bruder Paul Colsmans, 12%. Vgl. FFA, 2.51a, Gewinn- und Verlustbeteiligungen der Teilhaber 1794–1922. Vgl. FFA, 4.29, Inventarien 1900–1910.

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Kundenregister verzeichnete für die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg zugleich einen weltweiten Kundenstamm, der die Artikel des Unternehmens: Schirmund Futterstoffe, Krawatten und Stoffe für Damen- und Herrenoberbekleidung, abnahm. Darunter befanden sich überall sowohl weiterverarbeitende Fabriken (Schirmfabriken, Fabriken für Konfektionswaren, Futterstoffe und Oberbekleidung usw.) als auch Einzelhändler. Allein für Berlin waren knapp 200 Kunden verzeichnet, für Breslau nochmals 90, Brüssel besaß 75, Konstantinopel 85 Kunden, aber auch deutsche Städte wie Dresden, Frankfurt a. M., Hamburg, Köln, Krefeld und Leipzig wiesen größere Kundenstämme von jeweils mehr als 30 Kunden auf. Auch Wien, Amsterdam, Paris und fast alle weiteren Metropolen und Hauptstädte Europas waren mit größeren Kundenstämmen verzeichnet, Wien beispielsweise mit rund 60. Alles wurde aber in Zahl und Bedeutung von London mit über 400 Kunden übertroffen, wozu noch Manchester mit nochmals rund 50 Kunden kam. Die USA waren nur mit der New Yorker Agentur Fredk. Vietor & Achelis verzeichnet, welche die Produktpalette von Gebrüder Colsman aber für den gesamten US-amerikanischen Markt vertrieb.235 Dem US-amerikanischen Markt wurde im Unternehmen zudem wachsende Aufmerksamkeit geschenkt. Johannes Colsman, Paul Colsmans 1868 geborener jüngerer Bruder, war der erste, der 1892 für zwei Jahre nach New York ging, 1900 hielt er sich nochmals dort auf. Seit dieser Zeit absolvierte eine Reihe von Söhnen ein- bis zweijährige Ausbildungsphasen bei Fredk. Vietor & Achelis in New York, so der Sohn Andreas Colsmans, Eduard Andreas, von 1910–1911 und Paul Colsmans ältester Sohn Wilhelm vom Mai 1914 bis zum August 1914, als er als Reserveoffizier zum Kriegsdienst einberufen wurde.236 Paul Colsman hatte seine spätere Ehefrau Elisabeth bereits als Jugendliche während seiner Lehrzeit (1880–1882) im Textilunternehmen ihres Vaters, Philipp Barthels, in Barmen kennengelernt. 1886 intensivierte sich augenscheinlich die Beziehung. In einem Brief an seinen Freund Peter Conze schilderte Paul Colsman dann 1887 die komplexen Konventionen der Brautwerbung: „Verschiedene Veranlassungen gaben mir Gelegenheit mit Papa über meine Stellung zu Frl. Barthels […] zu sprechen & da war die Sache dann rasch dahin klar gestellt, daß, wenn ich nun einmal die & keine andere wollte, es sich gleich stünde, ob jetzt oder später angefragt würde & kannst du dir leicht denken, daß ich für sofortige Kriegserklärung eintrat. Papa hatte, nachdem die beiden Eltern meinen Entschluß gebilligt hatten, dann auch die Güte mit H Barthels zu reden & folgte auf diese Unterredung vor einigen Tagen, ich darf wohl sagen, recht günstiger Bescheid, so daß Papa schreiben konnte: ‚mein Sohn möchte gerne je früher desto lieber antreten etc.‘ […]. Soeben habe ich nun von H B. Nachricht bekommen, daß ich Samstag zwischen Tag & dunkel antreten darf & da wollte ich dann nicht verfehlen, dir von dem Stand der Dinge Mittheilung zu machen,

Vgl. FFA, 5.71, Kundenregister 1900–1919. Das Register verzeichnet knapp 2.000 Kunden im In- und Ausland. 236 Vgl. Archiv WHC, Sign. 46, Familienchronik Paul und Elisabeth Colsman, 1880–1931. 235

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dich bittend die Sache einstweilen noch ganz diskret für dich zu behalten & eine Depesche, die ich dir schicken werde, abzuwarten.“237

1887 war Paul Colsman mit sechsundzwanzig Jahren nur Angestellter im Familienunternehmen, und es war keineswegs ausgemacht, ob und wann er Teilhaber werden würde.238 Gegenüber der unternehmerisch tätigen Familie der einundzwanzigjährigen Braut musste die Familie des Bräutigams deshalb darlegen, dass eine statusgemäße Lebensform für die Tochter langfristig gesichert war. Auf ganz förmliche Weise war die Brautwerbung deshalb durch Paul Colsmans Vater Wilhelm Colsman-Bredt in einem Brief an Philipp Barthels eingeleitet worden: „Sehr geehrter Herr Barthels! Nachdem ich gestern Nachmittag gegen 4 leider vergeblich versucht Ihnen meine Aufwartung zu machen, hoffe ich Sie inzwischen von Ihrer Reise wohlbehalten heimgekehrt und bitte freundlich mir eine Stunde der nächsten Tage gefl. bezeichnen zu wollen, wann ich Sie zu Hause treffen könnte um Ihnen eine Angelegenheit vorzutragen, deren privater Charakter die strengste Discretion für mich wünschenswert macht! Inzwischen bleibe ich mit achtungsvoller Ergebenheit und bestem Gruße Ihr Wilhelm Colsman“239

Diese Brautwerbung war allerdings nur die Vorderbühne für eine zwischen Paul Colsman und Elisabeth Barthels bereits getroffene Verabredung. Bereits einige Tage zuvor hatte Elisabeth Barthels einen Liebesbrief an ihren späteren Verlobten geschrieben: „[…] da steht’s nun zum allerersten Male, und es sieht gar lieb aus – du würdest Freude haben über das glückliche Gesicht, das ich der wohlgelungenen Schriftzüge wegen aufsetze. Es sind tausend neue selige Empfindungen und ein ganz neues Glück […].“240 Dennoch war eine Eheschließung ohne Einverständnis der Brauteltern rein rechtlich bis zum Eintritt der Mündigkeit nicht möglich. Elisabeth Barthels war erst einundzwanzig Jahre alt, also noch nicht mündig, was bis 1900 erst im Alter von fünfundzwanzig Jahren eintrat. Darüber hinaus waren auch verheiratete Frauen bis zum Ende des Kaiserreichs keine vollständig mündigen Rechtspersonen, sondern sie gingen sowohl im bis 1900 gültigen „Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten“ (ALR) als auch im dann reichsweit gültigen „Bürgerlichen Gesetzbuch“ (BGB, gültig ab 1900) von der Vormundschaft des Vaters in die des Ehemanns

237 238

Archiv WHC, Sign. 2, Paul Colsman an Peter Conze, 10. Februar 1887. 1891 erfolgte schließlich die Aufnahme als Teilhaber. 1901 besaß Paul Colsman ein im Unternehmen verbleibendes Vermögen von gut 600.000 Mark, 1907 von rund 900.000 Mark. Vgl. FFA, 4.35, Bilanz-Konten 1895–1908. In einer privaten Vermögensaufstellung, die Paul Colsman 1907 für sich anfertigte, zeigt sich, dass sein Gesamtvermögen höher war als das Vermögen, das ihm im Unternehmen zukam. Er hatte durch seine Frau eine Erbschaft gemacht und besaß darüber hinaus Aktien und Immobilien. Er selbst taxierte sein Gesamtvermögen auf rund drei Millionen Mark. Vgl. Archiv WHC, Sign. 37, Vermögensaufstellung Paul Colsman 1907. 239 Archiv WHC, Sign. 176, Wilhelm Colsman-Bredt an Philipp Barthels, 3. Februar 1887. 240 Archiv WHC, Sign. 148, Elisabeth Colsman an Paul Colsman, 1. Februar 1887.

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über.241 Das Bürgerliche Gesetzbuch schuf ab 1900 aber auch den Status einer rechtlich vollständig mündigen Frau, allerdings nur für unverheiratete Frauen.242 Es nahm damit Bezug auf die sich verändernde Lebenswelt im späten Kaiserreich und die Emanzipationsbestrebungen von Frauen, ohne allerdings die Familienverhältnisse anzutasten. Auf den förmlichen Brautwerbebrief Wilhelm Colsman-Bredts folgte zunächst ein Treffen der Väter auf ‚neutralem‘ öffentlichen Terrain, in einem Bahnhofsrestaurant der Ersten Klasse im Hauptbahnhof der Stadt Elberfeld, bei dem vermutlich Fragen der beruflichen Lage und der Berufsperspektiven des zukünftigen Ehemanns, aber auch Fragen der Mitgift und Aussteuer besprochen wurden sowie Aspekte des Wohnorts und der bürgerlichen Lebensführung. Drei Tage später schrieb Philipp Barthels einen zusagenden Brief an Wilhelm Colsman-Bredt.243 Dieser antwortete im Namen der Bräutigamseltern: „Mein lieber Herr Barthels! Als wir gestern Abend gegen 10 […] heimkehrten, fanden wir Ihren freundlichen Brief und jubelten laut auf, als wir die Nebel gelichtet, der Ungewißheit ein Ende gemacht und frohe Hoffnungen zur Wirklichkeit sich gestalten sahen! Haben Sie frdl. Dank, daß Sie es kurz gemacht […] haben! […] möge Gottes reicher Segen auf unseren Kindern ruhen und wie nicht allein hier, Sie [...], des bin ich sicher um einen treuen gehorsamen Sohn, wir um eine liebliche Tochter reicher werden, sondern auch die Verheißung sich erfüllen: der Eltern Segen baut den Kindern Häuser! […] Wir bleiben also Ihre weiteren Nachrichten erwartend, Paul grüßt strahlend, wäre am liebsten schon heute früh mit dem ersten Zuge gekommen! er ist jetzt zum Fabrikbau gefahren & läßt bitten ihn nicht gar zu lange harren zu lassen! […] Mit den herzlichsten Grüßen auch an Ihre liebe Frau und die theure Elisabeth, bleiben wir Ihre ergebenen Wilh. & Adele Colsman“244

Auf die Zusage des Brautvaters und das Antwortschreiben der Bräutigamseltern folgte die Einladung zum offiziellen Antrittsbesuch des Bräutigams: „Lieber Herr Colsman, Samstag den 12. d M gegen 6 Uhr wird mir Ihr Besuch willkommen sein. Bis dahin verbleibe ich unter herzlicher Begrüßung auch an Ihre lieben Eltern Ihr Ph. Barthels.“245 Ab jetzt agierte der Bräutigam und nicht mehr sein Vater: „Sehr geehrter Herr Barthels! Soeben empfing ich Ihre geehrten Zeilen von heute & kann nicht sagen, wie sehr mich dieselben beglücken! Gäbe es doch nur für dieses Mal ein Mittel die Zeiger der Uhr vorwärts zu schieben; wie träge werden sie morgen vorübergehen!! Indeß füge ich mich gerne in froher Hoffnung! Meine Eltern danken für

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Die entsprechenden Paragraphen des ALR (§ 184) und des BGB (§ 1354) sind abgedruckt bei Duncker, Gleichheit und Ungleichheit in der Ehe, S. 1147, S. 1160. Vgl. Zymek/Neghabian, Sozialgeschichte und Statistik des Mädchenschulwesens, S. 29. Elisabeth Colsman notierte in der Familienchronik: „2. Febr. Papa Colsman als Brautwerber in Wupperfeld. 5. Febr. 1887 Rendez-Vous unserer Väter am Döppersberger Bahnhofe. 8. Febr. 1887 zusagender Brief von Papa Barthels an Papa C.“ Archiv WHC, Sign. 46, Familienchronik Paul und Elisabeth Colsman, 1880–1931. Archiv WHC, Sign. 176, Wilhelm Colsman-Bredt an Philipp Barthels, 9. Februar 1887. Archiv WHC, Sign. 148, Philipp Barthels an Paul Colsman, 10. Februar 1887.

Ihre freundlichen Grüße & erwidern dieselben mit mir auf’s Herzlichste. […] Ihr treu ergebener Paul“246

Das Gespräch zwischen Brautvater und Bräutigam klärte dann nach den väterlichen Vorgesprächen nur noch letzte Feinheiten, denn am selben Abend, am 12. Februar 1887, fand im Elternhaus der Braut die Verlobung statt, im März 1888 heiratete das Paar. Paul Colsmans jüngere Schwester Emilie (1863–1927) hatte ihre Ehe 1884 ebenfalls bereits vorbereitet und eingefädelt, bevor sie ihre Eltern davon unterrichtete. In ihren Barmer Verwandtschafts- und Freundeskreisen verkehrte auch Hermann Engels (1858–1926), ein junger Textilfabrikant und Mitinhaber der Baumwollspinnerei Ermen & Engels in Engelskirchen. Wilhelm Colsman-Bredt schilderte das Zustandekommen der offiziellen Verlobung zwischen seiner Tochter und dem jungen Unternehmer seinem Sohn Paul, der in Berlin seinen einjährig-freiwilligen Militärdienst absolvierte: „Also Emilie war bei Erbslöh in Barmen & hatten sich dort am Montag auch ganz zufällig Emil & Hermann Engels eingefunden, […] letzterer unter einem anderen nichtigen Vorwande. […] Emilie sagte auch nur von Emils Anwesenheit & erwähnte Hermanns Anwesenheit gar nicht; überhaupt war dies nicht Aussprechen dieses Namens mir im December schon aufgefallen […]; ich versuchte seitdem, um mich bezüglich dieser Beobachtung zu vergewissern wiederholt das Gespräch auf Engels zu bringen, aber jedesmal mit dem gleichen negativen Erfolg, Alles erzählte sie, Alle nannte sie, nur den Einen nicht! das war jungfräuliches Wesen, jungfräuliche mir sehr gefallende & jetzt imponierende Zartheit & Schüchternheit. […] Mittwoch früh auf dem Comptoir fand ich manche Privatbriefe, uneingeschrieben & als ich einen nach dem anderen öffnete, war auch ein langer Brief von Hermann dabei, der in dürren klaren Worten um Emiliens Hand anhielt & um Erlaubniß zur persönlichen Attaque & Sturm bat! Ich fiel beinah vom Spiller, las wieder & wieder und dachte, da mußt du trotz der frühen Stunde mal Mama im Morgenschlaf stören! Glücklicher Weise hatte sie schon geschellt & sagte ich sie mögte sich mal den Morgenrock überwerfen, meine Unterhaltung kann wohl länger dauern! wie erstaunt sie war, kannst du denken! wir sprachen lange & ernst […]! Wir ließen das gute Kind Emilie kommen & sie sank uns in unsere Arme, an unsere Brust unter Thränen gestehend, daß ihr kleines Herzchen längst gefangen, längst verwundet war! sie sah den Ernst der Situation, der Entscheidung für ihr Lebensglück ein, war aber so sehr entschlossen & klar mit sich selbst, daß sie meinte er sei ja nicht böse & ich sollte ihm nur mal ‚prüfend näher treten‘! indeß meinte sie gleich, ich mögte es ihm nicht gar so schwer machen!“247

Wilhelm Colsman-Bredt formulierte in diesem Brief ein Weiblichkeitsideal, welches seine eigene Frau nicht repräsentierte.248 Für seine Tochter hielt er dagegen eine ‚zarte Weiblichkeit‘, die sich durch Schüchternheit und Zurückhaltung auszeichnete, offenbar für wünschenswert. Wilhelm Colsman-Bredt präsentierte in dem Brief auch unterschiedliche Verhaltensweisen gegenüber 246 247 248

Archiv WHC, Sign. 148, Paul Colsman an Philipp Barthels, 10. Februar 1887. Archiv WHC, Sign. 183, Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 15. Februar 1884. Vgl. dazu in diesem Kapitel die Teilkapitel 3.1–3.4.

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Ehefrau und Tochter. Mit seiner Frau Adele besprach er ausführlich die Bewerbung des jungen Mannes, und sie war auch, wie der nachfolgend zitierte Brief zeigt, bei dem Gespräch über Aussteuer, Mitgift, Berufslage des Bräutigams und zukünftige Lebensform des Paares anwesend. Erst nach dem erfolgreich verlaufenen Gespräch der Brauteltern mit dem zukünftigen Bräutigam wurde hingegen die Braut hinzugerufen, welche damit auch symbolisch von der einen Familie in die andere überging, ohne in diesem Stadium selbst einen aktiven Part einnehmen zu können. Dieser war für junge Frauen erst danach, in einem intimen Zwiegespräch mit dem Bräutigam, vorgesehen, wie in Wilhelm ColsmanBredts Brief an seinen Sohn deutlich wird: „[…] hatte ich dann mit Mama eine längere eingehende ernste Unterhaltung mit ihm, aus der er als ein sehr zuverlässiger gutgearteter Jüngling hervorging […] Wir rufen dann Emilie & nachdem sich Mama bald nach mir entfernt, bleiben die beiden bis ½ 8 in meinem Zimmer […]!! indeß ich glaube Emilie hat es ihm gar nicht schwer gemacht! […] Endlich, ging die Thüre auf, Clara hatte schon hundertmal gesagt, es sei ihr grade wie vor der verschlossenen Weihnachtsstube, nur viel ungeduldiger! […] brachte das Teleg. die frohe Botschaft prompt in alle Winde über’s Meer! du hast einen lieben, guten Bruder!“249

Im Anschluss an die erfolgte Verlobung war Wilhelm Colsman-Bredt freilich erstaunt, wie selbstverständlich die Verlobten miteinander umgingen: „Emilie ist eine sehr glückliche, frohe Braut! man kennt sie fast nicht mehr & ist Herm II ein sehr lieber Junge, der sicherlich gut zu uns & Euch paßt. Wie wunderbar es ist, daß die beiden sich so rasch ineinander eingelebt ist mir noch ganz unbegreiflich! bis October scheinen sie mir mit der Hochzeit nicht zu warten! aber wann? ich frage jedenfall nicht danach! es kommt einem sicherlich noch schnell genug & begreife ich oft wahrlich nicht, wie schnell einem solch ein Mädchen ausgeführt werden kann!“250

Vorder- und Hinterbühne, Eltern- und Bewerbergespräche und die vorherigen Verabredungen der Verlobten waren zwar nicht unabhängig voneinander, aber sie wiesen unterschiedliche Regeln und Tempi auf. Während sich der Vater über den schnell vertrauten Umgang der Verlobten wunderte, hatten diese offenbar schon vorab eine Beziehung geführt und entsprechende Verabredungen getroffen.251 Andererseits konnten die Regeln der Vorderbühne, schon aufgrund der 249 250 251

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Archiv WHC, Sign. 183, Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 15. Februar 1884. Archiv WHC, Sign. 183, Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 1. März 1884. Vgl. zu Möglichkeiten des Kennenlernens und zu Beziehungen von bürgerlichen Mädchen und Jungen im Kaiserreich Kapitel V über die Sozialisation der Mädchen, Teilkapitel 1.1 und 3, und Kapitel VI über Einjährige, Militär und Männlichkeit, Teilkapitel 4. Es gab aber auch Versuche der Brautwerbung, die scheiterten, nämlich wenn sie ohne die vorherige Verabredung der möglichen Brautleute vorgenommen wurden. Um eine weitere Tochter Wilhelm Colsman-Bredts und Adele Colsmans, Laura, hatte ein ihr nur flüchtig bekannter junger Mann geworben. Da die Tochter nicht zur Eheschließung mit dem Bewerber geneigt war, wurde er abgewiesen: „Die Eltern haben die Schwester dann gestern verhört & hat Laura gesagt, daß sie gegen den jungen Mann nichts einzuwenden hätte, daß er ihr aber den Eindruck gemacht, den sie ihm gemacht zu haben schien, könnte sie nicht behaupten. Äußerlich sei er ein hübscher Mann à là Koenigs

Rechtslage, nicht umgangen werden. Auch die Konventionen der Öffentlichkeit mussten eingehalten werden. So war eine aufwendige Selbstpräsentation der Verlobten als Liebende unabdingbar. Paul Colsman schrieb an seinen Freund Peter Conze: „Die wenige freie Zeit, die mir bleibt [Fabrikbau, CG], wird mehr als reichlich durch meine Pflichten und Obliegenheiten als Bräutigam ausgefüllt, daß der Abend immer früher da ist, als man glaubt. Die Bräutigamspflichten sind nun meist ganz angenehmer Natur, obgleich ich hie & da die Lust, ein Stündchen über die Berge zu reiten, mit der Pflicht eine Zeile an den Schatz zu schreiben, in Streit geräth in dem allerdings, zu meiner Ehre sei’s doch gesagt, fast immer die letztere Siegerin bleibt.“252

Indes waren die Briefe für Paul Colsman Verpflichtungen, welche ihm schwer fielen. Diese Problematik formulierte er auch gegenüber seiner Braut: „Wenn es auch schwer sein mag Briefe an ‚ihn‘ zu schreiben so scheint es mir noch ungleich viel schwerer an ‚sie‘; besonders wenn von ‚ihr‘ Briefe kommen wie dein gestriger, dann fühle ich mich geschlagen & arm! Aber du weißt Schätzchen, daß es meine Art nicht ist viel Worte zu machen & hat es mir stets gefehlt, Gedanken, Empfindungen oder wie man es nennen will, dem Papier anvertrauen zu können […] Ich hoffe nicht Schätzchen, daß dich meine trockenen prosaischen gestrigen Zeilen angeödet haben […]. Deck’ als den Mantel der Liebe darüber & nimm die feste Versicherung, daß ich das Schätzchen lieb habe & zwar innig & treu wie es einem deutschen Herzen geziemt & wie es aber auch nur ein deutsches Herz kann.“253

Anders als sein Vater und auch als sein Onkel Emil Colsman repräsentierte Paul Colsman eine Männlichkeit, welche Gefühle, die Nähe herstellen konnten, nicht offen artikulierte. Weil die Regeln des Briefverkehrs von Verlobten ihm dies aber abverlangten, behalf er sich damit, auf sein „deutsches Herz“ zu verweisen. Während eine solche Formulierung in den Briefen seiner Eltern nirgends vorgekommen war, wurden in diesem Brief nun nationale Stereotype aufgerufen: deutsches Gefühl war „innig & treu“, während die Treue-Formulierung in den Briefen seiner Eltern keine nationale Zuschreibung erfahren hatte. In Paul Colsmans Brief wurde dies zugleich so formuliert, dass es exklusiven Charakter besaß, also anderen Nationen nicht zukam. In den Briefen seiner Verlobten fanden sich solche Formulierungen in ähnlicher Weise, als zustimmende Wiederholung des „deutschen Herzens“.254 Elisabeth Barthels formulierte während nur leider etwas dick à la Paul. […] Nach deinem & auch wohl meinem Begriff von der wahren Liebe, die direct vom Herzen kommt & zum Herzen geht, scheint mir die Sache nicht zu sein & sucht Papa nur nach einer möglichst schonenden Form dem jungen Mann die Sachlage beizubringen.“ Archiv WHC, Sign. 152, Paul Colsman an seine Verlobte Elisabeth Barthels, 20. Juni 1887. 252 Archiv WHC, Sign. 2, Paul Colsman an Peter Conze, 14. September 1887. 253 Archiv WHC, Sign. 152, Paul Colsman an Elisabeth Barthels, 2. März 1887. 254 „[…] so denke ich immer und immer wieder, was du mir gesagt und lese so Schönes wie in deinem zweiten Briefe: daß du mich lieb hast, wie es einem treuen deutschen Herzen geziemt, wie’s auch aber nur ein deutsches Herz vermag;“ Archiv WHC, Sign. 148, Elisabeth Barthels an Paul Colsman, 22. März 1887.

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der Verlobungszeit auch ein Modell des Verhältnisses der Geschlechter, das ebenfalls anders war als das ihrer Schwiegereltern oder dasjenige Emil und Mathilde Colsmans: „Die wahre Frau muß nicht nur zur äußeren Behaglichkeit des Mannes beitragen, sie muß sein ganzes Fühlen und Denken teilen und verstehen, und beide müssen sich mitsammen den Frieden und das höchste Glücke auferbauen. […] ich kann dir’s gar nicht sagen, du bist mir tiefinnerstes Bedürfnis, ich brauche dich, um wahrhaft zu leben; wir Frauen sind eben nichts ohne Euren Geist, ohne daß Ihr für uns denkt und schafft, unser Halt, unsre Stütze seid. Das ist anders bei Euch, wir sind Euch lieb und teuer mit unserer Sorge, unserer Zärtlichkeit, aber Ihr bedürft innerlich unserer nicht, ‚ein Mann muß sich selbst genug sein‘.“255

Elisabeth Barthels konzipierte das Geschlechterverhältnis nicht konsequent als gleichwertig, wie dies Adele Colsman und Wilhelm Colsman-Bredt und auch Emil und Mathilde Colsman taten, sondern schrieb dem Mann eine Überlegenheit und höhere Autonomie zu. Eine ‚Ulme für das schwanke Efeu‘,256 diese Beschreibung des Verhältnisses zwischen Mann und Frau traf auf Elisabeth Barthels’ Vorstellung der Ehebeziehung zu: die Frau als Additiv des Mannes, weniger rational als dieser, nicht aktiv, sondern passiv und emotional, auf die Stütze und Fürsorge durch den Mann angewiesen. Damit rief sie die klassischbürgerliche Geschlechterkonzeption des öffentlichen Diskurses im Kaiserreich auf.257 Solche grundlegenden Erwägungen wurden von ihrem Verlobten brieflich allerdings nicht aufgegriffen. Vielmehr ging Paul Colsman wiederholt auf das ein, was in dem Brief seiner Verlobten als Handlungsorientierung für das Eheleben auch formuliert worden war: Gemeinschaft. Darauf nahm Paul Colsman mehrfach Bezug, insbesondere dann, wenn Missverständnisse oder Konflikte in der Beziehung entstanden waren: „Schatz, ich bitte dich innig & herzlich, habe Geduld & Nachsicht mit meinem Wesen & häufig nicht genügend beherrschten Gefühlen! Als Milderungsgrund kann ich höchstens meine übergroße Liebe zu dir anführen […] Ich bitte dich wiederholt, mein theurer Schatz, habe Nachsicht mit mir & wenn ich dir zu nahe getreten bin, so verzeihe mir!! […] laß mich an dem, was in deinem Inneren vorgeht, mehr & mehr partizipiren, lassen wir das Schwere, was uns drückt, in gemeinsamer Liebe zusammen tragen & so einer in des anderen Wesen eindringen […].“258

Die Handlungsorientierung, die Ehe als Gemeinschaft mit getrennten Sphären zu begreifen, teilten die Verlobten miteinander. Damit verbunden waren beiderseitige Appelle, das Gespräch miteinander als Konfliktlösungsstrategie zu suchen: „Schatz, ich bitte dich, liegt dir etwas auf dem Herzen, so theile es mir mit

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Archiv WHC, Sign. 148, Elisabeth Barthels an Paul Colsman, 22. März 1887. Vgl. Hausen, „… eine Ulme für das schwanke Efeu“, S. 92ff. Vgl. als Überblick Frevert, Bürgerinnen und Bürger; dies., „Mann und Weib, und Weib und Mann“, S. 13ff. 258 Archiv WHC, Sign. 152, Paul Colsman an Elisabeth Barthels, 4. Januar 1888.

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ebenso, wenn du mit mir unzufrieden bist, sprich’ es mir offen aus […]!“259 „Ich kann nicht anders, als ganz und gar offen gegen dich sein, bringe es Lust oder Schmerz, wie du es neulich gesehen hast, und so mein’ ich muß es gegenseitig sein;“260 Für beide stand zudem, wie auch für die anderen hier untersuchten Paare, das Themenfeld ‚Treue‘ im Zentrum ihres Konzepts einer gelingenden Ehe. Elisabeth Barthels schrieb: „Ich weiß nicht, welche Leidenschaft mich packen würde, müßte ich mich je in deine Liebe teilen, verzeih mir, wenn du’s für Unrecht hältst […].“261 Paul Colsman unterzeichnete die Briefe an seine Frau stets mit „dein treu dich liebender Paul“. Die Hochzeitsreise führte Paul und Elisabeth Colsman für vier Wochen an die französische und italienische Riviera sowie nach Oberitalien: Sie besuchten Lyon, Marseille, Cannes, Nizza, San Remo, Genua und Florenz.262 Die anschließende konkrete Gestaltung der bürgerlichen Lebensform hatte aber zwischen den beiden Verlobten nicht verhandelt werden müssen. Dass ein Mann den Tag außer Haus im Beruf verbrachte und seine Frau für das Familienheim zuständig war, bedurfte keiner Klärung. Paul Colsman schrieb seiner Verlobten: „Denke ich dann noch an die Zukunft & male mir nur in kurzen Zügen aus, wie gut & glücklich ich mich erst fühlen muß, wenn du mich später so Gott will froh & munter im eigenen Heim begrüßt, wenn ich mürrisch & angeärgert nach Hause komme, Schatz, mein lb. Schatz, dann lacht für mich die ganze Welt & Aerger etc. haben keinen Raum in mir […].“263

Umfangreicher als solche Feststellungen waren in den Briefen aber gemeinsame Überlegungen zu der konkreten beruflichen Zukunft Paul Colsmans als Unternehmer, wie hier in einem Brief seiner Verlobten: „[…] bist du so ganz innerlich zufrieden mit deinem Lebensberuf und Lebensweg, so wie er ist und sich nach menschlicher Voraussicht gestalten wird? Ja, ich glaube – aber sage mir’s doch, denn sonst wärest du wohl der Mann gewesen, dir eine Bahn zu brechen.“264 Nachdem Paul Colsman in seinem Antwortbrief zunächst seiner Braut seine Liebe versichert hatte („Nun Schatz, du weißt, daß ich durch deinen Besitz zu einem der glücklichsten Menschen gemacht bin & du weißt, daß ich dich von ganzem Herzen treu & innig lieb habe!“),265 formulierte er eine klare Selbstpräsentation als Wirtschaftsbürger und Unternehmer: „Aus deiner Frage: ‚Ob ich mich in meinem Beruf Leben etc. glücklich fühle?‘ läßt sich allerlei entnehmen! […] Was nun die Befriedigung in meinem Beruf anbetrifft, so weißt du, daß ich mit Leib & Seele ein Jünger Mercurs bin & menschlich gesprochen es wenig

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Archiv WHC, Sign. 152, Paul Colsman an Elisabeth Barthels, 4. Januar 1888. Archiv WHC, Sign. 148, Elisabeth Barthels an Paul Colsman, 21. März 1887. Archiv WHC, Sign. 148, Elisabeth Barthels an Paul Colsman, 21. März 1887. Vgl. Archiv WHC, Sign. 46, Familienchronik Paul und Elisabeth Colsman, 1880–1931. Archiv WHC, Sign. 152, Paul Colsman an Elisabeth Barthels, 20. Juni 1887. Archiv WHC, Sign. 148, Elisabeth Barthels an Paul Colsman, 22. März 1887. Archiv WHC, Sign. 152, Paul Colsman an Elisabeth Barthels, 23. März 1887.

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junge Leute giebt, denen so viele Chancen geboten sind, wie mir.“266 „[…] ich suche meine Lebensaufgabe neben deinem Glück mein Schatz in der Seidenfabrik.“267

Für Elisabeth Barthels war eine solche Antwort angesichts des Herkunftsmilieus ihres Bräutigams erwartbar gewesen und ihr als Unternehmertochter auch erwünscht. Daher schrieb sie: „Der Passus deines Briefes beruhigt mich dann auch recht, daß du doch lieber Seidenfabrikant als Kaiser Wilhelm oder Conditor bist […].“268 Ein Unternehmerehepaar zu sein, präsentierten beide sich gegenseitig als selbstverständliches Lebensideal. Der Unternehmerberuf war für Paul Colsman allerdings eingebunden in eine Generationenkonstellation, die mehrfach ernste Probleme aufzuwerfen drohte, und welche er seiner Braut schon während der Verlobungszeit schilderte: „Die in letzter Zeit leider häufigen kleinen Reibereien mit Papa sind ja gewiß nicht angenehm & machen mir häufig meinen Beruf schwer resp. verleiden mir die Lust zur Arbeit im elterlichen Geschäft. Doch denke ich ruhig darüber nach, so sind dies so große, große Kleinigkeiten im Vergleich zu all’ dem Guten, was mir durch Papas große Liebe & Treue zukommt […].“269

Zu Lebzeiten seines Vaters, er starb 1902, beruhigten sich diese Konflikte aber nicht, so dass die Ehebeziehung und die ehelichen Gespräche wiederholt eingebunden waren in die generationelle Problemlage des Ehemanns im Familienunternehmen. Der Sohn diagnostizierte den Vater als nervös, womit vermutlich eine geringe Belastbarkeit und überhöhte Reizbarkeit gemeint waren und weniger eine körperliche Schwäche, Schlaffheit und Arbeitsunlust. Beide Symptomgruppen kamen in Kombination oder getrennt im Krankheitsbild der Nervosität vor.270 „Papa ist wirklich so schrecklich nervös & ist mit ihm traurig schlecht, momentweise wenigstens auszukommen, daß es mir oft leid thut & ich nur wünschen könnte, er entschlösse sich endlich zu einer entscheidenden Erholung, denn so kann es unmöglich längere Zeit fortgehen. […] Papa meint es ja auch recht gut, er hat nun einmal diese Weise mit mir geschäftlich so zu verkehren & wenn es mir auch schwer wird mich darein zu finden so muß ich mich als Sohn doch darin schicken & zwar gerne schicken!“271

Paul Colsman schätzte sich selbst in dem Brief nicht als nervös ein; nervös waren aus seiner Sicht nur die älteren Familienmitglieder. Vielmehr formulierte er wiederholt Selbstpräsentationen, welche Großstadtleben, Betriebsamkeit und schnelles Maschinentempo als Kontext einer ebensolchen, rasch und stark arbeitenden, gleichwohl innerlich ausbalancierten Persönlichkeit darstellten. 1900 besuchte Paul Colsman mit seinem Schwiegervater Philipp Barthels die Weltausstellung in Paris, die ihn stark beeindruckte. An seine Frau schrieb er: „Die 266 267 268 269 270 271

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Archiv WHC, Sign. 152, Paul Colsman an Elisabeth Barthels, 23. März 1887. Archiv WHC, Sign. 152, Paul Colsman an Elisabeth Barthels, 2. März 1887. Archiv WHC, Sign. 148, Elisabeth Barthels an Paul Colsman, 24. März 1887. Archiv WHC, Sign. 152, Paul Colsman an Elisabeth Barthels, 23. März 1887. Vgl. zur Nervosität als zeitgenössischem Krankheitsbild Teilkapitel 4 in diesem Kapitel. Archiv WHC, Sign. 152, Paul Colsman an Elisabeth Barthels, 14. März 1887.

Ausstellung ist ganz großartig! […] Gestern Abend machten wir noch einen Bummel im Ausstellungsgelände, welches durch die Seine, mit vielen kleinen Dampfschiffen, sehr belebt ist […].“272 Im Unterschied zu seinem deutlich älteren Schwiegervater genoss Paul Colsman den Trubel der Weltausstellung: „Von der Ausstellung habe ich mit schwerem Herzen Abschied genommen. Ich mag ein derartiges Getriebe gerne & würde nichts dagegen haben, wenn wir noch acht Tage hier blieben […].“273 Tempo, Metropolen und Maschinen als durchweg positive Errungenschaften der modernen Lebenswelt zu begreifen, zeichnete Paul Colsman gegenüber den älteren Familienmitgliedern aus, wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird. In seiner Selbstpräsentation musste man sich, ganz anders als dies die bildungsbürgerliche Kulturkritik, die eigentlich eine Kritik der modernen Zivilisation war, zwischen den 1890er Jahren und dem Ersten Weltkrieg formulierte,274 auch nicht gegen diese Entwicklungen als Person behaupten, vielmehr erschienen sie ihm als funktionale Bestandteile einer ‚neuen Sachlichkeit‘. Diese betraf weniger die private Architektur der Wohnhäuser als die funktionale Architektur der Fabriken und das Erscheinungsbild der Maschinen. Das „Primat des rein Technischen“ wurde ästhetisch schon an der Jahrhundertwende zum Markenzeichen der Fabrikate ‚made in Germany‘ und sollten als ‚typisch deutsch‘ folgende Eigenschaften signalisieren: „zuverlässig, dauerhaft, funktionssicher, leistungsstark, innovativ“.275 Anders als sein Vater, der nur einen älteren Onkel als Teilhaber besessen hatte und ansonsten während seines Berufslebens von jüngeren Teilhabern umgeben gewesen war, war Paul Colsman eingebunden in eine Leitungsstruktur, die durch mehrere ältere Teilhaber gekennzeichnet war. Sein eigener Vater war dreißig Jahre älter als er, Adalbert Colsman (1839–1917), Andreas Colsman (1840–1917) und Eduard Colsman (1842–1913) rund zwanzig Jahre älter. Für diejenigen, die mit dem neuen hochtechnisierten Zeitalter der Fabriken, des Verkehrs und der Urbanität erst im fortgeschrittenen Erwachsenenalter konfrontiert wurden, stellten sich diese Entwicklungen anders dar und wurden von ihnen anders interpretiert als von denjenigen, welche diese Bedingungen als Sozialisationskontexte ihres Aufwachsens in Jugend und jungem Erwachenenalter, als Teil einer lebensweltlichen Normalität, erfuhren. Im Jahr 1900 brach der Generationskonflikt in der Leitung des Unternehmens dann nach mehreren kleineren Konflikten in voller Schärfe auf. An seine Frau schrieb Paul Colsman: „Heute muß ich dir eine längere Erzählung machen, da du doch meine Frau bist, & ich dir nicht gerne stories erzähle. Man könnte über das Nachfolgende auch als Motto setzen: Hochmuth kommt vor dem Fall. Ich war bis heute Mittag mit meinem Dasein ganz zufrieden & bildete mir ein, meine Pflicht zu thun & dachte auch, andere Leute hätten an 272 273 274

Archiv WHC, Sign. 177, Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 29. August 1900. Archiv WHC, Sign. 177, Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 4. September 1900. Vgl. Beßlich, Wege in den Kulturkrieg; Groppe, Die Macht der Bildung, S. 66ff., S. 119ff. 275 Vgl. Umbach, Made in Germany, S. 410f., Zitate S. 410.

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meinem Wirken Wohlgefallen. […] Aus diesen selbstgefälligen Betrachtungen bin ich nun diesen Mittag & Nachmittag in der unzartesten Weise herausgerissen & man hat mir klar & deutlich zu verstehen gegeben, daß ich ein unnützer Knecht sei & sich besonders in der Leitung von Kupferdreh noch Vieles ändern müsse, wenn man zufrieden sein wolle & an der Entwicklung des Werkes mit Freuden Antheil nehmen sollte. […] Ich stellte es in Zweifel & erging mich in gleichen Bemerkungen wie Papa über die Leute ‚da unten‘ & critisirte Dispositionen von Vetter Andreas! Am Nachmittag auf dem Comptoir ging ich der Sache nach & fand nichts Falsches. Als ich diese meine Entdeckung ganz ahnungslos Papa vortragen wollte fing das Spektakel an. Andreas wurde mit in die Unterhaltung gezogen & schlug den gleichen Ton wie Papa an; das habe ich mir dann ganz energisch verbeten & natürlich einen Krach Ia herbeigeführt. […] Der Skandal war nicht schlecht! Andreas schimpfte, & ich blieb ihm nichts schuldig. Eduard knurrte auch dazwischen, & Adalbert meinte, ich bräuchte nicht älteren Leuten gegenüber so ausfallend zu sein. […] Was jetzt weiter kommt, weiß ich nicht! Einstweilen habe ich die Idee, in aller Form anzubieten, einen Director zu nehmen & den unter Andreas Oberhoheit zu stellen & mir andere Arbeit neben England auszubitten. Ich will indeß nichts thun, bevor ich Sonntag mit deinem Vater gesprochen habe, denn ich habe zu viele Verpflichtungen & zu wenig Geld, um es auf einen Bruch ankommen lassen zu können. Auf keinen Fall kann es so bleiben, daß mir bei irgend einer Gelegenheit jedes Mal der Vorwurf gemacht wird, ich wollte einen Staat im Staate. Wenn Papa sich zu wenig wohl fühlt, um in die Fabrik zu gehen, & Andreas durch den Bau des Krankenhauses vielleicht Abhaltungen hat, dann will ich nicht immer hingestellt werden, als ob das Nichtkommen mein Werk sei.“276

Der Konflikt zwischen den älteren Teilhabern und Paul Colsman als dem jüngsten, dem nicht nur die technische Leitung der Kupferdreher Fabrik übertragen worden war, sondern der sich auch um die Verkaufsgeschäfte in Großbritannien kümmerte,277 zog sich zunächst noch eine Weile hin: „Einstweilen weiß ich nicht, was es weiter geben soll, they are not on speaking terms with me und in Folge dessen herrscht auf dem Comptoir ein tiefer Friede bei vollständiger Ebbe im Geschäft.“278 Der Streit, der sich dann wenige Wochen später erledigte, hatte sich insbesondere an der Leitung der neuen Fabrik entzündet, wovon die älteren Teilhaber offenbar vollständig andere Vorstellung hatten als Paul Colsman. Mit den Abläufen eines maschinisierten Großbetriebs waren sie allerdings weit weniger vertraut als dieser und schwankten, seinen Briefen nach zu urteilen, zwischen Fremdheitsgefühlen, Distanznahmen und Kontrollbedürfnissen. Da die Kontore, also das kaufmännische Zentrum des Unternehmens, bis zum Ende des Ersten Weltkriegs in der Kleinstadt Langenberg verblieben, fuhren die älteren Teilhaber zudem nicht täglich in die Fabrik,279 wohl aber die jüngeren, Paul und Johannes Colsman (Eintritt in das Unternehmen 276 277 278

Archiv WHC, Sign. 177, Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 9. August 1900. Vgl. FFA, 9.34, Firmengeschichte Gebrüder Colsman. Archiv WHC, Sign. 177, Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 10. August 1900. Vgl. auch Archiv WHC, Sign. 177, Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 21. August 1900. 279 Vgl.: „Papa kam mit der bekannten Behauptung, er & auch Andreas wären zu bange nach Kupferdreh zu gehen etc. etc.“ Archiv WHC, Sign. 177, Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 9. August 1900.

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1891, Teilhaber ab 1902). Weil die Produktion nach der Jahrhundertwende ausschließlich in der neuen Fabrik in Kupferdreh am Rande des Ruhrgebiets geschah, waren Kontrollverluste der älteren Teilhaber unvermeidlich und die damit verbundenen Autoritätsfragen wiederholte Ursache von Konflikten zwischen den Unternehmergenerationen. Dazu kam noch eine Persönlichkeitsdifferenz zwischen Älteren und Jüngeren, die sich nicht nur bei Paul Colsman, sondern auch bei seinem jüngeren Bruder zeigte. Lebensmodelle der Balance, als innere Selbstbeherrschung und äußeres Maßhalten, wie sie die Älteren praktizierten, wurden erweitert zu einem Modell der ‚Checks and Balances‘. Hier ging es darum, bestehende Freiräume aktiv zu erkunden und zu nutzen. Das Männlichkeitsmodell veränderte sich von der kühl-reflexiven Selbstbeherrschung, wie sie bei Wilhelm Colsman-Bredt und Emil Colsman im Vordergrund stand, zur initiativen Aktion. In diesem Profil im Rahmen einer technischen Moderne bündelten sich nicht nur veränderte Sozialisationserfahrungen, sondern dieses Profil, das internationale und ältere nationale Zeitgenossen als ‚neudeutsch‘ zu erkennen meinten,280 wurde interpretiert im Kontext traditionellerer Wahrnehmungsmuster der Älteren und auch vieler ausländischer Beobachter. Beide Gruppen hatten ‚Heimat‘ und ‚Deutschland‘ zunächst weniger mit Industrie und Großstadt als mit Agrarwirtschaft, Handwerk und dörflich-kleinstädtischen Lebensformen verbunden.281 Die unterschiedlichen Männlichkeitsmodelle und Interaktionsweisen Wilhelm Colsman-Bredts und Paul Colsmans als Vater und Sohn prallten wiederholt aufeinander. Der Vater schrieb: „Du hast, das will ich gerne zugestehen, nicht die Absicht mich so tief zu verletzen, wenn dergl. Differenzen vorkommen, aber deine Worte und Geberden sind so niederschmetternd, deine Argumente so wenig stichhaltig, lassen mich so tief in dein erregtes Herz schauen, daß ich wirklich nicht weiß, wodurch ich es verschuldet, wodurch ich die Mißachtung meiner Güte stets so sehr fühlen muß und zwar in Ausdrücken, die sich nicht wieder geben lassen!“282

Was Paul Colsman gegenüber seiner Frau mehrfach als Einschränkung seiner Handlungsspielräume in Bezug auf die Entwicklung der Kupferdreher Fabrik empfand, wirkte auf seinen Vater als Aufkündigung vertrauensvoller Zusammenarbeit: „Daß du mir gegenüber sehr oft die nöthige Rücksicht vergessen, durch dein rauhes Wesen mich abgehalten hast dir in liebendem Vertrauen näher zu treten, wirst du dir bei ruhiger Prüfung auch selbst sagen müssen! […] kaum waren einige Wochen ohne Krach dahin und ich dachte dein Sinn habe sich zur kindlichen Sanftmuth auch geschäftlich ge280

Vgl. dazu Kapitel IV über Schulbesuch und Sozialisation der Jungen, Teilkapitel 4.3. Generell zu diesem Typus vgl. Nipperdey, War die Wilhelminische Gesellschaft eine Untertanen-Gesellschaft, S. 174. 281 Vgl. zur veränderten Wahrnehmung Deutschlands nach der Jahrhundertwende z. B. durch die britische Regierung Brechtken, Kaiser, Kampfschiffe und politische Kultur, S. 214ff. 282 Archiv WHC, Sign. 150, Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 25. Februar 1892.

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wandelt, dann kam aus heiterem Himmel wieder eine aufbrausende Scene die mich stutzig und zurückhaltend zugleich machte!“283

Dass hier vor allem unterschiedliche Wahrnehmungsmodi und Selbstpräsentationen vorlagen, und Paul Colsman sich selbst, wie in den zitierten Briefen an seine Frau formuliert, häufig als den eigentlich Nachgiebigen und in den Entscheidungsvorgängen Unterlegenen einschätzte und aus seiner Sicht keineswegs eine vertrauensvolle Zusammenarbeit in Frage gestellt hatte, zeigt sich auch in einem Brief, den er an seinen Freund Peter Conze kurz nach dem Tod seines Vaters 1902 schrieb: „Was ich verloren habe, ist mir bisher kaum klar geworden, ich war mit Arbeiten überhäuft & kam bisher nicht zum ruhigen Nachdenken & zu innerer Sammelung. […] Die Verantwortung in Haus und Beruf ist für mich sehr viel größer geworden. Ich war gewohnt wohl Nichts, kann ich ohne Übertreibung sagen, zu thun, ohne mit Papa Rücksprache zu nehmen. Hatte er seine Zustimmung gegeben, dann fühlte man sich sicher & zog fröhlich seine Straße. Jetzt überkommt mich bei den vielen Entscheidungen, die ich zu treffen habe & den […] Entschlüssen, welche ich fassen muß, das Gefühl der Unsicherheit.“284 Die neue Fabrik mit ihren großen Maschinensälen und ihrem Tempo bedeutete aber auch für die jüngeren Unternehmer Zwang. Webstühle mussten ‚laufen‘,285 rund 1.000 Angestellte, Arbeiterinnen und Arbeiter regelmäßig bezahlt und gegen die Konkurrenz der Zechen und Stahlwerke im Unternehmen gehalten werden. Das schuf Ängste; der Unternehmer war jetzt auch Rad im eigenen Getriebe, und Paul Colsman schrieb an seinen Freund Peter Conze, dass er unter Anspannung und Schlaflosigkeit leide und sich in eine Kur begeben wolle, „damit die Nachtruhe eine bessere wird, & ich nicht mehr so häufig die Uhren schlagen höre, wenn andere Leute schlafen; das ist eigentlich nächtlicher Unfug für einen Menschen von 40 Jahren!“286 Damit einher gingen Vergleiche seiner eigenen Berufstätigkeit mit der seines Freundes, der seit 1899 als Jurist im preußischen Finanzministerium in Berlin tätig war.287 Dessen Freiheitsgrad im Beruf schätzte Paul Colsman viel höher ein als seinen eigenen als Unternehmer:

283 284 285

Archiv WHC, Sign. 150, Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 25. Februar 1892. Archiv WHC, Sign. 2, Paul Colsman an Peter Conze, 24. Juni 1902. An Peter Conze schrieb Paul Colsman aus London: „Ich bin seit Donnerstag hier und versuche etwas Futter für unsere notleidenden Stühle zu finden. […] ich fürchte beim Bücherabschluß 1908 stehen die Schlußzahlen auf der falschen Seite des Hauptbuches. Alle Leute, die mit Seide zu thun gehabt haben in den letzten 12 Monaten, haben schweres Geld verloren. Jetzt will natürlich kein Mensch Waare bestellen, & die mechanischen Stühle arbeiten doch im gleichen Tempo voran.“ Archiv WHC, Sign. 2, Paul Colsman an Peter Conze, 16. Mai 1908. 286 Archiv WHC, Sign. 2, Paul Colsman an Peter Conze, 27. Juni 1901. Ähnlich schrieb er noch einmal sechs Jahre später. Vgl. Archiv WHC, Sign. 2, Paul Colsman an Peter Conze, 24. Mai 1907. 287 Vgl. Conze, Conze. Ein Familienbuch, S. 51.

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„Daß du dich für deine große Reise tüchtig vorbereitest, finde ich sehr vernünftig. Es soll mich verlangen, ob ich auch einmal nach Amerika komme. Einstweilen habe ich wenig Aussicht, diesen schon so lange gehegten Wunsch ausführen zu können. Als Beamter bist du doch viel freier, wie einer von uns.“288

Seine Frau Elisabeth, die entgegen ihrer ursprünglichen Beschreibung des weiblichen Geschlechtscharakters und der Frauenrolle in der Brautzeit in der Ehe aktiv und konfliktbereit agierte, formulierte an Paul Colsman regelmäßig Verhaltensanforderungen, welche dieser mit aufschlussreichen Selbstpräsentationen im Kontext einer Pflicht- und Leistungsethik beantwortete: „Ich bin wirklich nicht der Unrast, für den du mich hältst. Mein Wunsch ist der, das von meinen Vätern überkommene Erbe s. G. w. in guter Verfassung auch einmal meinen Kindern zu hinterlassen & von meinem sel. Vater habe ich gelernt, daß man zunächst seine Pflicht zu tun versuchen muß & dein Vater, mein verehrter und unvergessener Lehrherr, hat in die gleiche Kerbe gehauen!“289

Paul Colsman interpretierte seine berufliche Tätigkeit als Familienerbe und Familienauftrag. Dazu gehörte für ihn aber ein anderes Interaktionsmodell, als es für seinen Vater formgebend gewesen war, nämlich eines, das mit viel Bewegung, mit Aktion und Reaktion, verbunden war. Die neuen Zwänge des maschinisierten Großbetriebs wurden in seinen Selbstpräsentationen sichtbar, verbanden sich aber bei ihm in oft widersprüchlicher Weise mit der Vorstellung persönlicher Autonomie und der Steuerbarkeit von Tempo und Maschinen. Seine Unternehmertätigkeit schloss zudem, ähnlich wie bei seinem Vater, vielfache Reisen nach Großbritannien und in andere europäische Hauptstädte ein. Für seine Frau stellte sich in diesem Zusammenhang wiederholt die Frage, welchen Stellenwert ihr Mann der Familie und der Ehe einräumte. Er antwortete darauf: „[…] so oft & so gerne ich an dich & meine Kinder mit Freuden und Dankbarkeit denke, so ist mir das ungebundene Leben doch keine Strafe. Warum mußt du denn den Schluß ziehen, daß das Alleinsein mich nicht von meinen Wegen bekehrt? Meine liebe gute Frau begreife doch endlich als Tochter deines Vaters, daß ein Mann der im Leben steht, mehr geschoben wird als schiebt! Ein Mann, der seine Pflicht nur halb täte, würde dir doch kaum Freude machen! […] Im Geschäfte habe ich momentan viel zu tun, weil die Herren Engländer manche Wünsche haben. In Deutschland ist das Geschäft sehr still.“290

Solche Diskussionen um Stellenwert und Verhältnis von Unternehmen und Familie hatten gleich zu Beginn der Ehe eingesetzt, insbesondere weil Paul Colsman, anders als sein Vater, nicht die Zweisamkeit der ehelichen Gemeinschaft in den Mittelpunkt seiner Selbstpräsentation und Handlungsorientierungen stellte, sondern die getrennten Sphären von Mann und Frau in seiner Alltagspraxis betonte. Elisabeth Colsman beschrieb dies in einem Brief an ihren Mann als Problem: 288 289 290

Archiv WHC, Sign. 2, Paul Colsman an Peter Conze, 16. Mai 1899. Archiv WHC, Sign. 57, Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 8. April 1910. Archiv WHC, Sign. 57, Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 8. April 1910.

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„Ich […] begann die lange Trennung dies Mal mit mehr Mut als neulich, obgleich ich Sonntag Abend doch gewaltsam den fatalen Knoten hinunterschlucken und gute Miene zum bösen Skatspiel machen mußte. Und gestern war’s in meinem Gedankengang zu unstät, ich vermißte innerlich so viel und hatte ein entsetzlich ödes Gefühl, als der erste Blick auf die schön ausgebreitete Bettspreite fiel, und ich dich nach mangelhafter Nachtruhe schon auf Läufer’s Rücken wußte.“291

Ebenso wie sein Vater Wilhelm Colsman-Bredt und sein Onkel Emil Colsman beantwortete Paul Colsman die Briefe seiner Frau aber nicht mit männlicher Autorität, sondern mit Argumenten und der Bitte um Verständnis: „Ich danke dir herzlich für die guten Wünsche und unterschreibe gern was du ob all’ des Guten, was wir gemeinsam genießen durften & s. G. w. ferner noch genießen dürfen, aber was Du von deinem Mann schreibst, kann ich nicht gut anerkennen; du hast eine falsche Brille auf der Nase! Ich möchte schon so sein, wie du schreibst, aber die traurige Wirklichkeit bleibt wie so oft, auch in diesem Fall, weit hinter dem Ideal zurück! Ich danke dir herzlich für die Versicherung deiner Liebe & freue mich, wenn Du ferner mit mir Geduld haben willst.“292

Deutlich wird, dass die Vorstellungen des gemeinschaftlichen Lebens divergierten und vor allem der Ehefrau erhebliche Anpassungsleistungen abverlangten: „Indem ich nach dem Abendbrot hier im Wohnzimmer fortfahre, denke ich lebhaft, wie schön es sein wird, wenn du wieder hier bei mir sitzest, mein Liebling; […] aus der Ferne denkt man, man will alles recht gut und schön machen, aber hernach. – oder ob diesmal die Freude wohl länger als 1–2 Abende anhält, deine Kräfte zum Erzählen dann nicht erschöpft sind und das Alltagsleben wieder ganz schnell an seine Stelle tritt?!!“293

Während Elisabeth Colsman ein Eheideal der innigen Zweisamkeit kultivierte, formulierte ihr Mann eines der Gefährtenschaft. Wiederholt interpretierte er die Beziehung als Straße, auf der beide miteinander gehen sollten: „Meine lb. gute Frau wir haben so viel, so unendlich viel Gutes & ich bin auch so glücklich in deinem & der Kinder Besitz, daher bitte ich dich, doch die kleinen Unannehmlichkeiten, welche nun einmal mein Beruf als Lappenfabrikant mit sich bringt, geduldig in Kauf zu nehmen. […] Wir wollen doch Frieden halten und gemeinsam fröhlich unsere Straße ziehen!“294

Aufgrund dieser unterschiedlichen Interpretationen war für Elisabeth Colsman das Ringen um Gemeinschaft ein stetes Thema ihrer Briefe: „Heute vermissen wir dich recht, haben aber einen fröhlichen und ruhigen Geburtstag [des zwölfjährigen Sohnes Wilhelm, CG]; wer weiß, wie oft er ihn noch im Elternhause feiert, da ist es doppelt schade, daß du so selten dabei bist, ich erinnere mir einen sehr

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Archiv WHC, Sign. 157, Elisabeth Colsman an Paul Colsman, 13. August 1889. Archiv WHC, Sign. 57, Paul Colsman an Elisabeth Colsman aus London, 7. Mai 1909. Archiv WHC, Sign. 156, Elisabeth Colsman an Paul Colsman, 24. Oktober 1898. Archiv WHC, Sign. 57, Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 8. April 1910.

schönen Brief von dir voriges Jahr, den soll er sich gleich mal zum Schlusse des Tages hervorsuchen.“295

Während für Wilhelm Colsman-Bredt und Adele Colsman sowie auch für Emil und Mathilde Colsman die Ehe ein Gemeinschaftsprojekt war, das, neben der Erziehung der Kinder, sinnstiftenden Charakter für die Gestaltung des restlichen Lebens besaß und eine stetige und zeitintensive Beziehungsarbeit beider Ehepartner erforderte, und auch Elisabeth Colsman dies so sah, war die Ehe für Paul Colsman eingebunden in eine Struktur vielfacher beruflicher Beanspruchungen und gesellschaftlicher Ämter, in welcher er seine Ehe zum Fundament, aber nicht zwingend zum Zentrum seiner Lebensform erklärte. Die von ihm mitunter als Dominanz der Sachzwänge präsentierte vielfache Belastung war, so argumentierte er gegenüber seiner Frau, zugleich ein stetes Prüfen und Gestalten der Spielräume persönlicher Autonomie und eine Möglichkeit, eine Ausbalancierung von Anforderungen einzuüben, um so ‚Herr der Lage‘ zu bleiben. Gleichzeitig testete er, wie vorausgehend an den Konflikten mit den älteren Teilhabern dargestellt, Grenzen und Möglichkeiten auch durch Gefühlspräsentationen wie Zorn und Erregung aus. Anders als für seinen Vater und für seinen Onkel Emil Colsman waren gefühlsbetonende Selbstpräsentationen, welche Nähe herstellen konnten, bei Paul Colsman in seinen Ehebriefen nur in geringem Maße vorhanden. Vielmehr präsentierte er Ehe und Familie seiner Frau als einen Raum der ruhigen Gefühle (Freude, Friedlichkeit): „Ich freue mich, daß du Mut hast noch ferner mit mir zu wandern, ich hoffe es gelingt mir, dir ein guter Mann zu sein, […] mit dem du in Frieden auskommst.“296 Starke Gefühle spielten für Paul Colsman in seiner Selbstpräsentation vor allem eine Rolle für die Herstellung von Distanz und Hierarchie, insbesondere gegenüber anderen Männern.297 In seiner Familie agierte er jedoch nicht autoritär; vielmehr benötigte er nach eigenen Aussagen ein harmonisches, ihn stützendes Umfeld, insbesondere durch seine Frau: „Das Getrenntsein ist eine verdammt ärgerliche Sache, und ich glaube auch kaum, daß ich noch einmal zum Vergnügen ohne dich auf Reise gehe!“298 Sein Lebensmodell der Balance wies gegenüber denjenigen seines Vaters und seines Onkels eine signifikante Verlagerung auf: Selbstbeherrschung und Maßhalten, auch in den Gefühlsäußerungen, wurden neu justiert und verortet. Diese bezogen sich nun auf den Raum von Ehe und Familie. Paul Colsmans Lebensmodell der Balance bedurfte einer Instanz, welche die aktive persönliche Gestaltung seiner nun stark von der industriellen Moderne geprägten Lebens295 296 297

Archiv WHC, Sign. 164, Elisabeth Colsman an Paul Colsman, 31. Oktober 1900. Archiv WHC, Sign. 57, Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 13. Februar 1911. Vgl.: „Vorgestellt hatte ich mir nun eine Wohnung nett vorbereitet zu finden aber – Essig. Erst einige Kraftausdrücke und das Werfen meiner Reisetasche auf einen Tisch […] machte den Wirth munter und veranlasste denselben, mir annehmbare Zimmer zu offerieren […].“ Archiv WHC, Sign. 57, Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 28. Juli 1889. 298 Archiv WHC, Sign. 185, Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 27. Juli 1902.

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form ermöglichte und auffing. Das waren Ehe und Familie, welche dazu allerdings nicht selbst Orte der Gefühlsarbeit und der Konflikte sein durften. Balance in der Lebensform bedeutete für ihn, zwischen zwei Polen zu agieren und, das war seine Vorstellung von Autonomie, zwischen den Polen möglichst selbstbestimmt zu wechseln. Damit wurde das Familienunternehmen in seiner Handlungsorientierung nicht mehr ausschließlich auf die Familie bezogen, sondern es erhielt als Fabrikbetrieb eine eigene Sozialgestalt mit eigenen Strukturen, Regeln und Interaktionsformen, welche im Unterschied zur Produktion mit Heimwebern auch neue Verantwortlichkeiten gegenüber den inzwischen rund 1.000 Arbeiterinnen, Arbeitern und Angestellten enthielten. Gleichzeitig war seine Frau für Paul Colsman, wie dies auch für seinen Vater und seinen Onkel Emil der Fall gewesen war, eine wichtige Gesprächspartnerin in geschäftlichen Angelegenheiten. Er informierte sie über seine beruflichen Aktivitäten ebenso regelmäßig wie über auftretende Probleme. So schrieb er ihr 1894 aus London: „Hoddick [ein Londoner Agent des Unternehmens, CG] traf ich auf der Straße auf dem Wege zu mir. Der Mensch ist langweiliger und ungeschickter, wie ich mir vorgestellt hatte. Bei einem großen Kunden, dem wir nur was man nennt eine Antrittsvisite machen wollten, fielen wir dann auch ziemlich tief herein indem H. nichts über Preise wußte & ich, um nicht gerade so unwissend dazustehen, ein schlechtes Gebot annahm. Die Herrn Socii [die älteren Teilhaber, CG] werden wahrscheinlich bedenklich das Haupt schütteln ob dieses ersten Geschäfts, welches die Bilanz 1894 nicht verbessern wird!“299

Wie für alle Unternehmer der Familie war das Ausland, insbesondere Großbritannien, für Paul Colsman eine zentrale Sozialisationserfahrung im Erwachsenenalter, aber auch andere Staaten traten in zunehmendem Maße dazu, für Paul Colsman 1898 und 1904 zum Beispiel zwei Mal das Osmanische Reich, ebenso aber Frankreich, Österreich-Ungarn und die Schweiz, welche er alle aus beruflichen Gründen vielfach bereiste. Von Budapest aus schrieb er seiner Frau 1898: „Von Constantinopel fuhren wir in einem tollen Unwetter ab. Der Schmutz dieser Stadt spottet jeder Beschreibung. Ich war den Montag den ganzen Tag geschäftlich thätig & möchte gerne die Gesichter der Herren Socii sehen, wenn sie die Resultate meiner Bemühungen lesen! […] Die Fahrt auf dem Bosporus, die wir an Deinem Geburtstag unternahmen, war trotz schneidender Kälte bei scharfem Nordwind recht lohnend. Es ist ein herrliches Stückchen Erde, welches der Türke sein Eigenthum nennt.“300

Während in Staaten wie dem Osmanischen Reich die Neuheits- und Fremdheitserfahrungen in seiner Erzählung überwogen, war Großbritannien, insbesondere London, Paul Colsman fast ebenso vertraut wie das Deutsche Reich. Seiner Frau schilderte er akribisch die Verläufe seiner geschäftlichen Unternehmungen dort. Paul Colsman fühlte sich zugleich unter erheblichem Druck, im bislang von seinem Vater geleiteten britischen Geschäft erfolgreich zu sein:

299 300

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Archiv WHC, ohne Sign., Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 24. Februar 1894. Archiv WHC, Sign. 22, Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 23. November 1898.

„Bis jetzt war die Woche nicht ruhig; heute bin ich auch den ganzen Tag in der Stadt herumgetrabt & habe keinen einzigen Fisch gefangen. Was mag der Vater eigentlich von meinen Leistungen am schwebenden Trapez halten? Ich bekomme so allgemach durch seine Briefe den Eindruck, daß er meint, ich könnte mehr Arbeit für die Lieferkammer schicken. Leider ist es mir bis jetzt unmöglich gewesen. In Manchester traf ich mit dem Herrn Nachbar zusammen. Wir liefen dann gemeinsam bei den Herren Kunden herum & machten uns gegenseitig das Leben schwer.“301

Wie alle Unternehmer der Familie schätzte Paul Colsman die Großstädte und das Theater, wie hier in einem Brief 1894 aus Berlin: „Heute Abend gehe ich in irgend ein Theater, wahrscheinlich in’s Lessing Theater, wo Madame sens gêne gegeben wird. Ausnahmsweise habe ich neulich in irgendeiner Zeitung etwas über das Stück gelesen & da will ich es mir dann einmal selber ansehen. Morgen Abend wird in der Oper Lohengrin mit Götze als Gast gegeben. Werde ich nicht eingeladen, dann wird das wohl meine Abendunterhaltung werden.“302

Ebenso wie für Emil Colsman waren für Paul Colsman Theater und Oper, verbunden mit einem Restaurantbesuch, die häufigsten Gestaltungen seiner Freizeit auf Geschäftsreisen. Aus Berlin schrieb er seiner Frau nur drei Tage nach dem obigen Brief, die Reichshauptstadt, welche er aus dem einjährig-freiwilligen Militärdienst 1883/84 und durch diverse Geschäftsreisen ebenso gut kannte wie London, habe sich äußerst positiv entwickelt: „Am Sonntag war ich trotz sehr späten Aufstehens noch in der Kirche […], ging dann zu Kabel, wo ich mit Papa manch’ Mal Caviar gefrühstückt habe & that wie ehedem […]. Nach der Besuchsreise machte ich eine Wanderung durch den Thiergarten, besichtigte das neue Reichstagsgebäude, welches recht schön & trank bei Koesters ein Täßchen Kaffee. Den Abend speiste ich mit Weyermann in einem der neuen Lokale & ließ Lohengrin schwimmen. Berlin hat sich ganz fabelhaft entwickelt & viele Straßen kennt man nicht wieder. […] Am Abend hörte ich ein sehr gutes Schauspiel (geschichtlich) ‚Aus eignem Recht‘ in dem Berliner Theater. Es wurde gut gespielt & interessierte mich die Handlung aus der Zeit des Großen Kurfürsten sehr.“303

Ebenso hielt es Paul Colsman mit der Abendunterhaltung in London, wenn er geschäftlich dort war. Er besuchte Theater, Varietés und Konzerte: „Gestern hatte ich mit Hermann & Freund Servas einen ganz gemüthlichen Abend im Westend & Empire, wo das Ballet wirklich fein & anständig war. Keine Massenwirkung von nackten oder dürftig bekleideten Frauenzimmern, sondern alles Costüme wie Meißener Figuren. Es waren prächtige Farbzusammenstellungen. Abgerichtete Kakadus & Hunde würden den Kindern Freude gemacht haben.“304

Niemals aber hätten Kunst und ein entsprechender Bildungskanon sein Leben oder das seiner Familie dominieren können, ebenso wenig wie dies bei Emil und Mathilde Colsman der Fall war. Die eigentliche Kunst bestand auch hier 301 302 303 304

Archiv WHC, Sign. 171, Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 12. Juni 1890. Archiv WHC, ohne Sign., Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 24. Februar 1894. Archiv WHC, ohne Sign., Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 27. Februar 1894. Archiv WHC, Sign. 185, Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 25. Januar 1902.

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darin, die Felder der Lebensführung in ein Gleichgewicht zu bringen, und Literatur, Musik und Theater konnten daher nicht mehr beanspruchen als einen geschätzten Platz im Rahmen der Freizeit. Der bürgerliche Lebensentwurf der Balance mit seinem Postulat eines selbstständigen, durch Bildung eröffneten Vollzugs durch die Person musste allerdings durch den sich verändernden Sozialisationsrahmen im Kaiserreich häufig neu justiert werden, so dass er zu unterschiedlichen Zeitpunkten verschieden konkretisiert wurde. Die industrielle und kunstgewerbliche Leistungsshow der Pariser Weltausstellung 1900 stellte Paul Colsman seiner Frau auch als einen Wettbewerb der Nationen dar, wobei das deutsche Haus für ihn zwar sehr gut abgeschnitten hatte, ebenso aber die belgischen und französischen Ausstellungsleistungen: „Die Ausstellung ist ganz großartig! Hauptsächlich haben wir uns bisher mit dem Kunstgewerbe befaßt. Eine Einrichtung von Bing nach dem neuen Geschmack hat mir sehr gut gefallen. Prachtvoll haben die Pariser Juweliere ausgestellt; alter und neuer Geschmack, letzterer trägt bei vielen Sachen den Sieg davon. […] Sehr geschmackvolle Sachen hatte eine belgische Firma in Schmuck & Decoration ausgestellt […]. Deutschland schneidet gut ab. Das deutsche Haus ist eine Sehenswürdigkeit ersten Ranges, es enthält unten eine Ausstellung des Buchdruckergewerbes & oben die vom Kaiser mit Bildern aus den Sammlungen Friedrichs des Großen geschmückten Sääle.“305

Die Bedeutung nationaler Zugehörigkeit brach sich für Paul Colsman in der Ökonomie wie in der Kunst an Qualität und Können. Gleichzeitig waren Paul Colsman und seine Frau nicht nur stolze Bürgerin und Bürger des Deutschen Reiches, sondern sie formulierten auch erstmals ein klares „wir“, wenn sie von den Deutschen sprachen. Elisabeth Barthels machte in ihrer Verlobungszeit aus ihrer Verehrung für den ersten deutschen Kaiser Wilhelm I. an dessen 90. Geburtstag keinen Hehl: „[…] wie thust du nun wohl heute deinen Patriotismus kund, ob mit einer recht deutschen Flasche Sekt? […] Hier sind ziemlich viele Fahnen an Häusern, Pferden und Wagen; […] wir hier erhoben uns diesen Morgen in einiger Feststimmung durch gemeinsame Lektüre des wirklich recht schönen Artikels der Kölnischen [Kölnische Zeitung, der nationalliberalen Partei nahe stehend, CG] und bewunderten den greisen Monarchen, den Vater seines Volkes, den wahrhaft großen Menschen, der jedes persönliche Empfinden hintansetzt, und unsereins besteht nur aus persönlichem, egoistischem Empfinden!“306

Elisabeth Barthels formulierte hier eine Differenz zwischen Monarch und Untertan, die sich mit Stolz auf das Deutsche Reich verband. Der Kaiser als „Vater seines Volkes“ zeichnete sich in ihrer Perspektive dadurch aus, dass er als Person ganz hinter das Amt zurücktrat, während der Bevölkerung, also auch ihr, diese asketische Leistung nicht in gleicher Weise möglich war. Aber mit einer solchen Bewunderung hatte es dann auch sein Bewenden, denn Politik wurde 305 306

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Archiv WHC, Sign. 177, Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 29. August 1900. Archiv WHC, Sign. 148, Elisabeth Barthels an Paul Colsman, 22. März 1887.

für Elisabeth Barthels und Paul Colsman in einer anderen Arena, durch Fachleute, gemacht, ebenso wie die Gesellschaft für sie vor allem durch die Facharbeit, die Leistungsbereitschaft und das alltägliche Zusammenleben der Staatsbürgerinnen und -bürger existierte. Elisabeth Barthels kritisierte deshalb anlässlich einer Reserveübung ihres Verlobten die adligen Privilegien im preußischen Offizierskorps: „Der Herr Major wird wohl nicht neue Schwierigkeiten erfinden und dich auch mit dem Urlaub in der Tasche für die nächste Woche ziehen lassen; ich finde es ebenfalls sehr schäbig, daß er nach einem adeligen Namen statt nach Verdienst und Tüchtigkeit sieht […].“307 Als Arena der Politik formulierte ihr Verlobter anlässlich der Reichstagswahl im März 1887 konkret den Wahlvorgang durch die männlichen Staatsbürger und eine durch Wahl ins Amt gekommene Reichsregierung: „Zunächst habe ich mein deutsches Bürgerrecht ausgeübt & bin mit Papa zur Wahlurne gegangen; hoffentlich ist das Resultat günstig & macht unser Kreis dem Herrn von Bismarck Freude, ein Gleiches wünsche ich von deiner Vaterstadt.“308 Wie sein Vater Wilhelm Colsman-Bredt vertrat Paul Colsman überwiegend nationalliberale politische Positionen, die sich aber auch in manchen konservativen Parteien wie beispielsweise den Freikonservativen fanden, so dass eine eindeutige Parteienpräferenz bei ihm nicht auszumachen ist: freihandelsorientiert, staatsnah, einen starken Reichskanzler und eine starke Regierung gegenüber umfassender parlamentarischer Mitbestimmung bevorzugend, Bismarck-Anhänger, von dem viele Nationalliberale in den 1870er Jahren zunächst gehofft hatten, ihn ganz auf ihre Seite zu ziehen, weg von den traditionalistischen Konservativen und ihren vorindustriellen Lebensweltmodellen. Für die Reichstagswahlen 1887 hatten Konservative („Deutschkonservative Partei“ und „Deutsche Reichspartei“) und Nationalliberale zudem ein Bündnis mit gemeinsamen Kandidaten geschlossen, die als Bismarck-Unterstützer fungierten und die Wahlen gewannen. Die Konservativen und Nationalliberalen stellten als Parteien danach die Mehrheit im Reichstag, die Wahlbeteiligung war mit über 77% die höchste seit der Reichsgründung.309 Die Vorstellung von Politik als einem Feld hierarchischer Ordnungen wurde von Paul Colsman jedoch ungleich stärker artikuliert als von Wilhelm ColsmanBredt und seiner Frau Adele und von Emil und Mathilde Colsman. Angesichts eines englischen Arbeiterstreiks schrieb Paul Colsman 1912 aus London an seinen Freund Peter Conze: „Das Land hier leidet zu sehr unter den fortgesetzten Arbeiterunruhen. Momentan streiken die Schneider & Schneiderinnen etwa 20.000 an der Zahl. Machen dieselben auch nicht nur seidene Kleider, so bekommen doch wir durch diesen Streik unser Teil mit. Der Kohlenarbeiteraufstand hat dem Land tiefe Wunden geschlagen & schon wird von einem neuen Streik im Bergbau wie in den Docks gesprochen. Die jetzige Regierung, die 307 308 309

Archiv WHC, Sign. 148, Elisabeth Barthels an Paul Colsman, 18. April 1887. Archiv WHC, Sign. 152, Paul Colsman an Elisabeth Barthels, 2. März 1887. Vgl. zur Entwicklung der Parteien und ihrer Programmatiken und zur Innenpolitik in den 1870er und 1880er Jahren zusammenfassend Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2, S. 359ff., S. 413ff.

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ihre Stellung nur durch die Arbeiterpartei behaupten kann, ist den Wünschen der Arbeiter gegenüber zu nachgiebig. Die Regierung ist mit einem Wort schlecht & es wird wohl nicht mehr lange dauern, daß andere Leute an ihre Stelle gesetzt werden. Die Festigkeit in der Leitung fehlt, ähnlich wie bei uns im lieben Vaterland!“310

Was Paul Colsman an der englischen und der deutschen Regierung im Einzelnen vermisste, wenn ihm die „Festigkeit in der Leitung“ fehlte, wird aus seinem Brief nicht klar. Reichskanzler war seit 1909 Theobald von Bethmann Hollweg, der dem liberalen Parteienspektrum nahestand. Kurz bevor Paul Colsman den obigen Brief an seinen Freund schrieb, war in den Reichstagswahlen im Januar 1912 die SPD mit fast 35% der Stimmen stärkste Reichstagsfraktion geworden, die drei in der Anzahl der Wählerstimmen nachfolgenden Parteien hatten alle leicht verloren. So erhielten die katholische Zentrumspartei etwas über 16%, die Nationalliberalen knapp 14% und die Deutschkonservativen etwas über 8% der Stimmen. Die Wahlbeteiligung an den Reichstagswahlen war während des Kaiserreichs kontinuierlich angestiegen, von 51% 1871 auf knapp 85% nach der Jahrhundertwende: „Die Wahlbeteiligung war mindestens seit der Jahrhundertwende auch im internationalen Vergleich ganz außerordentlich hoch; die angeblich unpolitischen Deutschen waren offenbar begeisterte Wähler.“311 Paul Colsman wünschte sich, so kann man seinen Brief lesen, eine mit Autorität und klaren Prinzipien auftretende Regierung. Sie sollte zugleich die Interessen der Unternehmer zumindest ebenfalls vertreten. Aber Regierungen konnten in seinem Verständnis auch wechseln, denn ihr Amt war abhängig von ihrer politischen Leistung. Die Politisierung des Bewusstseins in der Bevölkerung zeigte sich somit auch bei ihm; Politik hieß für ihn Durchsetzung von Interessen durch Wahlen, dann aber sollten politische Ziele mit Autorität konsequent umgesetzt werden. Die Kritik an der Performanz der Parteien im Reichstag gehörte zu diesem politisierten Bewusstsein dazu: „Das Gebahren des Reichstags macht einem momentan keine Freude & gereicht dem Vaterland weder zur Ehre noch zum Nutzen. Hier in den Zeitungen [in London, CG] ist übrigens das gleiche Geschimpfe wie bei uns, nur daß man hier für die vermehrten Ausgaben die Deutschen verantwortlich macht.“312

Für Paul Colsman und seine Frau war eine Wir-Identität als Deutsche selbstverständlich geworden. Dieser Nationalismus als Stolz auf die Staatsnation prägte sich bei Paul Colsman auch in einem politischen Konkurrenzdenken gegenüber Großbritannien aus, ohne dass dies die engen Geschäftsbeziehungen oder die Beheimatung in London mit vielen Freunden und Bekannten beeinträchtigt hätte: 310 311

Archiv WHC, Sign. 2, Paul Colsman an Peter Conze, 14. Mai 1912. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2, S. 504. Zu den Reichstagswahlen vgl. zusammenfassend ebd., S. 504ff.; Ullmann, Politik im Kaiserreich, S. 32ff. 312 Archiv WHC, Sign., 2, Paul Colsman an Peter Conze, 9. Mai 1909. Vermutlich bezog sich Paul Colsman in seinen Ausführungen auf die Niederlage der Regierung im Reichstag in der Abstimmung über eine Finanzreform, was im Juni 1909 zum Sturz des Reichskanzlers von Bülow führte.

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„Das unfreundliche Wetter thut unseren Geschäften Abbruch; der Krieg [zweiter burisch-englischer Krieg 1899–1902, CG] ist auch nicht ohne Folgen. Seit gestern schwimmt London in einem Meer der Freude ob der Befreiung von Mafeking. Es ist interessant den Trubel in den Straßen zu sehen. Gestern Abend drang die Nachricht während der Vorstellung in’s Theater […]. Es wurde direct geklatscht & ein Lied stehend gesungen, welches schließt mit ‚we English never will be slaves‘. Wir & noch manche Deutsche blieben sitzen, nur bei der dann folgenden Nationalhymne mußte man mit aufstehen & sang dann kräftig ‚Heil dir im Siegerkranz‘. […] Die Rückfahrt vom Theater durch die lärmende, singende Menschenmenge war interessant. Die meisten großen & kleinen Kinder hatten Fahnen, ebenso die Cabbs die busses. Es war ein tolles Leben. […] An Geschäfte ist nicht zu denken!“313

Die nationale Euphorie der britischen Bevölkerung wurde von Paul Colsman beobachtend dargelegt, gleichzeitig aber nahm er gegenüber seiner Frau in dem Brief eine sich davon distanzierende Haltung ein. Die britische Siegesfeier anlässlich der Rückeroberung von Mafeking machte er nicht mit, sondern blieb nach seiner Schilderung mit anderen deutschen Theaterbesuchern demonstrativ sitzen. Die mit der deutschen Kaiserhymne melodiegleiche britische Nationalhymne wurde von ihm und anderen Deutschen dagegen mit dem deutschen Text gesungen, eine angesichts der Situation deutliche Distanzierung von den Briten und dezidiert nationale Stellungnahme, die das Deutsche Reich in einem symbolischen Akt neben das britische Empire stellte. Die neue ‚Weltpolitik‘ des Kaiserreichs wurde von Paul Colsman in Briefen mehrfach positiv aufgenommen, das Streben nach einer weltpolitisch einflussreichen Position des Deutschen Reiches unterstützt.314 Allerdings sollte dies auf Verhandlungswegen erreicht werden und nicht durch Kriege. An seinen Freund Peter Conze, seit 1906 in der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes tätig und seit 1911 Unterstaatssekretär im Reichskolonialamt, das inzwischen eine selbstständige Dienststelle auf Reichsebene geworden war, schrieb Paul Colsman 1911 angesichts der Marokko-Krise (‚Panthersprung nach Agadir‘):315 „Wie wird es mit Marokko gehen? Werden wir Deutschen tatsächlich so blamiert, wie die Zeitungen schreiben? Ich kann es einstweilen noch nicht recht

313 314

Archiv WHC, ohne Sign., Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 19. Mai 1900. Zur neuen ‚weltpolitischen‘ Dimension der Politik und ihrer Diskurse im Kaiserreich insbesondere ab 1890 vgl. Conrad, Globalisierungseffekte, S. 418ff. 315 Nach der Verstärkung der französischen Besatzungstruppen auf marokkanischem Territorium hatte das Deutsche Reich aufgrund eines inszenierten Hilferufs dortiger deutscher Unternehmen das Kanonenboot „Panther“ nach Agadir geschickt und dadurch mit einem bewaffneten Konflikt gedroht. England hatte sich mit Frankreich solidarisiert, der schließlich erzielte Ausgleich (Anerkennung des französischen Anspruchs auf Marokko durch Deutschland) brachte für das Deutsche Reich weit weniger an kolonialem Territorialgewinn in Afrika als erhofft. Auf das in ihren Augen schwache Ergebnis reagierten viele Imperialisten und rechte Verbände mit Aufrüstungs- und Kriegsphantasien gegen England. Vgl. Hirschfeld/Krumeich, Deutschland im Ersten Weltkrieg, S. 23f.; Clark, Die Schlafwandler, S. 271ff.

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glauben! An einem Krieg hätte doch nur England Interesse? Da ist der Frieden doch wohl vorzuziehen?“316 „Wir Deutschen“: Das war ab dieser Generation in der Unternehmerfamilie Teil der Selbstpräsentation und Handlungsorientierung und blieb es bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Damit verbanden sich Eigenschaften wie Innigkeit und Treue, die in den älteren Familiengenerationen noch nicht national verortet worden waren. Dennoch kann nicht von einem aggressiven Eroberungsnationalismus gesprochen werden.317 Vielmehr gab es in der Vorstellung Paul Colsmans Konkurrenzen und Wettbewerbe zwischen den großen europäischen Staaten, die durch politisches Geschick der deutschen Regierung zum Vorteil des Deutschen Reiches gelöst werden sollten. In diesem Zusammenhang spielte der Kaiser für ihn keine Rolle.318 Die konkrete Politik wollte er doch lieber dem Reichskanzler und seinen Ministern überlassen. Während der Raum der Politik in Paul Colsmans Handlungsorientierungen regelmäßig vorkam, gegenüber den Themenfeldern Unternehmen und Familie aber einen vergleichsweise kleinen Raum einnahm, waren das Militär und sein Reserveoffizierspatent, mit dem er es immerhin bis zum Rittmeister gebracht hatte, für ihn in seiner Lebensform nach dem absolvierten einjährig-freiwilligen Militärdienst 1883/84 gänzlich bedeutungslos. Lediglich während der Übungen, die er im Rahmen seiner Anwartschaft auf den Reserveoffizierstatus zwei Mal für je acht Wochen absolvieren und später in seiner sechsjährigen Reservistenzeit insgesamt noch drei Mal wiederholen musste, spielte das Militär in seinen Briefen eine Rolle. In diesen berichtete er aber vor allem von den Alltagsereignissen während dieser Übungen. Sämtliche anderen Briefe an seine Eltern, seinen Freund Peter Conze und an seine Frau kommen ohne Bezug auf das Militär aus. Paul Colsman hatte Anteil an dem ‚Folklore- und Dekorationsmilitarismus‘319 der Zeit, aber seine Selbstpräsentation und seine Handlungsorientierungen wurden bestimmt durch seine berufliche Tätigkeit als selbstständiger Unternehmer mit Aufgaben im In- und Ausland, als Ehemann, Familienvater und als Mitglied diverser karitativer Organisationen. Zugleich war seine Lebensform durchweg säkular bestimmt. Obwohl wie sein Vater gläubiger 316

Archiv WHC, Sign. 2, Paul Colsman an Peter Conze, 13. September 1911. Paul Colsman schrieb den Brief während der Verhandlungen zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich, die mit dem Marokko-Kongo-Vertrag im November 1911 abgeschlossen wurden. 317 Aus keinem Brief der Unternehmerfamilie geht hervor, dass mit dem nationalen Patriotismus mehr als das bestehende Deutsche Reich verknüpft sein könnte, zum Beispiel ein expansiver Nationalismus mit der Idee einer Volksnation, der auf Eroberung und Einverleibung aller Gebiete ausgerichtet sein konnte, in denen Deutsche lebten. 318 So freute sich Paul Colsman 1907 über den guten Empfang Wilhelms II. in Großbritannien, verband damit aber keine weitergehenden politischen Überlegungen. Vgl. Archiv WHC, Sign. 70, Paul Colsman an Wilhelm Colsman jun., 9. Oktober 1907. 319 Vgl. Vogel, Nationen im Gleichschritt, S. 285f.; Funck, Bereit zum Krieg, S. 82. Vgl. zur Bedeutung des Militärs in der Unternehmerfamilie Colsman Kapitel VI über Einjährige, Militär und Männlichkeit, insbesondere Teilkapitel 3.

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Protestant, war doch die von Paul Colsman und seiner Frau präsentierte Alltagspraxis nicht durch den religiösen Glauben strukturiert. Vielmehr waren geschäftlicher Erfolg, eine gute Ehe und eine erfolgreiche Kindererziehung Ergebnisse eigener Anstrengung und Leistungsfähigkeit, wobei Gottes Segen eher Wirkung als Ursache solchen Handelns war. So kamen in den vorausgehend zitierten Briefen wiederholt Bezüge auf Gott vor, aber diese waren nicht handlungsleitend, sondern waren Ergänzungen säkularer Bestrebungen. Wie sein Vater praktizierte Paul Colsman ein religiöses Engagement vor allem in Form von Vorstands- und Aufsichtsratstätigkeiten in religiösen Stiftungen, beispielsweise ab 1902 als Vorstandsmitglied im „Rheinischen Provinzial-Ausschuß für Innere Mission“ und ab 1912 als Vorstandsvorsitzender der Kaiserswerther Diakonie; Ämter, welche er neben weiteren Aufsichtsratsposten in Industrieunternehmen bis zu seinem Tod 1922 wahrnahm.320 Deutlich wird in der Beziehung zwischen Paul und Elisabeth Colsman, dass sich diese von derjenigen seiner Eltern und auch von derjenigen Emil und Mathilde Colsmans unterschied. Während sein Vater Wilhelm Colsman-Bredt und seine Frau Adele politische, karitative und private Angelegenheiten miteinander ausdiskutiert hatten, informierte Paul Colsman seine Frau mehr ausführlich darüber als dass er die Dinge mit ihr gemeinsam überlegte. Gleichwohl berichtete auch er wie schon sein Vater und sein Onkel Emil Colsman seiner Frau genau über seine geschäftlichen Erfolge oder Misserfolge und auch über seine Konflikte mit den älteren Teilhabern. Aber auch angesichts dieser Konflikte suchte er weniger ihren Rat, als dass er ihr die Geschehnisse aus seiner Sicht vor allem detailliert darlegen wollte. Die Ehe war für ihn zudem mehr ein Ort der ruhigen Erholung, weniger einer der emotionalen Beziehungsarbeit. Dagegen besaß seine Frau ein Eheideal, das solche emotionale Arbeit und die entsprechende Investition von Zeit in den Mittelpunkt stellte. Damit einher gingen Geschlechterideale und konkrete Anforderungen an die Gestaltung der Geschlechterrollen durch die Ehepartner, die ebenfalls nicht ohne weiteres zu harmonisieren waren. Paul Colsmans Lebensmodell der Balance verlagerte Selbstbeherrschung und Maßhalten in den Raum der Familie und die von Aktivitäten und Anstrengungen gekennzeichnete Lebensführung in den Beruf, die Ämter und die Auslandsaufenthalte. Zwischen diesen Polen selbstbestimmt zu wechseln, war seine Vorstellung von Autonomie und ausbalancierter Lebensführung. Dagegen hatte sich seine Frau, auch wenn ihr Weiblichkeitsideal, das sie während der Brautzeit formuliert hatte, Passivität und Anpassungsfähigkeit signalisiert hatte, eine Beziehung erhofft, welche die Pole und Aufmerksamkeiten von Seiten ihres Mannes in umgekehrter Weise festlegen würde. Wie diese unterschiedlichen Erwartungen dennoch miteinander in Einklang gebracht werden konnten, war ein konfliktreiches Dauerthema in den Briefen dieses Ehepaars. 320

Vgl. Archiv WHC, Sign. 72, Unterlagen der Kaiserswerther Diakonie zu Wilhelm Colsman-Bredt und Paul Colsman; Archiv WHC, Sign. 103, Zeitungsartikel der Langenberger Zeitung vom 22. Februar 1922 zum Tod Paul Colsmans.

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6. Gefühl und Unternehmen: Peter Lucas Colsman und Tony Klincke Peter Lucas Colsman (1854–1925) war der jüngste Sohn Eduard Colsmans (1812–1876), eines Teilhabers von Gebrüder Colsman, und seiner Frau Sophie (1816–1882). Bei drei älteren Brüdern hatte er nur wenig Aussichten, in das Familienunternehmen aufgenommen zu werden. Nach der Vollendung der Lehre in Düsseldorf (1874–1876), dem einjährig-freiwilligen Militärjahr bei den Garde-Dragonern in Berlin 1876/1877 und einem weiteren Auslandsjahr zur Ausbildung in London, Mailand und Lyon kehrte er 1880 nach Langenberg zurück und gründete im Jahr darauf ein eigenes Textilunternehmen.321 1891 heiratete er Antonia („Tony“) Klincke (1870–1946), die sechzehn Jahre jüngere Tochter eines Drahtfabrikanten aus dem westfälischen Altena. Bevor er an eine Eheschließung hatte denken können, hatte sich die Frage nach seiner beruflichen Zukunft gestellt. An seine Mutter hatte er aus der Seidenwebschule in Lyon geschrieben, er suche für sich dringlich eine Stelle als Kompagnon in einer Seidenweberei: „An deinem Geburtstag werde ich gerade 25 ½ Jahre alt; ich kann nicht begreifen, wie man so schnell alt werden kann. Ich glaube meine Studienzeit muß ich bald abschließen. Wenn ich bedenke, daß ich noch keinen festen Posten bekleidet, somit also auch noch nichts verdient habe, so kann dieses Gefühl nicht angenehm sein.“322

Mit einer durch die Familie finanzierten umfassenden Ausbildung, welche ganz parallel zu derjenigen Emil Colsmans verlief,323 der ebenfalls als jüngerer Bruder nur wenig Aussichten auf den Eintritt in das Familienunternehmen Gebrüder Colsman gehabt hatte, stellte sich für Peter Lucas Colsman bald die Frage, ob er, ausgerüstet mit fachlichem Können und familialen Netzwerken, ein eigenes Textilunternehmen gründen sollte. In einer Art Selbstgespräch und als Vorlage für Ratschläge seiner älteren Brüder, von denen zwei inzwischen Teilhaber von Gebrüder Colsman geworden waren, schickte er seiner Mutter seine Überlegungen zur Geschäftsgründung: „Ist Langenberg unbedingt als Ort einzuhalten, oder muß man an andere denken? Meine Idee ist natürlich für L’berg. […] Eine andere Branche als die Seidenbranche ist wol nicht zu nehmen. Das, was ich bis jetzt darin gelernt, wäre dann reineweg umsonst gethan, 321

Vgl. Archiv Landfried, Sign. 9, Zeugnisse, Taufschein und Einjährig-Freiwilligen-Berechtigung für Peter Lucas Colsman 1854–1874; Archiv Landfried, Sign. 3, Briefe von Peter Lucas Colsman an seine Eltern und Geschwister 1868–1882. 322 Archiv Landfried, Sign. 3, Peter Lucas Colsman an Sophie Colsman, 25. März 1880. Vgl. Peter Lucas Colsman an Sophie Colsman, 22. April 1880: „Gestern war ich bei Probach, der zufällig selbst da anwesend. Selbstredend war derselbe sehr freundlich, dagegen war an eine eventl. Aufnahme nicht zu denken. […] Bei den übrigen Commissonshäusern, die ich also noch weniger kenne, ist ebensowenig Chance, bei Hartwig bin ich zum zweiten Mal noch nicht gewesen, hörte aber schon hintenherum, daß keine Aussicht ist.“ 323 Vgl. dazu in diesem Kapitel Teilkapitel 4.

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wenn an anderes gedacht würde. […] Ist von den L’berger Geschäften eins vorhanden, wo ich eventl. eintreten könnte? […] Ist ein neues Geschäft zu gründen, nicht zu rathen, sondern vorzuziehen, ein bestehendes auszudehnen? […] Ist Stoffbranche einzuhalten, oder kann man auch an Band, oder an Elberfelder Artikel denken?“324

1881 machte sich Peter Lucas Colsman im Alter von siebenundzwanzig Jahren

mit einer eigenen Seidentuchweberei unter der Firma „Peter Lucas Colsman“ in Langenberg selbstständig. Das Unternehmen prosperierte rasch, so dass in der Mitte der 1880er Jahre, zur selben Zeit wie im Familienunternehmen Gebrüder Colsman, ein Fabrikbau mit mechanischen Webstühlen errichtet werden konnte.325 Da das Unternehmen als Tuchweberei dieselbe Produktpalette anbot wie das Familienunternehmen Gebrüder Colsman, waren auch die Märkte und Kundenstämme dieselben und eine wirtschaftliche Konkurrenz innerfamiliär gegeben. Dennoch wurde die Etablierung eines eigenen Unternehmens von den älteren Brüdern, insbesondere durch den ältesten Bruder Andreas,326 mit Rat und Geschäftskontakten unterstützt. Die Familienunternehmungen standen nicht unter dem Vorbehalt unternehmerischer Konkurrenz, sondern hier kamen Werte wie eine grundsätzliche Familiensolidarität ins Spiel. Eine Prokura für das brüderliche Unternehmen wie Wilhelm Colsman-Bredt es in der Seidenbandweberei seines jüngeren Bruders Emil übernommen hatte, wäre aber vermutlich aufgrund der direkten Konkurrenz zwischen Gebrüder Colsman und dem Unternehmen Peter Lucas Colsman nicht in Frage gekommen. Nach kurzer Zeit wurde auch für Peter Lucas Colsman Großbritannien zum Hauptabsatzmarkt und regelmäßige Geschäftsreisen dorthin sowie nach Berlin und in andere europäische Hauptstädte üblich.327 Gegen Ende der 1880er Jahre hatte er seine spätere Frau Tony Klincke durch einen Jugendfreund kennengelernt, welcher 1874 seine ältere Schwester Gertrud geheiratet hatte und mit dieser im westfälischen Altena lebte. Im Juli 1891 richtete er einen förmlichen Werbungsbrief an den Vater Hermann Klincke, in dem er um die Hand der einundzwanzigjährigen Tochter bat, nachdem diese ihm bereits ihre Zusage gegeben hatte: „Was ich schon seit langer Zeit sehnlichst herbeigewünscht habe, ist mir gestern unerwartet endlich zu Theil geworden, nämlich ein ungezwungenes Zusammensein mit Ihrer verehrten Fräulein Tochter Toni. Wenn ich auch meine Heimreise über Altena geleitet 324 325

Archiv Landfried, Sign. 3, Peter Lucas Colsman an Sophie Colsman, 3. April 1880. Auch Peter Lucas Colsman konnte mit seiner Seidenweberei an der Jahrhundertwende zu den einfachen Vermögensmillionären mit Vermögen von bis zu zwei Millionen Mark aufschließen. Der mit weitem Abstand reichste Unternehmer Langenbergs blieb allerdings Gottfried Conze, Seidentuchfabrikant, mit einem Vermögen von 10–11 Millionen Mark und einem Einkommen von 600.000 Mark. Vgl. Martin, Jahrbuch des Vermögens und Einkommens, Bd. 1, S. 21, S. 830. 326 „Der Berg, den ich überschritten habe, mußte nun einmal überstiegen werden. […] Auch daß Andreas mit der Sache als solche im Großen & Ganzen einverstanden ist dient mir sehr zur Beruhigung.“ Archiv Landfried, Sign. 3, Peter Lucas Colsman an seine Mutter Sophie Colsman, 3. August 1881. 327 Vgl. dazu Kapitel IV über Schulbesuch und Sozialisation der Jungen, Teilkapitel 4.4.

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hatte, um eine Gelegenheit zu einem Sehen oder Sprechen mit Ihrer Fräulein Tochter zu erhaschen, so hatte ich doch nicht geahnt, daß mir der Himmel so hold sein würde. Um es gleich auszusprechen: ich bin gestern bei dem fröhlichen Verkehr mit Ihrer geehrten Familie, in Gottes freier Natur, zu der festen Überzeugung gekommen, daß ihre geehrte Fräulein Tochter Toni diejenige ist von der mein Lebensglück abhängt. Ich trete denn hiermit vor Sie hin, um bei Ihnen um die Hand Ihrer Fräulein Tochter Toni zu werben!“328

Wenige Tage später wurde nach dem Einverständnis des Vaters die Verlobung bekannt gegeben. Der Schritt, der für den Bräutigam erst mit siebenunddreißig Jahren und im Status eines selbstständigen Unternehmers und Fabrikbesitzers erfolgte, kam für seine Freunde und seine Familie dennoch überraschend. Peter Conze schrieb ihm aus Berlin: „Du bist der größte Meister in Heuchelei und Verstellung, den ich jemals kennen gelernt habe. Noch vor 8 Tagen läßt du dir von meiner Frau und mir mit dem harmlosesten Gesicht von der Welt gute Rathschläge über die Wahl deiner zukünftigen Lebensgefährtin ertheilen, und gestern finden wir schon bei Koesters die gedruckte Anzeige von deiner Verlobung vor. Diese unglaubliche Hinterlist, die wir deinem biedern Gemüthe niemals zugetraut hätten, soll uns aber nicht abhalten, dir aus vollem Herzen unsere Glückwünsche zu dem reiflichsten Entschlusse deines Lebens darzubringen. Gar zu gern möchten wir dich in deiner neuen Eigenschaft als Bräutigam einmal in Action sehen und zugleich diejenige kennen lernen, der es staunenswerther Weise gelungen ist, dein Herz von den nichts würdigen Banden zu erlösen, in welche das Junggesellenthum desselben bereits unwiderruflich geschmiedet zu haben schien.“329

Auch im Falle der Eheschließung Peter Lucas und Tony Colsmans war das unternehmerische Milieu nicht verlassen worden. Wie in den anderen geschilderten Ehen war zudem dem Werben um die Hand der Tochter beim Vater das persönliche Einverständnis der Braut vorausgegangen. Offenbar hatte aber, anders als in anderen vorausgehend geschilderten Fällen und vergleichbar mit Mathilde und Emil Colsman, noch keine tiefere Beziehung bestanden. Nach der Verlobung begann das Paar einen Briefwechsel, in dem sich Männlichkeits- und Weiblichkeitsideale und die Verhandlung über die zukünftige Paarbeziehung noch einmal anders darstellten als in der Beziehung des etwa gleichaltrigen Paares Paul und Elisabeth Colsman. In der Beziehung zwischen Tony und Peter Lucas Colsman war es vor allem der sechzehn Jahre ältere Bräutigam, dem die Aufgabe der starken Gefühlsarbeit zukam. Während in der Beziehung zwischen Paul und Elisabeth Colsman die Braut schon in der Verlobungszeit über die zurückhaltende Briefpraxis ihres Verlobten geklagt hatte, war 328 329

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Archiv Landfried, Sign. 13, Peter Lucas Colsman an Hermann Klincke, 6. Juli 1891. Archiv Landfried, Sign. 13, Peter Conze an Peter Lucas Colsman, 11. Juli 1891. Eine Cousine schrieb ihm: „Es hätte mir kaum eine liebere Überraschung zu Theil werden können, in diesem Augenblick, als die frohe Botschaft von deiner Verlobung! […] Da man so gar nichts von irgend welchen Bestrebungen sah u. hörte, hatte ich fast das Vertrauen zu deinem ernsten ‚Wollen‘ verloren.“ Archiv Landfried, Sign. 13, Julie Colsman an Peter Lucas Colsman, 9. Juli 1891.

es hier der Mann, der Gefühle nicht nur deutlich äußerte, sondern auch die Geschlechterrollen für die Beziehung anders definierte: „[…] zum Schluß deiner Zeilen an mich schreibst du nur: herzinnigen Gruß & Kuß von – Tony. Also nicht einmal von ‚Deiner Tony‘! Ja, so geht es! Gestern Morgen dachte ich nach deinem Klagebrief ‚Mein lieber Schatz hat mich doch noch lieber, wie ich ihn habe!‘ heute muß ich nun wieder die Sache umdrehen. Doch Du verstehst, meine Neckereien! Wie soll ich Dir nun meinen Seelenzustand schildern! Ich beschäftige mich so viel mit Dir, wie ich es Dir gar nicht beschreiben kann. […]. Allein bin ich nichts mehr.“330

Der Brief betonte die Nähe des Schreibers zu seiner Verlobten mit Formulierungen, welche im öffentlichen Diskurs eher dem weiblichen Geschlecht zuordnet wurden: Emotionalität, Konzentration auf die Sphäre von Ehe und Familie und eine symbiotische Beziehung, welche von Peter Lucas Colsman als Zentrum der Lebensführung präsentiert wurde. Seine Verlobte formulierte ihre Briefe dagegen in distanzierterer Form und stellte nicht zuletzt ihre emotionalen Schwierigkeiten in Bezug auf ihre Lösung vom Elternhaus dar: „Ich hatte aber wirklich nicht vor dir heute zu schreiben, weiß auch eigentlich nicht warum ich es thue, aber ich kann es nicht lassen dir einen herzinnigen Gruß zu senden! […] u. ich wollte dir sagen daß du mich nur ja immer recht recht lieb behältst. Ich wurde eben ganz traurig als ich an den Abschied aus dem Elternhaus dachte, habe jetzt noch Thränen in den Augen aber meine Liebe und mein Vertrauen zu dir, Liebster, muß es mir leichter machen.“331

Die briefliche Zurückhaltung seiner Braut irritierte Peter Lucas Colsman zunächst, doch er beruhigte sich selbst in einem Brief mit folgender Erklärung: „Du hast mich doch lieber, wie ich denke & wie du dich zeigen willst; das wird mir doch so allmählich klar.“332 Peter Lucas Colsman war es auch, der wie vor ihm Emil Colsman sich intensiv um die Ausstattung der ersten eigenen Wohnung kümmerte, während Paul Colsman dies weitgehend seiner Braut überlassen hatte: „Die rothe Tapete für Eßzimmer ist angekommen; bei Tage sieht sie ganz gut aus, dagegen bei Lampenschein ist sie recht grell, wahrscheinlich sieht sie im Zimmer mit Möbel etc besser aus.– Unser Schlafzimmer & Dein Boudoir sind auch fertig tapezirt & als recht zu bezeichnen! Wie nett werden die Zimmer aber erst sein, wenn du dort dein Regiment führst! Das werden schöne Zeiten! Ich wage gar nicht daran zu denken, wie schön & gemüthlich es sein muß!!“333

Peter Lucas Colsman kultivierte ein Ideal trauter Zweisamkeit und fragte bei jeder Entscheidung seine Braut um Rat: „Sollen die Fußböden in der oberen Etage (also unsere Schlafstube etc) alle gestrichen werden? – oder was hattest

330 331 332 333

Archiv Landfried, Sign. 20, Peter Lucas Colsman an Tony Klincke, 3. August 1891. Archiv Landfried, Sign. 23, Tony Klincke an Peter Lucas Colsman, 29. September 1891. Archiv Landfried, Sign. 20, Peter Lucas Colsman an Tony Klincke, 2. September 1891. Archiv Landfried, Sign. 20, Peter Lucas Colsman an Tony Klincke, 2. Oktober 1891.

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du gedacht?“334 Er war es auch, der die Sehnsuchtsformeln in den Briefen verwendete („Also morgen um diese Zeit haben wir uns wieder 2 Stunden Herz an Herz gehabt!“335), während sich dies bei Paul und Elisabeth Colsman umgekehrt verhalten hatte. Peter Lucas Colsman beschrieb seine Gefühlsregungen gegenüber seiner Verlobten auch mittels eines für Männer des Kaiserreichs, folgt man dem im öffentlich-medialen Diskurs formulierten Männlichkeitsideal, untypischen Gefühls, denn er weinte, als ihm seine Geschwister vor der Hochzeit recht kostbare Geschenke überreichten: „Um kurz zu sein: 6 feine Silbersachen: Kaffeekanne, 2 Brodkörbchen, Tablette, Zuckerschale + Milchkännchen. Ich wußte zuerst nicht, was ich sagen sollte & mußte bald vor Rührung weinen. Dir die einzelnen Sachen zu beschreiben, würde zu weit führen; ich bring’ sie Dir morgen Alle mit.“336

Tony Klincke dagegen befasste sich stärker mit dem Arrangement der Hochzeit und des Umzugs nach Langenberg und musste gelegentlich ihre Briefe, auf die ihr Verlobter sehr sensibel reagierte, erklären und korrigieren: „Und tausend Dank für deinen lieben guten langen Brief, der mich erquickte, beschämte und erfreute; während dich mein Sonntagsgruß traurig stimmte, beglückten mich deine Briefe, daß that mir plötzlich so leid, daß ich gleich mein Unrecht gut machen muß u. dir einen besseren Gruß senden. […]. Wenn du jetzt bei mir wärst, würde ich dich in den Arm nehmen und dich küssen!“337

Die im öffentlichen Diskurs vorgesehenen Geschlechterrollen, welcher Rationalität, Aktivität und Autonomie auf der Seite des Mannes, Emotionalität, Passivität und Abhängigkeit aber auf der Seite der Frau verortete, vollzog das Paar in Bezug auf seine Gefühlsäußerungen nicht nach. Vielmehr operierte der Mann mit starken, Nähe herstellenden Gefühlen, während die Frau ihre Gefühle weniger deutlich in den Mittelpunkt stellte: „Zugleich dachte ich ob du nicht denken wirst daß ich kalt, oder vielleicht nicht so empfänglich für deine bethätigende Liebe sei; Schatz, glaube das nicht von mir, bald bin ich ja deine Frau, u. dann werde ich es dir zuweilen sagen […].“338 Über Gefühle wie Liebe, Ängste, Sorgen aber generell zu sprechen, war für beide Verlobten in ihren Briefen selbstverständlich. Nach der Hochzeit im Oktober 1891 am Heimatort der Braut und der obligatorischen mehrwöchigen Hochzeitsreise nach Italien zog das Ehepaar in die Kleinstadt Langenberg. In seinen frühen Ehebriefen setzte Peter Lucas Colsman den von ihm in der Verlobungszeit begonnenen Gefühlsdiskurs fort. Von seiner ersten Englandreise nach der Eheschließung schrieb er an seine Frau:

334 335 336 337 338

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Archiv Landfried, Sign. 20, Peter Lucas Colsman an Tony Klincke, 23. September 1891. Archiv Landfried, Sign. 20, Peter Lucas Colsman an Tony Klincke, 2. September 1891. Archiv Landfried, Sign. 20, Peter Lucas Colsman an Tony Klincke, 4. Oktober 1891. Archiv Landfried, Sign. 23, Tony Klincke an Peter Lucas Colsman, 31. August 1891. Archiv Landfried, Sign. 25, Tony Klincke an Peter Lucas Colsman, 13. September 1891.

„Bevor ich diese Zeilen anfing, mußte ich mich einen Augenblick auf mich selbst besinnen! Die Veränderung mit mir seitdem ich zuletzt hier war, seitdem ich Dir zuletzt geschrieben & seitdem ich dich zuletzt gesehen, ist eine so große, daß ich es nicht Alles verstehen kann. Ja, aber welch’ glückliche Veränderung darf ich & kann ich sagen! Es fehlt mir doch eigentlich Nichts mehr, seitdem du mir vom Himmel geschenkt bist. Hoffentlich denkst du auch so! Doch ich weiß, daß du auch so denkst, deshalb bin ich so glücklich und zufrieden.“339

Die körperliche Nähe (Küsse, Umarmungen) war für Tony und Peter Lucas Colsman ein bedeutsames Element ihrer Beziehung, und Tony Colsman deutete am Beginn ihrer ersten Schwangerschaft an, dass die Herstellung von Nähe auch die Sexualität einschloss: „Sonst bin ich aber sehr vergnügt u. munter, habe ich doch allen Grund dazu, glücklich u. zufrieden zu sein! […] Denkst du daran, wie wir vorigen Sonntag auf unserm Schlafzimmer Caviar u. --- frühstückten? Adieu, liebster Schatz! Herzinnigen Gruß u. Kuß von deiner treuen Tony.“340

In den Briefen behielt das Ehepaar auch nach mehreren Jahren der Ehe und nach insgesamt vier Kindern, welche zwischen 1892 und 1904 geboren wurden, die Interpretation ihrer Ehe als strukturgebendes Zentrum ihres Lebens bei. Für Peter Lucas Colsman ordnete sich seine Berufstätigkeit ganz auf seine Ehe und die Familie hin, und er schrieb seiner Frau 1903 aus London: „Heute habe ich einen ganz schönen Sonntag verlebt. Um 11 Uhr in den City temple wo Mr. Campbell predigte. […] Er predigte über 1 König 19. Bei einer Stelle ging durch die ganze Zuhörerschaft ein wohlgefälliges, halblautes Lachen. C. sprach von einem Mann, der eine Crisis durchgemacht, wie dies ja jeder Mensch erlebe. Nichts, und Nichts habe geholfen. Und – der Mann hätte geheiratet, und mit einem Mal hätte seine Krankheit aufgehört. – So geht’s! – So geht’s!“341

Insbesondere in geschäftlich aufreibenden Zeiten in der Londoner City konstruierte Peter Lucas Colsman die Familie und seine Ehe als die Orte, für die er dies leistete und die seinem Beruf erst einen Sinn verliehen. Wie in allen anderen dargestellten Ehen schilderte auch Peter Lucas Colsman seiner Frau geschäftliche Angelegenheiten und fragte nach ihrer Einschätzung. Dabei war das Unternehmen letztendlich für die Familie da: „Gesundheitlich habe ich mich selten gleich hier so wohl gefühlt, wie dieses Mal! Aber – geschäftlich gerade das Gegentheil! Dieser Agenten Wechsel ist doch recht lästig & mühselig. Mit Krauß also kein eigentlicher Verkehr mehr, und mit den übrigen Meldungen nur pour parler. Ich habe hier sehr viel Terrain verloren. Da heißt’s tüchtig arbeiten. – Vom Geschäft dort heute 2 Briefe; heute Morgen mußte ich noch dort telegraphieren. […] Wie geht es Euch denn?! Ich darf an unser Paradies Landfried nicht denken, sonst 339 340

Archiv Landfried, Sign. 20, Peter Lucas Colsman an Tony Colsman, 2. August 1892. Archiv Landfried, Sign. 23, Tony Colsman an Peter Lucas Colsman, 13. Februar 1892. Zu den bürgerlichen Codes der Andeutung in Fragen der Sexualität vgl. Gay, Erziehung der Sinne, S. 93ff., S. 122ff. 341 Archiv Landfried, Sign. 28, Peter Lucas Colsman an Tony Colsman, 1. November 1903.

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werde ich traurig! Herzl. Grüße u. Küße Euch Allen & dir besonders. Dein treuer Mann.“342

Seine Frau schrieb anlässlich seiner vielen beruflichen Abwesenheiten aber gleichzeitig, dass diese geschäftlich erforderlich seien und – trotz der damit verbundenen Trennungen – auch mit Rücksicht auf die Gesundheit ihres Mannes nicht gedrängt und hektisch verlaufen dürften: „Nimmst Du dich auch recht in acht, lieber Mann, u. mutest dir nicht zu viel zu? Ist es nicht zu rasch mit Breslau u. Hamburg? So sehr ich mich nach dir sehne, bin ich doch vernünftig u. weiß daß deine Abwesenheit eine Notwendigkeit ist, die nicht übereilt werden darf, aus Rücksichten für deine Person u. für’s Geschäft!“343

Für Peter Lucas Colsman und seine Frau Tony gehörten Geschäft und Familie so eng zusammen, dass er sie sechs Jahre nach der Hochzeit zur Prokuristin im Unternehmen machte: „Meißner & Strauen habe ich auf deine Procura vorbereitet. Amtsricht. Metzges ist verreist; gleich nach seiner Rückkehr sollst Du also mein Procurist werden.“344 Nach dem Tod ihres Mannes 1925 leitete Tony Colsman das Unternehmen aktiv gemeinsam mit ihren beiden jüngeren Söhnen Helmuth und Erwin, welche den Ersten Weltkrieg überlebt hatten. Der älteste Sohn Peter war 1917 an der Westfront gefallen.345 Eine Lebensführung in der Balance stellte sich für Peter Lucas und Tony Colsman anders dar als für Paul und Elisabeth Colsman zur selben Zeit. Für sie war das organisierende Zentrum ihres Lebens die Familie und ihre Ehe, während dies bei Paul und Elisabeth Colsman unterschiedlich war: Für Paul Colsman gab es zwei Pole, das Unternehmen und die Familie, welche er selbst mit wechselnden Schwerpunktsetzungen in eine Beziehung setzte, wohingegen sich seine Frau ein Lebensmodell ihres Mannes gewünscht hätte, das sich auf die Familie als Zentrum ausrichtete. Auch die Geschlechterrollen divergierten zwischen den Ehepaaren. Peter Lucas Colsmans Konzept von Männlichkeit schloss starke, Nähe herstellende Gefühlsäußerungen, aber auch Weinen und Traurigkeit als Zeichen von Verletzlichkeit ein, während Paul Colsmans Männlichkeitskonzept dies nicht zuließ. Die Frauen waren sich dagegen ähnlicher; beide agierten in der Ehe selbstbewusst und gleichrangig. Während aber Elisabeth Colsman über Zeit und Raum für Ehe und Familie häufig mit ihrem Mann diskutieren musste, war dies für Tony Colsman kein Problembereich. Vielmehr entwickelten ihr Mann und sie ein Konzept, welches das Unternehmen stärker mit der Familie verband, mit ihr als Prokuristin.

342

Archiv Landfried, Sign. 28, Peter Lucas Colsman an Tony Colsman aus London, 30. Oktober 1903. 343 Archiv Landfried, Sign. 25, Tony Colsman an Peter Lucas Colsman, 29. Januar 1894. 344 Archiv Landfried, Sign. 26, Peter Lucas Colsman an Tony Colsman, 25. August 1897. 345 Vgl. dazu das Kapitel VII über den Ersten Weltkrieg.

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7. Ausblick und Forschungsperspektiven Vergleicht man die vorausgehend analysierten Ehen mit den in der Forschung für das Kaiserreich beschriebenen bürgerlichen Ehebeziehungen, so besteht weiterer Forschungsbedarf. Die in diesem Kapitel geschilderten bürgerlichen Ehen waren weder durch autoritäre Strukturen geprägt noch durch rigide formulierte Geschlechterideale und -rollen. Das in der Forschungsliteratur für das Kaiserreich überwiegend betonte deutliche Autoritätsgefälle zwischen den bürgerlichen Ehepartnern346 lässt sich in den untersuchten Fällen nicht nachweisen. Ehemänner agierten in den analysierten Ehen brieflich nicht als Erzieher ihrer Ehefrauen und begriffen sich in ihren Briefen auch selbst nicht als solche. Ehefrauen handelten nicht nur mit dem Ziel der Unterstützung und Entlastung für ihre arbeitenden Ehemänner, sondern verstanden sich als verantwortliche und gleichrangige Gestalterinnen einer Beziehung, so wie dies auch die meisten der Ehemänner taten. Gleichwohl blieben die Felder der zugelassenen Aktivitäten geschlechtsspezifisch differenziert, so wie der öffentlich-mediale Diskurs sie bis in die 1890er Jahre festschrieb, bis die bürgerliche und die sozialistische Frauenbewegung dies öffentlich zur Debatte zu stellen begann: Die berufliche Arbeit und die Tätigkeit in Politik und Vereinen waren Männern vorbehalten; Frauen eröffnete sich neben einer sozialkaritativen Tätigkeit in Vereinen und Stiftungen vor allem die Pflege der Hochkultur, wobei ihnen die Mitgliedschaft in politischen Vereinen und Parteien bis zur Neufassung des Vereinsgesetzes 1908 verboten blieb. Es kam für Ehebeziehungen offenbar sehr darauf an, wie die sozialen Felder (Beruf, Familie, gesellschaftliches Engagement) in der Ehe gewichtet und gewertet wurden. Wurden sie als einander ergänzend begriffen, waren partnerschaftliche Beziehungen möglich; wurden sie hierarchisch angeordnet, mit der Arbeit des Mannes an deren Spitze, konnten auch die Beziehungen hierarchisch werden. Dabei hing dies im Bürgertum nicht nur mit der ausschließlichen Berufstätigkeit des Mannes zusammen – dies war in so gut wie jeder bürgerlichen Ehe gegeben –, sondern vor allem mit den sozio-ökonomischen Voraussetzungen der Ehepartner und mit einem vorhandenen oder nicht vorhandenen Bildungsgefälle. Meine Forschungsthese lautet daher: War die Herkunft gleichrangig, bezogen auf den sozialen Status, die Vermögensverhältnisse und die erreichten Bildungs- und Ausbildungsniveaus, so waren symmetrische, wenn auch damit nicht notwendigerweise konfliktfreie Ehebeziehungen auch bei abweichenden öffentlichen Geschlechterdiskursen im Kaiserreich wahrscheinlicher als asymmetrische. Die Gleichrangigkeit der Partner in der Ehe wurde zudem im Wirtschaftsbürgertum stark durch eine milieugleiche Herkunft der Ehefrauen gefördert, deren Bedeutung als sozio-ökonomisches Netzwerk für die unternehmerisch tätigen Ehemänner sehr hoch war. 346

Vgl. Berg, Familie, Kindheit, Jugend, S. 100ff.; Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben, S. 40ff.

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Zu prüfen wäre diese Forschungsthese an Akademikerehen, in denen das Bildungsgefälle für die Ehefrauen im Kaiserreich nicht aufhebbar war. Höhere Töchterschulen mochten ‚Bildung‘ ermöglichen, Qualifikationen mit Bedeutung für eine Berufsausübung konnten sie bis zur Jahrhundertwende nicht anbieten. Erst 1908 wurde in Preußen ein qualifizierter Teil öffentlicher höherer Mädchenschulen zu abiturvergebenden Anstalten aufgewertet. In den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg stellten Frauen aber erst 3–6% der Studierenden.347 Wenn Max Weber seine Braut Marianne in einem Brief 1892 mit „mein Kind“ ansprach und sich selbst dadurch in die Rolle eines Erziehers versetzte,348 ist das ein Hinweis auf eine stark unterschiedliche Bewertung des jeweiligen (Bildungs-)Kapitals. Um bürgerliche Ehen in ihren Differenzen in den Blick zu bekommen, wäre es daher bedeutsam, stärker auf die Unterschiedlichkeit der beiden Großgruppen, Bildungsbürgertum und Wirtschaftsbürgertum, zu achten bzw. zu untersuchen, inwieweit die Zugehörigkeit zu diesen Großgruppen für die bürgerlichen Ehen strukturgebend war.349 Nimmt man das Jahr 1900 einmal als Stichjahr, in dem alle in diesem Kapitel untersuchten Paare verheiratet waren und miteinander lebten, so existierte eine „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“.350 Die Ehen und Geschlechterideale waren verschieden, bedingt durch den unterschiedlichen Eintritt der Männer und Frauen in den historischen Prozess. Es machte für Leitbilder und Handlungsorientierungen einen Unterschied, ob die Ehepartner in den 1830er, den 1850er oder in den 1870er Jahren geboren worden waren. Alle aber führten im Jahr 1900 eine bürgerliche Ehe im deutschen Kaiserreich. Bei weiteren Analysen bürgerlicher Ehebeziehungen sollte also auch die Zugehörigkeit zu Alterskohorten eine Rolle spielen. Ebenso ist zu differenzieren zwischen öffentlich-medialem und privatem Diskurs über Ehe, Geschlechterideale und -rollen im Kaiserreich. Auch wenn der öffentliche Diskurs im Kaiserreich diese recht klar absteckte, oblag es doch den einzelnen Paaren, sie zu interpretieren und in ihrer Bedeutung und Reichweite miteinander auszuhandeln. Es wäre methodisch falsch, den öffentlichen Diskurs einfach als Abbildung oder Modell privater Beziehungen zu deuten. Er 347

Vgl. Titze/Herrlitz/Müller-Benedict/Nath, Wachstum und Differenzierung der deutschen Universitäten, S. 42. 348 Zit. nach Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben, S. 42. 349 In Forschungsarbeiten zur Jahrhundertwende 1800 ist bereits deutlich geworden, dass Ehen von Kaufleuten und Fabrikanten stärker auf Gleichrangigkeit aufgebaut waren und Männer- und Frauenrollen weniger klar unterschieden wurden als in Akademikerbeziehungen. Dies zeigt Anne-Charlott Trepp überwiegend am Beispiel von Hamburger Kaufmannsfamilien der Sattelzeit. Vgl. dies., Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit. Rebekka Habermas zeigt am Beispiel der Kaufmannsfamilie Merkel und der Lehrerfamilie Roth in der Sattelzeit zwischen den 1780er und den 1840er Jahren eher Wandlungen von Partnerschaft in diesem Zeitraum auf, wobei es Hinweise gibt, dass auch dort die Akademikerehen stärker durch hierarchische ‚Lehrverhältnisse‘ geprägt waren. Vgl. Habermas, Frauen und Männer des Bürgertums, S. 232ff. 350 Mannheim, Das Problem der Generationen, S. 517.

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ist vielmehr die Grenzbestimmung des öffentlich Sagbaren und Zulässigen; für die Paare ergab sich daraus ein Orientierungsrahmen, der eine äußere Markierung darstellte. Innerhalb dieser Markierung war im Raum des Privaten vieles möglich, beispielsweise – sofern die finanziellen Möglichkeiten dazu bestanden – ausführliche Reisen und Freundschaftsbesuche der Ehefrauen mit Delegierung der Haushaltsführung und Kindererziehung an den Ehemann, Selbstpräsentationen der Männer als verletzlich, nervös und gefühlsorientiert und Selbstpräsentationen der Frauen als stark und energisch. Sexualität war – mithilfe der bürgerlichen Codes der Andeutung – ebenfalls ein vorsichtig besprochenes Thema der Eheleute. Es spricht nach den Ergebnissen dieses Kapitels zudem viel für die These George L. Mosses, dass das Ideal harter, gefühlloser und zugleich aggressivkampfbereiter Männlichkeit in Deutschland und Europa erst ein Ergebnis des Ersten Weltkrieges war.351 So lassen sich in den Familiengenerationen der Unternehmerfamilie Colsman im Kaiserreich zwar deutliche Varianten von Männlichkeit und Weiblichkeit in den Selbstpräsentationen der Ehepartner ausmachen; diese entsprachen aber weder eindeutig einem Ideal aktiv-rationaler, emotionsarmer Männlichkeit noch dem Ideal gefühlsbetonter, passiver Weiblichkeit.352 Mosse leitet seine Thesen aus einer ideengeschichtlichen Analyse von Bildern und Texten her und betont für das 18. und 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg das Männlichkeitsideal einer Harmonie und ruhig-ausgewogenen Balance in Körperlichkeit, Gestik und Verhalten.353 Dagegen finden sich im militärischen Bereich schon im Verlauf des Kaiserreichs Veränderungen des Männlichkeitsideals, wodurch das Ideal des elegant-vornehmen adligen Berufsoffiziers zunehmend als ‚weibisch‘ klassifiziert wurde und durch das bürgerliche eines harten, asketischen Berufsarbeiters ersetzt wurde sowie durch das des aggressiven Kriegers.354 Weitere Untersuchungen könnten auch hier zutage fördern, wie stark oder schwach private Lebensideale im Bürgertum und in anderen sozialen Klassen von solchen Idealen der Männlichkeit, aber auch der 351

Vgl. Mosse, The Image of Men, S. 107ff. Für diese These sprechen auch Julia Kurigs Ergebnisse zur pädagogischen Technikrezeption nach dem Ersten Weltkrieg. Vgl. Kurig, Bildung für die technische Moderne, S. 79ff. Darüber hinaus zeigen sich auch Indikatoren bei einem literarischen Vergleich: Walter Flex’ „Der Wanderer zwischen beiden Welten“ (1917) beschreibt noch während des Weltkriegs den jugendbewegten Weltkriegsoffizier Ernst Wurche als weiche, feinsinnige, geradezu lässige Person, ohne Hass und in klassisch bürgerlicher innerer Balance, gebildet und feinfühlig. Dagegen – zudem mit ganz anderer Interpretation des Ersten Weltkriegs – steht Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ (1929), wo innere Gefühllosigkeit die Antwort auf die tödliche Maschinerie des techisierten Krieges und auf das Massensterben ist. 352 Zur Dichotomie von Männlichkeits- und Weiblichkeitskonstrukten in ihrer Bedeutung für die Bildung von Frauen im Kaiserreich vgl. Jacobi, Mädchen und Frauenbildung in Europa, S. 289ff., S. 320ff. Zum dichotomisierenden öffentlichen Diskurs im 18. und 19. Jahrhundert vgl. Newmark, Vernünftige Gefühle, sowie Frevert, „Mann und Weib, und Weib und Mann“, S. 13ff. 353 Vgl. Mosse, The Image of Men, S. 17ff., S. 40ff., S. 77, S. 95. 354 Vgl. Funck, Bereit zum Krieg, S. 73ff.

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Weiblichkeit, zum Beispiel im Kontext der durch die Frauenbewegung seit den 1890er Jahren angestoßenen öffentlichen Debatten, affiziert waren. Auch das Lebensmodell der Balance fand in den in diesem Kapitel untersuchten vier Ehen unterschiedliche Konkretisierungen. Es nahm damit flexibel Bezug auf sich verändernde Sozialisationsrahmen und -kontexte, wobei die Vorstellung einer grundsätzlich selbstbestimmten Regulierung der Lebensform erhalten blieb. Immer bildete dabei die Person die zentrale Regulationsinstanz der bürgerlichen Sinnordnung. Sie wurde, unabhängig von Geschlecht und Zeitpunkt, bei allen Paaren als ausbalancierendes Zentrum begriffen, welche die Fliehkräfte der Welt und ihre Unübersichtlichkeit auf sinnvolle Weise zusammenfügte. Dieser ‚Konstruktivismus‘ der Weltdeutung und Lebensform enthielt eine implizite Bildungsidee und -praxis, nämlich die Person im Rahmen ihres Sozialisationsprozesses in wachsendem Maße zu befähigen, eine, wie Wilhelm von Humboldt es formuliert hatte, „Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung“355 herzustellen. Die damit paradoxerweise gleichzeitig erforderliche „Begrenzung der Person“, welche sich eben „den eigenen Möglichkeiten und Impulsen wie auch der Umwelt nicht beliebig und grenzenlos“ überlassen darf,356 wenn sie selbstbestimmt handeln und die Welt begreifend ordnen will, wurde in den vier Ehen durch Männer wie Frauen implizit adressiert als eine Balanceübung. Mit ‚Bildung‘ wurde diese Fähigkeit der Lebensführung in der Regel nicht beschrieben; dieser Begriff wurde in Unternehmerkreisen ohnehin nur sehr sparsam verwendet und war meist reserviert für den Wissenserwerb in der Schule. Mit der Konzeptualisierung eines Lebensmodells der Balance als Bildungsideal und als von den historischen Personen formulierte Bildungspraxis gewinnt die Historische Bildungsforschung einen analytisch-empirischen Zugriff auf Entwicklungsprozesse historischer Personen hinzu, ohne die normativen Konnotationen des Bildungsbegriffs in Kauf nehmen zu müssen. Sozialisationsprozesse können auf diese Weise auch als Bildungsprozesse analysiert werden. Da das Lebensmodell der Balance eine bürgerliche Handschrift trug, macht es dies zuerst zu einer bildungshistorischen Forschungsfrage für die Geschichte des Bürgertums. Zu überlegen ist aber, ob sich nicht angesichts einer wachsenden Übernahme genuin bürgerlicher Handlungsorientierungen in anderen sozialen Klassen ab dem späten 19. Jahrhundert auch dort die Frage nach Bedeutung und Umsetzung dieses Lebensmodells produktiv stellen lässt. Dies schließt die Frage ein, inwiefern soziale Lagen hier begrenzend wirkten, aber auch andere Weltdeutungen und Handlungsorientierungen dazu treten konnten. Dadurch ergibt sich die Perspektive einer Analyse alternativer Bildungskonzepte und praktiken vor dem Hintergrund des bürgerlichen Lebensmodells der Balance.

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Humboldt, Theorie der Bildung des Menschen, S. 235f. Tenbruck, Bildung, Gesellschaft, Wissenschaft, S. 371.

III. In der Familie: Frühkindliche Erziehung und Sozialisation

1. Die Familie als Ort für Kinder Die Familie war für die allermeisten Einwohnerinnen und Einwohner des deutschen Kaiserreichs nicht nur die erstrebenswerteste aller Lebensformen im Erwachsenenalter, sondern die meisten erträumten sich auch eine ganz bestimmte Form des Familienlebens. Es war das klassische bürgerliche Ideal der privaten Kernfamilie, das Zusammenleben von Eltern mit ihren Kindern, ohne Seitenverwandte und Großeltern in derselben Wohnung, die emotional aufeinander bezogene und auf die Erziehung der Kinder konzentrierte Familie mit zwei Elternteilen. Was eine Familie als Eltern-Kind-Gemeinschaft ausmachen sollte, war in der Gesellschaft des Kaiserreichs als Ideal unbestreitbar vorgegeben: Werte wie Privatheit (die Familie als staatlich geschützter, privater Raum), Individualität (Akzeptanz und Förderung der individuellen Persönlichkeit des Kindes) und Emotionalität (die Familie als Ort emotionaler Nahbeziehungen) sollten die Familie bestimmen. Diese kernfamiliale Lebensgemeinschaft aus Eltern und Kindern erhielt im Kaiserreich eine wachsende und klassenübergreifende Bedeutung als erstrebenswertes Ideal und Lebenssinn stiftende Instanz. Die ‚nuclear family‘ war in den deutschen Staaten erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Ideal entstanden und zunächst nur im Bildungs- und im Wirtschaftsbürgertum soziale Realität geworden. Im Wirtschaftsbürgertum geschah die Privatisierung der Familie zudem später als im Bildungsbürgertum, weil dort Unternehmen und familiales Wohnen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts enger miteinander verbunden geblieben waren, zum Beispiel durch Kontore und Lagerräume, mitversorgte Kontorangestellte und durch Geschäftsfreunde, die als Logisgäste bei den Unternehmerfamilien wohnten.1 In der Unternehmerfamilie Colsman waren die Ehefrauen beispielsweise noch bis in die 1830er Jahre aktiv in den Unternehmen engagiert gewesen; sie waren verantwortlich für einzelne Arbeitsprozesse in der Manufaktur und den Kontoren sowie hauptverantwortliche Unternehmensleiterinnen zu den Reise- und Messezeiten ihrer Ehemänner. Die um 1800 entstehende Geschlechteranthropologie mit der begleitenden Fixierung männlicher und weiblicher Geschlechterstereotype und geschlechtsspezifischer sozialer Räume, welche stark durch die Lebensideale des Bürgertums geprägt waren, konnte sich in vielen wirtschaftsbürgerlichen Familien daher erst im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts lebenspraktisch durchsetzen und dies auch nur teilweise.2 Am Wirtschaftsbürgertum wird auch sichtbar, dass es weniger das Auseinandertreten von Familienleben und Berufstätigkeit war, welches zu einer differenzierten Planung 1 2

Vgl. Groppe, ‚Doing Family‘, S. 29ff. Vgl. Habermas, Frauen und Männer des Bürgertums, S. 39ff., S. 93ff.; Groppe, Der Geist des Unternehmertums, S. 385ff.

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und einer neuen Reflexionsintensität von Erziehung in der Familie führte. Vielmehr fand dies seine Begründung in der Notwendigkeit, angesichts einer zunehmenden Autonomie der gesellschaftlichen Felder und der in ihnen geltenden Handlungslogiken (Politik, Ökonomie, bürgerliche Öffentlichkeit, Religion, Familie etc. mit je eigenständigen Normen und Regeln), selbstständig eine möglichst widerspruchsfreie Koexistenz und Balance zwischen den Feldern in einem persönlichen Lebensentwurf herstellen zu können.3 Nicht mehr die Annahme einer den menschlichen Deutungen und Handlungen vorgelagerten Ordnung der Welt einschließlich des Sozialen bestimmte mit Beginn des 19. Jahrhunderts das bürgerliche Bewusstsein, sondern in wachsendem Maße die Vorstellung einer Konstitution sozialer Strukturen und Beziehungen durch die denkende und handelnde Person.4 Aufgefangen wurde der Verlust der Sinnsicherheit über die Ordnung der sozialen Welt durch ein bürgerliches Selbstverständnis, das die Person als ausbalancierendes Zentrum begriff, welches Unübersichtlichkeit abbaut, Fliehkräfte bändigt und Ordnung erzeugt und dazu mittels Erziehung, Sozialisation und schulischer Bildung in die Lage versetzt wird. Diese Überzeugung machte es im Bürgertum des 19. Jahrhunderts notwendig, Erziehungsziele zu reformulieren, Erziehungsstile – hier verstanden als Kohärenz zwischen Einstellungen und Handlungen – darauf zu beziehen,5 schulische Bildungsprozesse zu implementieren und Sozialisationskontexte zu schaffen, welche die Autonomie und Gestaltungsfähigkeit der Person fördern konnten. Nicht das Auseinandertreten von Familie und Beruf war im Bürgertum letztlich verantwortlich für die wachsende Bedeutung der Familie als Ort der Erziehung, sondern die vor dem Hintergrund der lebensweltlichen Entwicklungen erfolgende Neufassung der bürgerlichen Person.6 Die im öffentlichen Diskurs des 19. Jahrhunderts formulierte Geschlechteranthropologie propagierte ein auf der Polarität der Eigenschaften und Fähigkeiten beruhendes Geschlechterverhältnis,7 das durch die ‚Geschlechtsnatur‘ von Mann und Frau vorgegeben, also biologisch bestimmt war. Während der Frau der Raum des Gefühls gehören sollte und ihr eine gegenüber dem Mann gerin3 4 5

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Vgl. Groppe, Der Geist des Unternehmertums, S. 200ff., S. 276ff., S. 354f. Vgl. dazu Kapitel II über Eheschließungen und Ehebeziehungen, Teilkapitel 3.3. Erziehungsziele beschreiben mittel- und langfristige Anforderungen, die bei Kindern und Jugendlichen mithilfe von Erziehung erreicht werden sollen: Dies reicht von höflichem Benehmen bei Tisch über Bildungsabschlüsse bis zur Werte- und Normenakzeptanz. Erziehungseinstellungen sind Handlungsorientierungen, welche die Eltern ihrer Erziehung zugrunde legen, z. B. Kinder durch Vertrauen und offengelegte Fürsorge zu erziehen oder mit Distanz und Strenge. Erziehungshandeln meint konkrete Formen des Umgangs mit Kindern, z. B. Straf- oder Belobigungspraktiken. Vgl. Ecarius, Familienerziehung, S. 142f.; du Bois-Reymond, Die moderne Familie als Verhandlungshaushalt, S. 148ff. Zur Kindzentrierung auch in anderen familialen Kontexten und sozialen Umwelten vom 17. bis zum 20. Jahrhundert vgl. Dekker, Educational Ambitions in History. Vgl. Hausen, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“; dies., „… eine Ulme für das schwanke Efeu“. Theoretisch grundlegend Scott, The Evidence of Experience.

gere Aktivität, gewissermaßen eine ‚natürliche Passivität‘, sowie eine schwächere Physis und eine geringere geistige und moralische Kraft zugeschrieben wurde, gehörten zum Mann Rationalität, Körper- und Tatkraft, ein energischer Wille und starke Triebe.8 Damit korrespondierte eine Zuordnung zu sozialen Räumen und deren Relationierung mit einem Innen und einem Außen. Die Frau sollte vornehmlich zum Haus und in die Familie gehören, dem Mann gehörte dagegen der öffentliche Raum, von der Schankwirtschaft bis zum Parlament. Frauen durften in Preußen zu Beginn des Kaiserreichs nicht Mitglieder in Vereinen mit politischen Zielen sein und keinen politischen Versammlungen beiwohnen; sie konnten deshalb auch nicht Mitglied politischer Parteien werden. Ein politisches Wahlrecht erhielten Frauen erst durch die Verfassung der Weimarer Republik, während das Vereins- und Versammlungsrecht, und damit auch die Mitgliedschaft in politischen Parteien, bereits 1908 im Reichsvereinsgesetz im Kaiserreich zugunsten der Frauen reformiert wurde.9 Damit markierten das preußische Vereinsgesetz von 1850, das Frauen von politischer Betätigung grundsätzlich ausgeschlossen hatte, und das Reichsvereinsgesetz von 1908, in dem das preußische Vereinsgesetz aufging, die rechtlichen Eckpunkte einer Gesellschaftsentwicklung, in welcher die Polarität der ‚Geschlechtscharaktere‘ (Karin Hausen) und die begleitende Zuweisung sozialer Räume deutlich in Bewegung gekommen war. Gleichermaßen von Unterschieden war zunächst noch der öffentliche Diskurs über die kognitive und emotionale Entwicklung der Geschlechter im Kaiserreich bestimmt. Der Junge und spätere Mann sollte in der Lage sein, Kraft, Aktionsdrang, Triebe und Willen bewusst und eigenständig zu regulieren, und er sollte dies durch Erziehung, Bildung und Sozialisation auch wollen. Dagegen mussten Mädchen und Frauen aufgrund ihrer schwächeren physischen und geistig-moralischen Konstitution stets angeleitet werden; Erziehung, Bildung und Sozialisation sollten ihnen nicht nur diese Einsicht vermitteln, sondern auch die Bereitschaft, einer höheren Leitung zu folgen. Konsequenterweise war eine solche Geschlechteranthropologie auch mit einer Konzeption der Rollen und Kompetenzen in der Familienerziehung verbunden. Mütter sollten sich um die Pflege und Erziehung der Säuglinge und Kleinkinder kümmern und für die emotionale Bindung der Familienmitglieder untereinander sorgen, Väter sich dagegen um die älteren Kinder, vor allem die Jungen, und hauptsächlich um die

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Vgl. Frevert, „Mann und Weib, und Weib und Mann“, insbesondere zur Begriffsgeschichte von „Geschlecht“, „Mann“ und „Frau“ in Konversationslexika (ebd., S. 13– 60). Hier wird deutlich, dass im öffentlich-medialen Diskurs die Biologisierung von männlichen und weiblichen Eigenschaften und Fähigkeiten von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts dominierte. Vgl. auch Rosenbaum, Formen der Familie, S. 277ff., sowie Kapitel II über Eheschließungen und Ehebeziehungen. Vgl. Reichsvereinsgesetz vom 19. April 1908. Textausgabe, S. 21ff. § 1 lautet: „Alle Reichsangehörigen haben das Recht, zu Zwecken, die den Strafgesetzen nicht zuwiderlaufen, Vereine zu bilden und sich zu versammeln.“ (Ebd., S. 21). Von Geschlechtsunterschieden war nicht mehr die Rede.

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kognitive Entwicklung, insbesondere die Schullaufbahnen, kümmern.10 Dazu trat, dass bürgerliche Frauen nur Familienfrauen sein sollten, bürgerliche Männer sollten dagegen auch Familienmänner sein; ihnen standen beide Sphären zu, Öffentlichkeit und Familie, wenn auch in unterschiedlichem Maß.11 Mit der Frauenbewegung des Kaiserreichs und der zunehmenden qualifizierten Berufstätigkeit von Frauen kam auch in diese Differenzierung ab den 1890er Jahren Bewegung.12 Im Rahmen der Entstehung der bürgerlichen Familien- und Geschlechterideale erfolgte auch die ideelle Verwandlung der Familie in eine Erziehungsgemeinschaft. Familien wurden im 19. Jahrhundert schließlich auch gesamtgesellschaftlich vor allem Orte mit und für Kinder. Kinderlosigkeit war im Kaiserreich in der Regel keine bewusste Entscheidung des Paares, sondern ein beklagtes Unglück.13 Gleichermaßen wurde die einsetzende Funktionsentlastung der Familie,14 insbesondere von der gemeinsamen Erwerbsarbeit aller Familienmitglieder inklusive der Kinder und von der Funktion als umfassend verantwortlicher Fürsorgeverband, Grundlage einer Pädagogisierung von Kindheit in denjenigen sozialen Schichten, in denen eine solche Funktionsentlastung realisiert werden konnte. Das waren im 19. Jahrhundert in erster Linie das Bürgertum und der Adel und zunehmend auch der alte und neue Mittelstand (Handwerker, kleinere Kaufleute, untere und mittlere Beamte und Angestellte). Damit einher ging eine gesamtgesellschaftliche Aufwertung der Familienkindheit und -jugend als Lebens- und Entwicklungsphasen, in welchen die Eltern eine erziehende Enkulturation der nachfolgenden Generation in Staat und Gesellschaft zu leisten hatten.15 Auf den Eltern lastete somit von staatlicher und gesellschaftlicher Seite 10 11

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Vgl. Gestrich, Familie in der Neuzeit, S. 596; Hausen, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“, S. 392; Rosenbaum, Formen der Familie, S. 340ff., S. 356ff. Martina Kessel argumentiert, dass die Geschlechteranthropologie des 19. Jahrhunderts dem Mann grundsätzlich alles zugeschrieben habe, also auch die starke Empfindung und die Äußerung von Gefühlen. Vgl. Kessel, The ‚whole man‘. Damit bliebe der Mann das in jeder Hinsicht dominante Geschlecht. Ganz überzeugend ist das nicht, weil Männlichkeit letztlich doch immer relational, d. h. in Bezug zur Weiblichkeit gedacht wurde. ‚Weibisch‘ zu sein war im 19. Jahrhundert ein harter Vorwurf, denn dies umfasste Nachgiebigkeit, Furchtsamkeit, Passivität und vieles andere mehr. Zudem kam eine Verweigerung der Berufstätigkeit, außer für Männer mit großem Vermögen, grundsätzlich nicht in Frage. Sie waren per se ‚Berufstier‘ (Friedrich Nietzsche). Damit sah die männliche Rolle Eigenschaften und Verhaltensweisen vor, die andere dementsprechend ausschloss. Vgl. Radkau, Das Zeitalter der Nervosität, S. 133ff., der an Krankheitsbildern zeigt, wie sich ab den späten 1880er Jahren die Geschlechterideale verschoben und teilweise auflösten. Vgl. Benninghaus/Schmidt, Kinderlosigkeit. Vgl. zur Diskussion über den historischen Wandel der Aufgaben von Familie als Funktionsverlust, -abgabe oder -entlastung Gestrich, Familie in der Neuzeit, S. 390ff. Zu den Positionen um die Aufgabenteilung zwischen Familie und Schule im 19. Jahrhundert, eingeteilt in ein Usurpationstheorem, ein Substitutionstheorem und ein Differenztheorem, vgl. Herrmann, Elternhaus und Schule, S. 143ff.

ein erheblicher Erwartungsdruck. Dieser Druck äußerte sich auch in einer unübersehbaren Menge pädagogischer Ratgeberliteratur im Kaiserreich, deren Autoren sich die in ihren Augen mangelnden elterlichen Fähigkeiten zur Erziehung beratend vornahmen oder deren Unsicherheit bezüglich der richtigen Erziehung zum Anlass ihrer Tätigkeit nahmen.16 Aufnahmebereite Leserinnen und Leser fanden die Erziehungsratgeber in erster Linie in Adel, Bürgertum und in altem und neuem Mittelstand, also dort, wo Besitz und Bildung die zeitintensive Aufwertung der Familienkindheit ermöglichten. Für die Unternehmerfamilie Colsman ließ sich hingegen nicht nachweisen, dass in den verschiedenen Kernfamilien und Generationen jemals Beratungsbücher für die Erziehung herangezogen worden wären. Zumindest fanden Erziehungsratgeber in keinem einzigen Brief Erwähnung. Vielmehr suchte man Rat beim Ehepartner, den eigenen Eltern oder aber im Kreis der Verwandten und Freunde. Da verwandte und befreundete Familien mit Kindern und Jugendlichen in allen Altersstufen in der Kleinstadt Langenberg oder in erreichbarer Nähe vorhanden waren, nahm offenbar das Bedürfnis ab, sich bei Experten Rat zu suchen.17 Dadurch ergab sich auch die Möglichkeit, das Verhalten des Nachwuchses befreundeter oder verwandter Ehepaare mit dem Verhalten der eigenen Kinder durch Beobachtung zu vergleichen und die eigenen Erziehungsziele und -erfolge daran kritisch zu messen. Grundsätzlich ging es den Elternpaaren in der Unternehmerfamilie Colsman in ihren Handlungsorientierungen aber nicht darum, anders zu erziehen als die eigenen Eltern oder als die Verwandten und Freunde, sondern darum, dies durch Erfahrungslernen und durch gesprächsgestützte Reflexionen fortzusetzen und weiterzuentwickeln. Aufgrund der geschlechtsspezifischen Aufteilung von Eigenschaften, Fähigkeiten und sozialen Räumen sollte die alltägliche Erziehung und Betreuung der Kinder in der Familie in erster Linie Aufgabe der Mutter sein. Während im „Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten“ (erlassen 1794, mit vielen Modifikationen in Preußen bis 1899 in Kraft) noch die väterliche Gewalt im Vordergrund des Familienrechts stand, wurde dies 1900 im „Bürgerlichen Gesetzbuch“ zur elterlichen Gewalt verändert. Dabei blieb der Ehemann und Vater aber derjenige, der in Zweifels- oder Konfliktfällen in der Familie die Entscheidungsgewalt innehatte.18 Aufgrund der gesellschaftlichen Geschlech16 17

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Vgl. dazu Höffer-Mehlmer, Elternratgeber, S. 91ff. Die Bedeutung von Verwandtschafts- und Freundeskreisen der Eltern für die Familienerziehung betont auch eine aktuelle Studie zu Ost- und Westdeutschland von Uhlendorff, Erziehung im sozialen Umfeld, S. 113ff. Vgl. Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR), Teil II, Titel 1, § 184, in welchem dem Mann als „Haupt der ehelichen Gesellschaft“ das Recht zugewiesen wird, in allen „gemeinschaftlichen Angelegenheiten den Ausschlag“ zu geben. Allgemeines Landrecht, zit. nach Duncker, Gleichheit und Ungleichheit in der Ehe, S. 1147. Vergleichbar war die Regelung im napoleonischen Code Civil (1804), der bis 1900 noch in der preußischen Rheinprovinz, nicht aber in der benachbarten preußischen Provinz Westfalen galt. Auch dort war die väterliche Gewalt die entscheidende. Vgl. Code Civil, 1. Buch, 9. Titel, §§ 371–374.

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terideale und des Rollenspektrums des Mannes sollte dieser ‚naturgemäß‘ derjenige sein, welcher die Erziehung in ihren Zielen und im Erziehungsstil bestimmte. Die Experten der Kindererziehung, Pädiater, Pädagogen und Psychologen, begründeten diese Richtlinienkompetenz des Vaters während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts mit der Bedeutsamkeit von Erziehung, welche den Fortbestand von Staat und Gesellschaft sicherstelle.19 Damit wurden zudem die Ebenen der Privatheit und der Öffentlichkeit im Erziehungsdiskurs eng verzahnt.20 Inwiefern sich bürgerliche Eltern solche Vorgaben zu Eigen machten, wird eine der Fragen dieses Kapitels sein. In den folgenden Ausführungen wird es hauptsächlich um die frühkindliche Erziehung und Sozialisation gehen und damit um die Lebensphase des Säuglings- und Kleinkindalters bis zum Alter von etwa sechs Jahren,21 welche im Bürgertum des Kaiserreichs so gut wie ausschließlich in der Familie verbracht wurde. Anhand der Briefwechsel von Ehepaaren aus der Unternehmerfamilie Colsman wird untersucht, wie sich Mütter und Väter mit Beginn ihrer Elternschaft über ihr neues Aufgabenfeld verständigten und wie sie ihre neuen Rollen als Mütter und Väter definierten. Gleichzeitig wird die Säuglings- und Kleinkind-Anthropologie analysiert, welche sich in den Briefen abzeichnet. Um die Extreme zu benennen: Wurden Säuglinge auf eine, wenn auch nicht erwachse-

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Im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB), das zum 1. Januar 1900 in Kraft trat und das ALR und den Code Civil im Deutschen Reich aufhob, regelte § 1354 weiterhin, dass „in allen das gemeinschaftliche eheliche Leben betreffenden Angelegenheiten“ der Mann die Entscheidungen traf. Das BGB stellte verheiratete Frauen unter die rechtliche Vormundschaft des Ehemannes bei der Wahl des Wohnorts, der Führung des Haushalts, der Erziehung, der Schul- und Berufswahl für die Kinder und auch des Eigentums (vgl. §§ 1353–1363). Auch bei Meinungsverschiedenheiten in Fragen der Erziehung „geht die Meinung des Vaters vor“ (§ 1634). Das BGB schuf aber auch den Status der „mit 21 Jahren volljährigen und voll geschäftsfähigen unverheirateten (!) Frau“ und reagierte damit auf die gesellschaftlichen Entwicklungen. Zymek/Neghabian, Sozialgeschichte und Statistik des Mädchenschulwesens, S. 29. Vgl. dazu Gebhardt, Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen, S. 46; Eßer, Die verwissenschaftlichte Kindheit, S. 142. Da auch die Experten im Kaiserreich ihr Wissen über kindliche Entwicklung nicht selten aus der Beobachtung ihrer eigenen Kinder und aus privaten Elternberichten (Gespräche in Arztpraxen und Elterntagebücher) bezogen, waren die Grenzen zwischen privater Erziehungspraxis, Erziehungsratgebern und wissenschaftlicher Expertise im Kaiserreich fließend. Vgl. zu diesem Komplex Gebhardt, Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen, S. 16, S. 38ff. Gebhardts maßgebliche Quelle zur Erforschung von Familienerziehung sind Elterntagebücher vom Kaiserreich bis in die 1970er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland. Für die Einteilung und Terminologie der ersten Lebensjahre liegen in der Forschung unterschiedliche Konzepte vor. Manche terminieren das Säuglingsalter bis zum Alter von etwa zwei Jahren, vgl. Keller, Kindheit, S. 34, oder es wird die Gesamtphase vor dem Schuleintritt als frühe Kindheit bezeichnet, vgl. Honig, Frühe Kindheit, S. 27. In den folgenden Ausführungen wird von Säuglingen nur gesprochen, wenn es erkennbar um die ersten Lebensmonate geht, ab dem Alter von etwa einem halben Jahr wird die Bezeichnung Kleinkind gewählt.

nengemäße, Weise mit der Geburt als denkend, fühlend und handelnd vorgestellt, oder kam in der Vorstellung der Eltern ein durch seine Biologie zunächst vollständig determiniertes, unbewusstes Wesen zur Welt? Folgten die Eltern also einem von vielen Experten im 19. und frühen 20. Jahrhundert propagierten Entwicklungsparadigma, in dem die ersten Monate als instinkthafte Existenz eingeschätzt wurden, welche die Stufe des Bewusstseins erst erklimmen musste, oder taten sie es nicht?22 Was bedeuteten die jeweiligen Konzepte gegebenenfalls für die frühkindliche Sozialisation und Erziehung in der Familie? Setzten konkrete Erziehungsüberlegungen bezüglich Erziehungszielen und -stilen gleich nach der Geburt ein, oder begriffen die Eltern die ‚dummen ersten Monate‘23 als einen Zeitraum der Pflege und Behütung, nicht aber der Erziehung? Säuglinge und Kleinkinder waren aufgrund ihrer „Neuheit“ und ihrer noch geringen Möglichkeiten und Fähigkeiten „eine ideale Projektionsfläche“,24 auf die sich gesellschaftliche und familiale Selbstverständnisse und Utopien ebenso auftragen ließen wie damit verknüpfte „kulturelle Skripte“ von Kindheit und Erziehung.25 Bezogen auf bürgerliche Weltdeutungen, Handlungsorientierungen und Selbstpräsentationen stellt sich somit die Frage, inwiefern die Erreichung von Selbstständigkeit inklusive Selbstbeherrschung, welche die Voraussetzung eines bürgerlichen Arbeitsethos und Leistungswillens darstellten,26 im Umgang und der Erziehung von Säuglingen und Kleinkindern bereits eine Rolle spielte, und ob dabei zwischen Mädchen und Jungen, für die das im bürgerlichen Bewusstsein eine wichtigere Rolle spielte, unterschieden wurde. Wurden Jungen eventuell stärker beachtet und intensiver erzogen als Mädchen? Waren ihre ‚Fehlentwicklungen‘ problematischer als die der Mädchen? Wurden, den gesellschaftlichen Geschlechtscharakteren gemäß, Jungen stärker zur Selbstbeherrschung erzogen, Mädchen dagegen stärker zu Gehorsam und Unterordnung? Mit anderen Worten: Spielte das bürgerliche Lebensmodell der Balance, 22

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Vgl. zu den Expertendiskursen der Zeit Gebhardt, Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen, S. 51ff. Zur Entwicklung des Wissens über Kindheit im 19. Jahrhundert vgl. Schulz, Der „Gang der Natur“, S. 24ff. Vgl. Gebhardt, „Ganz genau nach Tabelle“, S. 247. Diese Vorstellung, bezogen vor allem auf die ersten drei Lebensmonate, taucht bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf und erweist sich bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als wirkmächtig. Säuglinge wurden als nicht bewusst vorgestellt und sollten deshalb nicht mit Reizen überflutet werden, sondern möglichst abgeschirmt die ersten Monate verbringen. Vgl. dies., Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen, S. 38f., S. 53f. Gebhardt, Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen, S. 13. Honig, Frühe Kindheit, S. 31. Man kann Ute Freverts Buch über das Duell auch lesen als eine Darstellung zur Männlichkeit im 19. Jahrhundert, welche die Frage der Selbstbeherrschung zum Thema hat, wobei die Ehrverletzung und deren anschließende Satisfaktion mit Waffen darauf hinweist, dass die Selbstbeherrschung ein prekäres Thema blieb. Andererseits verweist das Duell auch auf ein System männlicher Selbstregulierung, weil auf Beleidigungen nicht mit spontaner Gewalt reagiert wurde, sondern mit gesellschaftlich regulierten und zeitlich aufgeschobenen Formen der Konfliktaustragung. Vgl. Frevert, Ehrenmänner, passim.

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das als eine selbstständige Abwägung von Selbst- und Fremdbestimmung und als ein individuell auszutarierendes Verhältnis zwischen den unterschiedlichen sozialen Feldern der Lebensführung konzipiert war, eine – möglicherweise geschlechtsspezifsche – Rolle in der frühkindlichen Erziehung und Sozialisation? Immerhin waren Maßhalten in jeder Hinsicht und innengeleitete Handlungsregulierung entscheidende Normen dieses Lebensmodells und eine bürgerliche Erziehung, die ein solches Ziel verfolgte, ohne diese Prinzipien schwer vorstellbar. Gleichwohl muss für die Analyse auch mit Widersprüchen und Spannungsverhältnissen gerechnet werden, die zwischen Ideal, Programmatik und alltäglichen Handlungsorientierungen in der Erziehung entstehen konnten, zum Beispiel hinsichtlich Autoritätsfragen, Kontrolle und Disziplinierung. Bis ins Kaiserreich hinein war die kindliche Entwicklung von Experten relativ individuell bemessen worden; unterschiedliche Entwicklungstempi wurden auch von Eltern vergleichsweise gelassen registriert.27 Ob Eltern in diesem Zusammenhang erwarteten bzw. ermöglichten, dass Kinder selbstständig Entwicklungsschritte einleiteten und gestalteten, wird eine der Fragen dieses Kapitels sein. Kurz vor der Jahrhundertwende setzte sich jedoch in den Expertentexten die Vorstellung einer „universellen Natur des Kindes“ durch, aufgrund derer bestimmte Entwicklungsstufen gleichsam programmgemäß und zeitlich definiert durchlaufen werden mussten.28 Auf diese Weise entstand durch medizinisches und psychologisches Messen das Konstrukt der ‚normalen Entwicklung‘ und die Sorge um sogenannte Abweichungen.29 Eine nach Maßgabe der Wissenschaft normale, gesunde Entwicklung sollte nun in den Familien ermöglicht werden, und um das zu leisten, waren die Eltern auf biologisches, medizinisches und pädagogisches Wissen angewiesen, zumindest propagierten dies die Experten. In diesem Zusammenhang änderten sich um die Jahrhundertwende auch die Kindheitsmuster: vom empfindlichen Kind,30 das geschützt und gepflegt werden musste, zum starken, gesunden Kind, das sich mit erziehender Unterstützung nach einem inneren Bauplan entwickelte.31 Von moralischen Kategorien (‚gutes und böses Verhalten‘) verlagerte sich die Beurteilung einer optimalen kindlichen Entwicklung auf medizinische Kriterien wie gesund und stark vs. krank und schwächlich. Damit einher gingen aber auch charakterliche Normierungen, die beispielsweise (Durchsetzungs-)Stärke betonten. Dadurch hielten (sozial-)darwinistische Vorstellungen Einzug in die Säuglings- und Kleinkindanthropologie.32 Elterntagebücher vor dem Ersten Weltkrieg deuten 27 28 29 30

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Vgl. Gebhardt, Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen, S. 40, S. 55ff. Vgl. Eßer, Die verwissenschaftlichte Kindheit, S. 124ff., Zitat S. 125; Schulz, Der „Gang der Natur“, S. 35. Vgl. Eßer, Die verwissenschaftlichte Kindheit, S. 145f. Allerdings hielt sich dieses Kindheitsmuster insbesondere in der Sozialpädagogik und Lebensreformbewegung und wurde dort zum Konzept des vulnerablen Kindes weiter entwickelt. Vgl. Baader, Die Kindheit der sozialen Bewegungen, S. 160ff. Vgl. Eßer, Die verwissenschaftlichte Kindheit, S. 134ff.; Schulz, Der „Gang der Natur“, S. 34ff. Vgl. Kössler, Die faschistische Kindheit, S. 291f.

allerdings darauf hin, dass Eltern solche Expertenvorgaben ebenso wie den Rat einer strikten Gehorsamserziehung zunächst nur in geringem Maße übernahmen.33 Die Quellen dieses Kapitels werden daher daraufhin befragt, wie unterschiedliche Entwicklungsverläufe von Kindern bewertet wurden und ob normierende Vorstellungen von einer universalen, bei der Pflege und Erziehung zu berücksichtigen Natur des Kindes in den elterlichen Erziehungsüberlegungen im Kaiserreich Einzug hielten. Gab es zum Beispiel Vorstellungen und referierte Praktiken einer strengen ‚Rhythmisierung‘ der Säuglinge und Kleinkinder, d. h. einer strikten Einhaltung von Fütter- und Schlafenszeiten?34 Welche Rolle sollte die elterliche Autorität im Erziehungsgeschehen einnehmen? Wie sollte deren Anerkennung durch die Kleinkinder gegebenenfalls erreicht werden, und wie stand es bei den Eltern um die Akzeptanz von Körperstrafen? In diesem Zusammenhang spielt auch die Beschaffenheit der Sozialisationskontexte eine wichtige Rolle. Übten Kinder in den innerfamilialen Interaktionen Muster des Befehlens und Gehorchens ein? Kurz: Wie stand es um die Untertanenerziehung und -sozialisation in den verschiedenen Familien? Welche Erziehungsziele wurden formuliert, welcher Erziehungsstil wurde diskutiert, und was wurde als ausgeübte Praxis referiert? Lassen sich Veränderungen im Umgang mit Säuglingen und Kleinkindern im Verlauf des Kaiserreichs feststellen? Als Quellen werden für dieses Kapitel Briefwechsel von Müttern und Vätern mit dem jeweiligen Ehemann bzw. der Ehefrau sowie ergänzend mit Freunden und Verwandten herangezogen. In diesen diskutierten und berieten die Eltern mit ihren Zeitgenossinnen und Zeitgenossen über unmittelbar relevante Fragen von Erziehung und Sozialisation. Trotz der vorausgehend skizzierten Überschneidungen des privaten Erziehungsbereichs mit der Ebene der öffentlichen Verlautbarungen ist es wichtig, die systematischen Differenzen im Blick zu behalten. Die Selbstbeschreibung einer Gesellschaft35 entsteht nicht nur aus deren öffentlicher Seite, sondern ebenso aus privaten Deskriptionen, die sich vom öffentlichen Diskurs unterscheiden können. Um zu verstehen, wie ein bürgerliches Elternpaar im Kaiserreich Erziehung und Sozialisation konzipierte und darüber reflektierte, kann deshalb nicht einfach auf die öffentliche Diskursebene zurückgegriffen werden. Dadurch bliebe es bei Annahmen und Plausibilisierungen, die aus Ausschnitten des öffentlichen Diskurses und aus übergeord-

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Vgl. Gebhardt, Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen, S. 62ff. Erst in den 1920er Jahren setzte sich der Expertendiskurs auch in der privaten Erziehung, folgt man den Eintragungen in den von Gebhardt analysierten Elterntagebüchern, stärker durch. Zu ärztlichen Überlegungen, mit solcher Rhythmisierung frühzeitig auch eine Disziplin im Kind grundzulegen, vgl. Gebhardt, Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen, S. 49ff. Kinderärzte und Erziehungsratgeber empfahlen um die Jahrhundertwende, Härte und einen festen Willen gegenüber den Kindern zu haben, da ansonsten ‚kindliche Tyrannen‘ entstünden. Vgl. ebd. Vgl. Kurig, Bildung für die technische Moderne, S. 64.

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neten Gesamtinterpretationen des Kaiserreichs, zum Beispiel einer angenommenen Matrix der Autorität,36 gewonnen werden.37 Beobachtbar und analysierbar wird mit den Briefen der Elternpaare dasjenige in der Erziehung und in der familialen Sozialisationsordnung, was die Schreiberinnen und Schreiber ihren Zeitgenossen mitteilen wollten. Sie argumentierten damit nicht im Reflexions- und Bewertungsmodus späterer Zeiten, wie dies bei autobiographischen Erinnerungstexten der Fall ist,38 sondern positionierten sich gegenüber ihren Briefpartnerinnen und -partnern in den Werteordnungen und Normenkatalogen ihrer zeitgenössischen Lebenswelt und Lebensform, die dadurch in vielen Aspekten beschreibbar wird. Das konkrete Erziehungshandeln kann jedoch auch durch Briefe kaum erfasst werden. Da dieses überwiegend ein nicht reflektiertes, habitualisiertes alltägliches Handeln darstellt, kommt es in den Briefen nur in solchen Ausschnitten vor, welche den Eltern erwähnenswert schienen.39 Wie sich Eltern und Kinder regelmäßig bei Tisch, beim gemeinsamen Spielen oder beim Zubettgehen zueinander verhielten, bleibt also verborgen. Darüber hinaus handelt es sich immer um nachträgliche, wenn auch zeitgenössische Interpretationen von Erziehungshandeln und 36

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Vgl. exemplarisch: „Der despotische Vater findet sich [...] in allen Familienformen. Wo Autobiographien von familialen Zerwürfnissen oder Streitigkeiten berichten, wurden sie nahezu ausschließlich durch die Unterwerfung von Frau und Kindern unter den Willen, die Wut oder gar körperliche Aggression des Vaters erledigt. [...] Nur die Art, wie Konflikte ausgetragen wurden, mag nach Sozialschichten [...] verschieden gewesen sein, im Ergebnis endeten sie alle gleich.“ Berg, Familie, Kindheit, Jugend, S. 113. Erziehung und Kindheit in der Familie werden in Bergs Text, trotz mancher Relativierungen, überwiegend in Kategorien des Gehorsams, der Kontrolle und der Disziplinierung dargeboten. Ähnlich Klika, Erziehung und Sozialisation im Bürgertum, S. 204ff., differenzierter dagegen S. 216ff. Vgl. dazu kritisch Ziemann, Günther und Langewiesche. Alle verweisen angesichts neuerer Quellenanalysen aus dem privaten Bereich darauf, dass die Forschung bislang zu sehr mit übergeordneten Plausibilisierungen, gewonnen aus Quellen des öffentlichen Raums, arbeite. Vgl. Günther, Das nationale Ich, S. 451. Vergleichbar Langewiesche, Gefühlsraum Nation, S. 196f.; Ziemann, Sozialmilitarismus und militärische Sozialisation, S. 163f. Die Auswertung neuer Quellenbestände wie z. B. der Elterntagebücher bei Gebhardt, Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen, verweisen ebenfalls auf deutliche Divergenzen zwischen öffentlichem und privatem Diskurs. Bislang werden Erziehung und Sozialisation in bürgerlichen Familien überwiegend aus autobiographischen Erinnerungen und aus normativen Texten wie Erziehungsratgebern rekonstruiert. Vgl. Berg, Familie, Kindheit, Jugend; Doerry, Übergangsmenschen; Klika, Erziehung und Sozialisation im Bürgertum. Zu einer praxeologischen Differenzierung des Erziehungsbegriffs vgl. Nohl, Zur intentionalen Struktur des Erziehens. Nohl unterscheidet zwischen reflektierter, habituierter und spontaner Intentionalität des Erziehens, S. 126ff. Wichtig für die vorliegende Untersuchung ist seine an John Dewey anschließende Überlegung, dass Erziehungsziele nicht ‚gesetzt‘ werden und dann in Handlungen münden, sondern dass Erziehung zumeist erst reflexiv wird und nicht mehr habituiert (durch Gewohnheiten strukturiert) verläuft, wenn Handlungsprobleme auftreten (vgl. S. 129). Spontanes Handeln ist dagegen eine Reaktion auf eine ungewohnte Situation und kann auch im Erziehungshandeln vorkommen (vgl. S. 134ff.).

auch um den Versuch, das eigene Handeln gegenüber dem Briefpartner nachvollziehbar zu begründen. Mit den Briefen erfassbar wird somit nicht das konkrete Handeln, sondern dessen zeitgenössische Beschreibung und Deutung. Unter frühkindlicher Erziehung wird im Folgenden alles gefasst, was als Handlung darauf ausgerichtet ist, Haltungen, Werte, Normen und Handlungsweisen bei den zu Erziehenden zu entwickeln, zu verstärken oder zu vermindern.40 Dazu gehören auch Handlungen, welche die körperliche Entwicklung beeinflussen sollen, beispielsweise hinsichtlich Körperhaltung und Körpersprache (Gestik und Mimik) sowie gesundheitserhaltende und -fördernde Maßnahmen wie Spiel und Bewegung.41 Alle weiteren Aspekte, welche Pflege, Betreuung, Umweltarrangements und Alltagsinteraktionen von und mit Säuglingen und kleinen Kindern betreffen, werden mit dem Begriff der frühkindlichen Sozialisation gefasst. Dargestellt wird die Entwicklung von Erziehung und Sozialisation an vier Kernfamilien: Wilhelm Colsman-Bredt und Adele Colsman (Heirat 1856, Geburt des ersten Kindes 1857), Emil und Mathilde Colsman (Heirat 1877, Geburt des ersten Kindes 1878), Paul und Elisabeth Colsman (Heirat 1888, Geburt des ersten Kindes 1888) und Peter Lucas und Antonia („Tony“) Colsman (Heirat 1891, Geburt des ersten Kindes 1892). Kinder sollten persönlich durch die Eltern erzogen werden, das stand für alle hier untersuchten Elternpaare fest. Auch die Säuglinge und Kleinkinder sollten überwiegend durch die Eltern und nicht durch Kindermädchen, Gouvernanten oder Hauslehrer betreut werden und in den ersten Lebensjahren im engsten Familienkreis aufwachsen. Dabei war es allen Eltern wichtig, einen körperlichen Kontakt zu den Kindern herzustellen. Kinder auf den Arm zu nehmen und mit ihnen zu spielen war für Väter wie Mütter in der Unternehmerfamilie während des gesamten Kaiserreichs ein wichtiger Teil des Familienlebens und der Familienerziehung. Gleichwohl hatten alle Familien eine Unterstützung in der Kinderbetreuung, mindestens in Gestalt einer temporär angestellten Wärterin für die Säuglinge und Kleinkinder, oftmals noch darüber hinaus in der Anstellung eines weiteren, sich auch um die Kinder kümmernden Dienstmädchens.42 Die Väter sollten im Kaiserreich gemäß den in der Öffentlichkeit geltenden Geschlechteridealen und -rollen erst dann in den Erziehungsprozess eintreten, wenn die Kinder ein Alter erreicht hatten, in dem sie ein Verständnis für die väterliche Autorität besaßen, für die Sprache der Vernunft zugänglich waren und wenn sie den Raum der Öffentlichkeit betraten, also im Schulalter. In der Praxis lagen die Verhältnisse nicht nur in der Unternehmerfamilie Colsman 40 41

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Vgl. dazu und zu den Implikationen des Erziehungsbegriffs Vogel, Scheinprobleme der Erziehungswissenschaft, S. 482f. Vgl. zur Rolle des Körpers in öffentlichen Diskursen über Erziehung im Kaiserreich Lauff, Die Rolle des Körpers im Erziehungsdiskurs des deutschen Kaiserreichs; zur Bedeutung des Körpers für Erziehung und Sozialisation, auch in generationellen Verläufen, vgl. Preuss-Lausitz, Körpersozialisation im 20. Jahrhundert. Sehr ähnlich waren die Verhältnisse im jüdischen Bürgertum im Kaiserreich, vgl. Kaplan, The Making of the Jewish Middle Class, S. 49f.

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anders.43 Die Beteiligung der Väter an der Erziehung begann in allen untersuchten Kernfamilien bereits kurz nach der Geburt. Nachdem sich die Mutter nach der Hausgeburt zunächst noch einige Wochen mit dem Kind im Wochenbett aufgehalten hatte, setzte unmittelbar danach die väterliche Beteiligung an der Pflege und Erziehung des Kindes ein.44 Dass ein Ehepaar Kinder bekommen sollte, war für alle hier untersuchten Familien selbstverständlich. Adele Colsman hielt 1875 fest: „Daß wir in diesen Jahren sieben Mal die Freude hatten uns an die Wiege eines gesunden Kindes zu setzen ist doch auch etwas Großes, u. tritt mir noch mehr hervor, seit ich in so kurzer Zeit mit drei kinderlosen Ehepaaren zusammen traf.“45 Wie viele Kinder es pro Familie sein sollten, das war eine in im Verlauf des 19. Jahrhunderts in der Unternehmerfamilie unterschiedlich, aber mit sinkender Tendenz beantwortete Frage. Während in den bis 1840 geschlossenen Ehen dort noch zehn bis zwölf Kinder pro Kernfamilie geboren worden waren, sank die Kinderzahl in den im Kaiserreich geschlossenen Ehen auf vier bis fünf.

2. Kinderwille und geistige Entwicklung: Bürgerliche Familienerziehung und -sozialisation in den 1860er und 1870er Jahren Wilhelm Colsman-Bredt (1831–1902) und Adele Colsman (1836–1893) besaßen für die Kinderbeaufsichtigung und -versorgung sowohl eine Wärterin als auch ein weiteres Dienstmädchen, das aber auch für andere Aufgaben zuständig war.46 Ihr Haushalt bestand in den 1860er und 1870er Jahren aus den Eltern, den Kindern, deren Zahl bis 1872 auf sechs anwuchs,47 der Wärterin, zwei Dienstmädchen und einem Hausdiener. Ab Mitte der 1870er Jahre kam eine Hausdame dazu, die gemeinsam mit Adele Colsman den kinderreichen Haushalt organisierte und sich insbesondere um die älteren Kinder kümmerte, während die Wärterin die Familie in der Mitte der 1870er Jahre verlassen hatte. In der 43 44

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Vgl. Davidoff/Hall, Family fortunes, S. 321ff.; Tosh, A Man’s Place, S. 79ff. Hausgeburten blieben während der gesamten Zeit des Kaiserreichs die übliche Form des Kindergebärens, danach folgte ein etwa vierwöchiges Wochenbett. Vgl. Kaplan, The Making of the Jewish Middle Class, S. 45f. Für manche Verwandtschaftsfamilien waren die Geburten offenbar wenig aufregend, was Adele Colsman für ihre Mutter eigens festhielt: „[…] meine Schwägerin Maria bekam vor einigen Tagen ein sehr prächtiges Töchterchen, Frau Conze meinte, unsre Kinder wären mit einem halben Jahr nicht größer. Das Ganze macht bei Conzens so wenig Umstände, als wenn Andre einen Apfel schütteln […].“ FFA, B4g55, Adele Colsman an Adelheid Bredt, 8. April 1870. FFA, B4g58, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 4. September 1875. Zum vergleichbaren Erziehungspersonal in der Tuchfabrikantenfamilie Scheidt im benachbarten Kettwig vgl. Soénius, Wirtschaftsbürgertum, S. 70. Insgesamt hatte das Paar sieben Kinder bekommen, der älteste Sohn war aber 1862 im Alter von fünf Jahren an einer Infektionskrankheit gestorben.

Mitte der 1860er Jahre war die Familie in eine repräsentative Villa („Weißes Haus“) am Rande der Kleinstadt Langenberg gezogen. Für die Kinder und Jugendlichen wurde durch Dienstboten und Wohnverhältnisse der eigene soziale Status ständig erfahrbar. Soziale Differenzen wurden ganz unmittelbar durch Raumanordnungen sichtbar und in der Interaktion mit den Dienstboten reproduziert. Alle Kinder des Bürgertums wurden jenseits des familialen Binnenlebens in asymmetrischen Beziehungen sozialisiert: „Immer war jemand zum Schuhputzen da. Das prägte den Verhaltensstil.“ Bürgerliche Familien waren Familien „mit Dienstmädchen“.48 Adele Colsman und Wilhelm Colsman-Bredt bekamen ihr erstes Kind im Jahr 1857. Die Geburt fand wie auch alle weiteren im Haus statt, so dass auch dem werdenden Vater die damit verbundenen Abläufe nicht verborgen blieben. Er schilderte diese anlässlich der Geburt seines zweiten Sohnes 1861 in einem Brief an seine Schwiegereltern: „Mit innigem Dank zu Gott, beeile ich mich Euch anzuzeigen, daß wir soeben durch die glückliche Geburt eines kräftigen Knaben hoch erfreut wurden; die liebe Mama so wie der kleine Erdenbürger, befinden sich sehr wohl & lassen die lieben Eltern herzlich grüßen! […] Adele merkte schon während des ganzen Tages daß die Stunde der Entscheidung heranrückte, gegen 6 Uhr rief ich den Arzt. Denkt Euch um 8 war schon Alles vorbei! Wir sind überglücklich […]. Das Kind ist sehr stark & kräftiger als der kl. Wilh. s. Z. gewesen; Apetit hat er mit zur Welt gebracht; hoffentlich bleibt’s so.“49

Ab dem Zeitpunkt der Geburt nahmen Berichte über Verhalten und Entwicklung der Kinder und der Austausch über Fragen der Kindererziehung in den Briefen Wilhelm Colsman-Bredts und Adele Colsmans einen großen Raum ein. Der Briefwechsel entfaltete sich zu einem Dauergespräch über Kinder und Erziehung.50 Waren auch schon in den Generationen zuvor briefliche Berichte über die Kinder ein wichtiges Thema der elterlichen Erzählungen gewesen,51 so veränderten sich die Briefe jetzt zu einem Medium regelmäßiger Beratungs- und Reflexionsarbeit. Gemeinsam mit den Kindern verbrachte Zeit war beiden Elternteilen dabei überaus wichtig. Adele Colsman hob die Befassung ihres Ehemanns mit den Kindern gegenüber ihrer Mutter als besonders positiv hervor: 48 49

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Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1, S. 53f. Archiv WHC, Sign. 168, Wilhelm Colsman-Bredt an Emil und Adelheid Bredt, 7. Mai 1861. Tosh beschreibt, dass bürgerliche Männer bei den Hausgeburten ab den 1840er Jahren häufig anwesend waren, aber auch adlige Männer wie z. B. Prince Albert bei den Geburten seiner Frau, Queen Victoria. Tosh deutet dies nicht nur als ‚Mit-Leiden‘ mit der Frau, sondern als Teil bewusster Vaterschaft. Vgl. Tosh, A Man’s Place, S. 80ff. Ob Wilhelm Colsman-Bredt der Geburt tatsächlich beiwohnte, geht aus den Briefen nicht hervor. Andreas Schulz stellt dar, wie stark schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Gesellschaft das Interesse an der frühen Kindheit zunahm, nicht zuletzt aufgrund des seit der Aufklärung steigenden Interesses an einer effektiven Pädagogik. Vgl. Schulz, Der „Gang der Natur“, S. 26ff. Vgl. Groppe, Der Geist des Unternehmertums, S. 166ff., S. 391ff.

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„Das kleine Adelchen gedeiht auch recht […] sie ist noch so klein [vier Monate, CG] u. hat so einen lieblichen Ausdruck im Gesichtchen, wie eine kleine Friedenspredigerin, so kommt sie mir vor. Du glaubst nicht, welche Freude wir an unsrer Kinderstube haben, u. mir ist es besonders lieb, daß Wilhelm so gerne bei den Kindern ist, das ist doch sehr erfreulich für eine Frau, wenn sich der Mann auch recht der Kinder annimmt.“52

Die Beschäftigung mit seinen beiden drei- und einjährigen Kleinkindern war für Wilhelm Colsman-Bredt auch nach eigenen Aussagen eine gern übernommene Tätigkeit, sofern sein Beruf es zuließ, und er schrieb seiner Frau, die auf Verwandtenbesuch in Bremen war: „[…] bleibe jetzt wie Du einmal fort bist nur gemüthlich so lange wie es Dir Freude macht […], wegen uns kannst Du ganz unbesorgt sein, ich schmeichle mir gute Anlage zum Kinderverwahren zu haben & macht es mir große Freude mich mal mit ihnen zu beschäftigen, unsere Stümpe sind sehr lieb.“53

Wilhelm Colsman-Bredt legte viel Wert darauf, dass seine Kinder eine Beziehung zu ihm aufbauten und freute sich sehr über eine diesbezügliche Äußerung seiner einjährigen Tochter: „Deine specielle Frage nach Adele II wurde schon durch meine vorgestrigen Zeilen, wenn ich nicht irre, erledigt, die Kleine ist ein wahrer Schatz, ich freue mich immer recht sehr, wenn sie einem so freundlich entgegenlacht & die kleinen Händchen ausstreckt, wenn ich mich nicht verhörte sagte sie gestern zum ersten Mal Papa! Doch es kann vielleicht auch Mama gewesen sein, was man gerne hört, glaubt & hört man als leicht.“54

Die mit den Kindern verbrachte Zeit variierte im Umfang durch die Berufstätigkeit des Ehemanns zwischen den Eltern deutlich. Für Wilhelm ColsmanBredt waren Mittags- und Abendzeiten im Kreise der Kinder dennoch ein wichtiger Teil seines Alltags:55 „[…] ich kam gegen ½ 11 wohlbehalten [von der Geschäftsreise, CG] hier an, fand die Kinder in tiefer Ruhe, Paul in deinem Bett, Adele ohne Nasenbluten. Wir tranken frühzeitig Kaffe und ging den Jeder an sein Werk, Hans [dreijährig, CG ] meinte: ‚Papa ich verwahre mich selber‘! also konnte ich beruhigt auf’s Comptoir. Heute Mittag sind sie alle sehr vergnügt, der Schell Fisch, der ‚schellt‘ wie Emilie [acht Jahre alt, CG] meint, mundete gut und jetzt juxen sie um mich herum; Paul meint bei Mama bekämen sie immer mehr als einen Z[wie]back mit Schaum! Fisch nährt nicht, deshalb laß ich sie als krosen, sie behaupten Alle wenig oder nichts aufzuhaben & erwarten die Freuden des Spielens.“56

Wilhelm Colsman-Bredt präsentierte sich gegenüber seiner Frau aber auch während seiner Reisen stets als ‚family man‘: „Dich und die Kinder vermisse ich 52 53 54 55

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FFA, B4g55, Adele Colsman an ihre Mutter Adelheid Bredt, 25. März 1859. FFA, B4g57, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 3. Februar 1860. FFA, B4g57, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 5. Februar 1860. Vgl. dazu für England auch Tosh, A Man’s Place, S. 84f. Sehr distanzierte Bürgerväter als Normalfall in ihrem Sample bürgerlicher Familien in England und Deutschland beschreibt dagegen Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben, S. 151ff. FFA, B4g58, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 18. Oktober 1871.

nun immer; besonders nach der Arbeit wenn man in irgend einer Kneipe oder Eßzimmer seine Mahlzeit einnimmt oder Abends Thee trinkt; allein que fare?“57 Für den Vater war seine Rolle als Erzieher und die emotionale Beziehung zu seinen Kindern von großer Bedeutung für seine Selbstpräsentation gegenüber seiner Frau. So schrieb er aus London: „Du bist jetzt wohl wieder allein & ich hoffe die Kinder machen dir rechte Freude, ich suche Euch in Gedanken oft auf & wenn ich hier zufällig ein dickes Baby auf der Straße sehe, denke ich immer mit rechter Sehnsucht unseres kleinen freundl. Paul, ich hoffe der l. Gott nimmt ihn in seinen besonderen Schutz & erhält ihm sein fröhliches Gemüth auch in den Stürmen des rauhen Lebens.“58

Auf allen seinen Geschäftsreisen blieb Wilhelm Colsman-Bredt in seiner Selbstpräsentation stets familienorientiert: „Die Briefe der Kinder machten mir rechte Freude, schade daß ich die Photographien nicht mitgenommen, es ist nett wenn man dergl. immer in der Schreibmappe hat.“59 Aber während er in den europäischen Weltstädten tätig war, versorgte seine Frau die Kinder zuhause. Allerdings gestand sie sich regelmäßig Verwandtenund Freundinnenbesuche sowie Kur- und Bäderreisen zu, entweder ohne Kinder oder nur mit wenigen. Obwohl sie die Kindererziehung nicht nur gern ausführte, sondern sie auch als ihre Hauptaufgabe begriff, suchte sie doch regelmäßig die Gesellschaft anderer bürgerlicher Frauen und bewunderte ihre Freundin Maria Stein, welche sich solche Geselligkeit offenbar umfangreicher eröffnen konnte als sie selbst, und dies trotz vieler Schwangerschaften und Geburten, wie sie ihren Mann Wilhelm Colsman-Bredt wissen ließ: „[…] es thut wirklich gut von Zeit zu Zeit auszugehen. In dem Stück thut M. Stein es uns Frauen all zuvor, trotzdem daß fast alle Jahr der liebe Storch ihr altes Dach besucht, findet keine Frau so viel Zeit u. Muße zum Ausgehen, als sie; sie muß ein zähes Nervensystem haben.“60

Eine körperliche Nähe zu den Kindern herzustellen war in deren ersten Lebensjahren für beide Elternteile wichtig und wurde auf verschiedene Weise praktiziert. Das Übernachten der Kinder im elterlichen Ehebett bei Abwesenheit eines Ehepartners gehörte insbesondere dazu, aber auch der morgendliche Besuch der Kinder im Elternschlafzimmer und das gemeinsame Spielen im Bett. 1866 schrieb Wilhelm Colsman-Bredt an seine Frau über die inzwischen vier Kinder, die siebenjährige Tochter Adele, den fünfjährigen Paul, die vierjährige Emilie und die einjährige Laura: „Deinen Brief habe ich ihnen theilweise vorgelesen & hörten sie alle mit großem Interesse zu. Die beiden Kleinsten gedeihen Gottlob zusehends und ruft Laura oft daß es

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FFA, B4g57, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 30. März 1860. FFA, B4g57, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 16. November 1861. FFA, B4g58, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 12. Juli 1870. FFA, B4g58, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 21. Juli 1869.

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durchs ganze Haus schallt: Mama! Adele & Paul schlafen noch bei mir, nach 6 Uhr ist von Schlaf keine Rede mehr, dann fängt das Spalken an.“61

Wenn Wilhelm Colsman-Bredt sich auf einer seiner vielen Geschäftsreisen im europäischen Ausland befand, schliefen die Kinder, sofern sie es wollten, bei der Mutter im Ehebett: „Paul u. Adelchen waren verständig, machten ihre Sachen u. erster ging fröhlich zu Bett, Adelchen aß erst den Salat mit mir u. war mir recht zur Freude. Als ich mit Paul [fünf Jahre alt, CG] beten wollte, fand ich ihn freudestrahlend in Deinem Bett, worin er sich auch die ganze Nacht behauptete trotz einiger Kreuz- u. Querlagen.“62

Ob es Söhne oder Töchter waren, die im Ehebett schliefen, und ob sie dies bei Vater oder Mutter taten, war für die Eltern unwichtig. Das Geschlecht spielte keine Rolle, wie die folgende Briefstelle über die neunjährige Adele zeigt: „Abends wurde gebadet & dann mußten Adele & Paul noch rechnen, woran ich half & was wir erst heute früh fertig brachten. Emilie & Laura waren sehr müde und mußten schon um 8 in’s Bett; Adele schlief in Deinem, ich speiste in der Au [Wohnhaus der Mutter Wilhelm Colsman-Bredts, CG].“63

Erst ab dem Alter von zehn Jahren hörte das Übernachten im Elternbett für Jungen wie Mädchen allmählich auf. Auch frühmorgens, nach dem Aufstehen, begaben sich die Kleinkinder häufig ins Bett der Mutter oder des Vaters: „Fast in allen Bilderbüchern sind Bruder u. Schwester neben einander gestellt, früher war das immer meine Freude und der Kinder hohes Interesse solche Bilder erklärt u. davon erzählt zu haben; und jetzt kann ich kaum mit ihr [der dreijährigen Adele, CG] davon sprechen.64 Diesen Morgen kam sie mit der Botenfrau65 in mein Bett, auch ein Buch voll Erinnerung.“66

Das Schlafen im Elternbett mit einem Elternteil war für die Kinder eine so gern gewählte Übernachtungsform, dass dessen Entzug gelegentlich als Strafe eingesetzt wurde: „Paul [sieben Jahre alt, CG] z. B. fällt fast täglich einmal so platsch in den Dreck, diesen Abend soll er mal nicht in Deinem Bett schlafen dürfen, dann wird er sich morgen wohl zusammen nehmen.“67 Wenn die Kinder in 61

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FFA, B4g57, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 11. Oktober 1866. Vgl. auch: „[…] am Nachmittag konnte ich leider nicht mit den Kindern trinken, es kam unser Pariser Agent, Abends fand ich alle friedlich & freundlich versammelt, Laura erzählte viel von dem bunten Griffel den Du ihr mitbringen würdest, Emilie war müde & Paul & Adele saßen ganz still am Zeichnen allein in der Eckstube; Paul hatte von Herr Rohland wieder einen Bilderbogen bekommen. Alles ging fröhlich nach Bett, Paul in das Deinige […].“ B4g57, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 14. Februar 1868. FFA, B4g57, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 31. Juli 1866. FFA, B4g57, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 18. Oktober 1868. Im Mai 1862 war der älteste Sohn Wilhelm im Alter von fünf Jahren gestorben. „Was bringt die Botenfrau“ war ein 1850 veröffentlichtes Kinderbuch mit Holzschnitten von Ludwig Richter. FFA, B4g57, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 15. Juni 1862. FFA, B4g57, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 30. November 1868.

ihren eigenen Zimmern und Betten schliefen, gehörte das Zu-Bett-Bringen entweder durch die Mutter oder den Vater zum festen Tagesablauf: „Außerdem war es heute sehr kurmelig, 6 Seidenhändler erschienen als Plagegeister, ich trank mit den Kindern Kaffe & will sie gleich in’s Bett machen!“68 Auch gegenüber den eigenen Eltern nahmen die Berichte über die Entwicklung der (Enkel-)Kinder und über ihre Erziehung einen großen Raum ein. Sowohl Wilhelm Colsman-Bredt als auch Adele Colsman berichteten ihren Müttern regelmäßig von den Kindern und formulierten in diesem Zusammenhang Familien- und Lebensideale: „Liebe Mutter ich bin oft sehr beschäftigt, den Morgen bringe ich zum großen Theil bei den Kindern zu, weil Caroline [Dienstmädchen, CG] meist zu waschen u. s. w. hat, Lischen [Kinder- und Dienstmädchen, CG] muß dann bis sie schlaeft einen bei sich haben. In der Haushaltung muß ich mich auch mancher Dinge annehmen, das erfordern die hiesigen Mägde […]. So kannst du denken, daß mir den Morgen gar wenig Zeit bleibt, um mich mit Nähen u. dergleichen zu beschäftigen. Gestern habe ich Nachtkittelchen geschnitten, für Wilhelmchen, am Abend haben wir Puffertskuchen gebacken, weil Wilhelm einige Herren zum Thee mitbrachte, ich habe gerne kleinen Besuch, u. freue mich, wenn Wilhelm zuweilen jemand mitbringt.“69

Adele Colsman präsentierte sich in diesem Brief erstens als Haushaltsvorsteherin eines großen Haushalts, zweitens als mütterliche Gesellschafterin ihrer Kinder und drittens als kultivierte Gastgeberin zwangloser kleiner Gesellschaften. Die Rolle als Lebenspartnerin ihres Mannes trat noch dazu, fand aber vor allem Ausdruck in den Briefen an ihn.70 Die Darstellung der insgesamt vier Arenen ihrer Lebensform kreiste in ihren Briefen wiederholt um die Frage, wie diese alltäglich miteinander verbunden werden konnten. Eine immer wiederkehrende Möglichkeit, ihr Ideal eines harmonischen Familienlebens gegenüber den eigenen Eltern zu präsentieren, war für Adele Colsman und Wilhelm Colsman-Bredt die Weihnachtsfeier mit ihren Kindern, deren Zahl zum Zeitpunkt des folgenden Briefs 1864 auf vier angewachsen war. Dass Weihnachten nicht nur ein religiöses Fest, sondern ab dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts hauptsächlich ein Familienfest mit den Kindern im Mittelpunkt geworden war,71 zeigt die folgende Briefstelle: „Wir bescheerten doch am Abend unsre Kinder, ganz allein u. ich wollte nur Ihr hättet ihre glücklichen Gesichter sehen, u. ihre Freudensäußerungen hören können […]. Adele [fünfjährig, CG] war besonders glücklich, u. sagte mehreremale: ich kann mich nicht satt sehen, an der schönen Puppenstube, Pauls [dreijährig, CG] Herz war auch sehr erfreut, das Hähnchen Kikeriki bewahrt er wie einen richtigen Schatz in seinem Schränkchen, von dem er zuweilen feierlich den Schlüssel abzieht, um ihn in seiner Tasche zu verwahren. Fast seine ganze Unterhaltung dreht sich um das Buch am Morgen, ob’s wohl ein Mährchen oder eine wahre Geschichte sei, u. am Nachmittag wird hier unten gebaut u. 68 69 70 71

FFA, B4g57, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 21. November 1867. FFA, B4g55, Adele Colsman an Adelheid Bredt, 25. März 1859. Vgl. dazu Kapitel II über Eheschließungen und Ehebeziehungen, Teilkapitel 3.2. Vgl. Weber-Kellermann, Das Weihnachtsfest.

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mit einer Frachtkarre gespielt, die das Christkindchen […] brachte. Unsre Kleine [Emilie, ein Jahr alt, CG] war auch so fröhlich, u. setzte sich lange in den kleinen Sessel u. baute mit ihren Thieren u. Häusern, nickte von Zeit zu Zeit den Bildern in der Stube, u. klopfte mit der kleinen Hand auf ihre Brust, wenn man frug, ob sie das Christkindchen lieb habe.“72

Während in der frühkindlichen Phase zwischen null und zwei Jahren kaum Unterschiede gemacht wurden und kleine Mädchen ebenso mit Holzspielzeug bauten und spielten wie kleine Jungen, wurden Geschenke danach weit deutlicher auf die späteren Geschlechterrollen ausgerichtet: „Wir haben am Dienstag Abend die Bescheerung, damit Ihr es Euch recht vorstellen könnt will ich Euch sagen was die Kinder bekommen. Adelchen [siebenjährig, CG] die erneuerte Puppenstube, die sehr schön geworden ist, 1 Buch, die Mappe, Nähgeräth, u. ein Heft was Anleitung zum Ausschneiden giebt, dann Pulswärmer und ein niedliches Sonnenschirm. […] Paul [sechsjährig, CG] bekommt das Soldatengeräth, seine erneuerte Festung, den Robinson, u. verschiedenes zum Zeichnen. Emilie [vierjährig, CG] den Laden, das Buch, ein Puppenbett mit erneuerter Puppe u. außer den Bildchen noch Kochgeschirr. Laura [zweijährig, CG] bekommt eine alte Puppenstube, einen Strohsessel, eine kl. Puppe, das Bilderbuch u. eine Tafel, die schöne große Schachtel soll den Kleinen zusammen gehören. So ungefähr habe ich 10 Thl. übrig, ich dachte, die wollte ich ihnen verwahren, weil doch bald die Zeit kommt, wo sie sich ein Schränkchen od. so etwas wünschen werden.“73

Das Spielzeug war Teil eines Erziehungs- und Sozialisationsprogramms, das auf die späteren sozialen Räume und Aufgaben vorbereiten sollte. Mädchen wurden auf hausfrauliche Arbeiten und mit Puppen auf die Erziehung von Kindern vorbereitet, Jungen erhielten Soldatenspielzeug und Abenteuerbücher. Die Weihnachtszeit war aber nicht nur eine Zeit der Geschenke, sondern auch eine des Spielens und Bastelns, welche in der Familiensozialisation als gemeinsame Beschäftigung der Mutter und der Kinder bedeutsam war: „Paul u. Adele sind in ihren Mußestunden gerne mit buntem Papier für den Weihnachtsbaum beschäftigt, ein großer Theil der Arbeit fällt auf mich, das ist in dem Alter gewöhnlich so, nur wo’s zu kleben giebt ist Paul flink und selbständig zur Hand. Ich habe ihm noch eine Einrichtung zum Modelliren bestellt, damit er dieser Liebhaberei ein wenig folgen kann ich habe es ganz gerne, wenn er sich so beschäftigt, zu noch nützlicheren ist er wirklich zu klein.“74

Bei Kleinkindern wurde verstärkt darauf geachtet, wie sie sich äußerten und welche Schlüsse daraus für ihre Entwicklung gezogen werden konnten.75 Kin72 73 74 75

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FFA, B4g55, Adele Colsman und Wilhelm Colsman-Bredt an Adelheid Bredt, 31. Dezember 1864. FFA, B4g55, Adele Colsman an Emil und Adelheid Bredt, 21. Dezember 1867. FFA, B4g55, Adele Colsman an Adelheid Bredt, o. D., im Dezember 1868. Beobachtung und Abschätzung einer ‚richtigen‘ Entwicklung des eigenen Kindes war in gebildeten Milieus üblich, wurde aber bis ins 20. Jahrhundert hinein nur in geringem Maß an einer pädiatrisch und psychologisch vorgegebenen Entwicklungsnormalität gemessen. Vgl. Schulz, Der „Gang der Natur“, S. 37f.

derbeobachtung war ein wichtiges Element des Umgangs mit Säuglingen und Kleinkindern, wie hier bei dem einjährigen Wilhelm: „Ich war sehr erfreut, den Kleinen diesen Morgen so fröhlich Mama rufen zu hören, es ging ihm ganz gut, er war auch recht lieb, u. nicht besonders ungeduldig als ich mich noch frisirte. Nach dem leeren Bett sah er mit sehr erstaunten Blicken, wenn man ihn nach Dir fragt, winkt er mit dem Händchen, er merkt es auch ganz gut, daß Du fehlst. Diesen Morgen war er noch so müde, daß ich ihn ganz lange auf meinem Schooß habe schlafen lassen, da war ihm so angenehm. Ich hoffe er wird ein liebes Kind, es thut mir so leid, daß bei ihm schon der Wille so früh hervortritt, es ist dann auch schwer richtig mit ihm umzugehen, denn man kann nicht immer seinen Willen thun, u. um ihm etwas zu verbieten ist er noch zu klein.“76

Die Mutter schilderte und interpretierte gegenüber dem Vater das Verhalten des Kleinkindes. In diesem Zusammenhang ist unverkennbar, was für die Mutter erwünschtes und was unerwünschtes Verhalten war und was kleine Kinder ihrer Meinung nach bereits begreifen konnten und was nicht. Lieb und geduldig zu sein waren Verhaltensweisen, die durch Erziehung erzeugt und gefördert werden sollten. Die Säuglinge und Kleinkinder sollten zudem durch viel Körperkontakt Vertrauen und Nähe zu den Eltern entwickeln. Für die Mutter war auch klar, dass ein Einjähriger noch nicht über die kognitiven Fähigkeiten verfügte, um Verbote zu begreifen. Vielmehr sollten kleine Kinder so gelenkt werden, dass Konflikte mit dem kindlichen Willen nicht auftraten. Dass der Einjährige bereits eigene Ziele bewusst verfolgte, war für die Mutter ohne Zweifel. Gleichwohl konnte das Kind nach Interpretation der Mutter den Vater auch in Abwesenheit zuordnen und Fragen nach ihm mit körperlichen Äußerungen beantworten. Daran maß die Mutter wiederholt die geistige Regsamkeit ihrer Kinder: „[…] so Gott will schreibe ich morgen weiter mit W. [Wilhelm, zwei Jahre alt, CG] auf dem Schooß, der Kleine spricht immer von Dir, auch Delchen [Adele, ein halbes Jahr alt, CG] lauscht aufmerksam, wen man fragt: ‚Wo ist Papa?‘ meist sieht sie nach der Thüre die nach unsrer Schlafstube führt, die Kleine ist schon so klug.“77 Auffallend ist, wie stark in den beiden zitierten Briefstellen die geistige Entwicklung im Vordergrund steht. Wenn die Eltern in der Folgezeit von der Entwicklung ihrer Kinder sprachen, dann waren hauptsächlich kognitive und moralische Fortschritte gemeint. Zwei Jahre später hatte sich der Wille des ältesten Sohnes Wilhelm aber offenbar noch immer nicht vollständig in Richtung ‚lieb und geduldig‘ verändern lassen, so dass die Mutter schrieb: „Wilhelmchen ist etwas artiger geworden, aber doch kommen zuweilen Klagen über ihn, das kommt auch viel daher, weil er so wenig gewohnt ist, mit andern Kindern zu spielen, zu Hause geht in dieser Beziehung meist alles nach seinem Willen. Das Heu, was die ganze Woche ihnen zur Freude war, ist nun von der Wiese genommen, ich wollte Du hättest das kleine Delchen mal mit den andern im Heu gesehen; die Kleine wird hier so wild u. lustig, u. plaudert in einem fort. Am Abend ziehe ich gewöhnlich eines aus, ges76 77

FFA, B4g57, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 22. Oktober 1858. FFA, B4g57, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 2. November 1859.

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tern legte ich Wilhelmchen in sein Bettchen, da sagte er, indem er beide Ärmchen fest um mich schlang: ‚Mama, ich habe Dich so lieb, u. den Papa habe ich auch noch so lieb.‘ Er hat ein so gutes, treues Gemüth, u. ist so empfänglich für Liebe […]. Er spricht oft von Dir, u. wünscht sehr Deinen Besuch.“78

Kleinkinder sollten zunächst weniger erzogen als vielmehr durch liebevolle Fürsorge umsorgt werden. Die ‚guten Eigenschaften‘, so die Annahme, würden sich dann von selbst herausbilden und die schlechten verschwinden.79 In der Familiensozialisation waren die Kinder der Mittelpunkt des Geschehens im Haus. Spiele mit gleichaltrigen und gleichrangigen Kindern anderer bürgerlicher Familien am Ort wurden durch die Eltern arrangiert, um vor allem die Sozialfähigkeit der Kinder zu fördern. Dass kleine Mädchen dabei auch lustig und wild waren, wie in obigem Brief die anderthalbjährige Adele, war kein Problem. Was positiv gewertet wurde, waren körperliche und emotionale Bedürfnisse der Kinder nach elterlicher Nähe. Körperkontakte waren ein auf jeder Ebene gefördertes Element in der Familienerziehung, vom gemeinsamen Schlafen über Umarmungen bis hin zum Vorlesen im Arm von Mutter oder Vater.80 Säuglinge und Kleinkinder waren für die Eltern keine primär instinktgeleiteten Wesen, die ‚dummen ersten Monate‘ gab es in der Darstellung der Eltern nicht. Dagegen gab es kleine Individuen, deren Charaktereigenschaften schon früh zu Tage traten. Auch Säuglingen schrieben Wilhelm Colsman-Bredt und Adele Colsman kognitive Fähigkeiten zu, wenn diese auch noch nicht denjenigen der Erwachsenen entsprachen. Die Verhaltensweisen von Säuglingen wurden nicht als Reiz-Reaktionen gedeutet, sondern als Willens- und Gefühlsäußerungen. Säuglinge hatten für die Eltern von Geburt an ein Bewusstsein, wie hier der sechs Monate alte Johannes („Hans“): „[…] auch der Kleinste macht mir viel Freude, ich meine fast kein Tag habe uns solch Glück in’s Haus gebracht, als der 16. Mai, der liebe Gott gebe, daß wir immer nur mit Freude dieses Tages gedenken. Durch dies gesunde liebliche Söhnchen sind wirklich die höchsten Erwartungen des langen, bangen Winters übertroffen, wie oft denke ich daran, u. freue mich darüber! Eigentlich seit gestern bemerke ich zuerst, daß der kl. Junge einen Willen hat, er kann sich so sträuben, wenn er etwas anders will, freilich nur ein Moment, dann ist’s wieder gut. Morgens ist er besonders lieblich, er jauchzt dann vor Freude u. fühlt sich so völlig behaglich, es ist ein Vergnügen zu sehen!“ 81

Ab dem Alter von etwa anderthalb Jahren begannen die Eltern, ihren Kindern durch Fragen und Erklärungen Wissen zu vermitteln, auch wenn dies bei der lebhaften anderthalbjährigen Adele zunächst nicht von Erfolg gekrönt war: „Unsere Kinder sind dem Herrn sei Dank wohl u. vergnügt, Adelchen ist so lebenslustig, daß sie mir fast zu flüchtig wird. Diesen Morgen erzählte ich beiden Kindern von Weih78 79 80 81

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FFA, B4g57, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 12. August 1860. Vgl. auch Gebhardt, „Ganz genau nach Tabelle“, S. 254. Anders dagegen, aber vor allem auf Erinnerungstexten beruhend Klika, Erziehung und Sozialisation im Bürgertum, S. 210, S. 227. FFA, B4g57, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 28. November 1868.

nachten, wobei sie ganz entzückt zuhörten, u. wie ich Adelchen fragte, was singen wir denn beim Weihnachtsbaum, fing sie ganz fröhlich an zu singen: Wer will unter die Soldaten u. s. w. ich glaube es wird schwer halten, ihr etwas bei zu bringen, obschon sie alt u. verständig genug ist, etwas zu lernen.“82

Beide Eltern wussten durch den Austausch mit anderen Elternpaaren den Zeitpunkt einzuschätzen, ab dem kognitiv-reflexive Lernprozesse einsetzen konnten und konkretisierten dies zudem durch die Beobachtung der eigenen Kinder („noch zu klein“; „verständig genug“). Mit spätestens zwei Jahren sollte eine Erziehung einsetzen, die bewusst auf den Verstand und die Moralvorstellungen der Kinder einwirkte: „Bim Bim [der zweieinhalbjährige Wilhelm, CG] ist ein guter Junge, allerdings sehr lebhaft & mobil & kann ich es mir auch sehr lebhaft denken daß bald die Zeit angeht, wo in manchen Fällen mit freundlichem Ernst & Entschiedenheit auf ihn eingewirkt [werden] muß.“83 Durch anschaulich erläuterte Beispiele sollten die Kleinkinder, hier der dreijährige Wilhelm, frühzeitig auch selbst Verhaltensweisen als positiv oder negativ bewerten lernen: „Wenn ich von Wilhelmchen nur so Alles behalten könnte, er [ist] so lieb, er sagt immer, er sei der kleine Papa, u. wie ich frug, ob er auch Kinder hätte, sagte er: es Delchen. Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß der Papa auch immer gut gegen sein Kind müßte, nicht es kratzen u. kneifen […].“84

Väter, so Adele Colsman in der Briefstelle, sollten vor allem liebevoll zu ihren Kindern sein, das war eine sie auszeichnende Eigenschaft. Wilhelm ColsmanBredt ließ bei Abwesenheit seine Frau Küsse an die Kinder überbringen, um ihnen seine liebevolle Verbundenheit zu vermitteln: „Wie hat es dir nun die einsamen Nächte ergangen? […] Die Kinder sind hoffentlich lieb & artig, gib ihnen Alle einen Kuß für mich!“85 Der Wille der Kleinkinder musste nach Meinung der Eltern auch nicht ‚gebrochen‘ werden, vielmehr sollten sie unter Berücksichtigung ihrer noch eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten überzeugt und zur Einsicht gebracht werden. Wenn das nicht gelang, griffen die Eltern auch zu kleinen Unwahrheiten und Tricks: „Die kleinen Mädchen waren auch recht lieb, Laura [dreijährig, CG] nur am Abend etwas verkehrt, sie wollte wieder ‚über ihre Unart‘ weinen, ich wehrte es ihr, mit der Versicherung sie sei nicht unartig gewesen, was vielleicht nicht ganz recht von mir war, aber ich hatte solch Grauen vor dem Schreien ohne Ende, daß ich zu diesem Mittel griff.“86

Artigkeit und ‚Liebsein‘ waren positiv bewertete Verhaltensweisen der Kleinkinder ab einem Alter von etwa zwei Jahren. Gleichzeitig war die individuelle Persönlichkeit jedes Kindes bedeutungsvoll und sollte sich entwickeln, musste aber auch im Sinne ihrer Sozialfähigkeit reguliert werden: 82 83 84 85 86

FFA, B4g55, Adele Colsman an Adelheid Bredt, 24. Oktober 1860. FFA, B4g57, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 11. November 1859. FFA, B4g57, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 28. März 1860. FFA, B4g57, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 1. August 1866. FFA, B4g57, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 6. Dezember 1868.

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„Die Kinder sind im Durchschnitt artig, ich muß wohl mitunter ein wenig ernst drein sprechen, aber Jedes hat so seine Eigenthümlichkeit wodurch es mir solche Freude macht, daß ich der Unart nicht gedenke. Wie sollten die Kinder auch ohne Eigensinn sein können, es wäre ja gegen unsre eigene Natur, wenn ich nur immer Weisheit hätte dem verkehrten Sinn richtig zu begegnen. Die Kleine ist auch wieder wohl, lustig u. guter Dinge, es ist doch ein großer Segen u. unverdiente Gabe, diese Kinder.“87

Der Erziehungsstil (als Kohärenz von Einstellungen und Handlungen) sollte nach Meinung der Eltern grundsätzlich aber durch Beispielgeben, verbale Erklärungen und durch Verstärkungen des als positiv gewerteten Verhaltens, aber auch durch die Selbstentwicklung der Kinder im Spiel und in der Geschwistergruppe geprägt sein. Über die Erziehung seines vierjährigen Sohnes und seiner einjährigen Tochter legte Wilhelm Colsman-Bredt folgende Überlegung seiner Frau vor: „Zu viel Ermahnen & zu häufiges Strafen ist bei Kindern sehr bedenklich, ich glaube man muß in sehr vielen Fällen, wenn es eben angeht, thun als hörte man Nichts, ich glaube die Kinder, die ja eigentlich selbst nicht wissen, was ihre unartigen Worte bedeuten, legen sie dann von selbst ab; geht’s natürlich gar zu toll, dann muß man mit Sanftmuth & liebendem Ernst, so schwer es auch wird, einschreiten.“88

Kleinkinder sollten lernen, sich selbst zu regulieren, Wilhelm Colsman-Bredt setzte auf Sozialisationsprozesse, in deren Verlauf sich durch Interaktion mit der Umwelt Verhaltensformen ändern würden. Die Eltern, so seine Konzeption, sollten erst einschreiten, wenn ein von ihnen gesteckter Rahmen überschritten würde. Wie weit oder eng dieser Rahmen gesteckt war, lässt sich aber nicht mehr rekonstruieren. Für Wilhelm Colsman-Bredt und Adele Colsman war die Erziehung ihrer Kinder neben ihrer eigenen Beziehung das zentrale Projekt ihres Privatlebens.89 Die genaue Beobachtung der Kinder und die Reservierung eines erheblichen Anteils des Tages für sie war den Eltern wichtig und zugleich mit Zweifeln an der eigenen Erziehungskompetenz verbunden: „Mir geht es hauptsächlich drum, die Kinder zu erziehen, wie es Recht ist, u. das ist meine schwerste Sorge und meine größte Arbeit, der ich auch so wenig gewachsen bin, u. der ich so unverständig u. untreu gegenüber stehe.“90 Für die Mutter Adele waren die Kindererziehung und die Befassung mit ihren Kindern so bedeutsam, dass sie sich selbst gegenüber ihrem Mann kritisierte, wenn sie es an einem Abend versäumte, die Kinder persönlich ins Bett zu bringen: „[…] ich machte mir vorhin 87 88 89

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FFA, B4g57, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 6. August 1866. FFA, B4g57, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 12. April 1861. Eine Antwort auf diesen Brief ist nicht überliefert. Paarbeziehung und Kindererziehung gerieten dabei nicht in ein Konkurrenzverhältnis. Vielmehr wurden sie als komplementär angesehen. Zu möglichen Ambivalenzen zwischen Ehebeziehung und Elternrolle vgl. Rosenbaum, Erinnerte Eltern-Kind-Beziehungen, S. 230f. FFA, B4g55, Adele Colsman an Adelheid Bredt, 14. April 1868.

Vorwürfe darüber, daß ich kein Kind ausgezogen habe, statt dessen saß ich hier im Mondschein u. sang u. dachte nach, es ist so traurig, daß ich oft meine Pflicht so verkenne, diesen Abend war es wirklich nur Bequemlichkeit, weßhalb ich es unterließ.“91 Anhand der Briefe lassen sich keine Unterschiede hinsichtlich der Zuständigkeit für bestimmte Erziehungsbereiche, zum Beispiel hinsichtlich Schulkarriere und häuslicher Erziehung oder in den Erziehungseinstellungen und -zielen, zwischen den Elternteilen ausmachen. Zu den Aufgaben eines Vaters gehörte für Wilhelm Colsman-Bredt auch die Befassung mit Säuglingen. Als seine älteste Tochter Adele, die seit 1880 in London mit einem deutschstämmigen Kaufmann verheiratet war, ihr erstes Kind bekam, schrieb er von dort während einer Geschäftsreise an seine Frau: „Hermanns [des Ehemanns, CG] Schnurrbart stärkte sich zusehends als ich ihm mittheilte was Du über seine berühmte Kinderpflege schriebst. […] ich kann es aber noch viel besser und gibt mir die A. [Kinderwärterin, CG] unaufgefordert das Baby auf den Arm, wenn ich erscheine, ja gestern benutzte sie in schlauer Wärterinnen Art meine Anwesenheit um sich zu drücken & hatte ich denn still Wärterin zu spielen bis sie geruhte wieder zu kommen! ich versuchte als es mir lang wurde die Kleine in den Schlaf zu summen, was mir auch gerieth, indeß als ich sie in die Wiege legen wollte, kuckte sie mich mit ihren großen Augen ganz verwundert an! Wir hatten eine sehr gute Nacht, inclusive das baby, welches man hier, da es nicht die Mutterbrust nimmt, ‚bottle baby‘ nennt! was mir sehr bezeichnend scheint.“92

Körperliche Nähe, Säuglingspflege und die Befassung mit deren Ernährung waren nicht unmännlich, sondern wurden von Wilhelm Colsman-Bredt als Teil der Vaterschaft begriffen.93 Wiegen, füttern und in den Schlaf singen sollten nach seiner Darstellung auch Väter können. Wilhelm Colsman-Bredts Schwiegersohn war ebenfalls stolz auf seinen geübten Umgang mit Säuglingen und Kleinkindern. Bei Geschäftsreisen wurde dem Vater regelmäßig aufgetragen, Geschenke für die Kinder mitzubringen, wobei die Kinder Wünsche äußerten, die der Vater, hier in einem Brief aus London, auch zu berücksichtigen suchte: „Daß Wilh [zweijährig, CG] meiner so freundlich gedenkt, freut mich sehr, ich werde aber mit der Löwenjagd nicht dienen können, man kann hier sehr schlecht Spielsachen kaufen, sie kommen alle von Deutschland & sind hier sehr theuer, ich muß also vielleicht bei Bockman etwas suchen.“94

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FFA, B4g57, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 1. April 1860. FFA, B4g59, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 24. Februar 1882. Für das viktorianische England zu ähnlichen Ergebnissen kommt Tosh, A Man’s Place, S. 80ff. Dagegen das Bild der abwesenden, autoritären Väter im deutschen Bürgertum tradierend Konrad, Die nationalstaatliche Kindheit, S. 105f.; Berg, Familie, Kindheit, Jugend, S. 102. FFA, B4g57, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 16. November 1861. Die deutschen Produkte waren in Großbritannien viel billiger als die einheimischen, vgl. dazu Kapitel IV über Schulbesuch und Sozialisation der Jungen, Teilkapitel 4.4.

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Die Kinder, hier der fünfjährige Hans, erwarteten schließlich regelmäßig Geschenke vom Vater nach dessen Rückkehr: „Hänschens lebhafter Wunsch ist eine lederne Peitsche […], er wünscht immer Du kämst nun wieder, u. wenn ich mich dann seiner Liebe zu Dir freue u. frage, weßhalb soll Papa denn so eilig kommen, ist die regelmäßige Antwort, damit ich die schöne Peitsche bekomme, die Liebeserklärung folgt dann hinterher.“95

Berichte über die Kinder von Seiten seiner Frau wurden von Wilhelm ColsmanBredt regelmäßig kommentiert, hier im selben Brief aus London, wobei er deren Darstellungen und Urteile fast immer zustimmend aufnahm und in diesem Fall – sein Sohn Paul war wegen Schneeballwerfens auf Passanten vom Ortspolizisten nach Hause begleitet worden – mit der Ergänzung eines Ideals männlichbürgerlicher Kindheit beantwortete: „Daß Paul mit der neuen Polizei in Conflict gerathen, wäre ja fast schlimm geworden; Jungens müssen immer recht ordentlich sein, vergnügt munter & lustig wohl, aber doch nicht so daß andre Leute durch sie belästigt sind, auch nicht mit Schneeballen! Wenn ich Zeit habe schreibe ich den Kindern dieser Tage; es geht indeß so schnell mit der Zeit daß man kaum weiß wo sie bleibt.“96

Der siebenjährige Paul hätte sich nach Meinung seines Vaters bereits die Normen höflichen Verhaltens aneignen sollen; er sollte sich in seinem Alter ordentlich betragen und rücksichtsvoll sein können.97 Draußen spielen und sich bewegen sollte aber Jungenart sein. Gleichwohl sollten Jungen ihre körperliche Kraft und ihren Willen mit Hilfe elterlicher Erziehung regulieren lernen: „Der Kleine [der zweijährige Wilhelm, CG] ist ein glückliches Kind, das Knabenhafte tritt immer mehr in ihm hervor, wir werden gewiß noch viel mit ihm zu thun kriegen.“98 Der Vater formulierte in Briefen an seine Frau auch seinen Eindruck von der kognitiven Entwicklung der Geschlechter und seine Idealvorstellung einer Geschwistergemeinschaft: „Samstag hat nun der kleine possierliche Paul [vierjährig, CG] seinen Geburtstag, ich hoffe Du gibst ihm, wenn er artig gewesen eine Kleinigkeit als von mir kommend, […] es ist so nett wenn die Kinder Alles gemeinschaftlich thun. Paul ist auch noch etwas klein für’s Lernen & dann sind Jungens ja immer viel dümmer als Mädchen!“99

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FFA, B4g58, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 30. März 1873. FFA, B4g57, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 1. Dezember 1868. Ähnlich beschrieb dies seine Frau schon für den dreijährigen Sohn Wilhelm: „Gestern haben sich die Kinder recht im Heu herum getummelt, sie sind recht vergnügt, Wilhelmchen ist nur oft etwas unartig gegen die andern, indem er seine Kneif- u. Schlaglust schlecht überwinden kann. Hoffentlich gewöhnt er sich bald besser, ich glaube Mädchen sind im allgemeinen leichter zu leiten […].“ FFA, B4g57, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 9. August 1860. FFA, B4g57, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 9. November 1859. FFA, B4g57, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 2. Mai 1865.

Dass Mädchen sich oft mehr für den Wissenserwerb interessierten und Jungen in den Lernleistungen nicht selten weit voraus waren, war für den Vater, so wie er seine Aussage formulierte, eine Erfahrungstatsache. Es führte trotzdem bei keiner der hier untersuchten Familien dazu, dass die Mädchen gegebenenfalls eine stärkere Förderung erfahren hätten als die häufig an der Schule und am Lernen weniger interessierten Jungen.100 Allerdings wurde der Lernerfolg der Mädchen ebenso geschätzt wie der der Jungen und ihre schulischen Leistungen auch gleichermaßen gelobt. Lernunwillige Mädchen unterlagen einer ebenso deutlichen elterlichen Kritik wie lernfaule Jungen. Körperstrafen waren ein in dieser Familie erst sparsam, dann gar nicht mehr angewendetes Erziehungsmittel und zogen, wie im folgenden Fall, Reflexionen über deren Angemessenheit nach sich: „An den Klapp den ich W.[ilhelm] am Freitag gab, mußte ich auch noch mehreremal denken, der arme Junge dachte bei seiner Grimasse gewiß nichts Böses & that es mir leid daß ich ihn den aufgespannten Mund nicht lieber durch ein freundliches Wort oder gar einen Kuß schloß, man muß hinsichtlich der Erziehung gewiß sehr viel noch lernen.“101

Dass er den Dreijährigen körperlich gestraft hatte für eine, so bewertete es der Vater nachträglich, falsche Interpretation von dessen Verhalten, machte ihm viel Kopfzerbrechen mit dem Resultat, dass gelingendes Erziehen offenbar auch eine ständige Lernbereitschaft der Erwachsenen erforderte. Wilhelm Colsman-Bredt und Adele Colsman sahen in der Folgezeit ganz von Körperstrafen ab,102 sie wurden als der Erziehung zu bürgerlichen Verhaltensformen und zu Selbstständigkeit und Selbstbeherrschung nicht zuträglich verworfen. Dennoch kamen die Eltern ihrer Meinung nach nicht ohne Strafen in der Erziehung aus, versuchten diese aber möglichst sparsam einzusetzen. Eine klassische Strafpraxis war der Ausschluss (bzw. meist nur dessen Androhung) von Familienaktivitäten wie gemeinsamen Ausflügen und der Stubenarrest. Wilhelm Colsman-Bredt schrieb an seine Frau über die sechsjährige Tochter Clara: „Clara hatte gestern sehr gefaulenzt & kam heute Morgen seelenvergnügt mit dem schlechtesten Zeugniß auf der Tafel; ich machte kurzen Prozeß und ließ sie mit Wasser & Brod ihr Frühstück in der Garderobe im Halbdunkel einnehmen; sie brüllte zuerst schrecklich, verstummte bald & hatte dann als ich sie nach einer Stunde befreite das frugale Mahl verzehrt, das Glas indeß zerbrochen & versteckt! das gab neue Thränen als es aus der Sparbüchse mit 40 gr bezahlt werden mußte! Die Schreiberei war auch nicht gut, so daß sie selbige nochmal machte! Das wird wohl für einige Tage helfen.“103

Für schlechte Schulleistungen, die für die Eltern ein gravierendes Problem darstellten, waren kurze Stubenarreststrafen vorgesehen; bei sorglosem Umgang 100

Vgl. dazu die Kapitel IV und V über die schulische Sozialisation der Jungen und der Mädchen. 101 FFA, B4g57, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 30. März 1860. 102 Vgl. dagegen Klika, Erziehung und Sozialisation im Bürgertum, S. 212, jedoch vor allem auf Erinnerungstexten beruhend. 103 FFA, B4g58, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 16. April 1879.

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mit Kleidung und elterlichen oder geschwisterlichen Gegenständen wurde dagegen nur deutlich getadelt und manchmal laut gescholten: „Paul war in einen Sumpf gefallen & zippel naß mußte ich ihn aus der Schule holen lassen, nachdem Adele ihm eine trockene Kleidung besorgt, er hatte sich auf eine Thür gerippt & diese war offen gegangen so daß er über der Pfütze hing, es ist in dem kleinen Gäßchen neben der Schule! indeß nach einer kleinen Explosion waren wir wieder gute Freunde.“104 „Unsere Kinder sind im Ganzen artig, Adele übt & Paul arbeitet auch aus eigenem Antrieb, allerdings setzt es bei der Durchsicht der Arbeiten am Abend zuweilen kleine Ungewitter mit Regen, allein das ist nun mal nicht anders.“105

Wenn die Eltern annahmen, dass Spielzeug oder Hausgegenstände bewusst und nicht durch Unachtsamkeit zerstört worden waren, mussten die Kinder mit ihrem Taschengeld dafür aufkommen, wie oben die sechsjährige Clara. Kleinkinder, welche als einer kognitiven Einwirkung noch nicht zugänglich erachtet wurden, wurden hingegen nicht bestraft und auch nicht gegen ihren Willen zu einem Verhalten gezwungen. Wilhelm Colsman-Bredt, der seine dreijährige Tochter Emilie in Abwesenheit der Mutter am Tisch fütterte, schrieb: „Die Kinder sind recht artig, nur will Emilie selten ihr Gemüse essen, wobei es dann als mancherlei Kampf absetzt in dem sie leider meistens durch consequentes Schließen von Augen & Mund, durch passiven Widerstand, Sieger bleibt, sonst ist sie sehr zutraulich.“106

Adele Colsman reagierte deshalb zutiefst schockiert, als sie erfuhr, dass der Hauslehrer einer befreundeten Familie deren Sohn durch Schläge körperlich schwer misshandelt hatte: „Denke Dir, was doch für Geschichten passiren, der Hauslehrer hatte Emil [Engels, CG] so mißhandelt, daß er entlassen werden mußte […]. Dies ist der langen Rede kurzer Sinn, es ist himmelschreiend die Einzelheiten zu hören, der Lehrer scheint das Kind an Leib u. Seele verderben zu wollen, hat ihn zum Lügen gezwungen u. ihn so mit der Faust an den Kopf u. in’s Gesicht geschlagen, daß alles mit Blut unterlaufen, ein Ohr förmlich schwarz ist, der ganze Hinterkopf war geschwollen, kann man sich so etwas wohl vorstellen, welche Gottlosigkeit! Mich hat dies so bewegt u. erfüllt, gestern konnte ich fast nichts anderes denken, ein Glück daß der Mann nun aus dem Haus ist, hoffentlich hat er dem Kind nicht wesentlich geschadet, Emil sagte er hörte nicht ganz gut, besonders mit einem Ohr, ich muß sagen der Verstand steht mir still […], ich glaube Emil will ihn verklagen, wenn es ihm auch nicht nützt, so verhindert er doch, daß der Lehrer noch in andern Familien Unheil anrichtet, ich konnte ihn nur dazu ermuntern […].“107

Der Fall erinnert stark an den des Hauslehrers Andreas Dippold, der 1903 einen seiner Schüler, den Sohn eines Berliner Bankiersehepaars, so sehr durch körper104 105 106 107

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FFA, B4g57, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 21. November 1867. FFA, B4g58, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 16. Februar 1869. FFA, B4g57, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 24. Oktober 1866. FFA, B4g58, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 18. Mai 1872.

liche Züchtigungen misshandelt hatte, dass dieser starb. Der Fall und der anschließende Prozess, der mit acht Jahren Zuchthaus für den Hauslehrer endete, wurde in den Medien umfassend erörtert und empörte im Kaiserreich die Öffentlichkeit.108 Für Adele Colsman war das Schlagen des etwa zwölfjährigen Emil ein Verbrechen, das dringend vor Gericht geahndet werden musste. Erziehung war in den Selbstpräsentationen und Handlungsorientierungen Wilhelm Colsman-Bredts und Adele Colsmans eine Kompetenz, die sie nicht per se beherrschten, sondern die sie sich erst mit gegenseitiger Unterstützung erarbeiten mussten: „[…] je älter die Kinder werden, desto ernster sind die Gedanken, bei den dahineilenden Jahren, früh sind sie leicht zu leiten, zu unterhalten, u. zu beschäftigen, aber jetzt denke ich doch, die Erziehung ist ein schweres Stück […].“109 Insbesondere die Mutter zweifelte immer wieder daran, ob die Erziehung zum gewünschten Resultat führen würde: „Für Paul bin ich immer bang er hat zu viel Freude, in Deinem l. Brief deutest Du es ja auch an, u. hatte ich gedacht, eine stille Woche mit mir möchte ihm wohl ganz gut sein. Ich habe aber schon so oft die Erfahrung gemacht, daß gerade wenn man den Kindern meint viel sein zu können geräth es doch nicht, es liegt eben ganz an Gottes Seegen u. fühle ich oft, wie unfähig man ist ein Kind von einem Fehler zu curiren […].“110

Auch der Vater empfand, hier in einem Brief aus London, die Erziehung mitunter als mühsam und belastend, freute sich aber gleichwohl über das überwiegend harmonische Familienleben: „Adelens Brief macht mir rechte Freude, ich schrieb ihr gestern auch einige Zeilen. Es verlangt mich oft wieder dort zu sein, die kleinen Trabanten sind doch bei aller Noth & Mühe die man mit ihrer Erziehung hat, recht zur Freude […].“111 Sorgfältig wurden die Kinder anderer Paare auf Reisen, hier nach Bremen, beobachtet und das Ergebnis fremder Erziehung dem Ehepartner mitgeteilt: „Wir tranken nun Thee mit einander u. die Kinder freuten sich an all dem Mitgebrachten von ihrer Mama und erzählten viel. Dann wurde eins nach dem andern im Nebenzimmer zu Bett gebracht, u. man hörte keinen Laut. Die Kinder sind im Zimmer überhaupt so wohlerzogen, still u. manierlich, diesen Mittag dachte ich auch, ehe man Adelchen mitbringen könnte müßte sie leise essen lernen, selbst das kl. Fritzchen legt die Hand nur bis an den Knöchel auf den Tisch, u. wird ganz ernst erinnert, wenn es sich vergißt.“112

Das Beherrschen bürgerlicher Umgangsformen bei Tisch war für die Eltern ein wichtiges Erziehungsziel, das die eigene Tochter, die neunjährige Adele, nach Meinung der Mutter noch nicht auf eine Weise erreicht hatte, dass man sie auf 108

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Vgl. zu dem Fall Dippold die Monographie von Hagner, Der Hauslehrer. Hagner hat den Fall aus Akten umfassend aufgearbeitet, den Prozess recherchiert und die Mediengeschichte des Falls analysiert. FFA, B4g58, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 7. Mai 1872. FFA, B4g58, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 27. August 1875. FFA, B4g58, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 10. Juli 1874. FFA, B4g57, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 17. Oktober 1868.

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Gesellschaften mitnehmen konnte. „Wohlerzogen, still u. manierlich“ waren in dem obigen Brief erwünschte Verhaltensweisen der Kinder, die sich auch in der Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse Erwachsener äußern sollte. Die Kinder sollten auch in frühem Alter musizieren lernen, und zwar auf möglichst hohem Niveau. Wenn Kinder ein Instrument gut beherrschten, nötigte das Adele Colsman große Bewunderung ab. Von Zeit zu Zeit wurden in den Unternehmerhäusern in Langenberg, Barmen oder Elberfeld unter befreundeten und verwandten Familien kleine Hauskonzerte veranstaltet, in deren Rahmen insbesondere die Kinder ihr musikalisches Können präsentieren sollten: „Emilie u. Laura kamen auch bald aus der Probe, die sie noch vor dem Conzertchen gehalten. Ein kl. Steins Mädchen spielte besonders gut, auch die beiden Söhne, der kleinste stand da so entschlossen mit seiner Violine, er hatte nicht die Spur von Unruhe. Laura spielte von den Kindern zuerst, sie ging auch mit großer Sicherheit zum Clavier, spielte Weißt Du wie viel Sternlein stehen, und Wenn ich ein Vöglein wär, dann mit Emilie 4 händig, u. sie auch noch eine kleine Sonate allein. Es hat uns doch Allen Freude gemacht, wie frisch u. fröhlich die Kleinen ihre Sachen vollführten, aber es ging doch durch Alle eine Scheidung, wo musikalische Eltern, da war auch bei den Kindern die Geläufigkeit größer, als bei denen, wo es nur durch Fleiß u. wenig Gabe angeeignet war.“113

Die Kinder sollten ab dem Alter von etwa drei Jahren auch eine gezielte intellektuelle Förderung durch die Eltern erfahren, insbesondere durch Vorlesestunden: „Am Abend bleiben die beiden [Ältesten, die neunjährige Adele und der siebenjährige Paul, CG] mit mir auf, wir lesen dann immer aus Robinson, wir sind beinah am Schluß, und sehr gespannt wie sich noch Alles entwickeln wird.“114 Die Vorlesestunden waren für die Mutter auch wichtig als Teil einer emotionalen Mutter-Kind-Bindung, die sich deutlich von anderen Aspekten der Erziehung wie der Leistungsforderung und der Unterstützung und Kontrolle der Schularbeiten unterschied. Kinder sollten aber auch ihr eigenes Entwicklungstempo bestimmen können, wie hier die achtjährige Adele: „Die Kinder waren ganz außergewöhnlich beglückt u. bald sehr vertieft in ihre Sachen, die Mappe machte Adelchen ganz besondere Freude, sie hat schon manches ausgeschnitten, u. ihr Glaube an ein Christkindchen ist noch so fest, sie kann gar nicht begreifen, daß eine ihrer Freundinnen meint, es gebe keins.“115

Die Eltern beeilten sich nicht, die Tochter über das Christkind aufzuklären, sondern warteten ab, bis sich Fragen oder Zweifel von selbst einstellten. Säuglinge und Kleinkinder wurden in ihrer Eigenart als deutlich von den Erwachsenen unterschieden beurteilt. Ihr Weltzugang und ihre Interaktionen mit der Umwelt wurden genau beobachtet:

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FFA, B4g55, Adele Colsman an ihre Mutter Adelheid Bredt, 8. April 1875. FFA, B4g57, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 5. August 1868. FFA, B4g55, Adele Colsman an Emil und Adelheid Bredt, 28. Dezember 1867.

„Unsre Kleine [die zweijährige Emilie, CG] sieht besser aus, diesen Morgen hatte sie viel Freude an einem Maikäfer, sie ließ ihn ganz gerne an ihrem Händchen krabbeln, und war im höchsten Grad erstaunt, als er davon flog.“116 „Du hättest neulich Paul [fünf Jahre alt, CG] sehen sollen, wie fröhlich er mit seiner Gabel hantirte, u. wie glücklich er aus sah, wenn es ihm gerathen war, mit einen Stich 2 Kuchen zu erwischen, der kleine Schelm!“117

Berichte über die Kinder wurden von beiden Elternteilen oftmals dargeboten als Entwicklungsberichte, in welchen die von den Kindern erreichten körperlichen und kognitiven Schritte dargestellt wurden: „Paul bemüht sich im Band schlagen, er ist selenvergnügt, heut lief er bei einem kleinem Ausgang seiner Schwester weg, als ich ihn frug, weßhalb? sagte er, ‚Adele blieb mal stehen, ich trieb mein Roß aber zur Eile an.‘ Er ist in seinen Worten überhaupt sehr tapfer, neulich ging ich mit ihm aus, an einem ganz sanften Pferd vorbei, da sagte er sehr sachverständig u. mit den nöthigen Handbewegungen: Nimm Dich nur in Acht Mama, da steht ein sehr zornig Pferd, es will gleich mit den Hufen ausschlagen.‘ Ich habe viel Freude an dem kleinen, munteren Jungen, u. hoffe der liebe Gott läßt ihn fröhlich aufwachsen u. etwas Gutes aus ihm werden!“ 118

Wilhelm Colsman-Bredt berichtete, hier von einer Reise mit seinen älteren Söhnen, ebenfalls detailliert über deren Verhalten und Äußerungen: „Zunächst sind wir alle wohl & besonders die Kinder, Paul bemüht sich bescheiden zu sein & auch sich gerade zu halten, ersteres geräth ihm am schlechtesten beim Essen; da leisten Alle Fehlerhaftes und verdient kein Wirth an uns, trotz der sehr langen Preise, selbst Hans ißt tüchtig Fleisch, oft mehrere Mal von einer Sorte. Es ist ein nettes Gespann mit Wilh. [Conze, CG] […]: Papa wir sind Brüder! Zwillinger! sagt er oft wenn er Wilh umschlungen hat! So jetzt kommt Hans im Nachtkittel & gibt mir zärtliche Küsse & verschwindet mit herzlichen Grüßen an Dich, Adele, Emilie, Laura & Clara im Himmelbett.“119

Kinder sollten schenken und teilen lernen und mitfühlend werden. Daran arbeiteten die Eltern mit konkreten Erziehungshandlungen schon bei den Kleinkindern, hier anlässlich des zweiten Geburtstags des ältesten Sohnes Wilhelm: „[…] er ist selbst ganz entzückt von seinem Geburtstag, […] für Lischen u. Caroline [die Dienstmädchen, CG] habe ich ein einfaches Halstuch gekauft a 4 ½ Sgr., das soll er denen morgen schenken, damit er früh lernt andern etwas mitzugeben.“120 Wenn sich Kinder gegenüber ihren Geschwistern empathisch und besorgt zeigten, wurde dies ausführlich dargestellt und positiv hervorgehoben:

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FFA, B4g57, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, o. D., etwa Mai 1865. FFA, B4g57, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 4. August 1866. FFA, B4g57, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, o. D., etwa Mai 1865. FFA, B4g58, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, o. D., im September 1878. FFA, B4g57, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 2. November 1859.

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„Am Mittag fiel eine kleine Katastrophe vor, indem Paul [fünf Jahre alt, CG] sich noch im letzten Moment vor Tisch in den Finger schnitt. Ueber das fließende Blut erschreckt weinte er u. Adele [sieben Jahre alt, CG] zum Herzbrechen, Adelchen hatte das Messer vor ihm gebraucht, u. es war rührend wie sie sich anklagte: hätte ich doch das Messer nicht liegen lassen, es thut mir so leid, u. dann fiel sie dem Paul um den Hals um ihn zu trösten. Paul war auch so niedergeschlagen, daß er meinte Du möchtest doch gleich wieder kommen, u. ich möchte Dir schreiben er könnte nichts thun, als weinen. Adelchen verlangte nach ihrem Thaler sie wollte ihm schenken, was ihn nur erfreute, ich gab ihr, weil sie so theilnehmend war einen Sgr. u. als Paul mit einem dafür erhandelten Bilderbogen wieder kam, sagte er: ‚Mama, ich bin jetzt wieder frisch und heiter‘, u. damit setzte er sich hier zu mir und bemalte.“121

Die Kinder sollten untereinander grundsätzlich solidarisch sein und eine emotionale Bindung zueinander aufbauen. Wenn dies sichtbar wurde, wurde es von den Eltern ausdrücklich hervorgehoben, auch bei den Kleinkindern im Alter von unter einem Jahr: „Delchen ist auch schwervergnügt, sie geht noch mit vielem Vergnügen aus, wenn Wilhelmchen zuweilen Morgens zu Maria geht u. sie sein Hütchen sieht, wird sie traurig u. weint.“122 Für die älteren Kinder galt, dass sie sich gegenseitig unterstützen sollten, insbesondere in der Einübung bürgerlicher Verhaltensnormen der Anstrengung und der Leistung: „Paul ging auch mit den besten Vorsätzen zu Bett, u diesen Morgen traf ich ihn in der Frühe mit Adele, die ihm Französisch diktierte, die Kinder haben oft einen so guten Willen, daß es rührend ist zu sehen, wenn nur mehr Kraft u. Ausdauer dahinter wäre.“123 Die Eltern schickten die Kinder frühzeitig in eine Turnstunde, um den Körper zu trainieren: „Von uns kann ich dir Gott sei Dank wieder nur Gutes sagen, die Kinder sind wohl u. munter, Paul u. Adele [fünf und sieben Jahre alt, CG] sind jetzt in der Turnstunde, Emilie [dreijährig, CG] macht Schlafversuche, u. die Kleinste [Laura, einjährig, CG] amüsirt sich auf der Kinderstube u. zur Abwechselung auf dem Gang.“124 Bei Beobachtung einer möglichen körperlichen Fehlentwicklung wurde ein Arzt konsultiert: „Adelchen machte uns dieser Tage auch einige Sorge durch ihre schlechte Haltung. Der Dr. hat sie untersucht u. findet doch daß sie noch gerade Schultern hat, daß es nur an der Haltung liegt, ich dachte schon, sie wäre schief. Nun hat er uns gerathen sie ein besondres Corsett tragen zu lassen, u. ihr u. damit auch den andern Kindern täglich eine Turnstunde zu geben, das sind dann Geh u. Stehübungen im Zimmer. Schon lange hätte ich dies gerne für die Kinder gehabt, Wilhelm war nicht so dafür, weil er meinte Kinder könnten auch ohne das sich gerade halten; ich finde nur, wo sonst alles Mögliche ge-

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FFA, B4g57, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 31. Juli 1866. FFA, B4g57, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 9. November 1859. FFA, B4g58, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 7. Mai 1872. FFA, B4g57, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 4. August 1866.

schieht, was gut od. angenehm ist, da wäre es doch Unrecht solche Dinge zu vernachlässigen.“125

Während die Mutter sich für eine frühzeitige Unterstützung der körperlichen Entwicklung durch gezielten Turn- und Gymnastikunterricht einsetzte, plädierte Wilhelm Colsman-Bredt offenbar, was die körperliche Entwicklung anging, eher für ‚Wachsenlassen‘. Ganz anders agierte der Vater hinsichtlich der kognitiven Entwicklung und der schulischen Leistungen. Alle Kinder der Familie besuchten ab dem Alter von fünf Jahren eine private Elementarschule am Ort, an der eine Lehrerin die Kinder der örtlichen Unternehmer- und Akademikerschaft exklusiv unterrichtete.126 Für den Vater war die Leistungsbereitschaft und Leistungserbringung der Söhne für deren berufliche Zukunft entscheidend, und er schrieb aus London an seine Frau: „Daß Paul fleißig ist und auch zuweilen einen Lobstrich bekommt freut mich sehr, wenn er hier bei mir [auf der Geschäftsreise] wäre und all das Arbeiten und Treiben sähe würde er leicht begreifen wie nöthig es ist tüchtig zu lernen, sonst geht es nicht;“127 Für die Eltern war es äußerst wichtig, dass alle ihre Kinder aus eigenem Antrieb lernten, dass sie ihre Hausaufgaben konzentriert erledigten und anstrengungsbereit und leistungsfähig wurden. Dass dies nicht immer der Fall war, machte auch der Mutter große Sorgen: „Emilie [neunjährig, CG] hatte fast den ganzen Tag bei der Tante [der Elementarschullehrerin, CG] sitzen müssen, sie ist ganz schrecklich träge u. läßt sich Alles so oft sagen, aber das Verfahren der Tante ist auch nicht immer richtig, obschon ich selbst auch oft wie ratlos davorstehe, wenn sie lernen soll, od. irgend etwas thun u. sie steht immer wieder da u. träumt.“128

Beide Eltern begannen deshalb frühzeitig, die Kinder in ihren Hausaufgaben zu unterstützen und zu kontrollieren. Die Mutter schrieb: „Paul [siebenjährig, CG] ist auch lieb, Jungens müssen mitunter etwas Unfug treiben, wenn die Schulsachen gemacht sind, sind wir immer beide froh […].“129 Wilhelm Colsman-Bredt kümmerte sich ebenfalls regelmäßig um die Schularbeiten seiner Kinder, traute aber den Aussagen seines ältesten Sohnes über dessen schulische Performance nicht recht: „Paul schien recht vergnügt & behauptet es ging gut, ich frage diese Tage mal die Lehrer.“130 Auch der Vater arbeitete mit den Kindern, hier mit dem fünfjährigen Paul:

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FFA, B4g55, Adele Colsman an Adelheid Bredt, 5. März 1870. Vgl. Conze, Jugenderinnerungen, S. 71. FFA, B4g58, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 15. Mai 1872. FFA, B4g58, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 18. Mai 1872. FFA, B4g58, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 21. Juli 1869. „Während Paul mit seinen Schulsachen bei mir sitzt u. Emilie ihr Mittagschläfchen hält will ich die kleine Ruhestunde benutzen um ein wenig mit Dir zu plaudern.“ FFA, B4g57, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 2. August 1866. 130 FFA, B4g58, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 15. Juli 1875.

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„Paul ist fleißig am Rechnen, doch kann er nur zusammenzählen wenn man es ihm mit Aepfel oder Birnen begreiflich macht daß z. B. 2 plus 3 fünf sind. Adele lernt fleißig & berichtet mir in Auftrag von der Tante [der Elementarschullehrerin, CG] daß diese mit Paul jetzt viel besser zufrieden als vor den Ferien!“131

Ebenso wie Adele Colsman kontrollierte Wilhelm Colsman-Bredt die angefertigten Hausarbeiten: „Die Kinder sind wohl und habe ich Paul tüchtig an Vocabel Lernen, so jetzt war er hier und sagte sein Pensum auf, es ging ordentlich, zur Erholung ist er ½ 9 nochmal an die Auer Stachelbeeren!“132 Aber auch die Mädchen sollten lernen und gute Schulleistungen erbringen. Wilhelm ColsmanBredt kontrollierte ihre Leistungen ebenso wie diejenigen der Jungen: „Adele [elfjährig, CG] schreibt noch mit recht vielen orthographischen Fehlern; ich wagte ihre Freude an dem Brief nicht zu stören, anfänglich wollte ich in dem Brief die gleichen Worte mit gleichen Fehlern anbringen und dann am Schluß ihr aufgeben die Fehler heraus zu finden.“133

Während aber die Mutter vor allem mit den Kindern zusammen an den Schulaufgaben arbeitete (‚wir arbeiten miteinander‘),134 war der Vater in seinen Briefen häufiger als die Mutter in der Position des Kontrollierenden anzutreffen, obwohl auch er mit den Kindern lernte. In Fragen der Schulaufgaben agierte die Mutter meist in symmetrischer Position an der Seite der Kinder, während der Vater neben seiner Lernarbeit mit den Kindern diese auch lobend oder tadelnd beurteilte: „Gestern Abend als Du unsern Augen entschwunden, u. ich meiner Neigung nach, mich vielleicht in allerlei Abschiedsgedanken ergangen hätte, wurde mir durch die Arbeiten der Kinder bald ein Terrain angewiesen, das jeden Ausbruch des Gefühls in Schranken hielt. Endlich war das lateinische Stück zu Papier gebracht, was denn heut in Gestalt eines Lobstreichs Früchte getragen, Paul [elf Jahre alt, CG] frug diesen Mittag ein wenig verschämt: schreibst Du das auch Papa? u. wie viel lieber schreibe ich das, als den traurigen Tadel.“135

Während der Schulzeit wurde für die Kinder in der Familienvilla eine Lernstube eingerichtet, sie war der korrespondierende Raum zu der elterlichen Diskussion über Erziehungsstile und -ziele. Die Kinder sollten konzentriert arbeiten lernen, was den Eltern in dem Maße erforderlich schien, wie die die unternehmerische Konkurrenz schärfer und die globale Verflechtung des Familienunternehmens komplexer wurde. Die Mädchen sollten diese Prozesse zwar nicht wie die Jungen später selbst gestalten, aber sie sollten sie nachvollziehen können. Die Lern131 132 133 134

FFA, B4g57, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 15. Oktober 1866. FFA, B4g58, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 29. Juli 1875. FFA, B4g58, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 12. Juli 1870. „Von hier kann ich Dir nur sagen, daß ich mit den Kindern so still weiter lebe, wir sind Nachmittags viel in der Laube, arbeiten miteinander, […], essen fleißig Kirschen u.s.w. wie Du es ja kennst.“ FFA, B4g58, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 21. Juli 1869. 135 FFA, B4g58, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 7. Mai 1872.

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stube wurde dementsprechend nicht in einem abgelegenen Winkel des Hauses platziert, sondern im ersten Stock an einem besonders schönen Ort: Einerseits abseits der Straße, um die Kinder nicht abzulenken, andererseits mit Blick auf zwei weitere Unternehmervillen im Ort und die dazu gehörigen Gärten. Auch der Platzierung der Lernstube lag somit eine konkrete Überlegung zugrunde, die Adele Colsman in einem Brief an ihren Mann reflektierte: „Ich […] habe am Abend, als ich noch auf der Lernstube am Fenster stand, u. ein wenig in die wunderschöne Landschaft sah, es ist nämlich im ganzen Haus kein schönerer Blick, als am Abend aus dem großen Fenster der Lernstube, besonders bei Vollmond – noch viel über manche Lebensführung nach gedacht, ich sah nach dem Erker, dem Neuborn [gegenüberliegende bürgerliche Villen, CG], u. hoffe die Ueberzeugung verläßt mich nun nie mehr, daß wir es sehr gut haben […].“136

Die Eltern organisierten aufgrund der häufigen Abwesenheiten des Vaters kleinere Ferienreisen, Ausflüge und Besuche, welche der Vater allein mit den Kindern unternahm. So hatte er beispielsweise seine ältesten Kinder Adele und Paul, zehn und acht Jahre alt, auf eine kurze Geschäftsreise nach Elberfeld und Köln mitgenommen, um sie in Köln gleichzeitig zum Zahnarzt zu bringen: „Die Kinder fanden: Adelchen ein Mädchen und Paul zwei Jungens im gleichen Alter als Gespielen & kam die Zeit der Abfahrt früher als es alle Betheiligten wünschten. In Vohwinkel vergingen ca 2 Stunden auch gut, Selterswasser schmeckte vortrefflich & ein Beefsteak welches ich mir kommen ließ, schmeckte den Kindern sehr gut, wenngleich keine Neigung zum Essen vorher da war. Auf der Fahrt hierher schliefen sie & stürzten gleich in die Au [Wohnhaus der Großmutter, CG] um ihre Heldenthaten zu erzählen p Zahn 10 sgr einzustreichen! […] Von Zahnschmerzen keine Rede mehr wenngleich Paul & Adele meinten sie gingen unter gleichen Bedingungen nicht mehr mit nach Cöln!“137

Gelegentlich wurde eines der Kinder im Schulalter auch auf eine Geschäftsreise des Vaters nach Großbritannien mitgenommen, als Belohnung für gute Schulnoten oder zuweilen als Trost nach längerer Krankheit. Nicht mit dem Vater verreisen zu dürfen, war dementsprechend eine Strafe: „[…] ich hoffe alle sind artig auch die kleine Emilie [dreijährig, CG], die ich ja noch nicht mitnehmen konnte weil sie Morgens kein Butterbrod & Mittags kein Gemüs isst!“138 Dass die Dreijährige nicht mitfahren durfte, sorgte bei ihr offenbar für Verstimmung: „Emilie war gestern verdrießlich, weil sie nicht geschlafen hatte, sie sagte: ‚Papa hat mich doch nicht mitgenommen,‘ das war der Grundton, auf dem sich eine Weile die Melodie ihrer schlechten Laune bewegte.“139 Als der Sohn Hans acht Jahre alt war, durfte er seinen Vater allein auf einer Reise durch die Schweiz und nach Straßburg begleiten, um dort die ältere Schwester Adele aus dem Pensionat abzuholen:

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FFA, B4g59, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 10. August 1881. FFA, B4g58, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 12. Februar 1869. FFA, B4g57, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman aus London, 3. August 1866. FFA, B4g57, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 31. Juli 1866.

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„Wir kamen hier pünktlich an, logieren in den besten Zimmern […] Wir speisten hier, natürlich Salat & Bf. [Beef] während Hans im Bett, er schlief vortrefflich und rief heute Morgen: Papa es hat fürchterlich geholfen, ich brauchte nur einmal zu husten! Es ist ein lieber prächtiger Junge […]. Heute Morgen muß er etwas mehr husten, ist aber sehr vergnügt & zeigt für Alles Interesse. […] Grüße & küße Alle! In Liebe Dein Wilh.“140

Auf dieser Reise kümmerte sich der Vater allein um den Achtjährigen und verbrachte trotz geschäftlicher Verpflichtungen viel Zeit mit seinem Sohn, wobei er dessen Eigenschaften genau registrierte und seiner Frau, welche dies bei allen Kindern ebenfalls regelmäßig tat, mitteilte: „Er [Hans] ist ein ganz besonders fröhlicher Junge, nur sehr eigennützig! was ich ihm austreibe; peinlich accourat und genau, er ist zu komisch, wenn er bei Tisch Messer, Teller, Gläser Löffel zurecht legt, damit die auf denselben angebrachten Schweine alle in gleiche Richtung schauen! wir spielen den ganzen Tag Häckselspiel, Tip usw und kann er es schwer leiden, wenn er mal verliert […]. Gestern hatten wir uns den Camin anmachen lassen und saßen ganz vergnügt auf Sesseln herum, so muß man sich die Zeit bestens vertreiben. […] Adalb. schreib mir Samstag, im Geschäft scheint es recht still zu sein, gut daß ich in der Zeitung sehe, wie die Course einiger Papiere, mit denen wir behaftet sind, wesentlich steigen, wenn wir nur wüßten wann die richtige Zeit zum Verkauf gekommen!!? An Bekannten habe wir noch Niemanden gesehen; gehen auch nicht in den Salon, wo Abends musicirt & geschwatzt wird; das Hotel [in Straßburg, CG] ist besetzt und ganz still, die Dienerschaft scheint sehr ordentlich, so daß ich die beiden [die siebzehnjährige Adele und den achtjährigen Hans, CG] ganz ruhig hier lassen kann […]; als Gespielen für Hans haben wir ein kleines Mädchen im Auge, welches mit zwei älteren Damen in der Pension wohnt, wir konnten aber noch nicht anknüpfen.“141

Seine Frau antwortete auf diesen Brief mit einer Charakterisierung aller ihrer Kinder, insbesondere aber des jüngsten Sohns Hans: „Die Kinder sind nicht immer gleich lieb, Emiliens träges Wesen u. das Störrige, was sie sich angewöhnt hat, macht mir bisweilen zu schaffen, Laura hatte heute frei, u. nichts auf, sie durfte den Nachmittag zu Conzens, u. kam eben sehr vergnügt wieder. An allen ist viel zu erziehen, u. muß man nur still der Sache nachgehen u. nicht müde werden, ich habe auch in andern Stücken meine Freude an Emilie, die Kleine thut mir ein wenig leid, wie Hänschen ihr so fehlt. Was Du mir von ihm schreibst, wußte ich wohl, sein Egoismus od. wie man es nennen soll ist mir längst bekannt, er äußert sich oft possirlich, oft auch recht häßlich, er wird diesen Fehler wohl noch los werden. Auch seine Accouratesse hat mich oft amüsirt, es hält ihm in vielen Stücken sehr genau, aber Ordnung ist ja etwas Gutes, wenns nicht ausartet.“142

Im September 1878 unternahmen Wilhelm Colsman-Bredt und seine beiden Söhne Paul und Hans, siebzehn und zehn Jahre alt, gemeinsam mit Wilhelm Colsman-Bredts Schwager Gottfried Conze und dessen drei Söhnen Peter Dietrich (geb. 1860), Gottfried (geb. 1862) und Wilhelm (geb. 1868) eine Besichtigungsreise durch die Niederlande. Auf der Reise war Wilhelm Colsman-Bredt 140 141 142

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FFA, B4g58, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 4. März 1876. FFA, B4g58, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 9. März 1876. FFA, B4g58, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 10. März 1876.

wiederum allein verantwortlich für das Wohlergehen seiner Söhne, insbesondere des jüngeren, und er berichtete darüber regelmäßig an seine Frau: „Dombug ist sehr nett, wie ein […] Seebad; natürlich mußten wir alle gleich in’s Wasser und wurde es Hans & Wilh zunächst etwas ungemüthlich in den wirklich hohen Wellen, doch bald fanden sie Gefallen daran & heute frugen sie schon oft, ob wir bald mal wieder badeten! […] Heute Morgen haben wir nun Middelbug besehen & sind p Dampfboot in 6 Stunden durch die Osterschelde etc etc hierher gefahren, es war sehr windig und fast fortwährender Gewitterregen, die Fahrt aber ganz interessant, wenngleich wir eigentlich recht naß hier ankamen, ich habe Hans gleich anders Zeug angethan und fühlte er sich dann sehr behaglich, Alles hat ihn und auch Paul, auch Conzens Jungens, recht müde gemacht, so daß sie jetzt 9 Uhr schon in tiefem Schlaf.“143

Für Wilhelm Colsman-Bredt und seine beiden Söhne, aber auch für die Söhne Gottfried Conzes, stellte sich die Reise letztlich aber als nicht so vergnüglich heraus wie erhofft. Die ganz unterschiedlichen Interessen und die Ignoranz Gottfried Conzes gegenüber den Wünschen seiner großen und kleinen Reisegefährten ließen Wilhelm Colsman-Bredt entnervte Briefe an seine Frau schreiben: „Wir sind also in Breda recht herum gezogen, eigentlich viel war nicht zu sehen, Oncel G. gerieth zwar hier und da in Extase: Wilh sieh mal! wundervoll, recht aus der besten Zeit! Uebergang vom Romanischen zum frühgothischen oder das ist schon vollständige Zopfzeit! so geht das in einem zu! […] Die Leute auf der Straße bleiben stehen, wenn wir uns da aufpflanzen und einen alten windschiefen Giebel anstarren!“144 „Wir […] reisen Morgen über Utrecht nach Cleve, welches Oncel Gottf. den Kindern zeigen will! Ich bin es zufrieden daß das Plaisir zu Ende! G. hat durchaus kein anders Interesse als alte Bilder & alte Porzelaien, keine Natur, kein Nichts ist für ihn von Interesse & fügen wir uns still seinen Launen, nebenbei wird der arme Wilh. schrecklich gestraft & gepeinigt, der Jung ist wild, thut mir aber leid! Dies nur für Dich. Paul ist ordentlich & fährt fort sich zu bemühen, Hans fröhlich, leidet nur sehr wenn Wilh. gestraft wird! Wir sind so herum gezogen & weil Oncel G nicht gerne für den folgenden Tag sorgt, wird manche Stunde vergeudet, es ist jetzt 2 Uhr, die Kinder führen gerne nochmal nach Zandf. aber […] wir fahren nach Amsterdam wo noch einige Photograph. gekauft werden sollen und darüber geht der Tag dann hin! Hier im Busch bei den Rehen hatten die Kinder schreckliche Freude; aber fort ging es in die Bildergallerie, wo wir dann 3–4 Stunden herum sitzen mußten! während draußen zum ersten Mal die Sonne schön schien! Ich gehe nie mehr mit auf solche Kunstreise!“145

Gegenüber seiner Frau sprach Wilhelm Colsman-Bredt die Hoffnungen, die er für die berufliche Zukunft seiner beiden Söhne hegte, offen aus, als diese sechzehn Jahre (Paul) und neun Jahre (Hans) alt waren. Sie sollten, so sein klarer Wunsch, zusammen das Familienunternehmen weiterführen:

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FFA, B4g58, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, o. D., im September 1878. FFA, B4g58, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, o. D., im September 1878. FFA, B4g58, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 3. September 1878.

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„Hans feiert nun Mittwoch seinen Geburtstag, ich lege einige Zeilen für ihn bei! Gottlob daß der Junge wieder so frisch geworden, hoffentlich kehrt der gute Apetit auch wieder, Hans ganze Anlage kann im späteren Leben sehr zur Ergänzung von Paul’s Character beitragen, die Jungens scheinen ja fast bestimmt zu sein, die Firma ‚Gebrüder‘ später wieder fortzuführen.“146

In den Briefen Adele Colsmans und Wilhelm Colsman-Bredts erscheinen eine harmonische Paarbeziehung und die Kindererziehung als zentrale Projekte ihres Lebens. Die Eltern konzipierten für ihre sechs Kinder, Jungen wie Mädchen, in den 1860er und 1870er Jahren eine Lern- und Entwicklungskindheit, die sich den Briefen nach zu urteilen nicht an Ratschlägen wissenschaftlicher Experten orientierte. Vielmehr begriffen sich Vater und Mutter als Eltern, welche durch ausführliche Kinderbeobachtung, der eigenen wie fremder, durch Gespräche und durch Erfahrungen im Bekanntenkreis den erziehenden Umgang mit den eigenen Kindern nach und nach erlernten. Bei den einzelnen Kindern wurden dabei je individuelle Entwicklungstempi unterstellt. In ausführlichen Beschreibungen dokumentierten die Eltern für sie die Entstehung kognitiver, emotionaler und moralischer Fähigkeiten.147 Erziehung sollte diesem Prozess eine Richtung geben, ihn aber nicht im Entwicklungstempo beschleunigen. Die elterliche Erziehung sollte zugleich die Selbstständigkeit der Kinder fördern. Stets ausgeglichen zu sein, sich empathisch gegenüber Geschwistern zu verhalten und insbesondere konzentriert und ausdauernd einer Tätigkeit nachzugehen, waren wichtige Erziehungsziele. Dabei stand die kognitive Entwicklung in den elterlichen Briefen häufig im Vordergrund. Beispielgebung und Erklärungen waren in den Briefen die am häufigsten präsentierten Erziehungsmittel. Körperstrafen wurden nach kurzzeitiger Erprobung verworfen, Strafen in der Erziehung aber gleichwohl eingesetzt. Sie wurden als Entzug von Gemeinschaft, als Ermahnung sowie als lautes Schelten praktiziert. Säuglingen und Kleinkindern wurde von Anfang an ein Bewusstsein und eine Individualität zugesprochen, welche im Erziehungsprozess zu beachten waren; sie besaßen für die Eltern auch von Beginn an einen eigenen Willen. Die noch eingeschränkten Wahrnehmungs- und Kommunikationsfähigkeiten der Säuglinge und Kleinkinder bedurften nach Vorstellung der Eltern einer kindgerechten Ansprache, welche den kindlichen Willen gegebenenfalls umlenken und von diesen unbemerkt beeinflussen konnte. Ein wichtiges Sozialisationselement im Prozess des Aufwachsens war zudem die körperliche Nähe von Kindern und Eltern. Umarmungen und Küsse zwischen Eltern und Kindern waren erwünscht, ebenso in der Geschwistergruppe. Gemeinsames Schlafen der Kinder mit einem Elternteil im Ehebett gehörte zu den familialen Sozialisationserfah146 147

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FFA, B4g58, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 13. Mai 1877. Vgl. Gebhardt, „Ganz genau nach Tabelle“, S. 252ff. Gebhardt schildert für das Kaiserreich vielfach Eltern, welche die kindliche Entwicklung in ihrem Tempo nicht nach Maßgabe medizinischer und psychologischer Ratgeber maßen und kontrollierten, allerdings im Unterschied zu den hier untersuchten Eltern recht unbekümmert Körperstrafen einsetzten. Vgl. dies., Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen, S. 55ff.

rungen aller Kinder bis zum Alter von etwa zehn Jahren, ebenso das morgendliche Spielen im elterlichen Bett. Die Reisen der Kinder mit Vater oder Mutter sollte die emotionale Bindung der Kinder an beide Elternteile ebenso stärken wie sie umgekehrt die Elternbindung an die Kinder festigen sollte. In ihren Briefen formulierten die Eltern unabhängig vom Geschlecht des Kindes Anstrengungs- und Leistungsbereitschaft und Konzentrationsfähigkeit als wichtige Erziehungsziele. Deren Erreichung wurde insbesondere an guten Schulleistungen gemessen. Die gemeinsame Erarbeitung der Schulaufgaben war für beide Elternteile wichtig, wobei die Mutter stärker begleitende und unterstützende Funktionen übernahm, während der Vater auch als kontrollierende Instanz auftrat. Um die Wichtigkeit von Lernen und Leistungen zu unterstreichen und um die Lernprozesse zu fördern, wurde im Haus ein eigenes Lernzimmer eingerichtet. Auch die elterliche Autorität stellten beide Eltern als sehr bedeutsam für die Erziehung dar. Kinder sollten ‚lieb‘ und ‚artig‘ sein, aber dies sollte in der Erziehung nicht durch Interaktionen im Modus des Befehlens und Gehorchens erreicht werden, sondern durch die Einsicht der Kinder. Die Autorität der Eltern sollte gleichwohl anerkannt werden. Frühkindliche Sozialisation und Erziehung wollten die Eltern zudem in regelgebundenen Interaktionsprozessen arrangieren und vollziehen.148 Das Lebensmodell der Balance spielte für die Erziehung eine außerordentlich wichtige Rolle, erhielt aber von Beginn an klare Koordinaten: Um ein solches Lebensmodell praktizieren können, war für die Eltern die erziehende Einübung von Selbstbeherrschung und von planvollmethodischer Lebensführung vonnöten; diese auszubilden wurde den Kindern nicht selbst überlassen. In diesem Zusammenhang machten die Eltern in ihren Briefen keinen Unterschied zwischen Jungen und Mädchen, statteten die Mädchen aber frühzeitig auch mit Spielzeug aus, das sie auf klassische weibliche Rollen vorbereitete. Für beide Geschlechter sollte in der Erziehung aber wichtig sein, dass sie ein Selbst-Bewusstsein entwickelten, also sich als ausbalancierendes Zentrum begreifen lernten, welches seine Lebensform selbstständig gestalten und sinngebend interpretieren musste. Befehl und Gehorsam spielten in den Briefen der Eltern daher nur eine geringe Rolle; die familialen Sozialisationskontexte waren aber so strukturiert, dass die Autorität der Eltern darin eingebettet war und reproduziert wurde.

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Dieser Erziehungsstil entsprach weitgehend dem eines modernisierten Befehlshaushalts, wie ihn die Forschung für das 20. Jahrhundert herausgearbeitet hat. Vgl. du BoisReymond, Die moderne Familie als Verhandlungshaushalt, S. 148ff. Die Eltern geben Regeln und Anforderungen vor und setzen sie durch, erläutern und begründen diese aber auch. Verhandelbar sind die Regeln und Anforderungen jedoch nicht. Vgl. auch Ecarius, Familienerziehung im historischen Wandel, S. 83ff., S. 184ff.

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3. Von den 1880er Jahren bis zur Jahrhundertwende: Kontinuitäten und Veränderungen in der frühkindlichen Erziehung und Sozialisation Die folgenden Ausführungen beruhen auf den Briefwechseln Emil und Mathilde Colsmans (Heirat 1877), Paul und Elisabeth Colsmans (Heirat 1888) und Peter Lucas und Antonia („Tony“) Colsmans (Heirat 1891) zwischen den 1880er Jahren und der Jahrhundertwende. An ihnen wird dargestellt, wie sich frühkindliche Erziehung und Sozialisation im Vergleich zu den Anfangsjahren des Kaiserreichs bis zur Jahrhundertwende weiterentwickelten. Emil Colsman und seine Frau Mathilde bekamen 1878 ihr erstes von sechs Kindern, einen Sohn (Heinrich). Nach der Geburt des zweiten Kindes 1880, einem Mädchen (Milly), folgten zwei Fehlgeburten, 1885 kam das dritte Kind zur Welt (Emil Theodor). 1887 wurde ein zweites Mädchen geboren (Thilda), 1889 ein weiteres Mädchen (Marie-Helene), 1891 der dritte Sohn (Rudolf). 1890 errichtete das Paar eine große Villa („Große Tanne“) mit umgebendem Garten in der Stadt Langenberg, die 1891 mit sechs Kindern bezogen wurde. Paul und Elisabeth Colsman bekamen fünf Kinder, das erste Kind, Wilhelm, wurde 1888 geboren, das zweite Kind, Elisabeth, 1892, das dritte, Adele, starb 1895 im Alter von einem Jahr. Das vierte und das fünfte Kind, Paul und Udo, wurden 1898 und 1903 geboren. Paul Colsman und seine Frau Elisabeth bauten ebenfalls eine Villa („Im Duhr“) am Stadtrand Langenbergs, die sie 1901 bezogen. Peter Lucas und Tony Colsman bekamen 1892 ihr erstes von vier Kindern, Peter; es folgten Helmuth (1893) und Erwin (1896), schließlich 1904 eine Tochter, Toni Lydia („Tona“). Peter Lucas und Tony Colsman bezogen 1902 mit ihren drei Söhnen eine neue Villa („Landfried“), ebenfalls am Stadtrand Langenbergs gelegen. In allen drei Familien gab es eine Wärterin für die Säuglinge, die nach einiger Zeit die Familien jeweils wieder verließ, sowie mindestens zwei Dienstmädchen, von denen eines immer auch für die Betreuung der Kinder zuständig war. So besaß der Haushalt Emil und Mathilde Colsmans an Personal zwei Dienstmädchen und einen Hausdiener, der Haushalt Peter Lucas und Tony Colsmans zwei Dienstmädchen und eine Köchin, und Paul Colsman und seine Frau besaßen drei Dienstmädchen und einen Hausdiener.149 Wie schon in der Familie Adele 149

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Vgl. Archiv EC, D2/36, Emil Colsman, Lebenserinnerungen, S. 74f.; Archiv WHC, Sign. 21, Lebensbilder der Vorfahren. Aufzeichnungen von Udo Colsman über seine Eltern Paul und Elisabeth Colsman; Archiv Landfried, Sign. 23, Briefwechsel Tony und Peter Lucas Colsman, 1891–1894. Zur deutlich höheren Zahl an Dienstpersonal bei der Textilfabrikantenfamilie Scheidt bei sozialer und ökonomischer Vergleichbarkeit mit der Unternehmerfamilie Colsman vgl. Soénius, Wirtschaftsbürgertum, S. 230f. In einem deutsch-englischen Vergleich lagen die Dienstbotenzahlen bei englischen bürgerlichen Familien zwischen 1840 und 1914 generell höher. In Deutschland hatten knapp 30% der Familien 2–3 Dienstboten, keine dagegen vier oder mehr. In England besaßen knapp 43% 2–3 Dienstboten und 20% vier und mehr Dienstboten (Grundlage: 350 Selbstzeugnisse deutscher und englischer Autorinnen und Autoren). Vgl. Budde, Auf

Colsmans und Wilhelm Colsman-Bredts wurde den Kindern durch die Villenarchitektur und die Anwesenheit von Dienstboten der eigene soziale Status unmittelbar verdeutlicht und in der Interaktion mit dem Personal reproduziert und angeeignet. Grundsätzlich jedoch, so die Überzeugung aller Eltern, war die Erziehung Aufgabe von Vater und Mutter, alles andere waren Behelfsregelungen. Und auch wenn die Kinderzahl in den untersuchten Familien zwischen den 1880er Jahren und der Jahrhundertwende tendenziell abnahm: Das Ideal der Eltern war nicht die Zwei-Kind-Familie, sondern eine Familie, in der es eine größere Geschwistergruppe gab. Geschwister sollten insbesondere im Kleinkind- und jüngeren Schulalter viel Zeit miteinander verbringen, sich gegenseitig beim Spielen fördern und als Geschwistergruppe eine familiale Wir-Identität entwickeln. Wie für Adele Colsman und Wilhelm Colsman-Bredt war auch für alle weiteren in den folgenden Ausführungen untersuchten Eltern die Familie der Lebensmittelpunkt. Anders als bei Wilhelm Colsman-Bredt und Adele Colsman, die darüber miteinander in den Briefen nicht gesprochen hatten, wurden in den Elternbriefen aber nun auch Kinderwunsch und Schwangerschaften thematisiert. Die Geburt eines Kindes blieb wie auch bei Adele Colsman und Wilhelm Colsman-Bredt ein Ereignis des Paares, obwohl nicht klar ist, ob die Väter den Geburten, die während des gesamten Untersuchungszeitraums im eigenen Haus stattfanden, persönlich beiwohnten. Emil und Mathilde Colsman sprachen nach zwei Fehlgeburten offen miteinander über ihren Wunsch, ein weiteres Kind zu bekommen, woran der Vater „halb part“ leisten wollte.150 Der Ehemann sprach im Zusammenhang der beiden Fehlgeburten auch von „unserm kleinen Defect“151 und schrieb diese also nicht allein seiner Frau zu, sondern begriff sie als Problem des Paares. Das Ehepaar suchte daraufhin gemeinsam einen berühmten Gynäkologen in Würzburg auf, der offensichtlich helfen konnte.152 Das nächste Kind, ein Sohn, konnte ausgetragen werden und kam 1885 mit einem Abstand von vier Jahren zur letzten Geburt zur Welt. Auch im Briefwechsel zwischen Peter Lucas Colsman und seiner Frau Tony ist von Schwangerschaft die Rede. Tony Colsman schilderte ihrem Mann ihre körperlichen Schwangerschaftsbeschwerden: „Ich […] bin leider heute Morgen wieder nicht so wohl, habe Rückenschmerzen, u. Mutter meint, wenn es bis nachher nicht besser sei, den Arzt zu fragen. Natürlich brauchst du dir deshalb keine Sorge zu machen, Schatz, es sind ja Kleinigkeiten wie sie oft vorkommen werden in dieser Zeit, aber Vorsicht muß man ja trotzdem anwenden.“153

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dem Weg ins Bürgerleben, S. 276. Zu Dienstboten in einem bildungsbürgerlichen Haushalt vgl. Häder, Bildung und Bildungsinstitutionen, S. 178. Vgl. Archiv ACE, Sign. V,17, Emil Colsman an Mathilde Colsman, 6. November 1882; Archiv ACE, Sign. V,17, Mathilde Colsman an Emil Colsman, 22. November 1882. Archiv ACE, Sign. V,17, Emil Colsman an Mathilde Colsman, 6. November 1882. Vgl. Archiv EC, D 2/36, Emil Colsman, Lebenserinnerungen, S. 64. Archiv Landfried, Sign. 23, Tony Colsman an Peter Lucas Colsman, 13. Februar 1892. Vgl.: „Es geht mir eigentlich recht gut, ich muß zufrieden sein, mein Husten war sehr

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Die Geburt von Paul und Elisabeth Colsmans Tochter Elisabeth 1892 kommentierte Tony Colsman, selbst im sechsten Monat schwanger, gegenüber ihrem Mann: „Paul’s gratulierte ich [zur Geburt, CG]; wie mag es gehen dort. […] Ich interessiere mich natürlich jetzt so sehr für diese Art Leute, wenn wir auch erst so weit wären, Schätzechen!“154 Das Interesse an Säuglingen bestand aber auch auf Seiten ihres Mannes. Auf einer Geschäftsreise nach Großbritannien machte er nach eigener Aussage viele Beobachtungen über den Umgang mit Säuglingen und schrieb darüber seiner schwangeren Frau: „Ueber 1000 Personen waren auf dem Schiff. Familien mit Kind & Kegel & Kinderwagen, nur Ammen sah ich nicht; dagegen manche Babys; ich machte natürlich in erster Linie Studium für meinen demnächstigen Beruf. Bei einer Mutter fand ich 2 Babys, die anstatt einer completten Milchflasche nur den Stöpsel, an einem rothen Bändel, um das Leibchen gebunden hatten; sobald also Durst, Geschrei etc sich einstellte, sofort der Stöpsel & Alles war quit. – Dann fand ich auch, daß ein nackter Fuß eines Babys leicht durch Vatershand verdeckt werden kann.“155

In London erwarb Peter Lucas Colsman Teile der Erstausstattung für sein noch ungeborenes Kind, unter anderem den ihn faszinierenden Schnuller: „Heute Morgen habe ich auch den ersten Einkauf für unser Baby gemacht & zwar den bereits beschriebenen ‚Baby Smoother‘ für 3 £, den Flaschenstöpsel; ich sah ihn heute Morgen bei meinen Einkäufen im Schaufenster liegen.“156 Wenn die Säuglinge auf der Welt waren, waren es zunächst die Mütter und die Wärterinnen, die diese pflegten. Auffällig ist an der Eltern-Kind-Beziehung in den 1880er und 1890er Jahren, dass sich die Väter, anders als Wilhelm ColsmanBredt, nicht sofort in die Pflege und Beschäftigung mit den Säuglingen einschalteten. Vielmehr schrieb Emil Colsman in seinen Erinnerungen von einer Kurreise, die er gleich nach der Geburt des ersten Kindes antrat. Da die ersten beiden Geburten für die Mutter sehr schwer gewesen waren und mehrere Fehlgeburten gefolgt waren, begab auch sie sich 1882 in eine Kur, allerdings unter Mitnahme ihrer beiden Kleinkinder.157 Auch nach der wiederum komplizierten Geburt des dritten Kindes 1885 war es der Ehemann und nicht die Mutter, der zum Kurieren von Nervenschwäche158 zur wochenlangen Erholung an den Luganer See fuhr. Die körperliche Verfassung der Mutter in der Schwangerschaft, aber auch die körperliche Entwicklung der Säuglinge und die Frage des gelingenden oder nicht gelingenden Stillens (das Selbststillen praktizierten in den 1880er und

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milde u. die Blutung so unbedeutend, daß ich wirklich nicht Lust habe deswegen hier mit neuen Medicamenten anzufangen; wir wollen mal abwarten.“ Archiv Landfried, Sign. 23, Tony Colsman an Peter Lucas Colsman, 10. Februar 1892. Archiv Landfried, Sign. 23, Tony Colsman an Peter Lucas Colsman, 30. Juni 1892. Archiv Landfried, Sign. 20, Peter Lucas Colsman an Tony Colsman, 7. August 1892. Archiv Landfried, Sign. 20, Peter Lucas Colsman an Tony Colsman, 8. August 1892. Vgl. Archiv EC, D 2/36, Emil Colsman, Lebenserinnerungen, S. 57ff. Vgl. dazu Kapitel II über Eheschließungen und Ehebeziehungen, Teilkapitel 4.

1890er Jahren alle drei Frauen)159 kam in den Briefen dieser Ehepaare als Thema viel häufiger vor als in den Briefen Wilhelm Colsman-Bredts und Adele Colsmans. Elisabeth Colsman schrieb an ihre Mutter: „Frohen und dankbaren Herzens darf ich heute zu Tinte und Feder greifen, um dir, liebste Mama, meinem Sohne und Euch insgesamt, den ersten herzlichen Gruß aus dem stillen Schlafgemach zu senden, im glücklichen Besitze des kleinen, lieben, uns neu geschenkten Töchterleins. […] Sehr glücklich bin ich auch, nachdem über die Stunde der Angst mir so leicht und gnädig geholfen worden, daß Töchterlein und ich niemandem zur Sorge Anlaß geben; das Kindchen ist für 8 Tage Jugend nett, lieb und recht ruhig, und füttert sich reichlich. Möchte das mütterliche Brotschränkchen nur noch etwas vorhalten, wo die mit dem Nähren verbundenen Schmerzen sich so wesentlich gebessert haben. Es ist solche große Freude, wenn’s ein wenig regelmäßig geht. Ich liege hier eigentlich sehr schön, werde von Katherine sehr gut, mit Nachgedanken, ohne Herrschsucht, gepflegt, denn sie weiß sehr gut Bescheid, läßt aber auch andere Leute zu Worte kommen. Es schmeckt mir vorzüglich, und ich bekomme köstliche Dinge, gestern Mittag Poularde in Gelee.“160

Das Selbststillen war, wenn es gut funktionierte, für die Mutter eine intime Erfahrung des Mutter-Kind-Kontakts und wurde dann mindestens einige Wochen aufrechterhalten: „[…] hat sich die Nahrung auch wieder reichlicher eingestellt, so daß ich die Kleine befriedigen kann […], ganz ohne Schmerzen, so daß es fast nur Freude ist und ich hoffe, die Kleine hat gleich etwas mehr auf die Wage zu bringen.“161 Auch ihr Mann Paul Colsman nahm das Thema des Selbststillens bei seinen neugeborenen Kindern auf, sorgte sich aber um den begleitenden Gewichtsverlust seiner Frau: „Was Du von dem Wiegeergebnis schreibst ist für den Sohn befriedigend für dich – grauenvoll. Schämen sollst du dich mit deinen 130 Pf brutto! Ißt du tüchtig und hastest nicht zuviel herum? […] 130 Pf ist für einen Menschen in deiner Größe Schneidergewicht!“162 Das Wochenbett der Mutter wurde in den 1880er und 1890er Jahren stärker als in den Jahrzehnten davor als ein Ruheraum nur für Mutter und Kind konzipiert und nicht mehr als vielfach besuchter Familienraum. Elisabeth, Tony und Mathilde Colsman verbrachten in den 1880er und 1890er Jahren das Wochenbett abseits von den Vätern und den schon geborenen Kindern allein mit den Wärterinnen. Diese ‚Frauen- und Babyzeit‘ wurde nun als notwendig für die Erholung begriffen, ohne Beteiligung der Väter. Der Stolz der Väter auf ihre Neugeborenen und Kleinkinder war gleichwohl ungebrochen. Emil Colsman schrieb an seine Frau aus England über seinen Erstgeborenen: „Es ist wirklich im Ganzen ein ordentlicher Jung, u mein hiesiger Geschäftsfreund Bing hat 159

Darüber, ob Adele Colsman in den 1860er und 1870er Jahre ihre Babys ebenfalls selbst gestillt hatte, sagen die Briefe nichts aus. Das eigene Stillen war aber im Bürgertum durchaus üblich. Vgl. auch Kaplan, The Making of the Jewish Middle Class, S. 47f. 160 Archiv WHC, Sign. 51, Elisabeth Colsman an ihre Mutter Bertha Barthels, 25. Juni 1894. 161 Archiv WHC, Sign. 51, Elisabeth Colsman an ihre Mutter Bertha Barthels, 17. Juli 1894. 162 Archiv WHC, Sign. 57, Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 8. August 1889.

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auch einen dito, der jetzt fast ein Jahr alt ist, u. wir tauschten heute bei Ertheilung eines netten Auftrags Vatergefühle aus.“163 Die während der Geschäftsreisen geschriebenen Briefe der Väter an ihre Frauen schilderten nicht anders als diejenigen Wilhelm Colsman-Bredts wiederholt die Sehnsucht nach der Familie: „Glaube gar nicht, meine Liebste Du allein mißtest mich, u empfändest die Trennung: auch Dein Alter, trotz genügender Arbeit […], fühlt oft arge Sehnsucht nach seinen Liebsten, denn das bist Du u. unsere lieben Blagen!“164 Paul Colsman schrieb von einer Militärübung an seine Frau, die mit dem wenige Monate alten ersten Sohn zu Hause war: „Grüße meinen lb. Sohn und küß ihn für mich, den kl. Kerl, ich wollte ich könnte Euch beiden Lieben einmal eben herzen! […] in treuer Liebe Dein Soldaten-Mann“165 Dass die Bürgerväter „seltene Gäste in den Kinderzimmern“ waren und generell eine „Sprachlosigkeit“ zwischen Vätern und Kindern geherrscht hätte,166 lässt sich für keine der in diesem Kapitel untersuchten Familien sagen. Vielmehr übernahmen die Väter in Abwesenheit der Mütter, wie hier Peter Lucas Colsman, die Aufgaben des Betreuens und Spielens: „Tona [zwei Jahre alt, CG] & ich sprechen oft über m. Geburtstag. Beim Essen diesen Mittag klopfte sie mich noch auf die Brust: Papa, Kuchen, Geburtstag! Und dann frag ich sie, ob sie mir auch ein Küßchen zum Geburtstag schenken würde, worauf ein lang gedehntes ‚Ja‘ erfolgt. Heute morgen war ich lange mit ihr im Garten, sobald ich mich setzen wollte, sagte sie „Pa, otstehen“. Dann spielte ich lange mit ihr am Wagenplatz […].“167

Ähnlich berichtete Paul Colsman an seine Frau Elisabeth: „Da ich nicht weiß, wie sich der Nachmittag für mich gestaltet & ob ich morgen zum Schreiben komme – morgen ist Presbyterium & für den Abend luden Frieders ein – so will ich dir jetzt einen kurzen Gruß senden […]. Heute Morgen habe ich mit Söhnchen [Paul, zweijährig, CG] […] gefrühstückt & bis zur Kirche mit ihm gespielt; der kleine Bengel war recht munter & lieb.“168

Auch für die größeren Kinder und ihre Freunde nahmen sich die Väter nach der Arbeit Zeit zum gemeinsamen Spielen: „Als ich gegen 6 ½ Uhr hin kam, fand ich die Trabanten fröhlich im Büschchen spielend. Man hatte ein Feuer gemacht & Kartoffeln gebraten, die mit mir verspeist wurden. Ich machte dann mit den Kindern noch einen kleinen Gang durch den Wald, die Jungens mußten ein Lied singen […].“169

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Archiv ACE, Sign. V,12, Emil Colsman an Mathilde Colsman, 3. April 1879. Archiv ACE, Sign. V,17, Emil Colsman an Mathilde Colsman, 24. November 1882. Archiv WHC, Sign. 57, Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 28. Juli 1889. Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben, S. 155. Archiv Landfried, Sign. 28, Peter Lucas Colsman an Tony Colsman, 2. September 1906. Archiv WHC, Sign. 177, Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 5. August 1900. Archiv WHC, Sign. 57, Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 28. Juni 1897.

Mathilde Colsman schrieb an ihren Mann, sich der gemeinsamen Familienspiele erinnernd: „Sie sind jetzt grade am Croquet spielen nachdem wir zusammen gesessen u. als Schluß des ganzen […] gespielt, aber ohne unsern Herzens Vater hat es so recht keine Art.“170 Die dreizehnjährige Thilda berichtete ihrer Mutter Mathilde von Wochenendausflügen gemeinsam mit dem Vater, Freundinnen und Geschwistern: „Dann gingen wir mit Else und Gertrud in den Wald reichlich mit Kartoffeln, Stroh u. Streichhölzern versehen. Da spielten wir Indianer. Zuerst ging unser Feuer garnicht an. Aber Vater half uns, da ging es. Zuletzt gingen die Indianer in alte Germanen über. Als die Kartoffeln im Feuer waren machten wir Streifzüge durch das Wäldchen und nachher aßen wir bei einem Streifzuge unsere Kartoffel auf. Dabei machten wir das Verschen ‚Wir sind Germanen vom alten Stamm./So steht nun auf zum Kampfe damit wir nach dem Krieg/Doch erlangen den schönsten Sieg.‘ Das ist doch fein? Das muß man sich nun aber noch in schauerlichster Kriegsmusik übertragen denken dann ist das ganz kriegerisch. Dabei kämpften wir [die Mädchen, CG] gegen Rudolf, Hermann Westfal und Hermännchen Klingemann. Wir gingen alle zu Fuß zurück, außer Vater und Onkel Gottfried, die ritten.“171

Mädchen wurden nach Aussage der Tochter weder am Indianerspiel noch an Kämpfen mit den Jungen gehindert. Sie bekamen allerdings, wie schon die Töchter Adele Colsmans und Wilhelm Colsman-Bredts, frühzeitig auch Spielzeug geschenkt, das sie auf ihre spätere Rolle als Ehefrau und Mutter vorbereitete, Jungen erhielten dagegen als männlich angesehenes Spielzeug. So schrieb Emil Colsman an seine beiden vier- und zweijährigen Kinder in einem Brief zum Nikolaus-Fest, den ihnen die Mutter vorlesen sollte: „Da fragte er [der Nikolaus, CG]‚ ob sie denn auch fleißig schrieben, immer lieb wären, u. fleißig für’s Christkindchen arbeiteten. Da war der Papa dann so froh, daß die liebe Mutter geschrieben hatte, die Kinder wären meist lieb […]. Da schmunzelte der alte Niklas als der Papa ihm das sagte, in seinen weißen, langen Bart […]. Da sagte der Papa lieber Niklas vielleicht können wir später mal die Reise zusammen machen, dann nimmst Du mich mit auf dem Schimmel! Davon wollte der Niklas aber nichts wissen, ‚das dauerte ihn noch zu lang‘. […] Seid nur brav; aus seinem Sack schaute auch eine Ruthe, aber auch eine große feine Puppe, u. eine Flinte heraus!“172

In dem Brief beschrieb sich Emil Colsman in einer Mittlerposition zwischen seinen Kindern und der Figur des Nikolaus und trat für die Kinder hier nicht als Autoritätsperson an der Seite des Nikolaus auf, sondern als Person, die selbst, wie die Kinder, gegenüber dem Nikolaus Wünsche äußerte. Dennoch war er seinen Kindern in dieser Position weit überlegen, denn er sprach mit dem Nikolaus persönlich. Mathilde Colsman schilderte ihrem Mann die Reaktion der Kinder auf diesen Brief:

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Archiv ACE, Sign. VII,33, Mathilde Colsman an Emil Colsman, 13. April 1886. Archiv ACE, Sign. VI,24, Thilda Colsman an Mathilde Colsman, 15. April 1900. Archiv ACE, Sign. V,17, Emil Colsman an Mathilde Colsman, 21. November 1882.

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„Den netten Passus über des Nikolas Spuren u Walten las ich den Kindern vor, die natürlich begeistert waren; als Flinte und Puppe in Nikolas Sack beschrieben wurde rief jedes mit einer Freude, als ob es schon in seinem Besitz wäre: Das ist für mich. Lekeres Blagenzeug.“173

Die Väter bemühten sich in ihren Briefen, kindgerecht zu formulieren, damit die Briefe von den Müttern wörtlich vorgelesen werden konnten. So schrieb Emil Colsman aus Berlin eine eigene Briefpassage für seinen vierjährigen Sohn Heinrich: „Sag’ Heinz ich wolle dieser Tage den Kaiser einmal zu sehen suchen, u. dann auch für Heinz winken. Berlin ist noch größer als Würzburg, aber hier ist keine Kirmeß u. Luftballone. Dagegen stehen auf einer Brücke auch ganz viele steinerne Männer, auf einem Haus sitzen ganz große Pferde u. Drachen, u. vorne sind große Bilder dran gemalt. Auch sehr viele Soldaten, die gehören dem Kaiser, die reiten u. marschieren durch die Straßen, gerade wie Heinz seine!“174

Was kleine Jungen interessieren könnte und sollte, war für den Vater klar: Kaiser, Drachen, Pferde und (Zinn-)Soldaten. Diese geschlechtsspezifische Interessensweckung wurde zwar nicht streng durchgehalten, war aber gleichwohl in allen Familien vorhanden. Die bürgerlichen Geschlechterrollen wurden nicht in Frage gestellt. Väter kümmerten sich auch um die Alltagsbedürfnisse ihrer kleinen Kinder, wie hier Paul Colsman, der seinem ältesten Sohn Wilhelm von einer Reise aus die Sorge für den sechsjährigen Bruder auftrug: „Um Euch eine Freude zu machen & der Mutter zum Schluß der Reise eine Überraschung zu bereiten lade ich Euch einschl. Pilz [Paul jun., sechsjährig, CG] auf Dienstag Abend nach Mainz im Hof von Holland. Du mußt für den jüngeren Bruder die Verantwortung übernehmen, daß ihm nichts passirt. Also recht sorgfältig & aufmerksam & liebevoll! […] Bestelle in Mainz für Euch zwei Zimmer mit 1. resp. 2 Betten & dann seid ordentlich! […] Kommen wir nicht um 4 Uhr nach Mainz, dann kann Pilz zeitig mit einfachem Abendbrot zu Bett gehen!“175

Da sich die Eltern bei der Ankunft verspäteten, schärfte Paul Colsman seinem Sohn drei Tage später nochmals ein, auf den kleinen Bruder achtzugeben und dessen noch begrenzte kognitive Fähigkeiten zu bedenken. Geschwister sollten stets empathisch und solidarisch miteinander umgehen: „Ich bitte dich sehr in Mainz & auf der ganzen Reise recht vorsichtig zu sein, damit kein Unglück passirt. Der Pilz ist doch noch klein & unverständig. Am Abend kann der Pilz ein Butterbrod essen & ein Glas Saft trinken.“176 Kinderbeobachtung blieb in allen Familien das gewählte Mittel, um Erziehung zu planen und umzusetzen. Erziehung sollte in der Vorstellung der Eltern wie 173 174 175 176

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Archiv ACE, Sign. V,17, Mathilde Colsman an Emil Colsman, 22. November 1882. Archiv ACE, Sign. V,17, Emil Colsman an Mathilde Colsman, 7. November 1882. Archiv WHC, Sign. 51, Paul Colsman an Wilhelm Colsman, 2. August 1904. Archiv WHC, Sign. 51, Paul Colsman an Wilhelm Colsman, 7. August 1904.

schon bei Adele Colsman und Wilhelm Colsman-Bredt dann einsetzen, wenn Kinder in der Lage waren, Erklärungen zu verstehen. Alle Eltern schätzten dieses Alter auf anderthalb bis zwei Jahre. Säuglinge und Kleinkinder bis zu diesem Alter waren dagegen in den Augen der Eltern hauptsächlich niedlich und eigensinnig und wurden kaum Regulierungen unterworfen, sondern erfreuten nach elterlicher Aussage durch ihr kindliches Verhalten, wie hier die eben zweijährige Tona: „Als Dessert bekam ich Preiselbeeren, Hedwig hatte vorher gesagt, Tona möchte keine, von mir hat sie wol ein Dutzend Mal energisch welche reclamirt. Sie schellt jetzt auch, wenn Hedwig kommen soll, aber wo sie es einmal mit mir getan hat, will sie auch ohne Grund immer thun. Ich muß oft laut lachen über das kleine Ding.“177

In vergleichbarer Weise berichtete Paul Colsman an seine Frau über seinen zweijährigen Sohn Paul, schilderte aber auch dessen Entwicklungsleistungen: „Der Junge war eben beim Kaffeetrinken sehr lieb & niedlich. Er kann jetzt aus der Tasse trinken & fütterte mich mit seinem Brezel & schlug mir auf den Magen & sagte: Schmeckt gut lieber Vater.“178 Unter Erziehung verstanden die Eltern wie schon Adele Colsman und Wilhelm Colsman-Bredt eine intentionale, zielorientierte, insbesondere sprachliche Einwirkung auf Verstand und Moralvorstellungen der Kinder: „Bei uns Alles wohl! Bei Peterlein [anderthalbjährig, CG] muß schon bald die Erziehung anfangen, so wild kann er sein, d. h. zu Zeiten. Gestern war Elisabeth hier, u. sah ihn auch voll Rührung unten durch die Zimmer allein laufen.“179 Kleinere Kinder sollten dagegen wie schon bei Wilhelm Colsman-Bredt und Adele Colsman durch Ablenken und vorsichtiges Zeigen des Richtigen gelenkt werden. Gleichwohl besaßen sie, wie auch die Säuglinge, für die Eltern ein Bewusstsein und einen individuellen Willen, wie hier der einjährige Peter: „Jüngeschen liegt im Bettchen um sein Schläfchen zu halten, nachdem wir ihn eben gebadet, sehr aufgelegt scheint er nicht dazu, da er vorher auf der Veranda schon geschlafen, wo wir ihn nicht stören wollten u. später badeten. […] als ich gestern um 6 Uhr ankam, war er wegen der furchtbaren Hitze in seinem weißen Nachtkittelchen auf der Veranda, kuckte mich erst groß an, u. lachte dann; bald darauf führte er mir sein ‚Pa – pa‘ vor, er hat jetzt mehr Vorliebe für Pa-pa! Diese Nacht ist der fünfte Zahn durchgekommen, oben, u. er ist so lieb dabei! Ich freute mich wieder so recht von Herzen meines Kindchens; ich erzählte ihm von Papa, daß der in Berlin sei u. für seinen Jungen Geld verdienen müsse, worauf er immer nur – Pa-pa!“180

Kleinkinder und Säuglinge sollten, obwohl es für die Eltern auch in den 1880er und 1890er Jahren keine ‚dummen ersten Monate‘ gab, gleichwohl nicht überfordert werden, sondern mit viel Ruhe und Schlaf im engsten Familienkreis

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Archiv Landfried, Sign. 28, Peter Lucas Colsman an Tony Colsman, 30. August 1906. Archiv WHC, Sign. 177, Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 18. August 1900. Archiv Landfried, Sign. 25, Tony Colsman an Peter Lucas Colsman, 3. Februar 1894. Archiv Landfried, Sign. 23, Tony Colsman an Peter Lucas Colsman, 20. Juni 1893.

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aufwachsen und sich in ihrem eigenen Tempo an ihre Umwelt gewöhnen.181 Sie sollten deshalb nicht übermäßig vielen neuen Eindrücken ausgesetzt werden, weil die Eltern annahmen, dass diese die Kleinkinder eher irritieren als anregen würden: „Gestern, Donnerstag, waren Frau Amtsrichter Gertrud u. Tante Emma bei uns zum Kaffee: dann kam Frl Wißmann, auch im Verlangen unsern Jungen zu sehen! Frau Hydweiler schickte gestern ihre Kinder, u. ließ bitten ob Frau Trost nicht mal mit dem Jungen kommen dürfte, auch dort hat der Süße uns Ehre gemacht. – Freue dich darüber Schätzchen, u. denke nicht, wie ich es mir vorstelle, es sei zu viel für ihn. Die Vorstellungen sind ja nur minutenweise!“182

Insgesamt nahm die Beobachtung der körperlichen Entwicklung, insbesondere der Gewichtszunahme und das begleitende Wiegen, einen etwas größeren Raum ein als noch bei Adele Colsman und Wilhelm Colsman-Bredt, ohne dass deshalb von einem grundlegenden Wechsel in der familialen Säuglingsanthropologie gesprochen werden könnte. Der zwei Monate alte Säugling, von dem im folgenden Zitat die Rede ist, wurde vom Vater nicht auf seine Physis reduziert, sondern hatte für ihn ein eigenständiges Bewusstsein, der Säugling war kein Triebbündel: „[…] das Wiegen des kleinen lieben Rudolf, zu dem Frau Pfeiffer mich liebend einlud, ergab wieder fast ½ Pf plus gegen letzte Constatierung u. sieht man’s dem kleinen, schon ganz verständig in die Welt schauenden Sohn auch an, daß er normal vorwärts geht.“183 Aber die ‚normale Entwicklung‘184 und ihre Beobachtung hielt als Kategorie doch Einzug in die elterlichen Briefe. Die Mutter Mathilde schrieb über die Entwicklung ihres wenige Monate alten zweiten Sohnes Emil Theodor: „Ich glaube, unseren süßen Jüngsten wirst Du sehr entwickelt finden, er wird jetzt bei sichtlich zunehmender Rundigkeit so lebendig u. kregel, versucht den Kopf zu heben u. strampelt mit dem ganzen kleinen Menschen. Es ist meine tägliche Freude […].“185 Die Formen kleinkindlichen Verhaltens und was sie bedeuten könnten, wurden dem Ehepartner auch zwischen den 1880er Jahren und der Jahrhundertwende in der Regel genauestens mitgeteilt, wie hier durch den Vater Peter Lucas Colsman bei der zweijährigen Tochter: „Über mein Zusammensein & Leben mit Tona könnte ich Dir viel sagen & schreiben. Diesen Mittag war sie klassisch aufdringlich beim Essen, obgleich sie gut vorab gegessen hatte, war sie noch sehr hungrig, als ich aß, ich bekam Rostbeaf, mit kleinen Mörchen & Kartoffeln aus unserm Garten, sie wollte von den Mörchen nichts wissen, sondern nur von der Kartoffel mit etwas Braten Sause, auf einem großen Stuhl saß sie neben mir & 181 182 183 184 185

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Zur elterlichen Einstellung im Kaiserreich, frühkindliche Entwicklung als Gewöhnung an die Umwelt zu begreifen, vgl. Gebhardt, „Ganz genau nach Tabelle“, S. 253f. Archiv Landfried, Sign. 23, Tony Colsman an Peter Lucas Colsman, 26. Mai 1893. Archiv ACE, Sign. IV,2, Emil Colsman an Mathilde Colsman, 21. September 1891. Vgl. Eßer, Die verwissenschaftlichte Kindheit, S. 125; Schulz, Der „Gang der Natur“, S. 36, S. 38. Archiv ACE, Sign. VII,33, Mathilde Colsman an Emil Colsman, 9. April 1886.

rückte immer näher heran, wenn ich essen wollte, zeigte sie mit ihren Fingerchen auf die Kartoffeln & sagte laut & energisch ‚fink‘ (flink). Wenn ich ihr auch Mörchen anbot, sagte sie ganz verdrießlich: ‚Och‘!“ 186

Auch seine Frau schrieb ihm ausführlich von der Entwicklung und dem Verhalten der Kinder: „Peterlein [anderthalbjährig, CG] sitzt auch jetzt neben mir, u. zieht mich immer an einen Ärmel, u. ruft dabei ‚Papa‘, ich sagte ihm nämlich, ich müßte an Papa schreiben. […] Er läuft jetzt sehr nett allein […]; er freut sich selbst daran, u. versucht immer wieder, fällt mal, u. sagt: ‚Bum!‘“187 Elisabeth Colsman schilderte ihrer Mutter akribisch Entwicklung und Verhaltensweisen ihrer Kinder, hier des sechsjährigen Wilhelm, der vierjährigen Elisabeth und der neugeborenen Adele Charlotte: „Unser Junge [Wilhelm, CG] kam gestern Abend wohlbehalten und Freude strahlend hier an, von Emilie in Vohwinkel aus Papa’s Händen und hier von Paul, Kathrine und dem ganz ausgelassenen Schwesterchen am Bahnhofe empfangen. Er sieht prächtig aus, frisch, rot und braun gebrannt. […] er fand Adele Charlotte ein nettes, kleines Ding und die gegenseitige Wiedersehensfreude mit Elisabeth war sehr groß sie wußte es nicht recht zu äußern, sah ihn Augen kneifend entzückt an und sagte schüchtern: ‚ich hab dich lieb‘ und ‚freu mich sehr‘, er sagte: ‚hast du mich lieb, Racker?‘ und fuhr beständig mit dem Puppenstühlchen und der neuen Puppe.“188

Die Verhaltensweisen der Kleinkinder wurden als Teil einer engen Eltern-KindBeziehung und als Entwicklungsbiographie festgehalten und dem anderen Elternteil präsentiert, wie hier in einem Brief der Mutter Elisabeth an den Vater Paul: „[…] wenn er dann noch ein Stündchen draußen gewesen ist, wartet Mama sehnlich, daß er [Wilhelm, einjährig, CG] mit frischen Bäckchen heimkehrt und zu ihr auf’s Sofa kriecht. Das Besehen eines Bilderbuchs ist ihm noch ein böhmisches Dorf, doch alles was Spektakel macht, erfreut ihn. Die wachsenden Härchen erscheinen mir recht dunkel, so daß ich glaube, er erreicht wenigstens seine Vaters Farbe. Ich mache ihm jetzt recht nette wollene Winterkleidchen, woran ich viel Freude habe, er wird bei dem vielen Kriechen auch schon umfangreiche Schmutzkittel nötig haben.“189

Mathilde Colsman entwarf für ihren Ehemann eine enge Familiengemeinschaft, welche den abwesenden Vater einschloss: „Hab’ herzlichen Dank für Deinen sehr lieben Brief, der mich heute Morgen beim Frühstück erfreute; Heiny rief mir bis in die Küche, wo ich ordnend redete zu ‚es ist ein Brief vom Vater da, ich kann es schon sehen, u. Mili gab Deinem Couvert ein Bützchen. Sie lassen den lieben Vater sehr, vielmals grüßen; oft natürlich sprechen wir von Dir u. ‚wenn der Vater wieder da ist‘ ist eine oft gebrauchte Redewendung.“190 186 187 188

Archiv Landfried, Sign. 28, Peter Lucas Colsman an Tony Colsman, 30. August 1906. Archiv Landfried, Sign. 25, Tony Colsman an Peter Lucas Colsman, 1. Februar 1894. Archiv WHC, Sign. 51, Elisabeth Colsman an ihre Mutter Bertha Barthels, 17. Juli 1894. 189 Archiv WHC, Sign. 157, Elisabeth Colsman an Paul Colsman, 28. August 1889. 190 Archiv ACE, VII,33, Mathilde Colsman an Emil Colsman, 9. April 1886.

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‚Brav und lieb sein‘ blieben für alle Eltern wichtige, den Kindern vermittelte Verhaltensweisen, aber auch die Erziehung zu Männlichkeit und Weiblichkeit im Sinne eines Rollenideals war wichtig. Belohnungen und Geschenke konnten geschlechtsspezifisch ausfallen. Allerdings wurden die Rollenideale in den Erziehungseinstellungen nicht strikt formuliert. Mädchen sollten ebenso wie Jungen fleißig sein und gute Schulleistungen erbringen; sie konnten draußen spielen und ‚wild‘ sein. Alle Väter überließen in den 1880er und 1890er Jahren die Erziehung stärker ihren Ehefrauen als dies bei der Elternschaft Wilhelm ColsmanBredts und Adele Colsmans der Fall gewesen war; auch die Mitnahme der Kinder auf Geschäftsreisen der Väter wurde nicht mehr berichtet, wohl aber vereinzelt Ferienreisen der Väter mit diesen allein.191 Der enge körperliche Kontakt blieb ein wichtiger Faktor der frühkindlichen Sozialisation in allen Familien. Küsse und Umarmungen waren selbstverständlich und Kinder schliefen weiterhin im Ehebett der Eltern, wie hier der fünfjährige Heinrich, wenn ein Elternteil, hier die Mutter, abwesend war: „Die Kinder sind köstlich, lieb gesund u. lecker, Heinz hat diese Nacht bei mir geschlafen. Als er diesen Morgen angezogen war, sagte er stolz zu Elise [Dienstmädchen, CG] ‚Du brauchst uns heute den ganzen Tag nicht zu verwahren, wenn man beim Pappa schläft, kannst Du höchstens mal nach uns sehen!‘ Dabei war er ganz thätig am arbeiten.“192

Auch Tony Colsman holte die Kinder zu sich ins Ehebett, wenn ihr Mann verreist war, zu ihrem eigenen und ihres Kindes Wohlbefinden: „Offengestanden war ich nicht auf der Höhe heute. Diese Nacht buchstäblich bis 4 Uhr keine Minute geschlafen. […] dann war ich wieder wach u. nahm Peterlein, der schließlich durch Helmut unruhig wurde, zu mir ins Bett, wo er dann in meinem Arm wieder schlief.“193 Die Mutter Mathilde nahm gleich alle drei Kinder, den siebenjährigen Sohn, die fünfjährige Tochter und den einjährigen Jüngsten, mit ins Ehebett: „Gottlob bin ich jetzt recht leistungsfähig […] u. schlafe Nachts wie mindestens 2 Ratten. Deine Kindleins befleißigen sich auch eines guten Schlafes u. das Zusammenschlafen hat, finde ich etwas sehr gemüthliches.“194 Wenn die Eltern verreist waren, durften Kinder, hier die drei elf-, zehn- und siebenjährigen Söhne Peter Lucas und Tony Colsmans, die Ehebetten in Beschlag nehmen: „Wir haben uns schon etwas Nettes ausgedacht, was wir Euch mitbringen können, wen Ihr brav u. fleißig gewesen seid! […] Auf Euren Himbeersaft bin ich aber gespannt! Sind die Flaschen auch mit Mullläppchen zugebunden? Schlaft Ihr gut in unsern Betten?“195 Für die Eltern war es wie 191

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„Ich verwahre die Kinder hier; Ende der kommenden Woche denke ich heim zu kehren, ich bin dann 5 Wochen aus dem Geschäft heraus gewesen.“ Archiv WHC, Sign. 2, Paul Colsman an Peter Conze, 27. August 1906. Archiv ACE, Sign. V,17, Emil Colsman an Mathilde Colsman, 30. April 1883. Archiv Landfried, Sign. 25, Tony Colsman an Peter Lucas Colsman, 25. Januar 1894. Archiv ACE, Sign. VII,33, Mathilde Colsman an Emil Colsman, 9. April 1886. Archiv Landfried, Sign. 28, Tony und Peter Lucas Colsman an ihre drei Söhne, 27. Juli 1903.

schon bei Adele Colsman und Wilhelm Colsman-Bredt unwichtig, ob Mädchen oder Jungen mit Vater oder Mutter im Ehebett schliefen. Im Alter von etwa zehn Jahren endete auch hier das Schlafen in den Elternbetten. Auch in den 1880er und 1890er Jahren waren Körperstrafen in den untersuchten Familien nach Maßgabe der Briefe nicht gebräuchlich. Gestraft wurde vielmehr auch hier, wie bei Wilhelm Colsman-Bredt und Adele Colsman, mit Tadel und Kritik und mit dem Entzug von Gemeinschaft. Die Lüge des ältesten, neunjährigen Sohns Heinrich wurde z. B. mit Entzug eines Ausflugs beantwortet, aber auch mit der Vermittlung der väterlichen Gefühle, wobei die elterliche Gefühlslage in dieser Elterngeneration generell zu einem Mittel in der Erziehung wurde:196 „[…] es ist recht schmerzlich, in dem Kindergemüth unseres lieben Sohnes auch die Sünde bereits so kräftig aufschießen zu sehen u noch gar das hässliche, versteckte Lügen, den Eltern voll in’s Gesicht! Ich bin dir sehr dankbar dafür, daß Du ihn tüchtig gestraft hast u sage ihm auch nur, daß der Vater sehr traurig über ihn ist und nicht begreift wie er seine lieben Eltern u noch mehr den lieben Gott so sehr betrüben kann! Nach Honnef kann er keinesfalls mit, wenigstens nicht aus der Schule bleiben, sonst kann ihm ja, wenn du meinst, auch unterwegs sein Unrecht vor Augen gehalten werden […]. Mache es ganz nach Deinem besten Ermessen!“197

Von Körperstrafen ist nirgends die Rede, auch wenn nicht jeder Brief über die praktizierten Strafen Auskunft gibt. Mathilde Colsman nannte ihre Strafpraxis „Brummen“.198 Tadel und Strafen waren insbesondere vorgesehen für mangelnde Anstrengungsbereitschaft. Ab dem Alter von etwa fünf Jahren sollten die Kinder aller Familien zu regelmäßiger Lernarbeit angehalten werden. Zunächst richtete sich die Erziehung darauf, dass Kinder sich beim Spielen und Basteln konzentrieren lernten und eigenständige Ergebnisse produzierten: „Gestern Abend nach Deiner Abreise richtete ich meine Gedanken, die sich um das Fernsein meines teuren Schatzes bedröbsen wollten energisch auf die Kinder u. setzte sie an die Arbeit, Heinz fabricirte mit mütterlicher Hülfe ein weißes Lampenschirm für uns […].“199 Wenn die Kinder, hier der vierjährige Sohn und die zweijährige Tochter, etwas gemalt oder gebastelt hatten, wurde dies von den Eltern gründlich gelobt: „Aber die kleinen Zeichnungen [sind] auch herrlich gelungen, das muß ich nun selbst als Mann sagen! Und die Kinderarbeiten sehr nett. Der Paps hat sich recht über Eure Thätigkeit gefreut […].“200 196 197 198

Vgl. Kapitel IV über Schulbesuch und Sozialisation der Jungen, Teilkapitel 4.4. Archiv ACE, Sign. VII,33, Emil Colsman an Mathilde Colsman, 1. Juni 1886. „Ich mußte heute morgen etwas mit Brummen anfangen, die Putten sind so leicht so schrecklich ausgelassen, daß sie dann gar nicht wissen was sie anfangen u. da das so lange Jahre der schlimme Fehler ihrer Mutter war, will ich es doch nicht einreißen lassen. Im Großen Ganzen sind sie sonst während Deines Fortseins sehr lieb gewesen […].“ Archiv ACE, Sign. VII,33, Mathilde Colsman an Emil Colsman, o. D., etwa 1886. 199 Archiv ACE, Sign. V,17, Mathilde Coslman an Emil Colsman, 31. Oktober 1882. 200 Archiv ACE, Sign. V,17, Emil Colsman an Mathilde Colsman, 25. November 1882.

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Die Begleitung und Unterstützung des schulischen Lernprozesses war zwar den Briefen nach zu urteilen die Aufgabe beider Eltern, aber auch bei den Elternpaaren der 1880er und 1890er Jahre war die Mutter häufiger die Lernbegleiterin der Kinder als der Vater, während dieser abends oder per Brief von Geschäftsreisen die Ergebnisse prüfte und kommentierte und gute Leistungen auch gelegentlich mit Geschenken belohnte: „Die Kinder machen mir viele Freude, der Unterhaltungsstoff bei den Malzeiten geht ihnen nie aus. […] Jetzt sitzt Heini buchstabierend u. schreibend neben mir; hoffentlich macht das Resultat seines Fleißes dem lieben Vater Freude; er hat wohl bei der Ortographie gefragt, sonst aber ganz selbständig hantiert. Ich dachte schon wenn Du Mitbringsgelüste hättest, so wäre wohl für Mili ein Sonnenschirmchen u. für Heiny eine nicht zu kleine u. fahrbare Eisenbahn passend, doch nöthig ist’s ja durchaus nicht.“ 201

Die Mutter hörte wie schon Adele Colsman die Kinder bei den Schularbeiten ab, erklärte und kontrollierte: „Meine Morgende sind jetzt meist durch Heinis Arbeiten, Einmachen u. dergl. ziemlich ausgefüllt. Jetzt sitzt Heiny auch mit seinem Ein x Eins neben mir; es scheint mir als ob mit dieser Ruhe mehr der Ernst des Lernens anfinge.“202 Gleiches tat auch Elisabeth Colsman: „Wilhelm hat Diktat und Extemporale mit 1½–2 Fehler gemacht, er […] zitiert, auch wenn es nicht angebracht ist, dein: Keine Nachricht ist gute Nachricht.“203 Der Schulbeginn wurde deshalb von allen Eltern sehr ernst genommen: „Da haben wir nun heute Heinys ersten Schultag ohne unsern geliebten Vater abgehalten u. hätten Dich gerne dabei gehabt. Es war mir doch heute Morgen ganz beweglich um’s Herz als er um viertel vor 8 abzog, u. ist doch in etwa der Eintritt in’s Leben u. das stille Leben im Haus hört damit auf – wenigstens ist es der Anfang dazu.“204

Ebenso wie bei Adele Colsman war es nun die Aufgabe der Mutter, das ‚miteinander Arbeiten‘ zu organisieren und die regelmäßige Arbeit für die Schule den Kindern zur Gewohnheit zu machen. Dass das für den Erfolg in der Schule nötig werden würde, stand für die Eltern außer Frage: „Heiny’s Begeisterung [für die Schule, CG] ist einstweilen groß; alles war fein gewesen u. nur beinahe hätte er einmal etwas Dummes gesagt. Das soll wohl noch anders kommen.“205 Ziel war es, Kinder für und durch das Lernen zur Selbstverantwortung und methodischen Lebensführung zu erziehen: „Heiny habe ich nach Deinem Recept des Selbstständigwerdensollens allein auf die Kinderstube zum Schreiben postiert […].“206 Peter Lucas und Tony Colsman kommentierten deshalb die Briefe ihrer Kinder, wie schon Wilhelm Colsman-Bredt und seine Frau Adele und auch Paul Colsman und seine Frau Elisabeth, hinsichtlich ihrer Orthographie und Ausdrucksweise, so dass Briefe an die Eltern immer auch kleinere 201 202 203 204 205 206

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Archiv ACE, Sign. VII,33, Mathilde Colsman an Emil Colsman, 6. August 1885. Archiv ACE, Sign. VII,33, Mathilde Colsman an Emil Colsman, 14. August 1885. Archiv WHC, Sign. 156, Elisabeth Colsman an Paul Colsman, 24. Oktober 1898. Archiv ACE, Sign. VII,33, Mathilde Colsman an Emil Colsman, 31. Mai 1886. Archiv ACE, Sign. VII,33, Mathilde Colsman an Emil Colsman, 31. Mai 1886. Archiv ACE, Sign. VII,33, Mathilde Colsman an Emil Colsman, o. D., etwa 1886.

familiale Prüfungsaufgaben darstellten, ohne dass dies ständig im Vordergrund stand. Vielmehr sollten die Briefe der Kinder wie die der Eltern primär Ausdruck emotionaler Verbundenheit sein: „Über Eure lieben Briefe haben wir uns sehr gefreut! […] Wenn auch mit einigen Fehlern, so waren sie doch ziemlich gut, und Ihr habt uns manches erzählt, was uns sehr interessiert.“207 Wie schon Wilhelm Colsman-Bredt wollten die Familienväter auch zwanzig Jahre später, dass ihre Kinder, vor allem die Söhne, nicht nur die Familienunternehmen weiterführten, sondern dass sie Handlungsorientierungen und Lebensideale entwickelten, die bürgerlichen Normen der persönlichen Anstrengung und Leistung und bürgerlichen Werten wie Bildung, Arbeit und Familie entsprachen: „Von Herzen möchte ich wünschen, daß Wilhelm der Träger der Tradition seines Urgroßvaters und Großvaters würde, deren Namen er trägt. Der neue Kurs hier im Dorf, wo die jungen Leute, die noch nichts im Leben geleistet haben, über das Thun & Lassen ihrer Väter geringschätzend lächeln, will mir schlecht gefallen & kann kaum zu etwas Gutem führen!“208

Trotz vieler Konflikte, die insbesondere Paul Colsman mit seinem Vater Wilhelm Colsman-Bredt lebenslang ausgetragen hatte und die zeitweilig zu tiefen persönlichen Kränkungen besonders auf Seiten des Vaters geführt hatten,209 stellte sich Paul Colsman doch in eine Familienkontinuität, aus der er seine Erziehungseinstellungen und die Erziehungsziele für seine Kinder ableitete. Dass Kinder die Erfüllung einer Partnerschaft waren und einen wichtigen Teil des Lebenssinns darstellten, brachten alle Paare wiederholt zum Ausdruck: „Guten Morgen mein Liebling am frohen Geburtstag unseres Erstgeborenen! Wie schade, daß wir Beide heute nicht zusammen […] uns gemeinsam des großen Geschenks erfreuen können, das uns Gottes Güte in ihm geschenkt, u. nun schon 4 Jahre gnädig bewahrt u. behütet hat!“210

Paul Colsman schrieb an seine Frau, mit der er inzwischen drei Kinder hatte: „Bis jetzt sind unsere größten, gemeinsamen Schätze die Kinder, uns ja nur zur Freude gewesen & keine Sorge hat uns ihretwegen bedrückt […].“211 Und seine Frau schrieb fast gleichlautend an ihre Mutter: „[…] es kostete etwas bis wir sie gestern Abend alle in Ruhe hatten, dann mußte ich aber mal sehr beglückt von einem Bettchen zum andern der gesunden schlafenden Schätze gehen.“212

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Archiv Landfried, Sign. 28, Tony und Peter Lucas Colsman an ihre drei Söhne, 27. Juli 1903. Archiv WHC, Sign. 2, Paul Colsman an Peter Conze, 1. Juni 1903. Vgl. Kapitel II über Eheschließungen und Ehebeziehungen, Teilkapitel 5. Archiv ACE, Sign. V,17, Emil Colsman an Mathilde Colsman, 21. August 1882. Archiv WHC, ohne Sign., Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 28. Februar 1894. Archiv WHC, Sign. 51, Elisabeth Colsman an ihre Mutter Bertha Barthels, 17. Juli 1894.

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Erziehung war die zentrale Aufgabe im Leben von Eltern, das brachten die Paare zwischen den 1880er Jahren und der Jahrhundertwende ebenso zum Ausdruck wie vormals Adele Colsman und Wilhelm Colsman-Bredt. Ihr eigener Sohn Paul schrieb an seine Frau Elisabeth: „Möge der lb. Gott uns in Gnaden Weisheit schenken, daß wir die Erziehung der Kinder richtig leiten & es uns gelingt, die Trabanten im Geist der Eltern & Großeltern zu erziehen. Wird es uns beschieden, dies zu erreichen, dann dürfen wir mit Recht sagen, der Herr hat unseren Bund gesegnet. Kommen auch hie & da kleine Meinungsverschiedenheiten & kleine Unannehmlichkeiten – und in welchem Ehestand kämen sie nicht vor? – lassen wir uns aber vornehmen & ernstlich darnach streben, bei der Erziehung unserer Kinder stets einig zu sein & im gleichen Sinne zu wirken.“213

Dass die Erziehung der Kinder eine Aufgabe war, die man nicht nur für sich selbst und das persönliche Glück, sondern auch für die Gesellschaft, möglicherweise auch für Gott, übernommen hatte, führte Elisabeth Colsman in einem Brief an ihren Mann aus: „Der Kleinste [Paul, ein halbes Jahr alt, CG] war reizend bei meiner Rückkehr, er ist Gott Lob so behaglich, wirklich ein reizend kleines Menschenkind, das mich mit hoher Freude, Entzücken erfüllt, darf man es so an dem geliehenen Besitz?!“214 Emil Colsman, der sich ein Jahr nach der Geburt seines ersten Kindes zur Kur an der Nordsee im niederländischen Scheveningen befand, reflektierte dort ausführlich über den Prozess des Aufwachsens und die symbolische Bedeutung der Kindheit: „Es macht wirklich Freude wenn man morgens bei kommender Fluth im Windkorb am Strand sitzt, u beobachtet, die unablässige Thätigkeit all der vielen Kinder, die dort an Kanäle u. Festungsbau beschäftigt sind, u. unverdrossen immer neue Bauwerke ausführen, so oft auch eine Welle sie fortnimmt. Geht es nicht uns im Geistigen auch oft so, mein Herzblatt? Wir nehmen uns so oft etwas vor, machen Vorsätze uns selbst zu bessern, und müssen sie so oft von der Fluth, den Eingebungen u Unruhen der unbewachten Augenblicke weggerissen sehen! Da können wir uns dann an den Kindern ein Beispiel nehmen, unverdrossen weiter zu arbeiten, wissen wir doch, daß das Fundament unseres Baues fest u. unbeweglich gelegt ist, u daß der Baumeister auch jeden Stein, den wir in seinem Namen herzubringen, an seinem Platz verwenden wird, mag es auch oft scheinen, als sei das ganze von den Wellen wieder bedeckt u. weggerissen!“215

In Grundsatzüberlegungen, wie sie in den drei vorausgehenden Zitaten wiedergegeben sind, formulierten die Ehepaare auch religiöse Bezüge. Der protestantische Glaube spielte in der Erziehung der Kinder eine Rolle, aber er war nicht von zentraler Bedeutung. Die Eltern, wie auch schon Wilhelm Colsman-Bredt und Adele Colsman, beteten mit den Kindern und wiesen sie auf die Bedeutung einer christlich fundierten, moralischen Lebensführung hin, aber die Eltern erzogen weit eher mit Gott zu einem Lebensmodell der selbstständigen Ausba213 214 215

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Archiv WHC, Sign. 156, Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 28. Februar 1894. Archiv WHC, Sign. 156, Elisabeth Colsman an Paul Colsman, 24. Oktober 1898. Archiv ACE, Sign. V,12, Emil Colsman an Mathilde Colsman, 30. Juli 1879.

lancierung unterschiedlicher sozialer Felder als dass sie ihre Erziehung direkt auf Gott und den Glauben ausrichteten. Alle zwischen den 1880er Jahren und der Jahrhundertwende beschriebenen Väter waren ‚family men‘, so wie es schon Wilhelm Colsman-Bredt in seiner Selbstpräsentation gewesen war. Auch wenn sie die Erziehung stärker ihren Ehefrauen überließen als dieser es getan hatte, verbrachten sie doch viel Zeit mit ihren Kindern, versorgten sie und spielten mit ihnen.216 Ebenso wie Adele Colsman und Wilhelm Colsman-Bredt betrachteten die Eltern von den 1880er Jahren bis zur Jahrhundertwende die Säuglinge und Kleinkinder als Personen mit einem individuellen Bewusstsein, kognitiven Fähigkeiten und einem eigenständigen Willen. Kinder wurden in ihren Bewegungen und Äußerungen beobachtet und diese als Ausdruck individueller Entwicklung beschrieben und eingeschätzt. Dabei gab es erste Anzeichen des Messens der eigenen Kinder an einer Normalisierungsachse, aber dies zeigte keinen grundlegenden Wechsel im Umgang mit Säuglingen und Kleinkindern an. Vielmehr sollten Kinder weiterhin ihr Entwicklungstempo selbst bestimmen, und die Eltern gingen mit dem Verlauf überwiegend entspannt um. Die neuen Expertendiskurse der Pädiater und Psychologen, von denen eingangs dieses Kapitels die Rede war, schlugen bis zur Jahrhundertwende nicht auf die elterlichen Erziehungseinstellungen und -ziele durch. Insgesamt ist auch noch zwischen den 1880er Jahren und der Jahrhundertwende eher von Unzulänglichkeiten und schlechten Angewohnheiten die Rede, also von kognitiven Grenzen und moralischen Haltungen, die sich durch Erziehung irgendwann korrigieren ließen, und nicht von einer „universellen Natur des Kindes“,217 an der die Entwicklung mithilfe medizinischer und pädagogischer Experten gemessen werden musste. Auch wenn der Körper stärker in die elterliche Beobachtung und Reflexion einbezogen wurde als noch bei Adele Colsman und Wilhelm Colsman-Bredt, blieb die kognitive und moralische Entwicklung für die Eltern doch der dominante Faktor bei der Beurteilung ihrer Säuglinge und Kleinkinder. Das Kleinkindalter wurde zudem weiterhin frühzeitig als Lernkindheit gestaltet, Kinder sollten unter Anleitung der Eltern lernen, sich zu konzentrieren, sich anzustrengen und gute Leistungen in der Schule zu erbringen. Sie sollten zudem möglichst früh selbstständig werden; Selbstverantwortung und Selbstbeherrschung blieben wichtige Erziehungsziele. Die Geschwistergemeinschaft sollte zudem nicht anders als für Wilhelm Colsman-Bredt und Adele Colsman empathisch sein und solidarisch handeln. Säuglinge und Kleinkinder waren und blieben dabei Geschenke, sie waren eine Freudefür die Eltern. Die ‚Sprache des Entzückens‘ über die eigenen Kinder nimmt von den 1880er Jahren bis zur Jahrhundertwende allerdings zu. Säug216

Vgl. für England Tosh, A Man’s Place, der für die middle classes insgesamt die starke Präsenz und Bindung der Männer an das ‚family home‘ festhält. Er beschreibt aber auch, dass dies ab den 1880er Jahren tendenziell abnahm und die Kultur der Clubs die männliche Familienzeit ab da beschränkte. Vgl. ebd., S. 143ff., S. 170ff. 217 Eßer, Die verwissenschaftlichte Kindheit, S. 125.

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linge und Kleinkinder werden stärker als bei Adele Colsman und Wilhelm Colsman-Bredt als das ganz ‚Andere‘ konstruiert,218 zwar als winzige Persönlichkeiten auf einem Entwicklungsweg, aber auch als niedliche Fremde. Wie für Adele Colsman und Wilhelm Colsman-Bredt sollte Erziehung nach den Vorstellungen der Eltern im Alter von etwa anderthalb bis zwei Jahren einsetzen. Diese Erziehung bestand überwiegend aus Zeigen und Erklären. Bei Verfehlungen wurden auch weiterhin Strafen wie der Ausschluss von gemeinsamen Aktivitäten oder dessen Androhung sowie deutliche Ermahnungen und Tadel eingesetzt. Dazu traten nun als neues Element in der Kommunikation mit den Kindern die verletzten Gefühle der Eltern, welche die Kinder zur Einsicht bewegen sollten. Körperstrafen wie Ohrfeigen oder das Züchtigen mit der Rute werden dagegen in keinem einzigen Brief der Eltern erwähnt. Bedeutsam blieb zugleich die körperliche Nähe zwischen Eltern und Kindern im Erziehungsund Sozialisationsprozess. Das gemeinsame Schlafen von Elternteilen und Kindern im Elternbett war eine in allen Familien ausgeübte Praxis bis zum Alter der Kinder von etwa zehn Jahren. Küsse und Umarmungen gehörten ebenso weiterhin zu den familialen Interaktionsmustern zwischen Vätern, Müttern und Kindern. Dabei zeigten sich keine geschlechtsspezifischen Unterschiede. Väter küssten und umarmten ihre Söhne und Töchter ebenso wie dies Mütter taten. Die Erziehung zu geschlechtsspezifischem Rollenverhalten war zwar vorhanden, wurde aber bis zum Jugendalter nicht allzu strikt beachtet. In Fragen des Lernens waren zwischen den 1880er Jahren und der Jahrhundertwende auch hier die Väter stärker, aber nicht ausschließlich, in der Rolle der Begutachtenden und Beurteilenden zu finden, die Mütter stärker in der Rolle der Lernbegleiterinnen. Kinder sollten auch zwischen den 1880er Jahren und der Jahrhundertwende durch die Familienerziehung und -sozialisation ein selbstbestimmtes Lebensmodell der Balance entwickeln, wodurch sie selbstverantwortlich ihr Leben gestalten können sollten. Dass aber alle Eltern sich zugleich die Fortsetzung der eigenen bürgerlichen Lebensform und die Übernahme der Familienunternehmen wünschten, stand außer Frage. Dass hier Widersprüche sowohl in den Erziehungseinstellungen als auch in den Erziehungszielen auftreten konnten, wirkte sich auf die Phase der frühkindlichen Erziehung und Sozialisation noch nicht aus. Im Bereich der Familienerziehung der älteren Kinder und in deren schulischer Sozialisation wurden sie dann deutlicher sichtbar.219 Ihre Autorität blieb den Eltern auch in der Zeit der 1880er Jahre bis zur Jahrhundertwende wichtig; das Ideal kindlichen Verhaltens blieb weiterhin das Artige und Liebe. Kinder sollten aber aus Einsicht folgen, nicht aus anerzogenem Gehorsam. Säuglinge und Kleinkinder sollten demgemäß so behandelt werden, dass ihr Wille gegebenenfalls ab- und umgelenkt wurde. Regeln, die befolgt werden sollten, wurden daher ab dem Alter von etwa zwei Jahren gesetzt, zugleich aber erläutert. Verhandelbar waren sie allerdings nicht. 218 219

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Vgl. dazu auch Baader, Der romantische Kindheitsmythos und seine Kontinuitäten. Vgl. dazu Kapitel IV und V über die Sozialisation der Jungen und der Mädchen.

4. Ausblick und Forschungsperspektiven Die Erziehungsziele, welche die Eltern aller untersuchten Familien für ihre Kinder formulierten, entsprachen denjenigen, welche die Forschung als klassisch bürgerlich ermittelt hat: Die Erzeugung eines Pflichtethos war ebenso bedeutsam wie die Vermittlung von Anstrengungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit.220 Kinder sollten deshalb ordnungsliebend und fleißig sein, Werte wie Arbeit und Familie waren zentral, Familienerziehung und schulische Bildung sollten die Grundlage einer bürgerlichen Lebensform darstellen und den sozialen Status sichern.221 Andere in diesem Kapitel erzielte Ergebnisse stehen dagegen in einem Spannungsverhältnis zu denjenigen der bisherigen Forschung. So heißt es dort beispielsweise, dass das „Familienleben des Wirtschafts- und Bildungsbürgertums […] sich bereits im Kaiserreich auf die Wochenenden, Feierabende und ggf. auf die Mahlzeiten“ beschränkte. „Der im familialen Alltagsleben weitgehend unsichtbare Vater entwickelte aber nicht nur aus Zeitgründen ein distanzierteres Verhältnis zu seinen Kindern; ein mit seinen Kindern spielender oder Zärtlichkeiten austauschender Vater widersprach dem Klischee von männlicher Autorität.“222 In der Familie und der Erziehung abwesende Väter und überbesorgte, aber den Vätern sich unterordnende Mütter werden in der Forschungsliteratur vielfach betont.223 Dagegen hat sich aus der Analyse der Briefe der verschiedenen Familien zwischen den 1860er Jahren und der Jahrhundertwende ein ganz anderes Bild ergeben, das jeweils am Ende der Teilkapitel 2 und 3 dieses Kapitels zusammengefasst worden ist. Das Problem einer Analyse historischer Erziehung und Sozialisation mithilfe autobiographischer Erinnerungstexte ist bereits verschiedentlich in diesem Buch zur Sprache gekommen. Solche Texte werden häufig als „Reservoir von […] Alltagspraktiken genutzt“,224 ohne einzubeziehen, dass sich dort eine schreibende Person mit ihren historisch-biographischen Erfahrungen bis zum Punkt der Textabfassung rekonstruiert. Über die mitgeteilten vergangenen Erlebnisse, Erfahrungen und Gefühle geben die Erinnerungen nichts im engeren Sinne Historisches preis. Vielmehr lassen sie sich lesen als historische Erzählungen und Standortbestimmungen der Person in ihrer Gegenwart. Sie geben also beispielsweise Aufschluss über Interpretationen von Kindheit im Kaiserreich in den 1950er Jahren, nicht aber über die historische Kindheit selbst. Und so beginnt sich das Bild der autoritätsfixierten bürgerlichen Familie des Kaiserreichs immer dann zu differenzieren, wenn Quellen herangezogen werden, die weder 220 221

Vgl. als Überblick Hettling/Hoffmann, Der bürgerliche Wertehimmel. Vgl. Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben, S. 112ff.; Berg, Familie, Kindheit, Jugend, S. 100ff. 222 Berg, Familie, Kindheit, Jugend, S. 102. 223 Vgl. Konrad, Die nationalstaatliche Kindheit, S. 105; Klika, Erziehung und Sozialisation im Bürgertum, S. 226ff.; Gestrich, Familie in der Neuzeit, S. 596ff. 224 Günther, Das nationale Ich, S. 6.

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als Erinnerungstexte abgefasst noch ausschließlich dem öffentlichen Diskurs entnommen worden sind.225 Auch sie lassen nicht das konkrete Handeln sichtbar werden, aber sie ermöglichen es, Selbstpräsentationen und Handlungsorientierungen im Kontext zeitgenössischer Regeln und Erwartungen zu rekonstruieren und damit einen Zugang zu historischen Lebensformen und Lebenswelten zu finden. Daher schlage ich auf der Grundlage der in diesem Kapitel erzielten Ergebnisse eine andere Interpretation der bürgerlichen Familienerziehung hinsichtlich der frühkindlichen Erziehung und Sozialisation vor. Zunächst: Die Familien waren überaus kindzentriert, sie waren organisiert als „Edukatope“226 und präsentierten sich, die Eltern untereinander und gegenüber den Kindern, als Orte, an denen ein Lebensmodell der Balance und damit Praktiken der Bildung eingeübt werden konnten und sollten. Dabei handelt es sich bei den untersuchten Familien unbestreitbar um Mitglieder einer bürgerlichen „Erziehungs- und Sozialisationsavantgarde“227, die über Bildung und Wissen, Zeit und Raum verfügten, um sich mit Säuglingen und Kleinkindern intensiv zu beschäftigen, sie zu beobachten, zu pflegen und zu erziehen. Während dies am Beginn des Kaiserreichs ständig reflektiert und eine selbstverantwortete, ausbalancierte Lebensführung gleichsam bewusstseinsbildend für die Erziehung diskutiert wurde, war es in den 1880er und 1890er Jahren zu einem eingeübten Komplex geworden, es hatte sich in den Familien routinisiert. Helmut Fend hat in einer Analyse der Entwicklung von Erziehungszielen in der Bundesrepublik Deutschland festgestellt, dass zwischen 1951 und 1981 zwar die Erziehungsziele Selbstständigkeit und freier Wille an Bedeutung deutlich zu- und Gehorsam und Unterordnung gleichzeitig stark abnahmen, Ordnungsliebe und Fleiß als Erziehungsziele aber über den gesamten Zeitraum konstant blieben. Fend hält als Interpretation fest, dass Kinder und Jugendliche nun aus freien Stücken das tun sollten, was die Eltern wollten, nämlich ordnungsliebend und fleißig sein mit dem Ziel der Entwicklung einer methodischen Lebensführung und einer leistungsorientierten Berufsethik. Dies, so Fend weiter, führte dazu, dass Erziehungsziele und -stile der Eltern widersprüchlicher und konfliktanfälliger wurden.228 Fend spricht von der Bundesrepublik Deutschland, nicht vom deutschen Kaiserreich. Und dennoch lassen sich seine Ergebnisse für die Zeit der beginnenden 1980er Jahre auch auf die in diesem Kapitel untersuchten Familien beziehen: Auch dort waren Selbstständigkeit und freier Wille als Erziehungsziele stark und Gehorsam und Unterordnung deutlich schwächer ausgeprägt, aber Ordnungsliebe und Fleiß blieben als Erziehungsziele über den gesamten Zeitraum konstant, mit dem Ziel der selbstständigen Entwicklung einer leistungsorientierten Berufsethik und einer planvollen, ausbalancierten Lebensfüh225 226 227 228

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Vgl. exemplarisch Gebhardt, Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen. Fend, Sozialgeschichte des Aufwachsens, S. 130. Gebhardt, „Ganz genau nach Tabelle“, S. 246. Vgl. Fend, Sozialgeschichte des Aufwachsens, S. 111ff., S. 131.

rung. Wie ist das trotz des großen zeitlichen Abstands möglich, insbesondere angesichts von Fends ganz anderen Ergebnissen für die 1950er Jahre? Dass viele technische Errungenschaften, welche schon an der Jahrhundertwende entstanden, erst in den späten 1950er Jahren in der Bundesrepublik zu Massenphänomenen wurden (Automobile, Kühlschränke, Telefon, Fernreisen), ist in der Forschung vielfach beschrieben worden.229 Gleichzeitig aber, so eine neuere Argumentation, entstanden an der Jahrhundertwende auch „kulturelle und mentale Dispositionen“, die „bis in die 1960er Jahre als wirksam beobachtet wurden“.230 An der gesellschaftsweiten Durchsetzung der bürgerlichen Kernfamilie als Lebensform ab den 1950er Jahren231 und der parallelen „Familialisierung der Kindheit“232 lässt sich ablesen, wie Praktiken und Lebensideale aus der bürgerlichen Erziehungs- und Sozialisationsavantgarde in der Bundesrepublik Deutschland in immer weitere Kreise der Bevölkerung übernommen wurden. Der Historiker Ulrich Herbert sieht die bis in die 1960er Jahre wirksamen Dispositionen der Jahrhundertwende allerdings vor allem in einer bewussten Hinwendung zu traditionellen Lebensformen und Wertorientierungen. Jenseits avantgardistischer Eliten und ihrer experimentellen Lebensreformprojekte habe diese Haltung angesichts rapider Modernisierungserfahrungen an der Jahrhundertwende dominiert und sich im 20. Jahrhundert zunächst fortgesetzt. Eine nicht nur technische, sondern auch lebensweltliche Modernisierung sei erst in den 1960er Jahren eingetreten.233 Die in diesem Kapitel vorgestellte Familienerziehung legt eine andere These nahe, nämlich die einer lebensweltlichen Moderne im Bürgertum bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die sich dann sukzessive in der Gesellschaft verbreitete. Die hier untersuchten Familien gehörten nicht zu einer avantgardistischen Reformelite, sondern waren Teil des etablierten Bürgertums. Sie dachten politisch nationalliberal oder konservativ, sozial vertraten sie das Idealbild einer bürgerlichen Bildungs- und Leistungsgesellschaft, welche gleichwohl weiterhin als eine auf diesen Prinzipien beruhende Klassengesellschaft konzipiert wurde. Die Anthropologie des Säuglings und des Kleinkinds sowie die Erziehungseinstellungen und -ziele blieben in diesem Zusammenhang zwischen den 1850er Jahren und der Jahrhundertwende zugleich fast unberührt sowohl von Expertendiskursen über Erziehung und kindliche Entwicklung als auch von der Veränderung der lebensweltlichen Rahmenbedingungen, d. h. den rasanten ökonomischen, technischen und sozialen Entwicklungen im Kaiserreich. Die Säuglings- und Kleinkindanthropologie und -erziehung bewegte sich in den untersuchten Familien gleichwohl in einem sich rapide verändernden ‚Resonanzraum‘, d. h. einem sich wandelnden lebensweltlichen Sozialisationsrahmen. 229 230 231 232 233

Vgl. Schildt/Sywottek, Modernisierung im Wiederaufbau; Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, S. 682ff. Herbert, Liberalisierung als Lernprozess, S. 35. Vgl. Peukert, Familienformen im sozialen Wandel, S. 23f. Honig/Ostner, Die ‚familialisierte‘ Kindheit, S. 361. Vgl. Herbert, Liberalisierung als Lernprozess, S. 36f.

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Zugleich blieb es bürgerliches Selbstverständnis, dass die Person ein ausbalancierendes Zentrum war, welche selbst Ordnung in der Welt und Sinn in ihrem Leben erzeugte und durch Erziehung und Bildung zu dieser Selbst- und Weltorganisation befähigt werden musste. Dabei konnten ihr die Ordnungsprinzipien und Sinndeutungen angesichts einer sich im bürgerlichen Bewusstsein stets wandelnden Welt aber nicht präzise vorgegeben werden, sondern mussten in Selbst-Organisation entwickelt werden. Hier lag das Konfliktpotential zwischen den Familiengenerationen. War die frühkindliche Erziehung und Sozialisation davon noch wenig tangiert, weil hier nur die Grundlagen einer solchen Lebensbalance gelegt werden sollten, begannen die Konflikte potentiell da, wo es um die konkreten Inhalte der Welt- und Selbstdeutungen ging und diese zwischen Eltern und Kindern vor dem Hintergrund unterschiedlicher Sozialisationserfahrungen divergierten.234 Dann konnten die Erziehungsziele der Eltern oftmals widersprüchlich werden, weil Eltern ihre Kinder auf ihre eigenen Lebenskonzepte verpflichten wollten. Für eine künftige bildungshistorische Forschung tut sich hier ein großes Untersuchungsfeld auf. Nicht nur gilt es die vielfach noch in Privat- und Staatsarchiven liegenden Briefwechsel vieler Familien unterschiedlicher Klassen und Milieus und in unterschiedlichen Epochen auf ihre Haltungen zu frühkindlicher Erziehung und Sozialisation zu untersuchen, sondern insbesondere die damit verbundenen Widersprüche und Herausforderungen in Bezug auf Familienleben und familiale Generationsbeziehungen vor dem Hintergrund lebensweltlicher Dynamiken zu analysieren. Widersprüche und Herausforderungen traten in dem Maß nicht nur im Bürgertum, sondern auch gesamtgesellschaftlich auf, wie bürgerliche Vorstellungen der Selbstständigkeit und des freien Willens in der frühkindlichen Erziehung und Sozialisation sich verbreiteten und dann bei älteren Kindern und Jugendlichen mit Sozialisationserfahrungen zusammentrafen, die andere Lebensideale und Lebensformen als die der Eltern nahelegten.

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Vgl. dazu Kapitel IV über Schulbesuch und Sozialisation der Jungen.

IV. Jungen außer Haus: Schulbesuch und Sozialisation der männlichen Kinder und Jugendlichen zwischen Reichsgründung und Erstem Weltkrieg

1. Vorbemerkung Im folgenden Kapitel werden unter der Sozialisationsperspektive Schulkarrieren und -erfahrungen der männlichen Kinder und Jugendlichen der Unternehmerfamilie Colsman im Verlauf dreier Familiengenerationen untersucht. Eine historische Sozialisationsforschung zur Schule im 19. und 20. Jahrhundert in Deutschland ist in der Historischen Bildungsforschung bislang ein klares Forschungsdesiderat.1 Schulerfahrungen und deren Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung werden für diese Zeit immer noch überwiegend aus Erinnerungen und literarischen Darstellungen extrapoliert, ohne dass dies an zeitgenössischen Quellen wie Briefen, Tagebüchern, Schulkonferenzprotokollen, Klassenbüchern usw. korrigierend geprüft würde. Andreas Gestrich hat vor einigen Jahren generell kritisch angemerkt: „Es gibt nur wenige Arbeiten, die von den in Schularchiven lagernden Materialien wirklich systematisch Gebrauch machen. Schulgeschichten gehören immer noch weitgehend dem Genus der Festschriften an, sind also meist organisationsgeschichtlich orientiert und nutzen weitergehende Möglichkeiten […] nicht.“2 Daher hält sich auch hartnäckig die Vorstellung einer Untertanenschule mit autoritären Lehrerpersönlichkeiten, ebensolchen Unterrichtsregimen und entsprechenden Sozialisationserfahrungen:3 „Trotz einiger beispielhafter Studien über die Pädagogisierung und Professionalisierung der Lehrerarbeit in Deutschland […] ist der historische Schulalltag noch weitgehend unaufgehellt, eher in kritischen Zuschreibungen als in quellenkritischen Untersuchungen gegenwärtig.“4

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Mit konstruktiven Ansätzen für die historische Sozialisationsforschung Herrmann, Elternhaus und Schule; ebenso Müller, Schulkritik und Jugendbewegung. Gestrich, Vergesellschaftungen des Menschen, S. 135; vgl. auch ebd., S. 31f. Auch neuere Darstellungen der deutschen Schulgeschichte sparen den Bereich Sozialisation weitgehend aus, so z. B. Geißler, Schulgeschichte in Deutschland. Vgl. zur Epoche des Kaiserreichs ebd., S. 185ff. Auch das Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte weist in dem Band zum Kaiserreich kaum Sozialisationsperspektiven auf. Vgl. Berg, Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte Bd. IV, 1870–1918. Vgl. Doerry, Übergangsmenschen, S. 73ff.; auch Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben, S. 362ff. Vor allem die rechtliche Seite berücksichtigend Becker/Kluchert, Die Bildung der Nation, S. 39f. Zu entgegengesetzten Ergebnissen kommt z. B. Lenger, Werner Sombart, S. 30ff., der aus Briefwechseln des Schülers Werner Sombart mit Altersgenossen dessen Schulerfahrungen knapp rekonstruiert und festhält, dass sich in der Korrespondenz weder eine Autoritätshörigkeit noch ein starker Nationalismus finden lasse. Tenorth, Historische Bildungsforschung, S. 132.

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Bezogen auf die Erforschung des Verhältnisses von Elternhaus und Schule im Kaiserreich kann ein ähnliches Urteil gefällt werden. Bislang dominieren, so Ulrich G. Herrmann, „Kollektionen illustrativer Fallbeispiele“.5 Herrmann hat die dominierende Forschungsposition einer Untertanenschule deshalb in einem Beitrag zu den höheren Knabenschulen im 19. und im frühen 20. Jahrhundert mit neuen Quellen einer Revision unterzogen. Von einem hierarchischen Verhältnis, in dem die Eltern sich der staatlichen Autorität der Schule unterworfen hätten, könne keine Rede sein. Im Gegenteil: Eltern hätten sich beispielsweise erfolgreich gegen schulische Beurteilungen durchgesetzt, indem sie mit Lehrern und Schulleitungen in eine Diskussion eintraten und insbesondere indem sie ihre Söhne von der kritisierten Schule abmeldeten und auf einer anderen anmeldeten: „In der Konzentration auf die Obsession der preußisch-deutschen Untertanenschule gerät der Einfluss der Familie als Instanz der Schulwahl zwangsläufig aus dem Blick. Eine nicht zu unterschätzende Machtposition erwuchs den Elternhäusern aus der Möglichkeit, durch eine ‚Abstimmung mit den Füßen‘ Unterrichtsanstalten bis an den Rand, wenn nicht ihrer Bestandsfähigkeit, so doch allemal der Gefährdung ihres Status in der Schultypenhierarchie zu bringen.“6

Schuldirektoren gymnasialer Anstalten beklagten im Kaiserreich lauthals diese Macht der Eltern über die Schule: „So wurde es Sitte, den Sohn, wenn er nicht Befriedigendes leistete, auf eine andere Schule zu tun: blieb er sitzen, so war der Anstaltswechsel nahezu ein Gesetz für das Elternhaus. Darum, daß das Zurückbleiben in der Klasse verdient, durchaus berechtigt, vielleicht sogar eine Wohltat für den davon Betroffenen war, kümmerte man sich nicht: er wurde einfach abgemeldet, meist in äußerlich höflicher, aber kühler Form, hin und wieder auch in einer solchen, wie sie unter gebildeten Menschen nicht vorkommen sollte.“7

Schulen mussten gerade aufgrund der hohen Bedeutung schulischer Qualifikationen (‚Berechtigungen‘)8 für die Berufslaufbahnen in Deutschland auf die Wünsche der Eltern Rücksicht nehmen, da diese, um die Qualifikationen für die Söhne zu erreichen, ihre Schulwahl auch von der Erfolgswahrscheinlichkeit abhängig machten. Zudem kämpfte eine Reihe von Vollanstalten auch noch im Kaiserreich um die notwendige Auffüllung der Unter- und Mittelstufen mit

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Herrmann, Elternhaus und Schule, S. 140. Herrmann, Elternhaus und Schule, S. 141. Anders Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben, S. 366ff., ihre Interpretation der Autoritätshörigkeit deutscher Eltern gegenüber der höheren Schule auch auf eine ‚Matrix der Autorität‘ im Verhältnis von Bürger und Staat im deutschen Kaiserreich beziehend. Schwarz, Wilhelm, Festschrift zur fünfzigjährigen Jubelfeier des königlichen Gymnasiums zu Bochum (1910), zit. nach Herrmann, Elternhaus und Schule, S. 142f. Zum Berechtigungssystem im Kontext des deutschen Bildungssystems im 19. Jahrhundert vgl. Müller/Zymek, Sozialgeschichte und Statistik des Schulsystems, S. 16f.

einer genügend großen Schülerzahl.9 Die prestigeträchtigen Oberstufen mit Abiturberechtigung, die allein die Position der Schule im Schulsystem als gymnasiale Vollanstalt bestimmten, waren davon abhängig. Ergänzend kann festgehalten werden, dass auch höhere Schulen ohne Abiturberechtigung (z. B. Proanstalten, also Schulen ohne die Oberstufe des zugehörigen Schultyps) auf Wünsche und Ziele der Eltern eingehen mussten, um überhaupt eine angemessen große Schülerklientel für sich gewinnen zu können. Von Untertanengehorsam im Verhältnis der Elternhäuser zur Schule konnte, so Herrmanns These, bei den höheren Schulen insgesamt nicht die Rede sein.10 Im folgenden Kapitel wird daher die „Matrix der autoritären Gesellschaft“11 in den höheren Schulen des deutschen Kaiserreichs an mehreren Fällen sozialisationshistorisch überprüft, indem Lehrer-Schüler-Verhältnisse, Schülerfreundschaften und Schulerfahrungen in der brieflichen Darstellung durch die Schüler gegenüber Freunden, Geschwistern und Eltern untersucht werden. Gleichermaßen wird auch die Haltung der Eltern zur Schule, wie diese sie ihren Söhnen brieflich präsentierten, analysiert. Auf diese Weise sollen Sozialisationskontexte, sozialisatorische Interaktionen und die Selbstpräsentationen der Schüler sichtbar gemacht werden. Das Forschungsinteresse richtet sich erstens auf die Erfahrung und Vermittlung bürgerlicher Normen und Werte wie methodische Lebensführung, Selbstständigkeit und Leistungsbereitschaft und auf deren Verhältnis zum Komplex Autorität, zweitens auf Formen jugendlicher Männlichkeit und drittens auf die Frage von Nationalbewusstsein und Globalität. Schließlich wird nach Konstanz oder Veränderung dieser Zusammenhänge im Spannungsbogen zwischen 1871 und 1914/18 gefragt. Für alle untersuchten Kernfamilien liegen für die Schulzeit der Jungen umfangreiche und dicht überlieferte Briefkonvolute vor: Diese enthalten die Briefe der Eltern an ihre Söhne sowie die Briefe der Söhne an die Eltern, aber auch an Freunde und Geschwister. Einschränkend ist festzuhalten, dass das genaue Unterrichtsgeschehen aus den Briefen nicht rekonstruiert werden kann. Wie sich Lehrer und Schüler im Klassenzimmer konkret zueinander verhielten, bleibt verborgen. Ebenso wenig wie aber die Analyse von Unterrichtsgegenständen und Prüfungsaufgaben (z. B. Schullektüren, Abiturthemen usw.) ohne weiteres auf die Behandlung der The9 10

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Vgl. Müller/Zymek, Sozialgeschichte und Statistik des Schulsystems, S. 275ff.; Herrmann, Sozialgeschichte des Bildungswesens als Regionalanalyse, S. 546. Gegenteilig, allerdings dieses vor allem auf den hierarchischen Beamtenstaat und den Reserveoffiziersstatus vieler Oberlehrer zurückführend Becker/Kluchert, Die Bildung der Nation, S. 48f. Kluchert bezieht hier das weitere Bedingungsgefüge der Schulen, das oben geschildert wurde und das diese zugunsten von Eltern und Schülern erheblich unter Druck setzte, jedoch nicht in seine Analyse ein. Wehler, Das Deutsche Kaiserreich, S. 122. Wehler verbindet diese Kapitelüberschrift in seinem Buch mit dem Untertitel „Sozialisationsprozesse und ihre Kontrolle“. Den Kontrollwunsch der Sozialisationsprozesse durch einen autoritären Staat hält er dabei nicht nur für gegeben, sondern sieht in Familie und Schule zudem Multiplikatoren autoritärer Leitbilder. Vgl. ebd., S. 124. Mit der Betonung der Militarisierung sich dieser Deutung anschließend Schubert-Weller, Vormilitärische Jugenderziehung; ebenso Stübig, Der Einfluss des Militärs auf Schule und Lehrerschaft.

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men im Unterricht und auf die damit verbundenen möglichen Lehrer-SchülerVerhältnisse übertragbar ist, so wenig sind Erinnerungstexte geeignet, diese Lücke zu füllen. Sie beschreiben vielmehr spätere Bewertungen und autobiographisch überlagerte Rekonstruktionen von Erfahrungen.12 Die vorliegenden Briefe können demgegenüber zeigen, inwiefern Schüler schulischen Anforderungen und Rollenmustern Folge leisteten und wie stark sie sich diesen unter Umständen verweigerten und sich davon absetzten. Die Präsentationen ihres Selbst und ihre sichtbar werdenden Handlungsorientierungen, welche sie gegenüber Eltern und Freunden im Kaiserreich formulierten, lassen im Zusammenhang mit Bildungssystemanalysen dabei auch Rückschlüsse zu auf die jeweilige Gestaltung des Sozialisationsraums Schule. Im folgenden Text werden zunächst das deutsche und das englische Bildungssystem13 zur Zeit des deutschen Kaiserreichs vergleichend dargestellt, auch bezüglich des Verhältnisses von Schule und Familie, um besondere Merkmale des deutschen Bildungssystems als institutionelle Umgebung der Einzelschulen und als Sozialisationsrahmen deutlich zu machen. Darauf folgt als Überblick eine Skizze der Sozialisationsordnungen, d. h. die Anordnung der Sozialisationsinstanzen (Familie, Schule, Militär, Ausbildung) in ihrem Verhältnis und in ihrer Abfolge, in der Unternehmerfamilie Colsman in den unterschiedlichen Familiengenerationen. Anschließend folgt der umfangreichste Teil des Kapitels, die Rekonstruktion schulischer Sozialisation (in einem Fall zusätzlich noch in einer ausländischen Fachschule) im Kontext weiterer Sozialisationserfahrungen in Familie und Peer Groups im Verlauf des Kaiserreichs in den unterschiedlichen Familiengenerationen; zur Kontrastierung und zur Beschreibung von Entwicklungen wird auch eine Vorgängergeneration einbezogen, die ihre schulische Sozialisation bereits in den 1840er Jahren erlebte.

2. Institutionalisierte höhere Bildung im deutschen und englischen Bürgertum im Vergleich Dass sich Bildung und Erziehung im Bürgertum des deutschen Kaiserreichs maßgeblich von denen im Bürgertum des europäischen Auslands, insbesondere Englands, unterschieden hätten, ist eine gängige These der Forschung.14 Orien12

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Vgl. zur Problematisierung von Erinnerungen an die Schule Müller, Schulkritik und Jugendbewegung, S. 194ff. Zur Diversität von Erinnerungen an die Schulzeit vgl. den Quellenband von Graf, Schülerjahre (1912). Da sich das Bildungssystem in Großbritannien zwischen den Ländern England, Schottland usw. unterscheidet, in der historischen Forschung aber das englische Bildungssystem und begleitend das englische Bürgertum eine unvergleichlich wichtigere Rolle spielen, beschränken sich die folgenden Ausführungen auf England. Vgl. als Überblick Kocka, Bürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 1–3; im deutsch-englischen Vergleich Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben.

tiert an einem Idealbild des deutschen Bildungsbürgertums, werden die deutsche Halbtagsschule15 und die begleitende häuslich-familiale Erziehung vom Prozess des Aufwachsens in englischen Bürgerfamilien abgehoben.16 Zutreffend ist, dass in der Zeitphase des deutschen Kaiserreichs im vermögenderen englischen Bürgertum ebenso wie im englischen Adel die Erziehung und Sozialisation außerhalb des Elternhauses in privaten Public Schools und in als Boarding Schools geführten traditionsreichen städtischen Grammar Schools stattfand.17 Die Schüler besuchten diese Schulen im viktorianischen und edwardischen England ab dem Alter von dreizehn Jahren, nach einer Elementarschulzeit, die bereits in exklusiven Vorschulen (das waren zumeist private Preparatory Schools) oder aber mit häuslichen Erziehern absolviert worden war.18 An die Schulzeit schloss sich in der Regel ein etwa vierjähriger Universitätsbesuch an einem der exklusiven Colleges von Oxford oder Cambridge an. Erst kurz vor der Jahrhundertwende 1900 wurden in England die ersten staatlichen Universitäten (Civic Universities) gegründet, die insbesondere für die städtischen Mittelschichten gedacht waren, die sich die renommierten Colleges von ‚Oxbridge‘ weder leisten konnten noch dort zugelassen worden wären.19 Einer Wehrpflicht unterlag die männliche britische Bevölkerung im Unterschied zu den Männern im deutschen Kaiserreich nicht. Sie wurde in Großbritannien erst während des Ersten Weltkriegs eingeführt.20 Weitere Ausbildungsstationen, zum Beispiel eine Assistenten- oder Referendarzeit in der Londoner City oder eine Tätigkeit in den britischen Kolonien, sorgten im englischen Bürgertum dafür, dass die Söhne erst mit der Übernahme der väterlichen Betriebe kurzzeitig ins Elternhaus zurückkehrten oder aber als hochrangige Akademiker dies durch die Übernahme von Ämtern in anderen Städten häufig gar nicht mehr taten.21

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Die Halbtagsschule umfasste in Preußen bis in die 1890er Jahre auch einen kürzeren, zwei- bis dreistündigen nachmittäglichen Unterricht. Endgültig verbindlich wurde die Schulorganisation mit reinem Vormittagsunterricht erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Vgl. Geißler, Schulgeschichte in Deutschland, S. 275. Im Lektionsplan der Langenberger Rektoratschule von 1853 ist noch ein nachmittäglicher Unterricht von 13 bis 16 Uhr vorgesehen. Vgl. Archiv GVL, ohne Sign., Lebensbeschreibung des Rektors Ludwig Bender einschl. Schulchronik und Schülerlisten der Rectorat- und höheren Bürgerschule zu Langenberg, 1828–1873. Vgl. Gillis, Geschichte der Jugend, S. 112ff.; Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben, S. 208. Vgl. Honey, The sinews of society: the public schools as a ‚system‘, S. 152f. Vgl. Gillis, Geschichte der Jugend, S. 114. Die Schulen bedienten eine „non-local, middle- or upper-class clientele“. Honey, The sinews of society: the public schools as a ‚system‘, S. 152f. Vgl. auch Simon, Systematisation and segmentation: the case of England, S. 94ff. Vgl. Lowe, Structural change in English higher eduation, S. 164f.; Charle, Grundlagen, S. 59ff. Vgl. dazu Kapitel VI über Einjährige, Militär und Männlichkeit, Teilkapitel 1. Zu den Karrierewegen von Public School-Absolventen vgl. Berghoff, Public Schools and the Decline of the British Economy 1870–1914, S. 161ff.

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In allen Fällen war die Verweildauer im Elternhaus während des Aufwachsens kurz und beschränkte sich auf die Kindheit und die Ferienzeiten. Zwischen 1870 und dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich zudem – nach einer Krise der Public Schools am Beginn des 19. Jahrhunderts – ein regelrechtes „public school system“, das als sozialisierende Instanz ab dieser Zeit die charakteristischen „public school men“ hervorbrachte.22 Dieses „public school system“ bestand aus einer zum Ausweis dieser Schulen werdenden Kombination des Lebens in Wohneinheiten von etwa 40–60 Schülern (‚houses‘) mit hierarchischen Boy-Master-Beziehungen zwischen Zöglingen und ihren Erziehern und Lehrern sowie Peer Group-Strukturen mit jugendlichen Präfekten als privilegierten „moral agents“ des Schulleiters (erstrebenswerten Positionen, auf die hingearbeitet wurde). Dazu traten eine rigide Schuldisziplin, eine interne Norm der Härte, ein starker Gruppenzwang sowie zeitintensive sportliche Mannschaftswettkämpfe (z. B. Rudern, Cricket oder Rugby), in denen der Public School-Boy überzeugen musste.23 Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurde eine solche Public School-Sozialisation zum Normalmodell des Aufwachsens der männlichen englischen Oberschichtenjugend. Familien, deren Söhne Public Schools besuchten, delegierten die Erziehung und Sozialisation vollständig an diese Schulen, welche auch die sozialen Netzwerke bereitstellten, die die späteren Berufspositionen und sozialen Verkehrskreise vorbereiteten.24 Dieser herausgehobene Teil des höheren englischen Bildungssystems war weder wissenschafts- noch berufsorientiert, sondern besaß ein am Unterricht in den klassischen Sprachen Latein und Griechisch entlanggehendes Curriculum, das sich selbst in humanistischer Tradition sah.25 Aber der Schulunterricht war nur ein kleiner Teil der schulischen Erziehung und Sozialisation, durch die „a new type of social personality, by processes of ‚hardening‘ or ‚toughening‘“, erzeugt werden sollte.26 Unabhängig davon, ob eine solche Erziehung und Sozialisation auch tatsächlich überall stattfand, wurde ein Public School-Besuch faktisch für die gesamte englische Oberschicht, Adel und vermögendes Bürgertum, stilprägend und wurde zunehmend zur inoffiziellen Voraussetzung für den Besuch eines Colleges in ‚Oxbridge‘.27 Die lebenslange Selbstpräsentation und soziale

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Honey, The sinews of society: the public schools as a ‚system‘, S. 153; vgl. Richards, ‚Passing the love of women‘, S. 100f., S. 104f., sowie Simon/Bradley, The Victorian Public School. Vgl. Honey, The sinews of society: the public schools as a ‚system‘, S. 152. Zitat ebd. Zum ‚games cult‘ der Public Schools vgl. auch Vance, The Ideal of Manliness, S. 122ff. Vgl. Honey, The sinews of society: the public schools as a ‚system‘, S. 154. Vgl. Meadows/Brock, Topics fit for Gentlemen. Honey, The sinews of society: the public schools as a ‚system‘, S. 154. „By the 1880s it had become a social handicap at Cambridge and Oxford not to have been at a public school, and the school one attended […] became one of the key facts about one’s identity which one’s friends would tend to remember and refer to.“ Honey, The sinews of society: the public schools as a ‚system‘, S. 158. Vgl. Berghoff/Möller, Wirtschaftsbürger in Bremen und Bristol 1870–1914.

Vernetzung der Schüler, zum Beispiel als ‚Etonians‘, findet in der deutschen Schulsozialisation des 19. und frühen 20. Jahrhunderts keine Entsprechung.28 In Frankreich sorgten staatliche Eliteschulen und -hochschulen einerseits für strukturell ähnliche, andererseits für in den Sozialisationskontexten von England unterscheidbare Bildungs- und Ausbildungsverläufe, so dass diese zur Konturierung der englischen Besonderheiten kurz vergleichend herangezogen werden. Die Lycées und Grandes Écoles verlangten keine mit den englischen Public Schools und den Colleges von ‚Oxbridge‘ vergleichbaren Schul- und Studiengebühren, sondern setzten als staatliche Institutionen stärker auf eine rigide Prüfungskultur und -auslese, die gleichwohl durch ihre Kriterien die Sozialisationserfahrungen der französischen Oberschichten privilegierten.29 Die berühmten staatlichen Lycées wie Louis-Le-Grand und Henry IV in Paris wurden als Schulen mit angeschlossenen Alumnaten für auswärtige Schüler geführt, ebenso wie weitere renommierte staatliche Lycées in größeren französischen Städten. Sie nahmen Schüler ab dem Alter von etwa fünfzehn Jahren auf und begannen umgerechnet mit der Klasse 10, die Teil einer dreijährigen Oberstufe war. Viele Lycées, mit curricularen Schwerpunkten entweder in den alten Sprachen oder in den Realien (moderne Fremdsprachen, Mathematik, Naturwissenschaften), bereiteten anschließend in eigenen Klassen auf die Aufnahmeprüfungen der Grandes Écoles vor, welche beinahe die gesamte französische Staatsund Wirtschaftselite bis heute besucht.30 Viele französische Unternehmer be28

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Berghoff sieht im Besuch einer Public School kein Problem mangelnder ökonomischer Kompetenz und bewertet anhand statistischer Untersuchungen zu Unternehmern in Manchester, Bristol und Birmingham die quantitative und qualitative Bedeutung des Public School-Besuchs als gering. Vgl. Berghoff, Public Schools and the Decline of the British Economy 1870–1914, S. 153ff. Anders beurteilt das Alford, insbesondere die Auswirkungen der Public School-Erziehung auf die britische Wirtschaft für die Jahrzehnte um die Jahrhundertwende: „What is far more important was the ethos of the institutions in which education took place. […] These educational institutions did not so much contribute to an anti-business culture as foster a particular kind of business culture. […] What some of the recent investigations into the social origins of late nineteenth century business do reveal, however, is that the public school influence on business attitudes and practices was increasing at that time and that its largest effects were set to occur in the decades and century which followed.“ Alford, Britain in the world economy since 1880, S. 60. Alfords These ist angesichts der Sozialisationskontexte der Public Schools und der steigenden Besucherzahlen von Unternehmern (44% mit Public School-Besuch in Berghoffs Sample mit Geburtsdaten nach 1861 gegenüber nur 13% mit Geburtsdaten zwischen 1831 und 1860) überzeugender. Zu den Zahlen vgl. Berghoff, Public Schools and the Decline of the British Economy 1870–1914, S. 162. Dennoch waren die Schulgelder deutlich höher als in Deutschland. Vgl. Ringer, Education and the middle classes in modern France, S. 113. Vgl. Bourdieu, Der Staatsadel, S. 153ff., S. 363ff. Der beständige Prüfungsdruck, die hohe Prüfungsanzahl („die Einschließung“), aber auch die soziale Homogenität („eine verzaubernde Erfahrung“), schufen nach Bourdieu auch in Frankreich einen Habitus als Angehörige einer durch ein besonderes Wissen und durch ‚Korpsgeist‘ ausgezeichneten Elite. Zitate S. 153f. Zum französischen Schulsystem vgl. auch Ringer, On segmentation in modern European educational systems: the case of French secondary education, sowie ders., Fields of knowledge, S. 90ff.

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suchten die Grandes Écoles zur technischen und kaufmännischen Ausbildung, nachdem die Lycées ihnen bereits eine sozial distinktive, vorwiegend theorieorientierte Bildung vermittelt hatten.31 Anders als in England verbrachten die französischen Schüler des Bürgertums im 19. und frühen 20. Jahrhundert ihre Kindheit und Jugend nicht in ihrer großen Mehrheit und aus prinzipiellen Erwägungen in einem Internat, sondern nur dann, wenn kein renommiertes Lycée in der Nähe des Wohnorts vorhanden war. Gegenüber Frankreich und insbesondere England, so die dominante Forschungsthese, zeichne sich die männliche bürgerliche Sozialisations- und Erziehungserfahrung in Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert durch starke Familienbezogenheit und intensive Familienerziehung sowie durch den Besuch einer staatlichen höheren Schule am Ort aus, begleitet durch eine jugendliche Selbstorganisation in Peer Groups.32 In der Analyse schulstatistischer Datenreihen zeigt sich allerdings, dass dieses bürgerliche Sozialisations- und Erziehungsarrangement nur auf die Bewohner regionaler Zentren sowie mittlerer Städte und Großstädte zutraf, denn nur dort war ein ausreichendes Angebot unterschiedlicher höherer Schulen vorhanden.33 Für die Schüler aus ländlichen Regionen und aus Kleinstädten ohne ausreichendes höheres Schulangebot – etwa 50% der Bevölkerung lebten im deutschen Kaiserreich um 1910 in Orten mit einer Einwohnerzahl unter 5.00034 – existierten an den Schulorten Alumnate und Internate oder Schülerpensionen, damit sie einen höheren Schulbesuch realisieren konnten. Man kann zur besseren Einordnung dieser Einrichtungen folgende Abgrenzung vornehmen: Während eine Schülerpension eine von einer Privatperson betriebene familienähnliche Einrichtung zur Unterbringung von einem oder mehreren auswärtigen Schülern ist, die aber nicht in struktureller Verbindung mit einer Lehranstalt steht, ist ein Alumnat eine internatsähnlich geführte Einrichtung zur Unterbringung größerer Schülerzahlen in enger Verbindung mit einer Schule. Ein Internat ist im Vergleich dadurch gekennzeichnet, dass mindestens die Hälfte der Schüler ein schuleigenes oder angeschlosse31

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Vgl. Joly, Unternehmer in Frankreich, S. 361ff., sowie Bourdieu, Unterrichtssysteme und Denksysteme, S. 87: Die gelehrte Bildung funktioniere, so Bourdieu, „als gemeinsamer Kode“, „was allen Besitzern dieses Kodes gestattet, gleichen Worten, Verhaltensweisen und Werken denselben Sinn zuzuordnen“, so dass ein klassenspezifischer „kultureller Konsens“ entsteht. Vgl. auch Ringer, Education and the middle classes in modern France, S. 114f., S. 129. Vgl. exemplarisch Speitkamp, Geschichte der Jugend; Rosenbaum, Formen der Familie, S. 351ff.; Konrad, Die nationalstaatliche Kindheit, S. 102ff.; Klika, Erziehung und Sozialisation im Bürgertum, S. 155ff.; Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben, S. 412ff. Vgl. Müller/Zymek, Sozialgeschichte und Statistik des Schulsystems, S. 58f., sowie Tab. 3.3, Schulangebot 1880, Städte über 40.000 Einwohner, Deutsches Reich, S. 60 und Tab. 3.4, Schulangebot 1905, Städte über 40.000 Einwohner, Deutsches Reich, S. 61f.; vgl. auch Lundgreen, Schulsystem, Bildungschancen und städtische Gesellschaft, S. 304f. Vgl. Kroll, Geburt der Moderne, S. 99; Müller/Zymek, Sozialgeschichte und Statistik des Schulsystems, Tab. 3.5, Bevölkerungsstand 1880 und 1905, S. 63.

nes Alumnat bewohnt.35 Die innere Organisation der Alumnate und Internate konnte sehr unterschiedlich sein: Sie reichte von der Organisation des Zusammenlebens in Großgruppen mit Großschlafsälen über die Einteilung in kleinere Häuser mit Hausvorstehern und Schülerpräfekten bis zu internen Familienmodellen mit Ersatzeltern und Wohngruppen. „Für das Jahr 1860 weist die amtliche Schulstatistik Preußens an den höheren Knabenschulen rund 40% der Schüler als Auswärtige aus. Am Ende des 19. Jahrhunderts liegt ihr Anteil bei immerhin noch gut 30%. In den gymnasialen Anstalten stellen die Auswärtigen zu diesem Zeitpunkt etwas mehr als ein Drittel der Schüler.“36 Den größten Anteil an auswärtigen Schülern besaßen um 1900 die gymnasialen Anstalten mit rund 35% (zur Zeit der Reichsgründung waren es sogar knapp 38% gewesen), die realgymnasialen Anstalten besaßen um 1900 einen Anteil von rund 24%.37 Das sind für Preußen, d. h. für den größten und mit zwei Dritteln der Einwohner bevölkerungsreichsten Einzelstaat des Kaiserreichs, erhebliche Zahlen, welche die These vom ‚deutschen Modell‘ einer bürgerlichen Familienerziehung mit begleitender Schulbildung am Ort differenzieren, auch wenn in der Statistik einige auswärtige Fahrschüler aus der Umgebung (z. B. Berlin/Charlottenburg) mitgezählt wurden.38

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Vgl. zur Definition von Alumnat und Internat Herrmann/Müller, Regionale Differenzierung und gesamtstaatliche Systembildung, S. 16ff. Herrmann, Elternhaus und Schule, S. 152. Vgl. Müller/Zymek, Sozialgeschichte und Statistik des Schulsystems, Tab. 10.3, Höhere Schulen insgesamt, Staat Preußen, S. 166f. Peter Conze, der Sohn des Langenberger Seidenfabrikanten Gottfried Conze, erinnert sich sogar an zwei Drittel auswärtige Schüler auf dem humanistischen Gymnasium in Gütersloh bei insgesamt rund 300 Schülern. Vgl. Conze, Jugenderinnerungen, S. 79. Vgl. auch Herrmann, Sozialgeschichte des Bildungswesens als Regionalanalyse, S. 305, wo von drei Viertel Auswärtigen am Gütersloher Gymnasium 1863 die Rede ist. Die hohen Zahlen waren dem besonderen Umstand geschuldet, dass sich dieses Gymnasium dezidiert einer evangelisch-christlichen Erziehung verschrieben hatte und dementsprechend interessierte Eltern aus dem gesamten Deutschen Reich anzog. Budde kommt in der Analyse der von ihr herangezogenen Familien nur auf knapp 10% Schulverschickungen an höhere Schulen in Deutschland. Das lässt sich jedoch nicht verallgemeinern, da sich diese Zahl auf das von ihr ausgewählte Sample bezieht. Vgl. Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben, S. 208ff. Gillis übersieht für Deutschland die Sozialisation der männlichen Jugend in auswärtigen Schulen ganz und betont entsprechend stark die Bedeutung der deutschen Familienerziehung. Vgl. Gillis, Geschichte der Jugend, S. 112ff. Vgl. Herrmann/Müller, Regionale Differenzierung und gesamtstaatliche Systembildung, Tab. 3.1.3, Konfession und Wohnort der Schüler, Staat Preußen, S. 163f.; Müller/Zymek, Sozialgeschichte und Statistik des Schulsystems, Tab. 11.3, Gymnasiale Anstalten insgesamt, Staat Preußen, S. 192f. und Tab. 12.2, Realgymnasiale Anstalten insgesamt, Staat Preußen, S. 218f. Der Anteil auswärtiger Fahrschüler dürfte jedoch aufgrund der noch kaum vorhandenen Nahverkehrsverbindungen – außer in städtischen Ballungsräumen wie Berlin mit seinen umliegenden Städten – nicht hoch gewesen sein.

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1910 existierten im höheren Schulsystem im gesamten Kaiserreich knapp 350 Alumnate mit etwa 21.000 Alumnen.39 Bei insgesamt 1.476 höheren Schulen und knapp 400.000 höheren Schülern 1911 war das eine beträchtliche Zahl; circa 25% der höheren Schulen besaßen demnach ein angeschlossenes Alumnat, allerdings lebten darin nur circa 5% aller höheren Schüler.40 Die darüber hinaus bestehenden kleineren Schülerpensionen, d. h. Privathaushalte, welche die verbleibende große Mehrheit der auswärtigen Schüler beherbergten und beköstigten, sind in ihrer Zahl kaum einzuschätzen, da sie in der Regel als Nebenerwerb von Lehrern und Direktoren oder von Privatleuten vor Ort geführt und schulstatistisch nicht erfasst wurden.41 Sie konnten ein bis zwei Schüler beherbergen, aber auch mehr. Nach 1910 warb beispielsweise auch das zu einer gymnasialen Vollanstalt mit Abiturberechtigung aufgewertete Reformrealgymnasium in Langenberg, dem Wohnort der Unternehmerfamilie Colsman in der preußischen Rheinprovinz, in einer Zeitungsannonce damit, dass auswärtige Schüler im Ort gut untergebracht würden: „Kleine Klassen. Schöne, gesunde Gegend. Unterkunft für Schüler in guten Bürgerfamilien.“42 Aber nicht nur ein mangelndes Schulangebot vor Ort, sondern auch das Abmelden der Schüler von wohnungsnahen höheren Schulen zugunsten höherer Schulen in der sozial stärker kontrollierten Provinz oder zur Beschulung in sogenannten ‚Pressen‘ zwecks Erreichens des Abiturs führte zu Sozialisationsverläufen außerhalb des Elternhauses. An idealtypisch konstruierten Bildungskarrieren junger männlicher Bildungs- und Wirtschaftsbürger im Kaiserreich kann sichtbar werden, wie wenig Zeit Kinder und Jugendliche in ihren Elternhäusern verbrachten, wenn keine höheren Schulen am Ort vorhanden waren

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Vgl. dazu Herrmann/Müller, Regionale Differenzierung und gesamtstaatliche Systembildung, S. 15ff. und Tab. 1.2, Alumnate in den Staaten des Deutschen Reiches, 1910, S. 63. Vgl. Müller/Zymek, Sozialgeschichte und Statistik des Schulsystems, Tab. 10.1, Höhere Schulen insgesamt, Deutsches Reich, 1911, S. 163. Vgl. dazu einige Fälle bei Groppe, Die Macht der Bildung, z. B. Stefan George, Walter Benjamin, Rudolf Borchardt, Viktor Klemperer, Otto Braun und andere, S. 119ff., S. 337ff. Die Schülerpensionen müssten in Lokalstudien aus den Steuer- und Gewerbelisten der jeweiligen Kommunen und in den historischen Adressbüchern der Städte und Gemeinden erhoben werden. Eine weitere, allerdings nur selten realisierbare Alternative für auswärtige Schüler war die Unterbringung bei Verwandten. Zur mangelnden Befassung der Schulverwaltung mit der Frage der Unterbringung der auswärtigen Schüler vgl. Herrmann/Müller, Regionale Differenzierung und gesamtstaatliche Systembildung, S. 18ff., sowie zeitgenössisch Pilger, Über das Verbindungswesen, S. 68ff. Archiv GVL, ohne Sign., Chronik der höheren Bürgerschule zu Langenberg 1878ff., geführt von Rektor Dr. Meyer einschl. Unterlagen zur Schulentwicklung bis 1911, Zeitungsannonce o. O., o. J. Vor dem Ersten Weltkrieg besuchte circa ein Drittel auswärtige Schüler das Reformrealgymnasium in Langenberg. Die Frequenz Auswärtiger war so hoch, dass an die Einrichtung eines Alumnats gedacht wurde, was aber durch den Ersten Weltkrieg nicht zur Ausführung kam. Vgl. Storch, Geschichte der höheren Schule in Langenberg, S. 133f.

oder aber die Eltern sich aus pädagogischen oder Schulerfolgserwägungen entschlossen, diese in auswärtigen Schulen unterrichten zu lassen.43 Idealtyp 1: Der 1871 geborene Sohn eines Notars, für den die Eltern eine akademische Karriere anstrebten und der mit diesen und seinen Geschwistern in einem kleinen Ort in der preußischen Provinz Brandenburg lebte, welcher zwar über eine Volksschule, im höheren Schulsystem aber nur über eine sechsjährige Höhere Bürgerschule ohne Latein verfügte, musste nach der Absolvierung einiger Volksschuljahre oder eines privaten Elementar- und Vorbereitungsunterrichts in den 1880er Jahren eine gymnasiale Vollanstalt in einer größeren Stadt besuchen, zum Beispiel in Neuruppin oder Potsdam oder auch in einer anderen preußischen Provinz. Auch ein höherer Schulbesuch in einem anderen Bundesstaat des Kaiserreichs war möglich. Die Entscheidung hing dabei von den elterlichen Präferenzen und Beziehungsnetzen ab. Am Schulort lebte der Sohn ab dem Alter von etwa zehn bis zwölf Jahren entweder in einem Internat, in einem mit der Schule verbundenen Alumnat oder in einer Schülerpension. Nach Hause zu den Eltern fuhr er nur in den Ferien. Der Kontakt zum Elternhaus wurde durch Briefe und durch gelegentliche Besuche der Eltern aufrechterhalten. Nach dem Abitur (oder nach einigen Studiensemestern) musste der Sohn seinen zumeist nur einjährigen Militärdienst wiederum außerhalb des Heimatorts ableisten.44 Darauf folgte der Universitätsbesuch (oder dessen Weiterführung) mit zum Beispiel juristischem Studium, das in Universitätsstädten wie Berlin, Bonn, Heidelberg, Marburg usw. absolviert wurde. Dem schlossen sich eine Referendarzeit zur fachlich-praktischen Ausbildung an einem Gericht und eine Assessorenzeit an einem weiteren Gericht an. Bei einer Berufstätigkeit als Anwalt oder Richter war ebenfalls nur selten mit einer Tätigkeit am Heimatort zu rechnen. Oftmals noch vor Beginn der Adoleszenz hatten viele bildungsbürgerliche männliche Jugendliche ihre Elternhäuser verlassen und kehrten auch nicht wieder dorthin zurück. Idealtyp 2: Der 1871 geborene Sohn eines Unternehmers in einer Kleinstadt der preußischen Rheinprovinz, die ebenfalls nur eine Volksschule und eine im Aufbau begriffene Höhere Bürgerschule mit Latein aufwies, absolvierte wie der vorausgehend beschriebene idealtypische Sohn des Notars mehrere Volksschuljahre oder einen entsprechenden Privatunterricht am Heimatort und die 43

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Vgl. zum Idealtypus als heuristisches und darstellerisches Mittel Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 4ff. Der Idealtypus wird in meinen Ausführungen verwendet als „deutende Erfassung“ des „für den „reinen Typus (Idealtypus) einer häufigen Erscheinung wissenschaftlich zu konstruierenden (‚idealtypischen‘) Sinnes oder Sinnzusammenhangs“ (ebd., S. 4). Dabei bedingt es die Abstraktion, dass Idealtypen „gegenüber der konkreten Realität des Historischen relativ inhaltsleer sein müssen. Was sie dafür zu bieten hat, ist gesteigerte Eindeutigkeit“ (ebd., S. 9f.). Die Berechtigung zur Verkürzung des Wehrdienstes auf einen einjährig-freiwilligen Militärdienst wurde durch wissenschaftliche Befähigungsnachweise der öffentlichen höheren Schulen ermöglicht. Ob die hohe Bedeutung des Einjährigen im Bürgertum nun auf einen gesellschaftlichen Militarismus oder eher auf das Gegenteil verweist, wird im Kapitel VI über Einjährige, Militär und Männlichkeit diskutiert.

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vorhandenen Klassen der Höheren Bürgerschule, bevor er im Alter von etwa zwölf bis vierzehn Jahren auf eine auswärtige Schule geschickt wurde. Bei der Auswahl der höheren Schule ging es im Wirtschaftsbürgertum allerdings weniger um das Abitur als um die Einjährig-Freiwilligen-Berechtigung (schulisch erteilter Befähigungsnachweis der Berechtigung zu einem auf ein Jahr verkürzten Militärdienst), welche die Schule für die Eltern zwingend besitzen musste, sowie um einen auf die Realien bezogenen Lehrplan. Daher besuchte der Sohn in der Regel ein Realgymnasium, ein Realprogymnasium oder eine Oberrealschule. Auch dieser Sohn wohnte dann in einem Alumnat, einem Internat oder in einer Schülerpension. Da der Sohn nach dem Erwerb der Einjährigenberechtigung noch deutlich jünger war als der bildungsbürgerliche Abiturient, folgte zunächst die zwei- bis dreijährige Lehrzeit außerhalb des elterlichen Betriebs, zumeist bei einem Geschäftsfreund des Vaters. Danach folgten der einjährige Militärdienst, in der Regel bei einem exklusiven Kavallerie-Regiment, sowie mehrere Monate oder sogar Jahre zur weiteren Ausbildung im Ausland in Form von Praktika bei Geschäftspartnern oder Kunden. Dieser Sohn kehrte zwar, sofern er das Unternehmen des Vaters übernahm, wieder an den Herkunftsort zurück, hatte dann aber schon ein Alter von etwa fünfundzwanzig Jahren erreicht, heiratete in der Regel bald und bezog mit seiner Ehefrau ein eigenes Haus. Für Schüler in Alumnaten, Internaten und Schülerpensionen verlief der Sozialisationsprozess völlig anders als für Schüler, deren Eltern in größeren Städten oder regionalen Zentren lebten, in denen ein ausreichendes Angebot an höheren Schulen vorhanden war. In den folgenden Ausführungen werden die Schulkarrieren und Schulerfahrungen der männlichen Kinder und Jugendlichen der Familie Colsman im Kaiserreich sozialisationshistorisch analysiert. Kaum einer von ihnen, soviel sei vorausgeschickt, verlebte eine Schulkindheit und Schuljugend, die dem Bild der deutschen Familienerziehung mit begleitendem örtlichem Schulbesuch entsprochen hätte.45 Aber die Kindheit und Jugend der Söhne in auswärtigen Schulen entsprach auch nicht dem englischen Modell des Besuchs einer Public School mit dem Effekt eines „transfer from the family to an institution designed to generate powerful values and loyalties separate from – even opposed to – those of the home“.46 Vielmehr zeichnet sich für das Kaiserreich in der Unternehmerfamilie Colsman eine Konstellation ab, in der ein Teil 45

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Nur zwei Jungen aus der Unternehmerfamilie besuchten, kurz vor dem Ersten Weltkrieg, ausschließlich die höhere Schule am Ort und verblieben somit während der gesamten Schulzeit bis zum Abitur in der Familie. Auswärtige Schulkarrieren für die Unternehmersöhne schildert auch Soénius, Wirtschaftsbürgertum, S. 88ff., für die Unternehmerfamilie Scheidt am Rande des Ruhrgebiets. Honey, The sinews of society: the public schools as a ‚system‘, S. 154. Ebenso Alford, Britain in the world economy since 1880, S. 58: „A liberal education for a civilized and civilizing English Gentleman was the hallmark; though paradoxically these ideas and ideals were imparted in the semi-barbarous organization which constituted the English public school.“

der Familienerziehung an Ersatzfamilien delegiert wurde und in der die Schülerpensionen die Sozialisation der Unternehmersöhne maßgeblich bestimmten.

3. Sozialisationsordnungen Die Halbtagsschule hat die öffentlichen Debatten über das richtige Verhältnis zwischen Schule und Familie in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert dauerhaft geprägt. Konkret ging es dabei um die Aufgabenteilung in der Erziehung und Bildung zwischen privater Familie und staatlich-öffentlicher Schule.47 Hintergrund der Debatten war die Implementierung eines staatlichen, steuerfinanzierten und typendifferenzierten Schulsystems mit unterschiedlichen Abschlussniveaus im 19. Jahrhundert mit grundsätzlich durch Leistungskriterien bestimmten Übergangsregelungen. Nur die staatlichen höheren Schulen und die wenigen von den staatlichen Behörden konzessionierten privaten höheren Schulen verliehen im deutschen Kaiserreich die begehrten ‚Berechtigungen‘, d. h. diejenigen Qualifikationen, die auf dem Berufsmarkt als regulierender Zugang zu Laufbahnen im öffentlichen Dienst fungierten und in ihrer Struktur auch in Handel und Industrie übernommen wurden. Damit standen Eltern und Kinder unter Druck, den Verhaltensnormen und Erfolgskriterien der staatlichen Schule zu genügen.48 Wie vorausgehend skizziert, besaßen deutsche Bürgereltern aber eine Reihe von Möglichkeiten, sich den schulischen Anforderungen und Beurteilungen zu widersetzen und zu entziehen bzw. die Schulen dazu zu veranlassen, den elterlichen Wünschen entgegenzukommen. Die genannten Strukturelemente des deutschen Schulsystems markieren zugleich die entscheidenden Unterschiede zum englischen Schulwesen, insbesondere im Segment der höheren Bildung. In England waren die privaten Public Schools, die von großen Teilen des Adels und des vermögenden Bürgertums besucht wurden, grundsätzlich bemüht, die Erwartungen und Wünsche ihrer zahlenden Klientel an die Erziehung der Söhne (auch hinsichtlich tendenziell familienfremder Normen und Werte) zu erfüllen.49 Vor diesem Hintergrund kam es in England sehr viel stärker auf den Besuch einer solchen exklusiven privaten Einzelschule und auf die dortigen sozialen Netzwerke an als auf ein abgelegtes Examen und die erzielten Noten. Erst ab den 1860er Jahren entwickelte sich in England ein staatlich geordnetes und beaufsichtigtes Bildungssystem mit öffentlichen höheren Schulen und Universitäten, dem sich die bürgerliche und adlige Oberschicht durch den kontinuierlichen Besuch von Schulen wie 47 48

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Vgl. dazu als Überblick Ecarius/Groppe/Malmede, Familie und öffentliche Erziehung. Für das gesamte 19. Jahrhundert galt dies ausschließlich für die Jungen; erst nach der Jahrhundertwende konnten auch Mädchen im staatlichen Bildungssystem Berechtigungen erwerben. Vgl. Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben, S. 364.

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Eton, Harrow, Winchester und Rugby sowie anschließend der Colleges von Oxford und Cambridge aber weiterhin entzog.50 In den deutschen Staaten, die später das Deutsche Reich bildeten, hatte es durch die im internationalen Vergleich geringen monetären Mittel des Adels und des städtischen Bürgertums im frühen 19. Jahrhundert kaum Möglichkeiten gegeben, exklusive private Internate einzurichten. Dazu kam eine diversifizierte deutsche Staatenwelt mit unterschiedlichen Bildungstraditionen (Preußen, Bayern, Baden, Württemberg usw.), die ebenfalls die Einrichtung zentraler exklusiver Privatschulen verhindert hatten.51 Innerhalb der Staaten gab es beim höheren Schulbesuch zudem schichtund milieuspezifische Differenzen, denn es war für die deutschen Eltern und ihre Bildungsziele keineswegs gleichgültig, ob ein humanistisches Gymnasium oder ein Realschultyp besucht wurde. Und auch die regionale Sozialstruktur spielte eine Rolle: „In den rheinischen Städten waren die unter städtischem Patronat stehenden Realschulen zu den Eliteschulen des protestantischen und in Handel und Industrie erfolgreichen und in den Stadtversammlungen entscheidenden Bürgertums entwickelt […] worden […]. (1864 übertrafen die Schulgeldsätze einiger rheinischer Realschulen selbst die Höchstsätze besonders elitärer und teurer Gymnasien im Staat Preußen.)“52

Die Auswahl des Schultyps war insbesondere für die Inhaber von Familienunternehmen von großem Gewicht für die Erziehung und Sozialisation der Nachfolger. So war für viele international agierende Fabrikanten und Kaufleute ein Schwerpunkt in den modernen Fremdsprachen Englisch und Französisch ausschlaggebend, begleitet von Mathematik, Geschichte, Geographie und Naturwissenschaften, d. h. sie bevorzugten überwiegend die Realschultypen.53 Zugleich waren die Sozialisationskontexte der höheren Schulen für sie bei der Schulwahl bedeutsam. Die Interpretationen der Lehrer, was ‚Bildung‘ idealerweise bedeutete und welche schulischen Inhalte Bildung ermöglichten,54 differierten zwischen humanistischen Gymnasien und Realschulen, ebenso wie sich die Herkunftsmilieus, die mitgebrachten Kapitalformen (ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital) und die Berufsorientierungen der Schüler zwischen den Schultypen unterschieden. Für die Unternehmersöhne auf humanistischen Gymnasien konnten das Zusammensein mit Klassenkameraden aus dem Bildungsbürgertum und der auf dem humanistischen Gymnasium vermittelte Wertekanon dann neue Wünsche

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Vgl. Simon, Systematisation and segmentation in education: the case of England. Vgl. Müller/Zymek, Sozialgeschichte und Statistik des Schulsystems, S. 35ff. Müller/Zymek, Sozialgeschichte und Statistik des Schulsystems, S. 44. Vgl. Löther, Familie und Unternehmer, S. 233ff.; Zunkel, Der Rheinisch-Westfälische Unternehmer, S. 75f. Vgl. Kluchert, Biographie und Institution, S. 13ff.; Becker/Kluchert, Die Bildung der Nation, S. 35ff., S. 47.

und Perspektiven für die spätere Berufskarriere entstehen lassen.55 In Fällen, in denen Unternehmersöhne humanistische Gymnasien besuchten, zumeist aufgrund des Wunsches der Eltern nach einer prestigeträchtigen Bildung, der oftmals wiederum aufgrund eines Einstiegs ins Unternehmertum in der ersten Generation oder aufgrund bildungsbürgerlicher Verwandtschaftsbeziehungen zustande kam, stellte sich den Söhnen somit nachdrücklicher die Frage nach ihrem zukünftigen Lebensweg als denjenigen, die in weitgehend geschlossenen unternehmerischen Familienmilieus und auf Realschulen sozialisiert worden waren. 1882 gaben die nicht studierwilligen Abiturienten (Nichtstudierwilligenquote 13,9%) an gymnasialen Vollanstalten im Staat Preußen nur zu 13,7% einen Berufswunsch in Handel und Industrie an, 36,2% dagegen eine Karriere beim Militär und weitere 40,6% im öffentlichen Dienst. 1910 (Nichtstudierwilligenquote 18,8%) äußerten bereits 37% der nicht Studierwilligen an gymnasialen Vollanstalten einen Berufswunsch in Handel und Industrie, 40% beim Militär und nur 11,9% im öffentlichen Dienst.56 Die Entwicklung verweist sowohl auf die Überfüllungskrisen in vielen Bereichen des öffentlichen Dienstes vor dem Ersten Weltkrieg und entsprechende Auswegkarrierewünsche als auch auf das gestiegene Ansehen und die Eröffnung von Berufsperspektiven in Handel und Industrie.57 Zieht man als Vergleich die realgymnasialen Vollanstalten heran, so zeigt sich, dass 1882 bei den nicht Studierwilligen (60,2%)58 der Berufswunsch ‚Handel und Industrie‘ mit 24,9% fast doppelt so hoch wie an gymnasialen Vollanstalten war, der Berufswunsch ‚Militär‘ mit 14% deutlich unter dem der Gymnasialabiturienten im selben Zeitraum lag und der Berufswunsch ‚öffentlicher Dienst‘ mit 44,1% etwa vergleichbar war. 1910 (Nichtstudierwilligenquote nur noch 26,9%) bestand ein Verhältnis von 48,7% (Handel und Industrie) zu 24,5% (Militär) und 12,4% (öffentlicher Dienst).59 Verbindet man diese Ergeb-

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Vgl. Groppe, Familienstrategien und Bildungswege. Franz J. Bauer hat solche Entscheidungsprozesse anhand der Unternehmerfamilie Dohrn für das frühe 19. Jahrhundert geschildert. Vgl. Bauer, Bürgerwege und Bürgerwelten, S. 87f., S. 103ff. Vgl. Müller/Zymek, Sozialgeschichte und Statistik des Schulsystems, Tab. 14.9, Höhere Schulen, Vollanstalten, Staat Preußen, S. 277f.; Tab. 14.15, Höhere Schulen, Vollanstalten, Staat Preußen, S. 285. Nichtstudierwilligenquote durch die Verf. aus diesen Tabellen errechnet. Vgl. Groppe, Familienstrategien und Bildungswege, S. 638. Realgymnasiale Vollanstalten vergaben vor ihrer Gleichberechtigung 1900 noch kein vollberechtigendes Abitur, sondern konnten seit den 1870er Jahren nur eine fachgebundene Hochschulreife für moderne Fremdsprachen der Lehrämter sowie Mathematik und Naturwissenschaften an Universitäten und die Studienberechtigung für Technische Hochschulen erteilen. Viele Schüler besuchten im Unterschied zu den humanistischen Gymnasien diese Schulen daher auch mit anderen Berufswünschen als einem akademischen Beruf. Vgl. Müller/Zymek, Sozialgeschichte und Statistik des Schulsystems, S. 49. Vgl. Müller/Zymek, Sozialgeschichte und Statistik des Schulsystems, Tab. 14.9, Höhere Schulen, Vollanstalten, Staat Preußen, S. 277f.; Tab. 14.15, Höhere Schulen, Vollan-

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nisse mit der sozialen Herkunft der Abiturienten, so zeigt sich am Beispiel der Berliner Gymnasien, dass hier aus der obersten Berufsgruppe (höhere Beamte und Angestellte, freie Berufe, Unternehmer) 1882 17,5% und 1902 17,9% weniger Abiturienten ein Studium der Wirtschaftswissenschaft und Technik wählten als bei einer angenommenen Normalverteilung durch die Väterberufe erwartbar gewesen wäre, dagegen 1882 17,6% und 1902 14,6% mehr Abiturienten das angesehene Jurastudium wählten als bei einer angenommenen Normalverteilung.60 Der besuchte Schultyp hatte also Effekte für die Berufswünsche der Schüler. Pointiert formuliert konnte der Besuch eines humanistischen Gymnasiums für das unternehmerische Milieu ausstiegsfördernd wirken. In Familienbiographien wird deutlich, dass diejenigen Unternehmer, die über eine längere unternehmerische Familientradition verfügten, die Schulen daher hinsichtlich (realistischem) Lehrplan und der Lehrer- und Schülerschaft genau auswählten, dazu auf Empfehlungen aus dem – wiederum zumeist unternehmerischen – Bekanntenkreis zurückgriffen und oftmals auch persönlich die Schulen inspizierten.61 Die Bildungs- und Ausbildungswege der männlichen Kinder und Jugendlichen der Unternehmerfamilie Colsman waren im 19. und frühen 20. Jahrhundert durchweg durch den Besuch auswärtiger Schulen und durch das Leben in Schülerpensionen, zumeist bei Lehrern der Anstalt, geprägt. Dabei handelte es sich im Kaiserreich nicht mehr allein um eine der ‚Schulnot‘ gehorchende Maßnahme. Für diejenigen Söhne der Familie, die ab den 1880er Jahren die Schule besuchten, hätte es eine geeignete höhere Schule am Wohnort gegeben. Vielmehr war die Schulverschickung im Kaiserreich zum Teil eines pädagogischen Konzepts geworden und jedes Mal Anlass vielfältiger Überlegungen. So schrieb Wilhelm Colsman-Bredt an seinen Sohn Paul über dessen jüngeren Bruder Johannes: „Bezüglich letzterem [Johannes, CG] haben wir noch rechte Gedanken ob er nicht auch heraus soll, heute haben sich Feldhoffs entschlossen Ernst auch nach Mülheim zu Finkenbach zu schicken […] Ich weiß nun wirklich nicht que faire! die kleine Schülerzahl von 5 in einer Klasse [in Langenberg, CG] sollte es fast unmöglich machen daß die Jungens Nichts lernten & doch frage ich mich, ist es nicht auch für Mama besser daß wir Hans heraus schicken um besonders einen Sommer freier & sorgloser sein zu können! Und dann, wohin? Elberfeld, Bonn, Ddorf Duisburg mit ihren überfüllten Schulen reizen mich nicht & Mülheim die 3 Jungens in einer Klasse ist mir auch nicht sympathisch! Es muß sich indeß in diesen Tagen entscheiden da Montag die Schulen beginnen, vielleicht gehe ich Morgen doch mal nach Barmen!“62

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stalten, Staat Preußen, S. 286. Nichtstudierwilligenquote durch die Verf. aus diesen Tabellen errechnet. Vgl. Müller, Sozialstruktur und Schulsystem, S. 544f. Vgl. Soénius Wirtschaftsbürgertum, S. 96, S. 99f.; Derix, Die Thyssens, S. 68ff. Archiv WHC, Sign. 183, Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 25. April 1884. Johannes Colsman besuchte schließlich eine auswärtige realgymnasiale Anstalt in Bar-

Im Folgenden werden für mehrere Generationen der Unternehmerfamilie zunächst knapp die Stationen der formalen Bildung hinsichtlich des besuchten Schultyps, des Abschlussniveaus und der Verweildauer außerhalb der Elternhäuser nachgezeichnet, um Entwicklungslinien in der Unternehmerfamilie von der Mitte des 19. bis zum frühen 20. Jahrhundert deutlich zu machen. Wilhelm Colsman-Bredt (1831–1902) hatte nach dem Besuch der Elementarschulklassen in der Vereinigten evangelischen Bürgerschule zunächst von 1842 bis 1844 die in diese Schule integrierten Rektoratklassen („Rektoratschule“) am Heimatort Langenberg besucht. 1844 wechselte er auf das „Kortegarnsche Handlungs-Institut“ nach Bonn, ein privates evangelisches Internat, das er bis 1847 besuchte. Dort erwarb er vor einer Prüfungskommission auch die militärische Einjährig-Freiwilligen-Berechtigung. Auf eine temporäre Rückkehr ins Elternhaus und erste Arbeitserfahrungen im Familienunternehmen folgte von 1849 bis 1852 eine dreijährige Lehrzeit in Barmen. Von Oktober 1852 bis Oktober 1853 absolvierte Wilhelm Colsman-Bredt den einjährig-freiwilligen Militärdienst in Berlin. 1853, im Alter von zweiundzwanzig Jahren, trat er in das Familienunternehmen ein, am 5. Mai 1856, wenige Tage vor dem Tod seines Vaters am 12. Mai des Jahres, wurde er Teilhaber. Die Jahre zwischen 1853 und 1856 verbrachte er wieder im Elternhaus; 1856 heiratete er Adele Bredt, eine Barmer Unternehmertochter, und zog mit ihr in ein eigenes Haus in Langenberg. Mit dreizehn Jahren hatte er das Elternhaus verlassen und kehrte nur zwischenzeitlich dorthin zurück; mit zweiundzwanzig Jahren kehrte er endgültig nach Langenberg zurück, um im Elternhaus nochmals drei Jahre zu verbringen, bevor er heiratete und mit seiner Frau einen eigenen Hausstand gründete. Wilhelm Colsman-Bredts jüngster Bruder Emil Colsman (1848–1942) besuchte wie dieser die Elementarklassen und danach die Rektoratklassen in der Vereinigten evangelischen Bürgerschule in Langenberg. Im Alter von dreizehn Jahren wechselte er 1861 in die Untertertia der Realschule 1. Ordnung in Barmen, welche die Berechtigung zur Erteilung des Einjährig-Freiwilligen-Privilegs besaß.63 In Barmen lebte er in einer Schülerpension beim örtlichen Pfarrer.

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men und lebte dort in einer Schülerpension. Auch Paul Colsman kümmerte sich sorgfältig um einen auswärtigen Schulbesuch seines ältesten Sohnes und schrieb an seinen Freund Peter Conze: „Das neue Lebensjahr wird auch für mich die Trennung vom ältesten Sohn bringen. Wilhelm soll nach Barmen auf das Realgymnasium. Ich stehe mit dem Director D. Michaelis in Unterhandlung, ob er Wilhelm in sein Haus aufnehmen will & kann. M. ist mir als ein sehr zuverlässiger Mann geschildert, der Vertrauen verdient.“ Archiv WHC, Sign. 2, Paul Colsman an Peter Conze, 1. Juni 1903. Eine Realschule 1. Ordnung war seit 1859 in Preußen eine acht- bis neunjährige Schule mit obligatorischem Lateinunterricht und einem weiteren Schwerpunkt in modernen Fremdsprachen und Naturwissenschaften. Die Langenberger Höhere Bürgerschule (Bezeichnung seit 1861, seit 1871 mit eigenem Schulhaus, getrennt von den Elementarklassen) bot Latein zunächst nur als Privatunterricht an und nahm erst in den 1860er Jahren einen regulären Lateinunterricht auf. Höhere Bürgerschulen wurden ab 1859 als Proanstalten der Realschulen 1. Ordnung konzipiert; viele Höhere Bürgerschulen erreichten die dafür erforderlichen Voraussetzungen wie die Langenberger Schule erst nach und nach, z. B. den obligatorischen Lateinunterricht und ein entsprechend qualifi-

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Innerhalb von zwei Jahren durchlief er den eigentlich auf vier Jahre berechneten Turnus der Unter- und Obertertia und der Unter- und Obersekunda der Barmer Realschule und wurde in die Oberprima versetzt.64 Ohne diese zu vollenden verließ er 1865 die Schule. Der einjährige erfolgreiche Besuch mindestens der Untersekunda war zu dieser Zeit die Voraussetzung für den einjährig-freiwilligen Militärdienst;65 diese hatte er erreicht.66 Emil Colsman absolvierte anschließend eine dreijährige Lehre in Elberfeld, die er im dritten Jahr aufgrund einer Erkrankung abbrach. Nach einem Volontariat in einer Schweizer Seidenmanufaktur trat er 1869 sein einjährig-freiwilliges Militärjahr bei den Garde-Ulanen in Berlin an und nahm als Unteroffizier am deutsch-französischen Krieg 1870/71 teil. Darauf folgte ein Volontariat in einem Rohseidengeschäft in London, verbunden mit einem halbjährigen Zwischenaufenthalt an der Mailänder Rohseidenbörse. Im Herbst 1872 kehrte er nach Langenberg zurück und gründete, da nach der Aufnahme zweier älterer Brüder keine Chance auf die Aufnahme in das Familienunternehmen Gebrüder Colsman bestand, im Alter von vierundzwanzig Jahren eine eigene Seidenbandmanufaktur, „Colsman & Seyffert“, gemeinsam mit einem Sozius. Insgesamt elf Jahre, ab dem Alter von dreizehn bis zum Alter von vierundzwanzig Jahren, hatte Emil Colsman außerhalb des Elternhauses verbracht. Ab 1872 lebte er für fünf Jahre im Haus seiner Mutter, bis er 1877 die Elberfelder Fabrikantentochter Mathilde Schniewind heiratete und mit ihr ein eigenes Haus bezog.67 Peter Lucas Colsman (1854–1925) war der jüngste Sohn Eduard Colsmans (1812–1876), eines Teilhabers von Gebrüder Colsman. Er besuchte nach den Elementarklassen von 1865 bis 1870 in Langenberg die Rektoratklassen in der

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ziertes Lehrpersonal. Höhere Bürgerschulen besaßen sowohl die Funktion von Volksschuloberstufen als auch von höheren Anstalten zur Vorbereitung für mittlere bürgerliche Berufe, z. B. in Handel und Handwerk oder als niederer Beamter. Vgl. Archiv GVL, ohne Sign., Lebensbeschreibung des Rektors Ludwig Bender einschl. Schulchronik und Schülerlisten der Rectorat- und höheren Bürgerschule zu Langenberg, 1828– 1873; Müller/Zymek, Sozialgeschichte und Statistik des Schulsystems, S. 42, S. 45. Zum flexiblen Fachklassensystem statt eines starren Jahrgangsklassensystems bis in die 1880er Jahre vgl. Müller/Zymek, Sozialgeschichte und Statistik des Schulsystems, S. 77f. Vgl. Müller/Zymek, Sozialgeschichte und Statistik des Schulsystems, S. 22, sowie Kapitel VI über Einjährige, Militär und Männlichkeit, Teilkapitel 2. Zwei ältere Brüder Emil Colsmans, August und Adalbert, hatten dagegen das humanistische Gymnasium in Duisburg besucht, da die Eltern mit dem dortigen Pfarrer befreundet gewesen waren. Sie lebten im Haus des Pfarrers und legten in Duisburg auch das Abitur ab. August Colsman studierte anschließend Medizin und wurde Augenarzt, Adalbert wurde Teilhaber von Gebrüder Colsman; ein weiterer Bruder, Herrmann, besuchte in Duisburg eine Realschule und war ebenfalls bei dem Pfarrer untergebracht. Vgl. Archiv EC, D 2/36, Emil Colsman, Lebenserinnerungen, S. 12; Soénius, Wirtschaftsbürgertum, S. 94. Vgl. zur Biographie Emil Colsmans Archiv EC, D 2/36, Emil Colsman, Lebenserinnerungen.

Vereinigten evangelischen Bürgerschule.68 Wie Emil Colsman besuchte er anschließend von 1870–1873 die Realschule 1. Ordnung in Barmen, wo er ebenfalls in einer Schülerpension lebte. Mit dem einjährigen erfolgreichen Aufenthalt in der Prima der Realschule (wobei bereits der einjährige erfolgreiche Besuch der Untersekunda genügt hätte) erhielt er 1873 die Einjährig-Freiwilligen-Berechtigung. Anschließend besuchte er für kurze Zeit eine private Bildungseinrichtung in Vevey in der Schweiz, insbesondere um Französisch zu lernen und um Einblicke in die schweizerische Seidenindustrie zu erhalten. 1874 begann er eine zweijährige Lehre in Düsseldorf. Nach Vollendung der Lehre leistete er von 1876 bis 1877 sein einjährig-freiwilliges Militärjahr in Berlin bei den GardeDragonern ab. Darauf folgten Auslandsjahre zur weiteren Ausbildung in London, Lyon und Mailand bis 1880. 1880 kehrte er nach Langenberg zurück und gründete 1881 im Alter von siebenundzwanzig Jahren sein eigenes Unternehmen, eine Seidentuchweberei unter der Firma „Peter Lucas Colsman“, da er nach der Aufnahme seiner beiden älteren Brüder Andreas und Eduard in das Familienunternehmen Gebrüder Colsman nicht mehr als Teilhaber aufgenommen wurde.69 Auch im Falle von Peter Lucas Colsman schlugen zehn außerhalb des Elternhauses verbrachte Jahre bis zur Rückkehr an seinen Geburtsort zu Buche. 1891 heiratete er eine westfälische Fabrikantentochter aus Altena und bezog mit ihr ein eigenes Haus. Wilhelm Colsman-Bredts ältester Sohn Paul Colsman (1861–1922) besuchte zur Absolvierung des Elementarunterrichts zunächst eine private Elementarschule am Ort, an der eine Lehrerin – Walter Benjamins Elementarschulzeit in Berlin vergleichbar – die Kinder der örtlichen Unternehmer- und Akademikerschaft exklusiv unterrichtete.70 Nach einem Jahr in der örtlichen Volksschule besuchte er ab dem Alter von zehn Jahren ab 1871 die Höhere Bürgerschule in Langenberg. Da die Langenberger Höhere Bürgerschule aber noch nicht voll ausgebaut war und keine Einjährigenberechtigung vergeben konnte, erfolgte für ihn im Alter von fünfzehn Jahren (ab 1876) der Besuch der voll berechtigten Höheren Bürgerschule in Schwelm, verbunden mit dem Pensionsleben beim Direktor der Schule. Die formale deutsche Schulbildung wurde für ihn 1879 mit der erfolgreichen Absolvierung der Untersekunda abgeschlossen, verbunden mit der Erteilung der Einjährig-Freiwilligen-Berechtigung durch die Schule. Darauf folgte ein längerer Bildungsaufenthalt im Ausland, wie bei seinem Onkel Peter Lucas Colsman zum Zwecke des Erwerbs von Fremdsprachenkenntnissen und darüber hinaus zu einer weiterführenden Bildung: Von 1879 bis 1880 68

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Vgl. Archiv GVL, ohne Sign., Lebensbeschreibung des Rektors Ludwig Bender einschl. Schulchronik und Schülerlisten der Rectorat- und höheren Bürgerschule zu Langenberg, 1828–1873; Archiv Landfried, Sign. 3, Briefe von Peter Lucas Colsman an seine Eltern und Geschwister 1868–1882, inklusive Zeugnisse. Vgl. Archiv Landfried, Sign. 9, Zeugnisse und Unterlagen zur Einjährig-FreiwilligenBerechtigung für Peter Lucas Colsman 1870–1877; Archiv Landfried, Sign. 3, Briefe von Peter Lucas Colsman an seine Eltern und Geschwister 1868–1882, inklusive Zeugnisse. Vgl. Conze, Jugenderinnerungen, S. 71; Groppe, Die Macht der Bildung, S. 353.

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besuchte Paul Colsman in Lausanne die Akademie, eine Art Fachhochschule, der 1890 Universitätsstatus zuerkannt wurde. Es folgten ab 1880 eine zweijährige Lehrzeit in der Firma Ph. Barthels-Feldhoff in Barmen, demselben Unternehmen, in dem auch sein Vater seine Lehre absolviert hatte, und 1882/83 ein kürzeres Praktikum im Familienunternehmen. Vom Oktober 1883 bis zum Oktober 1884 schloss sich der einjährig-freiwillige Militärdienst in Berlin bei den Garde-Kürassieren an, 1885 folgte ein mehrmonatiger Besuch der „Königlichen Webe-, Färberei- und Appreturschule“ in Krefeld, einer renommierten Fachschule, und ein weiterer mehrmonatiger Aufenthalt bei Geschäftspartnern in der Schweiz und in Lyon. 1886 kehrte er nach Langenberg zurück. Im selben Jahr erfolgte mit fünfundzwanzig Jahren der Eintritt ins Familienunternehmen Gebrüder Colsman und 1891 die Aufnahme als Teilhaber.71 Insgesamt hatten Bildung und Ausbildung zehn außer Haus verbrachte Jahre in Anspruch genommen. Vom Alter von fünfzehn Jahren bis zum Alter von fünfundzwanzig Jahren hatte Paul Colsman außerhalb des Elternhauses gelebt. 1887 heiratete er Elisabeth Barthels, die Tochter seines früheren Lehrherrn, und zog mit ihr in ein eigenes Haus. Paul Colsman bekam mit seiner Frau Elisabeth fünf Kinder. Sein ältester Sohn Wilhelm (1888–1917) und sein zweitältester Sohn Paul (1898–1922) durchliefen gegenüber ihrem Vater leicht veränderte Bildungs- und Ausbildungswege. So besuchten Wilhelm und Paul Colsman beide – nach zunächst privater Vorbereitung und zweijährigem Besuch der örtlichen Volksschule – bis zum Erhalt der Einjährig-Freiwilligen-Berechtigung die seit 1883 zum Realprogymnasium aufgewertete höhere Schule in Langenberg. Wie ihr Vater verblieben sie bis zum Alter von fünfzehn Jahren im Elternhaus. Anschließend besuchten sie aber in Barmen bzw. Remscheid realgymnasiale Vollanstalten mit Abiturberechtigung, lebten bei den Direktoren der Schulen in Pension und legten 1907 und 1916 das Abitur ab. Die Schwelle bezüglich der Ablegung des Abiturs lag dabei innerhalb der Familie etwa um 1905. Eduard Andreas (1885–1955), der Sohn des Mitinhabers von Gebrüder Colsman Andreas Colsman, hatte das Langenberger Realprogymnasium nach der Jahrhundertwende noch mit dem Einjährigen verlassen, wie Paul Colsman die Akademie in Lausanne und anschließend eine Webschule in Lyon besucht. Zwei Söhne Peter Lucas Colsmans, Helmuth (1893–1962) und Erwin (1896– 1962) legten ebenfalls das Abitur ab. Dagegen hatte Peter Lucas (1892–1917), der älteste Sohn, von 1905 bis 1909 das Institut Kalkuhl in Oberkassel bei Bonn besucht, eine private Realschule mit angeschlossenem Alumnat und der Be71

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Vgl. Archiv WHC, Sign. 2, Briefe von Paul Colsman an Peter Conze 1878–1922; Archiv WHC, Sign. 49, Tagebuch Paul Colsman, 1876ff. Ähnlich verliefen Bildung und Ausbildung seines jüngeren Bruders Johannes (1868–1922), der 1902 ebenfalls Teilhaber von Gebrüder Colsman wurde. Verändert hatte sich allerdings die zu Praktikumszwecken im Ausland verbrachte Zeit. Mit Johannes Colsman begann im Jahr 1892 die einbis zweijährige Praktikumszeit der Unternehmersöhne in der New Yorker Agentur des Unternehmens. Vgl. Archiv WHC, Sign. 46, Familienchronik Paul und Elisabeth Colsman, 1880–1931.

rechtigung zur Erteilung des wissenschaftlichen Befähigungsnachweises für den einjährig-freiwilligen Militärdienst, ohne später das Abitur abzulegen.72 Er war der einzige der Unternehmersöhne mit einem Schulbesuch nach der Jahrhundertwende ohne Abitur. Helmuth und Erwin Colsman besuchten das Realprogymnasium in Langenberg und bestanden dort nach dessen 1910 erfolgter Aufwertung zum Reformrealgymnasium 1912 und 1914 das Abitur.73 Mit dem Einjährig-Freiwilligen-Jahr in Karlsruhe (erstmals anstelle eines Garderegiments in Berlin) verbunden war für Wilhelm Colsman ab 1907 der Besuch der dortigen Technischen Hochschule.74 Helmuth Colsman studierte seit 1912 an der Technischen Hochschule in München Maschinenbau. Wilhelm Colsmans jüngerer Bruder Paul und dessen Cousin Hans (geb. 1896) besuchten 1920 nach dem Abitur (Notreifeprüfung 1916 bzw. 1914 und anschließender Kriegsdienst) zunächst für ein Jahr die Webschule in Krefeld, anschließend ab 1921 die Handelshochschule in Berlin.75 Fünf von sieben Söhnen hatten nach der Jahrhundertwende höherwertigere schulische Qualifikationen erreicht als ihre Väter, vier hatten darüber hinaus studiert.76 Aber auch in dieser Generation wurden in vier Fällen ab dem Alter von etwa fünfzehn Jahren auswärtige Schulen besucht; diese Söhne waren außerdem nach dem Abitur nicht wieder nach Hause zurückgekehrt. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs veränderte die Lebensläufe aller sieben Söhne, zwei kehrten nicht aus dem Krieg zurück.77 In fast allen beschriebenen Fällen hatten die Söhne der Unternehmerfamilie Colsman im 19. und frühen 20. Jahrhundert das Elternhaus im Alter von vierzehn bis fünfzehn Jahren verlassen.78 Sie verbrachten einen Großteil ihrer Jugend in Schülerpensionen oder Internaten, lebten als ‚Einjährige‘ während des Militärdiensts in Berlin im Alter von etwa zwanzig Jahren allein oder mit Kameraden in privat gemieteten Zimmern und wurden anschließend zur weiteren Ausbildung ins Ausland geschickt. Die häusliche Erziehung endete somit be72

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Vgl. Herrmann/Müller, Regionale Differenzierung und gesamtstaatliche Systembildung, Tab. 1.1, Die Alumnate im Deutschen Reich, 1910, S. 52f., sowie S. 40; Archiv Landfried, Sign. 45, Tony Colsman an den Sohn Peter Lucas Colsman, 27. März 1909. Zur Schulgeschichte des Instituts Kalkuhl vgl. Severin, Privates Ernst-Kalkuhl-Gymnasium Bonn-Oberkassel, S. 13ff. Vgl. Storch, Geschichte der höheren Schule in Langenberg, Abiturientenlisten, S. 166. Zur Verbindungsmöglichkeit von Militärdienst und Studium vgl. Kapitel VI über Einjährige, Militär und Männlichkeit, Teilkapitel 2. Vgl. Archiv WHC, Sign. 46, Familienchronik Paul und Elisabeth Colsman, 1880–1931. Zum steigenden Bildungsniveau der Unternehmer im Kaiserreich vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 3, 1849–1914, S. 717. Zu den vergleichbaren Qualifikationswegen der Bankiers im Kaiserreich vgl. Reitmayer, „Bürgerlichkeit“ als Habitus, S. 74. Zu den Bildungskarrieren und der Schulsozialisation der Söhne der Unternehmerfamilie Colsman nach der Jahrhundertwende vgl. Teilkapitel 4.4 in diesem Kapitel. Vgl. dazu Kapitel VII über den Ersten Weltkrieg. Ähnlich verliefen die Schul- und Ausbildungswege in der Tuchfabrikantenfamilie Scheidt im benachbarten Kettwig. Vgl. Soénius, Wirtschaftsbürgertum, S. 88ff.; vgl. auch Mitterauer, Sozialgeschichte der Jugend, S. 101.

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reits früh, nicht aber, wie noch zu zeigen sein wird, die Erziehung durch die Eltern generell, die durch eine ausführliche Briefkorrespondenz weiterhin erfolgte. Die Schulkarrieren der Söhne fanden ab der Gründung des Kaiserreichs zudem überwiegend an staatlichen deutschen Schulen statt. Eine Privatschule wurde seit den 1860er Jahren nur noch in einem einzigen Fall frequentiert, nämlich durch einen Sohn Peter Lucas Colsmans zwischen 1905 und 1909. Ab der Jahrhundertwende traten zudem staatliche deutsche Hochschulen hinzu. Der zuvor vereinzelt vorkommende Besuch ausländischer Hochschulen entfiel, da das tertiäre Segment seitdem ein differenziertes Spektrum an Hochschultypen, Studienprogrammen und Abschlüssen offerieren konnte.79 Während das vermögende englische Bürgertum seine Söhne weiterhin in exklusiven privaten Public Schools erziehen ließ, wich das vermögende deutsche Wirtschaftsbürgertum, wie die Schulstatistik und eine Reihe von Forschungsarbeiten zeigen, auch dann nicht auf Privatanstalten aus, als mit dem umfassenden Ausbau und der Systemkonstitution des höheren Schulwesens sowie der Wirtschaftsentwicklung ab den 1880er Jahren eine wachsende Frequentierung der höheren Schulen durch die Mittelschichten (Angestellte, niedere und mittlere Beamte, kleinere Händler und Handwerker) einherging.80 Und trotz der Möglichkeit, stattdessen exklusive Privatschulen im Ausland (England, Schweiz, Frankreich) zu besuchen, nahm dies kein männliches Familienmitglied der Unternehmerfamilie Colsman wahr. Das ist umso erstaunlicher, als englischer, französischer und italienischer Sprachunterricht zum Ausbildungsgang der Söhne gehörte. International wurde aber nicht die Schulbildung gestaltet, sondern erst die darauf folgende Ausbildung. Dies hatte mehrere Gründe: Zum einen genossen die deutschen höheren Schulen international einen hervorragenden Ruf. In den vom englischen Parlament in Auftrag gegebenen mehrbändigen und international vergleichenden „Special Reports on Educational Subjects“ (1898) heißt es vom Kommissionsleiter Michael E. Sadler über die Lehrerschaft an den höheren preußischen Schulen im Kaiserreich: 79

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Angesichts beginnender Technisierung und spezifischer Kenntnis- und Verwaltungsbedürfnisse der Industrie entstanden im Kaiserreich zwei Wissenskulturen im Hochschulbereich des Bildungssystems: geisteswissenschaftliche Bildung und – zumindest ideell – „reine Wissenschaft“ auf der Seite der höheren Beamten und auf der Seite von Handel und Industrie eine höhere Fachbildung mit der Orientierung an praktischen Bedürfnissen. In diesem Zusammenhang war es dem Kaiserreich bis zur Jahrhundertwende gelungen, ein „breites Spektrum acht anerkannter wissenschaftlicher Hochschultypen (neben den alten Universitäten die Technischen Hochschulen, die Handelshochschulen, die Tierärztlichen Hochschulen, die Landwirtschaftlichen Hochschulen, die Forstlichen Hochschulen und schließlich die Bergakademien)“ systematisch in die Organisation des höheren Bildungssystems einzubeziehen. Vgl. Titze/Herrlitz/Müller-Benedict/Nath, Wachstum und Differenzierung der deutschen Universitäten, S. 18f. Zitate S. 19. Vgl. zum Ausbau des Schulsystems Müller/Zymek, Sozialgeschichte und Statistik des Schulsystems, S. 13f., S. 162ff., sowie Müller, The process of systematisation: the case of German secondary education, S. 35ff.; vgl. auch Augustine, Patricians and Parvenus, S. 55ff., die den Besuch öffentlicher Schulen durch deutsche Unternehmer betont.

„[…] the foreign student who visits their schools well knows how unfailing is their courtesy, how wide and exact their knowledge of the conditions of their work, how ready they are at all times […] to explain and illustrate their methods, to compare and analyse their results. The German secondary schoolmaster […] lives in an atmosphere of inquiry into the scientific aspects of his work. He is not an amateur. […] He knows that there lies round him a body of precise and formulated knowledge as to the conditions of teaching. To this body of knowledge he is seeing to make some contribution […] He knows the limits of originality.“81

Bemerkenswert fand Sadler die Professionalität der preußischen Lehrerschaft, die sich in der Konzentration auf eine methodisch reflektierte Vermittlung von an der Wissenschaft orientiertem Lernstoff äußere. Nicht ‚Pädagogen‘, sondern ihr Metier beherrschende ‚Fachmenschen‘ (Max Weber) diagnostizierte der Autor und schätzte dies sehr positiv ein. Einen weiteren wichtigen Unterschied zu England erblickte er in der staatlichen Organisation der höheren Lehramtsausbildung: „The quality, the range, and the method of their teaching are under the watchful care of State inspectors […] A school cannot cozen the public by a high-sounding name or pretentious advertisement.”82 Was er aber vermisste, war eine Kultur des offenen Fragens und Antwortens: „he [the teacher, CG] is perhaps a little over-conscious of precedent; a little afraid of the simple revolutionary questions“.83 Das Kaiserreich war ein ‚Schulstaat‘. Dies spiegelte sich nicht nur in dem rasanten quantitativen Ausbau des niederen wie des höheren Schulsystems, sondern auch in dem unübersehbaren Stolz der Regierungen der einzelnen Staaten und des Reiches auf die Schulen und Universitäten, der sich auch an den epochentypischen monumentalen Schul- und Universitätsgebäuden zeigte.84 Gleichzeitig blieben die höheren Schulen im Kaiserreich mit weniger als 7% Anteil an der Gesamtschülerzahl bis zum Ersten Weltkrieg noch exklusiv genug, um dem Distinktionsbedürfnis des Wirtschaftsbürgertums Rechnung zu tragen.85 Zudem war die Problematik, die für das akademische Bürgertum durch die soziale Dynamik des Kaiserreichs entstand, für das Wirtschaftsbürgertum nicht relevant. Anders als die Söhne des Bildungsbürgertums mussten junge Wirtschaftsbürger nicht mit den in die höheren Schulen drängenden Söhnen der Mittelschicht um diejenigen Berufspositionen konkurrieren, die durch formale Qualifikationen im Bildungssystem (Abitur und Studium) zu erreichen 81 82 83 84

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Sadler, Problems in Prussian Secondary Education for Boys, S. 182. Sadler, Problems in Prussian Secondary Education for Boys, S. 90. Sadler, Problems in Prussian Secondary Education for Boys, S. 182. Die Zahl der höheren Schulen im Deutschen Reich (Vollanstalten ohne Proanstalten) stieg von insg. 442 1875 auf 868 1911; ihre Schülerzahl stieg von 127.940 1875 auf 295.939 1911. Vgl. Müller/Zymek, Sozialgeschichte und Statistik des Schulsystems, Tab. 10.6, Höhere Schulen, Vollanstalten, Deutsches Reich, S. 171f. Zur symbolischen Architektur der öffentlichen Gebäude im Kaiserreich vgl. Groppe, Erziehungsräume, S. 65, S. 68ff. Vgl. Müller/Zymek, Sozialgeschichte und Statistik des Schulsystems, Tab. 10.5, Höhere Schulen insgesamt, Staat Preußen, S. 170.

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waren.86 Das öffentliche Bildungssystem war für die Unternehmer zwar ein wichtiger Ort des Wissenserwerbs auf dem Weg zur unternehmerischen Berufstätigkeit, aber nicht die unumgängliche Voraussetzung für die Berufsübernahme. Gleichwohl glichen sich die Bildungsniveaus des Bildungs- und des Wirtschaftsbürgertums zunehmend an.87 Angewiesen auf den Staat blieben die Unternehmer jedoch bezüglich der Einjährig-Freiwilligen-Berechtigung, d. h. der Berechtigung zu einem verkürzten und privilegierten Militärdienst für diejenigen, die ein staatlich festgelegtes, im Kaiserreich mehrfach neu justiertes Bildungsniveau einer höheren Schule erreicht hatten und dies durch Bildungspatente nachweisen konnten. Über diese Berechtigung entschied allein der Staat, d. h. die staatlich examinierten Lehrer derjenigen Schulen, die zur Erteilung des wissenschaftlichen Befähigungsnachweises für diese Berechtigung staatlicherseits ermächtigt worden waren. Im Falle einer auswärtigen Prüfungskommission, wenn die besuchte Schule einen solchen Befähigungsnachweis nicht selbst erteilen durfte, der de facto die Berechtigung zum einjährig-freiwilligen Militärdienst war (sofern nichts Gravierendes gegen den Anwärter sprach),88 waren es wiederum die Schullehrer der Schule, welche die Schüler auf die Prüfung vor dieser Kommission vorbereiteten. Bildung im Sinne schulischer Qualifikationen und Berechtigungen erhielt damit eine zunehmende Bedeutung und führte Bildungs-und Wirtschaftsbürgertum auch mental näher zueinander. So konnten sich gerade die Lehrer und Schuldirektoren höherer Schulen zunehmender Wertschätzung durch die Unternehmerfamilien erfreuen. Dennoch blieb eine gläserne Wand bestehen. Weder vermischten sich im Falle der Unternehmerfamilie Colsman die Heiratskreise, noch waren die Bildungsbürger, d. h. die Lehrer der höheren Schulen, die Pfarrer, Juristen und höheren Beamten des Ortes und der Region, Teil der engeren Verkehrskreise der Familie.89 Mit Pierre Bourdieu lässt sich dies durch die Kapitalsorten erklären, die jeweils den Lebensstil und den Habitus bedingten: ökonomisches Kapital auf der einen Seite und institutionalisiertes kulturelles Kapital (Bildungstitel) auf der anderen Seite.90 Männlichen Jugendlichen der Unternehmerfamilie Colsman wurde jedoch, wie im Folgenden noch dargestellt wird, durch Briefe 86 87 88

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Vgl. zu dieser Problematik und den Reaktionen des akademischen Bürgertums ausführlich Groppe, Die Macht der Bildung. Vgl. Groppe, Familienstrategien und Bildungswege, S. 632f. Einzig schwerwiegende Gründe, die in der Person des Anwärters lagen, oder aber dessen finanzielle Lage (Einjährige mussten sich selbst einkleiden, verpflegen und für ihre Unterkunft sorgen) konnten die Wahrnehmung des Einjährig-Freiwilligen-Privilegs verhindern. Vgl. dazu Kapitel VI über Einjährige, Militär und Männlichkeit, Teilkapitel 2. Vgl. dazu Kapitel II über Eheschließungen und Ehebeziehungen. Zum sogenannten „Kränzchen“ als semi-öffentlichem Raum der Vergesellschaftung von Bildungs- und Wirtschaftsbürgern vgl. ebd., Teilkapitel 3.4. Vgl. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 277ff.; ders., Habitus, Herrschaft und Freiheit.

der Eltern deutlich gemacht, dass schulisches Versagen keineswegs durch elterliches Vermögen ausgeglichen werden konnte, sondern dass ein Mindestmaß an schulischem Erfolg vonnöten war, um den sozialen Status auch symbolisch, durch Bildung und die Einjährigenberechtigung, zu rechtfertigen. Das institutionalisierte kulturelle Kapital diente als Beglaubigung des ökonomischen Kapitals, allerdings hatte es überwiegend eine verstärkende Funktion. Die Unternehmer teilten die bildungsbürgerliche Hochachtung der Bildung, insbesondere durch Kunst und Wissenschaft, nur bedingt. Diese besaßen als ‚Welt der Ideale‘ einen Platz in ihrem Leben, aber Erlösungs- und Sinnstiftungsqualitäten besaßen sie ebenso wenig wie die manifeste Distinktionsfunktion, die sie für das Bildungsbürgertum innehatten.91 Der neunzehnjährige Paul Colsman schrieb in seiner Lehrzeit an seinen Freund Peter Conze, der an der Berliner Universität Jura studierte: „In deinem Brief, für welchen ich dir bestens danke, erfrechst du dich, mich mit etwas gleichem od scheinbar gleichen wie Packesel zu vergleichen. Dies ist zuerst kein Wort, dessen man sich als junger gebildeter Mann einem Vetter gegenüber bedient u erst recht in einem Geburtstagsbrief nicht! Ferner hast du als Student absolut nicht das Vorrecht, auf deine Altersgenossen, die einen anderen Beruf als den der Rechtsverdrehung erwählt haben, mit so hochmüthigem Blick u. so geschwollenem Kamm herab zu sehen. Und schließlich bedenke wohl, daß wenn der Kaufmann nicht wär, du als Student nicht leben könntest u. nie als studierter Mann existieren könntest, denn später mußt du vom Verdienst des Kaufmannes leben. Ich rathe dir daher nicht so hochtrabend zu sein u. auch daran zu denken daß ‚Eine edle Seele adelt was sie thut‘. Wenn ich Packete auf die Post tragen müßte, so würde mir das genau dasselbe sein, als wie es für dich ist, wenn du mit deiner Mappe zur Vorlesung bummelst. – […] Ich muß Rechnungen schreiben, Copien eintragen, Wechsel einschreiben, Briefe überschreiben, Briefe adressieren u couvertieren, Paketadressen & Declarationen in verschiedenen Sprachen schreiben etc. etc. Dann ist obenein die Behandlung sehr gut; es heißt immer: ‚Wollen Sie wohl so gut sein, od. Wollen Sie das wohl thun.‘ Nie, thun Sie das! od thu das! Da möchte ich doch gerne wissen, wie du es wagen kannst mich mit einem Packesel zu identifizieren?“92

Im Folgenden werden an einigen der vorausgehend skizzierten Fälle die schulischen Sozialisationsprozesse verschiedener Generationen der Unternehmerfamilie Colsman im Kaiserreich rekonstruiert. Die Sozialisationsordnung in der Familie, so viel hat sich bereits aus den vorausgehenden Ausführungen ergeben, fügt sich nicht in die Vorstellung einer parallelen Anordnung von Familie, Halbtagsschule und nachmittäglicher Peer Group. Da ein erheblicher Anteil höherer Schüler, nämlich rund 27%, noch am Vorabend des Ersten Weltkriegs in Preußen auswärtige Schüler waren,93 dürfte ein größerer Teil von ihnen, auch wenn die Fahrschüler in die Statistik eingerechnet wurden, ähnliche Sozialisationserfahrungen wie die Söhne der Familie Colsman gemacht haben. Hierzu ist 91 92 93

Vgl. Groppe, Bildung und Habitus in Bürgerfamilien um 1900, S. 64ff. Archiv WHC, Sign. 2, Paul Colsman an Peter Conze, 11. Mai 1880. Vgl. Müller/Zymek, Sozialgeschichte und Statistik des Schulsystems, Tab. 10.3, Höhere Schulen insgesamt, Staat Preußen, S. 167.

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bisher keine Forschung vorhanden. Ob die Sozialisation der auswärtigen Schüler aus der Unternehmerfamilie Colsman stattdessen derjenigen der Schüler aus der englischen Oberschicht glich, wird im folgenden Kapitel ebenso untersucht wie die am Ende von Teilkapitel 1 zusammengefassten sozialisatorischen Grundfragen dieses Kapitels.

4. Schulische Sozialisation zwischen Reichsgründung und Erstem Weltkrieg 4.1 Die Schulsituation in Langenberg unter Berechtigungs- und Geschlechteraspekten Der 1831 geborene Wilhelm Colsman-Bredt, der älteste Sohn Johann Wilhelm Colsmans (1800–1856), Teilhaber von Gebrüder Colsman, hatte bis 1844 am Heimatort Langenberg die Rektoratklassen („Rektoratschule“) in der Vereinigten evangelischen Bürgerschule besucht.94 Rektoratschulen waren der „Restbestand einer quantitativ nicht genau eingrenzbaren Vielzahl kleiner und kleinster ‚Lateinschulen‘“, denen aber bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht mehr die Funktion von auf die Universität vorbereitenden höheren Lehranstalten zugestanden wurde.95 Ziel der Bildung an den Rektoratschulen war die Vorbereitung auf bürgerliche Berufe sowie auf den Eintritt in die höheren Klassen eines Gymnasiums oder weiterführender Realschultypen.96 Zur Zeit des Schulbesuchs von Wilhelm Colsman-Bredt besaß die Langenberger Rektoratschule zwei Klassen und zwei Lehrer und wurde als staatlich konzessionierte Privatschule innerhalb der Vereinigten evangelischen Bürgerschule geführt, welche auch die Elementarschulklassen enthielt.97 Kinder beiderlei Geschlechts besuchten zunächst die Elementarschulklassen der Vereinigten evangelischen Bürgerschule im Alter zwischen fünf und zehn Jahren; vermögende Eltern und Eltern, die ihre Söhne auf ein Studium vorbereiten wollten, ließen diese danach für zwei bis vier Jahre die beiden Rektoratklassen (jede mit zweijährigem Kursus) besuchen, damit diese anschließend auf ein Gymnasium oder eine weiterführende Realanstalt überwechseln konnten. Mädchen besuchten die Rektorat94

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Vgl. Archiv GVL, ohne Sign., Lebensbeschreibung des Rektors Ludwig Bender einschl. Schulchronik und Schülerlisten der Rectorat- und höheren Bürgerschule zu Langenberg, 1828–1873. Herrmann, Sozialgeschichte des Bildungswesens als Regionalanalyse, S. 88f. Vgl. Herrmann, Sozialgeschichte des Bildungswesens als Regionalanalyse, S. 91f. Vgl. Rheinischer Städteatlas, Langenberg, S. 10; Storch, Geschichte der höheren Schule in Langenberg, S. 36ff. Der Abgang Wilhelm Colsman-Bredts von der Schule erfolgte im April 1844, vgl. Archiv GVL, ohne Sign., Lebensbeschreibung des Rektors Ludwig Bender einschl. Schulchronik und Schülerlisten der Rectorat- und höheren Bürgerschule zu Langenberg, 1828–1873; Archiv WHC, Sign. 17, Zeugnis für Wilhelm Colsman-Bredt von der Langenberger Rektoratschule vom 13. April 1843.

klassen ebenfalls; sie wechselten anschließend auf Höhere Töchterschulen oder in Mädchenpensionate. Bis zum Alter von etwa vierzehn Jahren waren die formalen Bildungswege von Mädchen und Jungen identisch. Erst danach schlossen sich geschlechtsspezifische Bildungsgänge an. Um die Mitte des Jahrhunderts besaß die Rektoratschule in Langenberg einen Lehrplan, der deutlich auf die Bedürfnisse der örtlichen Unternehmerfamilien zugeschnitten war und sich entsprechend an den Realien orientierte: Der Lehrplan enthielt Englisch und Französisch in erheblichem Umfang, dazu Geographie, Arithmetik, Geometrie, Zeichnen und Rechnen sowie Naturwissenschaften. Latein wurde nur als privater Kurs außerhalb des Lehrplans angeboten. Ab 1861 wurde aus der Rektoratschule eine im Aufbau befindliche Höhere Bürgerschule. Als Schultyp war sie damit als Proanstalt für Realschulen 1. Ordnung (acht- bis neunjährige Schulen mit obligatorischem Lateinunterricht, modernen Fremdsprachen und Naturwissenschaften) konzipiert, die sich insbesondere um einen regulären Lateinunterricht und ein entsprechend qualifiziertes Lehrpersonal bemühen musste. 1871 gab es bereits vier Klassen; diese zogen im selben Jahr als eigenständige Schule in ein neues Gebäude. Der Aufbauprozess zur sechsklassigen Höheren Bürgerschule konnte aber erst 1882 abgeschlossen werden.98 1883 wurde die Schule als Realprogymnasium für Jungen anerkannt und ab da staatlich finanziert. 1907 wurde der Ausbau zur gymnasialen Vollanstalt als Reformanstalt nach dem Frankfurter Modell gestattet und die Schule bis 1910/11 entsprechend ausgebaut.99 Seither konnte auf der Langenberger höheren Schule das Abitur erworben werden, der erste Abiturjahrgang legte die Reifeprüfung 1911 ab.100 Geschlechtergeschichtlich ist aufschlussreich, dass sich die gemeinsam verbrachte Schulzeit von Mädchen und Jungen durch diesen Prozess im Kaiserreich verkürzte. Waren in der Generation der Eltern Wilhelm Colsman-Bredts Mädchen und Jungen in den 1820er Jahren noch gemeinsam in eine weiterführende private Schule außerhalb Langenbergs gegangen und dort bis zum sechzehnten Lebensjahr zusammen beschult worden,101 und hatten noch in den 1870er Jahren Jungen und Mädchen gemeinsam die Elementarklassen und die im Aufbau befindliche Höhere Bürgerschule bis zum Alter von etwa vierzehn 98

Vgl. Archiv GVL, ohne Sign., Lebensbeschreibung des Rektors Ludwig Bender einschl. Schulchronik und Schülerlisten der Rectorat- und höheren Bürgerschule zu Langenberg, 1828–1873, sowie Storch, Geschichte der höheren Schule in Langenberg, S. 63, S. 120. 99 Vgl. Rheinischer Städteatlas, Langenberg, S. 10. Das Frankfurter Modell enthielt eine gemeinsame Unterstufe von drei Klassen ohne Latein und dann eine Aufteilung in einen oberrealschulischen und einen gymnasialen Zweig, wobei Letzterer sich nochmals in einen gymnasialen und einen realgymnasialen Zweig aufteilen konnte. Alle drei Zweige führten seit 1900 zum Abitur; in ihren Berechtigungen waren sie den eigenständigen Vollanstalten Gymnasium, Realgymnasium und Oberrealschule gleichgestellt. Vgl. Herrmann, Sozialgeschichte des Bildungswesens als Regionalanalyse, S. 433f. 100 Vgl. Storch, Geschichte der höheren Schule in Langenberg, S. 134. 101 Vgl. Groppe, Der Geist des Unternehmertums, S. 410ff.

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bis fünfzehn Jahren besucht, so nahm mit der wachsenden staatlichen Kontrolle und dem Prozess der Systembildung die Dauer schulischer Koedukation im höheren Bildungssystem ab. Ab 1881 wurden Mädchen und Jungen in der Höheren Bürgerschule nur noch in den Klassen Sexta und Quinta gemeinsam beschult und stattdessen zwei weiterführende Mädchenklassen eingerichtet. Mit der Aufwertung der Schule zu einem Realprogymnasium für Jungen 1883 endete die gemeinsame Beschulung von Mädchen und Jungen im Bereich der höheren Schulbildung ganz. Ein Jahr später wurde eine private Höhere Töchterschule in Langenberg eröffnet.102 Der von Detlef K. Müller mit den Phasen Systemfindung, Systemkonstitution und Systemkomplementierung beschriebene Prozess der Bildungssystementwicklung vom späten 18. Jahrhundert bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs103 war im höheren Schulsystem gleichzeitig ein staatlicher Exklusionsprozess der Mädchen. Während dies für die humanistische Bildung, also die altsprachlichen Gymnasien und Progymnasien, bereits seit Beginn des 19. Jahrhunderts gegolten hatte, war dies für die vielfältigen Realschultypen nicht gleichermaßen der Fall gewesen. Aber mit ihrer systemischen Erfassung, Reorganisation und Einordnung in das entstehende Bildungssystem wurden auch hier Mädchen von den staatlichen höheren Schulen verdrängt. Bildung, Berufschancen und Berufstätigkeiten wurden für die männlichen Schüler durch das Berechtigungssystem zudem systemisch verzahnt und Mädchen damit nicht nur von Bildung, sondern auch von qualifizierter Berufstätigkeit ausgeschlossen.104 Die gemeinsame Beschulung von Jungen und Mädchen bis in die 1880er Jahre in der Unternehmerfamilie Colsman kann aber nicht ohne weiteres als emanzipatorisch und die nachfolgende Entwicklung demzufolge als rückschrittlich gekennzeichnet werden. So war es bis in die 1830er Jahre um die Vorbereitung auf Arbeitsfelder gegangen, die noch nicht umfassend professionalisiert waren und in deren Zusammenhang sich Ehepaare als gemeinsam arbeitende Unternehmerpaare verstanden hatten. Die Tätigkeit der Fabrikanten war demgemäß noch nicht durchweg maskulin definiert und die Frauen bis in die 1830er Jahre noch informelle Mitinhaberinnen und in der Unternehmensleitung engagierte Fabrikantinnen gewesen. Die Töchter und Söhne besuchten daher bis ins erste Drittel des 19. Jahrhunderts gemeinsam weiterführende Schulen, die mit ihren Fächern beide Geschlechter auf die unternehmerische Tätigkeit vorbereiteten, wobei es für Mädchen dort zusätzliche hauswirtschaftliche Angebote gab.105 Die um 1800 entstehende Geschlechteranthropologie bestimmte für das 19. Jahrhundert dann aber überaus wirkmächtig eine sogenannte Geschlechtsnatur der Frau, die diese in ihrer ‚Wesensbestimmung‘ auf Familie und Haushalt festlegte. Zusätzlich begünstigte die wachsende Trennung von Wohn- und 102 103 104

Vgl. Rheinischer Städteatlas, Langenberg, S. 11. Vgl. Müller/Zymek, Sozialgeschichte und Statistik des Schulsystems, S. 13ff. Vgl. Zymek/Neghabian, Sozialgeschichte und Statistik des Mädchenschulwesens, S. 27ff. 105 Vgl. Groppe, Der Geist des Unternehmertums, S. 410f.

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Geschäftsräumen bei Gebrüder Colsman in den 1840er Jahren den Rückzug der Frauen aus der Unternehmensleitung.106 Erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg konnten Mädchen an staatlichen Schulen gleichberechtigt an Bildungs- und Qualifizierungsprozessen teilhaben und das Abitur ablegen, in Preußen ab 1908,107 ohne dass allerdings die jungen Frauen in der Unternehmerfamilie ab diesem Zeitpunkt wieder in die Unternehmensleitung eingetreten wären. Die gesellschaftliche Modernisierung als Individualisierung der Lebenschancen durch das Leistungsprinzip im 19. Jahrhundert galt erst einmal nur für das männliche Geschlecht. „Durch die enge Verbindung zwischen Schulqualifikation und Berufsstruktur bestimmte der Schulabschluß auch die möglichen Mobilitätsprozesse. Über Einstieg und Ende von Karrieren wurde in der Schule entschieden.“108 Diese Funktion hatte das Bildungswesen zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch nicht besessen; erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde der Staat Schulherr, wurden Schulformen geordnet und in ihren Curricula und Abschlussprofilen im 19. Jahrhundert sukzessive in einen systematischen Zusammenhang gesetzt. Aus einem ungeordneten, teils privaten, teils öffentlichen Bildungswesen, in dem Schulen nur für sich selbst standen, d. h. ein 106 107

Vgl. Groppe, Der Geist des Unternehmertums, S. 263f. Die Gleichberechtigung war aber insofern weiterhin eingeschränkt, als dass Mädchen nicht die humanistischen oder realistischen Gymnasien der Knaben besuchen konnten, sondern dies nur mit Sondergenehmigung möglich war, wenn es kein entsprechendes Angebot für Mädchen gab; ansonsten besuchten sie eigene ‚Lyzeen‘. Das waren diejenigen höheren Mädchenschulen, die inklusive der Vorklassen insgesamt zehn Schuljahre umfassten. Daran schlossen sich im sogenannten Oberlyzeum als Oberstufe zwei verschiedene Zweige an, erstens ‚Frauenschulen‘, die in zwei aufeinanderfolgenden Klassen als eine Art Berufsfachschule höhere ‚Frauenbildung‘ vermittelten, indem die Schülerinnen in Kindererziehung, Hauswirtschaft und sozialer Hilfstätigkeit unterwiesen wurden. Den zweiten Oberstufenzweig des Oberlyzeums stellten drei wissenschaftliche Klassen mit angeschlossenem Seminarjahr dar, die zur Lehramtsprüfung für Volksschulen und für nicht berechtigende Mädchenschulen bzw. für die Lyzeen führten. Die Absolventinnen durften sich an der Philosophischen Fakultät einschreiben und im Rahmen der akademischen Lehramtsausbildung gemeinsam mit den jungen Männern studieren. Als weitere Möglichkeit schlossen sich an die ersten zwei bis drei Jahre des Lyzeums die sogenannten Studienanstalten mit sechs bzw. fünf Klassenstufen bis zum Abitur an, die in den Berechtigungen den Oberstufen der höheren Lehranstalten für Knaben gleichgestellt waren und direkt, aber mit einem Jahr längerer Schulzeit, zum Abitur und zum Studium an allen Fakultäten führten. Die höheren Bildungswege der Mädchen waren also nicht nur länger, sondern zwei von dreien verliehen auch immer noch eingeschränkte Berechtigungen. Dort, wo keine Studienanstalten vorhanden waren, konnten die Mädchen auch keine uneingeschränkte Studienberechtigung erwerben. Vor dem Ersten Weltkrieg (1913) gab es in Preußen insgesamt 40 staatliche Studienanstalten und sieben private für Mädchen, aber über 600 staatliche Vollanstalten mit Abiturberechtigung (1911) für Knaben. Vgl. Kraul, Höhere Mädchenschulen, S. 287; Zymek/Neghabian, Sozialgeschichte und Statistik des Mädchenschulwesens, S. 63, sowie Tab. 8.1.3.1, Das höhere Mädchenschulsystem im Staat Preußen, S. 172; Müller/Zymek, Sozialgeschichte und Statistik des Schulsystems, Tab. 10.6, Höhere Schulen, Vollanstalten, Deutsches Reich, S. 172. 108 Müller/Zymek, Sozialgeschichte und Statistik des Schulsystems, S. 16.

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passendes Unterrichtsangebot für ihre jeweilige Klientel bereitstellten, wurde ein staatliches, rechtlich und funktional geordnetes Bildungssystem. Mit der Entwicklung des Bildungssystems endeten – für Jungen – zugleich die „partikularen Begrenzungen“ des Wissens, d. h. ihre standesspezifische Zugangsbeschränkung. Die Wissensbestände und ihre Vermittlung wurden im öffentlichen Schulsystem prinzipiell ‚universalisiert‘.109 Tendenziell bedeutete die staatliche Regelung der Abschlüsse und Berechtigungen auch einen durch Leistung regulierten Zugang zu den höheren Berufspositionen und damit ein wichtiges sozialdynamisches Moment in der deutschen Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts. Dadurch wurde auch der Zusammenhang von Besitz und Bildung neu definiert: Besitz bedeutete nun nicht mehr das Privileg zur Bildung in privaten Schulen oder durch Privaterziehung, sondern brachte – für die männlichen Schüler – auch den Einordnungszwang in staatliche Qualifizierungsprozesse mit sich, die mindestens bis zur Einjährigenberechtigung erfolgreich durchlaufen werden mussten. In den folgenden Ausführungen wird zusätzlich zu den schon beschriebenen Fragestellungen diskutiert, inwiefern dies in den Sozialisationsprozessen der Jungen der Unternehmerfamilie Colsman bedeutsam wurde.

4.2 Vorgeschichte in den 1840er Jahren: In Herrn Kortegarns Institut Wilhelm Colsman-Bredt hatte im Anschluss an die Rektoratschule ein privates, 1840 gegründetes evangelisches Internat besucht, das „Kortegarnsche Handlungs-Institut“ in Bonn.110 Ebenso wie sein Vater und dessen Geschwister vor ihm verließ er frühzeitig mit dreizehn Jahren das Elternhaus, um, der Schulerziehung im englischen Bürgertum gleich, in einem Internat zu leben. Drei Jahre lang, zwischen 1844 und 1847, besuchte er das Kortegarnsche Internat. Das exklusive koedukative Wilbergsche Bürger-Institut in Elberfeld, das sein Vater und dessen sieben Geschwister, insgesamt fünf Brüder und drei Schwestern, besucht hatten, war 1830 geschlossen worden.111 Wilhelm Colsman-Bredt besuchte ein Institut, das als Internat nur für Jungen eingerichtet worden war. Es richtete sich als „Handlungs-Institut“ ausdrücklich an die Söhne von Kaufleuten und Fabrikanten und besaß eine internationale Schülerschaft. Ziel war, „Söhne von solchen Familien, die durch ihre Stellung in der Gesellschaft den höheren Ständen angehören, durch Erziehung 109 110

Vgl. Drewek/Tenorth, Das deutsche Bildungswesen, S. 51, Zitat ebd. Vgl. die „Erlaubnis für den ehemaligen Rector F. W. Th. Kortegarn“, die 1841 im Amtsblatt des Regierungsbezirks Köln annonciert wurde (S. 120). Dem „ehemaligen Rector F. W. Th. Kortegarn“, „evangelischer Confession“, wurde gestattet, in Bonn eine „kaufmännische Privat-Erziehungs-Anstalt“ zu gründen. Kortegarn war zuvor Rektor höherer Bürgerschulen in Gummersbach, Hückeswagen, Lennep und Neuwied gewesen. Vgl. Kortegarn, Schulnachrichten, S. 31. 111 Zum Schulbesuch in der Unternehmerfamilie am Beginn des 19. Jahrhunderts vgl. Groppe, Der Geist des Unternehmertums, S. 410ff.

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und Unterricht für ihre künftige Lebensstellung“ vorzubereiten. Mit dem „Zwecke einer höheren Handelsschule“ sollten insbesondere künftige „Kaufleute, Fabrikanten, Gutsbesitzer“ auf ihren Beruf vorbereitet werden, aber die Schule zugleich so eingerichtet sein, dass auch der Übertritt in die Oberstufe eines Gymnasiums oder der Eintritt in eine militärische Karriere möglich war.112 In einem 1844 publizierten Prüfungsplan, der zugleich „Studien-, Disciplinar-, Haus- und Tagesordnung“ für die Schüler war, wurden die Anforderungen an die Zöglinge akribisch festgehalten. Eine 1861 vom Institutsleiter Kortegarn verfasste „Unterrichts- und Erziehungsordnung“ bestätigt die Anforderungen des Prüfungsplans.113 Die Zöglinge wurden um sechs Uhr geweckt, von halb sieben bis viertel vor sieben fanden der „Frühstücks-Apell“ und das Frühstück statt, danach war „Studir-Apell“, d. h. es folgte nach einem Antreten mit dem Vorzeigen der Bücher eine Arbeitsstunde unter Aufsicht. Nach einer Morgenandacht begann um kurz nach acht Uhr, nach dem „Unterrichts-Apell“, wiederum mit Vorzeigen der Bücher, der Unterricht. Unterbrochen wurde dieser von einem „Erholungs-Apell“ mit anschließendem „Zehnuhrbrodt“, in der frühen Mittagszeit folgten noch „Spaziergangs-Apell“ und anschließender Spaziergang, Instrumentalunterricht und der „Tisch-Apell“ mit Musterung der Kleidung, danach das Mittagessen. Der Nachmittag war wiederum ausgefüllt mit drei Stunden Unterricht, vorbereitet durch einen Unterrichts-Appell, sowie durch weitere Stunden Instrumentalunterricht, Inspektionen der Schränke ausgewählter Schüler, Kleidungsinspektionen für alle und ein pädagogisches Gespräch mit für jeden Tag neu ausgewählten kleinen Schülergruppen durch den Schulleiter. Darauf folgten wiederum ein „Studir-Apell“ mit anschließender Arbeitsstunde, „Tisch-Apell“ mit Abendessen, eine weitere Stunde mit Handarbeiten oder Theateraufführungen, danach das Abendgebet. Um halb zehn Uhr abends war Schlafenszeit. Im Sommer verschob sich der gesamte Tagesplan nach vorn, und die Zöglinge standen um fünf Uhr auf, wobei eine längere Mittagspause vorgesehen war. Zweimal in der Woche gab es gymnastische sowie militärische Übungen,114 im Sommer auch Schwimmunterricht und Reiten, im Winter Tanzen und Fechten.115 Größere Exkursionen in die nähere Umgebung waren im Lehrplan vierzehntäglich vorgesehen. Fünfzehneinhalb Stunden lang war der Tag der Schüler, davon waren volle elf Stunden für Unterricht und schulische Arbeit vorgesehen.116 Die körperliche und kognitive Beanspruchung der Schüler war hoch. 112 113 114 115 116

Vgl. Kortegarn, Schulnachrichten, S. 31. Zitate ebd. Vgl. Kortegarn, Unterrichts- und Erziehungsordnung. Was genau unter „militärischen Übungen“ zu verstehen ist, verrät der Text leider nicht. Vgl. Kortegarn, Unterrichts- und Erziehungsordnung, S. 12. Vgl. Prüfungs-Plan des Kortegarn’schen Handlungs-Instituts, S. 53ff., Zitate ebd.; Kortegarn, Unterrichts- und Erziehungsordnung, S. 19. Vgl. zu den rigiden Arbeitsund Unterrichtsplänen auch schon in Internaten des 17. und 18. Jahrhunderts Engelsing, Die Arbeitszeit und Freizeit von Schülern, S. 52f.; zu Arbeitszeitansätzen und Stundenzahlen von internatsförmigen Volksschullehrerseminaren in den 1830er Jahren ebd., S. 63f.

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Ein „Tages-Inspektor“ überwachte den Tagesablauf für das ganze Institut und nahm die diversen ‚Appelle‘ ab. Lediglich der Sonntag war arbeitsbefreit; dann waren Kirchenbesuche, Briefeschreiben nach Hause, das Abfassen religiöser Reflexionen und ein gemeinsamer Nachmittagsspaziergang des gesamten Instituts vorgesehen. Es gab drei aufsteigende Klassen im Institut, die alle wiederum nach Leistung dreigeteilt waren in eine „Bewährungsklasse“, eine „Probeklasse“ und eine „Correctionsklasse“. In der Bewährungsklasse befanden sich die leistungsstärksten Schüler, in der Probeklasse die durchschnittlichen, in der Correctionsklasse die leistungsschwachen Schüler. Die Einteilung wurde wöchentlich überprüft und gegebenenfalls revidiert. Im Sechs-Wochen-Rhythmus wurde jeder Schüler zudem in allen Fächern geprüft, dazwischen fanden unangekündigte mündliche Einzelprüfungen statt. Am Ende des Winterhalbjahrs und des Sommerhalbjahrs fanden große schriftliche Prüfungen statt, die jeweils eine ganze Woche in Anspruch nahmen; die Sommerprüfung war zugleich eine öffentliche Prüfung, in der die Zöglinge der interessierten Öffentlichkeit und den Eltern ihr Können präsentieren sollten. Das sollte zugleich dem Renommee der Anstalt zugutekommen.117 Unterricht wurde erteilt in englischer, deutscher und französischer Sprache und Literatur, in kaufmännischem Rechnen und allgemeinen kaufmännischen Kenntnissen sowie in Mathematik, Physik, Chemie, Geographie, Geschichte und evangelischer Religion. Erteilt wurde zudem Gesangs- und Instrumentalunterricht sowie Zeichenunterricht.118 Katholische Schüler wurden vom Religionsunterricht der Anstalt befreit und besuchten stattdessen den Religionsunterricht bei einem katholischen Pfarrer. Mehrmals in der Woche mussten die Schüler englische, französische und deutsche Ausarbeitungen anfertigen und einreichen. Jeweils zwei Tage in der Woche war jede Kommunikation außerhalb des Unterrichts ausschließlich in deutscher, englischer oder französischer Sprache zu führen.119 Neben unternehmerisch notwendigen Kenntnissen und Fähigkeiten sollte auf diese Weise insbesondere die Mehrsprachigkeit der Schüler gefördert werden; diese rekrutierten sich offensichtlich aus einem international agierenden in- und ausländischen Wirtschaftsbürgertum. Für die Eltern Wilhelm Colsman-Bredts wird dies bedeutsam gewesen sein, gab es doch bereits durch den Import der Seide und die technischen Entwicklungen vielfache Geschäftskontakte nach Italien und in die Schweiz sowie einen großen Export (circa die Hälfte der Produktion) nach Süd- und Nordamerika, auch wenn der ab den 1870er Jahren den Export des Unternehmens dominierende britische Markt noch nicht erschlossen worden war. Dies sollte erst der im Kortegarnschen Handlungs-Institut beschulte und erzogene Wilhelm Colsman-Bredt mit Beginn der 1860er Jahre aktiv betreiben. Eine engmaschige Kontrolle der Schüler hinsichtlich Kleidung, Ordnung des Schranks und Sorgfalt im Umgang mit den Lehrmitteln etc. sollte ebenso 117 118 119

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Vgl. Prüfungs-Plan des Kortegarn’schen Handlungs-Instituts, S. 56f., Zitate ebd. Vgl. Prüfungs-Plan des Kortegarn’schen Handlungs-Instituts, S. 7ff. Vgl. Kortegarn, Unterrichts- und Erziehungsordnung, S. 8.

Teil des Erziehungs- und Sozialisationskontextes sein wie die penible Kontrolle der Lernfortschritte und des Fleißes. Lediglich im Herbst durften die Schüler wenige Wochen bei den Eltern verbringen. Weihnachten und Ostern waren im Internat zu verleben.120 Strenge Regelhaftigkeit, eine bis ins Kleinste gehende Beobachtung und Kontrolle des Lern- und Sozialverhaltens der Schüler, eine dauernde fachliche Leistungsüberprüfung und der militärgleiche Appell vor jeder Tagesstation: die Sozialisationsbedingungen und der Tagesablauf unterschieden sich dem Prüfungsplan nach zu urteilen nicht von denen in einer preußischen Kadettenanstalt.121 Der Prüfungsplan entwarf ebenso wie die Unterrichts- und Erziehungsordnung das Bild eines Schulalltags, in dem die Schüler nach strikten Vorgaben regelgerecht funktionieren mussten und fortwährend überwacht wurden; ständige Appelle strukturierten den Schul- und Internatsalltag. Individuelle Freiräume zur persönlichen Gestaltung oder Rückzugsmöglichkeiten aus der Schülergemeinschaft sollte es nicht geben. Kontakte zu Personen außerhalb des Internats waren durch die Organisation des Schulalltages ebenfalls unmöglich. Die Tagesabläufe in einem Schweizer Internat derselben Zeit zeigen allerdings, dass diese rigide Organisation nicht singulär war, sondern auch in anderen Staaten und Einrichtungen fast identisch praktiziert wurde.122 Inwiefern die Dokumente die Rahmenbedingungen des Schulalltags im Internat wirklich widerspiegelten, lässt sich mangels archivalischer Selbstzeugnisse nicht rekonstruieren. Der Text vermittelte der interessierten Öffentlichkeit – Elternschaft, Behörden usw. – aber das positiv besetzte Bild einer Wirklichkeit, in der Unterricht als straff organisierte Wissensvermittlung und die Erziehung und Sozialisation als Prozess äußerer und innerer Disziplinierung gestaltet wurden. Nichts sollte dabei die Zöglinge von einer moralisch rechtschaffenen, gottgefälligen Lebensform und einer durch Fleiß und Leistungsbereitschaft gekennzeichneten methodischen Lebensführung ablenken. Im Kontext strenger Hierarchien und nicht hinterfragbarer Autorität der Lehrpersonen und Erzieher waren die Schüler zudem aufgefordert, sich zu Persönlichkeiten zu entwickeln, die stets das Gleichmaß zwischen Verstand und Gefühl, Ehrgeiz und Bescheidenheit, Eigenständigkeit und Unterordnung zu wahren verstanden.123 Dass dabei unterschiedliche Ebenen zu berücksichtigen 120 121

Vgl. Prüfungs-Plan des Kortegarn’schen Handlungs-Instituts, S. 61ff. Vgl. Schmitz, Militärische Jugenderziehung, S. 50ff.; Zabel, Das preußische Kadettenkorps. 122 Vgl. zum streng reglementierten Tagesablauf eines Schweizer Internats in den 1850er Jahren Soénius, Wirtschaftsbürgertum, S. 100. Um 5.45 Uhr wurde geweckt, um 6 Uhr war eine erste Arbeitsstunde vorgesehen, bevor es ein kurzes Frühstück gab. Der Tag wechselte zwischen Unterrichtsstunden und kurzen Pausen sowie Arbeitseinheiten zum Selbststudium. Ab 21.30 Uhr war Nachtruhe. 123 Als Beispiel für das Konzept einer dauerhaften und kontrollierten Balance der Person hier ein Auszug aus der Beurteilung im Deutsch- und Fremdsprachenunterricht: „Lies‘t er roh und hastig? Pflegt sich sein Gemüth an dem Inhalt des Stücks, welches er lies‘t, warm und wesentlich zu betheiligen? Zeigt er in seinem Lesen ein falsches Pathos?“ Prüfungs-Plan des Kortegarn’schen Handlungs-Instituts, S. 9.

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waren, zeigen die sowohl für den internen Gebrauch als auch die für die Präsentation gegenüber der Öffentlichkeit vorgesehenen Fragenkataloge des Internats. So wurde als Beispiel für die Beurteilungskriterien des Wohlverhaltens gegenüber Direktor und Lehrerschaft im Prüfungsplan unter anderem gefragt: „Sind Fälle bekannt geworden, daß er die Dankbarkeit und Zuneigung, die er dem Vorsteher und den Lehrern der Anstalt für ihre auf seine Erziehung verwendete Mühe und Arbeit schuldig ist, durch Aeußerungen und Handlungen des Uebermuths, der Anmaßung und Herzlosigkeit befleckt hat? […] Ist er der ganzen Anstalt dadurch ein störendes Hinderniß geworden, daß er sich mit den Einrichtungen und Anordnungen, welche auf die Wohlfahrt des Hauses einen wesentlichen Einfluß haben, häufig im Widerspruch befunden hat?“124

Mit Bezug auf die Peer Group der Schüler wurde gefragt: „Sind Fälle bekannt geworden, daß er im Dienste der Lüge, des Betruges und der vorsätzlichen Täuschung der Lehrer in irgend eine sündhafte Verbindung mit mehreren Zöglingen sich eingelassen hat? […] Sind Fälle vorgekommen, daß er während des Spiels oder der gymnastischen Uebungen durch Wildheit, Ungestüm oder Rohheit oder sonst irgendwie aus Mangel an Sorgfalt und Vorsicht seinen Mitzöglingen Schaden zugefügt hat?“125

Bezogen auf das Hauspersonal wurde unter anderem gefragt: „Ist beobachtet worden, daß er durch ungebührliches herrisches Wesen die Dienenden kränkt? […] Ist wahrgenommen worden, daß er durch Mangel an Ueberlegung und Bescheidenheit den Dienenden unnöthige Mühe verursacht?“126

Die Schüler sollten also in ihrem Rollenhandeln unterschiedliche Handlungsebenen berücksichtigen lernen. Insbesondere sollten sie Autoritätsverhältnisse aus unterschiedlichen Positionen angemessen gestalten können und zugleich den Umgang mit Gleichrangigen nach Normen des Maßes und der Kontrolle der eigenen Aktionen einüben. Gleichzeitig sollten die Schüler befähigt werden, ihren vom Institut gebahnten Bildungsweg selbstständig fortzusetzen: „Ist er in seinen Ausarbeitungen auf der Stufe des Gemeinen und Gewöhnlichen stehen geblieben?“ „Hat er sich auf eine solche Bildungsstufe erhoben, daß er die Anordnung der Gedanken in seinen Aufsätzen selbst trifft?“ „Ist er in seiner sittlichen Entwicklung noch in dem Grade zurück, daß er in allen Stücken mit Vorsicht und Mißtrauen bewacht werden muß?“ „Hat die Tages-Inspektion ergeben, daß er sich in den Erholungsstunden dem Müßiggange, diesem gefährlichen Anfange aller Laster, überläßt, wenn er nicht durch bestimmte Vorkehrungen daran gehindert wird?“127

Auf die Frage, wie die Selbstständigkeit der Schüler im Rahmen dauernder Beobachtung, aktiver Kontrolle und strenger Sanktionierung entstehen sollte, gaben weder der Prüfungsplan noch die Unterrichts- und Erziehungsordnung 124 125 126 127

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Prüfungs-Plan des Kortegarn’schen Handlungs-Instituts, S. 2f. Prüfungs-Plan des Kortegarn’schen Handlungs-Instituts, S. 4f. Prüfungs-Plan des Kortegarn’schen Handlungs-Instituts, S. 5. Prüfungs-Plan des Kortegarn’schen Handlungs-Instituts, S. 11, S. 15, S. 41, S. 42.

eine pädagogische Antwort.128 Dennoch scheint in den obigen Fragen zumindest die Vorstellung vom bürgerlichen Individuum als ‚agency‘ auf, als in sozialen Räumen zunehmend selbstverantwortlich handelnde Person, von der „willentliche Kontrolle, Intentionsbildung und die Fähigkeit zur Selbstregulation“129 verlangt wurden. Ein bürgerlicher Junge und und später ein bürgerlicher Mann sollte vor allem maßvoll und selbstbeherrscht sein. Das Internat inszenierte sich zugleich als ‚totale Institution‘ (Erving Goffman), die sämtliche Sozialisationskontexte und -erfahrungen festzulegen und zu beherrschen versprach. Ein US-amerikanischer Schüler, Poultney Bigelow (1855–1954), erinnerte sich später mit Schaudern an die aus seiner Sicht überaus harten Erziehungsmethoden im Institut. 1864 seien dort mehr als 100 englische und US-amerikanische Schüler als Zöglinge gewesen.130 Er sei von der Ehefrau Kortegarns gezwungen worden, Biersuppe zu essen; ein Zuwiderhandeln sei, so die Ehefrau, eine Vorschriftsverletzung und zöge eine harte Strafe nach sich. Bigelow wertete dies rückblickend als typisch preußisch und fühlte sich als „cog of the great Prussian machine“.131 Ob er sich in Schweizer Internaten oder englischen Public Schools wohler gefühlt hätte, ist angesichts ähnlich strenger Erziehungs- und Unterrichtspläne allerdings fraglich. Im Kortegarnschen Institut gab es Hausvater und Hausmutter (Friedrich Wilhelm Thomas Kortegarn und seine Ehefrau); dennoch war das Internat nach den Angaben Kortegarns nicht familienförmig konzipiert.132 Neben dem Schuldirektor und seiner Frau gab es ein Lehrerkollegium und zusätzlich Hausangestellte, die sich um Essen und Kleidung der Schüler kümmerten; ein Schullehrer wurde jeweils einer „Stubengenossenschaft“ von bis zu zehn Schülern als ‚Hauslehrer‘ zugeteilt, die er außerhalb der Unterrichtsstunden beaufsichtigen und erziehen sollte.133 Damit ähnelten die internen Beziehungen im Institut strukturell stärker den ‚Boy-Master‘-Beziehungen in den ‚Houses‘ der englischen Public Schools als einer Familie, auch wenn die Gruppen und das Institut insgesamt viel kleiner als diese waren. Der Hauslehrer sollte die Schüler seiner Gruppe, der jeweils ein Wohnzimmer im Institutsgebäude zugeteilt wurde, in 128

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In der Unterrichts- und Erziehungsordnung existiert ein Paragraph über die „Selbsterziehung des Zöglings“. Auch hier bleibt unklar, wie diese bei gleichzeitiger engmaschiger Kontrolle und ständiger Überprüfung und Anleitung ermöglicht werden sollte. Vgl. Kortegarn, Unterrichts- und Erziehungsordnung, S. 41f. Krewer/Eckensberger, Selbstentwicklung, S. 575. Vgl. Bigelow, Prussian Memories, S. 2. Eine Darstellung der preußischen Rheinprovinz wies 1841 neben dem Kortegarnschen Institut sogar noch ein weiteres Pensionat für englische Schüler in Bonn aus. Vgl. Willemsen, Die Rhein-Provinz unter Preußen, S. 154. Bigelow, Prussian Memories, S. 4f. Bigelow schreibt weiter: „At Kortegarn’s I learned to appreciate the wholly impersonal brutality of the conscientious Prussian drill-master […].“ Ebd., S. 8. Zur Unterscheidung verschiedener Organisationstypen der Alumnate und Internate vgl. in diesem Kapitel Teilkapitel 2. Vgl. Kortegarn, Unterrichts- und Erziehungsordnung, S. 4, Zitat ebd.

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ihrem Verhalten beobachten, ihre Lektüre kontrollieren, die Spiele, die sie spielten, bestimmen und Ausdrucks- und Verhaltensformen korrigieren. Neben den Gruppenwohnzimmern gab es große Speise- und Gemeinschaftsschlafsäle, Versammlungszimmer für das ganze Institut und die Klassenzimmer für den Unterricht. Schüler der Secunda und Prima durften ein Zimmer mit nur einem Stubengenossen bewohnen und wurden mit Sie angesprochen. Beim Haus befand sich zudem ein großer Garten mit einer Fläche von etwa zwei Quadratkilometern.134 Eine individuelle Förderung der Schüler war nach dem Prüfungsplan und der Unterrichts- und Erziehungsordnung nicht vorgesehen. Die Sozialisationskontexte der Schüler waren im Sinne Talcott Parsons’ ‚universalistisch‘ ausgelegt. Die Schüler sollten lernen, affektiv neutral in Rollen, als Schüler und Internatszöglinge, zu handeln und dadurch Verhaltensformen für den Beruf und die gesellschaftliche Öffentlichkeit einüben.135 Sie sollten absehen von persönlichen Befindlichkeiten und Vorlieben, persönliche Schwächen und Leistungsdefizite aktiv bekämpfen und sich in ihrem Denken und Tun ausschließlich auf den Unterricht und das Internatsleben fokussieren. In äußerster Klarheit standen sich im Internat Rollenträger als Lehrer und Schüler, Erzieher und Zöglinge hierarchisch angeordnet gegenüber. Die Amtsautorität der Lehrer und Erzieher war unantastbar. Mit dem Schulalltag kontrastierten die liebevollen Elternbriefe, die Wilhelm Colsman-Bredt erhielt. So schrieb ihm seine Mutter anlässlich eines guten Zeugnisses: „Schon seit mehreren Tagen war es mein Vorsatz Dir ein Lebens- und Liebeszeichen von uns zu geben, und Dir unsere Freude auszusprechen über Deinen l. Brief und dein Zeugniß. Wir haben unsern treuen Gott innig gedankt, daß Er dir so beigestanden. […] Wie nöthig ist es, mein Herzens Kind, daß wir täglich um Vergebung und um Heiligung bitten. […] Der Brief vom Herrn Direktor hat uns auch viele Freude gemacht. Bestelle an ihn u. seine l. Frau unsere herzlichen Grüße. Vater gedenkt dem H. Direkt. bald wieder zu schreiben. Auch an Dich hätte er heute gerne geschrieben, wenn ihn nicht seine Arbeiten so sehr in Anspruch nähmen. Deine Geschw. haben viele Freude über deine Briefe gehabt, Hermann trug mehrere Tage mit dem seinigen herum, u. alle Ohmens mußten den Brief bewundern. Eben kommt Conrad herein, und trägt mir Grüße für dich auf.“136

Auch wenn der Brief in der gefühlsbetonten Sprache der bergischen Erweckungsbewegung abgefasst war, der die Eltern anhingen,137 wird doch deutlich, dass es der Mutter darum ging, eine emotionale Nähe zu ihrem ältesten Sohn herzustellen. Zugleich waren die Erwartungen an den Sohn hoch und wurden in den Briefen auch unter Einsatz psychisch-emotionalen Drucks formuliert. Sorgen angesichts der hohen Lernbelastung finden sich nicht; vielmehr wird an die 134 135 136 137

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Vgl. Kortegarn, Unterrichts- und Erziehungsordnung, S. 4ff. Vgl. Parsons, The Social System, S. 228ff.; ders., Die Schulklasse als soziales System. FFA, B4g53, Emilie Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 20. Januar 1846. Vgl. dazu ausführlich Groppe, Der Geist des Unternehmertums, S. 479ff.

Leistungsbereitschaft des Sohnes appelliert und an seine Bereitwilligkeit zur Akzeptanz der Autoritäten und Strukturen im Internat: „Möchten dir die Ermahnungen deines theuren, dich so innig liebenden Vaters, recht ins Herz gedrungen sein, u. du mit Aufblick zu Gott an jedem Morgen, u. mit gutem Muthe u. Ausdauer deine Arbeiten beginnen u. vollführen. Wir setzen große Hoffnungen auf dich, lieber Wilhelm, u. es ist auch (was ich fest glaube) dein Bestreben, uns in den kommenden Jahren zur Freude zu sein, u. uns nur Ehre zu machen. Der Herr segne dich, du liebes Kind! Er mache dich recht demüthig in deinem Herzen; u. mache dich demüthig und liebend gegen deine Lehrer. Dann wird’s noch gut gehen. Anbei empfängst du auch deine Sachen. Der Schlafrock wird dir gefallen, du mußt denselben nur immer recht ordentlich aufhangen nach dem Gebrauch.“138

Die Briefe Wilhelm Colsman-Bredts an seine Eltern zeugen wiederum davon, dass er sich bemühte, als leistungsbereiter, gut integrierter und kulturell interessierter Schüler wahrgenommen zu werden: „Liebe Eltern! […] Gestern erhielt ich das Zeugniß Nr. 2a, es ist nicht so gut wie die vorigen, aber das was ich am nächsten Sonntag bekommen werde, wird hoffentlich wieder Nr. 1b sein. Mit meinem Musikspielen geht es im Ganzen gut und da ich sehr schöne Stücke habe, so bekomme ich mit der Zeit auch Freude daran. Von Herrn und Frau Kortegarn herzliche Grüße. […] Das Concert in welchem ich war, hat mich sehr interessiert, es wurden auch mehrere arabische Stücke aufgeführt […] Noch eine Bitte habe ich an Euch zu richten. Ich habe hier so sehr wenig oder gar nichts zu lesen, da Ihr ‚das Tagebuch eines Arztes‘ doch wohl nicht gebraucht, wollt Ihr dann so gut sein, und mir einige Bände schicken, wenn ich sie gelesen habe, so schicke ich sie Euch zurück, oder bewahre sie bis Ostern. Sie haben mir so sehr gefallen.“139

Konflikte sind in keinem Brief der Eltern oder des Sohnes auffindbar. Vielmehr wurde die Familie sowohl in den Eltern- als auch in den Sohnesbriefen als Raum emotionaler, harmonischer Nahbeziehungen inszeniert und präsentiert.140 Dieser Raum war gleichzeitig hierarchisch strukturiert. Für autonome 138

Archiv WHC, Sign. 52, Emilie Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 21. Oktober 1845. Zum Weihnachtsfest 1845, das Wilhelm Colsman-Bredt im Internat verbringen musste, schrieb ihm der Vater in vergleichbarer Weise: „Der Zweck dieser Zeilen ist, deine Freude an dem lieblichen Geburtsfest unseres Heilandes, auch durch ein Zeichen meiner Hand, wo möglich zu vermehren […]. Mögen sie dir einen Beweis geben, daß die Wünsche eines Kindes um so gewisser Anklang finden, im Herzen der Eltern, als diese wahrnehmen, daß ihre Ermahnungen u. Bitten auch das Herz d. Kindes erfüllen u. beleben. […] In Liebe dein Vater.“ Archiv WHC, Sign. 52, Johann Wilhelm Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 21. Dezember 1845. 139 Archiv WHC, Sign. 39, Wilhelm Colsman-Bredt an seine Eltern, 26. Januar 1846. 140 Zu den vergleichbar kontrastreichen Beziehungen zwischen Schule und Familie hinsichtlich Emotionalität im viktorianischen England vgl. Tosh, A Man’s Place, S. 82ff., S. 117f. Tosh beschreibt ebenfalls liebevolle Vater-Sohn-Beziehungen und davon stark differente, auf Distanz bedachte Schulbeziehungen in den Public Schools zwischen Erziehern und Zöglingen. Diese seien ein „crash course in manliness“ gewesen, „energy, will, straightforwardness and courage“ (S. 111) seien die wichtigsten Elemente zur Definition von Männlichkeit gewesen und insbesondere durch die Public Schools als rein männlichem Raum zu persönlichkeitsprägenden Sozialisationserfahrungen geworden.

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Positionierungen des Sohnes war hier ebenso wenig Platz wie im Internat. Die Formel ‚Familienvater, Landesvater, Gottvater‘141 trifft auf diese Zusammenhänge durchaus zu, und Internat und Familie erzogen parallel zur Akzeptanz obrigkeitlicher, autoritärer Strukturen in Staat und Gesellschaft. Hier gab es eine Matrix der Autorität, die unterschiedliche Institutionen und Instanzen gleichermaßen prägte. Als soziale Figuration eines alltäglichen Miteinander-Lebens existierte die Familie für den Sohn allerdings nicht. Hier wurde ein ‚doing family‘ betrieben,142 das nicht die Herstellung und Gestaltung faktischen Zusammenlebens fokussierte, sondern die Familie als virtuelle, gleichwohl bindende Gemeinschaft konstituierte. Die „Familienbriefnetze“,143 die beispielsweise auch für die Familien Theodor Fontanes oder Thomas Manns belegt sind, hielten auch bei Abwesenheit den Briefempfänger im Bezugssystem der Familie fest und präsentierten zugleich die von der Familie geschätzten Handlungsorientierungen und Verhaltensweisen. Da es sich bei dem Kortegarnschen Handlungs-Institut um eine Privatschule handelte, welche durch die Eltern finanziert wurde, waren der Direktor und die Lehrer diesen über den Erfolg oder Misserfolg ihrer Kinder rechenschaftspflichtig. Gleichzeitig – und hier zeigt sich die soziale Bedeutung der militärischen Einjährigenberechtigung – war allein die Schule in der Lage, die Söhne adäquat auf die entsprechende Prüfung zur Einjährig-Freiwilligen-Berechtigung vorzubereiten. Da das Kortegarnsche Institut die Berechtigung zur Erteilung der Einjährig-Freiwilligen-Qualifikation erst 1867 erhielt,144 musste Wilhelm Colsman-Bredt seine Prüfung vor einer Departements-Prüfungskommission ablegen, auf die er aber durch die Schule vorbereitet wurde. Dadurch besaß die Lehrerschaft ein institutionelles kulturelles Kapital, das die Eltern selbst nicht aufwiesen und das sie in diesem Fall durch ökonomisches Kapital (Schulgeld) ausgleichen mussten. Damit standen die Lehrer und Direktoren von Privatinstituten aber auch unter stärkerem Erfolgszwang als die Lehrer und Direktoren staatlicher öffentlicher Schulen, die das Schulversagen der Söhne gegebenenfalls leichter von sich weisen konnten, weil sie sich nicht in einer direkten Abhängigkeit von den Eltern befanden. Gleichwohl betrafen, wie zu Beginn des

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Wehler benennt „eine Linie von einem anthropomorphen Gottvater über den fürstlichen Landesvater und paternalistischen Unternehmer bis zum Familienvater“. Wehler, Das Deutsche Kaiserreich, S. 124. Wehler bezieht dies allerdings auf die Sozialisation im Kaiserreich, für die das aber in den hier analysierten Fällen viel weniger zutrifft als auf die 1840er und 1850er Jahre. 142 Vgl. Groppe, ‚Doing Family‘. Zu vergleichbaren Konstellationen schon um 1800 in der Unternehmerfamilie vgl. Groppe, Der Geist des Unternehmertums, S. 410ff. 143 Dieterle, Theodor Fontane und Martha Fontane, S. 1. 144 Vgl. Dr. Kortegarn’sches Lehr-Institut zu Bonn, Verleihung der Einjährig-FreiwilligenBerechtigung auf Widerruf, in: Centralblatt für die gesammte Unterrichts-Verwaltung in Preußen, 1867, S. 162f.

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Kapitels ausgeführt, schlechte Schülerleistungen diese Schulen mittelbar dann doch, indem Eltern ihre Söhne als Reaktion auf andere Schulen ummeldeten. Durch die Einjährig-Freiwilligen-Berechtigung war das institutionelle kulturelle Kapital der Lehrerschaft an deutschen höheren Schulen dazu angetan, ihr Ansehen in den Augen des Wirtschaftsbürgertums deutlich aufzuwerten. Diese Wertschätzung stieg im Verlauf des 19. Jahrhunderts kontinuierlich weiter an, wenn auch die Lehrer niemals zu den engeren sozialen Verkehrskreisen der Familie gehörten. So schrieb Wilhelm Colsman-Bredt an seinen fünfzehnjährigen Sohn in der Schülerpension in Schwelm: „Wann wird Herr Director denn wohl mal nach Langenberg kommen? ist es vielleicht angezeigt daß wir ihn und seine Frau mal an einem Sonntag zu Tisch bitten? oder gehen beide nicht zusammen aus?“145 In den englischen Public Schools gab es eine solche Anerkennung der Lehrer durch die Eltern dagegen nicht; niemals wären sie in den Kreisen der vermögenden bürgerlichen und adligen Elternschaft zu Tisch gebeten worden. Da es in England keine Einrichtung wie die Einjährig-Freiwilligen-Berechtigung gab und auch kein staatliches Berechtigungssystem mit durch staatliche Bildungspatente geregelten Übergängen in Berufslaufbahnen, blieben die Lehrer der Public Schools immer die Angestellten der Eltern.146 Zugleich waren die Lehrer der deutschen Privatinstitute ebenso wie die Lehrer der englischen Public Schools nicht nur Fachlehrer, sondern auch erziehende und betreuende Pädagogen. Den Briefen der Eltern Colsman nach zu urteilen waren ihre Erziehungsziele und die des Instituts aber anders als zwischen den Public Schools und der britischen Elternschaft nicht different. In den Public Schools sollten männlich konnotierte Härte, Sport und Wettkampf sowie eine darauf ausgerichtete Peer Group-Sozialisation die ‚boys‘ mit entsprechenden Normen des ‚toughening‘ und lebenslangen Gruppenloyalitäten ausstatten und die Herkunftsfamilien als Erziehungs- und Sozialisationsinstanz in den Hintergrund treten lassen. Von den adligen und bürgerlichen Eltern in England gewünscht, sollten an den Public Schools „public school men“ (John Honey) sozialisiert werden, deren Habitus die englische Oberschicht mit jedem Sprechakt und mit jeder Interaktion von anderen Schichten abgrenzte und untereinander verband. Dagegen agierten die deutschen privaten Internate als verlängerter Arm der Eltern.147 Die Erziehung war an das Institut nur delegiert worden und wurde von den Eltern durch Briefwechsel mit dem Direktor und mit dem eigenen 145 146

Archiv WHC, Sign. 23, Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 20. Februar 1878. Vgl. Lawson/Silver, A Social History of Education in England, S. 338f.; Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben, S. 365f. 147 Anders war dies nur bei den reformpädagogisch ausgerichteten Landerziehungsheimen im späten Kaiserreich. In ihrer Organisationsform vieles aus den englischen Public Schools übernehmend, inszenierten sie sich im Kontext der Lebensreformbewegung um die Jahrhundertwende als pädagogische Gegenwelten und Erlösungsorte. Vgl. zu den daraus resultierenden Konflikten mit den Eltern Dudek, „Versuchsacker für eine neue Jugend“; Groppe, Die Macht der Bildung, S. 381ff.; zur Sakralisierung der Pädagogik in den Landerziehungsheimen vgl. Baader, Erziehung als Erlösung.

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Kind kontrolliert. Militärisch straff geführt, wurden den Schülern daher im Kortegarnschen Handlungs-Institut vor allem bürgerliche Verhaltensnormen und Tugenden neben dem Unterricht pädagogisch vermittelt: Ordnung, Sauberkeit, Sparsamkeit, Fleiß, Stetigkeit, Ausdauer, Bescheidenheit und Arbeitseifer. Nichts anderes forderten auch die Eltern vom Sohn in ihren Briefen ein: „Daß du neulich durch deinen Fleiß eine Auszeichnung erhielst war uns recht erfreulich. Unserer Hoffnung nach, gibt der treue Gott seinen Seegen, daß noch einmal, recht etwas Tüchtiges aus dir wird. Sei nur ja anspruchslos u. bescheiden […]. Einliegend ein Neujahrs Geschenk für Dich.“148

Wissen und Arbeit waren die von der Schule propagierten Werte. Nützliche Kenntnisse, eine generelle Berufstüchtigkeit und die Fähigkeit zu einer methodischen Lebensführung (Zielfokussierung, Planung, Kontrolle, rationales Handeln, Askese in den persönlichen Lebensumständen usw.) sollten in der Schule ebenfalls erworben werden. Die Gefühlserziehung zu Empathie, Solidarität und liebevoller Fürsorge wurde den Eltern überlassen. Persönliche Selbstständigkeit als klassischer bürgerlicher Wert, der jenseits ökonomischer, rechtlicher oder politischer Bedeutungen insbesondere innere Freiheit und geistige Urteilsfähigkeit bedeutete, wurde durch die Schule zudem hauptsächlich als Selbstdisziplin in Bezug auf die schulischen Werte und Normen interpretiert.149 Eine Entwicklung individueller Interessen und Ziele stand dagegen nirgends im Fokus, ebenso wenig wie eine individuell entwickelte Alltagsgestaltung. Von einer konkreten Einübung des bürgerlichen Lebensmodells der Balance, das auf die selbsttätige Integration unterschiedlicher sozialer Felder in einem individuellen Lebensentwurf setzte, war im Prüfungsplan und in der Unterrichts- und Erziehungsordnung nichts zu spüren. Die Präsentation der Schulerziehung und der schulischen Sozialisationskontexte war dort nicht von liberalen, sondern von autoritären Prinzipien getragen. Als überwiegend männliche Sozialisationsinstanz vermittelte das Internat auch Männlichkeitsideale und männliche Rollenkonzepte. Darin spielten zunächst stetige Arbeit und persönliche Askese eine zentrale Rolle. Integration in die Schülergemeinschaft und Gehorsam gegenüber Lehrern und Erziehern waren ebenso wichtig wie die Einübung von sittsamem Verhalten und persönlicher Bescheidenheit statt „herrischem Wesen“, „Wildheit“ und „Rohheit“.150 Im Kortegarnschen Institut wurde ein männliches Persönlichkeitskonzept entwickelt, das eine gleichsam ‚soldatische Haltung‘ zum Leben in steter Pflichterfüllung propagierte. Ein Mann sollte dementsprechend mit großer Zurückhaltung und stets selbstbeherrscht auftreten sowie kühl und rational seine Entscheidungen treffen. Persönliche Wünsche und Bedürfnisse sollten niemals den 148

Archiv WHC, Sign. 52, Emilie Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 29. Dezember 1845. 149 Vgl. Prüfungs-Plan des Kortegarn’schen Handlungs-Instituts, S. 40ff.; zu diesem Komplex vgl. insbesondere Hettling, Die persönliche Selbständigkeit, S. 59ff. 150 Prüfungs-Plan des Kortegarn’schen Handlungs-Instituts, S. 5; vgl. Kortegarn, Unterrichts- und Erziehungsordnung, S. 60f.

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Dienst an der Sache – Beruf, Politik, gesellschaftlich-karitatives Engagement usw. – beeinträchtigen. Bei Wilhelm Colsman-Bredt zeigte sich dieses Persönlichkeitsideal im Erwachsenenalter deutlich in seinen Weltdeutungen und Selbstpräsentationen als Unternehmer, als Lokalpolitiker und als Mitglied und Vorstand in religiös-karitativen Stiftungen. Er setzte die schwärmerisch-erweckungsbewegte Emotionalität seiner Eltern nicht fort,151 sondern entwickelte ein davon abgesetztes Persönlichkeitsprofil, ohne dass dies aber zu erkennbaren Konflikten mit den Eltern geführt hätte. Im Gegenteil wurden die Beziehungen zwischen Eltern und Sohn von beiden Seiten lebenslang als eng und harmonisch dargestellt.152 Mit keinem Wort nahm der Prüfungsplan Bezug auf die soziale Vorrangstellung der Schüler als Söhne vermögender Kaufleute und Fabrikanten.153 Vielmehr waren es im Kortegarnschen Internat allgemeine bürgerliche Verhaltensnormen und Werte, die den Jungen vermittelt wurden, indes verbunden mit einem strikten militärischgleichen Drill. Allerdings prägte ein solcher Drill auch die englischen Public Schools, dort bis hin zu Exerzier- und Schießübungen. Adlige Werte und Normen und ein entsprechender Lebensstil kamen im Kontext des Kortegarnschen Internats dagegen nicht vor; vielmehr prägte eine asketisch interpretierte bürgerliche Welt dessen Pädagogik. Freilich stand dieser Anspruch im Gegensatz zu der erwartbaren Karriere und zum familialen Vermögenshintergrund der Schüler. Vergleicht man die Internatspädagogik, so zeigen sich zwischen den englischen Public Schools und dem deutschen Privatinstitut erhebliche Unterschiede. So war zunächst der schulstrukturelle Kontext völlig anders. Während die Public Schools traditionell die Erziehung für die englische Oberschicht leisteten, gab es in den deutschen Staaten keine vergleichbaren Einrichtungen. Kadettenanstalten waren beispielsweise nur vereinzelt vorhanden und blieben ein leistungsreduziertes Refugium des Adels.154 Die Systembildung des deutschen Bildungssystems ab dem späten 18. Jahrhundert besaß dann eine durch bürgerliche Werte und Normen geprägte politische und gesellschaftliche Agenda. Das Berechtigungssystem, die Verknüpfung von Berufspositionen mit Schul- und Hochschulabschlüssen, erzwang im 19. Jahrhundert auch die Integration großer Teile des deutschen Adels in das Bildungssystem und eine zumindest teilweise Internalisierung bürgerlicher Werte und Normen. Die in der neueren historischen Forschung erfolgte Revision der These von der Feudalisierung des deutschen Bürgertums und einer konträr dazu stehenden selbstbe-

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Vgl. dazu Groppe, Der Geist des Unternehmertums, S. 479ff. Vgl. dazu Kapitel II über Eheschließungen und Ehebeziehungen, Teilkapitel 3.1. Nur die Unterrichts- und Erziehungsordnung erwähnte die Herkunft der Schüler an einer Stelle (S. 60), um auf die zielgerichtete Bildung der Zöglinge für den Kaufmannsund Industriellenstand hinzuweisen. 154 Vgl. als Überblick Schmitz, Militärische Jugenderziehung; auch Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2, S. 220.

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wusst-liberalen Bürgerlichkeit des englischen Bürgertums kann durch bildungshistorische Analysen weiter gestützt werden.

4.3 Away from home: Herkunfts- und Ersatzfamilien mit Disziplinproblemen in den 1870er und 1880er Jahren Paul Colsman, der älteste Sohn Wilhelm Colsman-Bredts und Adele Colsmans, war zeitlebens weder ein guter noch ein fleißiger Schüler. Seine mangelnden Schulleistungen waren ständiges Gesprächsthema der Eltern. Besonders den Vater regten die schlechten Leistungen des Sohnes schon in dessen letztem Schuljahr in der Volksschule auf: „Paul habe [ich] ein Wenig das Gewissen geschärft, er wußte von Geschichte gar Nichts! fürchterlich dumm antwortete er.“155 Dagegen wies seine Frau beschwichtigend darauf hin, dass die Leistungen mit der Zeit schon besser würden und berichtete zwei Jahre später, wegen der doch anhaltend schlechten Schulleistungen ihres Sohnes, über ein dennoch beruhigendes Gespräch mit dem Direktor: „Diesen Morgen sprach ich nach der Kirche mit Herr Dr. Topp, es schien mir, daß man im allgemeinen doch mit Paul zufrieden ist, er wird in der dritten Classe bleiben, nur bat mich Dr. Topp auch, ihn doch ganz allein arbeiten zu lassen, damit er ganz selbständig würde u. sich nicht immer auf eine Stütze verließe. Ich sagte ihm, daß wir das auch für das Beste hielten, u. will ich mich denn von allem Nachsehen enthalten, es ist schließlich am besten.“156

Auf die Forderung des Schulleiters, den Sohn doch ohne elterliche Hilfe selbstständig für die Schule arbeiten zu lassen, antwortete Wilhelm Colsman-Bredt, dies indirekt begrüßend, mit einem Brief aus London, in dem er die Notwendigkeit von Anstrengung und Wissenserwerb für eine erfolgreiche bürgerliche Lebensführung betonte: „Daß Paul fleißig ist und auch zuweilen einen Lobstrich bekommt freut mich sehr, wenn er hier bei mir wäre und all das Arbeiten und Treiben sähe würde er leicht begreifen wie nöthig es ist tüchtig zu lernen, sonst geht es nicht;“157 Dennoch blieb Paul ein schulisches Sorgenkind: „Paul ist in der lateinischen Stunde, ich hoffe er bekommt jetzt ein ordentliches Zeugniß, im Ganzen glaube ich nicht, daß er sich viel gebessert hat, u. denke auch immer, es wird noch viel Zeit darüber hin gehen, bis er uns keine Sorge mehr macht.“158 Der Direktor der Höheren Bürgerschule, die Paul Colsman am Heimatort besuchte, ließ es sich auch nicht nehmen, den an der Schule chro155 156 157 158

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FFA, B4g58, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 26. Dezember 1870. FFA, B4g58, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 12. Mai 1872. FFA, B4g58, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 15. Mai 1872. FFA, B4g58, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 24. Mai 1873. Vgl. auch: „Von Paul empfing ich auch einen Brief, über seine Schulfreuden schreibt er Nichts, Herr Director wolle uns sehr bald besuchen! ich hoffe nur, daß Alles in Ordnung ist und nicht zu Ostern auf einmal das ‚dicke Ende‘ zu Tage kommt.“ FFA, B4g58, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 17. Februar 1878.

nisch desinteressierten Vierzehnjährigen ironisch auf die Bedeutung des Schulabschlusses und der Einjährig-Freiwilligen Berechtigung hinzuweisen: „D[r.] Topp war mit Paul im Ganzen sehr zufrieden, nur das Auswendiglernen nicht, er, Topp ist ein komischer Mann, so hatte er neulich als das neue Gesetz welches den einjährigen Consens erschwert,159 in der Zeitung stand, es den Jungens vorgelesen, sie müssen jetzt in Prima gesessen haben, und Paul gesagt, er würde denn wohl bis dahin schon verheirathet sein! wenn er nicht besser auswendig lerne! das würde dann schön klingen: Frau Secundaner zu seiner Frau zu sagen! Das hatte Paul sehr verdrossen.“160

Elternhaus und Schule arbeiteten gemeinsam an der Erzeugung guter Schulleistungen; der Schulleiter aber verhielt sich dem Brief nach zu urteilen distanziert, argumentierte aus der Perspektive der Anforderungen des staatlichen Berechtigungssystems und verwies auf die mit der Schulleistung verbundenen Fragen des sozialen Status. Im Bericht der Mutter übernahm er auch nicht die pädagogische Verantwortung für die mangelnde Schulleistung, sondern delegierte diese an die Familie und den Schüler selbst. Auch der jüngere Sohn Johannes war kein glänzender Schüler und bereitete den Eltern deswegen Sorgen. Wilhelm Colsman-Bredt ärgerte sich in einem Brief an seine Frau angesichts der schlechten Schulleistungen über die aus seiner Sicht mangelnde pädagogische Unterstützung der Lehrer, die zum Sitzenbleiben geraten hatten, nahm deren Rat aber dennoch ernst: „Ach, wenn wir doch die Kerle mal nicht mehr nöthig haben. Ich meine nur wir sollten uns schicken, Hans ist noch nicht alt & wenn er jetzt mal wieder das ganze pensum durchmacht profitirt er vielleicht mehr & es kommt ja schließlich doch nur darauf an, daß er etwas lernt, sei es nun in III, II oder I; wenn ich ihm während der Ferien einige Stunden Latein bei Bertin geben lasse, um wenigstens die Fundamente sicherer nochmal zu lernen! Den Jungen jetzt schon in andere Hände zu geben, wird mir auch schwer, dazu weiß ich so recht auch keine richtige Adresse, Schwelm ist bei den vielen Jungens auch jetzt nicht recht etwas? oder meinst Du ich sollte mich mal umhören?“161

Die Eltern reagierten dem Zehnjährigen gegenüber mit Ermahnungen und notfalls mit der Einschränkung von Freizeitgestaltungen; nirgends in den Briefen finden sich indes Hinweise auf eine Erziehung mit Körperstrafen.162 So berichtete die Adele Colsman ihrem Mann über die Erziehung des jüngsten Sohns: „Ueber Hans ist in der Schule wieder geklagt worden, ich hab ihn ernstlich zurechtgesetzt […] u. soll einstweilen mal kein Freund mehr in den Garten. Es ist ein schweres Ding, bis die Kinder mal vernünftig sind u. auf dem rechten Weg!“163 159

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In der deutschen Wehrordnung von 1875 war festgelegt worden, dass bei siebenjährigen Höheren Bürgerschulen ein erfolgreicher, durch Prüfung nachgewiesener Besuch der ersten Klasse erforderlich war. Vgl. Müller/Zymek, Sozialgeschichte und Statistik des Schulsystems, S. 23f. FFA, B4g58, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 24. Juli 1875. FFA, B4g59, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 5. April 1882. Vgl. Kapitel III über frühkindliche Erziehung und Sozialisation. FFA, B4g58, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 25. November 1878.

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Wilhelm Colsman-Bredt ergänzte als Vater die Pädagogik seiner Frau gegenüber dem Sohn durch eine weitere klassische Strafe in der Familie, nämlich den Entzug von Geschenken und den Ausschluss von der Teilnahme an gemeinsamen Aktivitäten (meist nur deren Androhung). Der Brief war zudem so abgefasst, dass er als wörtliche Übermittlung an den zehnjährigen Sohn weitergegeben werden konnte: „[…] daß Hans wieder nicht fleißig, thut mir sehr leid, für die Anderen habe [ich] eine Kleinigkeit gekauft, er wird leer ausgehen, denn für faule Jungens ist hier in England, wo alles von Morgens bis Abends fleißig, Nichts zu finden & wird das Christkindchen auch sicher in gleicher Weise an ihm vorbei gehen, wenn bis dahin noch eine weitere Klage kommt, das kannst Du ihm nur sagen!“164

Ab den 1870er Jahren wurden in den Briefen wiederholt England und seine Industrie als Vorbild und Ansporn für die jüngere Generation inszeniert. Wer später als Unternehmer – so lautete die implizite Botschaft – mithalten wollte, musste sich an England orientieren und ‚englische‘ Lebensformen und Verhaltensweisen entwickeln, also fleißig und arbeitsam sein. Ab dem Alter von fünfzehn Jahren besuchte der älteste Sohn Paul für drei Jahre (1876–1879) die Höhere Bürgerschule in Schwelm. 1879 erhielt er dort das „Militärzeugnis“, d. h. den wissenschaftlichen Befähigungsnachweis für den einjährig-freiwilligen Militärdienst.165 Im Unterschied zur Höheren Bürgerschule in Langenberg war die Schwelmer Höhere Bürgerschule bereits seit 1871 voll ausgebaut und konnte das ‚Einjährige‘ vergeben.166 Mit dem Besuch der Höheren Bürgerschule in Schwelm, einem Ort, der nur 25 Kilometer von seinem Heimatort entfernt lag, verließ Paul Colsman das Elternhaus und lebte für drei Jahre beim Direktor der Schule in Pension. Die Schule war klein; sie war einzügig und besaß in den späten 1870er Jahren insgesamt nur rund 170 Schüler. In der obersten Klasse, der Sekunda, befanden sich 1879 lediglich zwölf Schüler.167 Im Schuljahr 1874/75 waren etwa ein Drittel der gesamten Schülerschaft Auswärtige, insbesondere aus Westfalen und dem Bergischen Land, wobei die auswärtigen Schüler in den beiden oberen Klassen Tertia und Sekunda

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FFA, B4g58, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 28. November 1878. Vgl. Realprogymnasium zu Schwelm, Jahresbericht 1883/84, Verzeichnis der abgegangenen Schüler seit 1867, S. 7. 166 Vgl. zur Aufhebung der Restriktionen bezüglich der Vergabe von Militärberechtigungen an Höheren Bürgerschulen Herrmann, Sozialgeschichte des Bildungswesens als Regionalanalyse, S. 315. 1869 besaß bereits die Hälfte der Höheren Bürgerschulen in Preußen die Berechtigung zur Prüfung für das ‚Einjährige‘. Vgl. auch Realprogymnasium zu Schwelm, Jahresbericht 1883/84, S. 3. 167 Vgl. Realprogymnasium zu Schwelm, Jahresbericht 1883/84, S. 5. Zur ‚Einjährigenfunktion‘ solcher höheren Schulen vgl. Herrmann, Sozialgeschichte des Bildungswesens als Regionalanalyse, S. 344ff.

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(jeweils zweijährig, als Unter- und Obertertia und als Unter- und Obersekunda) sogar die Hälfte der Schülerzahl ausmachten.168 In der Phase des weiterführenden auswärtigen Schulbesuchs und der darauf folgenden Fachausbildung waren es dann vor allem die Väter, die durch Briefe erzieherisch tätig wurden,169 wobei Beratungen mit der Ehefrau diesen Briefen regelmäßig vorausliefen. Die Entscheidung der Eltern, ihren ältesten Sohn Paul auf die Höhere Bürgerschule nach Schwelm zu schicken, hatte wohl drei Gründe: Zunächst durfte die Schule den wissenschaftlichen Befähigungsnachweis für die wichtige Einjährig-Freiwilligen-Berechtigung durch eigene Prüfungen erteilen. Wenn eine Schule diese Berechtigung nicht besaß, musste sich der Bewerber nach der Wehrordnung von 1875 einer Prüfungskommission stellen, der neben Lehrern örtlicher höherer Schulen auch Offiziere und Zivilbeamte angehörten.170 Dass solche Prüfungen mit fremden Prüfern tendenziell riskanter waren als die Prüfungen an der eigenen Schule, liegt auf der Hand. Darüber hinaus ermöglichte die Schule die Sozialisation und Erziehung außerhalb des Elternhauses bei relativer räumlicher Nähe, so dass eine begleitende elterliche Kontrolle, falls erforderlich, möglich war. Auch in den vergleichbar nahen Orten Barmen und Elberfeld wäre eine Pensionsunterbringung möglich gewesen, wie sie zum Beispiel Paul Colsmans Onkel Emil Colsman (geb. 1848) und Peter Lucas Colsman (geb. 1854) in Barmen auch wahrgenommen hatten. Schulen mit Einjährig-Freiwilligen-Berechtigung hätte es dort ebenfalls gegeben.171 Die Schwelmer Schule wurde aber von einem Direktor namens Eduard Köttgen geleitet, der mit der gleichnamigen Unternehmerfamilie in Langenberg verwandt war, so dass dies möglicherweise den Ausschlag bei der Entscheidung für die Schule gab.172 Die Lebensqualität der Schüler in den Pensionen variierte, je nach Zahlungsmöglichkeit der Eltern. So waren Unterbringungen bei Witwen, Handwerkern oder Volksschullehrern in der Regel deutlich günstiger als bei den Lehrern oder Direktoren der höheren Schulen.173 Ein Zimmer im Haus des Schuldirek168

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In der Tertia waren es zwölf Einheimische und 19 Auswärtige, in der Sekunda elf Einheimische und sieben Auswärtige. Vgl. Höhere Bürgerschule zu Schwelm, Jahresbericht 1874/75, S. 11. Im Jahresbericht 1883/84 waren es neun auswärtige Schüler von insgesamt 13 in der Sekunda und 14 auswärtige Schüler von 29 in der Tertia. Vgl. Realprogymnasium zu Schwelm, Jahresbericht 1883/84, S. 15. Vgl. Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben, S. 191. Vgl. Müller/Zymek, Sozialgeschichte und Statistik des Schulsystems, S. 24. Sowohl in Elberfeld als auch in Barmen gab es voll berechtigte Realschulen 1. Ordnung, die auch die Berechtigung für den einjährig-freiwilligen Militärdienst erteilen konnten. Vgl. Unterrichts- und Prüfungs-Ordnung der Realschulen und der höheren Bürgerschulen 1859, S. 604. Vgl. zu Köttgen Tobien, Eduard Köttgen. Rektor des Realprogymnasiums zu Schwelm. Der Gymnasiallehrer Robert Pilger schilderte in seinen anklagenden Darlegungen über die Schülerverbindungen auch die Problematik vieler Schülerpensionen: „Hier hört denn in der Mehrzahl der Fälle jede eigentliche Erziehung auf. Diejenigen, welche Pensionäre nehmen, thun es zum allergrößten Teile natürlich des Gelderwerbs wegen und glauben im allgemeinen ihre Schuldigkeit erfüllt zu haben, wenn sie ihren Pflegebefoh-

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tors, wie es die Colsman-Söhne in der Regel bewohnten, war kostspielig. Dennoch hielten die Schülerpensionen nicht immer, was sich die Eltern nach der Einholung von Referenzen und nach eigener Besichtigung versprochen hatten. So schrieb eine Pensionswirtin an Sophie Colsman über die Unterbringung des Sohnes Eduard (1842–1913), sich gegen eine elterliche Kritik wehrend: „Es thut mir sehr leid, daß Sie sich so viel Sorgen um Ihren lieben Eduard gemacht haben […]. Die Wände sind wirklich trocken, denn z. B. hatte ich jetzt gerade auf Eduards Schlafstube einen großen Schrank wegnehmen lassen, und auch keine Spur ist daran an der Wand zu merken. […] Das Schlafzimmer der Knaben ist überdem nach Westen, während das unsere nach hinten heraus, den bösen Winden ausgesetzt ist. […] Sie können versichert sein, und sind es ja auch gewiß, daß wenn wir irgend welche Gefahr für die Gesundheit Ihres, und unseres Kindes sähen, wir ja gewiß Alles verwenden würden, diese Gefahr zu beseitigen; es ist aber wirklich nicht die geringste und deshalb bitte ich Sie herzlich sich zu beruhigen; wünschen Sie indeß durchaus eine Veränderung, so müßte ich Eduards Bett auf seine Wohnstube setzen lassen, wozu ich aber aus mancherlei Ursachen nicht rathen möchte. […] Meines Mannes Brief hat Ihnen über unseren neuen Hausgenossen Mittheilung gemacht […]. Er hat in den mancherlei Anstalten wo er gewesen, zwar wenig gelernt, aber auch keine besonderen Unarten mitgebracht, wie der Herr Director u. Frau Fulda über ihn berichten. Er ist übrigens auch erst 15 Jahre alt u. kann also noch einige Jahre der Schule widmen.“174

Jenseits des Beschwerde der Mutter macht der Brief deutlich, dass der Sohn mit mindestens einem weiteren Schüler bei den Pensionseltern lebte, mit diesem einen eigenen Arbeits- und Aufenthaltsraum nutzen konnte und eine davon getrennte Schlafstube für die Pensionäre vorhanden war. Gleichzeitig waren sie einbezogen in das Familienleben der Pensionseltern.175 lenen eine materiell ausreichende Behandlung angedeihen lassen und etwa noch darauf halten, daß sie gewisse Stunden über den Büchern zubringen. Es wäre auch unbillig, mehr von ihnen zu verlangen; sie können überhaupt nicht mehr geben, denn es sind zum größten Teil ärmere, wenig gebildete Handwerker, Subalternbeamte, verwitwete oder unverheiratete Frauen ähnlichen Standes. Das ist die häusliche Umgebung, in der viele Gymnasiasten vom zehnten oder zwölften bis zwanzigsten Jahre heranwachsen – eine geistig dumpfe, matte Atmosphäre.“ Pilger, Über das Verbindungswesen, S. 77. Auf dem Gütersloher Gymnasium waren die bis zu zwei Drittel auswärtiger Schüler nach der Erinnerung Peter Conzes bei den Gymnasiallehrern, den Pfarrern und bei Bürgern der Stadt untergebracht. Vgl. Conze, Jugenderinnerungen, S. 79ff. Der Dichter Stefan George (1868–1933), Sohn eines Weinhändlers aus Bingen am Rhein, lebte von 1882 bis 1888 volle sechs Jahre lang als Pensionsschüler bei einem Volksschullehrer in Darmstadt, um das dortige humanistische Gymnasium zu besuchen. Er bewohnte in der Schülerpension eine eigene ‚Bude‘, empfing dort Besuche von Freunden, besuchte Wirtshäuser und ging mit Schulkameraden in die Tanzstunde. Vgl. Rouge, Schulerinnerungen an den Dichter Stefan George, S. 22ff.; Groppe, Die Macht der Bildung, S. 122f.; Kauffmann, Das Leben Stefan Georges, S. 13. 174 Archiv Neuborn, Sign. A 10, Elfriede Kr. an Sophie Colsman aus Duisburg, 7. Januar o. J., etwa 1857. 175 Ähnlich schilderte Peter Conze seine Schülerpension beim örtlichen evangelischen Pfarrer in den 1870er Jahren: „Die beiden ersten Jahre teilte ich mein kleines Arbeitsund Schlafzimmer mit Walter Burkhardt, dem 2 Jahre jüngeren Sohn eines Pfarrers aus

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Auch Paul Colsman lebte in seiner Pensionszeit mit mehreren Schülern zusammen, allerdings tat er dies beim Direktor der Schule. Ein angeschlossenes Internat gab es an der Höheren Bürgerschule in Schwelm nicht; alle auswärtigen Schüler lebten privat in Schülerpensionen am Ort. Seit den 1850er Jahren besuchten die Jungen der Unternehmerfamilie generell keine auswärtigen ‚Privatinstitute‘ mit Internatsbetrieb mehr wie noch Wilhelm Colsman-Bredt in den 1840er Jahren, sondern lebten in von Lehrern betriebenen Schülerpensionen und besuchten durchweg staatliche höhere Schulen. Paul Colsman besaß zudem ein Einzelzimmer im Haus des Direktors. Mit ihm, der selbst Obertertianer war, lebten noch ein älterer Sekundaner aus Altena und ein jüngerer Quintaner aus Wülfrath beim Direktor, dessen Frau und deren Kindern.176 Im Kaiserreich achteten die Eltern Colsman streng darauf, dass die Söhne ein eigenes Zimmer bewohnten, in dem sie lernen und arbeiten konnten. Den Briefen nach zu urteilen legten die Eltern ab den 1850er Jahren zudem Wert darauf, dass ihre Söhne in Ersatzfamilien untergebracht wurden, die den Erziehungs- und Sozialisationsprozessen in der Herkunftsfamilie nahekamen. Dabei wurden generell Familien bevorzugt, die sich selbst als christlich definierten und damit eine Lebensform angaben, die für moralische Integrität bürgen sollte. Gleichwohl stellten die Eltern Bildungserfolge und Leistungsbereitschaft in den Vordergrund. Wie auch bei den Töchtern177 erzogen sie im Kaiserreich zwar mit dem Glauben, aber das Ziel war eine säkulare bürgerliche Lebensform, die im Lebensmodell der Balance ihr Ideal fand und in welcher der Glauben einen Ort, aber keine Lebensform bestimmende Zentralität besaß. Kirchgang, Bibellektüre und Gebet gehörten dazu, aber die Religiosität wurde als ein Feld der bürgerlichen Lebensform mit anderen Feldern (Familie, Beruf, Bildung und Wissen usw.) im Kaiserreich stärker als zuvor in ein individuell zu bestimmendes Verhältnis gesetzt und ausbalanciert. Dadurch wurde für Jungen und Mädchen im Sozialisations- und Erziehungsprozess die Entwicklung individueller Lebensideale mit stärkerer oder schwächerer Bedeutung des religiösen Glaubens möglich. Paul Colsman beschrieb in Briefen an seinen Freund Peter Conze (1860– 1939), Sohn des Langenberger Seidenfabrikanten Gottfried Conze und selbst seit 1875 auswärtiger Schüler am Gymnasium in Gütersloh,178 einer ursprünglich privaten evangelisch-pietistischen Stiftung,179 sowie an seine Geschwister

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Altena […].“ Später als Primaner bewohnte er die Schülerpension gemeinsam mit zwei jüngeren Grafensöhnen. Vgl. Conze, Jugenderinnerungen, S. 82, Zitat ebd. Vgl. Archiv WHC, Sign. 2, Paul Colsman an Peter Conze, 10. Mai 1877. Vgl. dazu Kapitel V über die Sozialisation der Mädchen. Peter Conze wurde nach Abitur und Jurastudium zunächst 1892 Landrat in Mülheim an der Ruhr, 1899 Geheimer Finanzrat im preußischen Finanzministerium in Berlin; 1906 wurde er Finanzreferent in der Kolonialabteilung im Auswärtigen Amt, 1907 Ministerialdirektor im neuen Reichskolonialamt, einer eigenständigen Dienststelle auf Reichsebene, 1911 dort Unterstaatssekretär. Vgl. Conze, Conze. Ein Familienbuch, S. 51. Das Gütersloher Gymnasium war 1851 dezidiert als private evangelische Bildungsanstalt mit dem Auftrag einer streng christlichen Erziehung gegründet und wenige Jahre

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sehr genau seinen Alltag an der Höheren Bürgerschule in Schwelm. Die Briefe eröffnen in Kombination mit den Briefen Paul Colsmans an seine Eltern einen detaillierten Blick in die nach Adressaten differenzierte Selbstpräsentation und in die Sozialisationskontexte des Jugendlichen. Die vielen Elternbriefe an Paul Colsman ergänzen den Bestand um deren verbale Erziehungsanstrengungen und ihren Versuch des Arrangements der Sozialisationskontexte. Bevor Paul Colsman ab Herbst 1876 die Höhere Bürgerschule in Schwelm besuchte, wurde er bereits im Spätsommer zur Eingewöhnung in die Schülerpension geschickt. Dass bei der Schulwahl nicht nur Erwägungen bezüglich des Erwerbs der Einjährigenberechtigung eine Rolle gespielt hatten, erklärte Wilhelm Colsman-Bredt in einem Brief an seine Frau Adele: „Paul schrieb ich, der gute Junge findet sich artig & einen sehr starken Unterschied zwischen Schwelm & Lgb [Langenberg, CG], aber die strenge Ordnung ist ihm nöthig.“180 Grundsätzlich goutierte der Vater die gegenüber dem Elternhaus geregeltere und strenger beaufsichtigte Lebensführung als für die Entwicklung des Sohnes hilfreich. Ab der Schulverschickung übernahm hauptsächlich der Vater den Briefverkehr mit dem Sohn. Er besuchte diesen auch wiederholt unangekündigt in der Schülerpension und schrieb, über das Ergebnis der Kontrollbesuche beruhigt, an seine Frau: „Deine vorgestrige Karte & Emils Teleg[ramm] fand ich gestern Abend als ich von einer Fahrt nach Schwelm heimkehrte, wo ich Paul um 4 überrascht und sichtlich erfreute, wir trafen es gut da K. [Köttgen, der Direktor, CG] ausgegangen und wir beiden bis 8 Uhr gemüthlich allein Herren der großen Räume waren. Der Eindruck den mir Paul machte, war ein sehr wohlthuender, in seinem Zimmer sehr ordentlich, sah gut aus, sprach auch bescheiden und scheint wirklich an seinem Platz, wenngleich die brüske Weise der Lehrer vielfach mit seinem doch etwas verzagtem Gemüth collidirt.“181

Dieses mehrstündige Vater-Sohn-Gespräch wird man sich in den Repräsentationsräumen der Villa des Direktors vorstellen müssen, in Gesellschaftsräumen später in eine öffentliche höhere Schule überführt worden. Es erhielt nach 1875 auch ein eigenes Alumnat, das allerdings für die vielen auswärtigen Schüler zu klein war. Vgl. Herrmann, Sozialgeschichte des Bildungswesens als Regionalanalyse, S. 302ff.; Herrmann/Müller, Regionale Differenzierung und gesamtstaatliche Systembildung, S. 32 und Tab. 1.1, Die Alumnate im Deutschen Reich, 1910, Staat Preußen, S. 50f. 180 FFA, B4g58, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 24. August 1876. Im September schrieb Paul Colsman auch einen Sohnesbrief an die Eltern, der diese erfreut haben dürfte: „Eine ganze Woche ist nun verfloßen, u. sie ist Gott sei Dank zu meiner größten Zufriedenheit dahin gegangen. Denn in der Schule ging Alles nach Wunsch, ich hatte in meinem Extemporale im Lateinischen nur 1 Fel. Im französischen wurde ich mit noch einem als der Director in die Klasse kam gelobt, weil wir allein unsere Präpositionen, Lec. 38 im Plötz, ordentlich gekonnt hatten, ich hatte dieses Lob mir allerdings schwer erkauft, denn bis man 2 ½ Seit. Regeln und Redensarten im Kopf sitzen hat, und zwar so, daß es Köttgen annehmen kann, das will was heißen.“ Archiv WHC, Sign. 168, Paul Colsman an die Eltern, 9. September 1876. 181 FFA, B4g58, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 20. November 1876.

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wie dem Herrenzimmer, dem Salon oder dem Speisezimmer.182 Ein solches Gespräch war in den Vater-Sohn-Beziehungen dieser Familie nicht singulär. Aus vielen Briefen geht hervor, dass Wilhelm Colsman-Bredt und Adele Colsman ihre Kinder auch während deren Schulzeit am Wohnort der Familie keineswegs nur zu den Mahlzeiten am Essenstisch sahen, sondern dass deren Erziehung und die mit den Kindern verbrachte Zeit einen großen Teil ihres Alltags in Anspruch nahmen.183 Wilhelm Colsman-Bredt stellte zufrieden fest, dass der Sohn sich während der Zeit in der Schülerpension gut entwickelte. Pädagogisch bemaß er dies an der Haltung des Sohns zur schulischen Arbeit und an seiner Anstrengungsbereitschaft, von der er hoffte, dass sie die Grundlage einer methodischen Lebensführung im Erwachsenenalter werden würde: „[…] von Paul hatte ich gestern auch einen Brief, ich will ihm gleich nochmal antworten, er scheint doch jetzt gut im Zuge und glaube ich, daß wir ihn dem dortigen Einfluß nicht zu bald entziehen dürfen und nicht daran denken sollten, ihn nach Erlangung des Zeugniß einer anderen Lehranstalt z. b. in der Schweiz anzuvertrauen, hat er sich mal einige Jahre an wirklich strammes Arbeiten gewöhnt, ist es ihm für’s Leben vielleicht Bedürfnis geworden.“184

Nicht nur die Mutter, sondern auch der Vater kontrollierte und beurteilte regelmäßig die Schulhefte: „Sonntag war ich in Schwelm, fand Paul sehr frisch & vergnügt […] Der Director sprach sich zufrieden aus, Paul soll während der Ferien noch Latein treiben, was ich dem Director bat schriftlich anzugeben. Pauls Hefte zeigten entschieden Fortschritt, allein die schreckliche Orthographie & Flüchtigkeit machten in allen Arbeiten die Sachen stümperhaft, er versprach stets sich zusammen zu nehmen und wird es ihm auch wohl endlich gelingen […].“185

Weniger angetan vom Verhalten ihres Sohnes in der Schülerpension war seine Mutter, weil dieser seine Kleidung bei chemischen Experimenten in der Schülerpension nicht sorgfältig behandelt hatte: „Gestern sah ich mich leider noch veranlaßt einen kl. ‚Brummbrief‘ an Paul zu verfassen, er hat in meiner Wäsche solche Verwüstung angerichtet, mit seinen Säuren u. Essenzen, ich war ganz unzufrieden, neue Hemden, Handtücher, Unterjäckchen u. s. w. fallen stellenweise in Fetzen auseinander, ich muß den Schaden so gut es geht auszubessern su-

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Da bürgerliche Wohnformen im Kaiserreich, ob große Mietwohnung oder freistehende Villa, immer die Unterbringung von Dienstboten integrierten und zudem private Familienräume von Repräsentationsräumen getrennt waren, wurde der Erfahrungsraum der Kinder und Jugendlichen auf das hin strukturiert, was die bürgerliche Lebensform im Alltag ausmachte, nämlich die Balance zwischen familieninterner Emotionalität und repräsentativer, öffentlichkeitsorientierter Formalität. Zu bürgerlichen Wohnformen und ihrer Sozialisationsbedeutung vgl. Groppe, Erziehungsräume, S. 65ff. 183 Vgl. dazu Kapitel III über frühkindliche Erziehung und Sozialisation. 184 FFA, B4g58, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 13. Mai 1877. 185 FFA, B4g58, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 10. Juli 1877.

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chen, finde aber, wenn er so unvorsichtig ist, kann er solche Sachen noch nicht haben, auf die Art ist die Liebhaberei zu kostspielig u. Zeit raubend.“186

Neben persönlichen Visiten waren es die Briefe des Sohnes, die den Eltern zur Überprüfung von Lern- und Entwicklungsfortschritten dienten. Überprüft und beurteilt wurde nicht nur der mitgeteilte Inhalt auf seine Angemessenheit, sondern auch die sprachliche Form sowie Orthographie und Seitengestaltung. Die Briefe Paul Colsmans waren für die Eltern ein ständiger Anlass zur Sorge, weil sie den Erwartungen in keiner Weise entsprachen: „Deinen Brief vom 7. so wie Pauls Zeilen empfing ich und danke für beide, wenngleich ich für letzteres eigentlich einen etwas mehr der Größe des Jungen angemessenes Schriftstück erwartet, es ist nicht schön wenn man jeder Zeile ansieht, daß sie recht weitläufig angelegt um den schönen Papierbogen baldigst zu füllen! dazu die Respect Ränder oben und unten, die mir in diesem Fall wenig Respect einflößen. Paul scheint die Feder zu schlecht zu fassen, man sieht jedem Buchstaben an daß er mit großer Mühe nur das Tageslicht erblickt!“187

Als Paul Colsman 1879 (mit achtzehn Jahren!) endlich einen formvollendeten Geburtstagsbrief an die Großmutter schickte, war der Vater überaus erleichtert und schrieb an seine Frau: „Dein Geburtstagsbrief so wie der von Emilie in dem schönen Couvert fanden sich heute pünktlich bei Großmama auf dem Geburtstagstisch ein & machten Freude, Paul hatte auch geschrieben und zwar einen Brief mit dem er Ehre einlegte! Gottlob! Endlich! Er sandte Edelweiß aufgeklebt.“188

Doch trotz eines ständigen Briefkontakts besaßen die Eltern letztlich nicht allzu viele Einwirkungsmöglichkeiten auf das Verhalten und die Entscheidungen der in den Schülerpensionen lebenden Jugendlichen. Peter Lucas Colsman entschied 1872 mit sechzehn Jahren beispielsweise völlig autonom, die ihm lästigen Zeichen- und Klavierstunden an seinem auswärtigen Schulort in Barmen zu beenden: „Lieber Vater! […] Den Anfang der Schule habe ich glücklich überstanden, und geht alles wieder in seiner gewohnten Weise voran. Von den Zeichen- und praktischen Chlavierstunden habe ich mich losgemacht, so daß ich in Folge dessen 5–6 Stunden in der Woche weniger habe.“189

Dass es den Söhnen in den Schülerpensionen aber oft nur mäßig gefiel, zeigen ebenfalls viele Briefe: „Liebe Mutter! […] Ich habe mich noch nie so gelangweilt an einem Sonntage, wie gestern. Ich hab nur Clavier gespielt oder in der Geschichte von Grube gelesen. Nach dem Caffee trinken ging ich zu Dr. Colsman [Augenarzt und Cousin, CG], mußte jedoch wieder umgehen, als ich hörte, daß er nebst seiner Gattin nach Langenberg sei. (Die 186 187 188 189

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FFA, B4g58, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 10. Mai 1877. FFA, B4g58, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 11. September 1875. FFA, B4g58, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 15. September 1879. Archiv Landfried, Sign. 3, Peter Lucas Colsman an Eduard Colsman, 4. Januar 1872.

Schwestern werden gewiß sagen, daß es mir recht gut gethan hätte, daß ich mich so gelangweilt habe). Ich sitze hier allein bei Lampenschein auf meiner Bude. Wir haben so eben zu Abend gegessen.“190

Langeweile und eine Freizeit, die in einer fremden Stadt verbracht und obendrein noch von den Pensionseltern sozial kontrolliert wurde, führte dazu, dass die Sehnsucht nach Zuhause vor allem an den Wochenenden stieg. Andererseits konnte aber die sich unter den Pensionären entwickelnde Peer Group-Geselligkeit die Wochenenden auch vergnüglich gestalten, und auch Alkohol war den älteren Jugendlichen gestattet. Wilhelm Colsman-Bredt jedenfalls hatte nichts gegen das Bier, das sein sechzehnjähriger Sohn manchmal trank: „Sonntag war ich in Schwelm, fand Paul sehr frisch & vergnügt, daß er sich den Magen verdorben schiebe ich auf einen Diäthelfer, Salat und Bier, vertragen sich schlecht und dieses hatte er wiederholt genossen!“191 Paul Colsman war zum Leidwesen seiner Eltern und ihren anfänglichen Hoffnungen zum Trotz auch in der auswärtigen Schule weder ein fleißiger Schüler noch sonderlich an der Schule und am Lernen interessiert. In Briefen an seinen Freund Peter Conze berichtete er dementsprechend ausführlich von Schulstreichen wie dem Aushängen der Schultür und dem Anbringen anzüglicher Zeichnungen an der benachbarten Höheren Töchterschule.192 Sein Alltag konzentrierte sich dennoch gezwungenermaßen auf Lernen und Unterricht. Der damaligen Schulstundennormierung mit längerem Vormittagsunterricht und einem nochmaligen kürzeren Nachmittagsunterricht gemäß, schrieb Paul Colsman an den Freund von Schularbeiten, die abends noch auszuführen waren:193 „Wir [die Mitbewohner, CG] arbeiten immer am Abend zusammen, und nach Beendigung des Studiums wird Unsinn geschlagen. Soeben bekomme ich einen Brief von Mama, welche mir mittheilt ich hätte am Sonntag mit Säure einen großen Schaden angerichtet. Ich muß mich jetzt noch auf einer Postkarte rechtfertigen und da ich Otto K. gleich erwarte mach ich Schluß.“194

Das Leben in der Schülerpension verlief gleichförmig und für Paul Colsman als Sechzehnjährigen recht eintönig. Wie sein Onkel Peter Lucas Colsman beklagte 190 191 192

Archiv Landfried, Sign. 3, Peter Lucas Colsman an Sophie Colsman, 26. Juni 1871. FFA, B4g58, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 10. Juli 1877. „Hier an der anderen Seite unserer Schule ist die Töchterschule (das wäre fein für Wilhelm) da hat Paul Pistor (ein Zögling welcher außer mir noch bei Köttgen ist) u ich haben zuerst an der Töchterschule die Hausthüre ausgehangen und gegen die Hausthüre gestämmt […] Darnach liefen wir nach einem Buchbinder holten flüßigen Leim und ziemlich zotige Bilder, mit welchen der Locus und die Fenster die Regentonne u die Thüre verziert wurden. Dann entfernten wir uns und wir hoffen, daß es gut gehen wird.“ Archiv WHC, Sign. 2, Paul Colsman an Peter Conze, 8. Mai 1876. 193 Da die Schulstunden als ganze Stunden gehalten wurden und in Preußen erst ab 1912 verbindlich auf einen Zeitrahmen von 40 bis 50 Minuten begrenzt wurden, waren die mehr als 30 Wochenstunden, die der höhere Schulunterricht in Mittel- und Oberstufe umfasste, nur durch verteilten Vormittags- und Nachmittagsunterricht zu gewährleisten. Zum Schulstundenrhythmus vgl. Geißler, Schulgeschichte in Deutschland, S. 275. 194 Archiv WHC, Sign. 2, Paul Colsman an Peter Conze, 10. Mai 1877.

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er sich darüber wiederholt bei der Familie und bei Freunden. Anders als sein Vater im Kortegarnschen Internat lebte Paul Colsman in einer Ersatzfamilie, in der neben den drei Pensionären und den Pensionseltern noch deren Kinder und das Hauspersonal lebten. Diese fast klassisch zu nennende Struktur einer guten Schülerpension erforderte eine Einübung der jugendlichen Pensionäre in vielfältige und ambivalente Rollenmuster. So mussten sie lernen, sich in den Ersatzfamilien in deren Alltagsregeln und Lebensform einzufügen, mussten ihre Rolle als Stiefsöhne der Pensionseltern reflektieren und gestalten und zugleich, anders als in ihren Herkunftsfamilien, mit mehreren Gleichaltrigen als Peer Group zurechtkommen. Die Schülerpensionen waren ‚Schwellenorganisationen‘, angesiedelt zwischen privater Familie und Öffentlichkeit und changierend zwischen partikularistischen und universalistischen Rollenmustern: Während das universalistische Rollenmuster nach Talcott Parsons generell die öffentliche Sphäre kennzeichnet, d. h. es ist affektiv neutral, spezifiziert, unabhängig von der individuellen Person und erlernbar, ist das partikularistische Rollenmuster dominant in der Familie: Es ist affektiv, diffus (unbegrenzte Bedeutung des Gegenübers, z. B. als Mutter oder Sohn), auf die besondere Person beschränkt, und es wird zugeschrieben statt erlernt.195 Im Unterschied zu Alumnaten und Internaten waren die Rollenerwartungen in den Schülerpensionen uneindeutig und erforderten eine ständige Arbeit an der Ambiguitätstoleranz und der Selbstpräsentation: als Stiefsohn in einer Ersatzfamilie, als zahlender Kunde in einer Pension, als höflicher Gast, der immer auch Repräsentant der Herkunftsfamilie war, als beaufsichtigter Schüler in einem Lehrerhaushalt und als Mitglied einer Peer Group im Pensionshaushalt und in der Schulklasse. Es war ein komplexer Sozialisationskontext, der zudem noch die universalistischen Rollenmuster der Schule und die partikularistischen der Herkunftsfamilie umfasste, und in dem die Jugendlichen lernen mussten, selbstständig zu handeln. Im Sinne des bürgerlichen Lebensmodells der Balance zwischen den sich autonomisierenden Feldern der Lebensführung stellten die Sozialisationskontexte der Schülerpensionen passende Entwicklungsanforderungen bereit; sie erzeugten eine bewusste Selbstregulierung und förderten die Entstehung eines Selbstbewusstseins, das die Person als Handlungszentrum verstand.196 Trotz relativer räumlicher Nähe zum Heimatort kehrte Paul Colsman nur alle paar Wochen und in den Ferien dorthin zurück.197 Auch an seinen Geburtstagen verblieb er in der Schülerpension und erhielt die Geschenke seiner Eltern, Geschwister und Verwandten per Post. Zusätzlich beschenkten der Direktor und seine Frau ihren Zögling mit Kuchen und bedachten ihn mit Aufmerksamkeiten: 195 196

Vgl. Parsons, The Social System, S. 228ff.; ders., Die Schulklasse als soziales System. Vgl. dazu auch im Kapitel II über Eheschließungen und Ehebeziehungen das Teilkapitel 3.3. Zu Handlungsmöglichkeiten und Rollenambivalenzen auch in den Institutionen selbst vgl. Dehnavi, Das politisierte Geschlecht, S. 90ff. 197 Vgl. Archiv WHC, Sign. 2, Briefe von Paul Colsman an Peter Conze, 1873ff.; Archiv WHC, Sign. 174, Paul Colsman an Emilie Colsman, 8. November 1877.

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„Auf meinen Geburtstag habe ich außer 9 Briefen und der Pfeife […] ein Messer und ein paar Handschuhe und einen Schlips bekommen. Frau Director hatte mir einen Apfelkuchen gebacken und mir ein Bierglas mit einem Bock drauf geschenkt.“198

Seiner Abneigung gegen die Schule und die Kleinstadt Schwelm mit ihren etwa 12.000 Einwohnern verlieh Paul Colsman gegenüber seiner Schwester Emilie deutlichen Ausdruck, indem er die abwechslungsreiche Freizeit am Heimatort mit dem Alltag am Schulort verglich: „[…] am Nachmittag kegelte ich mit Springorum u. spielte mit ihm Billard, am Abend fuhren wir vergnügt hier in dieses Lausenest, wo mich fast alles anekelt. Wir müssen jetzt immer um 7 Uhr in die Classe; um 20 M vor 7 verließ ich diesen Morgen meinen Flosack.“199

In den Briefen an Freunde und Geschwister zeigt sich in der Sprache („Bude“, „Alter“, „Kerl“, „Schrauben im Kopf“)200 und in den präsentierten Handlungen – Schulstreiche, erste Alkoholerfahrungen, gemeinsam auf der eigenen „Bude“ verbrachte Abende mit Schulkameraden, gemeinsame Ausflüge, Vernachlässigung der schulischen Aufgaben – auch der Umriss einer Jugendkultur, die sich von der Selbstpräsentation gegenüber den Eltern klar unterschied. Auch Peter Conze berichtet in seinen Erinnerungen an seine Schulzeit auf dem Gymnasium in Gütersloh von den „Buden“, auf denen „Schüler aus den verschiedensten Häusern abends zusammenströmten und bis tief in die Nacht hinein zusammen kneipten und rauchten“.201 Die Lehrerschaft des Gymnasiums sollte die auswärtigen Schüler in ihren Schülerpensionen zwar kontrollieren, tat dies aber nur in geringem Maß. So gab es in Gütersloh eine Schülerverbindung der Primaner, die an jedem Sonnabend in einer Kneipe nach dem Vorbild der Studentenverbindungen zusammenkam und in der neben Rauchen und Biertrinken zur Unterhaltung mit Klavierbegleitung gesungen und eigene Gedichte vorgelesen wurden.202 Eigentlich war der Ausschank von Alkohol an Minderjährige (und 198 199 200

Archiv WHC, Sign. 2, Paul Colsman an Peter Conze, 8. Mai 1878. Archiv WHC, Sign. 174, Paul Colsman an Emilie Colsman, 15. Juni 1878. „Am Abend war Karl und Frieder hier, wir bekamen Bohle […] und mir waren die Schrauben im Kopf ganz lose. Am Mittwoch habe ich mit deinem Alten in eurem Garten geschossen, ich schoß zweimal und habe auch zweimal getroffen.“ Archiv WHC, Sign. 2, Paul Colsman an Peter Conze, 9. Mai 1875. „Als ich nach den Ferien nach Schwelm kam fand ich meine Bude auf einer anderen Stube aufgeschlagen (der Grund hier zu ist die bevorstehende Vermehrung der Familie, da der Frau K. ihr Schlafzimmer neben meiner alten Bude war).“ Archiv WHC, Sign. 2, Paul Colsman an Peter Conze, 10. Mai 1877. 201 Conze, Jugenderinnerungen, S. 80. 202 Vgl. Conze, Jugenderinnerungen, S. 80f., S. 87; Müller, Schulkritik und Jugendbewegung, S. 208ff. Die im Kaiserreich weit verbreiteten Schülerverbindungen imitierten in jeder Hinsicht die Studentenverbindungen (es gab Füchse und Alte Herren, die Korpsbrüder galten als verschworene Gemeinschaft, man veranstaltete Bierkommerse, Mensuren usw.). Im Unterschied zu den Studentenverbindungen waren Schülerverbindungen jedoch verboten und wurden von den Lehrerkollegien und Schulverwaltungen bekämpft. Neben der Befürchtung sittlicher Gefährdung und der Reduktion schulischer

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das waren alle Schüler, denn das Mündigkeitsalter lag vor 1900 bei fünfundzwanzig Jahren, danach bei einundzwanzig Jahren) streng verboten, ebenso der Alkoholgenuss und Kneipenbesuch durch die Schüler. In der Praxis sah das oft anders aus. Auch die eigenen Eltern und die Pensionseltern waren bei den männlichen Oberstufenschülern, was den Genuss von Bier und Bowle anging, recht großzügig. Dass aber auch bürgerliche und den Eltern wichtige Normen, hier die Sparsamkeit, bereits die Selbstpräsentation Paul Colsmans prägten, zeigen die Briefe ebenso: „Du scheinst einen sehr liebenswürdigen Stubengenossen zu haben, wenn der Kerl so leicht mit dem Ausgehen bei der Hand ist, so erlaube ich mir die Frage ‚Was ist sein Alter‘? Millionär oder Freiherr? Ich wollte mein Hausmitbewohner wäre auch ein solches Subjekt.“203 Gegenüber Freunden und Geschwistern präsentierte sich Paul Colsman durchaus anders als gegenüber den Eltern. Während er zum Beispiel gegenüber der jüngeren Schwester Emilie als junger Erwachsener auftrat, der gerne Bier trank, rauchte, sich von seinem Taschengeld eine neue Meerschaumpfeife geleistet hatte und sich mit seinen Freunden auf seiner Bude in der Schülerpension traf,204 präsentierte er sich dem Vater gegenüber als wohlerzogener, höflicher Sohn, der intensiv für die Schule arbeitete und sich in der Semi-Öffentlichkeit des Pensionshaushalts gut zu benehmen wusste: „Diesen Morgen empfing ich von Mama einen Brief, in diesem theilte sie mir mit, daß Du nach London gereist seist. Diese Woche ist hier Nichts vorgefallen, wir mußten tüchtig arbeiten, einen Aufsatz zur Hälfte einschreiben und noch eine englische Arbeit machen. […] Gestern war bei Köttgens eine Kaffeevisite, welche bis 10 Uhr dauerte. Wir Kinder aßen alle zusammen, mir wurde von der Frau Director der Vorsitz und das Amt des Einschenkens übertragen. […] Wenn du schöne Manschettenknöpfe siehst, welche für mich passend sind, so denk an mich. […] Morgen hat der kleine Junge seinen Geburtstag und wir drei wollten sogleich noch irgend eine Kleinigkeit für ihn kaufen. Hoffentlich sehen wir uns Freitag in acht Tagen fröhlich wieder.“205

Dennoch traten in dieser Generation explizite Autoritätskonflikte auf, die in den Briefen zum Teil drastisch artikuliert wurden.206 Während in den Briefen

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Leistungsfähigkeit war eine ständig wiederkehrende Klage, dass dort Auflehnungen gegen die Schule systematisch gefördert und das Unterlaufen schulischer Leistungsanforderungen (u. a. durch Hausarbeitsbörsen) ermöglicht würden. Vgl. Nath, Schülerverbindungen und Schülervereine; Pilger, Über das Verbindungswesen, S. 9ff., S. 19ff. „Die Corpsbibliotheken versorgen mit Übersetzungen, Präparationen, Exerzitien, Aufsätzen, und findet sich die Bearbeitung des gewünschten Aufsatzthemas in dem eigenen Vorrat nicht, so helfen wohl Kartellverbindungen aus.“ Ebd., S. 19. Archiv WHC, Sign. 2, Paul Colsman an Peter Conze, 8. Mai 1878. Zur vergleichbaren Briefkorrespondenz Werner Sombarts mit Freunden vgl. Lenger, Werner Sombart, S. 31f. „Soeben habe ich mir meine Pfeife in Brand gesetzt. Diese Woche habe ich mir für meinen Monatsthaler eine schöne neue Pfeife mit einem Meerschaumkopf gekauft.“ Archiv WHC, Sign. 174, Paul Colsman an Emilie Colsman, 8. November 1877. FFA, B4g53, Paul Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 10. Mai 1877. Ähnliches berichtet Friedrich Lenger über den etwa gleichaltrigen Werner Sombart (1863–1941). Vgl. Lenger, Werner Sombart, S. 30.

Wilhelm Colsman-Bredts aus dem Kortegarnschen Institut an seinen Vater in den 1840er Jahren die Anstrengung dominiert hatte, diesem zu gefallen, ohne dass sich auch nur an einer einzigen Stelle Anzeichen eines Konflikt gezeigt hätten, zeichnete sich die briefliche Beziehung zwischen Wilhelm ColsmanBredt und seinem ältesten Sohn durch einen wiederholt geführten Kampf um Freiräume und um persönliche Autonomie von Seiten des Sohnes aus. Paul Colsman und sein Vater trugen diese Konflikte während Paul Colsmans gesamter Bildungs- und Ausbildungszeit und auch noch nach seinem Eintritt als Teilhaber in das Familienunternehmen 1891 aus.207 Die Konflikte beschränkten sich dabei nicht auf Generationskonflikte zwischen Vater und Sohn, sondern schlossen auch Konflikte mit Amtsautoritäten wie dem Schuldirektor und der Lehrerschaft ein.208 Ein Brief, den der Vater im Verlauf eines solchen Konfliktes an seinen sechzehnjährigen Sohn schrieb, der sich bitter bei ihm über die Schule und die Lehrer beklagt hatte, sei aufgrund seiner Aussagekraft ausführlich zitiert: „Lieber Paul! […] empfing ich heute morgen deine wenigen Zeilen mit der Einlage vom Herrn Director! Was soll ich von deinem Brief halten? Ist er in dem richtigen Ton, in der richtigen Erkenntnis desjenigen geschrieben, was die Noth thut?? Sicherlich zeigt er mir ganz deutlich, daß du wieder die dir widerfahrene Zurechtweisung bei Anderen, diesmal beim Herrn Director suchst, und nur nicht da wo du sie suchen mußt – bei dir selbst! Du weißt nicht was du sagen sollst! nun ich will es dir sagen: du sollst mir & Herrn Director sagen, daß du dich recht bemühen willst deine Pflichten zu erfüllen, dann findet sich von selbst was du zu thun hast! Dann findet sich auch leicht, daß man einem Lehrer der sich wirklich um dein Fortkommen bemüht und sorgt, es gar nicht so besonders übel deuten kann, wenn er im Eifer mal ein Wort sagt, was er bei ruhigem Blut vielleicht besser bei sich gehalten! Man darf es um so weniger übel nehmen, wenn man sich selbst sagen muß, daß unendlich viel Ausdauer & Liebe aufgewandt wird, um die Lücken, die Sünden vergangener Jahre, endlich mal wieder auszufüllen und hast du wahrlich am aller wenigsten Grund den Beleidigten zu spielen! ich muß dies Schweigen gegen den Herrn Director ganz entschieden tadeln! Damit erringst du seine Zufriedenheit und sein Zutrauen am aller wenigsten. Was hat der Mann davon, wenn du ein Jahr länger in der Schule bleibst – sicherlich Nichts, höchstens einen kleinen zweifelhaften eigenen Vortheil, daß er dich als Kostgänger und Schüler länger behält! Also suche die ganze Schuld nur an dir; daß die 207 208

Vgl. auch Kapitel II über Eheschließungen und Ehebeziehungen, Teilkapitel 5. Dolores L. Augustine führt im Anschluss an Thomas William Taylor die Generationskonflikte im Wirtschaftsbürgertum des Kaiserreichs vor allem auf die deutliche Verlängerung der Jugendphase durch Bildung und Ausbildung zurück und nicht auf im Vergleich zu Großbritannien oder den USA autoritärere Erziehungsstile und Familienverhältnisse. Vgl. Augustine, Patricians and Parvenus, S. 92; Taylor, Images of Youth and the Family in Wilhelmine Germany, S. 67ff., sowie ders., The Crisis of Youth in Wilhelmine Germany, insb. Kap. 2, The Economics of Dependency, S. 36ff., sowie Kap. 5, Entry into the Workforce, S. 190ff. Mark Roseman vermutet als weiteren Grund die vielfachen staatlichen Systemwechsel, die unterschiedliche Erfahrungsräume schufen. Vgl. Roseman, Introduction: generation conflict and German history 1770–1968, S. 1f. Das ist insofern überzeugend, als sich der lebensweltliche Sozialisationsrahmen dadurch sukzessive veränderte, auf die Lebensformen rückwirkte und so zu anderen Weltdeutungen und Handlungsorientierungen führen konnte.

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Flüche & Schimpfworte wie sie dort leider zuweilen vorkommen auch mich sehr betrüben, weißt du, halte dich ferner abstoßend gegen sie und denke: nun höre ich doch auch wie häßlich das aufbrausende Wesen ist und will mich bemühen an mir selbst zu arbeiten, daß es mir nicht vorkommt und will vor Allem mich bemühen durch Fleiß und Treue in meinem Beruf, daß ich den Herren wenigstens selbst keine Veranlaßung und Reitzung […] gebe! & dein heutiger Brief enthält auch wieder orthographische Fehler! Sollte da ein Lehrer nicht heftig und verzagt werden, wenn das noch immer nicht aufhört?!! Also Paul, zunächst den Balken in deinem Auge und dann den Splitter bei Anderen! Suche nur mal Alles und Jedes bei dir, dann wird es bald besser. Schreibe mir Morgen mal; du hast leicht ein halb Stündchen Zeit, ich habe es nicht über mich gewinnen können Mama die Briefe zu zeigen, sie kämpft heute wieder mit Kopfschmerzen, so daß ich nicht davon sprechen mag! Schreibe mir mal ordentlich, was du denkst und thust! Das ‚Nichts vorgefallen‘ ist gar zu dürftig. Wir waren heute in der Au [Wohnhaus der Großmutter, CG], ich gestern in Elberfeld auf der Bahn, vorgestern auf dem Amt in Hattingen! So geht es leider in einer Unruhe voran! im Geschäft sieht es sehr trübe aus und nirgends ein Strahl der Hoffnung. Ich erwarte also Dienstag einen Brief von dir und kann doch nicht genug aufmuntern den störrigen Ton gegen Herrn Director abzulegen! So schadet es dir mehr als du selbst denkst und nachher – du allein hast den Nachtheil daran! – Mit herzl Gruß dein treuer Papa“209

In diesem Brief dominierte als Erziehungskonzept des Vaters deutlich der Appell an die Vernunft und die Einsicht des Sohnes. Es überwogen Beweisführungen, nicht Befehle, auch wenn die Zielrichtung dem Sohn deutlich aufgezeigt wurde.210 So argumentierte der Vater mit bürgerlichen Werten und Normen, die dem Sohn als Lebensideal präsentiert wurden. Appelliert wurde an die Selbstreflexion des Sohnes; den Rahmen, innerhalb dessen diese Selbstreflexion stattfinden sollte, bildeten klassische bürgerliche Normen der Bescheidenheit, des Maßhaltens und der Strebsamkeit, gebunden an Werte wie Arbeit und schulische Bildung.211 Gleichzeitig wollte der Vater eine innengeleitete Handlungsregulierung beim Sohn erzeugen, die aber noch nicht in relativer Autonomie wie bei Erwachsenen erfolgen sollte, sondern zunächst noch in Antizipation der Vernunft und Überlegenheit der Erwachsenen, hier der Lehrer. Paul Colsman sollte als Jugendlicher das Verhalten und das Urteil der Erwachsenen einsehen und akzeptieren. Andererseits bestand hinsichtlich der Vorwürfe des Sohnes gegenüber Lehrerschaft und Direktor für den Vater auch ein Wertekonflikt: Der Sohn hatte sich über deren Ausdrucksweise und Zurechtweisungen beschwert, wobei Erstere nach seiner Darstellung nicht den bürgerlichen Sprachgepflogenheiten entsprochen hatten. Somit hatte seine Klage eine gewisse Berechtigung beses209 210

Archiv WHC, Sign. 23, Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 25. Februar 1877. Anders bislang die bildungshistorische Forschung, welche meist das autoritäre Verhalten der Väter im Kaiserreich herausstellt, z. B. Gillis, Geschichte der Jugend, S. 113; Berg, Familie, Kindheit, Jugend, S. 113f. Abwägender Dengel, Untertan, Volksgenosse, Sozialistische Persönlichkeit, S. 279f. 211 Vgl. zu den bürgerlichen Werten im 19. Jahrhundert als Überblick Hettling/Hoffmann, Der bürgerliche Wertehimmel. Zur Entstehung dieser Werte vgl. Hahn/Hein, Bürgerliche Werte um 1800.

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sen. Hier bezog der Vater eine geteilte Position: Er verurteilte Verhalten und sprachlichen Ausdruck der Lehrer, aber der Sohn sollte sich an das bürgerliche Lebensmodell der Balance halten. Dazu gehörte Selbstregulierung, nicht aber heftige Gegenreaktionen und starke Gefühlsäußerungen. Der Vater forderte diese Fähigkeiten seinem Sohn ab und begründete ihre Bedeutung als Grundlage einer gebildeten und erfolgreichen bürgerlichen Lebensführung. Während der Vater das Verhältnis zwischen seinem Sohn und dessen Lehrern nur aus der Ferne kommentieren konnte, war der Brief zugleich eine direkte Erziehungshandlung, in der ‚Befehl‘212 und Erläuterung eine Verbindung eingingen. Eine diskursive Erziehung war es durchweg; Anordnungen wurden stets begründet, auch wenn sie letztlich nicht zur Disposition standen. Deutlich zurück trat gegenüber den Eltern in der Vorgängergeneration aber der Bezug auf Gott und den Glauben.213 Er verschwand in den Briefen Wilhelm ColsmanBredts und Adele Colsmans an Paul Colsman zwar nicht vollständig, zumal als erzieherische Nutzung biblischer Sentenzen und als Ermahnung zum Gebet, trat aber gegenüber Fragen der Schule, der Arbeit und des Unternehmens deutlich in den Hintergrund. Dagegen berichtete der Vater dem Siebzehnjährigen nun regelmäßig über seine Geschäftsreisen, hier aus London, und verband dies mit dem Wunsch der Unternehmensnachfolge des Sohnes: „Adele [Tochter, CG] hat dir berichtet und wirst du von ihr sicherlich eine Schilderung des großartigen Eindrucks der Riesenstadt empfangen haben. Um mit mir anzufangen, freut es mich, dir sagen zu können, daß […] ich trotz der besorgten Aussichten der ersten Tage, während dieser Woche einige recht fette Fische in’s Netz bringen konnte, wodurch wie mir Oncel Adalbert schreibt, das Leben auf der Lieferkammer frisch erwacht sei! Es freut mich sehr für die Weber, wenngleich für mich selbst nur wenig dabei herauskommt, da die Preise mehr als gedrückt sind. […] Dienstag habe ich dann noch Geschäft und ob wir Mittwoch abreisen oder das an jenem Tage stattfindende Derby race, was ganz brillant ist und wohin halb London reist. Du siehst wir haben Freude genug und soll es mir eine wahre Freude sein, wenn es mich der liebe Gott noch erleben läßt, daß du meine Stelle einnehmen und nach gethaner gründlicher Arbeit dich wohlverdienter Erholung und Freude hingeben kannst! […] Ich komme jetzt seit 21 Jahren hierher.“214

Der Sohn wurde mit der Arbeitswelt und den Geschäftsüberlegungen des Vaters vertraut gemacht, insbesondere mit der besonderen Bedeutung des englischen Markts. Dies geschah durch Brieftexte, in denen der Sohn nach und nach 212

Die obige briefliche Erziehungspraxis entsprach am ehesten derjenigen in einem modernisierten Befehlshaushalt, wie sie bei du Bois-Reymond als einer von fünf modernen Formen der Familienerziehung beschrieben wird. Es werden Aufgaben und Anforderungen gesetzt, diese werden aber in ihrer Bedeutung und Notwendigkeit begründet. Verhandelbar sind sie jedoch nicht. Vgl. du Bois-Reymond, Die moderne Familie als Verhandlungshaushalt, S. 148ff.; Ecarius, Familienerziehung, S. 143ff. 213 Zur Erziehung der ab 1800 geborenen Jungen und Mädchen in der Familie vgl. Groppe, Der Geist des Unternehmertums, S. 391ff. 214 Archiv WHC, Sign. 23, Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 3. Mai 1878.

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in die Position eines Gesprächspartners in Geschäftsangelegenheiten gerückt wurde. Der Vater stellte in einem Brief von einer Geschäftsreise in Wien dem Sohn gegenüber auch eigene politische Überlegungen zur Debatte: „Wien ist eine ganz prächtige Stadt geworden, die Ringstraße, welche an Stelle der alten Festungswälle angelegt ist, hat sechs Baumreihen und ist gewiß 200 Fuß breit, zieht sich um die ganze Stadt und hat an ihren Seiten die prachtvollsten oft 6stöckigen Häuser und Paläste. […] Morgen wollte ich nun über Berlin zurück, es ist dort eine Versammlung von Kaufleuten ‚zum Schutze ihrer gemeinsamen Interessen‘ besonders in Zollfragen, und bin ich für die Seide mit Herrn Meckel zusammen hingeschickt; […] Auch will ich in Berlin mal nachsehen, was Oncel Gottfried [Conze, CG] in der Vereinigungssache angestellt,215 ich höre, er hat eine Audienz bei Minister Friedenthal gehabt! Ich bin ganz ruhig bei der Sache, glaube meine Pflicht gethan zu haben und thue sie; ist die Regierung anderer Meinung und opfert uns den rheinischen, dann werde ich mich auch zu bescheiden wissen, meine Stellung kann ja auch falsch sein. […] Von […] 5 Kindern empfing ich Grüße durch Briefe, ist das nicht eine Freude! […] Sei fleißig! gedenke oft deines dich treu liebenden Papa“216

Im Brief mischten sich Reisebeschreibungen mit Alltagsdarstellungen der unternehmerischen Tätigkeit und die Skizzierung von Verbandstätigkeiten mit der Darlegung politischer Lobbyarbeit in Berliner Regierungskreisen. Pädagogisch sollte dem Sohn vermittelt werden, dass er nun langsam an das Erwachsenenalter heranrückte. Gleichzeitig betonte der Vater seine emotionale Bindung an seinen Sohn und die Bedeutung seiner Familie für ihn. Die Briefe Wilhelm Colsman-Bredts konturierten darüber hinaus ein unternehmerisches Berufsfeld, das seinem Sohn als Orientierungsrahmen dienen konnte und das für diesen trotz vieler Konflikte mit dem Vater schließlich maßgeblich für seine weitere Lebensplanung wurde. Nach dem Erhalt der Einjährig-Freiwilligen-Berechtigung auf der Höheren Bürgerschule in Schwelm besuchte Paul Colsman von April 1879 bis März 1880 die Akademie von Lausanne.217 Erstmals erfolgte in der Familie damit ein Auslandsaufenthalt zum Zwecke der Erweiterung der allgemeinen Bildung durch eine hochschulähnliche Fachausbildung vor der Lehrzeit. Die Akademie in Lausanne hatte zu diesem Zeitpunkt ihre ursprüngliche Zielsetzung als reformierte evangelisch-theologische Ausbildungsstätte verloren und war öffentliche höhere Fachschule geworden mit insgesamt fünf fakultätsartigen Abteilungen: Faculté des Lettres, Naturwissenschaften, Recht, Theologie und Ingenieurwis215

Wilhelm Colsman-Bredt hatte sich dafür eingesetzt, Oberbonsfeld (‚Märkisch Langenberg‘), in dem seine Villa und die Gebäude des Familienunternehmens lagen, nicht mit der benachbarten Stadt Langenberg zu vereinigen, weil er dann von der preußischen Provinz Westfalen in die preußische Rheinprovinz hätte wechseln und eine höhere Steuerlast zur Finanzierung der städtischen Ausgaben Langenbergs hätte in Kauf nehmen müssen. 1881 geschah die Vereinigung dann aber gegen seinen Willen doch. Vgl. Rheinischer Städteatlas, Langenberg, S. 2. Vgl. Ophüls, Alt-Langenberg, S. 174ff. 216 Archiv WHC, Sign. 23, Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 25. Februar 1877. 217 Vgl. Archiv WHC, Sign. 46, Familienchronik Paul und Elisabeth Colsman, 1880–1931.

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senschaften.218 Der Unterricht auf der Akademie erfolgte vollständig französischsprachig. Da Paul Colsman kein Abitur besaß, hatte er den Status eines Externen inne, was in etwa dem eines Gasthörers an einer deutschen Universität der Zeit entsprach. Er war zugelassen zu allen Veranstaltungen der Akademie, konnte aber keine Qualifikationen erwerben.219 Paul Colsman lebte in Lausanne wiederum in einer Pension, diesmal mit fünf Gleichaltrigen aus verschiedenen Nationen, zwei Schweizern, einem Engländer und einem weiteren Deutschen. Er wohnte im Haus seines Französischlehrers, der eine Pension für auswärtige Besucher der Akademie führte, das „Institut de Jeunes Gens“. Die Pensionäre erhielten hier ergänzenden modernen Fremdsprachenunterricht, Unterricht in Betriebswirtschaftslehre sowie in Geographie, Geschichte und Mathematik.220 Paul Colsman war nun achtzehn Jahre alt und nach der erfolgreichen Absolvierung der Höheren Bürgerschule in Schwelm vor allem geneigt, die Zeit in der vom Heimatort weit entfernten Schweiz als jugendliches Moratorium nach eigenem Gusto zu gestalten. An seinen Freund Peter Conze schrieb er: „Auf der Akademie besuche ich 11 Stunden die Woche 1. französische Litteratur; 2. deutsche Litteratur, 3. Geometrie u 4. Physik. […] Außer den Stunden auf der Akademie werde ich in einer Schule Italienisch nehmen und in Privatstunden Englisch u deutsche Litteratur, da die Litteraturstunde auf der Akademie nur eine Übung im französischen ist; es wird nämlich Wilhelm Tell ins Französische übertragen. Endlich habe ich noch jeden Tag bei Herrn Piguet [der Pensionswirt und Französischlehrer, CG] eine französische Stunde, so daß ich 30 Stunden die Woche habe. Auf der Akademie herrscht ein republikanischer Geist, ich glaube nicht, daß ein deutscher Professor sich das gefallen ließ, was die Professoren hier thun. Es ist z. B. Usus die Auditorien vollzuqualmen ehe der Professor kommt u der arme Teufel muß dann in blauen Dunst eingehüllt lesen. […] Die meisten der Studenten, so darf man sie mit Recht nennen, scheinen das 20te Jahr überschritten zu haben. Viele unter ihnen haben schon hübsche Bärte. Es ist schade, daß ich nicht mit einigen jungen Leuten verkehren kann; die Sprache ist bis jetzt aber noch ein zu großes Hindernis. Von den Verbindungen, die hier existieren, habe ich dir schon gesagt, es sind 5 oder 6. Es ist mir aber streng, unter allen Umständen verboten mich einer solchen Verbindung anzuschließen, woran ich bis jetzt auch noch nicht denken kann, denn

218

1890 wurde sie zur Universität aufgewertet. Vgl. Rüegg, Geschichte der Universität in Europa 1800–1945, Chronologisches Verzeichnis der Universitäten, S. 555. 219 Vgl. Archiv WHC, Sign. 168, Paul Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 20. Juni 1879. 220 Vgl. FFA, B4g62, Werbeprospekt des Institut de Jeunes Gens, Directeur: M. PiguetBauty, o. J. Ein an den Vater adressierter Stundenplan des Instituts vom Mai 1879 zeigt die Lehrfächer und ihren Umfang: „Montag: morgens je eine Stunde Franz., Ital. u. Engl., Nachmittags 1 Stunde Franz. Dienstag: morgens eine Stunde Geometrie u. zwei Std. Franz., Nachmittags 1 Stunde Ital. Mittwoch: morgens eine Stunde deutsch Literatur (frz.), eine Stunde Englisch, Franz. (2), Ital., Nachm. Frei. Donnerstag: Morgens wahlweise eine Stunde Ital. od Geometrie, dann 1 Std. Englisch u. eine Std. Franz., nachm. Frei. Freitag morgens eine Stunde ‚compt‘ [Kontorkunde, CG], 1 Std. Engl., 1 Std. Französisch, nachm. 1 Stunde Italienisch. Samstag: morgens eine Stunde Geometrie, eine Stunde Franz., 2 Std. Physik, Nachm. eine Stunde Franz.“ Archiv WHC, Sign. 145, Rechenschaftsbericht von Herrn Bauty aus Lausanne, 21./27. Mai 1879.

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erstens die Arbeit, die mir aufgehalst wird u zweitens die Sprache, sind Hindernisse, welche man berücksichtigen muß.“221

Paul Colsman präsentierte sich hier gegenüber seinem Freund, der sich anschickte, das Abitur an einem humanistischen Gymnasium abzulegen und ein Jurastudium aufzunehmen, als Teil einer academic community. Wie er den Umgang der Studenten mit den Professoren letztlich bewertete, geht aus dem Brief nicht klar hervor. Dass ein Professor aber an deutschen Universitäten ebenfalls nicht immer als Autoritätsperson wahrgenommen wurde und sich das studentische Leben, insbesondere in den Studentenverbindungen, oftmals mehr auf eine zeitintensive und Peer Group-bezogene Freizeitgestaltung (‚Bummeln‘) als auf ein gründliches Fachstudium konzentrierte,222 wusste Paul Colsman mangels eigener Erfahrung nicht. Er selbst fühlte sich von den Verbindungen durchaus angezogen, während seine Eltern es ihm, aus welchen Gründen ist unbekannt, untersagt hatten, dort Mitglied zu werden. Die Sozialisationskontexte waren so strukturiert, dass Paul Colsmans Alltag zwischen Akademiebesuchen und eher schulischen Unterrichtseinheiten wechselte. Die französische Sprache stellte dabei die größte Herausforderung für die Interaktion mit Gleichaltrigen dar. „Leider habe ich nur einen französischen Freund, mit dem ich nur sehr wenig verkehre, es ist ein Schade, daß wir Deutschen untereinander so wenig französisch sprechen, aber da ist nichts zu machen! Denn obgleich der gute Wille da ist, alle Augenblicke sagt der eine oder andere eine deutsche Phrase u dann ist’s Französische verbannt.“223

So ergab sich schließlich ein engerer Verkehrskreis vorwiegend mit den deutschen Studenten am Ort.224 Die Weihnachtszeit verbrachte Paul Colsman ebenfalls in Lausanne. An Peter Conze schrieb er: „Mit Lucas Colsman [Peter Lucas Colsman, seinem Onkel, CG] correspondiere ich, wie ich dir ja schon schrieb. Wir wollen die Weihnachtstage und die ersten Tage des neuen Jahres zusammen zubringen. Die letzten Absprachen laufen dahin, daß Lucas am 24ten nach Lausanne kommt und bis zum 26ten hierbleibt. In diesen Tagen wollen wir dann einen Feldzugsplan für die folgenden entwerfen. Ich freue mich recht auf das Zusammensein mit ihm, während der Weihnachtszeit; ich glaube Weihnachten in der Fremde, ohne Christbaum, zu feiern ist für einen Deutschen ganz besonders schwer. Hier wird fast allgemein Neujahr gefeiert, Weihnachten kennen sie wohl; aber es ist nur ein Festtag und Geschenke werden nur ausschließlich zu Neujahr gemacht.“225

Die Weihnachtsfeier, im deutschen Kaiserreich wie auch in Großbritannien längst ein in allen sozialen Schichten fest implementiertes Familienfest, machte

221 222

Archiv WHC, Sign. 2, Paul Colsman an Peter Conze, 1. Mai 1879. Vgl. Levsen, Elite, Männlichkeit und Krieg. Am Beispiel der Universität Berlin zwischen 1860 und 1918 McClelland, Studium und Studenten. 223 Archiv WHC, Sign. 2, Paul Colsman an Peter Conze, 18. Mai 1879. 224 Vgl. Archiv WHC, Sign. 2, Paul Colsman an Peter Conze, 20. Dezember 1879. 225 Archiv WHC, Sign. 2, Paul Colsman an Peter Conze, 3. Dezember 1879.

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Paul Colsman die Differenz zwischen der Lebensform in der Schweiz und in Deutschland deutlich, und er schrieb an seine Eltern: „Leider muß ich ja dieses Jahr das schöne Weihnachtsfest in Lausanne, im Welschland226 feiern, und da wißt Ihr ja schon, daß ich mit L. Colsman eine Zusammenkunft verabredet habe. Unsere Pläne sind jetzt, so weit es geht, festgesetzt, es sind folgende: Lucas kommt, so Gott will, am 24ten nach Lausanne und bleibt die Tage des Festes hier. Wir Deutschen wollen zwei Tage feiern. Nach den Festtagen wollen wir dann einige kleine Spritztouren nach Genf, Montreux, Vevey usw. machen. Ich hoffe, daß Ihr mir dieses Vergnügen erlaubt. […] Ihr könnt Euch denken, daß meine Gedanken während dieser schönen Weihnachtszeit viel bei Euch weilen, aber es kann ja nicht sein, daß ich immer zu Hause bin. Dies ist das erste Weihnachten in der Fremde; wie viele werden noch folgen?!“227

‚Fremde‘ und ‚Heimat‘ bzw. ‚Deutschland‘ wurden für Paul Colsman zu Konzepten, mit denen er anders und deutlich früher als seine Eltern, nämlich seit dem Aufenthalt in Lausanne, seine Selbstpräsentation organisierte. Während sein Vater erst im Alter von etwa dreißig Jahren regelmäßig das Ausland bereist hatte, war dies für seinen Sohn bereits ein Teil seiner jugendlichen Sozialisationserfahrungen. Sich als ‚Deutsche‘ durch längere Aufenthalte im Ausland mittels Sprache und Kultur verbunden zu fühlen, war in der Unternehmerfamilie Colsman in dieser Generation eine neue Erfahrung und stand auch im politischen Zusammenhang mit der Gründung des Deutschen Reiches.228 Am Ende der 1870er Jahre, zur Zeit des Schweizer Aufenthalts Paul Colsmans, war der deutsche Nationalstaat eine seit knapp einem Jahrzehnt existierende Erfahrungstatsache und Teil der Lebenswelt. Paul Colsman sprach in seinen Briefen aus Lausanne wiederholt von einer ‚Wir-Gemeinschaft‘ als Deutsche; er bezog sich in seinen Selbstbeschreibungen nicht mehr auf Preußen oder auf die Region des Bergischen Landes,229 wie dies seine Eltern weiterhin taten. In wechselseitiger Verstärkung wirkten die Tatsache des Nationalstaats und die eigene Wahrnehmung im Ausland in seiner Selbstpräsentation aufeinander ein. Während seine Eltern (geb. 1831 und 1836) zwar stolz auf die Errungenschaft eines

226 227 228

Damals ein geläufiger Begriff für den französischsprachigen Teil der Schweiz. Archiv WHC, Sign. 145, Paul Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 6. Dezember 1879. Thomas Mergel stellt solche Vergemeinschaftungsprozesse an den deutschen Auswanderern in den USA dar, die sich erst dort nicht mehr als Badener oder Rheinländer wahrnahmen, sondern als Deutsche. Vgl. Mergel, Das Kaiserreich als Migrationsgesellschaft, S. 379. Sebastian Conrad beschreibt darüber hinaus, wie im Ausland lebende Deutsche im Kaiserreich nicht mehr als Auswanderer galten, sondern zu Auslandsdeutschen stilisiert wurden. Vgl. Conrad, Globalisierungseffekte, S. 409ff. 229 Vgl. zum strukturellen Verhältnis von Preußen und Deutschem Reich nach 1871 differenziert Nipperdey, Der Föderalismus in der deutschen Geschichte, S. 80ff. Zum politischen Integrationsprozess des Rheinlands und Westfalens in Preußen und das Deutsche Reich vgl. Mölich/Veltzke/Walter, Rheinland, Westfalen und Preußen.

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Nationalstaats waren, aber die „imagined community“ (Benedict Anderson)230 der Deutschen als Kultur- und Staatsnation noch nicht als integralen Bestandteil in ihre Selbstpräsentation übernahmen, begann sich dies bereits bei dem jüngeren Bruder des Vaters, Emil (geb. 1848), zu ändern. In seiner Zeit als ReserveOffizier im Krieg 1870/71 und als junger Mann in diversen Auslandspraktika begannen sich bei ihm Konstrukte des spezifisch ‚Deutschen‘ und der Stolz auf deutsche Leistungen in Wirtschaft und Kultur zu formen.231 Aber auch bei ihm blieb dieser Stolz noch ohne konkrete Anbindung an die eigene Person. Diese Anbindung lässt sich erst bei Paul Colsman feststellen, der bereits in seiner Jugend im lebensweltlichen Sozialisationsrahmen des Kaiserreichs aufwuchs und über Schule, Bücher und Zeitungen in den Diskursen des neuen Nationalstaats sozialisiert wurde. Für ihn wurde ‚Deutscher sein‘ ein Abgrenzungsmerkmal von ‚Franzose sein‘ oder ‚Engländer sein‘. Nationalität und Internationalität gingen eine widersprüchliche Verbindung ein. Es entstand eine latente Divergenz zwischen internationaler Lebensführung, die Paul Colsman sein ganzes Leben lang praktizierte, und ebensolchen Geschäftsverbindungen und dem politischen Raum des neuen Nationalstaats, als dessen Teil sich Paul Colsman nun präsentierte.232 Bereits zu Beginn der akademischen Ausbildung in Lausanne war deutlich geworden, dass der achtzehnjährige Sohn den Erwartungen der Eltern an Fleiß und Pflichteifer wieder einmal nicht zur Gänze entsprach. Da Paul Colsman sich nicht mehr wie vormals im nahegelegenen Schwelm, sondern in der weit entfernten Schweiz aufhielt, schien es dem Vater angezeigt, ihm vorsorglich eine Reihe von ‚Brandbriefen‘ zu schreiben. Diese betrafen zunächst die gewählten Fächer und das Stundenpensum: „Was zunächst die projectirten Stunden angeht, so vermisse ich darin die Naturwissenschaften ganz, keine Chemie, Mathematik, Phisik oder Botanik. Ist das gut? ich meine außer den Sprachen & der Geschichte müsse durch eines dieser Fächer etwas Mannigfaltigkeit hinein! Das Wintersemester ist hauptsächlich zum Lernen; die Vergnügen des Sommers sind mit dem schönen Wetter abgethan & jetzt muß der ernste Fleiß die gewonnenen Kräfte benutzen! 3 Fecht & 4 Tanzstunden p Woche scheint mir entschieden zu viel […].“233

Mit des Vaters ‚Vorschlägen‘ für die Fächer und die Stundenzahl (die der Sohn beide nur zum Teil befolgte) verbanden sich wiederholte Ermahnungen bezüglich Fleiß, Leistungsbereitschaft und Lebensführung:

230

So der englische Originaltitel von Benedict Andersons Buch: „Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism“, 1983; deutsch unter dem Titel „Die Erfindung der Nation“. 231 Vgl. dazu Kapitel II über Eheschließungen und Ehebeziehungen, Teilkapitel 4. 232 Vgl. zu Paul Colsmans politischer Positionierung Kapitel II über Eheschließungen und Ehebeziehungen, Teilkapitel 5. 233 Archiv WHC, Sign. 142, Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 19. Oktober 1879.

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Abb. 2: Adele Colsman mit einem ihrer Kinder, um 1860. Abb. 1: Adele Colsman und Wilhelm Colsman-Bredt in den 1860er Jahren.

Abb. 3: Wilhelm Colsman-Bredt in den 1870er Jahren.

Abb. 4: Adele Colsman in den 1870er Jahren.

Abb. 5: Eduard Colsman mit zwei Töchtern in den 1870er Jahren, rechts Laura Colsman.

Abb. 6: Gertrud Colsman in den 1870er Jahren.

Abb. 7: Peter Lucas Colsman als Einjährig-Freiwilliger bei den Garde-Dragonern in Berlin, 1876/77.

Abb. 8: Paul Colsman und Peter Lucas Colsman, 1880.

Abb. 9: Paul Colsman als Einjährig-Freiwilliger bei den Garde-Kürassieren in Berlin, 1883/84.

Abb. 10: Paul Colsman in der Paradeuniform der Garde-Kürassiere, 1883/84. Abb. 11: Elisabeth Barthels und Paul Colsman als Verlobte, 1887.

Abb. 12: Das Fabrikgebäude des Unternehmens Gebrüder Colsman, errichtet 1886/87, Aufnahme 1893.

Abb. 13: Die Weberei im Fabrikgebäude des Unternehmens, Aufnahme 1893.

Abb. 14: Tony Colsman mit dem ersten Kind,1892.

Abb. 15: Paul Colsman während einer Geschäftsreise am Bosporus, um 1900.

Abb. 16: Peter Lucas Colsman jun. im Alter von etwa zwei Jahren, etwa 1895.

Abb. 17: Peter Lucas Colsman jun., um 1900.

Abb. 19: Elisabeth Colsman mit den ältesten Kindern Wilhelm und Elisabeth, etwa 1893.

Abb. 18: Peter Lucas Colsman jun. als höherer Schüler, etwa 1908.

Abb. 20: Paul Colsman mit dem jüngsten Sohn Udo, etwa 1905.

Abb. 21: Paul Colsman im Salon seiner Villa, um 1910.

Abb. 22: Paul und Elisabeth Colsman und ihre Kinder Elisabeth, Paul jun. und Udo bei der Verabschiedung des ältesten Sohnes und Bruders Wilhelm vor dessen Überfahrt nach New York, April 1914.

Abb. 23: Paul Colsman jun. als höherer Schüler, etwa 1916.

Abb. 24: Offiziere in der Etappe an der Westfront im Ersten Weltkrieg, Februar 1915. Zweiter von rechts: Wilhelm Colsman.

Abb. 25: Offiziersunterstand in der Feuerstellung der Batterie an der Westfront, November 1915. Rechts: Wilhelm Colsman.

Abb. 26: Paul Colsman jun. während der Ausbildung bei der Feldartillerie zu Beginn des Jahres 1917.

Abb. 27: Paul Colsman jun. und Paul Colsman im Ersten Weltkrieg an der Westfront; der Sohn als Soldat, der Vater, um das Grab seines ältesten Sohnes zu besuchen, Sommer 1917.

Abb. 28: Elisabeth Colsman beim Besuch ihres Bruders Paul im Lazarett, Sommer 1918.

„Fahre nur fort deinen äußersten Fleiß anzuwenden und du wirst für dich selbst die größte Befriedigung darin finden und den größten Nutzen davon haben! Stenger [Londoner Vertreter von Gebrüder Colsman, CG] war auch mit dem Englisch zufrieden und sehen wir beide über einige Fehler hinweg, hoffend, daß diese bei fernerem Fleiß auch noch beseitigt werden. Den Stundenplan habe ich genau angesehen: aber wie kommt es, daß Samstag nur eine Stunde für den ganzen Tag ist? Kann denn da keine Stunde für irgend ein fehlendes Fach eingeschoben werden? auch Mittwoch ist in dieser Beziehung mager! und daß du so lange aufbleibst ist doch wohl nicht unbedingt nöthig? die Stunden Schlaf vor Mitternacht, sind in deinem Alter sehr wohlthuend; achte nur recht darauf, man kann so leicht seinem Körper wehe thun & das ist denn später nicht wieder gut zu machen!“234

Die Briefe des Vaters enthielten auch Korrekturen der französischen Sprache, in der Paul Colsman regelmäßig Briefe nach Hause zu schreiben hatte: „[…] laß bald von dir hören, in deinen franz Briefen sind noch so viele kleine Fehler, die sich bei einiger Aufmerksamkeit leicht vermeiden lassen, sich anderfalls aber fester & fester setzen z. B. verwechselst du oft die erste und dritte Person z. B. statt je pens je pent […] indeß das macht Nichts, gib darauf Acht & es wird sicherlich besser gehen!“235 „Deinen Samstag Brief empfing ich gestern und freue mich der guten Berichte; […] Leider waren wieder manche Fehler in dem Brief, die mich stutzig machten!! Das darf auch in der Eile nicht passieren!“236

Desgleichen tat die Mutter: „In diesen Tagen habe ich oft an dich gedacht, wie es dir wohl in den ersten Stunden ging, u. wie deine Zeit eingetheilt ist, ob der Unterricht dort in anderer Weise gehandhabt wird, als zu Hause, u. wie es dir dort mit der Wissenschaft geht. Auf die Orthographie mußt du doch rechten Werth legen, für einige Dinge scheint dir das Verständnis noch ganz zu fehlen, wie man z. B. den Infinitiv mit dem Partizip verwechseln kann, ist mir völlig unverständlich, ich meine selbst im Traum dürfe das nicht passieren; u. dann befleißige dich einer schönen Schrift.“237

Zugleich bemühte sich der Vater nach Kräften, die Sozialisationskontexte des Achtzehnjährigen nach seinen eigenen, bürgerlichen Vorstellungen zu gestalten und so weit wie möglich zu kontrollieren. Späte Tanzstunden waren ihm ebenso suspekt wie die dort von ihm angenommene Gesellschaft. Die Tanzstunde am Abend „von 8–10 gefällt mir gar nicht! was werden da für Damen sein? wer geht in so später Stunde aus?“238 Auch die Fechtstunden am Abend bereiteten Wilhelm Colsman-Bredt für seinen achtzehnjährigen Sohn wegen der gleich darauf folgenden Tanzstunden und der Gefahr anschließender Kneipenbesuche Unbehagen:

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Archiv WHC, Sign. 142, Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 18. November 1879. Archiv WHC, Sign. 142, Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 19. Oktober 1879. Archiv WHC, Sign. 142, Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 16. Mai 1880. Archiv WHC, Sign. 158, Adele Colsman an Paul Colsman, 30. April 1879. Archiv WHC, Sign. 142, Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 19. Oktober 1879.

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„Wenn es mit den Fechtstunden puncto Leibesbewegung nicht genügt, was ich fast meine, dann sieh’ dich nach einem Cours um, der Abends früher ist, von 6–7 vielleicht! und bis 10 getanzt, geht leicht noch ein Stündchen sonst zur Abkühlung & Erholung flöten und an Cameraden die dann gerne noch kleben im Caffé oder dergleichen, wird es bei den besten Intentionen deinerseits nicht fehlen […]. Also sei auf der Hut & schreibe mir, was das Resultat deiner Erkundigungen & wie du es gedenkst zu machen; Piguet ist gewiß gerne behilflich. Am liebsten hätte ich, wenn einmal getanzt sein soll & muß, wenn der es quasi en privé mit ein paar Freunden selbst allein arrangiert & würde ich die extra Kosten lieber tragen, als dich 2 mal per Woche in Gesellschaft zu finden respective zu denken, die nicht tip top & first rate in Gesinnung & Erziehung ist!“ 239

Derlei Briefe wurden vom Vater häufig geschrieben und lassen darauf schließen, dass ihr Erfolg beim Sohn nicht eben durchschlagend war. Das Verhalten des Sohnes in Lausanne bereitete den Eltern daher auch wiederholt Sorgen. Er besuchte nicht nur gegen den elterlichen Rat häufig die Oper, sondern vergnügte sich auch mit Freunden in einer den Eltern ungebührlich erscheinenden Weise. So hatte er mit diesen in einem Hof „einige Fensterscheiben“ zerschossen und erbat sich für deren Begleichung einen Vorschuss auf sein Taschengeld: „Der Eigenthümer des Hauses, ein sehr zorniger Mann, wünscht nun für die Scheiben 7,50 Frcs und als Buße 20 frcs für eine fromme Stiftung; […] da ich nun aus Erfahrung weiß, daß ich solche Privatvergnügen aus meiner Tasche bezahlen muß und ich unmöglich mir die Summe von mehr als 9 frcs beschaffen kann, so bitte ich Euch, mir für diese Strafe […] 40 M von den 110 M zu schicken […].“240

Paul Colsman beklagte gegenüber den Eltern des Öfteren sein geringes Taschengeld und hatte in einem Brief offenbar ein höheres als Recht der Kinder eingefordert. Darauf antwortete sein Vater, auch im Namen seiner Frau: „Dein letzter Brief verdroß auch mich, denn wer sind jene ‚Freunde‘ die du dir zum Vorbild in der Ungebundenheit, wenigstens so mußte es uns scheinen gestellt hast! Ich rechne darauf daß du selbst urtheilst und zwischen Gutem und Bösen unterscheiden lernst und nicht stets dasjenige was andere thun & haben als das hältst, was das Beste und Richtigste ist! Du weißt auch noch lange nicht, welche Sorgen die Eltern um jenen ‚selbständigen Burschen‘ von 14 Jahren haben! […] Besinn dich, wenn du Briefe schreibst und gib in jeder Beziehung auf dich Acht; gar leicht ist die gute Sitte der Heimath und des Vaterhauses abgestreift & ein banales, oberflächliches Wesen im Gemüth eingezogen!“241

Auf diesen Brief antwortete der Sohn zwar entschuldigend, aber doch selbstbewusst sein Anliegen verteidigend: „Daß Euch mein letzter Brief so betrübt hat, thut mir herzlich leid, ich habe denselben leider in einem etwas erregten Gemüthszustand geschrieben, so daß vielleicht Ausdrücke in denselben hineingekommen sind, die ich gewiß nicht billige. Daß ich z. B. von einem ‚Recht‘ der Kinder an die Eltern gesprochen habe, ist mir unbegreiflich; ich wollte sagen 239 240 241

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Archiv WHC, Sign. 142, Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 19. Oktober 1879. Archiv WHC, Sign. 168, Paul Colsman an die Eltern, 9. Juni 1879. Archiv WHC, Sign. 142, Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 8. Juni 1879.

‚selbstverständlich‘, denn Knaben von vierzehn Jahren führen ihre ganze Kasse. Über meine Freunde könnt Ihr Euch vollkommen beruhigen, die sind es nicht gewesen, die mich unzufrieden gemacht haben, sondern es war selbstverständlich, daß ich unzufrieden wurde, wenn ich mit Freunden ausging od. auf dem See fuhr und nachher, wenn es am Ende der Woche war, kaum meinen Theil bezahlen konnte, das war für mich sicher nicht angenehm;“242

Kritik an den Entscheidungen der Eltern wurde in Paul Colsmans Brief trotz der vorgebrachten Entschuldigung laut. Hier zeigten sich Konfliktlinien, die in der vorausgehenden Generation zwischen Eltern und Kindern noch nicht ersichtlich gewesen waren. So beklagte der Vater auch wiederholt die ungehobelten Verhaltensformen, die der Sohn seiner Meinung nach zeigte und erinnerte ihn an seine Herkunft und die ihm daraus erwachsenden Verpflichtungen einer bürgerlichen Lebensführung der Balance: „Sehr bedaure ich, daß du die Schwelmer rudité noch nicht abgelegt hast & in dieser Beziehung Klagen von verschiedenen Seiten laut geworden sind! das darf und soll nicht sein! Du mußt dich befleißigen dich durch feine Sitte auszuzeichnen, denn deine Familie steht Gott sei Dank in der ganzen Gegend in gutem feinen Ruf, der begründet sich in erster Linie in dem bescheidenen gesitteten Wesen des Einzelnen in der Begegnung mit Anderen!“243

Zur Einübung in eine bürgerliche Lebensform war es daher für die Eltern entscheidend, dass der Sohn, wie schon in der Schwelmer Schülerpension, in Lausanne in einer Ersatzfamilie lebte. Der Vater erwartete von ihm, dass er wie schon den Schuldirektor in Schwelm nun den französischen Pensionsvorsteher als zweite Vaterfigur akzeptierte: „Ich habe Herrn Piguet s. Z. das Vertrauen geschenkt, meinen ältesten Sohn in sein Haus aufzunehmen, weil ich die positive Überzeugung gewonnen, daß er, ein christlich ernster Mann, meinem ältesten Sohn nicht blos ein Hausphilister, […] – vielmehr von Herzen zu sein wünschte – ein väterlicher Freund. Diese Stimmung spricht sich in all seinen Briefen an mich aus und wirst du nicht anders genannt als votre cher fils, votre bien aimé fils etc. Da mußt du auch ganz anders dich ihm gegenüber stellen […] Deßhalb lieber Paul, sieh’ in Herrn Piguet nicht den ‚Hausphilister‘, sieh’ in ihm den Vertreter deiner Eltern […]. Ich habe Herrn Piguet für dich verantwortlich gemacht und finde es ganz in der Ordnung, daß du ihm sagst wann du ausgehst und wohin! Das ist in jedem geordneten Familienleben anständig und nöthig! Hier in dem kleinen Langenberg verlangen wir alle stets zu wissen, wo unsere Kinder sind, was sie thun und mit wem sie verkehren. Die Regel in Aufstehen und Frühstücken, finde ich ganz vortrefflich […].“244

242 243

Archiv WHC, Sign. 168, Paul Colsman an die Eltern, 9. Juni 1879. Archiv WHC, Sign. 142, Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 8. Juli 1879. Ähnlich argumentierte die Mutter: „Es ist gut, daß du fleißig bei der Arbeit bist, man muß auch nicht aufsehn, u. emsig arbeiten, das war es gerade, was dir so fehlte, das Vertieftsein in die Arbeit, so ganz bei der Sache. Die Gesinnung deiner Genossen bedaure ich recht, laß dich nicht dadurch irre machen […].“ Archiv WHC, Sign. 158, Adele Colsman an Paul Colsman, 11. Mai 1876. 244 Archiv WHC, Sign. 142, Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 29. Juni 1879.

263

Dass der Sohn dem Ersatzvater nicht den aus Sicht der Eltern nötigen Respekt entgegenbrachte, war für den Vater wiederholt Grund zur pädagogischen Intervention. Diese Intervention brachte im folgenden Brief auch grundsätzliche Erziehungseinstellungen und -ziele zum Ausdruck, die dem Sohn mitgeteilt und als Grundlage pädagogischer Maßnahmen vermittelt wurden: „Deine Stellung zu Herrn P. wird sich hoffentlich geändert haben, ich hatte auch einen längeren Brief von ihm und kann ihn nur in seinen Maßnahmen und auch Regeln bestärken! Was andere Jungens thun und lassen, geht mich Nichts an, ich gehe den eigenen Weg, den ich zum Heil meiner Kinder für den besten halte. Ich fürchte der Kirschstein ist nicht von gutem Einfluß auf dich; er mag ja ein ganz ordentlicher Junge sein, indeß ist er zunächst, nach Ablegung des Abitur, quasi zur Erholung dort und wie ich auf meine Erkundigungen in Barmen höre, ist sein Vater sehr schwach gegen ihn und hat, wie es im Leben häufiger bei Leuten vorkommt, die aus engen Verhältnissen plötzlich durch Heirath oder dergleichen in den Reichthum kommen, gegenüber seinen Kindern in dieser Beziehung große Nachsicht, indem er meint, jetzt müßten auch die Kinder vom Reichthum freiesten Gebrauch machen! Das ist grade nicht meine Ansicht! Und wird sich in den meisten Fällen später rächen!“245

Hier fand sich das Prinzip „knappes Brot in strenger Arbeit“ wieder, das Wilhelm Colsman-Bredt einige Jahre zuvor schon einer Cousine als Grundlage bürgerlicher und unternehmerischer Lebensform vermittelt hatte.246 Arbeit als eigenständiger Wert, sparsamer, kalkulierender Umgang mit Geld und Vermögen und insgesamt eine methodische Lebensführung: Das erwartete der Vater von seinem Sohn als sozialisierende Einübung in die bürgerliche Lebensform. Damit verbunden war in dem Brief der erzieherische Versuch, die „Notwendigkeit einer methodischen Lebensführung und einer Berufsethik für die Existenzbewältigung“ begründend zu vermitteln, insbesondere vor dem Hintergrund eines latenten Widerspruchs zwischen „asketischen Arbeitszumutungen und hedonistischen Konsumanreizen“,247 die durch den elterlichen Wohlstand gegeben waren. Es war die permanente erzieherische Herausforderung der Eltern Paul Colsmans, eine entsprechende Versorgung nicht zur Anspruchshaltung bei den Kindern werden zu lassen. Was Helmut Fend als allgemeines Problem der Erziehung in der Bundesrepublik Deutschland seit den 1960er Jahren festhält, gilt für das Bürgertum bereits im Kaiserreich, nämlich die Gefahr, „dass die Arbeitsethik und die Berufsethik, die hinter der Wirtschaftsentwicklung gestanden haben, nicht mehr internalisiert werden, wohl aber der Genuß der Ergebnisse dieser Anstrengungen beansprucht wird“.248 Allerdings blieb dem Vater nicht viel Anderes übrig, als mit brieflichen Forderungen und Beratungen zu agieren. Vom Sohn wurde erwartet, dass er dann selbstständig im Sinne der Eltern handeln würde. Die Konzeption der Erzie245 246 247 248

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Archiv WHC, Sign. 142, Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 8. Juli 1879. Vgl. dazu Kapitel II über Eheschließungen und Ehebeziehungen, Teilkapitel 1. Fend, Sozialgeschichte des Aufwachsens, S. 131. Fend, Sozialgeschichte des Aufwachsens, S. 89. Mit vergleichbaren Beispielen unternehmerischer Erziehung im Kaiserreich Augustine, Patricians and Parvenues, S. 94ff.

hung und Persönlichkeitsentwicklung im Bürgertum des frühen Kaiserreichs, so zeigt zumindest diese Vater-Sohn-Beziehung, ist nicht mit Befehl und Gehorsam, Autorität und Unterordnung zu beschreiben. Deutlich wird vielmehr ein implizites Konzept der ‚agency‘, die in den sozialen Räumen selbstverantwortlich handelnde Person, von der auch im Entwicklungsprozess bereits innere Selbstbeherrschung, äußeres Maßhalten und Zielorientierung verlangt wurden.249 Der Vater analysierte vor diesem Hintergrund wiederholt den „Character“ seines Sohnes und teilte diesem sein Ergebnis auch mit der Aufforderung zur Selbstbeobachtung und Selbstregulierung mit: „Du mußt nur selbst auf dich achten! Deine ganze Character Anlage ist keine gar starke; du bist freundlich entgegenkommend und auch noch nicht geübt genug, die Consequenzen deines Thun & Lassen stets selbst richtig zu ziehen! Das ist eine Gefahr auf die ich dich nicht genug hinweisen kann und deren Begegnung nur durch strengste Aufmerksamkeit auf sich selbst […] bewirkt werden kann.“250

Die Mutter schrieb vergleichbare Briefe an ihren Sohn, hier in dessen Lehrzeit in Barmen: „[…] doch muß ich dich nothwendig auf einige Dinge aufmerksam machen, weil ich merke, daß du selbst gar nicht auf deinen äußeren Menschen denkst, u. oft fürchte ich auch, der innere bleibt in seiner Entwicklung zurück. Du mußt dich wirklich mit deinen Worten u. Ausdrücken ein wenig zusammen nehmen […] Wenn du jetzt nicht ein wenig mehr Werth darauf legst, ordentlich zu denken u. zu sprechen, dich auch ein wenig fein zu benehmen, deine Gesichtszüge mehr im Zaum zu halten, dann wirst du ein ziemlich ungehobelter junger Mann sein. Es könnte doch auch einmal eine Zeit kommen, wo man deinem Wesen u. Leben genau nachforschte u. wie schlimm wäre es dann auch, wenn du nicht […] noch viel hinzu gelernt hättest. Ich bin oft bange, in der jetzigen Freude u. bei all den Verwandten in Barmen, könntest du den Ernst des Lebens vergessen u. wollte ich dich bitten, doch in erster Linie zu bedenken, daß du deine Pflichten zu erfüllen hast, deinen Prinzipal zu befriedigen, ist das erste, u. dich auszubilden, das Vergnügen ist nur ein wenig zur Erholung da.“251

Aber die Konflikte reichten tiefer. Der Vater reagierte im Winter 1879 mehrfach auf Briefe seines Sohnes, in denen sich dieser den väterlichen Wünschen und Anordnungen widersetzt und gleichzeitig ein äußerst selbstbewusstes Verhalten an den Tag gelegt hatte: „Mama und auch Adele [die ältere Schwester, CG] haben dir schon geschrieben, daß derselbe [der Brief Paul Colsmans, CG] auf uns keinen guten Eindruck machte! […] Ausdrücke wie colère! über eine Anordnung deines Vaters, so wie die brusquerie mit welcher du Zeitungen und Briefe verlangst, lassen mich fast fürchten, als wenn Fechten und Tanzen auf dein Gemüth keinen veredelnden, wohl aber einen verwildernden Eindruck gemacht! und das bedaure ich tief; sei doch um Gottes Willen endlich verständig und nimm meine Anordnungen in Freude & Dankbarkeit hin, hast du doch schon so oft und auch 249

Vgl. Krewer/Eckensberger, Selbstentwicklung, S. 575; Orth-Peine, Identitätsbildung, S. 222ff.; Reckwitz, Umkämpfte Maskulinität, S. 66. 250 Archiv WHC, Sign. 142, Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 30. Mai 1879. 251 Archiv WHC, Sign. 142, Adele Colsman an Paul Colsman, 5. Juli 1880.

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besonders während deines dortigen Aufenthaltes erfahren, und es uns auch ausgesprochen und geschrieben, daß du doch fühlst, daß meine Anordnungen die Richtigen und zu deinem Besten sind! Wie kann da dein Herz voll ‚Zorn‘ werden, wo es von Dank überfließen sollte!! Ferner hat ein junger Mensch von 18 Jahren, trotzdem er dir schon nahe Methusalems Alter zu sein scheint, ganz was Anderes zu thun, als täglich den Zeitungsquark zu lesen, um so mehr, wenn er von seiner Schwester peremptorisch Briefe verlangt und dabei in gleicher Linie schreibt: je ne pens pas toujours repondre, j’ai d’autres choses à faire! Was denn? Zeitunglesen? Das kommt doch en dernier lien, und zu allerletzt, wenn es sich darum handelt, den Verkehr mit der älteren Schwester und dem Elternhause aufrecht zu erhalten und zu beleben! – Du hast jedenfalls einen unglücklichen Tag gehabt und kann ich dich bei dieser Gelegenheit nur noch mal bitten, laß dich nicht so leicht hinreißen! Es schadet so unendlich!“252

Die beratende und argumentierende Erziehung der Eltern, die nur selten zu Sanktionen griff und auch bei Konflikten die scharfe Debatte der Strafe vorzog, ermöglichten dem Sohn aber gerade die Entwicklung eigener Lebensideale und Verhaltensformen und zugleich eine Absetzbewegung vom Elternhaus. Es war keine autoritäre, befehlsförmige Erziehung in ebensolchen gesellschaftlichen und familialen Kontexten, sondern im Gegenteil eine zwar regelsetzende, aber argumentativ begründende Gesprächserziehung in bürgerlichen, auf Selbstregulation ausgelegten Umgebungen, welche die Generationskonflikte erst ermöglichte.253 So waren solche Konflikte in den Familienbeziehungen zwischen Wilhelm Colsman-Bredt und seinen Eltern, die von den Eltern trotz emotionaler Nähe hierarchisch organisiert und in den Erwartungskontexten autoritärer gestaltet worden waren, in den Briefen aus den späten 1840er Jahren auch nirgends sichtbar geworden. Helmut Fend hat die Kritik von Jugendlichen an der elterlichen Erziehung in den 1970er und 1980er Jahren der Bundesrepublik Deutschland in vergleichbarer Weise auf deren gegenüber ihren Vorgängergenerationen liberaleren Sozialisations- und Erziehungskontexte zurückgeführt.254 Detlef K. Müller und andere beschreiben liberale bürgerliche Elternhäuser auch als Voraussetzung der deutschen Jugendbewegung, deren Mitglieder, in der Regel minderjährige Schülerinnen und Schüler höherer Mädchen- und Knabenschulen, ohne elterliche Unterstützung und Toleranz nicht hätten auf ‚Fahrt‘ gehen und eine neue, jugendlich-bürgerliche Gegenkultur entwickeln können.255 Auch hier scheinen solche Sozialisationskontexte die Jugendlichen erst befähigt zu haben, sich selbstständig gegen die Eltern und ihre Lebensform und -ideale zu positionie-

252 253

Archiv WHC, Sign. 142, Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 9. November 1879. Zu Generationskonflikten um 1900 vgl. Groppe, Bildung und Habitus in Bürgerfamilien um 1900, S. 70ff.; Reulecke, The battle for the young; Borut, Jewish politics and generational change; Speitkamp, Geschichte der Jugend, S. 122ff. 254 Vgl. Fend, Sozialgeschichte des Aufwachsens, S. 111ff. 255 Vgl. Müller, Schulkritik und Jugendbewegung; de Ras, Körper, Eros und weibliche Kultur.

266

ren.256 Dazu traten die langen Bildungs- und Ausbildungszeiten der männlichen Jugendlichen, die diese über die Adoleszenz hinaus in elterlicher und institutioneller Abhängigkeit hielten und zu Protest und Revolte gegen die Abhängigkeit führen konnten.257 Die Konflikte waren zugleich geschlechtsspezifisch: Sie fanden im Kaiserreich überwiegend, zumindest in der öffentlichen Aufmerksamkeit, zwischen Vätern und Söhnen statt.258 Adele Colsman zum Beispiel unterstützte die Erziehungsanstrengungen ihres Mannes, war aber weit weniger in die Konfliktkonstellationen involviert, sondern nahm die Rolle einer ausgleichenden Beraterin beider Seiten ein. Paul Colsman gehörte mit seinem Geburtsjahr 1861 der Alterskohorte an, deren Angehörige Martin Doerry, die Jahrgänge von 1853 bis 1865 umfassend, 1989 in seiner sozialisationshistorischen Studie als „Übergangsmenschen“ beschrieb. Als Zuspätgekommene, die an den Reichseinigungskriegen und am Aufbau des neuen deutschen Reiches nicht mehr hatten mitwirken können, seien sie durch „Autoritätsfixierung, Assimilation, Harmonieorientierung und Aggressivität“259 bestimmt gewesen und hätten in den letzten zehn Jahren vor dem Ersten Weltkrieg schließlich alle sozialen Felder bestimmt: Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Sozialreform, Kunst usw.; daher bezeichnet Doerry diese Alterskohorten als „Wilhelminer“. Die Problematik dieser Kohorten habe zudem in der Erfahrung tiefgreifender Modernisierungsverwerfungen bestanden. Dies habe sich in einem starken Nationalismus und einem aggressiven Imperialismus Bahn gebrochen sowie in willfährigen Anpassungsleistungen an die politische Obrigkeit und an die konservativen Führungsschichten, insbesondere den Adel.260

256 257

258

259 260

Ähnlich Fend für die 1970er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland, vgl. Fend, Sozialgeschichte des Aufwachsens, S. 123. Thomas William Taylor hält dies in Kombination mit Arbeitsmarktkrisen für einen wichtigen Grund von Generationskonflikten im Kaiserreich. Vgl. Taylor, The Crisis of Youth in Wilhelmine Germany, S. 348ff. Die Konflikte bürgerlicher Jugendlicher mit den Eltern, so Taylor, seien erst dann manifest geworden, als die eigentliche Jugendphase bereits überwunden, aber aufgrund von Qualifikationskrisen oder verlängerten Wartezeiten auf eine Anstellung die Abhängigkeit von den Eltern und das Zusammenleben mit ihnen bis in das Erwachsenenalter hinein andauerte. Hier konnte die Jugendbewegung stattdessen eine Art ‚cooling out‘ darstellen, welches die Familienkonflikte kanalisieren half. Vgl. auch Taylor, Images of Youth and the Family in Wilhelmine Germany, S. 67ff. Konflikte zwischen Mädchen und ihren Eltern sind auch in den Briefen aus der Unternehmerfamilie Colsman nicht überliefert. Vgl. Kapitel V über die Sozialisation der Mädchen. Doerry, Übergangsmenschen, S. 29. Zur Alterskohortenbestimmung vgl. ebd., S. 41f. Vgl. Doerry, Übergangsmenschen, S. 43ff., Zitate S. 13, S. 44. Etwa gleichlautend und im Anschluss an Doerry Schubert-Weller, „Kein schönrer Tod …“, S. 35ff., hier zudem mit einer Zuspitzung auf eine ‚lange Linie‘, S. 25: „Insofern läßt sich ein weiter Bogen von 1890, von der Berliner Schulkonferenz bis hin zur ‚Machtergreifung‘ 1933 bzw. der Deklaration der Hitler-Jugend als Staatsjugend 1936 ziehen […];“

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Dass sich das deutsche Bürgertum stattdessen selbstbewusst als solches präsentieren und eine entsprechende Lebensform ausbilden konnte, ist in diesem Kapitel sowie in dem Kapitel II über die Ehebeziehungen bereits dargelegt worden. Aber wie steht es um Autoritätsfixierung und Harmonieorientierung und um die Aggressivität, sollte diese Harmonie bedroht sein? Für Doerry setzte in der Schule des Kaiserreichs unmittelbar die politische Sozialisation zu „Patriotismus und Untertänigkeit“ ein.261 Die von ihm exemplarisch beschriebenen sieben Personen zeigten eine erschreckende Autoritätshörigkeit und widerspruchslose Anpassungsbereitschaft. Amtsautoritäten wurden nicht in Frage gestellt, körperliche Züchtigung widerspruchslos akzeptiert, Kritik an der Schule wurde nicht aus einer liberalen Perspektive geübt, vielmehr sollten „Mannesstolz“ und „Herrschaft“ dort eine noch würdigere Form erhalten als bislang.262 Die „Unfähigkeit, Kritik zu ertragen“ und Konflikte auszuhalten sei, so Doerry, ein weiteres Kennzeichen der Wilhelminer gewesen. Zugleich sei ihnen eine latente Grundaggressivität zu Eigen gewesen, die sich als „Ferment militanter Ideologien“ erwiesen habe.263 Grundlage seiner Analyse sind allerdings retrospektiv verfasste Autobiographien. Wenn Doerry bei den Wilhelminern darüber hinaus eine mangelnde Diskussionskultur und Kritikfähigkeit beanstandet sowie eine patriarchalische Unternehmensführung, welche keine Mitbestimmung der Arbeitnehmer kannte, dann fordert er letztlich Verhaltensweisen und Orientierungen ein, welche erst späteren Zeiten, insbesondere der Bundesrepublik der 1970er Jahre, angehören. In solcher Perspektive hängen „Lob und Tadel für ältere Autoren […] schlichtweg davon ab, wie sehr sie möglicherweise danach strebten, so zu sein wie wir“.264 Historisch produktiver scheint es mir, die Ambivalenzen, Problembereiche und Entwicklungsperspektiven einer Epoche durch synchrone Vergleiche mit anderen Staaten zu beurteilen. So hat Hans-Ulrich Wehler beispielsweise festgehalten, dass der „Spätpuritaner in Massachusetts, der viktorianische Engländer, der republikanische Franzose“ von der „wilhelminischen Vaterfigur schwerlich an Härte übertroffen“ worden seien. Wehler sah aber deren besondere Bedeutung in der wechselseitigen Verstärkung durch „Gottvater“, „fürstlichen Landesvater“ und „paternalistischen Unternehmer“ im Kaiserreich, so dass dort eine durchgehende

261

Doerry, Übergangsmenschen, S. 100. Eine solche Bewertung für die Schule des Kaiserreichs mit guten Argumenten abwehrend Tenorth, Schule im Kaiserreich, S. 13, S. 20, S. 25ff. Ebenso deutlich die These des autoritären Staats mit schulischer Untertanenerziehung verwerfend Kuhlemann, Das Kaiserreich als Erziehungsstaat. Zur Methodenkritik an bisherigen Analysen vgl. ebd., S. 96f. 262 Doerry, Übergangsmenschen, S. 155ff. Thomas William Taylor differenziert dies deutlich und wehrt die These vom autoritären Kaiserreich insbesondere für die Sozialisation in Bürgertum und Mittelschicht scharf ab: „The image of the conservative, authoritarian middle class monolith in the Second Empire simply does not hold.“ Taylor, The Crisis of Youth in Wilhelmine Germany, S. 350. 263 Vgl. Doerry, Übergangsmenschen, S. 166ff., Zitate S. 166, S. 172. 264 Skinner, Bedeutung und Verstehen in der Ideengeschichte, S. 32.

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Matrix der Autorität vorhanden gewesen sei.265 Wenn allerdings diese Verstärkungen, wie neuere Forschungen zum Kaiserreich zeigen, viel weniger markant waren als Wehler annahm und kaum different zu den Kontextbedingungen in anderen europäischen Staaten, dann entfällt die These von der Matrix der Autorität im Kaiserreich. Unzweifelhaft verhielt sich Wilhelm Colsman-Bredt in den Briefen an seinen Sohn autoritärer als heutige Erziehungsratgeber dies empfehlen würden. Die Selbstreflexion und Selbstbestimmung des Sohnes sollten auf Wilhelm Colsman-Bredts eigenes Lebensideal und das Berufsziel des Unternehmers zulaufen. Sichtbare Abweichungen davon wurden mit langen Erziehungsbriefen beantwortet. Wilhelm Colsman-Bredts Liberalität lag vor allem in seinen diskursiven Erziehungspraktiken, weniger in den Lebenszielen, die dem Sohn als gegeben präsentiert wurden. Aber Wilhelm Colsman-Bredts Möglichkeiten, diese Ziele mit dem Sohn auch zu realisieren, waren begrenzt, und der rebellische Sohn zeigte ihm, wie auch den Schuldirektoren und Pensionsvätern, die Grenzen immer wieder auf. Diese wandten sich bei Erziehungsschwierigkeiten brieflich an den Vater, dieser wiederum vermittelte die Klagen der Erzieher brieflich an den Sohn. Der Vater beschränkte seine Autorität dabei letztlich auf eine schriftliche Belehrung und Beratung. Auf Konflikte antwortete er erklärend, überlegend, ermahnend und auch die eigene Lebensform idealisierend. Aber er befahl wenig, er drohte nicht, und er sanktionierte nur selten. Es überwogen Appelle an die Vernunft, was Helmut Fend angesichts ähnlicher Phänomene zwischen den 1950er und den 1970er Jahren für Westdeutschland als Symptom schwindender elterlicher Autorität interpretiert.266 Wilhelm Colsman-Bredt und sein Sohn standen sich häufig mit unterschiedlichen Positionen in einer Patt-Situation gegenüber. Der Sohn agierte selbstständig; er positionierte sich selbstbewusst und oft dominant gegenüber Geschwistern, Lehrern und Erziehern. Seine Sozialisationskontexte in der auswärtigen Schule, der Schülerpension, auf der Akademie und im Institut in Lausanne waren bestimmt durch Beziehungen, die in ihrer Rollenvielfalt (Ersatzsohn, zahlender Pensionär, Gast, Schüler bzw. Student) mannigfaltige Ausgestaltungen und das Ausspielen der Rollen gegeneinander zur Vergrößerung persönlicher Freiräume ermöglichten. Das Zusammenleben in einer gleichaltrigen männlichen Peer Group unterschied sich stark von der Geschwistergemeinschaft zuhause und erzeugte Verhaltensweisen und Forderungen gegenüber den Eltern, die durch die Peer Group-Interaktion und durch die erlebten und erzählten Vorbilder anderer Eltern-Kind-Beziehungen in seiner Peer Group erzeugt wurden. Anders als in dem Internat, das sein Vater besucht hatte, verfügten die Peer Groups Paul Colsmans zudem über unbeaufsichtigte, frei zu gestaltende Zeit. Konfliktaustragung, Diskussion, die Entstehung jugendlich-männlicher Subkulturen, Bildungsprozesse im Horizont von nationalen und internationalen 265 266

Wehler, Das Deutsche Kaiserreich, S. 124. Vgl. Fend, Sozialgeschichte des Aufwachsens, S. 111f.

269

Bildungsinstitutionen und internationalen bürgerlichen Gesellschaften, die auch das weitere Leben Paul Colsmans bestimmen würden, ließen nicht die Selbstpräsentationen und Handlungsformen eines Untertanencharakters entstehen, sondern formten ein bürgerliches Lebensmodell der Balance, das zeittypisch, d. h. different zum Lebensmodell der Eltern, ausgestaltet wurde und auch seine geschlechtsspezifische Rollengestaltung als Mann definierte. Paul Colsman blieb lebenslang deutlich konfliktfreudiger als sein Vater, und seine Handlungsorientierungen in seinem Unternehmen und in der Gesellschaft lassen sich am ehesten als Handeln im Bewusstsein von ‚Checks and Balances‘ beschreiben. Anders als sein Vater war er bereit, Spielräume grundsätzlich auszuloten und Machtvakua zu nutzen, akzeptierte aber gleichzeitig Grenzziehungen durch Andere und die Regeln von Institutionen und Organisationen. Dies war nicht nur in hierarchischen Konstellationen der Fall, zum Beispiel gegenüber Regierung und Militär, sondern auch gegenüber den Lehrern seiner Kinder, den anderen Teilhabern im Familienunternehmen, innerhalb seiner eigenen Familie und gegenüber Freunden und Geschäftspartnern. Es sind die zeitlich versetzten Sozialisationserfahrungen der Alterskohorten und Familiengenerationen, die unterschiedliche Weltinterpretationen, Selbstpräsentationen und Handlungsorientierungen zur Folge haben und dadurch historischen Wandel unterstützen oder herbeiführen. Im Falle Paul Colsmans waren es während seiner Jugend und jungem Erwachsenenalter die beschleunigte Technisierung der Arbeitswelt, die Umstellung des Familienunternehmens auf industrielle Fertigung in der Fabrik in den 1880er Jahren, die dadurch notwendige betriebliche Reorganisation mit dauerhaft beschäftigten Arbeitern und Angestellten, das eigene Engagement in unternehmerischen Verbänden sowie die umfassende Weltmarktverflechtung der deutschen Industrie mit zeitgleich wachsender internationaler Konkurrenz, die sein Arbeitsleben und seine Lebensform von den späten 1880er Jahren bis in die frühen 1920er Jahre maßgeblich bestimmen sollten. In seiner Lebensform lassen sich die Wandlungen von der ersten Phase des Kaiserreichs, den 1870er und 1880er Jahren, zur zweiten, von den 1890er Jahren bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, deutlich nachzeichnen.267 David Riesman hatte 1949 den Umschwung vom 19. zum 20. Jahrhundert in den westlichen Industriegesellschaften durch fundamental veränderte Kontexte der Persönlichkeitsentwicklung bestimmt gesehen. Institutionen zur Verwaltung und Regulierung von Großgruppen und -organisationen (z. B. Parteien und Industriebetriebe) hätten in wachsendem Maß die Sozialisationserfahrungen bestimmt. Nimmt man diese Interpretation auf, kann für das Kaiserreich beobachtet werden, dass soziale Klassendifferenzen als Tiefenstruktur der Gesellschaft zunehmend durch eine horizontale Anordnung der Massen ergänzt wurden. Die Arbeiter großer Fabriken wurden beispielsweise durch zeitlich getaktete Fabrikarbeit für sich und andere als Großgruppe und damit auch als soziale 267

270

Vgl. dazu Kapitel II über Eheschließungen und Ehebeziehungen, Teilkapitel 5.

Klasse deutlicher erkenntlich, die Unternehmer als ihr Gegenüber ebenso.268 Damit musste nicht zwingend eine Veränderung des Sozialcharakters vom „inner-directed“ zum „other-directed character“ bewirkt werden, wie Riesman annimmt.269 Vielmehr bewirkten die neuen Verhältnisse vor allem eine aktive politische Gestaltung und Anordnung der Massen, mit entsprechenden Positionierungen der Gewerkschaften, der SPD usw., aber auch der Unternehmer. Paul Colsmans schulische und außerschulische Erfahrungen in vielfältigen und häufig nicht kongruenten Sozialisationskontexten eröffneten ihm eine Handlungsorientierung der ‚Checks and Balances‘; für ihn blieb es lebenslange Praxis, Möglichkeiten individueller Lebensgestaltung und Interessendurchsetzung aktiv auszuloten und erst auf klare Grenzziehungen zu reagieren. Diese Persönlichkeitsstruktur traf in der Jugend konfliktreich auf die seines Vaters und ab den 1890er Jahren auf die von Riesman benannten Massenerscheinungen und Großorganisationen.270 Es wäre zu prüfen, ob für Teile des deutschen Bürgertums, unter anderem durch Schulverschickungen, ähnliche Sozialisationskontexte vorlagen, die im Zusammenhang der begleitenden ökonomischen, sozialen und politischen Entwicklungen dann auch zu ähnlichen Selbstpräsentationen und Handlungsorientierungen führten, welche die ‚neue Zeit‘ ab den 1890er Jahren so sehr prägen sollten, dass viele nationale und internationale Zeitgenossen von einem neuen Typus sprachen, den sie ‚neudeutsch‘ nannten: etwas zu laut, oft auch auftrumpfend und vor allem selbstbewusst und machtorientiert.271 Dieser Typus enthielt auch ein neues Männlichkeitsideal: Dieses war nicht mehr auf möglichst umfassende Selbstbeherrschung und maßvolle Zurückhaltung angelegt, sondern auf Aktion und Reaktion. Während Paul Colsmans Aufenthalt in Lausanne legte sein Freund Peter Conze in Gütersloh auf dem Gymnasium das Abitur ab. Wie stark für Paul Colsman zu diesem Zeitpunkt bereits – bei aller Besorgnis seiner Eltern – die wirtschaftsbürgerliche Sozialisation und unternehmerische Selbstpräsentation in die Interaktion mit seinem Freund hineinwirkte, zeigt folgende Briefstelle:

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Die Sozialdemokratie begann mit dieser sichtbaren Erfahrung im Kaiserreich ebenso Politik zu machen wie die diversen Unternehmerverbände auf der Gegenseite. 269 Vgl. Riesman, Die einsame Masse, S. 44ff. Als innengeleitet bestimmt Riesman alle „Typen“, die gekennzeichnet sind durch eine verinnerlichte „Kraft, die das Verhalten des Individuums steuert“, ohne dass sich diese Kraft ständig an machtvollen Strukturen bricht. (S. 45f.). Der außengeleitete Typus befindet sich dagegen in einer stark „zentralisierten und bürokratisierten Gesellschaft“ (S. 50), in der er agieren muss. Er ist aktiv wie passiv in Großgemeinschaften eingeordnet, wobei ihm das Urteil der vielen gleichrangigen Peers in zunehmendem Maße wichtig ist und er sich um deren Anerkennung bemüht. Zu einer Typologie von Persönlichkeitsstrukturen im 19. und 20. Jahrhundert vgl. auch Reckwitz, Umkämpfte Maskulinität, S. 67f. 270 Vgl. zu Paul Colsman im Erwachsenenalter und in der Ehe Kapitel II über Eheschließungen und Ehebeziehungen, Teilkapitel 5. 271 Vgl. dazu Nipperdey, War die Wilhelminische Gesellschaft eine Untertanen-Gesellschaft, S. 174.

271

„Das Abitur ist für dich auf jeden Fall ein Abschnitt im Leben, wie es ja für jeden Menschen ein wichtiger Punkt ist, wenn er seine Schulbildung abschließt. Ich denke mir, daß du dich jetzt entschlossen haben wirst, ob du studieren willst und dein Leben den Musen weihen oder ob du Geld verdienen [Hervorh. CG], und Hermes in dein Wappen setzen willst.“272

Wer Geld verdienen wollte, so der Siebzehnjährige, der sollte besser nicht Wissenschaftler werden, sondern Unternehmer. Sein eigenes Berufsziel schien da bereits am Horizont auf. Nach der Akademiezeit in Lausanne war es für ihn endgültig klar. Paul Colsman absolvierte anschließend eine kaufmännische Lehre in Barmen und trat 1886 in das Familienunternehmen Gebrüder Colsman ein. 1891 erfolgte die Aufnahme als Teilhaber.

4.4 Schulische Sozialisation zwischen Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg In der Generation der Kinder Paul und Peter Lucas Colsmans, die im Zeitraum kurz vor der Jahrhundertwende 1900 geboren wurde, besaß das Langenberger Realprogymnasium bereits die Berechtigung zur Erteilung des Einjährig-Freiwilligen-Zeugnisses und wurde 1911 schließlich zur realgymnasialen Vollanstalt aufgewertet, als Reformrealgymnasium nach dem Frankfurter Modell.273 Da sich die Bildungswege der männlichen Unternehmerkinder aber von Generation zu Generation leicht verlängerten, wurde auch diese Generation ‚schulverschickt‘, nun aber, um andernorts das Abitur abzulegen oder um schlicht Sozialisationserfahrungen außerhalb des Elternhauses zu machen. Paul Colsmans Söhne Wilhelm (1888–1917) und Paul (1898–1922) besuchten nach privater Vorbereitung und zweijährigem Besuch der örtlichen evangelischen Volksschule bis zum Erhalt der Einjährig-Freiwilligen-Berechtigung zunächst das Langenberger Realprogymnasium. Wie ihr Vater verblieben sie deshalb bis zum Alter von fünfzehn Jahren im Elternhaus. Anschließend besuchten sie in Barmen bzw. Remscheid die Oberstufen realgymnasialer Anstalten und lebten bei den Direktoren der Schulen in Schülerpensionen. Beide legten an den auswärtigen Schulen 1907 und 1916 das Abitur ab. Ähnliche Qualifikationen erreichten auch zwei Söhne Peter Lucas Colsmans, Helmuth (1893–1962) und Erwin (1896–1962), die ebenfalls das Abitur ablegten, beide allerdings auf dem Langenberger Reformrealgymnasium, der zweite 1914 als Notreifeprüfung. Das Abitur war ein neues Qualifikationsziel für diese Generation geworden und verlängerte die Bildungs- und Ausbildungswege nochmals um mehrere Jahre.274 272 273 274

272

Archiv WHC, Sign. 2, Paul Colsman an Peter Conze, 13. September 1879. Vgl. Storch, Geschichte der höheren Schule in Langenberg, S. 131ff. Vgl. zur Verlängerung der Ausbildung in Unternehmerfamilien im Kaiserreich nach 1900 Taylor, The Crisis of Youth in Wilhelmine Germany, S. 230. Abiturientenlisten der höheren Schule in Langenberg bei Storch, Geschichte der höheren Schule in Langenberg, S. 165ff.

Nach der Jahrhundertwende 1900 begannen auch diejenigen Söhne des Wirtschaftsbürgertums ein technisches oder kaufmännisches Studium, die keine akademischen Berufe, sondern Karrieren als Eigentümer-Unternehmer oder als Direktoren (Manager) größerer Unternehmen anstrebten. 1907 besaßen schon 31,9% der deutschen Eigentümer-Unternehmer einen akademischen Abschluss, 1929 war es mit 47,3% fast die Hälfte.275 Wilhelm Colsmans Abiturzeugnis enthielt zum Beispiel den Hinweis, dass er die Schule verlasse mit dem Ziel, „Fabrikant“ zu werden.276 Parallel zum Einjährig-Freiwilligen-Jahr in Karlsruhe (erstmals anstelle eines Garderegiments in Berlin) erfolgte für ihn ab 1907 der Besuch der dortigen Technischen Hochschule und ab 1914 ein Ausbildungsjahr in den USA. Helmuth Colsman legte sein Abiturientenexamen am Langenberger Reformrealgymnasium ab277 und studierte ab 1912 an der Technischen Hochschule in München Maschinenbau. Wilhelm Colsmans jüngerer Bruder Paul (geb. 1898) und dessen Cousin Hans (geb. 1896) besuchten nach dem Abitur (Notreifeprüfung 1916 bzw. 1914) und der Teilnahme am Ersten Weltkrieg 1920 zunächst für ein Jahr die Webschule in Krefeld, anschließend ab 1921 die Handelshochschule in Berlin.278 Einzig Peter Lucas Colsman (1892– 1917), der älteste Sohn seines gleichnamigen Vaters, hatte aus der jüngeren Generation die Schule, das Internat Kalkuhl, 1909 mit der Einjährig-Freiwilligen-Berechtigung verlassen. Anders als in der Elterngeneration zeigen sich in den Briefen der Jugendlichen nach der Jahrhundertwende keine Konfliktkonstellationen mehr. Weder mit den Eltern noch mit den Schullehrern werden Autoritätskonflikte und Kämpfe um Autonomie und Selbstständigkeit sichtbar.279 Die Lebensverhältnisse in den Schülerpensionen veränderten sich gegenüber der Schulzeit Paul Colsmans in den späten 1870er Jahren allerdings kaum. Seine Söhne Wilhelm und Paul besaßen in Barmen und Remscheid gleich ihrem Vater ein eigenes Zimmer in den Häusern der Schuldirektoren, in denen neben ihnen noch weitere Mitschüler wohnten.280 Paul Colsmans ältester Sohn Wilhelm schrieb mit sechzehn Jahren 275 276 277 278

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Vgl. Kaelble, Soziale Mobilität und Chancengleichheit, S. 244. Ähnlich Berghoff/Möller, Wirtschaftsbürger in Bremen und Bristol 1870–1914. Archiv WHC, Sign. 40, Abiturzeugnis für Wilhelm Colsman, Realgymnasium Barmen, 1907. Vgl. Storch, Geschichte der höheren Schule in Langenberg, Abiturientenlisten, S. 166. Vgl. Archiv WHC, Sign. 46, Familienchronik Paul und Elisabeth Colsman, 1880–1931. Zu den Biographien Helmuth und Erwin Colsmans vgl. auch Nachrichtenblatt der Familie Colsman, Nr. 31, 1963, Nachruf Hermann Helmuth Colsman, S. 8f., Nachruf Erwin Colsman, S. 10f. So äußerte sich Paul Colsman auch durchweg zufrieden über die Lernerfolge und das Leben seines Sohnes Wilhelm in der Schülerpension: „Wilhelm kommt in Barmen auf dem Reform Real-Gymnasium gut voran. Latein ist das Fach, in welchem das Mitkommen schwierig für ihn ist. An seinem Hausherrn & Director hat er eine tüchtige Stütze.“ Archiv WHC, Sign. 2, Paul Colsman an Peter Conze, 8. Juni 1904. Vgl. Archiv WHC, Sign. 2, Paul Colsman an Peter Conze, 1. Juni 1903.

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in seinem ersten Brief 1904 aus der Schülerpension beim Direktor des Barmer Reformrealgymnasiums: „Es herrscht hier im Hause ein sehr netter, gemütlicher Ton. Herr Direktor ist sehr für die Pünktlichkeit ½ 8 ist spätestens Frühstück; ½ 1 Mittagessen, 4 ¼ Kaffeetrinken und um 8 Uhr Abendessen. Wenn Kurt B. und ich nicht unten sind werden wir geschellt. Kurt ist sehr nett, er hat viele Bekannte, die ihn besuchen und er sie. In meiner Klasse scheinen manche nette Schüler zu sein; Herr Direktor nannte mir einige, mit denen ich mich gut anfreunden könnte, noch einige, die nicht zuverlässig wären.“281

1915 schrieb Paul Colsman jun. als Siebzehnjähriger aus Remscheid an seine Eltern: „Unser Klassenlehrer heißt Legner und scheint sehr tüchtig zu sein; wir haben bei ihm Latein, Deutsch und Geschichte. Mathematik beim Dir[ektor]. […] Die Mitschüler scheinen ganz nett. Zwar kenne ich sie bisher nur wenig. Das Mittagessen ist gut es wird allerdings viel dabei gespielt, kaum gesessen, Zeitung gelesen. […] Es gibt immer Suppe, Fleisch und Gemüse; Nachtisch nur Samstags. Mein Zimmer ist so lala. Bettlampe fehlt. Schreibtischlampe wird durch Herüberziehen der Mittellampe bewirkt. Einrichtung um sich abends zu waschen fehlt. Es gibt andauernd außer Mittags Kaffee (coffeinfrei) zu trinken. […] Bitte sendet folgendes 1. das englische Buch The English Scholar (steht im Regal) 2. alle Preparationsheftchen die im Regal aufzufinden sind auch die wo keine Wörter drin stehen) 3. die Dose mit Federn und Heftzwecken. Bitte keine Wäsche, der Waschtisch ist übervoll. Höchstens weiche Kragen […] Anzüge müssen selbst gebürstet werden; es wäre sehr angenehm wenn ich eine härtere Bürste hätte.“282

Auch bei Wilhelm und Paul Colsman jun. übernahmen die Schuldirektoren die stellvertretende Vaterstelle. Sie waren verantwortlich für die Erziehung und teilten den Söhnen Paul Colsmans das Taschengeld ebenso zu wie der Direktor Köttgen vormals ihrem Vater. Sie unterstützten die Pensionsschüler auch beim Lernen. Der Direktor in Barmen hörte Wilhelm Colsman und die anderen Pensionsschüler beispielsweise im Lateinischen ab und war gleichzeitig deren Lateinlehrer in der Schule!283 Die Freizeit wurde jedoch im Falle von Paul Colsman jun. inzwischen anders verbracht: Nicht mehr wie im 19. Jahrhundert mit Reiten und Spazierengehen, sondern mit Tennis, einem modernen ‚Sport‘.284 Der Tag in Schule und Schülerpension verlief allerdings weiterhin gleichförmig und in der Struktur dem in der Vätergeneration vergleichbar: Auf die Schulstunden folgten Arbeitsstunden und eine schulbegleitende Nachhilfe durch weitere Arbeitsstunden mit dem Direktor und den Mitbewohnern;285 Abwechslung brachte nur das nachmittägliche Tennisspiel. Nach Aussage von Paul 281 282 283 284

Archiv WHC, Sign. 40, Wilhelm Colsman an die Eltern, 23. April 1904. Archiv WHC, Sign. 175, Paul Colsman jun. an die Eltern, 18. April 1915. Vgl. Archiv WHC, Sign. 40, Wilhelm Colsman an die Eltern, 23. April 1904. Vgl. Archiv WHC, Sign. 175, Paul Colsman jun. an die Eltern, 20. Juni 1915. Vgl. dagegen noch Paul Colsman 1878 zu seiner Freizeit: „Onkel Emils Hector wird von mir gewissenhaft jeden Tag bewegt.“ Archiv WHC, Sign. 2, Paul Colsman an Peter Conze, 11. September 1878. 285 Vgl. Archiv WHC, Sign. 175, Paul Colsman jun. an die Eltern, 12. Dezember 1915.

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Colsman jun. fühlte sich der Remscheider Klassenlehrer verantwortlich für eine kulturelle Bildung der Schüler über den Unterricht hinaus und setzte dazu auch neue Medien (Projektoren) ein: „Einmal in der Woche zeigt uns Dr. Legner Lichtbilder von den Kunstwerken der Griechen und alten orientalischen Völker; wir vermuten, daß die Sache sehr schön und lehrreich wird.“286 In den Briefen von Paul Colsman jun. spielten die Politik und der beginnende Krieg eine wichtige Rolle. Er war vor dem Ersten Weltkrieg Mitglied einer Wandervogelgruppe geworden und meldete sich schließlich 1916 als Kriegsfreiwilliger.287 Ein Wandervogel zu sein war für ihn allerdings kein fundamentaler Protest gegen Elternhaus und Schule gewesen. Die Mitgliedschaft war, ebenso wie für viele andere Wandervögel, auch keine weltanschaulich motivierte Feier der ‚Jugend‘ (als welthistorisches Prinzip zur Erzeugung des ‚Neuen Menschen‘) und kein Aufbruch in eine andere, jugendbestimmte Zukunft gewesen, sondern die schlichte Möglichkeit, in größeren Jugendgruppen die Freizeit in der Natur zu verbringen.288 Daher bestand für ihn auch kein Widerspruch zwischen der Mitgliedschaft in einer Wandervogelgruppe und der Teilnahme an einer von Erwachsenen geleiteten Jugendwehr, der er vermutlich nach Beginn des Ersten Weltkriegs, zunächst in Langenberg, dann am neuen Schulort in Remscheid, beitrat. In den Jugendwehren wurden nach Kriegsbeginn auf freiwilliger Basis männliche Jugendliche zu vormilitärischer Ausbildung (Exerzieren und militärische Geländespiele) angehalten, die der Wehrtüchtigkeit dienen sollten, wozu die Jugendlichen in Jugendeinheiten am Ort zusammengezogen wurden. Seit 1916 konnten durch den eingeführten „Vaterländischen Hilfsdienst“ zudem alle Jugendlichen ab dem Alter von achtzehn Jahren zu kriegsunterstützenden Hilfstätigkeiten (Krankenpflege, Mithilfe in Land- und Forstwirtschaft, Arbeit in kriegswichtigen Betrieben usw.) herangezogen werden; schließlich wurde das Alter auf zwölf Jahre herabgesetzt und auch Mädchen und Frauen einbezogen.289 Paul Colsman jun. war 1915 in den Briefen an seine Eltern überzeugt davon, dass die Jugendwehren einen Beitrag zur Verteidigung des Vaterlandes leisten konnten. Allerdings sollten in der Jugendwehr „Zug und Disziplin drin“ sein, was die Remscheider Jugendwehr zu seinem Missfallen nicht besaß: „In der Jugendwehr ist ein schlapper Betrieb. Es sind allerdings 286 287

Archiv WHC, Sign. 175, Paul Colsman jun. an die Eltern, 12. Dezember 1915. Vgl. dazu Kapitel VII über den Ersten Weltkrieg, Teilkapitel 3, sowie Fiedler, Jugend im Krieg. 288 Zur weltanschaulichen Überhöhung von ‚Jugend‘ als Altersphase und Lebenseinstellung zwischen Jahrhundertwende und den 1920er Jahren (‚Jugend ist ein Entschluss‘) in Texten der Leitfiguren der Jugendbewegung vgl. Groppe, Die Macht der Bildung, S. 334ff., S. 412ff. Taylor verweist auf die enge Kooperation von Eltern und Jugendlichen im frühen Wandervogel, beispielsweise wenn diese in Berlin gemeinsame Ausflüge unternahmen. Vgl. Taylor, Images of Youth and the Family in Wilhelmine Germany, S. 67f. 289 Vgl. Speitkamp, Geschichte der Jugend, S. 139; Vogel, Nationen im Gleichschritt, S. 77, sowie Schubert-Weller, „Kein schönrer Tod …“, S. 90f., S. 319ff.; ders., Vormilitärische Jugenderziehung, S. 515.

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mehr Leute als in Lbg [Langenberg].“290 Offenbar wurde die Mitgliedschaft in einer Jugendwehr von Seiten der Schule gefördert, wenn nicht sogar verlangt, denn Paul Colsman jun. schrieb in demselben Brief: „Gestern bin ich leider nicht dazu gekommen Euch zu schreiben. Wir mußten nämlich in die Jugendwehr und hatten eine Felddienstübung die von 3 bis 4 Uhr dauerte.“291 1915 hatte Paul Colsman jun. als Schüler überdies politische Vorträge besucht, zum Beispiel der SPD, aber auch Vorträge des konservativen Straßburger Historikers und Zentrums-Politikers Martin Spahn zu „Grundlagen der Weltmachtpolitik“. Während ihn die SPD-Veranstaltung nicht überzeugte,292 fand er die Ausführungen Spahns „sehr gut und klar ausgedrückt“.293 Als 1915 der Sohn des Schuldirektors auf Heimaturlaub von der Front nach Hause kam, wurde er von seiner Familie und dem Kreis der Pensionsschüler gefeiert, was Paul Colsman jun. trotz eigener Kriegsbefürwortung ironisch-distanziert kommentierte: „Sohn Wolf fährt gleich um 8 Uhr fort. Es gab die ganze Woche einen Kuchen nach dem andern. Wein, Sekt und Bier wechselten ab. Heute gab es ein großartiges Abschiedsessen. Die Alte ist noch aufgeregter als sonst.“ 294 Auffällig ist die abfällige Bezeichnung der Ehefrau des Schuldirektors. Auch der Direktor entging in den Briefen nicht der Ironisierung: „Er […] spielt den gütigen Vater, der seinem Sohn etwas aus der Stadt mitbringt. Gearbeitet hat er natürlich nicht mit uns.“295 Hatte Paul Colsmans eigener Vater solche Kritik ausschließlich mit Geschwistern und Freunden ausgetauscht, so äußerte sich Paul Colsman jun. nun in dieser Weise wiederholt gegenüber seinen Eltern. Dabei wurde die Kritik an der Amts- und stellvertretenden Familienautorität des Schuldirektors von den Eltern hingenommen. Die Koalition 290

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Archiv WHC, Sign. 175, Paul Colsman jun. an die Eltern, 18. April 1915. „Gestern war von 3–6 Uhr Jugendwehr, nur exerzieren auf dem Stadtparkplatz: ziemlich stumpfsinnig.“ Archiv WHC, Sign. 175, Paul Colsman jun. an die Eltern, 20. Juni 1915. In einem weiteren Brief, den die Mutter einem 1916 entstandenen Tagebuch von Paul Colsman jun. über seinen Erntehilfeeinsatz mit der Jugendwehr im Spreewald beigelegt hatte, hieß es zur vormilitärischen Ausbildung in der Jugendwehr: „Eben haben wir mit großem Erfolg unsren Schützengraben eingeweiht. Wir zogen mit Musik durch die Stadt. Vor dem Graben wurde eine Rede gehalten und derselbe dann zur Besichtigung freigegeben.“ Archiv WHC, Sign. 34, Paul Colsman jun. an die Eltern, 23. Juli 1916. Die Jugendlichen mussten den Schützengraben ähnlich denen an der Front anlegen, einschließlich der Telefonleitung und Unterstände und mit eingeteilten Dienststunden der Jugendlichen: „Wir haben eine sogenannte Zentrale die die Gespräche zwischen den verschiedenen Beobachtungsstellen und Unterständen vermittelt. Morgen habe ich von 4–7 Uhr dort Dienst. Die Besucher können für 10 pf mit beliebigen Leuten der Jungmannschaft reden. Der Alte [der Schuldirektor, CG] war eben auch zur Besichtigung da und war sehr befriedigt.“ Ebd. „Gestern war in der ‚Germania‘ ein Vortrag des Arbeiterführers Sydekum über ‚Die Arbeiter und der Krieg‘. Die Sache war hochgradig sozialdemokratisch. Es war jedoch sehr interessant einen Einblick in die Sache zu bekommen.“ Archiv WHC, Sign. 175, Paul Colsman jun. an die Mutter Elisabeth Colsman, 12. Dezember 1915. Archiv WHC, Sign. 175, Paul Colsman jun. an die Eltern, 14. November 1915. Archiv WHC, Sign. 175, Paul Colsman jun. an die Eltern, 12. Dezember 1915. Archiv WHC, Sign. 175, Paul Colsman jun. an die Eltern, 14. November 1915.

bestand in dieser Generation nicht mehr zwischen Eltern, insbesondere dem Vater, und dem Schulleiter, sondern zwischen Eltern und Kindern. Kritik der Söhne an der Schule und den Lehrern wurde kaum noch missbilligt und auch der lässig-abwertende sprachliche Ausdruck wurde hingenommen. Diese Entwicklung zeigt sich parallel in verschiedenen Zweigen der Unternehmerfamilie296 und wird auch durch Ulrich G. Herrmanns Untersuchung zum Elternverhalten gegenüber der Schule gestützt. Viele meldeten ihr Kind lieber auf einer Parallelanstalt mit demselben Qualifikationsangebot an, als dass sie das Urteil der Lehrer und damit eine Gefährdung der eigenen Qualifikationsziele akzeptierten.297 Interessanterweise stammen auch Herrmanns sämtliche Beispiele aus der Zeit zwischen der Jahrhundertwende und dem Beginn des Ersten Weltkriegs, also aus der Zeit, in der in meinen Quellen ein Wechsel in den Autoritätskonstellationen festzustellen ist. In Konfliktfällen schlossen sich nun tendenziell Eltern und Kinder gegen die Institution Schule zusammen. Dies war weder in den vorauslaufend geschilderten Sozialisationsprozessen Wilhelm Colsman-Bredts noch in denen seines Sohnes Paul der Fall gewesen. Was aber erhalten blieb, waren die erzieherischen Aufforderungen zu Arbeitseifer und methodisch-asketischer Lebensführung. Erstmals fielen häufiger Adjektive wie „stramm“ und Verben wie „sich stählen“ und wurden nicht mehr nur für die Tätigkeit (‚stramme Arbeit‘) gewählt, sondern als Eigenschaftsbeschreibung der Person. An Wilhelm Colsman, den ältesten Sohn, schrieb seine Mutter Elisabeth nach Karlsruhe: „Du hast allerdings viel Freude und Abwechslung, und ich hoffe, du verlierst nicht beim Denken und Einrichten darauf die Straffheit und Lust am Lernen und Arbeiten. Du weißt, wie hier, von früh bis spät geschafft wird und Papa seine Liebhabereien stets hinter die Arbeit stellt, da erinnere dich doch zu Zeiten […] und gewöhne dich nicht zu behaglich, sondern stramm und tüchtig.“298 „Ich möchte gern für Papa, daß er bei Zeiten sähe, daß seine Jungens sich stählen und zu rechter Arbeit taugen, er sieht die geschäftliche Zukunft oft nicht rosig vor sich […].“299

Die Söhne sollten willensstark sein und gleichzeitig selbstbestimmt Lebensmodelle entwickeln, welche denen der Eltern aber möglichst ähneln sollten. Der Begrifflichkeit nach zu urteilen, welche Elisabeth Colsman wählte, musste dies aber nun mit erhöhter Willensleistung und Härte gegen sich selbst verbunden werden. Der Vater Paul Colsman beschrieb die Erziehungsziele dagegen weit ‚klassischer‘ als seine Frau: „Sei nur recht bescheiden & fröhlich. Ich möchte nicht gerne, daß von meinen Kindern so gesprochen würde, wie kürzlich von anderer Leute Kinder. Ich wünsche, daß meine verehrten Nachkommen sich stets so benehmen, daß man sieht, sie kommen aus einer

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Vgl. Archiv Landfried, Sign. 27, 28 und 43, Peter Lucas Colsman jun. an die Eltern, 1906–08. 297 Vgl. Herrmann, Elternhaus und Schule, S. 142f. 298 Archiv WHC, Sign. 70, Elisabeth Colsman an Wilhelm Colsman, 18. Januar 1909. 299 Archiv WHC, Sign. 70, Elisabeth Colsman an Wilhelm Colsman, 3. Februar 1909.

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guten Kinderstube! […] Hüte dich vor Dummheiten & Ausschreitungen jeder Art. An angenehmen Abwechselungen & Vergnügungen hast du ja keinen Mangel. Hoffentlich kommt die Arbeit nicht zu kurz! […] Wie verhält es sich mit dem Geld? Ich gab dir vor deiner Abreise M 300 & du holtest dir bei der Bank in vergangener Woche M 800.- Damit hättest du dein Pensum für ca vier Monate eingestrichen? Ich bitte dieserhalb um Aufklärung & betone, daß ich wünsche, daß deine Ausgaben in dem Rahmen unserer Absprachen bleiben!“300

Während die erzieherischen Appelle der Eltern an allgemeines Sozialverhalten und familiengemäße Normen und Werte bestehen blieben, gab es in den Briefen nach der Jahrhundertwende keine Aufforderungen mehr, sich respektvoll insbesondere gegenüber Schullehrern und -direktoren zu verhalten und diese einerseits als Ersatzeltern, andererseits in ihrer Amtsautorität unbedingt anzuerkennen. Die Erziehungsbriefe der Eltern wurden in der Ausrichtung deutlich binnenorientierter; sie bezogen sich auf die Familie als primäre Instanz der emotionalen Bindungen und der Werte. Darüber hinaus wurden die Söhne im Jugend- und jungen Erwachsenenalter anders als in den Vorgängergenerationen stärker als Gleichrangige angesprochen. An den einundzwanzigjährigen Sohn Wilhelm schrieb seine Mutter: „Es ist mal wieder so weit, daß Papa mit jeder Post einen Brief von dir erwartet, doch vergeblich. Könntest du nicht Sonntag eine halbe Stunde finden, um nach Hause zu schreiben und zu berichten, wie die Prüfung gewesen und ausgefallen sei […]. Papa interessiert sich doch so […] für dein Fortkommen“.301

Die Mutter appellierte hier an den Sohn, die Gefühlslage und die Wünsche des Vaters zu berücksichtigen. Damit rückte der Sohn in eine Position auf Augenhöhe in der Eltern-Kind-Konstellation, welche seine Eltern in der Beziehung zu ihren eigenen Eltern nicht besessen hatten. Mit der Stärkung des familiären Binnenraums302 verband sich aber auch der Anspruch an die Söhne, den neuen lebensweltlichen Bedingungen des Maschinenzeitalters durch eine entsprechende Persönlichkeitsentwicklung („stramm“) gerecht zu werden. Gleichzeitig gab es ein neues Element in der Kommunikation: die Gefühle der Eltern. Peter Lucas Colsman kommunizierte auf dieselbe Weise mit seinem vierzehnjährigen Sohn: „Mein lieber Junge! Von der Seidenstadt ‚Krefeld‘ schreibe ich Dir dieses Mal einen herzlichen Gruß zum Geburtstag! Das abgelaufene Jahr war ja für dich ein recht bewegtes! Wie ungern haben wir dich ziehen sehen & doch war ein anderer Weg für dich & uns nicht zu finden! Heute haben wir dem lieben Gott recht zu danken, daß er dich in Obercassel treulich bewahrt hat. […] Sei nur immer treu in deinen Arbeiten, frisch in deinem Wesen & 300 301 302

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Archiv WHC, Sign. 70, Paul Colsman an Wilhelm Colsman, 3. Februar 1909. Archiv WHC, Sign. 70, Elisabeth Colsman an Wilhelm Colsman, 18. Mai 1909. Vgl.: „Papa bringt dir das Paketchen mit. […] ich denke, deine Wünsche sind erfüllt! Papa gewährt so gern dazu das Reiten, das deiner Gesundheit förderlich sein soll, und du siehst an allem sein wärmstes Wohlwollen. Dafür sei offen und vertrauensvoll in allem, was Geld und äußere Dinge und besonders was das Innere anbetrifft.“ Archiv WHC, Sign. 51, Elisabeth Colsman an Wilhelm Colsman, 30. Oktober 1911.

rein in deinen Gedanken […]. Wir, deine Eltern, denken viel mehr an dich & sorgen uns mehr um dich, als du ahnst.“303

Deutlich wird auch hier die vorausgehend angesprochene stärkere Familienorientierung. Das Sprechen über eigene Gefühle wurde bedeutsamer, Eltern und Kinder traten in den Briefen in eine engere emotionale Bindung zueinander, die Bedeutung des Binnenraums Familie nahm ebenso zu wie der Bezug der Familie zum elterlichen Unternehmen verbal gestärkt wurde: „Heute in 3 Wochen ist nun mein resp unser 25jähriges Geschäfts Jubiläum. An Herrn Kalkuhl schrieb ich, daß er dir Urlaub für diese Feier geben möchte, vorausgesetzt, daß du auf dem Posten wärst. Die einfache Feier wird am Sonntag, den 14. October, vor sich gehen; du müßtest dann Samstag Abend kommen. […] Aber sei jetzt schon doppelt auf dem Posten!“304

Das private Alumnat, das Peter Lucas Colsman jun. in Oberkassel zwischen 1905 und 1909 aufgrund schlechter Schulleistungen besuchte, wurde nach dem sogenannten ‚Gütersloher Typ‘, d. h. familienähnlich mit einem Inspektor und einer Hausdame als Elternvertreter, geführt. Dieses Modell wurde aber schon im Kaiserreich als recht problematisch bewertet. Von Familienähnlichkeit, so die Kritik, könne letztlich keine Rede sein, eher von einer durch die Leitungsstruktur ermöglichten besseren Verköstigung und Aufsicht.305 Das 1880 gegründete Institut Kalkuhl war eine private Realanstalt, welche den wissenschaftlichen Befähigungsnachweis für die militärische Einjährigenberechtigung erteilen konnte.306 Das war, wie in diesem Kapitel bereits ausgeführt, für die Schulentscheidung zumindest in der Unternehmerfamilie Colsman eine existentielle Bedingung. Das Institut war ein Internat im oberen preislichen Drittel der preußischen Privatanstalten, es kostete einschließlich Schulgeld 1.200–1.600 Mark pro Schuljahr und besaß 1910 137 auswärtige Zöglinge bei insgesamt 224 Schülern.307 Der Institutsgründer Ernst Kalkuhl legte Wert auf Internationalität und intensiven Fremdsprachenunterricht; er selbst hatte vor der Gründung des Privatinstituts in Großbritannien und Frankreich gelebt, um sich sprachlich fortzubilden, und hatte einige Jahre in Paris an einer Privatschule unterrichtet.308 Die höheren Privatschulen bzw. -alumnate setzten vielfach – wie schon das Kortegarnsche Handlungs-Institut, das Wilhelm Colsman-Bredt in den 1840er Jahren besucht hatte – auf Internationalisierung als Geschäfts303 304 305 306 307 308

Archiv Landfried, Sign. 43, Peter Lucas Colsman an Peter Lucas Colsman jun., 24. September 1906. Archiv Landfried, Sign. 43, Peter Lucas Colsman an Peter Lucas Colsman jun., 24. September 1906. Vgl. Herrmann/Müller, Regionale Differenzierung und gesamtstaatliche Systembildung, S. 33. Vgl. Herrmann/Müller, Regionale Differenzierung und gesamtstaatliche Systembildung, S. 40. Vgl. Herrmann/Müller, Regionale Differenzierung und gesamtstaatliche Systembildung, Tab. 1.1, Die Alumnate im Deutschen Reich, 1910, Staat Preußen, S. 52f. Vgl. Severin, Privates Ernst-Kalkuhl-Gymnasium Bonn-Oberkassel, S. 13, S. 30.

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strategie.309 Die Betonung moderner Fremdsprachen, insbesondere des Englischen, und eine internationale Schülerschaft, verbunden mit einem vergleichsweise hohen Pensionspreis, sollte diejenigen Teile des deutschen Bürgertums anziehen, welche weniger auf eine klassische Bildung Wert legten als auf eine realistische Bildung, die für zukünftig international orientierte Fabrikanten, Kaufleute und Bankiers passender erschien. Die Kleidung der Alumnen sollte daher generell fein und der bürgerlichen Oberschicht angemessen sein. Peter Lucas Colsman jun. wünschte sich von seinen Eltern „einen feinen dünnen Spazierstock, dünne Weste, dunkelbraune Glacehandschuhe u. einen Kragen und einen steifen Hut“.310 Das Institut bemühte sich um eine adäquate Freizeitgestaltung der Zöglinge und um eine kulturelle Rahmung des schulischen Unterrichts und des Internatsaufenthalts. So gab es Theaterbesuche in Bonn sowie Klassenausflüge in die nähere Umgebung.311 Der sonntägliche Kirchgang wurde von den Internatszöglingen gemeinsam absolviert, in Begleitung eines oder mehrerer Lehrer. Im Institut wurden am Wochenende überdies klassische Abendkonzerte veranstaltet, welche die Zöglinge besuchen sollten. Auch Zeugnisfeiern mit begleitender Ordensverleihung für gute Leistungen inszenierte die Schule. Nach Reden und Auszeichnungen wurde zu solchen Feiern beim abendlichen Essen auch ein Glas Bier an die älteren Schüler ausgegeben.312 Auch suchte der Institutsleiter Ernst Kalkuhl die Nähe zur Bonner Universität und ließ seine Schüler an öffentlichen Feiern und an der Freizeitkultur der Studenten unter seiner Aufsicht teilnehmen: „Die Feier war wunderschön. Wir schlossen uns an die Studenten an und gingen im Zuge zum Denkmal. Die einzelnen Cors stellten sich im Halbkreis um das Denkmal herum. Vor demselben stand die Musiek und der Gesangverein. Links die hohen Herrschaften und rechts wir. Zuerst hielt Herr Regierungsrat Josten eine Rede. Dann der Bürgermeister von Oberkassel und zuletzt Pastor Fromme. Darauf kamen die Studenten und legten von den verschiedenen Verbindungen Kränze nieder. Auch Herr Kalkuhl stiftete einen großen Kranz mit grün-weißer Schleife. Einer von den Primanern unserer Schule sprach einen Prolog, ebenso eine Dame aus Köln. Der Superendendent, der Landrat, mehrere von dem Hofe des Fürsten von Lippe, wahrscheinlich auch er selbst denn das Schloß war bewohnt und die Fensterläden standen offen, waren hier. […] Der Verfertiger des Denkmals war auch zugegen. Am anderen Morgen besuchte er das Institut und besah sich mit seiner Familie den Turnsaal als wir gerade Turnen hatten. Der Kopf und die Reliefs sind aus Bronkse. Nach der Feier gingen wir in eine Gartenwirtschaft, mit den Studenten, dort durften wir tüchtig Bier trinken und Schnittchen essen, denn Herr Kalkuhl bezahlte es. Dann ging es nach Hause. Am Abend wackelte mancher auf dem Schulhof 309

Vgl. Herrmann/Müller, Regionale Differenzierung und gesamtstaatliche Systembildung, S. 41. 310 Archiv Landfried, Sign. 28, Peter Lucas Colsman jun. an die Eltern, 6. Dezember 1908. 311 Vgl. Archiv Landfried, Sign. 28, Peter Lucas Colsman jun. an die Eltern, 13. Dezember 1908. 312 Vgl. Archiv Landfried, Sign. 27, Peter Lucas Colsman jun. an die Eltern, 8. November 1908.

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umher, der ein Gläschen zu viel getrunken hatte. […] Am Dienstag haben wir ja bekanntlich einen Klassenausflug gemacht. Wir fuhren um 2 Uhr mit einem Motorboot nach Godesberg. Von dort gingen wir zu Fuß nach Bonn. Dort besichtigten wir die Bismarksäule und gingen dann nach einem schönen Aussichtspunkt ‚Kasselsruhe‘ genannt, dort tranken wir Kaffee und ging dann über den Exerzierplatz der Bonner Husaren wieder nach Godesberg. Daselbst besichtigten wir die Godesburg und gingen dann in eine bekannte Studentenkneipe Zur Lindenwirtin […], die von den Studenten ihrer Schönheit wegen oft besungen wurde. Als wir dort hineingingen saß dort ein alter Herr der sagte: ‚Die Jungens singen uns gewiß einmal ‚Deutschland, Deutschland über alles‘ dann bezahle ich ihnen auch zwei Runden Bier.‘ Ein Glas wurde angenommen. An einem Tische neben uns saßen Studenten, die eine Bowle angesetzt hatten. Zwei tranken Brüderschaft. Einer hatte noch die Mensurmütze auf. Daß heißt er hatte noch einen Verband um den Kopf. Gegen 9 Uhr brachen wir auf, fuhren mit dem Motorboot wieder nach Oberkassel und zogen fröhlich zu Hause ein.“313

Die älteren Schüler des Instituts wurden vom Schulleiter an die studentischen Trinkrituale und die damit verbundene Kultur der männlichen Vergemeinschaftung herangeführt. Die schulische Oberstufe wurde damit in die Nähe der Universität gerückt. Trinken von Alkohol, insbesondere Bier, mit und ohne Aufsicht von Erwachsenen, gehörte nach meinen Quellen für die Schüler höherer Schulen während des gesamten Kaiserreichs zu den regelmäßigen jugendlichen Praktiken. Ebenso war der Besuch von Gastwirtschaften üblich, mitunter ebenfalls, obwohl offiziell verboten, ohne die Begleitung Erwachsener. Das gemeinsame Singen patriotischer Lieder mit anschließendem Bierkonsum war im Kaiserreich zudem ein generationenübergreifendes Ritual. Die von Peter Lucas Colsman jun. geschilderte Episode, in der ein älterer Herr in einer Gastwirtschaft die Schüler um das Singen eines patriotischen Liedes bittet und ihnen zum Dank eine Runde Bier spendiert, ist dafür ein Beispiel.314 Patriotische Schulfeiern oder die Teilnahme der Schulen an solchen öffentlichen Feiern gehörten bis zum Ersten Weltkrieg zur Schulkultur aller Schultypen, von den Volksschulen bis zu den humanistischen Gymnasien. Sie konstruierten und arrangierten die Schulen und deren Akteure, Lehrer wie Schüler, als Teil eines nationalen Raums, als Teil der ‚imagined community‘ (Benedict Anderson) der deutschen Nation. Die Schülerinnen und Schüler sollten dem deutschen Staat und der deutschen Kultur, wie sie auf diesen Feiern inszeniert wurden, verpflichtet werden. So wurden patriotische Lieder mit klassischen Orchesterstücken sowie mit Gebeten und Kirchenliedern verbunden. Programme der Schulfeiern, zum Beispiel im Institut Kalkuhl anlässlich des Geburtstages Kaiser Wilhelms II. am 27. Januar, zeigen eine weihevolle Inszenie313 314

Archiv Landfried, Sign. 43, Peter Lucas Colsman jun. an die Eltern, 1. Juli 1906. Die Klage über den Alkoholkonsum höherer Schüler im Kaiserreich wurde dann vielfach im Rahmen der Debatten über jugendliche Sexualität und über Schülerverbindungen an höheren Schulen geäußert. Vgl. Meirowsky, Geschlechtsleben der Jugend, S. 23f.; Nath, Schülerverbindungen und Schülervereine, S. 14ff. Alkoholkonsum in Begleitung Erwachsener, insbesondere der Eltern, war dagegen auch in der Öffentlichkeit kein Problem.

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rung mit Gesang und Orchesterdarbietungen sowie der Rezitation von den Kaiser verherrlichenden Gedichten („Mein Kaiserreich“; „Es lebe der Kaiser“; „Den Hohenzollern Heil;“ „Der Kaiser hält das Steuer“ u. Ä.) und einer Rede des stellvertretenden Schulleiters Dr. Toepel. Zum Abschluss sang die Schulgemeinschaft „Heil dir im Siegerkranz“.315 Der fünfzehnjährige Peter Lucas Colsman jun. kommentierte die Schulfeier folgendermaßen: „Die Kaisersgeburtstagsfeier war sehr schön, besonders die Rede von Dr. Toepel war herrlich. Er schilderte hauptsächlich die Verdienste des Freiherrn von und zum Stein und verglich ihn mit Bismark. Auch war eine extra Kapelle hier, dieses hat sich Langenberg doch noch nicht geleistet. Das Konzert am Abend war aber ganz entschieden am schönsten.“316

Der stellvertretende Schulleiter hatte offenbar eine historische Verbindung zwischen den preußischen Reformen und der Bismarckschen Politik hergestellt und dies an zwei Personen festgemacht. Mit welcher interpretativen Ausrichtung dies erfolgte, lässt sich nachträglich nicht sagen. Kaum anzunehmen ist aber angesichts des Anlasses eine regierungskritische Rede, sondern vielmehr eine Ansprache, in der ‚große Männer‘ die deutsche Geschichte gestaltet und die Deutschen zur Staatsnation vereinigt hatten. Typisch für das Bildungssystem des Kaiserreichs war zudem die habituelle Annäherung aller Akteure in den Oberstufen höherer Schulen mit Abiturberechtigung an die Universitäten. Die Oberlehrer (das akademisch ausgebildete Unterrichtspersonal der höheren Schulen mit Beamtenstatus) waren nicht nur gehalten, regelmäßig kleinere wissenschaftliche Abhandlungen in den Jahresberichten ihrer Schulen zu publizieren, sondern ein Teil von ihnen, bis zur Hälfte eines Kollegiums, konnte als verdiente Lehrer auch den Professorentitel erreichen,317 ohne dass damit ein struktureller Bezug zur Universität gegeben war. Nichtsdestotrotz zeigte der Titel symbolisch an, dass die abiturverleihenden höheren Schulen eine Verbindung mit der Wissenschaft aufwiesen. Dass mindestens zwei Lehrer am Kalkuhlschen Institut promoviert hatten und den Doktortitel führten,318 wertete die Schule daher nicht unmaßgeblich auf.319 315 316 317

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Vgl. Archiv Landfried, Sign. 43, Programm der Schulfeier zum Geburtstag Kaiser Wilhelms II. am 27. Januar 1907. Archiv Landfried, Sign. 43, Peter Lucas Colsman jun. an die Eltern, 27. Januar 1907. Vgl. Geißler, Schulgeschichte in Deutschland, S. 304. Insgesamt konnte bis zu einem Drittel der preußischen Oberlehrerschaft den Professorentitel erwerben. Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1, S. 560. Der Englischlehrer war ebenso promoviert wie der stellvertretende Schulleiter. Vgl. Archiv Landfried, Sign. 43, Peter Lucas Colsman jun. an die Eltern, 2. März 1907. Die Tatsache promovierter Lehrer an einer privaten Realanstalt könnte dabei den zyklisch wiederkehrenden Überfüllungskrisen im akademischen Lehramt geschuldet sein. Möglicherweise verblieben gut Qualifizierte nach längeren Anstellungszeiten auch dann an den Privatschulen, als sich die Anstellungsaussichten an den öffentlichen höheren Schulen nach der Jahrhundertwende deutlich verbesserten. Vgl. zur Überfüllungskrise in den akademischen Berufen Müller, Qualifikationskrise und Schulreform; zum akademischen Lehramt vgl. Titze, Der Akademikerzyklus, S. 100ff.

Für den Vater Peter Lucas Colsman war neben einer guten fachlichen Bildung (das bedeutete für ihn einen auf die Realien, d. h. moderne Fremdsprachen, Mathematik und Naturwissenschaften ausgerichteten Lehrplan) wichtig, dem Sohn gleich mit Beginn seiner Internatszeit die Bedeutung der Schule hinsichtlich der beruflichen Fertigkeiten eines späteren Fabrikanten deutlich zu machen und verwies dabei explizit auf die englische Jugend als Vorbild und Konkurrenz. So schrieb er ihm von einer Geschäftsreise aus London: „Diese englischen Jungens sind große Freunde von allerlei Spielen & Belustigungen auf ihren schönen Tummelplätzen, aber nachher auch von flottem Arbeiten! Zuerst den Körper kräftigen & dann den Geist üben & ausbilden für den späteren Beruf. Wenn man hier in London ist, dann sieht man bald, daß Viel dazu gehört, um in der Welt & im Leben mitsprechen zu können. Also benutze jetzt Deine Zeit auf der Schule zum tüchtigen Lernen in allen Fächern. Den Engländern wird vorgeworfen, daß sie zu einseitig, fast nur fürs praktische Leben, erzogen werden. Du hast nun bei uns auf der Schule Gelegenheit Dich in allen möglichen Fächern auszubilden. Diesen Vortheil kannst Du jetzt noch nicht gut einsehen, aber denke mal gründlich drüber nach, wie wichtig das ist, sich in vielen Gebieten unterrichtet zu wissen! Die Jahre sind schnell vorüber, wo du auf der Schule bist & wo dir gezeigt wird, wie man lernen soll. Lege Dir diesen Brief auf Deinen Nachttisch & lese ihn hin & wieder.“320

England und insbesondere die damals größte Stadt der Welt, London, wurden in diesem Brief zu Chiffren von Fortschritt, Technisierung und heraufziehender Massengesellschaft,321 und dies keineswegs mit negativer Konnotation, sondern als Laboratorium der Moderne und als Zukunftsmodell: „Nach diesen Lehren, die Dir dein lieber Vater für das neue Jahr mit auf den Weg giebt, will ich Dir auch etwas von der Riesenstadt London erzählen. Es sind hier soviel Leute auf einem kleinen Platz wie unsere Rheinprovinz. 6 Millionen, sogar mehr, wenn der größere Kreis von London als Grenze genommen wird. Die Verwaltung an Schulen, Polizei, Straßen, Licht etc. kostet jährlich ca 1 ¼ Milliarden Mark. […] Dieser Tage sah ich in der City eine Schule sich durch das Gewühl drängen. Die sogenannten blue coats boys, d. h. die Jungens mit dem blauen Kleid; langer Rock, gelben Strümpfen, sie tragen keine Mützen. Das wär was für uns! Hier wird wohl noch mehr geradelt wie in Holland! Aber alle Räder mit Felgen Bremse, viele mit Freilauf. Und Automobile giebts hier, beinah hätte ich gesagt, wie Sand am Meer! Omnibusse & Droschken auch in großer Zahl […]. Onkel Feldhoff meinte, diese Autos wären jetzt die Pferde der Engländer. Du weißt ja, daß die Engländer auf gute Pferde einen riesigen Wert legen, wenn man teure Autos hat, dann kann man nicht auch noch teure Pferde im Stall haben. […] Hier in dem Park [Hyde Park, CG] kann man Engländer sehen, wirklich wie Sand am Meer. London hat

320

Archiv Landfried, Sign. 43, Peter Lucas Colsman an Peter Lucas Colsman jun., 24. September 1905. 321 Vgl. dazu die im Teilkapitel 4.3 dieses Kapitels zitierten Briefe Wilhelm Colsman-Bredts an seinen Sohn Paul in den 1870er Jahren. Zur ökonomischen Bedeutung Großbritanniens und zum britisch-deutschen Vergleich vgl. Plumpe, Eine wirtschaftliche Weltmacht, sowie zum Deutschlandbild in Großbritannien und zum Wirtschaftswachstum im Vergleich Brechtken, Kaiser, Kampfschiffe und politische Kultur, S. 204ff.

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viele große Parks, die Doctoren nennen diese Anlagen die Lungen, weil sie den engen Straßen wieder die nöthige Luft zuführen.“322

Dass Großbritannien ein Markt war, von dem das Wohlergehen des Familienunternehmens maßgeblich abhing und der aufgrund der großen Konkurrenz durch Textilunternehmen aus ganz Deutschland und der allgemeinen Wirtschaftslage mit Können und permanenter Anstrengung gesichert werden musste, beschrieb auch Paul Colsman 1907 in einem Brief aus London an seinen ältesten Sohn: „Seit Montag bin ich hier an der Arbeit & hatte bisher leider wenig greifbaren Erfolg. Die mehr wie unbefriedigenden Resultate des verflossenen Jahres haben den Kunden für größere Unternehmungen den Muth genommen, dabei ist die Lage des Geschäftes in der ganzen Welt, nicht nur in unserem Lappenkram, eine schwierige. Hoffentlich kann ich doch noch den einen oder anderen Auftrag losbringen. […] Als zukünftiger Textilmann wirst du nicht weich gebettet sein, oder es müßte dir viel besser wie deinem Vater ergehen, was ich dir von Herzen wünschen möchte. Verlerne bitte bei aller Freude die ernste Arbeit nicht!“323

Der Appell an Arbeitsaskese, ständige Anstrengungsbereitschaft, unternehmerisches Können und die Präsentation des unternehmerischen Erfolgs als deren – durch die Wirtschaftslage als stets gefährdet präsentiertes – Ergebnis prägten die Briefe der Väter an die Söhne in der Schule nach der Jahrhundertwende ebenso wie bereits die Briefe Wilhelm Colsman-Bredts an seinen Sohn Paul in den 1870er Jahren. Dabei blieb der britische Markt fortwährender Referenzraum elterlicher Argumente, der zugleich eine ambivalente soziale Positionierung der Unternehmer schuf, die auch deren Selbstpräsentation gegenüber ihren Söhnen prägte: Als Anbieter von Fabrikaten auf dem umkämpften britischen Markt waren sie gehalten, bei Kunden vorzusprechen mit ihren Musterbüchern unter dem Arm. Dabei standen sie unter scharfem Konkurrenzdruck, mussten Zugeständnisse machen und kamen nicht selten mit aus ihrer Sicht unbefriedigenden Geschäftsabschlüssen zurück nach Deutschland. Zuhause dagegen waren sie Fabrikherrn, die im Unternehmen Gebrüder Colsman um die Jahrhundertwende bereits über 1.000 Arbeiter und Angestellte in einem riesigen Fabrikgebäude beschäftigten.324 Die großen Säle für Webstühle und Maschinen, der Lärm und das neue, an die Maschinen und ihre Leistungsfähigkeit angepasste Arbeitstempo schufen Arbeitsabläufe und Betriebsorganisationen, die ein mechanisiertes, hierarchisch strukturiertes Großunternehmen als neue Sozialgestalt, konzentriert an einem Ort, hervorbrachten. Die Ambivalenz in der beruflichen Rolle der Unternehmer zwischen Verkaufsgesprächen und Unternehmensleitung wurde den Söhnen von den Vätern 322

Archiv Landfried, Sign. 43, Peter Lucas Colsman an Peter Lucas Colsman jun., 24. September 1905. 323 Archiv WHC, Sign. 70, Paul Colsman an Wilhelm Colsman, 3. Februar 1909. 324 Vgl. FFA, 9.27, Aufzeichnungen zur Firmengeschichte; FFA, 4.81, Webstuhlverzeichnis 1905/06; Archiv WHC, Sign. 46, Familienchronik Paul und Elisabeth Colsman, 1880– 1931.

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in Briefen vermittelt und die zu entwickelnden Orientierungen und Normen damit erzieherisch-erklärend verbunden, wie in den vorausgehend zitierten Briefen von Peter Lucas und Paul Colsman an ihre Söhne. So kam kaum ein Brief Paul Colsmans ohne Klagen über die Geschäftslage und ohne direkte oder indirekte erzieherische Appelle an seinen Sohn Wilhelm bezüglich Fleiß, Anstrengung und Können aus: „Ich habe hier [in London, CG] sehr arbeitsame Tage, ohne große Erfolge. Die Concurrenz ist enorm billig, & ich kann nur schwer meine Preise durchsetzen. Morgen fahre ich nach Glasgow und kehre Dienstag über Manchester nach hier zurück.“325 „Das Geschäft war leidlich, & ich will nicht klagen. Man möchte gerne bessere Preise für die erzielten Verkäufe in den Büchern sehen, aber das ist ein Wunsch, der wohl immer bleiben wird. Wichtig & dankenswerth ist es ja schon, wenn man für die große Stuhlzahl [die Webstühle, CG] Beschäftigung hat.“326

Gegenüber dem ältesten Sohn in dessen erstem Studiensemester an der Technischen Hochschule in Karlsruhe formulierte dann seine Mutter Elisabeth fast wortgleich die Kritik und die Anforderungen, die Wilhelm Colsman-Bredt dreißig Jahre zuvor an seinen Sohn Paul gestellt hatte: „[…] erschien der Postbote mit deinem Briefe, der nach Form und Inhalt noch etwas Ferieneinfluß widerspiegelte, während die vorgeschickte Karte weder einen Korpsstudenten noch angehenden Kaufmann verriet, fast aussah, als sei sie mit in die erwähnte Wochenwäsche getaucht, und entschieden Verdruß erregte. Schaff’ dir doch mal ordentliche Tinte, ein gesäubertes Faß an, dann werden mit der neuen, mit Liebe ausgesuchten Feder, die Schriftzüge auch weniger wie Krähenfüße aussehen & etwas mehr Charakter verraten.“327

Auch die Ermahnung, sich auf Festen von jungen Damen fernzuhalten, fehlte nicht, ebenso wenig wie der Zweifel an deren tadellosem Lebenswandel: „Also Damen auf der Kneipe sogar Abends, glaubst du, daß deine Mutter sich auch dafür geschickt hätte?!“328 Die briefliche Erziehung wurde wie in der Vorgängergeneration als mahnender Appell an Herkunft und soziale Position gestaltet und eine Pflichtethik mit der Betonung emotionaler Familiengemeinschaft verbunden: „In deinen Briefen an Papa wie an mich handelte eine ganze Seite wörtlich gleich über das Bridgespiel von Onkel Hans, das war ja eine ganz amüsante Stunde, daß das aber bei 325 326

Archiv WHC, Sign. 70, Paul Colsman an Wilhelm Colsman, 9. Oktober 1907. Archiv WHC, Sign. 70, Paul Colsman an Wilhelm Colsman, 16. Oktober 1907. Vergleichbar hatte er an den Sohn schon im ersten Jahr von dessen auswärtiger Schulzeit geschrieben: „Das Leben eilt so schnell dahin, noch wenige Jahre, & die Schulzeit liegt hinter dir. Je älter man wird, je ernster werden die Lebensaufgaben. […] Geschäftlich habe ich dieses Mal sehr wenig Freude. Die Kunden gebrauchen momentan nicht unsere Artikel & im Regenschirmgeschäft fehlt seit Monaten der Regen. Da ist es denn sehr schwierig Futter für unsere große Fabrik zu schaffen.“ Archiv WHC, Sign. 51, Paul Colsman an Wilhelm Colsman, 29. Oktober 1904. 327 Archiv WHC, Sign. 70, Elisabeth Colsman an Wilhelm Colsman, 18. Januar 1909. 328 Archiv WHC, Sign. 70, Elisabeth Colsman an Wilhelm Colsman, 26. Januar 1909.

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dem kurzen Schreiben, was du tust, so zum Hauptinhalt gemacht wird, zeugt von arger Gedankenarmut bei dir. Ich höre nichts vom Lesen eines schönen oder interessanten Buches, von Menschen oder Dingen, die dich anziehen oder dir misfallen […]. Du hast dich so großer Güte u. freier Bewegung von Papas Seite zu erfreuen, hast einen frischen Geist und gelernt dich auszudrücken, da kann man wohl denken, du begriffest unsern Wunsch und trachtetest ferner nach innerem Zusammenhang mit uns, nach Offenheit in allen Dingen, so daß man auch bei der räumlichen Trennung ruhig und zufrieden sein kann.“329

Die Vermittlung von Werten, Normen und Verhaltensweisen im Jugendalter war in dieser Familie gleichermaßen Aufgabe der Mutter wie des Vaters. Gleichzeitig befasste sich der Vater, anders als in der Vorgängergeneration, weniger mit erzieherischen Aspekten der jugendlich-schulischen Lebensführung, sondern konzentrierte sich auf inhaltliche Fragen der Bildung und Ausbildung, auf die Vorbereitung des Sohnes auf das Familienunternehmen und auf den Umgang mit Geld. Diese in der Forschungsliteratur vielfach geschilderte Arbeitsteilung in der Erziehung trat in der Unternehmerfamilie Colsman erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg und auch nur hinsichtlich des Jugendalters auf330 und war auch nicht in jedem Familienzweig vorhanden. Gleichwohl war auch in den Briefen zwischen Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg bei Unzufriedenheit der Eltern mit Leistungen und Verhalten der Söhne nirgends von Sanktionen die Rede, sondern es blieb durchweg bei intensiven Appellen. So schrieb Paul Colsman an seinen ältesten Sohn zu dessen 21. Geburtstag, dem Tag seiner rechtlichen Mündigkeit: „Zum Beginn deines neuen Lebensjahres sende ich dir herzlichen Glück- & Segenswunsch. Möge ein gesegneter Zeitabschnitt vor dir liegen, den du nach besten Kräften zu deiner Aus- und Fortbildung ausnutzest. Ich habe so oft das Gefühl, daß bei dir das tägliche Vergnügen und die Abwechselung in erster Reihe stehen. Ich möchte so von Herzen wünschen, daß du ein tüchtiger Mensch würdest mit festen Grundsätzen. In unserer Zeit, die mit dem Einreißen alter Gebräuche und guter, frommer Sitten so leicht bei der Hand ist, ohne daß es ihr bisher gelungen wäre guten, brauchbaren Ersatz zu schaffen, da ist es von Wichtigkeit, daß man innerlich fest werde & weiß was gut und böse ist. Das irdische Leben fliegt so schnell dahin! Ich bin ganz erschrocken, als ich mir vor einigen Tagen klar machte, daß du jetzt mündig wirst & nach dem Gesetz der väterlichen Zucht entwachsen bist! Man weiß nie, wie lange uns Gott noch zusammen weiter leben läßt. Da möchte ich so gern meine Kinder & dich als den ältesten Sohn in erster Linie auf dem rechten Weg wissen. Prüfe dich einmal wie es mit dir & um dich bestellt ist.“331

Der Brief gab einerseits die Weltdeutung des Vaters wieder, in einer Zeit raschen kulturellen Wandels zu leben. Er selbst war Gestalter eines tiefgreifenden technologischen Wandels im Familienunternehmen gewesen und unternehmerischer Akteur in der Hochindustrialisierung der 1880er und 1890er Jahre. Dass 329 330

Archiv WHC, Sign. 70, Elisabeth Colsman an Wilhelm Colsman, 12. Februar 1909. Zur anderen Rollen- und Aufgabenverteilung der Eltern bei den Säuglingen und Kleinkindern vgl. Kapitel III über frühkindliche Erziehung und Sozialisation. 331 Archiv WHC, Sign. 70, Paul Colsman an Wilhelm Colsman, 29. Oktober 1909.

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sich in diesem Prozess die gesamte Lebenswelt als Sozialisationsrahmen verändert hatte und auch die bürgerliche Lebensform beeinflusste, war für ihn unverkennbar und er sah seine Kinder in diesen veränderten Rahmenbedingungen aufwachsen. 1909, zum Zeitpunkt des Briefs, schien es ihm angezeigt, dies in einem Brief an seinen Sohn so zu formulieren, dass dieser von den Deutungsunsicherheiten des Vaters erfuhr. Dies wurde verbunden mit Aufforderungen zur Selbstreflexion und zur Entwicklung eigenständiger Handlungsorientierung, die mit Ich-Botschaften des Vaters, mit seinen Gefühlen und persönlichen Wünschen, verknüpft wurden. Insgesamt betonten die Eltern in der brieflichen Erziehung jetzt neben der Präsentation von Gründen (rational) durchweg die eigenen Befindlichkeiten (emotional). Paul Colsman wählte mit zunehmendem Alter seiner Söhne zusätzlich den Weg, diesen seinen beruflichen Alltag ausführlich und beispielgebend zu schildern, wie es bereits sein Vater ihm gegenüber getan hatte: „Im Geschäft wird es täglich schwieriger. Die Kunden sind auf der ganzen Linie aufsässig & wollen sich vor ihren Verpflichtungen drücken. Seide wird noch immer billiger. Da ist es denn enorm schwierig die große Fabrik in Kupferdreh in Gang zu halten. […] In Kupferdreh haben wir Lenz entlassen müssen. […] Kann man auch L. den Diebstahl nicht nachweisen, so sind die Nachschlüssel doch ein derartiger Vertrauensbruch, daß wir uns entschließen mußten, dem Mann seine Stellung zu kündigen. […] In der kommenden Woche habe ich ein etwas reichhaltiges Programm. Montag gehe ich wie gewohnt nach Barmen [als Geschäftsführer der Firma Ph. Barthels-Feldhoff, CG], Dienstag muß ich in K’ werth [Kaiserswerther Diakonie, CG] die Bücher revidieren & Donnerstag habe ich in Halle Gewerkenversammlung. Samstag ist in Barmen Passionsconzert & damit man noch am Sonntag eine kleine Abwechslung hat, sind wir von Geheimrat Lueg zum Mittagessen eingeladen. Nach Abarbeitung dieses Programms freue ich mich auf die Feiertage.“332

Wie stark Großbritannien nicht nur der Referenzrahmen für die Bedeutung guter Schulleistungen der Söhne war, sondern auch die Lebensform und die Lebensideale in der Unternehmerfamilie bestimmte, wird an Briefen Peter Lucas Colsmans und Paul Colsmans aus London deutlich: „Mein liebes Herz! Seit Mittwoch Abend, also 4 x 24 Stunden, bin ich von Euch fort, und noch kein Lebenszeichen von dir! […] Mir hat’s inzwischen puncto Gesundheit fortgesetzt gut gegangen, aber puncto business, – da hört die Weltgeschichte auf. […] Heute habe ich einen ganz schönen Sonntag verlebt. Um 11 Uhr in den City temple wo Mr. Campbell predigte. […] Bei diesem Gottesdienst von Campbell wird vor Beginn immer Queue gebildet, ähnlich wie bei den Theatern. […] Nach dem Lunch […] haben wir dann bei schönen Wetter eine nette Promenade durch Hyde-Park, bis 5 Uhr, gemacht. Diese Promenaden sind doch einzig. In einem Westend-Hotel nahmen wir dann gerade so wie gestern, unsern 5 o’clock Tea ein. Dann wieder p pedes zu unserm Hotel. Um 7 Uhr Diner eingenommen & sitze ich hier im Readingroom & schreibe […]!“333

332 333

Archiv WHC, Sign. 70, Paul Colsman an Wilhelm Colsman, 4. April 1908. Archiv Landfried, Sign. 28, Peter Lucas Colsman an seine Frau Tony Colsman, 1. November 1903.

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„Ob ich dann heute in acht Tagen heimreisen kann, muß sich finden. Ich wäre gerne früher fertig geworden, leider konnte ich im Norden einige besonders wichtige Kunden nicht zu der mir passenden Zeit sehen & so muß ich den Sonntag in Manchester oder seiner Umgebung zubringen. […] Letzte Woche waren wir einen Abend bei Bekannten im westend & einen Abend war ich mit Onkel Hermann im Offizier-Verein, wo der Lord Mayor mit zwei Sheriffs erschien, jeder von zwei Bedienten in goldstrotzenden Uniformen begleitet.“334

Großbritannien war Vorbild in der bürgerlichen Lebensform. Es war schick und weltläufig, Anglizismen in die Kommunikation einzuflechten, wie es die Langenberger Unternehmer wiederholt taten. Da sie sich in jedem Jahr für mehrere Wochen in Großbritannien aufhielten, waren ihnen Sprache, Umgangs- und Geselligkeitsformen sowie britisches Großstadtleben ebenso vertraut wie die britische Politik. Großbritannien war für die Langenberger Seidenfabrikanten ein äußerst ergiebiger Absatzmarkt und insbesondere England ein moderner Industriestaat, an dem sich das deutsche Kaiserreich orientieren sollte und es ab den 1880er Jahren auch zunehmend konnte. So schrieb Peter Lucas Colsman 1910 stolz und selbstbewusst aus London an seine Frau Tony: „Eine englische Arbeiter Comission, die in Deutschland eben jetzt gewesen, sagt als Resume: ‚Germany is on the right track & going ahead.‘ Peter & Helmut [die ältesten Söhne, CG] müssen mir diesen Satz genau wiederholen können!“335 Zwischen 1900 und 1910 setzte das Unternehmen Gebrüder Colsman rund 80% seiner Produktion zu etwa gleichen Teilen in Großbritannien und in den USA ab, wobei es von Jahr zu Jahr schwankte, welcher Markt den größeren Anteil besaß.336 Ein ab 1900 geführtes Kundenregister listete für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zum Beispiel für Berlin knapp 200 Kunden auf, London dagegen wies allein über 400 Kunden auf, Manchester nochmals 50.337 Dazu trat noch die große US-amerikanische Agentur, Fredk. Vietor & Achelis in New York, welche in den USA die Waren des Unternehmens exklusiv vertrieb.338 Obwohl Paul Colsman und Peter Lucas Colsman viel bewusster als ihre Eltern und die älteren Verwandten von sich als ‚Deutsche‘ sprachen,339 wirkte sich dies nicht auf ihr positives Verhältnis zu Großbritannien aus. Vielmehr wurden die Ebenen klar unterschieden: Politisch befanden sich die beiden Staaten für sie in einem Konkurrenzverhältnis, das von ihnen jedoch eher als Wettbewerb denn als gravierender politischer oder gar militärischer Konflikt betrachtet wurde. Ökonomisch war Großbritannien für sie nach wie vor der wichtigste Orientierungsraum, obwohl das Kaiserreich Großbritannien nach der 334 335 336 337 338 339

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Archiv WHC, Sign. 70, Paul Colsman an Wilhelm Colsman, 9. Oktober 1907. Archiv Landfried, Sign. 28, Peter Lucas Colsman an seine Frau Tony Colsman, 6. November 1910. Vgl. FFA, 4.29, Inventarien 1900–1910. Vgl. FFA, 5.71, Kundenregister 1900–1919. Insgesamt umfasst das Register knapp 2.000 Kunden im In- und Ausland. In den USA wurden demgemäß keine Geschäftsbeziehungen mit Einzelkunden unterhalten. Vgl. in diesem Kapitel das Teilkapitel 4.3.

Jahrhundertwende im Anteil an der Welt-Güterproduktion überholt hatte. In der Welt-Industrieproduktion war der Anteil Großbritanniens darüber hinaus von knapp 23% 1880 auf 13,6% 1913 gesunken, der Anteil des Kaiserreichs war dagegen von 8,5% auf knapp 15% gestiegen. Hoch alarmistisch argumentierte daher eine 1896 veröffentlichte Schrift eines britischen Journalisten, der unter dem Titel „Made in Germany“ (als Begriff 1887 im sogenannten Merchandise Marks Act gedacht als Stigma vermeintlich schlechter und deshalb billiger Ware aus Deutschland)340 die deutsche Industrie über die britische siegen sah: „Ihr werdet finden, daß der Stoff einiger Eurer Kleider vielleicht in Deutschland gewebt ist, die Kleider Eurer Frauen sind wahrscheinlich aus Deutschland eingeführt. Zweifellos sind die prächtigen Mäntel und Jacken, mit denen Eure Dienstmädchen sich an ihrem Sonntage schmücken, in Deutschland gemacht. […] Durchstreift das ganze Haus und die verhängnißvolle Marke blickt Euch aus jedem Winkel an, vom Flügel in Eurem Wohnzimmer bis zum Kruge auf Eurem Küchenschrank […].“341

Umgekehrt wuchs im deutschen Kaiserreich der Stolz auf die eigenen Erzeugnisse und die Exporterfolge. „Nach allen Parametern zählte die deutsche Wirtschaft hinter der amerikanischen zu den dynamischsten der Welt.“342 HansUlrich Wehler spricht deshalb vom „ersten deutschen ‚Wirtschaftswunder‘ 1895–1913“: „Vor 1914 konnte kein Zweifel mehr daran aufkommen, dass die deutsche Industriewirtschaft nach einer furiosen Aufholjagd in das weltweit führende Spitzentrio vorgestoßen war, das jetzt aus den Vereinigten Staaten, Großbritannien und dem Deutschen Reich bestand.“343 Auch wenn dies insbesondere die neuen Leitsektoren der deutschen Industrie betraf, d. h. Stahlproduktion, Maschinenbau, Großchemie und Elektrotechnik, hatte doch die Textilindustrie daran nach wie vor einen großen Anteil. Immerhin setzte sie fast die Hälfte ihrer Produktion außerhalb des Kaiserreichs ab, hing aber dadurch auch ganz maßgeblich vom Export ab, die bergische und rheinische Seidenindustrie sogar zu rund zwei Dritteln.344 Die enge Verflechtung und die Abhängigkeit der Langenberger Seidenwebereien vom Weltmarkt sowie die Lebensform der Unternehmerfamilien, die 340 341

342 343 344

Vgl. Brechtken, Kaiser, Kampfschiffe und politische Kultur, S. 208, Zahlen ebd., S. 206f. Williams, E. E., Made in Germany: Der Konkurrenzkampf der deutschen Industrie gegen die englische (1896), zit. nach Umbach, Made in Germany, S. 411f. Wilhelm Colsman-Bredt beschrieb dies, als er auf den Wunsch seiner Kinder, ihnen Spielzeug aus London mitzubringen, antwortete, „sie kommen alle von Deutschland & sind hier sehr theuer“. FFA, B4g57, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 16. November 1861. Plumpe, Eine wirtschaftliche Weltmacht, S. 59. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 3, 1849–1914, S. 612. Vgl. Torp, Die Herausforderung der Globalisierung, S. 108f.; Buchheim, Deutsche Gewerbeexporte nach England, S. 35ff., S. 60ff. Auch die Mundharmonikafirma Hohner in der württembergischen Kleinstadt Trossingen setzte noch 1913 85% ihrer Produktion im Ausland ab. Vgl. Berghoff, Patriotismus und Geschäftssinn im Krieg, S. 272.

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international geworden war, mit einer klaren Orientierung an Großbritannien, ließ die älteren Langenberger Unternehmer den Ausbruch des Ersten Weltkriegs am 1. August 1914 nicht jubelnd begrüßen, sondern die Teilnahme an ihm vielmehr als einen Tribut interpretieren, den man der politischen Errungenschaft des Nationalstaats zu leisten verpflichtet war. Anders war dies jedoch bei den Jüngeren. Manche von ihnen wurden als Reserveoffiziere gleich bei Kriegsausbruch zum Kriegsdienst eingezogen, so Wilhelm Colsman, Paul Colsmans ältester Sohn, sechsundzwanzig Jahre alt, der sich bei Kriegsausbruch zu einem Ausbildungsjahr in New York befunden hatte; ebenso Eduard Andreas Colsman (1885–1955), der Sohn eines Mitinhabers von Gebrüder Colsman, Andreas Colsman, welcher ebenfalls Reserveoffizier war. Eingezogen als Reserveoffizier wurde im August 1914 auch Johannes Colsman, Paul Colsmans jüngerer Bruder.345 Gleich mit dem Kriegsausbruch 1914 meldeten sich Johannes Colsmans Sohn Hans und die drei Söhne Peter Lucas Colsmans als Kriegsfreiwillige; Paul Colsman jun. tat dies 1916. Keiner der Kriegsfreiwilligen war bereits in einem der elterlichen Unternehmen tätig, alle befanden sich noch in der höheren Schule oder in der Ausbildung. Keiner von ihnen hatte bis dato Auslandserfahrungen gesammelt. Anders war dies bei den drei eingezogenen Reserveoffizieren, die alle bereits längere Auslandserfahrungen in Großbritannien und in den USA gemacht hatten; in New York waren Johannes und Eduard Andreas Colsman während ihrer Ausbildung zum Beispiel zwei bzw. ein Jahr gewesen, Wilhelm Colsman wegen des Kriegsausbruchs nur knapp vier Monate. Allerdings hatten die Eltern der Kriegsfreiwilligen viel Wert auf Fremdsprachenunterricht gelegt, ihnen die Lebenswelt anderer Staaten brieflich vermittelt, und ein Teil von ihnen hatte Schulkameraden aus vielen verschiedenen Nationen gehabt. Die Eltern waren mehrsprachig, ihre Lebensform war international orientiert, und sie vermittelten in Briefen immer wieder die Bedeutung des Auslands für den Wohlstand und die Lebensform der Familie. Woran es gelegen haben mag, dass zwar niemand aus den älteren Familiengenerationen den Krieg herbeigewünscht (und auch nicht mit ihm gerechnet) hatte und niemand von ihnen diesen, als er kam, euphorisch begrüßte, dies aber bei den jugendlichen Schülern anders war, wird im abschließenden Kapitel VII dieses Buchs diskutiert.

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Eingezogen wurden ab 1914 zunächst alle diejenigen, die nach der Wehrordnung im wehrpflichtigen Alter waren, d. h. über achtzehn und unter fünfundvierzig Jahren. Vgl. Kapitel VI über Einjährige, Militär und Männlichkeit, Teilkapitel 1, sowie Hirschfeld/Krumeich, Deutschland im Ersten Weltkrieg, S. 62.

5. Fazit und Forschungsperspektiven Großbritannien und die britische Jugend waren Vorbilder und ständige Referenz in den Briefen der Unternehmer an ihre Söhne; Großbritannien und die USA waren darüber hinaus Dauerthemen in den Unternehmen. Gleichzeitig blieben die Sozialisationskontexte der männlichen Jugendlichen der Unternehmerfamilie Colsman im Kaiserreich deutlich unterschieden von denen der englischen bürgerlichen Jugend. Fast alle Söhne der Unternehmerfamilie besuchten deutsche öffentliche höhere Halbtagsschulen und keine privaten Internate, obwohl es der Unternehmerfamilie möglich gewesen wäre, die Söhne nach England auf exklusive Public Schools zu schicken. Wie vorausgehend dargestellt, waren die deutschen bürgerlichen Jugendlichen jedoch für die militärische Einjährigenberechtigung auf die staatlicherseits vergebenen Schulabschlüsse angewiesen; die Auslandserfahrungen der Söhne der Unternehmerfamilie Colsman waren deshalb erst Bestandteil späterer Ausbildungsabschnitte, meist nach der einjährigen Militärzeit. Darüber hinaus war der Schulbesuch im Jugendalter während des gesamten Kaiserreichs in dieser Familie nicht eingebettet in eine häusliche Familienerziehung, sondern fand im Kontext von Schülerpensionen und, in kleiner Zahl, in Internaten und Alumnaten statt. Da die Zahl der auswärtigen Schüler an den höheren Schulen während des gesamten Kaiserreichs bei circa einem Drittel lag, verbrachte eine erhebliche Anzahl höherer Schüler die Jugendjahre in Sozialisationskontexten außerhalb des Elternhauses, nämlich in Schülerpensionen und in Internaten und Alumnaten. Zu diesem Themenkomplex liegt bis auf die Analysen in diesem Kapitel noch keine bildungshistorische Forschung vor. An den dargestellten schulischen Sozialisationsprozessen der Söhne der Unternehmerfamilie zwischen 1840 und dem Ersten Weltkrieg werden zugleich Unterschiede zwischen der englischen Internatssozialisation und der deutschen Sozialisation in Schülerpensionen oder Internaten deutlich. Diese beziehen sich sowohl auf die nicht wissenschaftlich oder berufspraktisch, sondern klassisch-humanistisch ausgerichteten Lehrpläne der englischen Public Schools als auch auf das Erziehungsziel des ‚hardening‘ der Jungen in den Internaten und auf deren lebenslange Selbstpräsentation als ‚Public School Boys‘. Ein solches Public School-System existierte im Kaiserreich nicht. Die bürgerlichen Eltern im Kaiserreich wussten zugleich um die zentrale Bedeutung der Schulabschlüsse für die Karrieren der Söhne, während staatliche Schulabschlüsse für die englische Oberschicht keine wichtige Rolle spielten. Für wirtschaftsbürgerliche Eltern in Deutschland war dagegen der Erhalt der Einjährigenberechtigung an einer in der Regel staatlichen höheren Schule unerlässlich, für bildungsbürgerliche Eltern darüber hinaus die Ablegung des Abiturs an einem wiederum in der Regel staatlichen humanistischen Gymnasium. Die Schülerpensionen fungierten in diesem Zusammenhang als ‚Schwellenorganisationen‘, in denen vielfältige Rollenanforderungen parallel formuliert wurden: Ersatzsohn, Schüler, zahlender Pensionär, Gast, Peer. Sie förderten mit Unterstützung der in diesem Kapitel geschilderten Herkunftsfamilien, welche 291

die Schülerpensionen zum festen Bestandteil eines pädagogischen Konzepts gemacht hatten, nicht nur Ambiguitätstoleranz und eine differenzierte Selbstpräsentation, sondern forcierten auch die Arbeit an der Konstruktion eigenständiger Lebensmodelle der Balance, weil die Sozialisationskontexte Selbstregulationen erforderten und die Entstehung eines Bewusstseins vom Selbst als Handlungszentrum förderten. Die Bildungsidee und -praxis des Lebensmodells der Balance bezog sich exakt auf diese Aspekte, nämlich, wie Wilhelm von Humboldt 1794/95 geschrieben hatte, auf die Fähigkeit der Person, eine Verknüpfung mit der Welt zu der „allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung“ herzustellen,346 sich in diesem Zusammenhang als weltdeutendes und -ordnendes Zentrum zu begreifen und sich im Sozialisationsprozess zu einem solchen zu entwickeln. Die Autoritätskonflikte waren in der Unternehmerfamilie Colsman in den 1870er und 1880er Jahren situiert. Während zuvor, im Falle der Sozialisation Wilhelm Colsman-Bredts, eine konfliktfreie Autoritätslinie von den Eltern über den Internatsleiter bis zu den Lehrern und Erziehern bestanden hatte, brach dieser eindeutige, alle Sozialisationsinstanzen umfassende Kontext der Autorität nach der Reichsgründung auseinander. Die Sozialisationskontexte wurden vielfältiger und mehrdeutiger, es entstanden Jugendkulturen und Auseinandersetzungen mit den Erwachsenen um Freiräume und Autonomie, und es entwickelten sich alternative Lebensmodelle der Balance samt neuen Selbstpräsentationen. Die im Vergleich mit der Elterngeneration liberalere, auf Begründung und Argument setzende Erziehungspraxis in Elternhaus und Ersatzfamilien befähigte die Jugendlichen, Konfliktpotentiale zu formulieren und sich gegenüber Erwachsenen zu positionieren. Ihre Kritik an der Schule, den Ersatzfamilien und der Amtsautorität der Lehrer war keine Antwort auf stark autoritäre Sozialisationsverhältnisse, sondern vielmehr Ausdruck eines gestiegenen jugendlichen Selbstbewusstseins. Der Rollenpluralismus in den Schülerpensionen unterstützte die Entstehung eines solchen Selbstbewusstseins. Dagegen kamen nach der Jahrhundertwende keine schwerwiegenden Generationskonflikte mehr vor. Vielmehr zeigte sich, dass die Bereitschaft der Eltern stieg, Positionen der Kinder nachzuvollziehen und tendenziell zu übernehmen. Auch die Teilnahme eines Sohnes am Wandervogel war keine Stellungnahme gegen die Eltern und für eine eigenständige Jugendkultur, sondern Möglichkeit einer gruppenbezogenen jugendlichen Freizeitgestaltung, ohne lebensreformerische Ambitionen. Die Infragestellung der Amtsautorität der Lehrer, welche die Vorgängergeneration nur gegenüber Freunden und Geschwistern vorgenommen hatte, wanderte nun auch in die Briefe der Söhne an die Eltern ein, ohne dass dies gerügt wurde. In Konfliktfällen der Söhne mit der Schule agierten die Eltern tendenziell an der Seite der Kinder. In den beiden vorauslaufenden Generationen war das nicht der Fall gewesen; vielmehr waren die Söhne immer wieder dazu angehalten worden, sich in die schulischen Sozialisationskontexte einzufügen und die Amtsautorität der Lehrer und Erzieher unwidersprochen zu 346

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Humboldt, Theorie der Bildung des Menschen, S. 235f.

akzeptieren. Nach der Jahrhundertwende nahm auch die innerfamiliale Autorität der Eltern ab. Die Eltern behandelten die Söhne stärker als Gleichrangige, thematisierten eigene Gefühlslagen und erwarteten einen partnerschaftlichen, gleichwohl respektvollen Umgang der Söhne mit der Herkunftsfamilie. Auch dass Peter Lucas Colsman jun. wegen schlechter Schulleistungen nicht mit ständig wiederholten Ermahnungen durch die öffentliche Schule gebracht wurde, sondern die Eltern für ihn im Jahr 1905 stattdessen ein kostspieliges privates Internat mit vielfältigen Freizeitangeboten auswählten, passt zu dem neuen partnerschaftlichen Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern. Gleichzeitig sollte die elterliche Erziehung die Söhne vorbereiten auf die Bewältigung veränderter lebensweltlicher Anforderungen im Zeitalter der Technik, auf Tempo, Maschinen und die Notwendigkeit, diese möglichst souverän zu beherrschen. Es lassen sich also in der Unternehmerfamilie und ihrer Lebensform sowie in den damit verbundenen Sozialisationskontexten im Verlauf des Kaiserreichs Liberalisierungen feststellen, als Phänomen durchaus vergleichbar mit dem familialen Liberalisierungsprozess in der Bundesrepublik Deutschland zwischen den 1950er und den 1980er Jahren: Auf eine autoritäre Matrix folgten auch dort pluralere Sozialisationskontexte und Rollenerwartungen, durch die, verbunden mit liberaleren Erziehungsstilen, Jugendliche zu Kritik und Konfliktaustragung befähigt wurden, verbunden mit zunehmendem jugendlichem Selbstbewusstsein. Schließlich rückten auch in den 1970er Jahren Eltern stärker an die Seite der Kinder, wurden Familienverhältnisse gleichrangiger und die Schule für Eltern und Kinder tendenziell ein kritisch wahrgenommener Ort. Obwohl in den Briefen der Eltern an Wilhelm Colsman-Bredt in den 1840er Jahren die internationale Welt des Handels noch keine dezidierte Rolle gespielt hatte, wenngleich das Unternehmen bereits zu dieser Zeit knapp die Hälfte seiner Erzeugnisse außerhalb der deutschen Staaten exportierte, insbesondere nach Nord- und Südamerika, ließen sie ihren Sohn in einem Internat erziehen, das neben einem intensiven Fremdsprachenangebot eine internationale Schülerschaft besaß. Für Wilhelm Colsman-Bredt als Vater war die Globalisierung des Handels dann ab den 1870er Jahren ein wichtiges Thema in den Briefen an seinen Sohn; insbesondere Großbritannien wurde in seiner Bedeutung für das Familienunternehmen hervorgehoben und britische zivilisatorisch-technische Errungenschaften positiv betont. In gleicher Weise agierten Paul und Peter Lucas Colsman nach der Jahrhundertwende gegenüber ihren Söhnen. Damit verbunden war in beiden Generationen der Appell an Anstrengungsbereitschaft, Wissen und Können, um im internationalen Wettbewerb zu bestehen. England war zudem Vorbild in Umgangs- und Geselligkeitsformen, und auch das britische Großstadtleben, insbesondere in der Millionenstadt London, erschien erstrebenswert. Durch die ab den 1880er Jahren erkennbare Selbstpräsentation der Generation Paul und Peter Lucas Colsmans als Deutsche im Sinne der Zugehörigkeit zu einer ‚imagined community‘ (Benedict Anderson) trat in den Briefen ein Spannungsverhältnis zwischen internationaler Lebensführung und dem politischen Raum des Nationalstaats auf, dem man sich als Person nun zugehörig fühlte. Während ihren Eltern der deutsche Nationalstaat persönlich 293

fremd blieb und der Stolz auf diese Errungenschaft stets unverbunden neben der eigenen internationalen Lebensform stand, in der ein internationales, insbesondere mit Großbritannien gepflegtes Netz von Freundschaften, Reisen und Korrespondenzen von zentraler Bedeutung war, änderte sich dies für ihre Kinder und auch für ihre jüngeren Geschwister. Während Wilhelm Colsman-Bredt (geb. 1831) und seine Frau Adele (geb. 1836) in ihren Selbstpräsentationen ‚Preußen‘ blieben und sich erst über diese Zuschreibung auch als Bürgerin und Bürger des Deutschen Reiches verstanden,347 übernahmen sein jüngerer Bruder Emil (geb. 1848), Wilhelm Colsman-Bredts Sohn Paul (geb. 1861), Paul Colsmans Onkel Peter Lucas (geb. 1854) und auch ihre Ehefrauen das ‚Deutscher sein‘ als Teil ihrer Selbstbeschreibung. Diese Zugehörigkeit wurde für diese Generation bedeutsamer als die preußische, und die eigenen Leistungen als Unternehmer wurden als Teil deutscher Industrie verstanden. Gleichzeitig blieb die Lebensform auch bei den jüngeren Generationen international ausgerichtet; die vielfachen persönlichen Verbindungen und Reisen ins Ausland, insbesondere nach Großbritannien und in die USA, führten dazu, dass die Positionierung als Deutsche/Deutscher sich weniger zu einem Überlegenheitsgefühl als zur Wahrnehmung von Differenz entwickelte. Begleitet wurden die jugendlichen Sozialisationsprozesse während des gesamten Kaiserreichs durch die ausführliche väterliche Beschreibung des unternehmerischen Arbeitsalltags und der ambivalenten unternehmerischen Rollenmuster: Als Warenanbieter mit ihren Musterbüchern nicht selten in einer asymmetrischen Position gegenüber den Kunden und zudem unter scharfem Konkurrenzdruck, waren die Väter gleichzeitig Mittelpunkt und Entscheider in hierarchisch organisierten Arbeitsabläufen und Verantwortlichkeiten in ihren eigenen Unternehmen und ab den späten 1880er Jahren schließlich Fabrikherrn eines in einer Fabrik konzentrierten Großbetriebs mit über 1.000 Arbeitern und Angestellten. Für die Generation, die vor der Gründung des Deutschen Reiches aufwuchs, war das männliche Rollenmuster als Unternehmer deshalb weniger spannungsreich als für diejenigen, die ihre Väter einerseits als Fabrikherrn und andererseits als Verkäufer von Waren unter Konkurrenzdruck erlebten. Dass für die männlichen Jugendlichen aber die Arbeitswelt der Väter zunehmend verschwand, kann man für die Unternehmersöhne, die im Kaiserreich aufwuchsen, nicht sagen. So waren das jeweilige Unternehmen und die unternehmerische Arbeit in fast jedem Brief der Väter thematisch präsent. In Wilhelm Colsman-Bredts Sozialisationskontexten dominierte in den 1840er Jahren ein Männlichkeitsideal, das – insbesondere im Kortegarnschen Internat – ein äußerst zurückgenommenes Lebensmodell der Balance als seinen Rahmen besaß. Ein gebildeter Mann sollte, so vermittelte es das Internat, Fleiß und Anstrengungsbereitschaft mit einer dauerhaft methodischen Lebensführung verbinden. Gleichzeitig sollte er die Autoritäten der Lebenswelt und der Institutionen akzeptieren und sich ihnen gegenüber stets bescheiden und zurückhaltend verhalten. Arbeit und Askese sollten seine Verhalten prägen, Ratio347

294

Vgl. Kapitel II über Eheschließungen und Ehebeziehungen, Teilkapitel 3.4 und 4–6.

nalität die Handlungen bestimmen und persönliche Neigungen und Empfindungen nicht vom Dienst an der Sache (schulisches Lernen, pflichtgemäße Erfüllung von Aufgaben) ablenken. Im Kontext strenger Hierarchien und nicht hinterfragbarer Autorität der Lehrpersonen und Erzieher wurden die Schüler aber zugleich aufgefordert, Autoritätsverhältnisse aus unterschiedlichen Positionen angemessen zu gestalten, beispielsweise gegenüber dem Dienstpersonal der Schule, und zugleich den Umgang mit Gleichrangigen nach Normen des Maßes und der Kontrolle der eigenen Aktionen einzuüben. Letztlich stand hinter der Schulerziehung, die sich noch mit militärähnlichem Drill (‚Appelle‘) verband, das Konzept einer sowohl kühl kalkulierenden und innerlich stets disziplinierten als auch maßvoll und empathisch agierenden bürgerlichen Persönlichkeit, die für sich – als Bildungsideal und -praxis – stets das Gleichmaß zwischen Verstand und Gefühl, Ehrgeiz und Bescheidenheit, Eigenständigkeit und Unterordnung zu wahren gelernt hatte. Dieses Modell gebildeter Männlichkeit, das von den Eltern Wilhelm Colsman-Bredts unterstützt wurde, unterschied sich von dem Ideal des auf Sport, Jungengemeinschaft und das Internat als identitätsstiftende Einrichtung ausgerichteten englischen Public School Boys. Trotz begleitenden militärischen Drills und strikter Disziplinierung dominierte in den Sozialisationskontexten des Kortegarnschen Instituts ein bürgerliches, auf Arbeit und Erwerb, Wissen und Können ausgerichtetes Lebensmodell und keines, das letztlich auf der Idealisierung der Gentleman-Existenz einer Leisure Class beruhte. In der folgenden Generation zeigten sich andere männliche Selbstpräsentationen und Handlungsorientierungen. Paul Colsman agierte deutlich konfliktfreudiger als sein Vater, lotete Handlungsspielräume bewusst aus und erprobte eine jugendliche Männlichkeit in der Auseinandersetzung mit Institutionen. Die Männlichkeit zeigte sich hier als Aktion, als permanentes Aushandeln von Möglichkeiten und Freiheiten innerhalb eines impliziten Konzepts von ‚Checks and Balances‘. Machtvakua zu nutzen gehörte ebenso dazu wie die Infragestellung von Autoritäten, sowohl diejenige seiner Eltern als auch diejenige der Lehrer und Ersatzeltern in der Schülerpension. Seine Sozialisationskontexte (auswärtige Schule, Schülerpension, Akademie in Lausanne, französisches Institut) waren bestimmt durch Beziehungen, die in ihrer Rollenvielfalt mannigfaltige Ausgestaltungen und das Ausspielen der Rollen gegeneinander zur Vergrößerung persönlicher Freiräume ermöglichten und ein entsprechendes Verhalten einüben halfen. Darüber hinaus war die elterliche Erziehung gesprächsorientierter geworden; Wünsche und Anordnungen wurden erklärt und begründet und Sanktionen nur äußerst selten ausgesprochen. Für den Sohn eröffnete dies Interpretations- und Verhaltensspielräume. Zugleich schufen diese Sozialisationskontexte die Möglichkeit, anders als in einem Internat, jugendlich-männliche Peer Groups zu bilden, die nicht zwingend mit der Klassengemeinschaft der Schule übereinstimmten und in denen differente Sozialisationserfahrungen zusammenkamen. Das Lebensmodell der Balance, das Paul Colsman entwickelte, war daher stärker als das seines Vaters auf Grenzüberschreitungen und neue Grenzziehungen ausgerichtet und nicht 295

von vornherein auf möglichst umfassende Selbstbeherrschung und maßvolle Zurückhaltung. Ein gebildeter Mann besaß in diesem Modell nicht nur die Fähigkeit zu innerer Selbstbeherrschung und äußerem Maßhalten bei gleichzeitiger selbsttätiger Deutung und Ordnung der Welt, sondern richtete sich auch auf eine – teils konflikthafte – Ausdehnung seiner Handlungsspielräume aus. Dieses neue, vom bürgerlichen Männlichkeitsmodell der vorigen Generation deutlich abgesetzte Männlichkeitsmodell war derart anders, dass Zeitgenossen von einem neudeutschen Typus sprachen. Denn immerhin fiel der Zeitpunkt seines Erscheinens in der deutschen Gesellschaft mit der Hochindustrialisierung und Hochkonjunktur im Kaiserreich seit den 1890er Jahren und ihren lebensweltlichen Auswirkungen zusammen und bewirkte im Inland (bei den älteren Alterskohorten) und im Ausland offenbar eine Neubewertung des ‚typisch Deutschen‘. Für die männliche Jugend in der Unternehmerfamilie nach der Jahrhundertwende lässt sich schließlich festhalten, dass kaum noch Konflikte mit den Eltern und der Schule nachweisbar sind. Kritik an den Ersatzeltern in der Schülerpension oder respektloses Karikieren von Lehrerpersönlichkeiten wurde von den Eltern nicht mehr verurteilt, sondern als jugendliches Verhalten hingenommen. Eine aktive Positionierung gegenüber Autoritäten war für diese Generation zumindest in der Familie nicht mehr erforderlich. Vielmehr scheint hier ein harmonischeres Verhältnis zwischen den Jugendlichen und ihren Erziehungs- und Sozialisationsinstanzen vorgeherrscht zu haben als in der Vorgängergeneration. Anders als in der Großelterngeneration beruhte dieses aber nicht auf einer durchgehenden Autoritätslinie, sondern auf einem insgesamt sich liberalisierenden Erziehungs- und Sozialisationskontext. Damit blieb allerdings auch offen, welches Männlichkeitsbild diese Generation entwickeln sollte. War dieses bei Wilhelm Colsman-Bredt durch die Sozialisationskontexte klar formuliert worden und bei seiner Kindergeneration durch die Ambivalenz und Widersprüchlichkeit der Sozialisationsinstanzen hervorgerufen worden, so schufen die liberaleren Sozialisationskontexte für die Generation nach der Jahrhundertwende eine Vielzahl von Möglichkeiten männlicher Selbstpräsentation, ohne dass sich für diese Generation ein Typus herausarbeiten ließe; vielmehr gingen die Jugendlichen offenbar pragmatisch mit den an sie gestellten Anforderungen und Entwicklungsaufgaben um. Gleichzeitig inszenierte der Staat Schulen und deren Akteure, Lehrer wie Schüler, weiterhin als Teil eines nationalen Raums, während die Eltern den Söhnen insbesondere Großbritannien als wichtigen Handelspartner und als Vorbild in der Lebensform vermittelten und ihnen regelmäßig von dort berichteten. Neben einer nach wie vor befürworteten methodisch-asketischen Lebensführung scheinen sich aber auch die lebensweltlichen Bedingungen des neuen Maschinenzeitalters ausgewirkt zu haben, so dass ‚stramm sein‘ oder ‚sich stählen‘ als Desiderate an manche Jungen herangetragen wurden. Damit wurde von Seiten der sich so äußernden Eltern zwar kein explizites Männlichkeitsmodell verbunden, aber solche Eigenschaften und Fähigkeiten wurden angesichts der lebensweltlichen Entwicklungen von ihnen doch für bedeutsam gehalten. Beobachtbar ist auch, dass sich durch die Verlän296

gerung der Bildungswege bis zum Abitur die Verhaltensformen und Peer Group-Organisationen denen der Studenten annäherten. So ergab sich ein weites Spektrum von Männlichkeitsmodellen für diese Generation. Nach den geschilderten Entwicklungen in der Unternehmerfamilie Colsman ist es nicht plausibel, die Vorstellung eines von 1871 bis 1918 gleich zu beurteilenden lebensweltlichen Sozialisationsrahmens im Kaiserreich aufrechtzuerhalten. Die schulische Sozialisation und Erziehung fand in den 1870er Jahren unter ganz anderen Rahmenbedingungen statt als um 1910. Die Familienorientierung nahm im Verlauf des Kaiserreichs zu, die Amtsautorität der Lehrer, Schuldirektoren und Pensionseltern dagegen ab. Auch die Generationskonflikte nahmen – entgegen der landläufigen Forschungsposition – in dieser Unternehmerfamilie seit der Jahrhundertwende ab. In der bildungshistorischen Forschung wird noch überwiegend eine Differenzlinie gezogen zwischen avantgardistischer Lebensreformbewegung inklusive der Jugendbewegung und Reformpädagogik auf der einen Seite und einer autoritären Mehrheitsgesellschaft und Politik mit entsprechenden Sozialisationsprozessen in staatlichen Schulen auf der anderen Seite.348 Erst allmählich setzt sich die Erkenntnis durch, dass sich die grundlegenden Veränderungen nicht in avantgardistischen Zirkeln vollzogen und vor dort aus auf das Bürgertum und die Gesamtgesellschaft einwirkten, sondern dass diese in den öffentlichen Schulen und alltäglichen Lebensformen der Gesellschaft selbst entstanden.349 Für die bildungshistorische Forschung wäre zweierlei wünschenswert: Erstens eine stärkere Berücksichtigung der lebensweltlichen Dynamik des Kaiserreichs in seinen Auswirkungen auf die Sozialisationskontexte generell und auf die erziehenden und bildenden Institutionen im Besonderen und zweitens eine intensivere Hinwendung zum pädagogischen und sozialisatorischen Alltagsgeschehen.

348

Auch wenn beispielsweise seit über zwanzig Jahren eine kritische wissenschaftliche Aufarbeitung der Ambivalenzen der Reformpädagogik erfolgt (vgl. exemplarisch Keim/Schwerdt/Reh, Reformpädagogik und Reformpädagogikrezeption; Baader, Erziehung als Erlösung, sowie als Auftakt Oelkers, Reformpädagogik), ändert dies bislang wenig an der Beurteilung von deren Rahmenbedingungen, also des Kaiserreichs, als eines autoritären, gesellschaftlich rückständigen Staats. 349 Für die Institution Schule in dieser Richtung argumentierend vor allem Oelkers, Schulreform und Schulkritik; auch Caruso, Biopolitik im Klassenzimmer; aus der Perspektive der Familiensozialisation Häder, Bildung und Bildungsinstitutionen als ‚Fixsterne‘ am bürgerlichen Wertehimmel.

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V. Ein Mädchen werden: Mädchensozialisation von 1850 bis 1918

1. Vorgeschichte in der Mitte des 19. Jahrhunderts 1.1 Mädchen mit Indianerbuch Mädchenbriefe können die Vorstellung bürgerlicher Idyllen und biedermeierlicher Frauenideale in der Zeit der 1840er und 1850er Jahre erheblich ins Wanken bringen. Der Begriff des Biedermeier ist eine spätere Zuschreibung aus den 1850er Jahren, die den Jahrzehnten vom Wiener Kongress (1814/15) bis zur Revolution 1848/49 zugedacht war. Die Bezeichnung war kritisch gerichtet gegen eine vorgeblich kleinbürgerlich-spießige Häuslichkeit, den Rückzug ins Privatleben und eine entpolitisierte Innerlichkeit. Er wurde erst im späten Kaiserreich ein positiv besetzter Begriff für die bürgerliche, jetzt idyllisierte Welt des Vormärz. In der bildungshistorischen Forschung zeigt sich eine Tendenz, eine biedermeierliche Idylle auch an die Jahrzehnte vor der Reichsgründung anzulegen. Nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 habe sich das Bürgertum auf Häuslichkeit und Familie zurückgezogen und die Politik den Fürsten und Königen überlassen. Damit einher gehen Beschreibungen der bürgerlichen Familie und familialer, auf Harmonie angelegter, gleichwohl autoritärer Generationsbeziehungen und Geschlechterverhältnisse mit klaren Rollenvorgaben für Mann und Frau, die dem biedermeierlichen Bild einer in sich abgeschlossenen Bürgeridylle entsprechen.1 Es gibt aber nicht nur in den von mir herangezogenen Archiven Selbstzeugnisse, die dieses Bild deutlich differenzieren.2 Die in diesem Kapitel für die verschiedenen Generationen nutzbar gemachten Briefe der Mädchen und ihrer Eltern umfassen jeweils einen Zeitraum von mehreren Jahren; dazu treten Tagebücher, die ebenfalls über einen längeren Zeitraum mit oft täglichen Eintragungen geführt worden sind, sowie Briefe an Freundinnen und Geschwister und Briefe von Schulleiterinnen und Verwandten. Sie eröffnen die Möglichkeit, die Mädchen direkt bei der Kommunikation mit ihren Eltern und ihre Freundinnen beobachten zu können. In diesen Briefen präsentierten sich Mädchen und junge Frauen, wie sie von ihrer Umwelt gesehen werden wollten und formulierten Weltdeutungen, Handlungsorientierungen und Lebensideale im Kontext zeitgenössischer Bedingungsgefüge, welche dadurch ebenfalls sichtbar werden. Um Kontinuitäten und Entwicklungen im deutschen Kaiserreich klarer herausarbeiten zu können, werden die 1850er und 1860er Jahre bezüglich der Mäd1 2

Vgl. Herrmann, Familie, Kindheit, Jugend, S. 57ff., S. 63. Vgl. Hardach-Pinke, Bleichsucht und Blütenträume.

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chensozialisation hinzugenommen. Auf diese Weise können insbesondere die ersten beiden Jahrzehnte des Kaiserreichs, welche in den Lebensformen, der Wirtschaftsweise, der Kultur und Sozialstruktur noch eng mit den vorausgehenden Jahrzehnten verzahnt waren, differenzierter analysiert werden. In diesem Kapitel wird deshalb danach gefragt, in welcher Form sich Kontinuitäten oder Veränderungen in der Mädchensozialisation zwischen den beiden Jahrzehnten vor der Reichsgründung und den beiden Jahrzehnten danach beobachten lassen. Anschließend geht es um die zweite Hälfte des Kaiserreichs, die Jahrzehnte von 1890 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, für die dieselbe Frage gestellt wird: Zu welchem Zeitpunkt und in welcher Form lassen sich hier Veränderungen zu den Jahrzehnten davor in der Mädchensozialisation feststellen? Die ab 1856 mit Wilhelm Colsman-Bredt (geb. 1831), dem frischgebackenen Teilhaber von Gebrüder Colsman, verheiratete Adele Bredt (1836–1893) schrieb zwischen 1848 und 1855 regelmäßig Briefe an eine Freundin, die ein anderes Bild bürgerlicher Mädchenjugend entwerfen als der Begriff Biedermeier suggeriert. Adele war die Tochter des Barmer Band- und Litzenfabrikanten Emil Bredt und seiner Frau Adelheid geb. Heilenbeck und hatte neben einer älteren Schwester noch drei jüngere Schwestern und drei jüngere Brüder.3 Ihren Briefen nach zu urteilen wurde sie jedoch kaum zu deren Beaufsichtigung oder zu Hausarbeiten herangezogen, außer bei Abwesenheit der Mutter. Ihrer Freundin Maria Esch, die in der benachbarten Kleinstadt Langenberg lebte, in welcher auch die Unternehmerfamilie Colsman zuhause war, teilte sie in ihren Briefen nicht nur ihre Wünsche und Gedanken mit, sondern berichtete auch ausführlich von den Geschehnissen im bürgerlichen Jugendmilieu ihrer Heimatstadt Barmen, das ein Zentrum der Textilindustrie war und in den 1840er Jahren circa 35.000 Einwohner besaß. In den Briefen zeichnet sich das Bild einer eigenständigen Jugendkultur ab,4 welche die bürgerlichen Mädchen und Jungen des Ortes im Alter zwischen etwa dreizehn und zwanzig Jahren entwickelt hatten. Adele Bredt las mit vierzehn Jahren gern Indianerbücher und musste dies auch nicht heimlich tun. „Du bist freilich in dem Glauben, du hättest mich warten lassen aber sei es wie es wolle wenn du mich auch warten läßt so mußt du denken: ‚Adele liest gerne Geschichten von Indianern, folglich muß sie suchen Ihnen nachzuahmen.‘ In diesen Indianer Büchern steht aber: ‚Ein Indianer weis sich zu gedulden.‘“5

3 4

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Vgl. Bredt, Geschichte der Familie Bredt, S. 226ff. Zur Differenzierung zwischen einer Jugendkultur (als Teilkultur der Gesellschaft) und einer Jugendsubkultur (als sich gegen die Gesellschaft positionierende Kultur) vgl. Schäfers/Scherr, Jugendsoziologie, S. 133ff. FFA, B4g54, Adele Bredt an Maria Esch, 28. August 1850.

Die eigentlich für Jungen vorgesehene Lektüre war ihr nicht untersagt, vielmehr präsentierte sie diese selbstbewusst gegenüber einer Freundin.6 Bereits mit dreizehn Jahren hatte sie darüber hinaus ein ‚Verhältnis‘ und gewährte ihrem Verehrer abendliche Stelldichein an ihrem Fenster; sie beendete dieses Verhältnis aber, als sich der Jugendliche recht ungeschickt dabei anstellte. Statt unauffällige Begegnungen zu arrangieren, suchte er seine Freundin direkt im Haus ihrer Eltern auf: „Was ich dir schreiben wollte ist dieses: Mein Verhältnis mit E. H. ist nicht mehr, das weißt du, aber auf welche Weise weißt du nicht wie ich glaube. Er kam des Abends vor unser Haus u. flötete, dann kam er jedes Mal herein und frug ist Emil nicht hier, du kennst ihn ja […], nun war es kein Wunder das es Mutter merkte u. nochmehr da ich mich an die Thüre stellte. Da habe ichs satt bekommen, u. ihm geschrieben, das ich das Verhältnis bräche. I. Eykelskamp, Lauras Freundin hatte Otto Cleff; dieser machte es auf ähnliche Weise, u. I E. schrieb ihm auch ab.“7

Bereits zwei Wochen zuvor hatte Adele Bredt ihrer Freundin schon einmal mitgeteilt, ihr Verhältnis mit dem jungen Mann sei vorbei, „denn er war so dumm da hast du gar keinen Begriff von“. Außerdem sollte er „Comptoirist“ werden, also Kontorangestellter; keine verlockende Aussicht für eine Unternehmertochter.8 Adele Bredt beendete die kleine Affäre schließlich endgültig und würdigte den ungeschickten Verehrer künftig keines Blickes mehr. In ihren Briefen an die Freundin ist noch von vielfachen weiteren Verwicklungen des Verliebtseins innerhalb der bürgerlichen Jugend Barmens die Rede, als deren Teil sie sich präsentierte. Dies lässt darauf schließen, dass das Thema – den konkreten Realitätsgehalt der Darstellungen einmal dahingestellt – nicht nur aufregend, sondern vor allem eine in der jugendlichen Peer Group erwünschte soziale Praxis war. Von einer elterlichen Strafe nach der Aufdeckung dieses jugendlichen Flirts ist überdies in den Briefen keine Rede.9 Auch gemeinsame Spaziergänge jugendlicher Paare wurden von den Erwachsenen gestattet und boten den Jugendlichen Anlass zu allerlei Interaktionen: von kommentierenden Berichten in Briefen10 bis zu praktizierten Ausgrenzungen und Intrigen oder eben Annäherungen der männlichen Jugendlichen an die Mädchen: „Emil Hämmerle ist gestern mit I. Eykelskamp spaziren gegangen, wo sie sich gräßlich über mich mokirt haben, E. sagte ich wäre mal daher gegangen da hätte ich die Hände so 6

7 8 9 10

Von eigenständigen, elterlich tolerierten oder geförderten Mädchenkulturen berichtet für den Beginn des Jahrhunderts bis zu den 1840er Jahren Trepp, Sanfte Männlichkeit, S. 47ff. Zur Lektüre von Mädchen vgl. ebd., S. 51f.; zur Mädchenliteratur von 1850 bis zum Ersten Weltkrieg vgl. Wilkending, Mädchenliteratur. FFA, B4g54, Adele Bredt an Maria Esch, 9. März 1849. FFA, B4g54, Adele Bredt an Maria Esch, 25. Februar 1849, 11. November 1849. Vgl. FFA, B4g54, Adele Bredt an Maria Esch, 25. Februar 1849, 9. März 1849. „Sonntag begegnete mir bei einem Gang aus der Kirche ein gewißer schwarzlockiger Jüngling zwei Mal, ich habe noch keine Gelegenheit gehabt, ihm das Vielliebchen abzugewinnen, od. es zu verlieren.“ FFA, B4g54, Adele Bredt an Maria Esch, 19. März 1851.

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unter das Tuch gethan, denn sagten sie ich wär eine Zierpuppe. E. H. sagte noch ich hätte einen zweideutigen Brief von Abr. Sondern bekommen, wovon auch keine Silbe wahr ist.“11 „Du weißt daß hier allerlei Verhältnisse sind, nämlich es handelt sich von Hulda Eykelskamp, Adeline Eykelskamp, Julie Eykelskamp, diese 3 haben ein Verhältniß; H mit Abr. Sondern, A mit C. Roth, welches der beste ist, I mit E. Hämmerle, dieser ist der Schlechteste. Diese 3 od. vielmehr sind umgeben von Neidern u. Feinden, welche ihnen ihr Glück nicht gönnen. Diese bestehen hauptsächlich aus Otto Cleff u. einem ganzen Complott, die Rache an uns nehmen wollen, weil wir nicht mit ihnen zu schaffen haben wollen. […] Otto Cleff mit seinen Getreuen schreiben als wohl Briefe an Hulda od. Emil worin dann Gratulationen stehen, es geschieht aber nur damit es die Eltern erfahren sollen.“12

Der jugendlich-bürgerlichen Peer Group wurden von den Eltern und der örtlichen bürgerlichen Gesellschaft genügend Freiräume eröffnet, um in der Gruppe der Gleichaltrigen und Gleichrangigen (höhere Schüler sowie die Söhne und Töchter aus wirtschaftsbürgerlichen Familien) Kontakte mit dem anderen Geschlecht herzustellen und in diesem Zusammenhang eigene Handlungsorientierungen und Umgangsformen zu entwickeln. Der Sozialisationskontext der bürgerlichen Elternhäuser und Verkehrskreise stellte einen normsetzenden Rahmen dar, auf den sich die Interaktionen und Urteile der Jugendlichen bezogen, den sie aber auch überschritten. Eine lückenlose Kontrolle der Jugendlichen scheinen die Eltern dabei gar nicht beabsichtigt zu haben.13 So berichtete Adele Bredt auch von ihren Erfahrungen in Mädchengruppen, die ihre Nachmittage frei nach eigenen Wünschen gestalteten und zur eigenen Unterhaltung von Haus zu Haus zogen: „Vorigen Sonntag war ich bei Antonie Engels, wo ich sehr viel Plaisir gehabt habe. Wir verkleideten uns. Elis. Engels in einen Jungen u. M. Eykelskamp ebenfalls. Lottgen Hulda Eykelskamp u. ich in Nonnen u. Antonie in eine Polin, wir führten ein Stück auf. Dann gingen wir nach Fried. Engels u. ließen uns besehen, dann nach jungen Eykelskamp dann nach Alten, dann nach Overbecks, dann nach Engels Knecht, dann nach jungen Engels, wo wir noch getantzt haben, dann wieder nach Lasger Engels u. dann nach Trosts die waren aber nicht da u. wir mußten wieder um.“14

Adele Bredt hatte einen Kreis von „20 Freundinnen“ um sich,15 in dem die engen Zweierfreundschaften immer wieder wechselten und deren emotionale 11 12 13

14 15

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Vgl. FFA, B4g54, Adele Bredt an Maria Esch, 11. November 1849. Vgl. FFA, B4g54, Adele Bredt an Maria Esch, 16. April 1850. Vgl. ähnlich in der Interpretation Trepp, Sanfte Männlichkeit, S. 56. Durchaus vergleichbar verlief der öffentliche Diskurs in der Ratgeberliteratur für Eltern bezüglich der Mädchenerziehung, der zwar beständige Gefahren für die Keuschheit und den Anstand der Mädchen beschwor, gleichwohl auf Selbstkontrolle der Mädchen durch eine vorausgehende entsprechende Erziehung setzte. Vgl. Hardach-Pinke, Managing Girls’ Sexuality. FFA, B4g54, Adele Bredt an Maria Esch, 7. Dezember 1848. FFA, B4g54, Adele Bredt an Maria Esch, 29. Juni 1849.

Nähe zueinander schwärmerisch inszeniert wurde. Anreden wie „mein theurer Schatz“ und die Beteuerung der ewigen Liebe waren, kennte man nicht die weibliche Adressatin, einem Liebesbrief an einen Mann zum Verwechseln ähnlich: „Auch glaube ich daß in meinem Herzen der Name Maria geschrieben steht […] denn wir lieben uns u. wer einmal so lange u. fest geliebt hat wie wir, dessen Liebe hört gar nicht od. wenigstens schwerlich auf.“16 Die nicht ausschließlich auf männliche Jugendliche ausgerichtete Gefühlswelt der adoleszenten Mädchen äußerte sich in hochemotionalen, romantischen Formulierungen, deren Vorbilder unter anderem in zeitgenössischen Romanen und Erzählungen zu finden waren. So unterschrieb Adele Bredt ihre Briefe manches Mal mit: „Bis in den Tod deine Freundin Adele“.17 Einer solch hochemotionalen Sprache bedienten sich aber auch die männlichen Jugendlichen. Ein Verehrer schrieb Adele Bredt einen Brief mit folgenden Worten: „Theuerste Adele! Du wirst dich verwundern, daß ich es wage, dir, der allgemein Vergötterten, diese Zeilen zu schreiben, allein ich kann nicht anders; ich muß dir mein Herz ausschütten; ich muß dir erklären, was ich seit Jahren in seinen innersten Falten verborgen gehalten habe, nämlich daß ich ohne dich hinfort nicht mehr bestehen kann, daß ohne dich mein zu nennen, mir das Leben verhaßt ist. […] Ich weiß es ich wage viel, sehr viel, indem ich dir obige Eröffnung mache, denn sollte, ich zittere bei dem Gedanken, ich kein gnädiges Ohr finden, so ist für mich auf ewig Alles, Alles verloren. Du hast über mein Geschick zu entscheiden; es steht bei dir mich zu verderben, od. mich zum glücklichsten Menschen der Erde zu machen.“18

Die formelhafte Gefühlssprache verfehlte allerdings in diesem Fall ihre Wirkung. Der Verehrer wurde nicht erhört, ein ‚Verhältnis‘ kam nicht zustande. Offenbar wurden die Briefe der Jugendlichen von den Eltern nicht kontrolliert oder solche Schwärmereien und romantischen Briefe nicht ernst genommen. Freiräume zum Tausch solcher Briefe sowie kleiner Geschenke waren jedenfalls vorhanden: „C. S. hat mir wieder etwas geschenkt. Ein Büchse mit 4 Bleistiften u. ein Schächtelchen mit 4 Stangen Siegellack, u. ein perlmutternes Petschaft. Ich schenke ihm Nichts wieder ich bewahre mein Geld lieber zum Daguerrotipiren als zu so albernen Geschichten auf.“19 Kleine Flirts mit den während eines Manövers im Elternhaus einquartierten „Unteroffizieren“ (das waren in diesem Fall diejenigen Offizier- und Reserveoffizieranwärter, die den Offiziersrang noch nicht erreicht hatten20) gehörten

16 17 18 19 20

FFA, B4g54, Adele Bredt an Maria Esch, 28. August 1850. FFA, B4g54, Adele Bredt an Maria Esch, 29. Juni 1850. FFA, B4g54, Briefabschrift eines Briefes von „C. S.“, beigefügt dem Brief von Adele Bredt an Maria Esch, 5. Januar 1851. FFA, B4g54, Adele Bredt an Maria Esch, 29. September 1850. Es wäre um 1850 schlicht unvorstellbar gewesen, dass nicht derselben sozialen Klasse angehörende Militärs im Haus einer Unternehmerfamilie hätten untergebracht werden können, also einfache Mannschaftssoldaten. Vgl. zu den militärischen Rängen und ihrer Bedeutung für das Bürgertum Kapitel VI über Einjährige, Militär und Männlichkeit.

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zur Erprobung der eigenen Attraktivität für die Fünfzehnjährige dazu, und sie präsentierte sich ihrer Freundin als flirterfahren und flirtbereit: „Vor 14 Tagen wollte ich dir schon schreiben, allein wir hatten einen reizenden Unteroffizier im Quartier, dieser wollte auch einige Briefe schreiben u. da bot ich ihm mein Schreibzeug an, welches er auch annahm. Jetzt haben wir wieder einen allerliebsten Unteroffizier, der auch viel Anziehungskraft besitzt. Doch was ich über die hiesigen Soldaten denke u. spreche, mag ich dem Papier nicht gern anvertrauen, aber diese hübschen Kerlchen vergesse ich nie, deshalb will ich dir alles nächstens unter 4 Augen erzählen.“21

Als nach einem früheren Manöver die Soldaten Barmen wieder verlassen hatten, hatte Adele Bredt geschrieben, dass es ihr nun „überall an Unterhaltung“ fehle, weil die Soldaten fort seien: „Freitag zogen die Soldaten ab. Diese Trauer! Du kannst es dir nicht denken!“22 In den Briefen an ihre Freundin präsentierte sich Adele Bredt als für junge Männer attraktives und Gesprächen und Flirts zugängliches Mädchen; aufgrund der vielfachen Wiederholung ähnlicher Szenen in ihren Briefen ist zudem davon auszugehen, dass diese Schilderungen bei ihrer Freundin auf Interesse und Zustimmung trafen. Eine bürgerliches Mädchen zu sein hieß im Fall Adele Bredts und ihrer Freundinnen nicht, in keuscher Zurückhaltung auf den ‚Einen‘ zu warten. Vielmehr gab es zahlreiche Gelegenheiten, junge Männer kennenzulernen, die von den Mädchen auch genutzt wurden. So war es Adele Bredt zum Beispiel gestattet, allein mit der Postkutsche zu fahren. In der Kutsche ergaben sich Situationen, die ein Kennenlernen junger Leute ohne Aufsicht ermöglichten, was die inzwischen Neunzehnjährige lebhaft schilderte: „Ich denke ich beginne meine Erzählung gerade da, wo du mich verließest, […] daher will ich dich in unsre Unterhaltung direkt einführen. 1ter Herr: Wenn Ihnen das rauchen nur im geringsten lästig ist, werden wir es gleich lassen? Ich: geniren Sie sich gar nicht, ich setzte mich in eine Ecke u. las. 1te: War das nicht Frl. Esch, die Sie begleitete? – Ja – Frl. Ich? Nein – Ach Frl. Maria, ich bin noch mit ihr zur Schule gegangen, aus Kindern werden Leute. Er sprach nun mit dem Andern, erzählte seine Schulstreiche, u. ich dachte: kein Wunder, wenn aus einem Flegel ein Stockfisch wird. Er belästigte mich noch ferner mit allerlei Fragen, ich las dabei, weil er so zudringlich u. einfältig war, er indessen schien auch nicht die leiseste Ahnung davon zu haben, daß meine Lectüre mir viel angenehmer war, wie seine Unterhaltung, obschon ich ihm auf die Frage was ich läse mit vielem Nachdruck antwortete ein sehr interessantes Buch. Sie ließen sich Wein in den Wagen bringen […] boten mir ein Glas an was ich jedoch kurz u. entschieden ablehnte, später wollte er mich auch mit einem Butterbrezel beglücken, ich war recht ärgerlich u. sagte ich hätte zu Hause gegessen. […] Die vielen albernen Redensarten, die ich hören mußte, sind mir glücklicherweise entfallen, seine Blicke hatten fast den ganzen Weg auf mir geruht, wie froh war ich, als ich auf dem Markt aussteigen konnte.“23

Eine bürgerliche Mädchenjugend zu verbringen bedeutete also nicht zwingend, still und beaufsichtigt im elterlichen Haus zu sitzen und weibliche Hand- und 21 22 23

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FFA, B4g54, Adele Bredt an Maria Esch, 9. April 1851. FFA, B4g54, Adele Bredt an Maria Esch, 10. Februar 1851. FFA, B4g54, Adele Bredt an Maria Esch, 6. Dezember 1855.

Hausarbeiten zu verrichten.24 Im Gegenteil war die Jugend Adele Bredts von einer Vielzahl fast täglicher Aktivitäten und begleitender emotionaler Entwicklungen und Verwicklungen geprägt. Sie empfing im Verlauf einer Woche nicht nur mehrfach Besuch von Freundinnen, sondern war auch Mitglied eines ‚Kränzchens‘, einer sich regelmäßig zu Unterhaltungen und Spielen treffenden Mädchengruppe.25 Sie machte Besuche zu Tee oder Abendessen bei Verwandten und befreundeten Familien und beteiligte sich mit ihren Geschwistern und Freundinnen an Landpartien und Tanzveranstaltungen.26 Bei solchen Veranstaltungen wurde von ihr sowohl mit Mädchen als auch mit Jungen getanzt: „Mittwoch den 25ten sind wir mit Siebels vor die Hardt gegangen. Ich tanzte mein Meist und mein Bestes, u. bin von 3erlei Elberfelder Dirnen27 aufgefordert worden. Eine redete mich so an: ‚Kann ich die Ehre haben um eine extra Tour?‘ Ich sagte: ‚Recht gern. u. tanzte die Polka mit ihr. Nachher sagte sie: ‚Danke‘ ich natürlich ‚Bitte‘. Indeed.“28

Adele Bredt war auch aktives Mitglied im Kleinkinderschulverein.29 Diese im Bergischen Land von den evangelischen Gemeinden initiierten Vereine finanzierten und organisierten sogenannte Kleinkinderschulen. Diese dienten der Beaufsichtigung und Erziehung von Kindern aus Arbeiter- und Bauernfamilien, in denen beide Elternteile einer Erwerbsarbeit nachgehen mussten. Die Kleinkinderschulen waren mit dem Ziel einer evangelisch-christlichen Unterweisung und einer bürgerlichen Moralisierung der Arbeiterschaft verbunden.30 Adele Bredt selbst nahm es aber weder mit dem Verein, der ihr vor allem die Gelegenheit des Zusammenseins mit Freundinnen bot, noch mit der eigenen Moralisierung übermäßig genau. So streunte sie mit männlichen und weiblichen Al24 25

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Vgl. dies stärker betonend Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben, S. 220ff. „Laura und ich waren bald mit unsern Anordnungen fertig, und erwarteten nach H. Davidis Regeln ungefähr eine halbe Stunde auf unsere Gesellschaft, u. welcher ich anschrieb u. ein wenig las. Auf dem Sopha saßen Bertha Schlieper u. Helene Siebel, neben dieser Laura, dann Sophie Matthai, welcher durch einen sonderbaren Zufall auch hier war, dann Maria Leipoldt, Nathalie und ich. Wir unterhielten uns trotz der sonderbaren Zusammenstellung dieser Gesellschaft recht gut, nachher machten wir einige Spiele, und ich war im Stillen froh, daß Alles so gut ablief.“ FFA, B4g55, Adele Bredt an ihre Mutter Adelheid Bredt, 24. Februar 1854. Vgl. zu den ‚Kränzchen‘ auch HardachPinke, Bleichsucht und Blütenträume, S. 152. „Montag besuchte mich Hulda Hakenberg, Dienstag war ich bei der Großmutter, dann im Kränzchen, dann zum Thee bei Bannings. Mittwoch hatte ich Ruhe, ich war bei der Tante, dann in der Kirche, keine Vorlesung, Donnerstag war Kleinkinderschulverein, am Abend ging ich zu Cramers, ich ging allein hin, denn Vater kam von der Großmutter aus. […] Am Freitag hatte ich kleinen Besuch, Samstag bei der Tante, nicht im Conzert. Keine Landparthie die ganze Woche, trotz dem schönen Wetter.“ FFA, B4g54, Adele Bredt an Maria Esch, 19. März o. J., etwa 1851. Elberfeld war die direkte Nachbarstadt Barmens. Zwischen beiden Städten herrschte in puncto Industrialisierung, Wohlstand und Kultur eine anhaltende Konkurrenz, was vielleicht die Formulierung und den ironischen Ton der Briefstelle erklärt. FFA, B4g54, Adele Bredt an Maria Esch, 29. September 1850. Vgl. FFA, B4g54, Adele Bredt an Maria Esch, 19. März o. J., etwa 1851. Vgl. Konrad, Der Kindergarten, S. 53ff.

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tersgenossen vor der Schule durch die Gassen der Industriestadt Barmen, bis es ihr untersagt wurde.31 Auch das Rauchen von Zigarren war ihr ein Genuss: „An meiner Schrift wirst du sehen wie ermüdet u. eilig ich bin denn […] nichts wie Stunden u. lernen, Aufsätze schmieren u. was der Affairen mehr sind, ermüdet doch ziemlich […] Vorher gönnte ich mir die Erholung noch ein Stückchen Cigarre zu rauchen u. da ich die Asche angefaßt habe ohne mein Wissen od. Bedenken sind auf diesem Geschreibsel noch nebenbei einige Flecken.“32

Tanzen und bürgerliche Gesellschaften beschäftigten sie sehr. Bei solchen Veranstaltungen wurden bürgerlicher Geschmack und Stil eingeübt, zum Beispiel in puncto Kleidung, aber auch Schicklichkeitsnormen diskutiert und handelnd umgesetzt: „Gestern waren wir also vor der Hardt. Hier war eine Masse der ordinairsten Elberfelder, welche sehr geputzt waren, die meisten hatten helle, klare Kleider an, u. schwarze Unterröcke. Eine schöne Zusammenstellung, nicht wahr? Ich habe nicht getanzt, aus einem Grunde den dir Albert Conze gerade so gut als ich sagen kann, doch damit du ihn nicht zu fragen brauchst, will ich ihn dir schreiben. Es waren nämlich Elberfelder da, u. da ich einmal mit ihnen früher getanzt habe, haben sie dieses Albert erzählt […] Ich will in dieser Art kein Gespräch der Leute in Elberfeld werden u. deßhalb habe ich mich auf andere Weise amüsirt.“33

Nach ihrer 1853 erfolgten Rückkehr aus einem Pensionat, welches im 19. und frühen 20. Jahrhundert so gut wie alle Mädchen aus wirtschaftsbürgerlichen Familien der deutschen Staaten für ein bis zwei Jahre besuchten,34 wurde Adele Bredt von der Mutter stärker in Haushaltsaufgaben eingebunden, ohne allerdings ihr geselliges Leben aufgeben zu müssen. Sie war frei, ihren Tagesablauf selbst zu gestalten, sofern sie die ihr übertragenen Aufgaben erledigte. Als ihre Mutter mehrere Wochen bei Verwandten im nahen Engelskirchen war, übernahm Adele Bredt die Haushaltsführung. Sie war verantwortlich für die kleineren Geschwister und die Beaufsichtigung des Personals; gleichzeitig sollte sie kleinere Näh- und Flickarbeiten ausführen und für die pünktliche Aufdeckung des Essens sorgen. „Montag nachdem Du abgereist warst, fuhr ich in meiner Beschäftigung die Betten zu machen fort, ich war gerade um 10 Uhr damit fertig und wollte mich hinauf begeben, als ein Wagen hielt, und W. Osterroth mit seiner Braut erschien, ich ließ sie zum Glück nicht lange warten, wünschte ihnen von Herzen Glück zu ihrer Verlobung, die Braut gefällt mir recht gut, obschon ich sie nicht hübsch finde, wohl anmuthig od. interessant, doch 31

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„Herr Hartmann hat uns kürzlich sehr liebevoll ermahnt, doch vor der Schule nicht mehr durch die Gassen zu gehen. Wir thun es auch nicht mehr, denn es ist doch nach u. nach auch diese Erholung langweilig geworden, wie Alles. Gäben die geehrten Herrn Lehrer einem nicht alle Hände voll zu thun, so wüßte ich vor langer Weile nicht was ich machen sollte.“ Vgl. FFA, B4g54, Adele Bredt an Maria Esch, 27. Mai 1851. FFA, B4g54, Adele Bredt an Maria Esch, 4. Juni 1851. FFA, B4g54, Adele Bredt an Maria Esch, 13. Juni 1851. Vgl. zur Sozialisation und Erziehung der Mädchen in Pensionaten und Haustochterstellen am Beginn des 19. Jahrhunderts Groppe, Der Geist des Unternehmertums, S. 468ff.

ist sie nicht die Schönheit, welche ich in ihr erwartete, sie ist sehr freundlich. Als sie weg waren, stopfte ich Vaters Handschuhe, flickte seinen Rock, u. zog mich ein wenig ordentlich an, um ganz fertig zu sein, wenn die Kinder aus der Schule kommen würden. Ich machte mit Emma Französisch, dann aßen wir bald; vor der Schule half ich Emil u. Rudolf noch an Einigem, damit sie am Abend allein fertig werden konnten, da ich Kränzchen hatte. In der Zwischenzeit gab ich Alles heraus, übte mich, las einige Zeilen, u. ging dann zu Rittershaus, wo ich viel Vergnügen hatte. Vater hatte an diesem Abend eine Versammlung, wir tranken Thee zusammen, ich las mit den Kindern und sie gingen zu Bett.“35

Neben diesen Arbeiten und Aufgaben blieb ihr genügend Zeit für Besuche bei Verwandten und Bekannten: „Ich ging noch vor dem Essen zu Tante Bertha, es geht ihr noch fortwährend gut, nächste Woche wird wahrscheinlich Taufe sein. Alles, was zu erzählen war, berichtete ich ihr, ging dann noch zur Tante Auguste, um ihr zu sagen, Du seist glücklich angekommen, worüber sie sehr froh war, u. mir herzliche Grüße an Dich auftrug. Als ich wieder hier an kam fand ich eine Einladung zum Thee nach Auffermanns, die ich jedoch ablehnen mußte, denn ich ging den Nachmittag zu Sanders, Vater hatte mir gerathen die Vorlesung zu versäumen. Ich hatte gleich nach dem Essen mit den Jungens gearbeitet, bis sie alles hatten, dann gingen sie zu Cramers. Zwischen 6 u. 7 ist Vater gewöhnlich so gut mal eben hierhin zu kommen, um zum Rechten zu sehen, alle waren artig, Emma mit Anna zur Kirche gegangen, Peter schneidet aus, Emil u. Rudolf lesen im Lederstrumpf.“36

Trotz der Stellvertretung der Mutter konnte Adele Bredt insbesondere die Nachmittage nach ihren eigenen Wünschen gestalten. Die Eltern ließen ihr in der Tagesgestaltung nach wie vor freie Hand, verlangten aber (die Mutter) Rechenschaftsberichte und sahen mittags und abends (der Vater) nach dem Rechten.37 Adele Bredt wurde auf diese Weise in ihre späteren Aufgaben als Ehefrau und Mutter eingewiesen, ohne dass sie ihre relative Selbstbestimmung aufgeben musste. Von der Mutter erwartete die inzwischen Achtzehnjährige in Haushaltsfragen entsprechend eher Beratung als Anordnungen, ihre Briefe spiegeln ein partnerschaftliches, kein hierarchisches Verhältnis zur Mutter. Sie schätzte in Briefen Situationen selbstständig ein, begründete ihr Verhalten und stellte keine Fragen, sondern setzte die Deutung selbst: „Schreib mir doch mal, ob Du es sehr faul findest, daß ich noch nicht genäht habe, ich bin immer beschäftigt, man hat auch viele Kleinigkeiten zu denken, welche so viel Zeit in Anspruch nehmen. Nächste Woche kommen Esch, dann wird es mit dem Nähen, Üben u. s. w. auch nicht viel geben.“38

Dennoch war das Lebensziel für ein bürgerliches Mädchen festgelegt. Für sie ging es nicht um Leistung, Bildung und berufliches Fortkommen, sondern um Eheschließung und Familiengründung. Gegen eine solche Lebensplanung gab 35 36 37 38

FFA, B4g55, Adele Bredt an ihre Mutter Adelheid Bredt. 24. Februar 1854. FFA, B4g55, Adele Bredt an ihre Mutter Adelheid Bredt. 24. Februar 1854. Vgl. FFA, B4g55, Adele Bredt an ihre Mutter Adelheid Bredt, 3. März 1854. FFA, B4g55, Adele Bredt an ihre Mutter Adelheid Bredt, 3. März 1854.

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es in Adele Bredts Briefen auch keinen Protest. Zu klar waren zu dieser Zeit sämtliche Sozialisationskontexte und Erziehungsmaßnahmen auf die weibliche Geschlechterrolle in Ehe und Familie ausgerichtet, als dass Spielräume zur Entwicklung anderer weiblicher Lebensideale entstehen konnten. Adele Bredt war mit ihrer relativ freien Mädchenjugend in der ersten Jahrhunderthälfte beileibe kein Einzelfall. Es gibt in der bislang recht geringen historischen Forschung eine Reihe von Hinweisen auf ‚wilde Mädchen‘, denen die Eltern viele Entwicklungsräume zugestanden und die in ihren Verhaltensformen und persönlichen Interessen kaum eingeschränkt wurden. Mädchen wurden in ihrer Entwicklung gefördert, ihre schulischen Leistungen wurden gelobt, ihr Bewegungsdrang kaum eingeengt und die Gestaltung ihrer Freundeskreise ihnen überlassen.39 Eine befehlsorientierte Erziehung erhielt Adele Bredt nicht.40 Autorität als Grundlage machtförmiger und hierarchischer Sozialbeziehungen war in ihrer Jugend kein dominanter, wohl aber ein vorhandener Faktor. Daher waren Erziehung und Sozialisation in der Familie durch Ambivalenzen bestimmt. Bürgerliche Lebensform und Weiblichkeitsideale waren vorgegeben; innerhalb dieses Rahmens bestanden jedoch bemerkenswerte Freiräume zur Selbstentfaltung und zu selbstbestimmten Interaktionen. Adele Bredts Leben als junges Mädchen war eine eigenständige Mädchenjugend, von den Eltern offenbar gewünscht und pädagogisch gefördert. Es gab ein psychosoziales Moratorium als erweiterte Lern- und Entwicklungsphase, die bis zum Alter von circa siebzehn Jahren von verantwortlicher Mittätigkeit entlastet war und durch gesellschaftliche (und zugleich pädagogisch geplante und zum Teil kontrollierte) Freiräume zur Persönlichkeitsentwicklung geprägt war.41 So waren die weiblichen Jugend-Kränzchen und -Vereine meist durch die Eltern mit pädagogischen Entwicklungsaufgaben versehen worden, zum Beispiel dem Singenlernen in einem Chor oder mit einer karitativen Organisations- und Leitungsaufgabe.42 Andererseits war ein Versagen bei den Mädchen, beispielsweise in der schulischen Leistung, für die Familien weniger dramatisch,43 und die relative Freiheit ihrer Jugend war auch ein Ausdruck der geringeren Ansprüche, die man generell an ihre Bildung stellte. 39

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Vgl. Hardach-Pinke, Bleichsucht und Blütenträume, S. 136ff. Stärker konzentriert auf die Beschränkungen von Mädchen Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben, S. 220ff. Aber auch sie zeigt, dass ‚jungenhaftes‘ Verhalten (körperliche Anstrengung, intellektuelles Interesse, Ehrgeiz, Selbstbewusstsein usw.) nicht grundsätzlich ein Problem darstellte (vgl. ebd., S. 225f.), sofern es im heiratsfähigen Alter wieder abgelegt wurde. Vgl. zu den verschiedenen Formen der Erziehung und Beziehung zwischen Eltern und Kindern du Bois-Reymond, Die moderne Familie als Verhandlungshaushalt, S. 148ff. Neben dem traditionellen Befehlshaushalt entwickelt die Autorin u. a. das Konzept des modernisierten Befehlshaushalts. Am ehesten entsprach die Erziehung Adele Bredts einem solchen modernisierten Befehlshaushalt, in dem eine grundlegende Autoritätsstruktur gekoppelt ist mit Regelbegründungen, nicht aber der Verhandlung von Regeln. Vgl. Zinnecker, Kindheit und Jugend als pädagogische Moratorien. Vgl. FFA, B4g54, Briefe von Adele Bredt an Maria Esch, 6. April 1850 und 5. Januar 1851. Vgl. Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben, S. 227ff., S. 240ff.

Zu der relativen Freiheit der Mädchen gehörte eine in den Briefen sichtbare, von den weiblichen Jugendlichen selbst gestaltete Jugendkultur in weiblichen und gemischtgeschlechtlichen Peer Groups. Zugleich war diese Jugendkultur partiell einbezogen in die Lebensform der Erwachsenen. Während es Teile der Freizeit gab, die von den Erwachsenen unbeaufsichtigt verbracht wurden, waren andere, wie die Landpartien und Tanzveranstaltungen, durch Erwachsene organisiert und begleitet. Parallel nahmen die Mädchen an Abendunterhaltungen und Essen der Erwachsenen, häufig wiederum in Mädchengruppen, teil. Ihre Sozialisationskontexte bestanden dementsprechend bei aller Freiheit der Gestaltung überwiegend aus der bürgerlichen Lebensform der Eltern und deren Verkehrskreisen; ein gedankliches oder praktisches Ausbrechen aus diesen Kontexten beschreibt kein einziger Brief der jungen Frauen der Unternehmerfamilie Colsman und der verwandten Unternehmerfamilien zwischen 1850 und der Jahrhundertwende. Erst danach gab es Mädchen und junge Frauen, die angesichts eines pluraler werdenden Sozialisationsrahmens alternative Lebensideale entwickelten und teilweise umsetzten. Die pädagogische Konzeption einer freien Mädchenjugend wurde zudem begrenzt durch das nicht diskutierbare Lebensziel für alle bürgerlichen Mädchen, nämlich Heirat und Familiengründung. Dieses Lebensziel stand bis zum Ende des Kaiserreichs in bürgerlichen Familien für die Mädchen, trotz beginnender beruflicher Alternativen um die Zeit der Jahrhundertwende, außer Frage.44 Berufsperspektiven, also eine selbstständige Lebensführung durch schulische Qualifikation und anschließende Berufstätigkeit, wurden in der Unternehmerfamilie Colsman dann im Verlauf des Ersten Weltkriegs für die jungen Frauen als wirkliche Alternative diskutiert.

1.2 Mädchen ohne Indianerbuch Eine bürgerliche Mädchenjugend konnte zur Lebenszeit Adele Bredts auch ganz anders verlaufen. Die 1839 geborene Laura Colsman (gest. 1906), älteste Tochter des Unternehmensteilhabers Eduard Colsman (1812–1876) und seiner Frau Sophie (1816–1882), führte nach ihrer Rückkehr aus ihrem Haustochterjahr in Bremen ab 1858 ein Tagebuch, aus dem sich erschließen lässt, dass sie sehr viel intensiver und vor allem mit viel größerer elterlicher Autorität durch Arbeitspflichten an Haus und Familie gebunden wurde als die achtzehnjährige Adele Bredt nach ihrer Pensionatszeit. Sie fühlte sich häufig einsam und über44

Im Kaiserreich begann eine Debatte über Rechtsstellung und Lebensperspektiven von Frauen, die durch die sozial mobilisierende Funktion des Schulsystems stark als Debatte um die ‚Berechtigungen‘ der Mädchenschulen, d. h. um ihre Gleichstellung mit höheren Knabenschulen, geführt wurde. Nach der Jahrhundertwende, in Baden ab 1900, in Preußen ab 1908, konnten die höheren Mädchenschulen schließlich bei Erfüllung der formalen Kriterien wie die Knabenschulen das Abitur vergeben. Vgl. Zymek/Neghabian, Sozialgeschichte und Statistik des Mädchenschulwesens, S. 27ff.; Kraul, Höhere Mädchenschulen.

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fordert und versuchte dies durch im Text wiederkehrende Formeln der Selbstüberredung zu bewältigen: „Das einzige was ich entbehre, was mir zu wünschen übrig bleibt, ist eine vertraute Seele, eine liebe Freundin in Langenberg. Aber da mir sonst so vieles gegeben ist, da ich täglich so tausend Freuden aus der Hand des Herrn empfange, da ich so gesund bin, kurz Alles habe, was ich mir wünschen kann, muß ich mich darin schicken und mit dem schriftlichen Verkehr zufrieden sein. […] Sophie kommt in einigen Wochen zurück, wie freue ich mich auf den Augenblick wenn ich sie wieder sehe! Und wie hoffe ich, daß wir uns nicht allein Schwestern sondern Freundin sein werden!“45

Laura Colsman hatte zehn(!) jüngere Geschwister und wurde von den Eltern viel stärker mit häuslicher Arbeit belastet als Adele Bredt: „Die Arbeit für mich am kommenden Morgen war unbeschreiblich, ich mußte kochen, freilich mit der Küchenmagd, Kinder zuweilen verwahren, vom Besuch gabs viel aufzuräumen, und nun die große Wäsche, die durch das Mittagsessen war liegen geblieben. […] dann mußte man sich um die Näherin bekümmern […] Gestern Montag ging ich nicht aus, am Abend schrieb ich auf der Treppe nach Barmen.“46 „Donnerstag. Vater und Andreas fuhren nach Elberfeld und weil Anna und ich mitfahren wollten um Einkäufe für den Bazar zu machen, mußte ich am Morgen mich sehr thätig auf der Küche und mit Gardinen beweisen! […] Freitag u Samstag, waren häusliche unruhige Tage. Wohnstube und Vaters Stübchen geputzt, Gardinen gebügelt, Samstag aufgehangen. Freitag der Leuchter im Saal aufgehangen, ganz befriedigend. Rickchen Reichmann kam. Hulda am Sonnabend, ein Missionar Beiert logierte bei uns und erzählte von den Dajaken und Malaien auf Borneo.“47

Die Verkehrskreise Laura Colsmans waren darüber hinaus anders als bei Adele Bredt auf die Verwandtschaftsfamilie beschränkt. Sie berichtete in ihrem Tagebuch über Besuche und Einladungen von Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen, aber nicht von Freunden und Freundinnen. Gleich Adele Bredt war sie jedoch eingebunden in Vereinstätigkeiten und organisierte (christliche) Freizeitaktivitäten. So war sie beispielsweise Direktorin eines evangelischen Missionskränzchens und Mitglied im Gesangsverein. Selbstkritisch hielt sie in ihrem Tagebuch fest, dass „es an meinem etwas verschlossenen Wesen [liegt], daß ich nicht vertrauter gegen mehr Menschen bin.“ Daher müsse sie sich mit „den Lieben hier in Langenberg begnügen“.48 Aufschlussreich ist, wovon in dem Tagebuch nicht die Rede ist. Mit keinem Wort erwähnte Laura Colsman ein Verliebtsein oder die Sehnsucht nach einem Bräutigam und Ehemann. Anders als Adele Bredt beschäftigte sie sich, soweit sie neben der Hausarbeit und ihrem elterlich erwünschten Engagement in diversen Missionsvereinen dazu Zeit fand,

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Archiv AC, Tagebuch Laura Colsman 1858–1863, Eintrag vom 29. Juni 1861. Archiv AC, Tagebuch Laura Colsman 1858–1863, Eintrag im August 1861. Archiv AC, Tagebuch Laura Colsman 1858–1863, Eintrag vom 4. Juli 1861. Archiv AC, Tagebuch Laura Colsman 1858–1863, Eintrag vom 21. Juli 1861.

viel allein, spielte Klavier und las Romane von Charles Dickens.49 Da ihre jüngsten Geschwister, Peter Lucas (geb. 1854), Gertrud (geb. 1855) und Martha (geb. 1857), alle mehr als fünfzehn Jahre jünger waren als sie, wurde ihr als der ältesten Tochter zudem die Aufgabe der Erziehung und Beaufsichtigung dieser Geschwister übertragen, während die Mutter sich der Haushaltsorganisation, den älteren Kindern und den gesellschaftlichen Verpflichtungen widmete: „Besuch mit Lukas bei Hoddicks. Abends Saft gekocht, einen Augenblick allein unten im Hause.“ „Sonnabend, […] Hannchen guten Morgen gesagt, Kinder gebadet. Nachmittags kam Hulda mit der Eisenbahn, ich ging mit den drei kleinen hin, wir stiegen ein und machten eine gemütlige […] Tour nach dem Braken.“ „Heute Morgen muß ich die Kinder verwahren und unterrichten, Johannistrauben abstreifen, Reisetasche anfangen, habe mich deßhalb schon frühe angezogen.“50

Anders als bei Adele Bredt war das Verhältnis Laura Colsmans zu ihren Eltern distanziert, und die Eltern-Tochter-Beziehung war durchweg autoritär strukturiert und befehlsorientiert, insbesondere aber von Seiten des Vaters. Das bot wenig Raum für jugendliche Selbstentfaltung. „Obgleich ich Freitag sehr schlecht ausgehen konnte mußte ich doch in der Sesselangelegenheit einmal zur Großmutter, zweimal zu Tante Milchen gehen um Rath zu geben. Donnerstag Abend hatte ich den Vater über den Kostenpunkt gefragt, was ich sehr bereute, ich war ganz aufgeregt und rathlos!“51 „Vater Mutter ich mit Adal.[bert] nach Zur Hellen. Für mich war die Gesellschaft sehr langweilig. Auf dem Hin und Herweg mußte ich mich mit Frau Bürgermeisterin unterhalten. Andreas war mit Anna Helene Gustav nach der Ruhr, ich wäre ziemlich gern mitgefahren, aber der Vater liebt es nicht. Heute Montag wird man wohl zu Hause bleiben.“52

Dass sich Laura Colsman durch die Erziehungspraxis ihrer Eltern beengt und eingeschränkt fühlte, gab sie aber sogar in ihrem Tagebuch nur indirekt zu: „Ich freue mich natürlich nicht, daß die Mutter für kurze Zeit fort ist, ich mußte es sogar diesmal bedauern. Dennoch finde ich es ganz angenehm, selbständig Alles zu leiten, für kurze Zeit nicht geleitet zu werden, es ist auch natürlich viel weniger Arbeit, ich habe jetzt ein ganz bequemes Leben, natürlich sehr häuslich.“53

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Adele Bredt dagegen besuchte auch als Achtzehnjährige fast täglich Tees und Abendgesellschaften: „Dienstag morgen stopfte ich einen Strumpf nach dem andern, am Nachmittag ging ich zur Großmutter, dann in’s Kränzchen, am Abend war bei Bannings eine kleine Theevisitte, wir hatten viele Freude. Vater war an diesem Tage in Düssel. Mittwoch war ich friedlich zu Hause, am Morgen stopfte ich Strümpfe, Nachmittag war ich bei der Tante und am Abend in der Kirche, die Kinder waren recht artig.“ FFA, B4g55, Adele Bredt an die Mutter Adelheid Bredt, 19. März 1854. Archiv AC, Tagebuch Laura Colsman 1858–1863, Einträge im Juli 1861. Archiv AC, Tagebuch Laura Colsman 1858–1863, Eintrag o. D., im Juni 1861. Archiv AC, Tagebuch Laura Colsman 1858–1863, Eintrag vom 15. Juli 1861. Archiv AC, Tagebuch Laura Colsman 1858–1863, Eintrag vom 18. Juli 1861.

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Die autoritär-hierarchischen Familienbeziehungen, die befehlsförmige Erziehung und die der Tochter auferlegten Verpflichtungen lassen sich in diesem Fall mit der protestantischen Erweckungsbewegung der ersten Jahrhunderthälfte erklären, der Laura Colsmans Eltern, insbesondere der Vater, seit ihrer eigenen Jugendzeit anhingen. Ein ganzheitliches religiöses Lebensreformkonzept hatte dort die Denk- und Sozialformen der Jahrhundertwende 1800 (Aufklärung und deutscher Idealismus; gesellige Vereine und politische Gruppierungen) ablösen und ein neues ‚Herzenschristentum‘ die Menschen emotional vergemeinschaften sollen. Mit dieser Zielsetzung war ein politischer Konservatismus verknüpft, der die hierarchische politische Figuration von Herrscher und Untertanen mit der Vorstellung eines liebenden Vaters und seiner der Leitung bedürftigen, unmündigen Kinder verband.54 Die Erweckten sollten sich als auserwählte Gemeinschaft begreifen, der es aufgetragen war, die christliche Botschaft in die ganze Welt zu tragen; die vielen Missionsvereine der Erweckungsbewegung sammelten dafür Geld und unterstützten ausreisende Missionare. Grundsätzlich konnte es für die Erweckungsbewegten keine Legitimation einer Obrigkeit geben außer durch Gott. Vor dem Hintergrund dieser hierarchischen Denkfigur wurden sämtliche Erscheinungsformen menschlichen Zusammenlebens gedeutet und geordnet. Wie Gott als allmächtiger Vater zu seinen gläubigen Kindern sollte auch der sich christlich verstehende Staat eine patriarchalisch geordnete Familie darstellen. Die private Familie sollte diese patriarchalische Ordnung ebenfalls realisieren und letztlich alle Institutionen und Lebensformen sich so neu legitimieren und rekonstituieren. Zu Laura Colsmans Jugendzeit hatte sich die Erweckungsbewegung längst in diversen Vereinen, Gesellschaften und Ausbildungseinrichtungen institutionalisiert. Damit war aus einer ‚Jugendbewegung‘ mit emotionaler Vergemeinschaftung der Gleichdenkenden eine veralltäglichte bürokratisierte Praxis geworden, mit Missionshäusern für die Innere und Äußere Mission, begleitender Priesterausbildung, eigenen Verlagen für Zeitschriften und Bücher, Missionsfeiern usw.55 In diesem institutionalisierten Zusammenhang brachte Laura Colsman – wie auch Wilhelm Colsman-Bredt (geb. 1831), dessen Eltern ebenfalls der Erweckungsbewegung anhingen – nicht mehr denselben religiösen Eifer auf wie ihre Eltern. Die Sozialisationskontexte hatten sich verändert zugunsten 54 55

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Vgl. zur bergischen Erweckungsbewegung und ihren Folgen für Erziehung und Sozialisation Groppe, Der Geist des Unternehmertums, S. 479ff. Vgl. als Überblick Gäbler, Geschichte des Pietismus Bd. 3 und Lehmann, Geschichte des Pietismus Bd. 4. Damit stand die Erweckungsbewegung vor dem nachgerade klassischen Problem der Veralltäglichung des Charismas, wie es Max Weber in „Wirtschaft und Gesellschaft“ beschrieben hat. Vgl.: „Während die bürokratische Ordnung nur den Glauben an die Heiligkeit des immer Gewesenen […] durch die Fügsamkeit in zweckvoll gesatzte Regeln und das Wissen ersetzt, […] sprengt das Charisma in seinen höchsten Erscheinungsformen Regel und Tradition überhaupt […]. Es ist in diesem rein empirischen und wertfreien Sinn allerdings die spezifisch ‚schöpferische‘ revolutionäre Macht der Geschichte.“ Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 142ff., Zitat S. 658.

religiöser Institutionen und zuungunsten eines emphatisch-religiösen Engagements.56 Laura Colsman engagierte sich in religiösen Institutionen, wie es von ihr erwartet wurde, aber ihr Tagebuch zeugt nicht von religiöser Ergriffenheit, sondern von einer Lebensform, in der Religion ein soziales Feld neben anderen geworden war. Obwohl in ihrem Leben die Religion ständig in unterschiedlichen Formen präsent war, als Bibelkränzchen, als Beherbergen und Bewirten von Missionaren, als missions- und bibelbezogene Fest- und Feierstunden, als weibliches Handarbeiten für die Innere und Äußere Mission usw., wurden Religion und Glaube für ihre Selbstpräsentation und -reflexion in ihrem Tagebuch nicht prägend. Die Religion war eine Sozialisationsinstanz neben vielen anderen, keineswegs aber ein übergreifender handlungsorientierender Rahmen.57 Für Laura Colsman war insbesondere die väterliche Autorität die zentrale Erziehungs- und Sozialisationserfahrung ihrer Jugend. Sie beschrieb ihren Vater in ihrem Tagebuch als distanzierte, ihr wenig zugewendete Person, nach deren Bedürfnissen der gesamte Tagesablauf organisiert werden musste: „Kaum hatte ich gestern den erwähnten Brief [an die Mutter, CG] angefangen als der Vater im Vorhaus nach mir fragte; ich erschien und erblickte schon Herr und Frau Braun, die wir erst um 3 Uhr Nachmittags erwartet hatten und nun kamen sie schon 9 Uhr Morgens. Sie setzten sich jedoch nur einen Augenblick, machten dann Besuche. Ich war nun wieder überschüttet mit Arbeit, bestimmte zuerst das Essen, hängte in großer Eile auf der Fremdenstube die Gardinen auf, machte Toilette.“ „Morgens große Noth wegen der Kleider, als es um halb 1 Uhr kam war ich wirklich in Verzweiflung, weil der Vater auf mich warten mußte und wir glaubten die ganze Gesellschaft wartete auf uns. Es ging aber gut.“58

Auffallend häufig ist in Laura Colsmans Tagebuch von „sollen“ und „müssen“ die Rede; dies spiegelt befehlshafte Handlungsaufforderungen und hierarchische Interaktionsmuster, die in Adele Bredts Briefen so gut wie völlig fehlen. An die fünfzehnjährige Tochter Elisabeth (geb. 1850) im Pensionat schrieb der Vater Eduard Colsman in einer Laura Colsmans Wiedergaben bestätigenden Weise. Die Beurteilung der Situation ging in dem Brief allein vom Vater aus, die Tochter wurde schreibend in eine passive und entgegennehmende Position gerückt: „Es sieht fast so aus, als wenn ich ein unfreundlicher Papa wäre, der die geringe Bitte eines Kindes, ihm einen Brief zu schreiben, gar nicht erfüllen wolle. Dein wiederholtes Mahnen habe ich mir also endlich am preuß. Buß u. Bettage zu Herzen gehen lassen; […] Das Erstemal tönte aus deinen Worten Heimweh durch, im Zweiten sangst du ein fröhliches Lied, u. im dritten Schreiben tritt mir ruhige Prosa entgegen. So ungefähr sind deine Stimmungen gewesen! Ich hoffe, daß du mit der Zeit stille vergnügt wirst; ich bete, daß 56 57 58

Vgl. dagegen den emphatischen ‚Kampf‘ ihrer Eltern gegen Aufklärung, Rationalismus und Säkularisierung, Groppe, Der Geist des Unternehmertums, S. 487ff. Vergleichbares galt auch für den etwa gleichaltrigen Wilhelm Colsman-Bredt. Vgl. dazu Kapitel II über Eheschließungen und Ehebeziehungen, Teilkapitel 1. Vgl. Archiv AC, Tagebuch Laura Colsman 1858–1863, Einträge im August 1861.

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Gott deinen Aufenthalt dort segnen werde, u. daß du ein liebes, frommes geschicktes Mädchen wirst, zur Freude deiner Eltern u. aller guten Menschen.“59

Eduard Colsman betonte vor allem die Pflichtwerte, die seine Tochter, um ihm zu gefallen, erfüllen sollte: Zufrieden sein mit dem Gegebenen („still vergnügt“), da sein für Andere („Freude der Eltern und aller guten Menschen“) und das Lebensideal ausrichten an der Tätigkeit für andere, nicht an den individuellen Wünschen. Dass der Vater zu Gott um eine solche Entwicklung der Tochter betete, erzeugte im Brief einen doppelten Druck auf die Jugendliche: Es war nicht nur die väterliche Autorität, die etwas von ihr forderte, sondern der Vater selbst stand bittend vor Gott, so dass sein Wohlbefinden auch von ihrem Verhalten abhing. Dieser religiöse Kontext verband sich in den väterlichen Briefen mit Anordnungen, die keine Möglichkeit individueller Interpretation zuließen: „Da kommen denn die gewünschten Zeilen von deinem Papa! Sie bringen dir den väterlichen Befehl, uns am Samstag zu besuchen! Eben schreibe ich an Carl, er möge dich am Samstag Nachmittag doch abholen, um mit ihm bis Montag im Neuborn [der elterlichen Villa, CG] zu verweilen. Bitte die Damen um Erlaubniß zu dieser Reise! In jetziger Zeit habe ich meine Kinder gar gerne ein mal bei mir! Bringe auch ein Zeugniß guter Führung mit in dem besonders steht, daß Klavier, Gesang, schriftliche Arbeiten mit Fleiß u. Liebe geübt & gepflegt wird. Du darfst diese Zeilen den Damen zeigen. Wir sind Gottlob Alle wohl!“60

In Laura Colsmans Familie verbanden sich eine streng erweckungsbewegte Religiosität mit hierarchischen Familienkonstellationen und befehlsförmiger Erziehung, die insbesondere vom Vater ausging.61 Die Mutter vollzog dessen erweckungsbewegte Religiosität zwar nach, war aber weder in gleicher Weise engagiert noch hatte sie – im Unterschied zu ihrem Mann – die Erweckungsbewegung in ihrer Jugend aktiv mitgestaltet. Daher lag die religiöse Führung und – vor dem Hintergrund der Ziele der Erweckungsbewegung – die Planung und Verantwortung von Erziehung ganz beim Vater; der Mutter kamen nur unterstützende Funktionen zu. Eine engmaschige Kontrolle der jugendlichen Lebensführung und eine strikte Verpflichtung auf die Familie und ihre Bedürfnisse gehörten insbesondere für die Mädchen in dieser Kernfamilie dazu. Die emotionale Distanz und 59 60 61

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Archiv Neuborn, Sign. B 1, Eduard Colsman an Elisabeth Colsman, 10. Mai 1865. Archiv Neuborn, Sign. B 1, Eduard Colsman an Elisabeth Colsman, 28. Juni 1866. Vgl. zur befehlsförmigen Erziehung Ecarius, Familienerziehung, S. 151. Ecarius weist darauf hin, dass für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes aber nicht nur der Erziehungsstil (liberal oder autoritär) entscheidend ist, sondern insbesondere die damit verbundene oder nicht verbundene Empathie und Fürsorge. Ohne diese wird „die Erziehung des Befehlens […] als starres Konzept und machtvolles Befehlsgerüst mit zwanghaften Strukturen erlebt, die keinen Raum zur Entwicklung lässt. Eine Erziehung des Verhandelns ohne emotionale Sicherheit und Anlehnung führt zur Orientierungslosigkeit und einem Gefühl des Verlassenseins, der Unsicherheit in unverlässlichen Strukturen.“ Ebd.

die Härte des Vaters kontrastierten zwar mit dessen eigener, jugendbewegtschwärmerischer Religiosität in der Adoleszenz, korrespondierten aber mit dem Sendungsbewusstsein der Erweckungsbewegten, da jeder und jede durch sie auf den rechten Weg zu Gott geführt werden musste. Die strenge Erziehung der Kinder war daher ein wichtiger Dienst an Gott, die Unterwerfung der ganzen Person unter Gottes Willen für Eltern wie Kinder Pflicht. Nicht individuelle Wünsche und Ziele, sondern ein streng religiöses, methodisch geführtes Leben dominierte das Lebensideal und prägte die Lebensform. Diese gleichsam spätpuritanische Familienpädagogik62 des Vaters verhinderte die Sozialisation der Töchter in Peer Groups und ihre Interaktion mit jungen Männern. Von sieben Mädchen heiratete allein die zweitjüngste. Dagegen heirateten alle drei Söhne; keiner von ihnen wies jedoch das religiöse Engagement und die streng religiöse Lebensform des Vaters auf. Wenngleich es sich bei Adele Bredt und Laura Colsman um Mädchen desselben sozialen Milieus handelte – beide waren Töchter aus vermögenden und angesehenen Unternehmerfamilien – verlebten sie ihre Jugendzeit sehr verschieden. Während Adele Bredts Jugend bereits viele Kennzeichen einer modernen Mädchenjugend mit Peer Group-Sozialisation und Freiräumen zur selbsttätigen Entwicklung besaß, war Laura Colsmans Jugend stark durch Verpflichtungen in der Familie gekennzeichnet, ohne die Möglichkeit einer selbstständigen Persönlichkeitsentwicklung. Zwischen den beiden Fällen variierten auch die ElternKind-Verhältnisse, die Erziehungsstile und die vorgelebten und von den Mädchen erwarteten Geschlechterrollen. War das Eltern-Kind-Verhältnis im Fall Laura Colsmans hierarchisch, der Erziehungsstil autoritär und in der Kommunikation befehlend und zudem geprägt von einer deutlichen Distanz zwischen Eltern und Kindern auch im alltäglichen, sozialisatorischen Umgang, war das Eltern-Kind-Verhältnis in der Familie Adele Bredts durch stärkere Gleichrangigkeit geprägt und der Erziehungsstil, trotz klar abgesteckter Grenzen der zulässigen Verhaltensweisen, gesprächsorientiert. Die weibliche Rolle in der Jugend wurde im Falle Laura Colsmans von ihren Eltern als Verpflichtung zu Häuslichkeit und einer Familienarbeit ohne individuelle Gestaltungsmöglichkeiten und Freiräume interpretiert, während die weibliche Rolle in Adele Bredts Jugend Peer Group-Aktivitäten, selbstbestimmte Lebensräume und Kontakte mit gleichaltrigen männlichen Jugendlichen einschloss. Gleichwohl waren beide Mädchen gebildet, beide besuchten koedukative weiterführende Schulen und lasen gern belletristische Literatur: Laura Colsman besuchte wie ihre Brüder und Verwandten bis zum Alter von fünfzehn Jahren die Langenberger Rektoratsklassen,63 d. h. zwei an die Elementarschulklassen 62 63

Vgl. dazu auch Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, S. 118ff., sowie Lenhart, Protestantische Pädagogik und der Geist des Kapitalismus. Vgl. Archiv GVL, ohne Sign., Lebensbeschreibung des Rektors Ludwig Bender einschl. Schulchronik und Schülerlisten der Rectorat- und höheren Bürgerschule zu Langenberg, 1828–1873.

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angeschlossene weiterführende Schulklassen mit je zweijährigem Kursus und einem Schwerpunkt in modernen Fremdsprachen und Naturwissenschaften, um anschließend noch im benachbarten Elberfeld zwei Schuljahre auf einer Höheren Töchterschule zu verbringen. Adele Bredt besuchte ebenfalls eine weiterführende koedukative Schule in Barmen und anschließend für eineinhalb Jahre ein Pensionat in Kleve. Laura Colsman verbrachte nach der Schulzeit 1856/57 noch ein Jahr als Haustochter im Haushalt einer Bremer Senatorenwitwe.64 Die Sozialisationsordnung, die sich bei beiden Mädchen zeigt, sollte bis zum Ende des Kaiserreichs stabil bleiben: Auf einen allgemeinbildenden höheren Schulbesuch, meist am Heimatort, folgten ein bis zwei auswärtige Pensionatsjahre und/ oder eine Haustochterstelle, bevor die Mädchen ins Elternhaus zurückkehrten. Die Quellen zeigen zugleich zwei kontrastierende Fälle. Während Laura Colsmans Erziehung und Sozialisation in älteren Publikationen noch als allgemeines Modell des Aufwachsens bürgerlicher Mädchen galt,65 zeigen neuere Forschungen zunehmend auch Mädchenjugenden, die derjenigen Adele Bredts entsprechen.66 Aus den beiden vorgestellten Quellenkonvoluten lässt sich zunächst aber nur die These ableiten, dass es auch in demselben sozialen Milieu stark von Lebensidealen, Erziehungsstil und Sozialisationskontext des Elternhauses abhing, wie eine bürgerliche Mädchenjugend verlief. Hier besteht noch deutlicher Forschungsbedarf. Kontrastreiche Sozialisationskontexte und Erziehungsstile wie bei den vorausgehend geschilderten Mädchenjugenden zeichnen sich in dieser Schärfe bei den männlichen Jugendlichen in der Unternehmerfamilie in keiner Generation ab. Hier wirkte das Messen entlang der Leistungsachse in den öffentlichen höheren Schulen offenbar angleichend auf die familiale Erziehung und den häuslichen Sozialisationskontext für Jungen.67

2. Mädchenbildung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Mädchenpensionate und Haustochterstellen 2.1 Sozialisationsordnungen für bürgerliche Mädchen Die Töchter der Unternehmerfamilie Colsman und alle späteren Ehefrauen ihrer Söhne besuchten zunächst öffentliche höhere Schulen am jeweiligen Heimatort bis zum Alter von etwa fünfzehn Jahren. Im letzten Drittel des 19. Jahr64 65 66 67

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Vgl. Archiv Neuborn, Sign. A 10, Briefe von Mathilde Duntze an Sophie Colsman, 1856 und 1857. Vgl. zusammenfassend Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866, S. 119ff.; ders., Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1, S. 50f., S. 56ff., S. 74f. Vgl., Hardach-Pinke, Bleichsucht und Blütenträume, S. 163ff.; Habermas, Männer und Frauen des Bürgertums, S. 232ff.; Trepp, Sanfte Männlichkeit, S. 55ff. Vgl. Kapitel IV über Schulbesuch und Sozialisation der Jungen, Teilkapitel 4.

hunderts wurden die Schulkarrieren der Mädchen dann aber zunehmend geschlechtsspezifisch gestaltet. Mit wachsender staatlicher Kontrolle und dem Prozess der Systembildung im Knabenschulwesen nahm die Dauer schulischer Koedukation im höheren Bildungssystem kontinuierlich ab. In Langenberg waren noch in den 1870er Jahren Jungen und Mädchen gemeinsam in den Elementarklassen der im Aufbau befindlichen Höheren Bürgerschule und in deren Rektoratklassen bis zum Alter von etwa vierzehn bis fünfzehn Jahren beschult worden. Aber 1881 wurden Mädchen und Jungen in der Höheren Bürgerschule nur noch in den Klassen Sexta und Quinta gemeinsam beschult und stattdessen zwei weiterführende Mädchenklassen eingerichtet. Als die Schule 1883 zum Realprogymnasium für Jungen aufgewertet wurde, endete die Koedukation ganz. 1884 eröffnete zur Kompensation eine private Höhere Töchterschule in Langenberg.68 Die Bildungswege der bürgerlichen Mädchen waren damit vollständig ‚feminisiert‘ worden, d. h. sie wiesen keine Überschneidungen mehr mit den Bildungswegen der Jungen auf.69 Die privaten Höheren Töchterschulen und öffentlichen höheren Mädchenschulen vergaben bis nach der Jahrhundertwende keine beruflich verwertbaren Berechtigungen und unterlagen deshalb auch keinen rigiden staatlichen Lehrplanvorgaben. Während des Kaiserreichs besuchten weit mehr als die Hälfte aller Mädchen mit weiterführendem Schulbesuch private Höhere Töchterschulen.70 Diese waren häufig klein und im Unterrichtsangebot noch flexibler als die öffentlichen höheren Mädchenschulen; ihr Unterrichtsangebot richtete sich stark an den Wünschen der Eltern aus.71 1868 versendete das preußische Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten ein Regulativ, das zur Sicherung der Unterrichtsqualität zumindest einige Kriterien für öffentliche und private höhere Schulen für Mädchen festlegen sollte: In den Schulen sollte in Klassen unterrichtet werden und nicht in Fachkursen, die Klassengröße sollte in den oberen Klassen 30 Schülerinnen nicht überschreiten. Unterrichtet werden sollten Religion und Deutsch, zwei moderne Fremdsprachen (Französisch und Englisch), Naturkunde, Geographie, Geschichte und Rechnen sowie Zeichnen und Singen. Das curriculare Ziel sollte die Vorbereitung der Mädchen auf Eheschließung und Familienarbeit sein, die Bildung daher nicht auf den Beruf, sondern auf ein kultiviertes Familienleben bezogen werden. 1894 erließ das preußische Ministerium der geistlichen, Unterrichtsund Medicinal-Angelegenheiten eine weitere Regelung, die öffentliche höhere Mädchenschulen nun als diejenigen bestimmte, in denen zwei Fremdsprachen unterrichtet wurden und die inklusive der drei Vorschulklassen über neun auf-

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Vgl. Rheinischer Städteatlas, Langenberg, S. 11. Vgl. zu allgemeinen Entwicklungen der privaten und öffentlichen höheren Mädchenschulen in dieser Richtung Küpper, Die höheren Mädchenschulen, S. 183ff. Vgl. Kraul, Höhere Mädchenschulen, S. 288f.; Kleinau, Bildung und Geschlecht, S. 28. Vgl. Jacobi, Mädchen- und Frauenbildung in Europa, S. 209.

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steigende Klassen verfügten.72 Eine Oberstufe wie die Knabengymnasien sollten die höheren Mädchenschulen aber nicht erhalten. Die Definition wurde auch nicht mit einer expliziten Zuordnung der so klassifizierten Schulen zu einem Segment höherer Schulen für Mädchen verbunden und entsprechend nicht von Mittelschulen für Mädchen, die weniger Klassen und Unterrichtsangebote umfassten, abgegrenzt. Die Reglementierung unterschritt auch den bereits erreichten Ausbau vieler Mädchenschulen in Preußen mit zehn Klassen.73 Die systemische Exklusion von Mädchen aus der berechtigenden höheren Bildung wurde erst durch die Aufwertung eines qualifizierten Teils öffentlicher höherer Mädchenschulen zu abiturvergebenden Anstalten nach der Jahrhundertwende, in Preußen 1908, beendet. Die Pensionate, die viele bürgerliche Mädchen, Töchter von höheren Beamten und akademischen Freiberuflern ebenso wie die von Offizieren, Kaufleuten und Industriellen, im 19. und frühen 20. Jahrhundert im Anschluss an eine private oder öffentliche höhere Mädchenschule besuchten, stellten nochmals ein besonderes Erziehungs- und Bildungsangebot dar. Die bildungshistorische Forschung hat sich dieser Form der Mädchenbildung bislang so gut wie nicht angenommen.74 Die „Datenhandbücher zur deutschen Bildungsgeschichte“ haben für die Mädchen nur die öffentlichen und privaten Mädchenschulen mit mehreren aufsteigenden Klassen75 statistisch erfasst sowie die Alumnate und Internate für Jungen.76 Auch das „Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte“ berücksichtigt diese Sonderform der Mädchenbildung nicht.77 In den folgenden Ausführungen werden die Mädchenpensionate als Bildungseinrichtung und als Erziehungs- und Sozialisationsinstanz aus den vorhandenen Archivunterlagen zur Unternehmerfamilie Colsman rekonstruiert.

2.2 Allgemeine Merkmale von Mädchenpensionaten Aus den Briefen der Mädchen und ihrer Eltern, den Briefen der Pensionatsleiterinnen und -leiter an die Eltern, vereinzelten Werbebroschüren der Pensionate, die sich in den Archivunterlagen finden ließen, und der bislang noch recht spär72 73 74

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Vgl. Zymek/Neghabian, Sozialgeschichte und Statistik des Mädchenschulwesens, S. 47ff. Vgl. Kleinau, Bildung und Geschlecht, S. 37; Kraul, Höhere Mädchenschulen, S. 285. Einige knappe Ausführungen zu französischen, deutschen und englischen Pensionaten finden sich bei Jacobi, Mädchen- und Frauenbildung in Europa, S. 200ff., sowie bei Soénius, Wirtschaftsbürgertum, S. 126ff. Vgl. Zymek/Neghabian, Sozialgeschichte und Statistik des Mädchenschulwesens, passim. Vgl. Herrmann/Müller, Regionale Differenzierung und gesamtstaatliche Systembildung. Vgl. Kraul, Höhere Mädchenschulen; Küpper, Die höheren Mädchenschulen. Einzig Christine Mayers Beitrag „Erziehung und Schulbildung für Mädchen“ im zweiten Band des „Handbuchs der deutschen Bildungsgeschichte“ zum 18. Jahrhundert besitzt einen kleinen Abschnitt dazu auf S. 201.

lichen wissenschaftlichen Literatur lassen sich einige allgemeine Kennzeichen der Mädchenpensionate im 19. und frühen 20. Jahrhundert ableiten. Die Pensionate verstanden sich als Erziehungs- und Bildungsanstalten für jugendliche Mädchen aus dem Bürgertum und dem Adel. Sie boten auch schulischen Unterricht an und orientierten sich dazu meist an Lehrplänen höherer Mädchenschulen für die oberen Schulklassen. Dennoch firmierten sie in der Regel unter der Bezeichnung „Institut“ statt „Schule“. Sie waren als Internate organisiert und die Mädchen blieben in der Regel nur ein bis zwei Jahre dort. Überwiegend waren die Pensionate klein und besaßen selten mehr als zwanzig Pensionärinnen. Sie waren private Einrichtungen, die Leiterinnen und Leiter waren häufig alleinstehende Frauen, manchmal aber auch Ehepaare, welche die Institute als Unternehmer und Unternehmerinnen führten.78 Die sozialen Voraussetzungen dazu mussten allerdings gegeben sein. So waren es oft unverheiratete weibliche Adlige ohne monetäres Vermögen,79 die solche Institute in geerbten Gutshäusern führten, evangelische Pastorenehepaare mit großen Pfarrhäusern und bürgerliche, alleinstehende Frauen, Witwen oder bürgerliche Ehepaare mit entsprechend großen Wohnungen oder Villen, aber ohne auskömmliche finanzielle Möglichkeiten. Manchmal musste zur Gründung eines Mädchenpensionats aber zunächst der Erwerb oder die Anmietung einer Immobilie mit Fremdkapital finanziert werden.80 Die Pensionatsvorsteherin Sesemi Weichbrodt in Thomas Manns „Buddenbrooks“ führt beispielsweise ein solches Haus, in welchem sie eine Gruppe von wohlhabenden Pensionärinnen beherbergt, unterrichtet und erzieht: „Das hochgelegene Erdgeschoß des ziegelroten Vorstadthäuschens, das von einem nett gehaltenen Garten umgeben war, wurde von den Unterrichtsräumen und dem Speisezimmer eingenommen, während sich im oberen Stockwerk und auch im Bodenraum die Schlafzimmer befanden.“ Neben ihrer eigenen ledigen Person und ihrer verwitweten Schwester gibt es dort noch zwei Lehrerinnen für Englisch und Französisch, die sich allerdings fachlich nur dadurch auszeichnen, dass sie Engländerin bzw. Französin sind und dadurch Fremdsprachenunterricht erteilen können. Tony Buddenbrook bewohnt einen Schlafraum zusammen mit Armgard von Schilling, einer mecklenburgischen

78

79 80

Vgl. Glaser, Lehrerinnen als Unternehmerinnen; Wedel, Lehren zwischen Arbeit und Beruf, S. 206ff.; Blosser/Gerster, Töchter der guten Gesellschaft, S. 188ff. Vgl. auch den Lexikon-Eintrag von Mellien, Pensionat für Mädchen (1898). Vgl. zu deren sozialer Lage und Berufstätigkeit ausführlich Singer, Arme adlige Frauen, S. 154ff., S. 329ff. In Preußen war zur Führung eines Mädchenpensionats seit Jahrhundertbeginn nur ein staatlicher Erlaubnisschein der Schuldeputation der Provinz notwendig, der aber nur die polizeilichen Voraussetzungen regelte. Vgl. Zymek/Neghabian, Sozialgeschichte und Statistik des Mädchenschulwesens, S. 31. Zu konkreten Planung, Gründung und Betreibung eines Mädchenpensionats durch eine alleinstehende Frau in den 1860er und 1870er Jahren vgl. die Darstellung bei Wedel, Lehren zwischen Arbeit und Beruf, S. 209ff.

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Adligen, und der reichen Kaufmannstochter Gerda Arnoldsen aus Amsterdam, der späteren Frau ihres Bruders Thomas.81 Neben einem Fachunterricht in Fremdsprachen, zumeist Englisch und Französisch, und weiteren Schulfächern boten die Pensionate Handarbeitskurse, Kurse zur Haushaltsführung und zur elegant-geselligen Konversation sowie Lektionen in Tanzen, Singen und Instrumentalunterricht an. Der Unterricht wurde meist nicht durch die Pensionatsleiter und -leiterinnen, sondern durch eigens dafür angestelltes, teilweise im Nebenamt wirkendes, männliches und weibliches Lehrpersonal erteilt.82 Besonders attraktiv waren für Töchter international agierender Unternehmer Pensionate, die ein internationales Publikum aufwiesen, also Pensionärinnen beispielsweise aus Frankreich, Italien, England, der Niederlande und der Schweiz besaßen. Pensionate boten zum Teil fremdsprachigen Fachunterricht an, also Unterricht beispielsweise in Geographie oder Geschichte auf Französisch, und warben auch damit, dass tageweise nur Englisch oder Französisch im Pensionat gesprochen wurde.83 Auf diese Weise wurde nicht nur die geläufige Konversation in den Fremdsprachen gefördert, sondern es wurden auch internationale Netzwerke bürgerlicher Frauen gebildet. Bis zu den 1890er Jahren waren die Pensionate, in welche die Töchter der Unternehmerfamilie Colsman oder die späteren Ehefrauen ihrer Söhne geschickt wurden, entweder nicht sehr weit vom Heimatort entfernt oder befanden sich in benachbarten deutschen Staaten.84 So besuchte Adele Bredt, die spätere Ehefrau Wilhelm Colsman-Bredts, 1852/53 ein Institut am Niederrhein in Kleve, Mathilde Schniewind, die spätere Ehefrau Emil Colsmans, besuchte 1869/70 ein Pensionat in Berlin, Antonia („Tony“) Klincke, die spätere Ehefrau Peter Lucas Colsmans, 1886/87 eines in Darmstadt.85 Erst ab den 1890er Jahren mehrten sich die Überlegungen der unternehmerbürgerlichen Eltern, die 81 82

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Vgl. Mann, Buddenbrooks, S. 83ff., Zitat S. 85. Die Pensionatserzählungen sind in der Mädchenliteratur Legion, exemplarisch ist Emmy von Rhodens „Trotzkopf“ (1885). Das weist möglicherweise darauf hin, dass die Leiterinnen und Leiter von Pensionaten nicht über die nötige Qualifikation für einen schulischen Unterricht verfügten. Vgl. zu den Voraussetzungen Zymek/Neghabian, Sozialgeschichte und Statistik des Mädchenschulwesens, S. 28, S. 31f. Nicht anders hatte die Werbung des Internats, das Wilhelm Colsman-Bredt in den 1840er Jahren besuchte, ausgesehen. Auch dort warb der Schulleiter mit tageweise ausschließlich englischer oder französischer Kommunikation. Vgl. Kapitel IV über Schulbesuch und Sozialisation der Jungen, Teilkapitel 4.2. Zur Mehrsprachigkeit als Werbeangebot von Mädchenpensionaten und deren internationaler Klientel vgl. Blosser/ Gerster, Töchter der guten Gesellschaft, S. 190f. Dies war eine bereits im 18. und im frühen 19. Jahrhundert geübte Praxis. Mädchen aus Kaufmanns- und Unternehmerfamilien besuchten Pensionate in Düsseldorf, Dortmund oder Heidelberg oder nahmen in solchen Orten Haustochterstellen ein. Vgl. dazu Groppe, Der Geist des Unternehmertums, S. 239ff., S. 468ff. Auch in Thomas Manns „Buddenbrooks“ besucht Tony, die Tochter des Konsuls und Großkaufmanns Johann Buddenbrook, in der Jahrhundertmitte ein Pensionat gleich am Rande Lübecks.

Töchter in ausländische Pensionate zu schicken; gefragt waren Belgien, die Schweiz und England. Alternativ oder ergänzend kam für Töchter aus vermögenden Familien im Kaiserreich auch eine Haustochterstelle im In- oder Ausland in einer renommierten bürgerlichen Familie oder bei alleinstehenden Damen der besten Gesellschaft, zum Beispiel in London oder Paris, in Frage, wo sie entweder allein oder mit weiteren Haustöchtern ebenfalls ein bis zwei Jahre verbrachten. Die Auswahl des Pensionats oblag allein den Eltern. Die Mädchen besaßen kein Mitspracherecht, ebenso wenig wie die Jungen bei den für sie ausgesuchten Schülerpensionen. Was zumeist den Ausschlag gab, war der gute Ruf eines Instituts, der durch persönliche Netzwerke der Eltern und entsprechende Referenzen abgesichert wurde. Dorthin, wo Freunde und Verwandte ihre Mädchen hingegeben hatten oder was diese empfahlen, schickte man vorzugsweise auch die eigene Tochter. Dabei spielte häufig auch eine Rolle, ob die Pensionate sich selbst als evangelisch-christliche Erziehungsinstitute verstanden, was bei vielen protestantischen Eltern erwünscht war, weil dies eine moralische Integrität des Pensionatslebens und der Erziehung versprach. In den im Folgenden untersuchten Briefen von Eltern, Töchtern sowie Institutsleiterinnen und -leitern spielte dann aber der christliche Glaube keine zentrale Rolle. Man erzog zwar mit Gott und dem Glauben, und der Sozialisationskontext der Pensionate sollte christliche Elemente wie den sonntäglichen Kirchgang und das tägliche Gebet enthalten, aber weder die Eltern noch die Institutsleiterinnen und -leiter erzogen ihre Töchter bzw. Pensionärinnen zu einem Leben, dessen Ideal vor allem in dessen Gottgefälligkeit bestand. Vielmehr war die evangelische Religiosität ein Feld ihrer bürgerlichen Lebensform, das mit anderen Feldern (Familie, Beruf, Bildung und Wissen usw.) in ein Verhältnis gesetzt und ausbalanciert werden sollte. Dadurch wurde für die Töchter im Sozialisations- und Erziehungsprozess auch die Entwicklung individueller Lebensideale mit stärkerer oder schwächerer Bedeutung der Religion und des Glaubens möglich.86 Einzig in der streng erweckungsbewegten Familie Eduard Colsmans war dies anders, wie in den Teilkapiteln 1.2 und 2.4 dieses Kapitels an dem Beispiel seiner Tochter Laura ausgeführt wird. Auffällig ist, dass die Religiosität in den Briefen aller Töchter nur spärlich vorkommt, an manchen Stellen wird sie in Briefen an die Eltern zum Thema, wenn dort von Kirchgang und Abendgebet als Teil des Lebens im Pensionat gesprochen wird, keine Rolle spielt sie dagegen in den Briefen an Freundinnen und Geschwister. Adele Bredt schrieb, nachdem die Wahl ihrer Eltern auf ein Pensionat in Kleve gefallen war, enttäuscht an ihre Freundin: „In deinem Brief hast du mich gebeten, doch zu machen, daß ich nach Düsseldorf könne, doch leider bin ich dazu bestimmt dir heute wieder meinen Willen ein Hiobsbote zu sein. Ich weiss es aus Erfahrung wie wehe es thut; seine schönsten Hoffnungen nach u. nach schwinden zu sehen […]. Doch in das Unvermeidliche muß ich mich schicken, u. 86

Gleiches galt auch für die Jungen in der Familie. Vgl. dazu Kapitel IV über Schulbesuch und Sozialisation der Jungen.

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mich an den traurigen Gedanken gewöhnen in ein einfältiges Institut zu kommen, u. anstatt dort von einer liebenden Schwester empfangen zu werden mich unter lauter fremden Menschen zu befinden. […] Ich kann nicht anders, ich muß es dir, obschon wiederstrebend sagen, daß ich nicht nach Düsseldorf, sondern wahrscheinlich nach Mannheim, od Cleve kommen werde. Beide Orte, die mehr einem Kloster gleichen, wie einer Anstalt, wo junge Mädchen, die gerne lustig sind erzogen werden. Doch genug von diesem traurigen Thema […].“87

Ein deutlicher Unterschied zur häuslichen Familienerziehung und -sozialisation und auch zur Sozialisation der Jungen in Schülerpensionen bestand darin, dass diejenigen Mädchen, die Mädchenpensionate besuchten, in überwiegend durch Frauen bestimmte Sozialisationsräume gegeben wurden. Die wenigen männlichen Erwachsenen in den Instituten waren zumeist Lehrer einzelner Fächer oder – sehr viel seltener – die Leiter der Pensionate. Während die Mädchen in der Familie mit Vater und Mutter und zumeist auch mit Brüdern zusammengelebt hatten, ihre Peer Group zumindest zeitweise gemischtgeschlechtlich gewesen war, schloss sich für die Mädchen nun im Alter von etwa fünfzehn Jahren eine ein- bis zweijährige Erziehungs- und Sozialisationsphase unter Frauen an. Die Mädchen dagegen, die Haustochterstellen einnahmen, lebten zwar weiterhin familienbezogen, aber auch für sie war die Lebensform weiblich dominiert. Die Eltern bevorzugten Haushalte, die nur von Frauen geführt wurden, und gaben die Mädchen nicht in Familien mit gleichaltrigen männlichen Jugendlichen. Die überwiegende Mehrheit der Mädchen der Unternehmerfamilie Colsman wurde im Kaiserreich in Mädchenpensionaten erzogen und sozialisiert, eine ausschließliche Unterbringung in einer Haustochterstelle nach der höheren Mädchenschule war die Ausnahme. Dies wurde aber gelegentlich als Ergänzung zu den Mädchenpensionaten im Anschluss organisiert.

2.3 Das Institut Huyssen am Niederrhein: Mädchensozialisation im Pensionat in weiblichen Kontexten Das Pensionat, das Adele Bredt 1852/53 in Kleve am Niederrhein besuchte, bestand seit 1833 und hatte 1839 in der „Allgemeinen Schulzeitung“ folgendermaßen für sich geworben: Geboten werde eine „Bildung junger Frauenzimmer“; im Institut gebe es niemals mehr als sechzehn Pensionärinnen, die in einer Art „erweitertem Familienkreis“ durch den Institutsvorsteher, seine Frau und ihre erwachsenen Töchter erzogen würden. Vorhanden sei die Unterbringung in einem geräumigen Haus mit Garten und mit an den Rhein angeschlossener privater Badeanstalt für die Pensionärinnen. Nach Auskunft des Pensionatsvorstehers und seiner Frau gab es hauswirtschaftlichen Unterricht zur Führung kleiner wie großer Haushalte einschließlich Buchführung und Handarbeiten, darüber hinaus Unterricht in bürgerlichen Umgangsformen, geselliger Konversation und in Geschmacksbildung zur „Beförderung des Schönheits87

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FFA, B4g54, Adele Bredt an Maria Esch, 22. Januar 1852.

gefühles“. Die moralische Integrität des Instituts wurde dadurch betont, dass der Pensionatsleiter und seine Frau auf ihre evangelisch-christlichen Erziehungsgrundsätze und auf eine explizite Erziehung zum christlichen Glauben hinwiesen. Fachunterricht wurde erteilt in Französisch, Deutsch, Rechnen, Naturwissenschaften, Geschichte und Geographie. Extra zu bezahlen waren zusätzliche Stunden in Englisch, Italienisch und Niederländisch sowie der Instrumentalunterricht und die Gesangsstunden. Das Pensionat verlangte 200 Taler Pensionspreis im Jahr.88 Von den Einkünften wurden neben Unterkunft und Verpflegung der Mädchen auch die Lehrkräfte und der Lebensunterhalt der Pensionatsbetreiber bezahlt. Adele Bredt war nach eigener Darstellung das Pensionat durch ihren Vater folgendermaßen vorgestellt worden: „Vor vielleicht 10 Minuten theilte mir Vater über Kleve allerlei mit, was ich dir nun kurz u. bündig erzählen will. Auf Mitte Mai bin ich dort angemeldet, daß ist sicher u. nicht nur das, sondern auch angenommen worden. Den Morgen wird um 7 gefrühstückt, um 7 ½ Uhr ist eine kleine Bibelstunde, wobei gestrickt wird, dann geht es bis 10 um allerlei gelehrte Sachen, dann wird etwas gegessen wobei man durch den Garten spazieren geht u. dann wird gehandarbeitet. Von 1–2 ist Essestunde u. nach dem Essen geht man wieder spazieren, dann wird gelernt bis 5, dann ein wenig gegessen u. dann bis 9 gearbeitet. Dann wird zu abend gegessen u. um 10 gehen wir den hölzernen Berg hinauf in’s Bett. Das Haus soll sehr schön sein mit einem großen schönen Garten umgeben worin wir immer spaziren gehen, 3 mal in der Woche geht man noch in die Umgegenden, die sehr schön sind. Für Erholung ist nun doch gesorgt, nicht wahr, u. es soll wohl ganz gut dort gehen […].“89

Angesichts des ihr mitgeteilten Tagesablaufs erwartete Adele Bredt von dem Klever Pensionat offenkundig nur eine gleichförmig getaktete Lernumgebung ohne Geselligkeit. Gegenüber ihrer Freundin versuchte sie jedoch, dies zu kaschieren und betonte leicht ironisch die dortige ‚Einfachheit‘ des Aufwachsens: „Du willst mir auch viel opfern denn wenn du deine Eltern bitten willst dich nach Cleve zu schicken, so mußt du alles entbehren, was man so steife, vielmehr elegante Gesellschaften nennt, wo es einem zur Aufgabe gemacht wird sich mit Anstand zu langweilen, denn in Cleve sind wir immer unter uns. Doch einen Vortheil hat man auch dort, man ist nämlich nicht der Gefahr ausgesetzt, ein Affe zu werden, dort drechseln die werthen Vorgesetzten immer an einem, wie man die Füße u. Hände halten soll, es wäre auch schrecklich, wenn ich nach längerer Trennung dich umarmen wollte und du dann plötzlich das Hasenpanier ergriffest weil du die Adele Bredt wolltest nicht aber ein Modeäffchen […].“90

Die Umstellung auf das Leben im Pensionat war nach der liberalen Familienerziehung und -sozialisation für die Sechzehnjährige nicht leicht, zumal sie während der gesamten Aufenthaltszeit nicht nach Hause reiste. Weder durfte sie im Pensionat, wie sie es gewohnt war, täglich Briefe an Freundinnen und Ver88 89 90

Vgl. Huyssen/Huyssen, Annonce „Weibliche Erziehungsanstalt in Cleve“, Sp. 332–333. Zitate ebd. FFA, B4g54, Adele Bredt an Maria Esch, 24. Februar 1852. FFA, B4g54, Adele Bredt an Maria Esch, 3. März 1852.

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wandte schreiben und ihr persönliches Netzwerk damit aufrechterhalten, noch fand sie dort eine enge Freundin. Eine gewisse Privatsphäre der Mädchen hatte das Pensionat zunächst formal zugesagt. Die Briefe der Pensionärinnen würden nicht kontrolliert, bevor sie versendet würden, zumindest wurde dies den Mädchen mitgeteilt: „Es ist nicht mehr nöthig, daß wir beide die Zeichenschrift studieren u. hochgelehrte Professorinnen des Unsinns werden, denn in Cleve werden die Briefe nicht gelesen […].“91 Die Briefe der Mädchen wurden aber selbstverständlich doch von der Pensionatsleitung kontrolliert, wie Adele Bredt nach ihrer Ankunft im Pensionat feststellen musste.92 Ihre Mutter und eine Tante brachten Adele Bredt im Mai 1852 in das Pensionat. Nach einer anstrengenden Fahrt kamen sie in Kleve an, „und so verging auch dieser Abend, der letzte an dem ich meine völlige Freiheit genoß“.93 Beim Tee am nächsten Nachmittag, bei dem die Mutter, die Tante und sie selbst die Pensionatsvorsteher und -vorsteherinnen kennenlernten, begann Adele Bredt endgültig zu befürchten, dass das Pensionat zwar ständige Lernarbeit bereithielt, aber wenig anspruchsvoll war. Sie erhoffte sich stattdessen Anregungen durch den Umgang mit den anderen gleichaltrigen Mädchen: „Nachdem unser Spaziergang beendigt war gingen wir zu Huyssens, es sind wirklich sehr liebe Leute, nur eines scheue ich, man muß nämlich fürchterlich viel arbeiten u. lernet doch nichts, wenigstens ich nichts. […] als wir da waren kamen auch einige Mädchen aus dem Institut hin Luise Wolff u. 3 Engländerinnen. Luise gefällt mir sehr gut, zwei dieser Engländerinnen sind Geschwister, wunderschön von Gesicht, u. ebenfalls von Charakter […]. Die übrigen Mädchen gefallen mir nicht gerade zu schlecht […].“94

Neben Mädchen aus deutschen Bürgerfamilien waren auch Niederländerinnen, Belgierinnen und Engländerinnen dort, so dass im Pensionat auch englisch und französisch kommuniziert werden konnte. Im Vergleich mit der von Adele Bredt in Barmen besuchten koedukativen höheren Bürgerschule war der Unterricht im Pensionat für sie zu leicht, und sie langeweilte sich erwartungsgemäß. Der Unterricht fand in Kleingruppen statt, die nach Klassenstufen geordnet waren, und so sollte sie zunächst den Unterricht auf dem Niveau der vierten Klasse mitmachen, der letzten Klasse der Mittelstufe höherer Mädchenschulen. Klasse drei und zwei waren nach einigen Probetagen für sie ebenfalls zu leicht, aber eine erste Klasse, die Abschlussklasse höherer Mädchenschulen, konnte das Pensionat nicht anbieten: „Eine 1 Classe giebt es gar nicht. Ich finde das sehr einfältig, wie überhaupt hier Manches.“95 Das Pensionat bot Adele Bredt nur wenig Anreiz zum Lernen und befriedigte ihren Ehrgeiz nicht.

91 92 93 94 95

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FFA, B4g54, Adele Bredt an Maria Esch, 21. März 1852. „Es liegt mir so drückend auf der Seele, daß alle unsre Briefe sollen gelesen werden […].“ FFA, B4g54, Adele Bredt an Maria Esch, 3. Juni 1852. FFA, B4g54, Adele Bredt an Maria Esch, 30. Mai 1852. FFA, B4g54, Adele Bredt an Maria Esch, 30. Mai 1852. FFA, B4g54, Adele Bredt an Maria Esch, 3. Juni 1852. Voraus liefen sogenannte Vorklassen, also Elementarklassen. Die höheren Mädchenschulen boten zu dieser Zeit

Auch gegenüber ihren Eltern ließ Adele Bredt vorsichtig verlauten, dass das Niveau des Unterrichts im Pensionat nicht ihrem Leistungsvermögen entsprach. Das Pensionat füllte die Zeit mit viel Beschäftigung aus, aber diese war anspruchslos und der Unterricht nach ihrem Eindruck nicht zielführend: „Ich finde die Zeit ist mehr wie besetzt, Naturgeschichte u. Phisik ist mir hier ziemlich unnütz, da ich in diesen Gegenständen besonders in dem letzten zu Hause mehr gehabt habe, wie wir hier je durch nehmen werden. […] Ich lerne zwar jetzt sehr gerne, doch ich möchte auch, das, was ich lerne ordentlich können, u. das ist mir so ziemlich unmöglich. Ein französisches Buch zu lesen hat man hier gar keine Zeit, u. das ist doch auch sehr nützlich, besonders da hier die französische Sprache nicht zum Besten betrieben wird.“96

Die Mädchen standen um sechs Uhr morgens auf und hatten neben einem schulischen Fachunterricht noch Unterricht in Hauswirtschaftskunde sowie Gesangs- und Klavierunterricht. Mit wenigen Unterbrechungen zum Essen und Spazierengehen wurde bis neun Uhr am Abend gelernt.97 An ihre Eltern schickte Adele Bredt ihren Stundenplan im Pensionat, der den klassischen Fächerkanon Höherer Töchterschulen abbildete: Fremdsprachen, Zeichnen, etwas Geschichte, Geographie, Rechnen und Naturkunde, Hauswirtschaft, Instrumentalunterricht:98 Montag 8) franz. Gesch. 9) Englisch 10) frei ¼ 11) HandArbeiten 12) Zeichnen 13) Deutsch – Spazieren Thee Naturgeschichte

Dienstag deutsche Gesch. Dicté frei Hand.

Mittwoch Dicté

Donnerstag D. Gesch.

Freitag fr. Gesch.

Composition frei Handarb.

Französisch frei Hand.

Regeln frei Hand.

Französisch Geographie – Englisch Stopfen Thee Rechnen Clavierstunde

Zeichnen Üben – Spazieren Thee Rechnen

Zeichnen Deutsch – Stopfen Thee Physick Rechnen Anekdoten sagen

Englisch Geographie – Spazieren Thee Naturgeschichte Clavier

Samstag D. Gesch fr. Regeln frei Hand. Dicté Üben – Musik

Das Baden im Rhein in einer eigenen Badeanstalt gehörte zu den Besonderheiten des Pensionats und wurde durch den Vorsteher regelmäßig mit den Mädchen praktiziert. Ob sie dabei auch schwimmen lernten oder nur badeten, sagen

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meist drei Vorklassenjahre und sechs aufsteigende Klassen mit höheren Bildungsinhalten, insbesondere Fremdsprachen, an. FFA, B4g55, Adele Bredt an die Eltern, 18. Juli 1852. Vgl. FFA, B4g55, Adele Bredt an die Eltern, 13. Juni 1852. FFA, B4g55, Adele Bredt an die Eltern, 18. Juli 1852. Vgl. zu ähnlichen Lehrplänen in den Pensionaten, welche die Töchter der Unternehmerfamilie Scheidt besuchten, Soénius, Wirtschaftsbürgertum, S. 128, sowie Küpper, Die höheren Mädchenschulen, S. 183, und Blosser/Gerster, Töchter der guten Gesellschaft, S. 195.

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die Quellen nicht. Im täglichen Einerlei des wenig anspruchsvollen Lernarrangements waren die Bäder für Adele Bredt eine willkommene Abwechslung: „Herr Huyssen hat mich diese Woche zweimal mit in’s Wasser genommen, wir amüsieren uns dann immer herrlich, heute vor 8 Tagen haben wir den Thee am Wasser eingenommen, es gefiel uns so gut dort, daß wir beschlossen, uns nächstens von seiner Frau Kartoffeln an der Asche braten zu lassen und dann unter den Kastanien zu Abend zu essen.“99

Die Briefe an die Eltern deuteten jedoch auch die Langeweile an, der sich Adele Bredt im Pensionat trotz vielerlei Beschäftigung ausgesetzt sah: „Wenn ich mir all das Vergnügen vorstelle, welches Ihr zu Hause habt, denke ich oft, ich wäre lieber bei Euch, hier wäre es doch so sehr still, das wäre mir unangenehm, denn wenn ich auch gerne und sehr ungeheuer oft an Euch denke, so fühlt man sich doch leicht nicht mehr so glücklich bei dem Gedanken, zu Hause thun sie jetzt dies, und ich muß Gramatik lernen. Im Ganzen such ich dies aber doch zu unterdrücken, denn ich werde hier doch nach und nach munterer, denn Elise liebt das sehr, auch ist es am Ende recht gut, denn wenn ich an viele Freuden gewohnt wäre, die man hier nicht haben kann, so hätte ich mich wahrscheinlich nicht so gut hier geschickt. […] Hier fällt im Ganzen Nichts vor, ich war vergangene Woche bei Frau Huyssens zum Thee, es war sehr angenehm […].“100 „Bitte, liebe Mutter, schreibe mir doch mal ganz offen, ob Dich meine Briefe interessieren, das sie langweilig sind ist gewiß, denn hier ist ja ein Tag wie der andere […].“101

Überdies ging es in vielen Briefen Adele Bredts um Handarbeiten, die sie grundsätzlich ungern verrichtete, zu denen sie aber im Pensionat regelmäßig angehalten wurde. Während zum Handarbeitsunterricht vor allem das Erlernen alltäglicher Ausbesserungs- und Näharbeiten gehörte, wurden zu festlichen Anlässen auch feine Nadelarbeiten verrichtet. Auch in diesem Fall vermittelte Adele Bredt, dass eine solche Beschäftigung nicht ihren Fähigkeiten und Interessen entsprach: „Nun von den Handarbeiten. Eigentlich wäre es mir sehr lieb, wenn du mir Stickerei schicktest, u. da ich nur noch wenig Baumwolle u. Nähnadeln habe, bitte ich auch um diese. Alle Welt macht hier die prachtvollsten Stickereien für Weihnachten, ich muß dir aber offen sagen, daß ich dieses nicht kann, da ich noch niemals etwas ordentliches stickte. Ich möchte dir gerne etwas [fehlendes Wort], doch ich glaube nicht, daß dir Perlentische, Ofenschirme usw. sehr viele Freude machen. Deßhalb habe ich vor Euch Allen nichts zu nähen, u im nächsten Jahr alles nachzuholen.“102

Die Briefe, die Adele Bredt nach Hause schrieb, präsentierten den Eltern aber zugleich eine sich in die Erziehung und den Sozialisationskontext des Instituts problemlos einfügende Tochter. Die Kritik am Institut war zwar vorhanden, Adele Bredt verlangte aber keine grundlegenden Veränderungen, und Konflikte 99 100 101 102

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FFA, B4g55, Adele Bredt an die Eltern, 18. Juli 1852. FFA, B4g55, Adele Bredt an die Eltern, 3. Juli 1852. FFA, B4g55, Adele Bredt an die Eltern, 25. Juli 1852. FFA, B4g55, Adele Bredt an die Eltern, 5. August 1852.

mit den Eltern blieben aus. Da das Pensionat eine zwar geschäftige, aber aus Adele Bredts Sicht anspruchslose Lernumgebung darstellte, wurden die weibliche Peer Group, Freundschaften und die unterschiedlichen Normen und Werte der Mädchen, bedingt durch die Erziehung und Sozialisation in ihren Herkunftsfamilien, in den Briefen umso wichtiger. Adele Bredt bemängelte so manches Verhalten der Pensionärinnen („Mit Elise hoffe ich nicht viel zusammen zu kommen, denn ich habe an ihr einen so unzufriedenen Charakter entdeckt, daß sie mich selten durch ihre Gegenwart glücklich macht, sondern eher im Gegentheil.“103) und präsentierte sich damit gegenüber den Eltern als Tochter, die bürgerliche Interaktionsformen, hier die maßvolle Zurückhaltung in fremden Umgebungen, eingeübt hatte und bei anderen beurteilen konnte: „Es ist zwar auch nicht nöthig, daß sie [eine Mitpensionärin aus Barmen, CG] in ihrer äußeren Erscheinung einen besondern Glanzpunkt bilde […], doch sie ist so sehr frei und viel zu vorlaut, für Eine die erst einen Tag hier ist. Dies waren immer ihre Fehler, doch sie wird sie hier wohl ablegen, denn mich stoßen gerade diese Eigenschaften sehr.“104 „Das Heimweh hat Emilie ganz vergessen, sie ist so munter und vergnügt, wie nur eben möglich, ich nehme mich ihrer viel an, doch im Ganzen ist sie ziemlich undankbar, sie meint sie könnte hier sein, wie zu Hause und sie liebt nicht wenn man sie über dieses od. jenes aufklärt., denn hier ist nun einmal Manches so eigenthümlich, u. sie kehrt sich nicht daran, sondern folgt ganz getrost ihrer Neigung, wenigstens so viel sie kann.“105

Ein großer Teil des Inhalts der Briefe an die Eltern konzentrierte sich auf Freundschaftskonflikte und vor allem die Einschätzung der Mit-Pensionärinnen nach Kriterien, welche die Normen bürgerlichen Verhaltens spiegelten und welche Adele Bredt den Eltern als ihre eigene Handlungsorientierung präsentierte: „Luise Wolff geht nun bald weg, der Tag ist zwar noch unbestimmt, ich glaube, daß ich mich ziemlich an Hedwig Wülfing anschließen werde, sie ist sehr lieb und man kann über Alles so gut mit ihr sprechen, außerdem ist noch eine Emilie Reinshagen hier, die mir auch recht gut gefällt, also werde ich doch keinesfalls allein stehen, vorige Woche kam Annick Steenstra ein ziemlich eitles holländisches Wesen zu mir, sie machte sich ungeheuer liebenswürdig, u. verbarg Alles Häßliche, so gut es ging an sich, sie wollte sich sehr an mich an schließen, doch ich merkte die Sache, u. lernte sie gut genug kennen um zu entdecken, daß sie sehr unartig ist, denn sie spottet immer über Religion u. wenn sie sieht, daß es nicht angebracht ist, kann sie gerade das Gegentheil vorstellen. Deßhalb suche ich mich sehr von ihr loszumachen, ich gehe nur aus einem Grunde gerne mit ihr, weil sie gut französisch spricht, u. da es doch dein u. auch mein Wunsch ist, dieses zu lernen, so könne ich von ihr gerade am Meisten profitieren.“106

Die für Adele Bredt uninteressanten Lerninhalte wurden zumeist nur im Kontext der Mädchenfreundschaften zum Thema gemacht: 103 104 105 106

FFA, B4g55, Adele Bredt an die Eltern, o. D., im Dezember 1852. FFA, B4g55, Adele Bredt an die Eltern, 1. August 1852. FFA, B4g55, Adele Bredt an die Eltern, 8. August 1852. FFA, B4g55, Adele Bredt an die Eltern, 13. Juni 1852.

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„Auch habe ich ein großes Glück gehabt, nämlich ich habe mich an eine Cölnerin angeschlossen, denn an der habe ich am Wenigsten auszusetzen, sie ist zwar zwei Jahre jünger wie ich, doch sie ist sehr groß u. überhaupt sehr weit für ihr Alter. Die andern Mädchen gefallen mir zwar nach und nach besser, doch sie haben entweder schon eine Freundin, oder es ist sonst ein Hinderniß. Besonders freue mich, daß diese Elise Cleff mit mir dieselben Vorsätze faßt, nämlich recht fleißig zu sein, doch obschon wir beide alles thun, was wir können, so sind wir doch noch gar nicht an die französische Grammatik gewohnt, die muß man hier sehr studieren, u. eigentlich hasse ich sie, doch da hier dieses als eine Hauptsache betrachtet wird, so muß ich sie wohl endlich lieb gewinnen, u. wenn sich zwei gegenseitig erinnern, so geht es schon immer besser. Doch dies fortwährend zu hören langweilt dich vielleicht, besonders Interessantes fällt hier zwar nie vor, doch ich schreibe es dir, weil ich hoffe, daß das was Deine Tochter angeht auch dir Freude macht zu wissen.“107

Adele Bredt äußerte sich aber auch zu Neuigkeiten, die sie von den Eltern aus Barmen erfuhr. Dabei spielten die Interpretationen von Normen, hier einer Eheschließung, persönliche Gefühle sowie die Dynamik der weiblichen Peer Group im Pensionat für ihre Selbstpräsentation gegenüber den Eltern eine wichtige Rolle: „Die Verlobung von Herr Auffermann mit der Schleßwig-Holsteinerin hat mich sehr in Erstaunen gesetzt, denn Herr Auffermann ist ja schon ein Greis, und die arme Schleßwig-Holsteinerin noch in der Blüthe ihres Lebens. Clara Auffermann wird nun noch vereinzelter da stehen, denn nun muß sie ihre Freundin Mutter nennen […]. Beunruhige dich nur nicht, daß mir die Mädchen hier nicht gut gefallen, im Anfang war es mir auch sehr unangenehm, doch ich bin jetzt zu dem festen Entschluß gekommen, gegen Alle, mögen sie sich gegen mich betragen, wie sie wollen, gleich freundlich zu sein, und nun befinde ich mich glücklich und zufrieden auch ohne die Andern. Einigkeit wird hier nie kommen, denn wenn wir auch oft die Hand zur Versöhnung geboten haben, so weiß doch Emilie Mengel, welche sich zu meinem Leidwesen an diese fatale Holländerin Annick Steenstra von der ich dir schon sagte angeschlossen hat, immer Zwietracht zu stiften […].“108

Adele Bredt präsentierte sich gegenüber den Eltern als von stets ausgeglichenem Temperament und mithin als ein junges Mädchen, das stets die Balance zwischen Gefühl und Rationalität, Nähe und Distanz im Pensionat zu wahren verstand. Auch hier spielte das Lebensmodell der Balance, als Austarierung von Selbst- und Fremdbestimmung und von Erziehungsinstanzen und Feldern der Lebensführung zueinander, eine wichtige Rolle. Dass sie ein solches Lebensmodell zu formulieren und zu praktizieren in der Lage war, war ein wichtiger Entwicklungsschritt im psychosozialen Moratorium der bürgerlichen Mädchenjugend. Es ist auffällig, dass Fragen der Normen und Werte, der angemessenen Interaktionen und der Verhaltensformen der Mit-Pensionärinnen in den Briefen aus dem Pensionat sehr viel Raum beanspruchten, wobei Adele Bredt bürgerliche Normen reflektierte und sie gegenüber den Eltern zum Beispiel auf 107 108

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FFA, B4g55, Adele Bredt an die Eltern, 20. Juni 1852. FFA, B4g55, Adele Bredt an die Eltern, 22. August 1852.

die Ehe zwischen einem deutlich älteren Mann und einer jungen Frau anwendete. Gleichzeitig präsentierte sie sich als inzwischen weltgewandte Jugendliche, die sich selbstständig in bürgerlichen Kreisen bewegen konnte: „Am Donnerstag kamen Mengels hier an, sie waren so freundlich mich einzuladen bei Lafarière zum Essen mit Herr Huyssen, es war sehr angenehm und Nachmittags fuhren wir zu Wasser nach Berg und Thal um das Denkmal des Prinzen Moritz zu besehen, und den Abend brachten wir im Salon zu.“109

Die fehlende Bedeutung der Leistungsmessung und die geringe Rolle, welche schulische Bildungserfolge für die bürgerlichen Mädchen letztlich spielten, führten gleichzeitig dazu, dass Adele Bredt sich im Pensionatsunterricht eher pflichtschuldig engagierte: „Bald bin ich nun schon ein Vierteljahr hier, und am Schluß desselben werdet Ihr mein Zeugniß bekommen, ich weiß nicht, was ich dir darüber schreiben soll, ich kann dir nur so viel sagen, daß ich meine Pflicht gethan habe.“110 Bildung ohne Qualifikation, also ohne eine beruflich-lebenspraktische Verwertbarkeit, konnte rasch anspruchslos und beliebig werden. Um die Jahrhundertwende 1900, als sich berufliche Alternativen zu Eheschließung und Familie für die Frauen abzuzeichnen begannen, beklagten viele Frauen vor diesem Hintergrund die Sinn- und Ziellosigkeit und die Inhaltsleere ihrer Bildungswege.111 Zur Zeit von Adele Bredts Aufenthalt im Pensionat, um die Mitte des Jahrhunderts, gab es jedoch nur vereinzelte, öffentlich hörbare weibliche Stimmen wie beispielsweise diejenige von Louise Otto-Peters (1819–1895) und des von ihr mitgegründeten „Allgemeinen Deutschen Frauenvereins“ (ADF) (1865), welche die Emanzipation der Frauen und ihre Lösung von dem noch einzig gesellschaftlich akzeptierten Lebensideal, einer weiblichen Lebensführung im Kontext von Ehe und Familie, durch die gleichwertige Teilhabe an öffentlichen Gütern wie qualifizierter Berufsarbeit oder Politik gefordert hätten.112 Alternative weibliche Rollenvorbilder waren noch so gut wie nicht vorhanden, so wie es überhaupt noch keinen pluralistischen „Möglichkeitsraum“113 gab, d. h. einen Sozialisationsrahmen mit möglichen alternativen Erfahrungen, der den Mädchen deren kritische Artikulation und den Entwurf anderer Le-

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FFA, B4g55, Adele Bredt an die Mutter, 1. August 1852. FFA, B4g55, Adele Bredt an die Eltern, 8. August 1852. Vgl. Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben, S. 227ff.; Beuys, Die neuen Frauen, passim. Vgl. dazu Kuhn, Familienstand: ledig, S. 37ff.; Kleinau, Bildung und Geschlecht, S. 31. Zu Louise Otto-Peters, Auguste Schmidt und Henriette Goldschmidt, den Gründerinnen des ADF, vgl. in knappen biographischen Skizzen Beuys, Die neuen Frauen, S. 11ff. Zur Entwicklung der bürgerlichen Frauenbewegung zwischen 1860 und 1880 vgl. Bussemer, Bürgerliche Frauenbewegung und männliches Bildungsbürgertum. Bussemer beschreibt, wie sich eine Konzeption, die auf „organisierte Mütterlichkeit“ (S. 190) setzte, gegenüber einem egalitären Modell der weiblichen Teilhabe an Arbeit und Öffentlichkeit in den 1870er Jahren in der bürgerlichen Frauenbewegung durchsetzte. Vgl. als Überblick auch Gerhard, Unerhört; Allen, Feminismus und Mütterlichkeit. 113 Bourdieu, Die biographische Illusion, S. 81.

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bensideale ermöglicht hätte.114 So blieb es bei einer latenten und ziellosen Unzufriedenheit. Die von Adele Bredt empfundene Leistungsunterforderung war auch dadurch entstanden, dass die Töchter von Unternehmern bis in die 1880er Jahre und bis zum Alter von etwa fünfzehn Jahren häufig gemeinsam mit männlichen Schülern einen koedukativen Unterricht auf höheren Bürgerschulen genossen hatten.115 Anschließend besuchten die Jungen oft noch weitere höhere Schulen, um die Einjährig-Freiwilligen-Qualifikation oder das Abitur zu erwerben und um einen weiterführenden qualifizierten Fachunterricht in den Realien zu erhalten, während die Mädchen in die Pensionate geschickt wurden. Die qualitative Differenz zwischen dem öffentlichen Unterricht auf staatlichen Schulen und dem Privatunterricht in den Pensionaten mit seinem eingeschränkten Fächerkanon und dem oftmals schlecht qualifizierten Lehrpersonal fiel Mädchen wie Adele Bredt negativ auf. Mangels möglicher Alternativen äußerte sie sich in ihren Briefen an die Eltern aber nur zurückhaltend dazu. Die Reduktion des Unterrichtsniveaus für die Mädchen ging zudem einher mit einer Einschränkung der jugendlichen Interaktionen auf eine rein weibliche Peer Group, mit der zumindest versuchten Unterbindung der vorher vielfach gepflegten ‚Verhältnisse‘ und einer strikten Kontrolle des Tagesablaufs. Auch dies nahm Adele Bredt den Eltern gegenüber widerspruchslos hin, während sie sich bei ihrer Freundin über die Eintönigkeit ihres Pensionatslebens beklagte: „Ja liebe Maria ich muß in der Zukunft leben, wenn ich froh sein will, denn die Gegenwart ist zwar nicht unangenehm, im Gegentheil, doch im Ganzen bietet sie sehr wenig, und an die Vergangenheit denken so angenehm dies auch ist, so ist es mir denn doch zu wehmüthig um’s Herz […].“116

Die Artikulation alternativer Lebensideale und deren Umsetzung in die Praxis wurde für bürgerliche Mädchen erst möglich, als sich die Lebenswelt und damit der Sozialisationsrahmen so verändert hatten, dass aus einer latenten und richtungslosen Unzufriedenheit konkrete Kritik und eine praxisrelevante Distanzierung von klassischen Weiblichkeitsidealen entstehen konnten. Ein solcher ‚Möglichkeitsraum‘ offener Kritik und alternativer Praxis entstand durch die 114

Selbst das demokratisch ausgerichtete „Volksthümliche Handbuch der Staatswissenschaften und Politik. Ein Staatslexicon für das Volk“ (1848–1851), hrsg. von dem Demokraten und Deutsch-Katholiken Robert Blum 1848, hielt fest, dass Frauen ins Haus gehörten, nur „Närrinnen“ „Hosen tragen und Cigarren rauchen“ und gleiche Rechte für die Geschlechter „unvernünftig und unnatürlich“ seien. Vgl. Frevert, „Mann und Weib, und Weib und Mann“, S. 42. Zitate ebd. Die für Frauen möglichen Alternativen waren demgemäß alle mit dem Ruch der notgedrungenen Tätigkeit und Versorgung einer nicht Verheirateten versehen. Das betraf die Gouvernante so gut wie die Lehrerin (von der Kleinkinderschullehrerin bis zur höheren Mädchenschullehrerin) oder auch die Unterbringung adliger Frauen in Damenstiften. Vgl. Hardach-Pinke, Bleichsucht und Blütenträume, S. 191ff; dies., Die Gouvernante. 115 Vgl. dazu im Kapitel IV über Schulbesuch und Sozialisation der Jungen die Teilkapitel 2 und 4.1. 116 FFA, B4g54, Adele Bredt an Maria Esch, 5. September 1852.

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merkliche Pluralisierung der Lebensformen im späten Kaiserreich ab den 1890er Jahren und die wachsende Sichtbarkeit alternativer weiblicher Rollenvorbilder: deutsche Studentinnen an Schweizer Universitäten, Volksschullehrerinnen und höhere Mädchenschullehrerinnen, selbstständige Schneiderinnen, Ladenbesitzerinnen, Stenotypistinnen, Fotografinnen usw., vor allem in den Großstädten.117 Auch in der Mädchenliteratur gab es seitdem eine Reihe von Werken, die sich weiblichen Lebensläufen jenseits klassischer Frauenrollen widmeten, zum Beispiel in der Darstellung junger berufstätiger Frauen.118 Die staatlicherseits nach langen Kämpfen und Debatten endlich erteilte Berechtigung für qualifizierte höhere Mädchenschulen zur Abiturvergabe, in Preußen 1908, schuf schließlich konkrete alternative Lebensideale und -formen für Frauen, beispielsweise durch Studium und anschließende akademische Berufsausübung. Bereits im letzten Wintersemester vor dem Ersten Weltkrieg (1913/14) waren knapp 7% der Studienanfänger im Deutschen Reich Frauen.119

2.4 Haustochterstellen Laura Colsman, die Tochter Eduard Colsmans, verbrachte 1856/57 ein Haustochterjahr im Haus einer Bremer Senatorenwitwe und deren Schwester. Der Vater und die Mutter korrespondierten regelmäßig mit ihrer Tochter, und die verwitwete Senatorin Mathilde Duntze schrieb wiederum regelmäßig Berichte über Lauras Entwicklung an die Eltern.120 Neben Laura Colsman gab es noch eine zweite Haustochter im Haushalt. Anders als im Mädchenpensionat waren die Mädchen dort zugleich Schülerinnen einer öffentlichen höheren Mädchenschule in Bremen und erhielten zusätzliche Privatstunden in Klavierspielen, 117

Kurz vor dem Ersten Weltkrieg (1911) waren rund 21% aller Volksschullehrer weiblich, auf höheren Schulen, allerdings so gut wie ausschließlich Mädchenschulen, waren rund 27% der Lehrkräfte weiblich. Vgl. Titze, Lehrerbildung und Professionalisierung, S. 364. Bemerkenswert ist dabei insbesondere, dass die weibliche Lehrtätigkeit vom späten Kaiserreich bis zum Zweiten Weltkrieg in allen Bereichen nicht weiter anstieg, sondern im Umfang erst während der Bildungsexpansion in der Bundesrepublik Deutschland wieder überschritten wurde. Vgl. ebd. Auch dies verweist auf den eminenten Modernisierungsschub, den die Gesellschaft des Kaiserreichs vollzog. Zu Lage und Erfahrungen der ersten Studentinnengeneration vgl. Glaser, Hindernisse, Umwege, Sackgassen; mit vielen Einzelbiographien Beuys, Die neuen Frauen, S. 25ff.; zusammenfassend zur Berufstätigkeit von Frauen im Kaiserreich Schaser, Frauenbewegung in Deutschland, S. 61ff.; zu den Lehrerinnen Schraut, Bürgerinnen im Kaiserreich, S. 76ff. 118 Vgl. Wilkending, Mädchenliteratur, S. 221, S. 223, S. 231ff. 119 Vgl. Huerkamp, Bildungsbürgerinnen, S. 76; Jarausch, Universität und Hochschule, S. 325. 120 Vgl. Archiv Neuborn, Sign. A 10, Briefe von Mathilde Duntze an Sophie Colsman, z. B. 12. Juli 1856 und 22. Juni 1857. Das war im Rahmen der Pensionats- und Haustochtererziehung generell üblich und wurde von den Eltern erwartet. Vgl. Blosser/ Gerster, Töchter der guten Gesellschaft, S. 191.

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Singen und Zeichnen. Persönliche Unterweisung wurde durch die beiden Vorsteherinnen in gebildeter Konversation erteilt. Daneben waren sie aber gehalten, aktiv im Haushalt der beiden Frauen mitzuarbeiten. Hier übten sie insbesondere Kochen und Nähen in einem Haushalt, der für sich warb, diese Fähigkeiten bürgerlichen Mädchen besonders gut zu vermitteln. Die Mädchen standen mit den Frauen in der Küche und lernten die Zubereitung bürgerlicher Gerichte für kleinere und größere Gesellschaften sowie die dafür benötigten Mengen zu berechnen, übten das Tischdecken für den Alltag und für festliche Gelegenheiten, halfen beim Wäscheplätten und lernten neben Ausbesserungsarbeiten auch feine Nadelarbeiten auszuführen. In den Haustochterstellen erhielten die Mädchen eine ein- bis zweijährige Ausbildung außerhalb des Elternhauses, die sie zur Führung eines Unternehmerhaushalts befähigen sollte.121 Der Unterschied zwischen einer Haustochter- und einer Pensionatserziehung bestand vornehmlich darin, dass die Mädchen als Haustöchter familienähnlich lebten, während die Pensionatserziehung durch das Zusammenleben einer größeren Gruppe von Pensionärinnen mit einer oder mehreren Vorstehern und Vorsteherinnen sowie Lehrern und Lehrerinnen in Internatsform gekennzeichnet war. Während die Mädchenpensionate eine altershomogene, weibliche Peer Group als Sozialisationsinstanz bereitstellten, waren die Haustochterstellen ähnlich wie die Schülerpensionen für Jungen durch familiale Generationsbeziehungen, Gasteltern und unterschiedlich alte ‚Gastgeschwister‘ gekennzeichnet und die Mädchen somit in ‚Schwellenorganisationen‘ untergebracht, die zwischen privater Familie und Öffentlichkeit angesiedelt waren. Anders als bei den Jungen in den Schülerpensionen standen aber bei den Mädchen in den Haustochterstellen nicht der schulische Erfolg und somit auch nicht die schulische Leistungsfähigkeit im Mittelpunkt. Die Gastmutter schrieb daher auch nur wenig zur schulisch-intellektuellen Leistung ihrer Haustochter: „Bei Laura’s Gemüthe ist es gewiß zu erwarten, daß sich noch ab u. an wieder trübe Stunden einstellen werden; doch sagte sie mir gestern auch ganz von selbst, daß sie in Bremen doch auch sehr gern wäre. Unser Arzt hat mir auf’s Neue die Versicherung gegeben, daß sie körperlich ganz wohl wäre. Ich werde Ihnen gewiß Alles schreiben, auch Kleinigkeiten, da ich selbst zu ängstlich bin, um etwas für mich zu behalten. – Laura geht jetzt sehr viel in die freie Luft, u. hilft auch im Haushalte, so viel sie es der Stunden wegen bis jetzt konnte; heute ist nun die Schule, wie die Privatstunden, für 5 Wochen geschlossen, welches allgemeine Freude bereitet.“122

Gleichzeitig waren die Haustochterstellen von der Herkunftsfamilie ebenso deutlich unterschieden wie dies bei den Schülerpensionen für männliche Schüler der Fall war. Wie die Jungen waren die Mädchen in ihren Gastfamilien einerseits Stieftöchter mit Familienanschluss, andererseits waren sie zahlende Kundinnen und Gäste, die sich im Rahmen der Lebensformen der Gastfamilie höflich und bescheiden verhalten sollten. Darüber hinaus umfasste ihr Rollenspektrum die 121 122

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Vgl. dazu auch Käthner/Kleinau, Höhere Töchterschulen um 1800, S. 403, S. 407. Archiv Neuborn, Sign. A 10, Mathilde Duntze an Sophie Colsman, 12. Juli 1856.

einer lernenden Schülerin und schließlich die einer Repräsentantin ihrer Herkunftsfamilien. Die Mädchen mussten sich wie ihre Brüder in den Schülerpensionen in komplexen Sozialisationskontexten bewegen und universalistische Rollenmuster der Öffentlichkeit mit partikularistischen der Privatsphäre austarieren. Daher waren in Haustochterstellen und Schülerpensionen, anders als in den Mädchenpensionaten oder in den Internaten für Jungen, die Rollenerwartungen uneindeutig und erforderten Ambiguitätstoleranz und eine differenzierte Selbstpräsentation. Im Sinne des bürgerlichen Lebensmodells der Balance zwischen sich autonomisierenden Feldern der Lebensführung stellten daher auch die Sozialisationskontexte der Haustochterstellen Entwicklungsanforderungen, die eine bewusste Selbstregulierung und die Entstehung eines Selbst-Bewusstseins, das die Person als Handlungszentrum verstand, erzeugen halfen.123 Zugleich blieb die Leistungsmessung der Schule, die für die Jungen so bedeutsam war, in den Haustochterstellen, aber auch in den Mädchenpensionaten, ohne Bedeutung. Vielmehr war die Instanz der Leistungsmessung die eigene Herkunftsfamilie, welche die Lernleistungen der Mädchen vor dem Hintergrund eigener Erwartungen und Bedarfe in der Haushaltsführung und auch vor dem Hintergrund der späteren Chancen auf dem Heiratsmarkt bewertete. In diesem Sinne schrieb Sophie Colsman Briefe an ihre Tochter Laura in Bremen und teilte ihr darin entsprechende elterliche Wünsche und Anforderungen mit; zugleich delegierte sie an ihre Tochter auch Handarbeiten für deren Geschwister: „Die Aufsätze will Dir Dein Papa erlassen, Handarbeiten zum Mitbringen aus Bremen erlasse ich Dir denn Deine Augen könnten leicht wieder leidend werden. In Weiß ist das billigste, u. darin was zu machen, wäre mir auch für Hulda u. Sophie am liebsten, ein Krägelchen, doch ja nicht der Augen wegen. Eduard kann einen Schawl gebrauchen.“124

Auf diese Weise blieb die Herkunftsfamilie das Richtmaß der Mädchenbildung, und die Töchter blieben generell auf den Raum der Familie als Orientierungsrahmen ihres Lebens bezogen. Auch Laura Colsmans jüngere Schwester Hulda (1845–1918) wurde 1860 für ein Jahr in eine Haustochterstelle gegeben, nach Münster in Westfalen. Ähnlich wie ihre älteste Schwester wurde sie dort als Ersatztochter behandelt, allerdings lebte sie im Haushalt eines evangelischen Pastorenpaars. Die dort auftretenden Konflikte zwischen Haustochter und Ersatzeltern und die Briefe des Pfarrers darüber geben den Blick frei auf die dortigen Sozialisationsbedingungen und Erziehungsziele: „Was mich jetzt bewegt, Ihnen zu schreiben, ist die mich drückende Erfahrung, daß bei Ihrem neulichen Besuche, wie uns nachträglich erst klar geworden, doch dasjenige nicht gehörig zum Aussprechen gekommen ist, was zwischen Ihnen und uns über Hulda’s Stellung in unserm Hause besser mündlich hätte erledigt und vermittelt werden können. Nach Äußerungen Ihrer l. Tochter müssen wir nämlich annehmen, daß dies und Jenes, 123

Vgl. dazu im Kapitel IV über Schulbesuch und Sozialisation der Jungen das Teilkapitel 4.3. 124 Archiv Neuborn, Sign. B 1, Sophie Colsman an Laura Colsman, o. D., etwa Juli 1857.

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was ihr in unsererm Hause u. namentlich in ihrer Theilnahme an häuslichen Arbeiten auffällig oder unangenehm gewesen ist u. worüber sie sich wiederholt bei Ihnen beklagt hat, ohne daß wir die geringste Ahnung davon hatten u. haben konnten, auch von Ihnen oder von Ihrer l. Frau als begründet angesehen wird, und zwar in dem Maße, als ob es Ihrerseits erkannt wurde, Hulda sei bei uns in das unrechte Haus gekommen.“125

Insbesondere schien die körperlich anstrengende Hausarbeit, wie sie in großen und mit wenig Personal ausgestatteten Bürgerhäusern nicht unüblich war und den Unternehmertöchtern auch im eigenen Elternhaus zeitweise abverlangt wurde, der Tochter zu viel geworden zu sein, und sie hatte sich bei den Eltern beklagt. Der Pfarrer argumentierte dagegen mit der Erziehung und der praktischen Einübung der Mädchen in eine spätere Haushaltsführung: „Wir haben geglaubt, es würde Ihnen unser häusliches Leben u. die Stellung der jungen Mädchen in demselben von vornherein nach den darüber gewechselten Fragen so weit bekannt sein, daß Ihnen die Theilnahme der Pflegetöchter an den üblichen häuslichen Arbeiten, soweit meine Frau selber darin steht, auch in Hinsicht auf Ihre l. Hulda nicht unlieb gewesen wäre. Es haben alle die vielen Vorgängerinnen derselben, wenn sie auch aus sogenannten vornehmen Kreisen kamen, nach dem Wunsche der Eltern gerade damit beschäftigt und geübt werden sollen, für dergleichen häusliche Dinge ein offenes Auge zu bekommen u. im Kleinen u. Kleinsten treu zu sein. […] Die Mädchen haben dabei eher des Guten zu viel gethan u. in ihrer Anhänglichkeit an meine Frau allerlei kleine Dienstleistungen übernommen, die sie nicht verlangte. In dieses Geleise ist nun Hulda eingetreten u. hatten wir nie an ihr bemerkt, daß sie es ungern gethan hätte; wir haben sie vielmehr öfter von ungebührlichem Diensteifer zurückhalten müssen.“126

Da die Tochter sich offenbar auch beklagt hatte, dass ihr zu wenig Zeit zum Klavierüben bliebe, war dem Hausvater daran gelegen, die Reputation seiner Hauserziehung zu betonen und eine Interessensallianz zwischen Eltern und Gastfamilie herzustellen: „Soll es darum zu einem besseren Fortgang kommen, soll die l. Hulda selber zur inneren Klarheit u. Beständigkeit, wie zu Frieden u. Freudigkeit geführt werden u. sollen andererseits auch wir die Zuversicht u. den Muth gewinnen, an Ihrer Tochter weiter im Segen zu arbeiten u. ohne Störung unseres häuslichen Einklanges mit ihr zu leben, dann bedarf es offenbar Ihrerseits der Versicherung, daß wir nach allen diesem bei Ihnen noch in dem Vertrauen stehen, der l. Hulda in unserm Kreise einen erfolgreichen Aufenthalt bieten zu können. Wäre dies nicht der Fall, dann wüßten wir zu wünschen, daß das Verhältnis, welches wir nicht gesucht haben, das wir aber in gutem Vertrauen angeknüpft, so bald als möglich zu beiderseitigen Beruhigung wieder gelöst würde. […] Wenn wir es wissen u. wenn auch Hulda es weiß, daß Sie mit uns in der großen Hauptsache Eins sind, wenn sie nicht durch Unklarheit des Verhältnisses nach Rechts u. nach Links gezogen wird, – dann bin ich nicht zweifelhaft, es wird Alles gut werden und die mannigfaltige Erfahrung, die wir mit mehr als dreißig Pflegetöchtern im Segen haben machen dürfen, ist uns darin ein großer Trost. Sollten Sie oder Ihre l. Frau dabei jedoch wünschen, daß Hulda in diesen oder jenen Dingen des Hauswesens nicht mehr theilnehme, um so mehr Zeit für geistige Beschäftigung zu haben,– ich bemerke hierbei nur noch, daß H. zu der letztern, 125 126

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Archiv Neuborn, Sign. A 12, Pastor Smend an Eduard Colsman, 8. Februar o. J. (1863). Archiv Neuborn, Sign. A 12, Pastor Smend an Eduard Colsman, 8. Februar o. J. (1863).

namentlich zur Lectüre, nie großen Trieb gehabt hat u. sie dazu hat gezogen werden müssen,– so sind wir natürlich gern bereit, darin Alles zu thun u. nach Ihren Wünschen für sie einzurichten […].“127

Das Problem löste sich in diesem Fall zwar auf, jedoch waren die Haustochterstellen weit stärker als die Mädchenpensionate strukturell auf die Anpassung der Mädchen an den individuellen Alltag der Gastfamilien hin organisiert. Die Mädchen waren damit auf ein Familienleben verwiesen, das von demjenigen ihrer Herkunftsfamilien deutlich abweichen konnte. Anders als die Jungen in den Schülerpensionen besaßen die Mädchen bei Konflikten in den Haustochterstellen nur manchmal eine sie bestärkende Peer Group durch eine Schulklasse. Das war der Fall, wenn sie gleichzeitig eine höhere Mädchenschule außerhalb der Gastfamilie besuchten. Ansonsten waren sie auf ihre eigene Entscheidung zwischen den Normen und Verhaltensweisen zweier Familien angewiesen. Die Wahl der Haustochterstelle für Hulda Colsman war auf die briefliche Empfehlung eines befreundeten Pfarrers geschehen, der die Vorteile aufgezählt hatte, welche die zukünftige Gastfamilie aufweisen konnte: „Gestern Nachmittag fuhr ich mit einem Pastor Nottebom von Haßlinghausen, der Eine seiner Töchter sicher zu dem Consistorialrath Smend in häusliche Pension brachte, von Hamm nach Münster. […] Von Smends Trefflichkeit brauche ich Dir nichts zu sagen. Seine Frau ist eine geborene Ganke von Barmen, feingebildet, freundlich und warm, die Gegenstände der Erziehung sind Häuslichkeit und gesellschaftliche Bildung. Privatstunden können die Töchter sich nach Belieben geben laßen. Eine ältere Nottebom geht im Juni fort, dann wird eine Stelle frei. Smend sagte, er habe sich noch nie selber um Pensionäre bemüht, sie seien ihm immer so zugeführt worden. Er hat drei Töchter (Pensionärinnen) wenn ich nicht irre, im Hause, zwei auf einer Stube. Jede hat einmal die Woche [Dienst] in den häuslichen Dingen. […] Die hiesige Geselligkeit unter den vornehmen Protestanten scheint mir reicher und herzlicher zu sein als die in Bonn. Ich würde den Smendschen Hause eine Tochter mit vollem Vertrauen übergeben können.“128

Deutlich wird in der Briefstelle, welche Kriterien positiv erfüllt sein mussten, damit eine Gastfamilie für eine Haustochterstelle in Frage kam. Hierzu zählten einerseits die bürgerliche Reputation und die moralische Integrität der Familie, welche durch das Pfarramt und die Position eines evangelischen Konsistorialrats gesichert schienen und zugleich eine für Eduard Colsman besonders wichtige Erziehung zum christlichen Glauben und zu christlicher Lebensführung versprachen, andererseits die Befähigung der Mädchen zu Hauswirtschaft und ‚gesellschaftlicher Bildung‘, also zum Arrangement von Nachmittags- und Abendeinladungen und zu gehobener bürgerlicher Konversation. Von gutem, allgemeinbildendem Unterricht und herausfordernden Lerninhalten war bei den Auswahlkriterien allerdings nicht die Rede. Die Versendung der Mädchen in Haustochterstellen nahm in der Unternehmerfamilie Colsman im Kaiserreich jedoch generell ab. Üblich wurde dagegen die Wahl eines deutschen oder ausländischen Mädchenpensionats oder 127 128

Archiv Neuborn, Sign. A 12, Pastor Smend an Eduard Colsman, 8. Februar o. J. (1863). Archiv Neuborn, Sign. A 8, Pastor Lange an Eduard Colsman, 30. April 1862.

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einer öffentlichen höheren Mädchenschule mit begleitender Pensionatsunterbringung. Die Familienförmigkeit der Mädchenerziehung wurde damit zwar reduziert, aber nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Weiterhin war die Familie das Zentrum des für Frauen vorgesehenen Lebensideals und das Ziel weiblicher Erziehung und Bildung.

3. Höhere Töchterschulen und Mädchenpensionate vor der Jahrhundertwende: Unternehmertöchter zwischen Bildungsambitionen und Eheschließung Das von Adele Bredt in den 1850er Jahren besuchte Pensionat am Niederrhein war international besetzt gewesen. Der Umgang mit einer ausländischen Klientel konnte hier eingeübt werden und Differenzen ebenso wie Gemeinsamkeiten zwischen den jeweiligen Herkunftskulturen registriert und bewertet werden. Für die Unternehmerfamilie Colsman ebenso wie für die verwandten und bekannten Unternehmerfamilien der Region blieb die Internationalität der Pensionate auch im Kaiserreich ein wichtiges Auswahlkriterium.129 Mathilde Schniewind (1853– 1933), die spätere Ehefrau Emil Colsmans (1848–1941, Eheschließung 1877) und Tochter eines vermögenden Elberfelder Textilfabrikanten und seiner Frau, besuchte ab 1869 für ein Jahr ein Pensionat in Berlin. Auch hier gab es britische Pensionärinnen, und die Mädchen waren gehalten, untereinander möglichst viel Englisch zu sprechen. Neben Mathilde Schniewind waren noch drei weitere Pensionärinnen aus Elberfelder wirtschaftsbürgerlichen Familien dort. Im Unterschied zum Pensionat Huyssen am Niederrhein war die soziale Zusammensetzung des Berliner Pensionats aber heterogener. Die Mädchen stammten nicht nur aus wirtschaftsbürgerlichen Familien, sondern auch aus Beamten- und Offiziersfamilien. Die vorangegangene Sozialisation und Erziehung in unterschiedlichen Herkunftsmilieus zeigten sich im Pensionat in der Selbstpräsentation und dem Gesellschaftsverständnis der Mädchen. Mathilde Schniewind schrieb in einer Mischung aus Belustigung und leichter Empörung an ihren Vater: „Ich […] mußte eben, als die Mädchen, meist Töchter von Militär, Ladenbesitzer und Kaufmann verwechselten, Deinen Stand vertheidigen, was wie Du Dir denken kannst mit großer Freude geschah. Hier werden wir oft sehr ausgelacht, daß wir nichts vom Militär verstehen und oft die komischsten Verwechslungen machten, dafür müssen wir uns dann doch rächen und amüsiren uns über sie, wenn wir, wie wir sagen in unser Genre kommen.“130

Die Institutsleiterinnen waren zwei Frauen von Borcke, Schwestern aus einer pommerschen Adelsfamilie, die in Berlin ein Mädchenpensionat mit rund 129 130

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Vgl. Soénius, Wirtschaftsbürgertum, S. 126ff. Archiv ACE, Sign. VI,22, Mathilde Schniewind an den Vater, 19. Dezember 1869.

zwanzig Pensionärinnen führten. Mathilde Schniewind war die zweite Tochter, die ihre Eltern in dieses Pensionat gaben.131 Louise von Borcke schrieb daher an die Mutter: „Gestern erhielt ich Ihren lieben Brief vom 15ten Januar; selten hat uns eine Anmeldung mit so inniger Freude erfüllt, so freudig überrascht. Wir haben Mathilde für älter gehalten, sie fertig geglaubt. – ja wir haben angenommen, daß Sie sie gar nicht fortgegeben. Und nun wollen Sie sie uns anvertrauen! Ihr zweites Töchterchen soll zu uns: Dafür danken wir Ihnen innigst […]. Ich kann es Ihnen schriftlich gar nicht sagen, wie tief mich Ihre Liebe rührt. Ja, es ist vieles anders als damals bei uns, alle äußeren Einrichtungen sind besser, der Unterricht nun methodischer, ein Privatunterricht, der in verschiedenen Abtheilungen dem Pensum einer 1sten und 2ten Schulklasse [höherer Mädchenschulen, CG] entspricht. Die Tageseintheilung ist streng geordnet, der Ordnung des großen Ganzen muß die Unordnung der Einzelnen sich unterordnen.“132

Die Pensionatsvorsteherin erläuterte der Mutter auch detailliert ihr pädagogisches Konzept: „Wir haben uns erst selbst innerlich und äußerlich zu unserer Stellung erziehen müssen und sind noch immer stündlich an der Arbeit. Jetzt fühlen wir es in aller Demuth, daß wir dazu berufen sind! den Kindern gegenüber als Autoritäten aufzutreten. Wir haben uns ganz genau ein Ziel gesteckt, keine Schulbehörde macht uns ihre Vorschriften, da wir ganz privatim dastehen! Wir möchten in den jungen Herzen ein ernstes christliches Leben wecken oder pflegen, wir möchten ihnen außer dem zur gewöhnlichen Bildung nothwendigem Wissen ein Verständniß für künstlerische Interessen beibringen und schließlich, was uns so oft sauer schwer gemacht wird, zur Einfachheit und Anspruchslosigkeit erziehen. Daß überhaupt bei der größeren Anzahl von Kindern es möglich ist, ihnen reicher Lehrkräfte als damals und besonders Gelegenheit zur Erlernung von Sprachen zu geben, das ist natürlich.“133

Auch in dieser Konzeption dominierte eine Mädchenbildung, welche die weiblichen Jugendlichen auf Eheschließung, Familienarbeit und Kindererziehung in einem bürgerlichen Haushalt vorbereiten sollte. „Einfachheit“ und „Anspruchslosigkeit“ sollten die späteren Unternehmer-, Akademiker- oder Offiziersfrauen auf die Zurückstellung eigener Ambitionen und Bedürfnisse vorbereiten. Die Autorität der Erzieherinnen wurde begründet durch ihren Wissensund Erkenntnisvorsprung.134 Das Erziehungskonzept wurde zugleich programmatisch plausibilisiert durch eine Erziehung zum evangelischen Christentum und dies den Eltern als moralische Integrität des Instituts und der Erziehung präsentiert. Allerdings spielten Glauben und evangelische Religion in den weite131

Bei guten Erfahrungen war das offenbar durchaus üblich. Vgl. Glaser, Lehrerinnen als Unternehmerinnen, S. 189. 132 Archiv ACE, Sign. VI,22, Louise von Borcke an Mathilde Schniewind, 17. Januar 1869. 133 Archiv ACE, Sign. VI,22, Louise von Borcke an Mathilde Schniewind, 17. Januar 1869. 134 Zu pädagogischer Autorität als einem durch die Zeit strukturierten Verhältnis, das diese aus der Ursprünglichkeit bzw. Vergangenheit begründet (z. B. der Vater als Älterer und Wissender), vgl. Casale, Krise der Repräsentation, S. 214f. Damit ist ein pädagogisches Autoritätsverhältnis zugleich, im Unterschied zu einem politischen, zeitlich begrenzt.

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ren Briefen der Erzieherinnen und der Eltern während der Zeit Mathilde Schniewinds im Pensionat nur eine untergeordnete Rolle, auch in den Briefen der Tochter fehlten sie bis auf Randbemerkungen zu Gottesdienstbesuchen und gelegentlichem Gebet. Das Pensionat bot den üblichen Kanon an Fremdsprachen, Deutschunterricht und ästhetischer Bildung für höhere Töchter.135 Mit keinem Wort war die Rede von einer Förderung besonderer Interessen oder von der Vermittlung ambitionierter, intellektuell anspruchsvoller Bildungsinhalte. Vielmehr, so die Institutsleiterin, ermögliche die Privatanstalt durch das Fehlen staatlicher Reglementierungen die Konzentration auf eine rein ‚weibliche‘ Erziehung. Gleichwohl hatte sich die Institutsleiterin im obigen Brief zu versichern beeilt, dass das Unterrichtsniveau der oberen beiden Klassen öffentlicher höherer Mädchenschulen erreicht würde. Die Mädchen lebten jeweils für ein bis zwei Jahre im Berliner Pensionat; zu Ostern und zu Michaelis (Ende September) traten Wechsel ein, ältere Mädchen verließen das Pensionat, jüngere wie Mathilde Schniewind traten neu ein. Der ständige Wechsel von Pensionärinnen gehörte in den Pensionaten dazu, weshalb sich Mathilde Schniewind wiederholt darüber beklagte, dass keine intensiven Freundschaften zustande kommen könnten.136 Die Institutsleiterinnen berichteten wie üblich regelmäßig an die Eltern über Verhalten, Schulleistungen und Entwicklung der Tochter: „Den gewaltigen Schmerz, gewiß den ersten großen, den sie empfunden, die Trennung vom geliebten Vaterhause, hat sie tapfer bekämpft, es hat keiner eine Äußerung dieses Schmerzes an ihr bemerkt, sie empfand und empfindet die Trennung in all ihrer Schwere, aber der Frohsinn, ich kann wohl sagen der Übermuth des jungen Kreises reißt sie so mit weg, daß sie die Frohste der Frohen und oft auch so übermüthig ist, daß wir ihr vorstellen müssen, daß sie ein großes Mädchen – kein Knabe ist, im Grunde sind wir aber dennoch sehr erfreut über diese große Natürlichkeit und über die Kraftäußerungen, müssen sie aber natürlich etwas in Schranken zu halten versuchen.“137

Die Erziehung zur Weiblichkeit, welche die Institutsvorsteherin in dem Brief propagierte, bedeutete dementsprechend, die Sprachformen gemessen und reserviert zu wählen und sich körperlich zurückhaltend zu bewegen (und nicht mehr ‚ungestüm‘ zu sein), d. h. sich einem Weiblichkeitsideal anzunähern, das als klarer Differenzentwurf zum aktiven, in der Öffentlichkeit stehenden und Entscheidungen treffenden Mann konzipiert war.138

135

Auch an den öffentlichen höheren Mädchenschulen dominierten der Deutschunterricht und der Unterricht in Englisch und Französisch, dazu traten Geschichte, Kunstgeschichte und etwas Naturwissenschaften sowie Handarbeitsunterricht. Vgl. Küpper, Die höheren Mädchenschulen, S. 183; Kraul, Höhere Mädchenschulen, S. 290f.; Blosser/Gerster, Töchter der guten Gesellschaft, S. 192. 136 Vgl. Archiv ACE, Sign. VI,22, Mathilde Schniewind an ihre Mutter, 6. Juli 1869 und 5. September 1869. 137 Archiv ACE, Sign. VI,22, Louise von Borcke an Mathilde Schniewind, 5. Juni 1869. 138 Vgl. Hausen, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“.

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Unter Frauen war weibliche Körperlichkeit nicht generell tabuisiert; vielmehr waren die Beobachtung und das Besprechen körperlicher Fragen, zum Beispiel der Menstruation, Teil der Sorgfalt, welche die Erzieherinnen gegenüber den Pensionärinnen aufbringen sollten. Dennoch wurde das ‚Unwohlsein‘ meist mit einer vorsorglichen Bettruhe bekämpft und nicht als normale Körperfunktion in den Alltag integriert: „Was uns aber noch mehr Freude als ihr geistiges Gedeihen macht, das ist ihr körperliches Wohlbefinden. Ich hatte eigentlich etwas bange, besonders vor den ersten Eintritt ihres Unwohlseins, nun überraschte dieses sie einige Tage früher, als wir es berechnet, noch auf der schönen Pfingsttour trat aber ohne jede Beschwerden ein, und obgleich sie sich nur zwei Tage Ruhe gestatten konnte, hat es gar keine Folgen nach sich gezogen;“139

Mädchen sollten ästhetisch gebildet, also kultiviert sein; sie sollten keine anspruchslosen, schlichten Hausmütterchen sein, aber sie sollten auch nicht intellektuell, also für Männer geistig herausfordernd sein.140 Die Briefe der Pensionatsvorsteherin, die den Unterricht persönlich überwachte, an die Mutter Mathilde Schniewinds spiegeln die damit verbundene Gratwanderung der Mädchenbildung: „Mathilde hat schöne Gaben empfangen, sie hat ein offenes Herz für alles Gute und Schöne; die Lehrer sind sehr zufrieden mit ihr in den Stunden, Literatur (Prof. Lange) Kirchengeschichte, Poetik sind wohl ihre Lieblingsgegenstände,– ich sehe sie in diesen Stunden so gern an, sie glüht dann im vollen ungetheilten Interesse […] In Stunden hingegen, wo Geist und Gemüth nicht so genährt werden, wo es nur heißt aufmerksam und den Verstand arbeiten zu lassen, wie z. B. in den französischen Stunden, da kann Mathilde recht zerstreut sein und durchaus keinen so liebenswürdigen Eindruck machen. […] ich füge nur hinzu, daß Anna [die Schwester und zweite Pensionatsleiterin, CG] und ich uns herzlich darüber gefreut haben daß Mathilde trotz ihres Backfischübermuthes so empfänglich für Alles was Kunst, so verständnißreich für Eindrücke dieser Art ist. Sie hat sich schnell in den reichen Gallerien orientirt und manches überraschende Urtheil unbefangen ausgesprochen.“141

Die ästhetische Bildung im Berliner Pensionat erschöpfte sich in Anregungen und in der Vermittlung einiger Wissensbestände aus der deutschen Geistesgeschichte, und die französischen Stunden, die angeblich den Verstand forderten, bestanden aus Sicht der Tochter vor allem aus Grammatikunterricht. Zur positiven Beurteilung Mathilde Schniewinds wurden daher in den Briefen der Pensionatsvorsteherin hauptsächlich Begriffe verwendet, welche die Gefühls- und Persönlichkeitsebene tangierten: „unbefangen“, „lebhaft“, „offenes Herz“, „Natürlichkeit“. Von intellektuellen Fähigkeiten und Entwicklungen war keine Rede. Etwas zu begreifen, komplex darzustellen und begründet zu beurteilen, 139 140

Archiv ACE, Sign. VI,22, Louise von Borcke an Mathilde Schniewind, 5. Juni 1869. Vgl. Frevert, „Mann und Weib, und Weib und Mann“, S. 156ff.; Küpper, Die höheren Mädchenschulen, S. 187. 141 Archiv ACE, Sign. VI,22, Louise von Borcke an Mathilde Schniewind, 5. Juni 1869.

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wurde von den Mädchen nicht verlangt. Curriculum und Pädagogik waren geschlechtsspezifisch ausgerichtet, und die Mädchenbildung im Pensionat war nicht nur fachlich gegenüber den höheren Knabenschulen reduziert, sondern stellte auch kaum Ansprüche an Rationalität und Intellektualität. Das Ergebnis solcher Vorenthaltungen wurde zur ‚frischen Natürlichkeit‘ des jugendlichweiblichen Charakters verklärt. Da Mathilde Schniewind den gemessenen Formen weiblichen Verhaltens offenbar noch nicht entsprach (sie war „kindlich“ und „übermüthig“), griffen die Erzieherinnen zu regelmäßigen Ermahnungen. Junge Mädchen sollten nach Vorstellung der Institutsleiterin einen „festen Willen“ haben, sie sollten fleißig und ausdauernd in ihren Anstrengungen sein, aber sie sollten dennoch nicht ehrgeizig sein. Worauf sich dann aber der feste Wille und die Anstrengungen richten sollten, sagten die Erzieherinnen nicht: „Was nun Ihre – unsre – Mathilde betrifft, so kann ich Ihnen nur Erfreuliches melden. Sie macht uns herzliche Freude, einmal durch ihren frohen kindlichen Sinn, durch ihr lebhaftes Interesse am Unterricht und ihre wirklich erfreulichen Fortschritte in jeder Beziehung. Sogar in dem Sprachstudium, das ihr anfänglich sehr unbequem und langweilig war entwickelt sie regen Fleiß. Sie spricht die beiden fremden Sprachen mit mehr geistiger Freiheit, wenn auch noch ziemlich ungeschickt. Sie hat kein Talent zum Sprechen, sie hat sogar eine gewisse Nachlässigkeit auch in der deutschen Aussprache von der sie, was im Französischen ganz unerläßlich nothwendig ist, nicht ablassen mag, weil sie sich dann nicht natürlich vorkommt. Wenn sie überhaupt festeren Willen hätte, auch in Zeiten, wo wir nicht im Zimmer sind,– fr. oder engl. zu sprechen so würde sie viel weiter sein; in dieser Beziehung ist sie noch gränzenlos schwach und bekommt ernste Rügen, die sie dann mit kindlicher Demuth und klarer Erkenntniß ihrer Schuld hinnimmt.“142

Ein zentrales Problem der Mädchenerziehung und -bildung, das hier durch die Institutsleiterin indirekt formuliert wurde, war deren widersprüchliche Zielsetzung. Fleiß und Anstrengung sollten die Mädchen zwar selbstständig und kontinuierlich entwickeln, aber diese sollten sich nicht auf die Entwicklung eigener Kompetenzen und Intellektualität richten, sondern sollten letztlich dazu dienen, anderen zu gefallen. Dies konnten zunächst die Lehrer und Lehrerinnen, die Institutsleiterinnen und auch die eigenen Eltern sein. Durch einen solchen Erziehungs- und Sozialisationskontext sollte zudem eine Handlungsorientierung erzeugt werden, welche das eigene Lebensideal und die eigene Lebensform dauerhaft auf das Wohlergehen anderer ausrichtete. Dies galt auch für das Klavierspiel und insbesondere natürlich für das Handarbeiten und Kochen. Als die Institutsvorsteherin Anna von Borcke einen Entwicklungsbericht an Mathilde Schniewinds Mutter formulierte, legte sie Wert auf die Aussage, dass Mathildes Begabungen „schön“ und ihre Kenntnisse „gediegen und hübsch“ seien, sie selbst aber noch nicht maßvoll-kontrolliert in ihren Interaktionen sei.143 Mathilde Schniewind sollte demgemäß „ihr oft etwas ungestümes Wesen“ in 142

Archiv ACE, Sign. VI,22, Louise von Borcke an Mathilde Schniewind, 11. September 1869. 143 Archiv ACE, Sign. VI,22, Anna von Borcke an Mathilde Schniewind, 8. Januar 1870.

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„Mädchenhaftigkeit“ umwandeln.144 Und das hieß, sich zu lösen von eigenen Wünschen, Vorstellungen und intellektuellen Ansprüchen und sich auszurichten an den Wünschen anderer. Mathildes Schniewind schrieb an ihre Mutter acht Jahre später von der Hochzeitsreise, sie sei wohl „eben ein ganz gewöhnliches Mittelschlagsmensch“.145 Auch während ihres Pensionatsaufenthalts stufte sie sich selbst als intellektuell eher durchschnittlich ein: „Heute Morgen haben wir Literatur bei Frl. Luise, französisch bei einer kurmeligen Mademoiselle und Geschichte bei einem H. Heine gehabt, der mich ordentlich examinirte, aber ich habe mich leider schrecklich blamirt, sonst geht es ziemlich gut und ich bin ziemlich soweit die anderen. Wir müssen Französisch oder Englisch sprechen. Ich werde es hoffentlich lernen, im Englischen hapert es tüchtig.“146

Der Unterricht forderte sie, ebenso wie vormals Adele Bredt, aber letztlich nur gelegentlich heraus, da ihr bis auf das Sprachenlernen nicht viel abverlangt wurde. Sie sollte einigermaßen geläufig Englisch und Französisch sprechen lernen, etwas deutsche, englische und französische Belletristik kennen und sich ansonsten im internationalen Sozialisationskontext des Pensionats zu einer ‚jungen Dame‘ entwickeln. Im Pensionat fühlte sich Mathilde Schniewind aber durchaus wohl. Die Mitpensionärinnen gefielen ihr gut, insbesondere eine Engländerin, mit der sie sich eng befreundete:147 „Es ist hier wirklich sehr nett und zu weilen auch gemüthlich, was ich mir nie von einer Pension vorstellen konnte. Tante Luise u. Tante Anna, denn das sage ich jetzt ganz flott, sind so allerliebst […]. Die andern Lehrer gefallen mir nur theilweise […]. Wir haben Kirchengeschichte u. Poetik Herrn Drian, ich sage Dir die Stunden sind wunderschön, aber dann haben wir auch bei einem Monsieur, der gar keinen Begriff von den Gedanken eines jungen Mädchens zu haben scheint. Wir sollen uns unterhalten, da bringt er die Sprache auf französische Romane und sagt mit 4–5 Ausnahmen seien alle schlecht, alle Geschwätz. Als wir ihm dann viele nannten die gut wären, redete er etwas über den Haufen, nannte Dutzende von Namen von denen wir natürlich keinen einzigen kannten und um dem Dinge die Krone aufzusetzen, sollten wir diese Unterhaltung nachschreiben. Wir haben hier auch eine Mademoiselle mit der wir Mittwoch und Samstag Französisch lesen. Dienstag u. Freitag ist englischer Abend von dem ich aber noch so wenig verstehe, daß es mich noch sehr wenig interessirt.“148

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Archiv ACE, Sign. VI,22, Louise von Borcke an Mathilde Schniewind, 11. September 1869. Archiv ACE, Sign. V,11, Mathilde Schniewind verh. Colsman an ihre Mutter, 4. März 1877. Archiv ACE, Sign. VI,22, Mathilde Schniewind an ihre Mutter, 29. April 1869. „Heute Morgen waren Alice Wall und ich wieder aus zeichnen, es sind das sehr gelungene Wanderungen, auf denen wir viel lachen uns aber auch viel ärgern, d. h. wenn es nicht gehen will […].“ Archiv ACE, Sign. VI,22, Mathilde Schniewind an ihre Mutter, 31. Juli 1869. Archiv ACE, Sign. VI,22, Mathilde Schniewind an ihre Mutter, 29. April 1869.

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Inzwischen hatte Mathilde Schniewind gelernt, eine intellektuell schlichte Mädchenbildung, die dem ‚weiblichen Wesen‘ entsprechen sollte, von einer anspruchsvolleren Bildung für Jungen zu unterscheiden. Der Französischlehrer hatte dagegen offenbar versucht, das Unterrichtsniveau etwas anzuheben. Mathilde Schniewind war nicht begeistert, denn dass Weiblichkeit ein eigenes Bildungsniveau und eigene Bildungsinhalte erforderte, hatte sie zu diesem Zeitpunkt internalisiert. Sobald der Unterricht durch männliches Lehrpersonal mit institutionellen Qualifikationen erteilt wurde, fürchtete sie daher, nicht mithalten zu können. So glaubte sie, die Besinnungsaufsätze, die sie im Deutschunterricht des Pensionats verfassen musste, nicht zur Zufriedenheit des männlichen, akademisch ausgewiesenen Lehrers abfassen zu können: „Gleich kommt Professor Lange, der so feierliche Stunden giebt, daß ich und wir alle ganz begeistert sind. Vorige Stunde sprach er über das Ideal und das Leben überhaupt von den philosophischen Ideen Schillers und das war köstlich. Nur heute habe ich schreckliche Angst vor der Stunde, denn wir bekommen die Aufsätze wieder, mein erster über Stiller Mund und treue Hand gelten viel in jedem Land. Ich meine ein Professor müsste viel mehr Ansprüche machen wie andere Lehrer.“149

Das Pensionat litt wie viele private Institute unter einem dauernden Lehrerwechsel. Die jungen, akademisch gebildeten männlichen Lehrer nutzten sie meist als Wartepositionen, bis sie eine feste Stelle an einer öffentlichen höheren Knabenschule erhielten, oder sie erteilten an Mädchenschulen und -pensionaten Unterricht im Nebenerwerb.150 Die an öffentlichen höheren Knabenschulen erreichbare Verbeamtung und das deutlich höhere Renommee der Knabenschulen konstituierten einen bürgerlichen Sozialstatus, mit dem eine private Höhere Töchterschule oder gar ein Mädchenpensionat mit nur ein- bis zweiklassigem Unterricht nicht konkurrieren konnten: „Ich habe Dir gewiß schon erzählt, daß Doktor Hermes, der uns seit den großen Ferien Stunden gegeben nach Sigmaringen versetzt […] ist. Es that uns Allen sehr leid, daß er fort gieng; wir hatten uns gerade an seine Eigenthümlichkeiten gewöhnt, die wohl daher kamen, daß er noch nicht recht mit jungen Mädchen verkehrt und oft glaubte er habe junge Studenten vor sich, weshalb ich seine Stunden zuerst nicht so interessant fand, wie zuletzt, wo er mehr auf unser Ideen eingieng. Es ist auch sehr unangenehm für v. Borkes, daß so oft die Lehrer wechseln. In dieser Woche und der vorigen war eine arge Unruhe für Borkes durch die Lehrernoth.“151

Der ständige Lehrerwechsel wirkte sich aber nicht nur nachteilig auf die Kontinuität des Unterrichts aus und stellte ein dauerhaftes Problem für die Institutsleiter und -leiterinnen dar, sondern für die Pensionärinnen war zugleich unübersehbar, dass die höheren Knabenschulen ihren eigenen Anstalten von den Lehrern regelmäßig vorgezogen wurden. Die unterschiedliche Wertigkeit von Mäd149 150

Archiv ACE, Sign. VI,22, Mathilde Schniewind an ihre Mutter, 6. Juni 1869. Vgl. Kleinau, Bildung und Geschlecht, S. 30; Küpper, Die höheren Mädchenschulen, S. 186. 151 Archiv ACE, Sign. VI,22, Mathilde Schniewind an ihre Mutter, 30. Januar 1870.

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chen- und Knabenbildung wurde ihnen durch die schlichte Tatsache des häufigen Wechsels ihrer Lehrer an höhere Knabenschulen direkt vor Augen geführt. Oft wussten sich die Pensionatsleiterinnen nicht anders zu helfen, als bis zur Einstellung eines neuen Lehrers eine Art Überbrückungsunterricht zu organisieren, zum Beispiel indem statt des Deutschunterrichts ein Lesezirkel eingerichtet wurde, in welchem Dramen mit verteilten Rollen gelesen wurden.152 Für die Mädchen wurden im Berliner Pensionat der von Borckes regelmäßig Zeichenstunden mit begleitendem Anschauungsunterricht in den Berliner Museen angeboten, um das ästhetische Urteilsvermögen und die Geschmacksbildung zu fördern. Die Mädchen besuchten auch gemeinsam ein Übungsatelier in Berlin, in dem sie weiteren Zeichenunterricht erhielten. Eigenständiges Üben im Porträt- und Landschaftszeichnen kamen dazu.153 Auch die Handarbeitsstunden wurden äußerst wichtig genommen, wobei diese wie schon in den 1850er Jahren nicht nur Schönstickerei umfassten, sondern handfeste Haushaltsbedürfnisse befriedigten wie Knopflöcher nähen, Risse stopfen und Kleidungsstücke anfertigen. Das Handarbeiten wurde von den Pensionatsvorsteherinnen zudem als Teil intimer bürgerlicher Häuslichkeit inszeniert. Die Pensionärinnen saßen abends bei Lampenlicht und Märchenlesungen zusammen, und die Vorsteherinnen überwachten während des Vorlesens zugleich die Arbeiten. Daneben gab es Kaffeerunden und Nachmittagstees, bei denen den Pensionärinnen deren Arrangement und die angemessenen Unterhaltungsgegenstände vermittelt wurden.154 Die Mädchen fuhren während ihrer gesamten Pensionatszeit nicht nach Hause, sondern erhielten leidglich ein- bis zweimal Besuch von ihren Eltern. Auch die Sommerferien und die Weihnachtstage wurden im Pensionat verbracht, vergleichbar zu den Jungen in den Schülerpensionen, die ebenfalls meist die gesamte auswärtige Schulzeit ohne Rückkehr ins Elternhaus dort verlebten.155 Die rein weibliche Peer Group des Pensionats, ergänzt durch die Pensionatsvorsteherinnen, wurde für Mathilde Schniewind nur durch die einmal wöchentlich besuchte Tanzstunde und durch kleinere Gesellschaftseinladungen unterbrochen.156 Ihre Mutter beunruhigte zunächst beides: sowohl der Tanzunterricht als auch die kleinen gemischtgeschlechtlichen Gesellschaften, an 152 153

Vgl. Archiv ACE, Sign. VI,22, Mathilde Schniewind an ihre Mutter, 30. Januar 1870. Vgl. Archiv ACE, Sign. VI,22, Mathilde Schniewind an ihre Mutter, 29. August 1869 und 5. September 1869. 154 Vgl. Archiv ACE, Sign. VI,22, Mathilde Schniewind an ihre Mutter, 5. August 1869 und 31. Oktober 1869. Vergleichbar verlief die Bildung und die Tagesgestaltung in Schweizer Mädchenpensionaten dieser Zeit, vgl. Blosser/Gerster, Töchter der guten Gesellschaft, S. 192ff. 155 Das damit verbundene pädagogische Konzept war vermutlich, auch wenn die Briefe darüber nichts aussagen, eine Förderung der Selbstständigkeit und der langsamen Lösung von der Herkunftsfamilie. Vgl. dazu auch die pädagogische Programmatik Schweizer Bürgerfamilien für ihre Töchter in Mädchenpensionaten bei Blosser/Gerster, Töchter der guten Gesellschaft, S. 197. 156 Vgl. Archiv ACE, Sign. VI,22, Mathilde Schniewind an ihre Mutter, 1. Januar 1870.

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denen Mathilde Schniewind zusammen mit anderen Pensionärinnen teilnahm. Daher schrieb ihr ihre Tochter: „Ich fürchte, Du machst Dir Noth über das Einladen von jungen Herren hierhin, aber es ist gewiß nicht so schlimm, wie es lauten mag und Ihr es Euch vielleicht vorstellt, wenigstens habe ich bis jetzt noch nie gedacht, es sei etwas, das Euch mißfallen könnte. Einige Male vor Weihnachten war […] unser Literaturlehrer, dann d. Hermes und Laura Wittensteins Bruder hier. Dann am 1sten Weihnachtstage von Borkes Onkel, Tante, Cousinen und Vettern, die wohl 2 Lieutenants, aber noch mehr Jüngelchens, wie Jünglinge u. Herrn sind. […] Ich hoffe Du wirst über diese kleinen Gesellschaften nicht mehr beunruhigt sein, da ich gewiß glaube sie haben mir weder geschadet, noch mich aufgeregt, sondern mich nur amüsirt. Ich habe natürlich nicht mit v. Borkes darüber gesprochen, wie du es doch auch nicht wünschtest? Ist es Dir nun lieb, oder wünschtest Du, daß ich nicht mehr zu v. Borkes auf Visite gehe, wie wir es nennen, was ich doch nicht gut kann, wenn sie mich einladen. bitte, schreibe mir, wenn es Dir möglich ist bald darüber […].“157

Die Einladungen gingen weiter, denn die Mutter hatte offenbar nach diesem Brief nichts mehr dagegen einzuwenden. Gegen Ende ihres Pensionatsjahrs schrieb Mathilde Schniewind an ihre Mutter: „Nur kann ich mir noch nicht denken, daß ich dann erwachsen, daß dann meine Bildung vollendet sein soll, wie man sagt, obwohl ich diese Redensart scheue, ich meine das Leben bilde noch viel mehr, wie alle Stunden, Vorträge, Bücher und alles Lernen. Doch sind das ja nur meine Ansichten und wie kann ich, ein Mädchen resp. Backfischchen von 16 Jahren Ansichten über Erziehung und Bildung haben! Ich wollte nur sagen, es thut mir so leid jetzt, wo ich so viel weiß, um zu erkennen, wie viel, wie schrecklich viel mir noch fehlt, aufhören muß zu lernen.“158

In dieser Briefstelle zeigt sich zweierlei: Einerseits war Mathilde Schniewind, gerade sechzehn Jahre alt, bewusst, dass ihre formale Bildung mit dem Pensionatsbesuch abgeschlossen war. Andererseits hätte sie gern weiter gelernt, obwohl sie ihre eigenen intellektuellen Fähigkeiten nicht sehr hoch einschätzte. Sie besaß aber nicht genug Selbstvertrauen, um ihren Lernwillen deutlicher gegenüber den Eltern zu vertreten. Wie bei Adele Bredt blieb es beim Bedauern und bei vorsichtig formulierten Wünschen.159 Eine wirkliche Alternative zur Rückkehr ins Elternhaus mit der Hoffnung auf eine spätere Heirat bestand für die Mädchen ohnehin nicht.

157 158 159

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Archiv ACE, Sign. VI,22, Mathilde Schniewind an ihre Mutter, 23. Januar 1870. Archiv ACE, Sign. VI,22, Mathilde Schniewind an ihre Mutter, 8. Februar 1870. Erst nachträglich, in Erinnerungen und Autobiographien, beschrieben viele Frauen für die Öffentlichkeit ihre Beschäftigungslosigkeit, Unterforderung und Unzufriedenheit. Unabhängig vom Realitätsgehalt ihrer Erinnerungen begründeten viele damit ihren Einstieg in Qualifikationsprozesse und Berufskarrieren. Vgl. die Beispiele bei Huerkamp, Bildungsbürgerinnen, S. 36; vgl. zu diesen Entwicklungen auch Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben, S. 246f.

Wie Mathilde Schniewind besuchte auch Gertrud Colsman (1855–1923), eine jüngere Schwester Laura Colsmans, ab 1871 für ein Jahr ein privates Mädchenpensionat. Anna Schubring, eine junge Pastorenwitwe, hatte dieses 1870 nach dem Tod ihres Mannes in Bonn gegründet und parallel eine private Höhere Töchterschule, die auch einheimische Mädchen besuchten, etabliert. Nachdem Gertrud Colsman im Herbst 1871 zunächst einige Monate im Haus eines mit ihren Eltern befreundeten Bonner Ehepaars verbracht und nur die private Höhere Töchterschule besucht hatte, wechselte sie im Winter 1871/72 ganz in das Mädchenpensionat, in dem sie mit mindestens zwölf weiteren Mädchen, darunter einigen Engländerinnen, lebte. Engländerinnen waren als Pensionärinnen sehr beliebt, da deren Eltern nicht nur zahlungsbereit waren, sondern die englischen Mädchen auch die für viele deutsche Bürgereltern so wichtige Internationalität der Institute absicherten. Der Pensionatspreis betrug für ein Jahr 200 Taler, in der späteren Reichswährung etwa 600 Mark, ein Preis, der wie auch in den anderen geschilderten Fällen eine bestimmte Klientel, ein finanziell gut abgesichertes Bürgertum, anziehen sollte und von dem neben der Unterbringung und Verpflegung der Mädchen auch die Lehrkräfte bezahlt wurden.160 Zusätzlich zum regulären Unterricht wurde für die Mädchen Lateinunterricht fakultativ durch einen Theologiestudenten der nahen Universität Bonn angeboten, was Gertrud Colsman aber aufgrund ihres nur einjährigen Aufenthalts im Pensionat für sich ablehnte: „Wir müssen jetzt aber strammer dran als diesen Sommer. Montags und Donnerstags haben wir von 9–11 Uhr und von 2–4 Dienstags und Freitag von 8–11. […] Des Mittwochs und Samstags von 8–12 mit einer lateinischen Stunde; bei welcher es aber Jedem frei steht, sie zu besuchen. Ich wollte sie lieber nicht nehmen, denn in einem Jahre lerne ich auch nicht viel. Onkel Krabb meinte auch, wenn ich 2–3 Jahre Latein hätte, wäre es was anderes. Wir haben auch schon viel mehr Stunden wie früher, also auch mehr zu arbeiten, und durch die lateinische Stunde bekommen wir wöchentlich noch zwei mehr. Laßt sie mich nicht mitnehmen.“161

Der Unterricht in der Höheren Töchterschule erschien Gertrud Colsman zunächst recht anspruchsvoll, da dort Studenten der Universität Bonn Unterricht erteilten; ein vermutlich für beide Seiten, Pensionatsleitung und Studenten, lohnendes Unterfangen.162 Parallel bot das Mädchenpensionat das übliche, die 160

200 Taler bzw. 600 Mark waren offenbar ein üblicher Pensionatspreis, vgl. Wedel, Lehren zwischen Arbeit und Beruf, S. 212. Hier auch zum Interesse von Pensionatsleiterinnen an englischen Pensionärinnen. 161 Archiv Neuborn, Sign. B 3, Gertrud Colsman an die Eltern, 3. Oktober 1871. 162 „Gertrud […] macht ihre Arbeiten nach wie vor treu und gewissenhaft. Frau Schubring, mit der ich in diesen Tagen sprach, sagte das auch, wünschte ihr nur mehr Interesse an den Sachen, die gelernt werden. Es scheint das doch – wenigstens in einigen Fächern – jetzt mehr als früher der Fall zu sein. Literatur, die sie bei Frau Schubring haben, macht ihr Freude. Geschichte […], worin jetzt ein Theologe Mobeling unterrichtet, weiß dieser den Mädchen recht interessant zu machen, Gertrud hat den Unterricht bei ihm sehr gern, was bei den frühen Candidaten nicht der Fall war.“ Archiv Neuborn, Sign. A 8, Friedrich Krabb an den Vater Eduard Colsman, 14. Januar 1872.

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Höhere Töchterschule ergänzende Curriculum an: Handarbeiten, von Ausbesserungsarbeiten bis zum Schneidern eigener Kleidungsstücke, Klavier- und Gesangsstunden. Ein Teil des schulischen Deutschunterrichts, der von männlichen Lehrern erteilt wurde, war wie im Berliner Mädchenpensionat, das Mathilde Schniewind besucht hatte, ausgerichtet auf Besinnungsaufsätze, von denen Gertrud Colsman folgende Themenstellungen nach Hause berichtete: „Man lebt nur einmal in der Welt“, „Laßt uns besser werden, gleich wird’s besser sein“ und „Die Vorzüge des Stadtlebens“. Allerdings nahmen die Mädchen diese moralisch-erziehenden Themen nicht vollständig ernst, und Gertrud Colsman schrieb: „Jettchen liest meinen Aufsatz [„Laßt uns besser werden, gleich wird’s besser sein“, CG], und amüsirt sich kaiserlich.“163 Gertrud Colsman entwickelte in der Folgezeit eine gewisse Routine darin, moralisierende Texte als Antwort auf solche Themen zur Zufriedenheit der Lehrer, aber mit leiser Ironie abzufassen. Ihre „berühmten Aufsätze“ machten ihr und anderen „großes Vergnügen“, und sie gab sie gern an ihre Mitpensionärinnen zu deren Erheiterung weiter.164 Der Deutsch- und der Geschichtsunterricht enthielten aber auch anspruchsvollere Themen, beispielsweise einen Aufsatz zu „Was bewirkte Spaniens Fall unter Philipp II?“ Aufgabe war hier, das im Unterricht Gehörte und Mitgeschriebene später eigenständig zu einem Aufsatz mit eigenen Überlegungen auszuformulieren.165 Auch kleinere Vorträge waren im Unterricht zu halten, Gertrud Colsman referierte zum Beispiel über den Propheten Mohammed oder über den Apostel Paulus.166 Das Bonner Pensionat bezog die Pensionärinnen aber auch in die tägliche Hausarbeit ein; das Einmachen von Gemüse und Obst mussten diese ebenso lernen wie sie beim täglichen Kochen mithelfen mussten, insbesondere bei den Vorbereitungsarbeiten. Dadurch lernten sie Mengen für größere Gesellschaften berechnen und die Planung von Abendessen in Gesellschaften. Als Ehefrauen in Bürgerhaushalten sollten sie solche Dinge später selbstständig organisieren und beaufsichtigen, notfalls auch selbst ausführen können. Gleichzeitig sparte das Pensionat auf diese Weise das Geld für weitere Hausangestellte ein. Ebenso wie für Adele Bredt und Mathilde Schniewind waren es die Mädchenfreundschaften, die einen großen Teil der Briefe Gertrud Colsmans an die Eltern bestimmten, dazu traten Modefragen: „Meinen eigentlichen Geburtstag habe ich noch nie so trostlos erlebt, wie jetzt. [...] ich aß mit den Mädchen. Sie sind ja ganz nett, aber Heimweh habe ich noch nie so gefühlt. […] Schickt meine Hüte doch bald. In der Kirche hatte ich fast allein einen weißen Hut auf. Ich wollte mal fragen, ob ich mir nicht eine viertel Elle von dem Mantel schneiden dürfte? Alle haben kurze Mäntel, nur ich nicht.“167

163 164 165 166 167

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Archiv Neuborn, Sign. B 3, Gertrud Colsman an die Eltern, 16. November 1871. Archiv Neuborn, Sign. B 3, Gertrud Colsman an die Eltern, Ende Februar 1872. Archiv Neuborn, Sign. B 3, Gertrud Colsman an die Eltern, 4. Februar 1872. Vgl. Archiv Neuborn, Sign. B 3, Gertrud Colsman an die Eltern, 5. Juli 1872. Archiv Neuborn, Sign. B 3, Gertrud Colsman an die Eltern, 1. November 1871.

Zu diesen Themen kamen noch Alltagsfragen und Pensionatsereignisse hinzu wie die Mädchendiskussionen über spätere Eheschließungen168 und der Bericht darüber, dass die ältesten Schülerinnen aus der ersten Klasse des Pensionats die jüngeren durch die auch in diesem Pensionat häufigen Lehrerwechsel als Ersatzlehrerinnen unterrichten mussten: „An dem Donnerstag Morgen mußte ich die 4te und 5te Classe unterrichten, wohl 30 Kinder. Heißt, ich mußte ihnen eine Geschichte vorlesen. Zuerst stockte ich oft, dann ging es ganz gut.“169 Im September 1872 kehrte Gertrud Colsman nach Langenberg zurück, 1874 heiratete sie einen Metallwarenfabrikanten aus dem westfälischen Altena. Die Mädchenbildung und -sozialisation in den Pensionaten veränderte sich zwischen den 1850er Jahren und der Reichsgründung kaum und blieb auch in den darauffolgenden Jahrzehnten bis zum Ersten Weltkrieg weitgehend gleich. Weder änderten sich die Lerninhalte noch die Sozialisationskonstellationen. Die Versendung in Haustochterstellen war im Kaiserreich in der Unternehmerfamilie Colsman dagegen stark rückläufig. Während die Schulkarrieren der Brüder und späteren Ehemänner sich fachlich weiterentwickelten, sich zeitlich verlängerten und im Qualifikationsniveau anstiegen, blieben die Bildungswege der Mädchen konstant. Dennoch waren die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen, zum Beispiel die Reichsgründung 1871, nicht ohne Resonanz im Bewusstsein der Mädchen und jungen Frauen. So beantwortete Gertrud Colsman im November 1871 die Frage ihrer Französischlehrerin nach einer Gedichtzeile, welche „grande armée“ denn dort gemeint war, ohne Zögern mit „Qui, mademoiselle, la grrrande armée des Prussiens.“ Die Französischlehrerin aber entgegnete: „Non […], des Francais.“ Gertrud Colsman schrieb deshalb: „Wir streiten uns immer mit ihr.“170 Mathilde Schniewind diskutierte 1875 als Zweiundzwanzigjährige den Kulturkampf des Deutschen Reiches und speziell des preußischen Staats mit der katholischen Kirche mit katholischen Frauen während einer Eisenbahnfahrt. Sie stellte sich als Protestantin auf die Seite Bismarcks, betonte vehement die Autorität des Staats gegenüber der Kirche und bezog als junge Frau öffentlich Stellung: „Als tugendsames Mädchen begab ich mich natürlich in‘s Damencoupé u. wollte schon ärgerlich werden als ich mit sieben weiblichen Wesen eingepfergt nur echten westphälischen Stadtklatsch u. gar keine Lebensläufe zu hören kriegte, als ich hinter Soest mit einer eifrig betenden kath. Schwester zusammenkam. Als sie dies Geschäft beendet fing sie an über schwere Zeiten u. Verfolgungen der Kirche zu reden; ihr Eifer gipfelte in den 168

„Rickchen ist in einer Angst, ihre Mutter würde auch hierhin ziehen. Sie meinte es ginge ihr ans Leben, wenn sie die Heimath auflösen müßte. Onkel sagte, wenn sie heirathete, würde sie doch fort ziehen. Oh, sagte sie, für ungelegte Eier braucht man nicht zu sorgen. Das sage aber nur niemand wieder, sie würde mich essen, wenn sie hörte, daß ich das geschrieben hätte.“ Archiv Neuborn, Sign. B 3, Gertrud Colsman an die Eltern, 4. Februar 1872. 169 Archiv Neuborn, Sign. B 3, Gertrud Colsman an die Eltern, 13. April 1872. 170 Archiv Neuborn, Sign. B 3, Gertrud Colsman an die Eltern, 4. November 1871.

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Aussprüchen: Man stürzt jetzt die Altäre u. man wird sehen, daß die Throne gestürzt werden u. ‚wir werden gerne zusehen wenn dem Staate von den Socialdemocraten geschadet wird.‘ Dabei war sie und eine andere Dame so wüthend, daß sie am ganzen Körper bebten. Aber die treuen Conservativen fehlten mich nicht, eine hanoversche Dame vom Militair und ich stempelten per Bibel u. Geschichte. Es war kostbar amüsant, ich glaube, hätte ein Mann uns gehört, er hätte sich halb todt gelacht. Aber man muß das doch einen Volkskampf nennen, wenn er sogar im Damencoupé ausgefochten wird.“171

Neben der eigentlichen politischen Debatte, die von den Frauen geführt wurde, ist an der Briefstelle bemerkenswert, dass Mathilde Schniewind eine unter Frauen stattfindende Diskussion über Politik nicht für eine ganz vollwertige Angelegenheit hielt. Politik war für sie zuvörderst eine männliche Arena. Sie selbst traute sich als junge Frau ein ernstzunehmendes politisches Urteil nicht zu, zumindest nicht in der Selbstpräsentation gegenüber ihrer Mutter. Aber dass in der Mitte der 1870er Jahre ein tiefer politischer Konflikt die preußische Politik und Gesellschaft beherrschte, war ihr nicht nur bewusst, sondern sie positionierte sich auch klar und öffentlich auf der Seite des Staats und seiner Institutionen und der politischen Konservativen. Die Zwischenphase des Wartens vor der von den Eltern wie den jungen Frauen erhofften Eheschließung war im 19. Jahrhundert oftmals eine der besonders engen Mutter-Tochter-Beziehung. Dies zeigte sich häufig schon während der Pensionatsjahre. Sowohl Adele Bredt als auch Mathilde Schniewind beschrieben in ihren Briefen gegen Ende ihrer Pensionatsaufenthalte enge und in der Struktur eher symmetrische Beziehungen zu ihren Müttern. Adele Bredt schrieb: „[…] wenn ich wieder in Barmen bin, kann ich desto mehr in Deiner Gesellschaft leben, was für mich und auch hoffentlich für Dich recht angenehm sein wird. Doch ich glaube ich blicke zu viel auf die Zukunft, die ich mir immer so angenehm ausmale […].“172 „Ich denke dann immer, wenn ich mal wieder bei Dir wäre, solltest Du keine Unruhe mehr haben, ich wollte gerne Alles für Dich thun. Doch auf der andern Seite fühle ich mich noch so dumm und unbeholfen in allem was Deine Unterstützung anbetrifft, daß ich immer bange bin, ich bilde mir zu viel von mir ein, wenn ich mir vorstelle Dir Alles abnehmen zu können. Doch Du hast ja auch noch Geduld, selbst wenn ich schon 17 Jahre alt bin, u. was ich alleine nicht kann, thun wir zusammen, bis ich es kann, und was man mit Freude thut, ist immer leicht.“173

171 172

Archiv ACE, Sign. V,11, Mathilde Schniewind an die Mutter, 11. Juli 1875. FFA, B4g55, Adele Bredt an die Mutter Adelheid Bredt, 20. Juni 1852. Vgl. auch: „Du schreibst mir so freundlich, wir wollten uns gegenseitig recht aneinander anschließen, dies ist auch mein Wunsch, u. meine herzliche Bitte. Ich wollte es böten sich mir weiter keine Freundinnen, wie Adeline, Luise Wolff, Bertha de Bary. Ich habe mit der ersten und Dir ganz genug […] Deine Dich innig liebende Adele.“ FFA, B4g55, Adele Bredt an Adelheid Bredt, 16. Januar 1853. 173 FFA, B4g55, Adele Bredt an Adelheid Bredt, 20. März 1853.

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Mathilde Schniewind formulierte die Beziehung zu ihrer Mutter ähnlich: „Wie Du es auch thust, so ertappe ich mich auch jetzt so oft auf Plänen für die nächste Zeit. Wie viel werden wir dann gemüthlich zusammen sein […].“174 Obwohl das Ideal der privaten, emotionalisierten Kernfamilie, auf welche die Frau qua ‚Geschlechtscharakter‘ und weiblicher Bestimmung bezogen sein sollte, sich im Kaiserreich nicht grundsätzlich veränderte und die Mädchenbildung und -sozialisation sich inhaltlich deshalb kaum wandelten, standen diese im Kaiserreich doch in anderen lebensweltlichen Bezügen als vorher. Das sich abzeichnende Phänomen der Großstadt, die beginnende Technisierung des Alltags, die sichtbare Industrialisierung, die wachsende Möglichkeit von Auslandsreisen mit Eisenbahn und Ozeandampfer (für Familien mit entsprechendem Einkommen), die mediale Revolution und die neue Massenpresse, die Frauenbewegung, schließlich die Möglichkeit des Mädchenabiturs in Preußen ab 1908, schufen während des Kaiserreichs einen neuen Rahmen, innerhalb dessen die höhere Töchterbildung und mit ihr die Mädchenpensionate anachronistisch zu werden drohten. Die Eltern in der Unternehmerfamilie Colsman beantworteten diese Entwicklungen aber nicht mit einem direkten ‚empowerment‘ der Mädchen durch höhere Qualifikationen im öffentlichen deutschen Bildungssystem, sondern, der Entwicklung ihrer Unternehmen sowie nationalen Trends folgend, mit der Internationalisierung der Bildung ihrer Töchter.175 Im Kaiserreich orientierten sich Unternehmertöchter in ihrer Bildung zunehmend europäisch, die bildungsbürgerlichen Töchter blieben in Deutschland und wurden stattdessen akademischer. Während sich unter den preußischen Studentinnen 1911/12 überproportional viele Töchter des akademischen Bürgertums und auch der Berufsoffiziere befanden, nämlich rund 40%, wobei diese Herkunftsmilieus bei ihren männlichen Kommilitonen nur rund 21% ausmachten,176 waren Mädchen aus vermögenden wirtschaftsbürgerlichen Familien deutlich geringer unter den Studentinnen vertreten. Hier machten Großindustrielle und Großkaufleute innerhalb der Herkunftsgruppe Handel und Gewerbe (insgesamt rund 34% der Studentinnen) nur jeweils etwas über 10% aus, während Kleinunternehmer und kleinere Händler mit knapp 20% bzw. knapp 18% vertreten waren.177 Auch bei den männlichen Studierenden stellten die Großindustrie und 174 175

Archiv ACE, Sign. VI,22, Mathilde Schniewind an ihre Mutter, 13. März 1870. Vgl. Augustine, Patricians and Parvenus, S. 118; Blosser/Gerster, Töchter der guten Gesellschaft, S. 188ff. 176 Vgl. Huerkamp, Bildungsbürgerinnen, S. 31; Petersilie, Berufsständisches Herkommen der Studenten der preußischen Universitäten, S. 353f. 177 Vgl. Titze/Herrlitz/Müller-Benedict/Nath, Das Hochschulstudium in Preußen und Deutschland, Tab. 130, Sämtliche Fächer in Prozent, 1908/09–1932/33, S. 266f.; Augustine, Patricians and Parvenus, S. 119ff. Als These lässt sich formulieren, dass ein Studium für Mädchen aus wirtschaftsbürgerlichen Familien ein größerer Schritt als für solche aus bildungsbürgerlichen Familien war. Anders als im Bildungsbürgertum, dessen Söhne regelmäßig studierten, lag die Emanzipation der wirtschaftsbürgerlichen Töchter durch ein Studium weniger nahe, da auch für die Unternehmersöhne vor dem

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Großkaufleute um die Jahrhundertwende nur 10% der gesamten Studentenschaft, das Bildungsbürgertum dagegen rund 21% und alter und neuer Mittelstand gemeinsam 50%.178 Während bildungsbürgerliche Mädchen aufgrund der Vermögenslage der Familien vor dem Ersten Weltkrieg das Ausland kaum persönlich kennenlernen konnten – ein niederländisches Seebad im Sommer war das Höchste, was auch einer höheren Beamtenfamilie finanziell erreichbar war179 –, lebte ein Teil der unternehmerbürgerlichen Mädchen zeitweise in Belgien, Frankreich, der Schweiz oder in Großbritannien und suchte diese Länder zu Besuchen, Kuren und Sommerfrischen im Erwachsenenalter auch regelmäßig wieder auf. Die Sozialisationsinstanzen und -kontexte traten im Bürgertum für junge Frauen stärker auseinander als noch in der ersten Hälfte des Jahrhunderts. Dies änderte sich jedoch erneut nach der Jahrhundertwende. Wilhelm Colsman-Bredt und seine Frau Adele, welche 1852/53 das Institut Huyssen am Niederrhein besucht hatte, waren die ersten, die ihre Töchter im Alter von fünfzehn Jahren in weiter entfernte Pensionate schickten. Die älteste Tochter Adele (1859–1907) besuchte zwei Jahre lang, von 1874 bis 1876, ein Mädchenpensionat im erst kürzlich zum Deutschen Reich gekommenen elsässischen Straßburg. Im Mai 1874 brachte ihr Vater sie im Zuge einer Geschäftsreise dorthin: „Adele ist sehr vergnügt, sie schickt sich still ohne Widerstreben in das Unvermeidliche und ist überzeugt, daß es zu ihrem Besten sein wird! ich hatte meine rechte Freude an ihr, sie spricht sich wenig aus, ist scheinbar zuweilen eisig kalt, indeß au fond du coeur sieht es doch anders aus, sie ist bescheiden & anspruchslos – der Eigensinn macht ihr allerdings zuweilen zu schaffen, doch jeder Character hat ja seine Haken & Schwierigkeiten, die zu überwinden sind.“180

Erwartet wurde von der Pensionatserziehung auch hier, dass sich die Tochter zu einer jungen Frau entwickelte, die neben der offenbar schon vorhandenen Bescheidenheit und Zurückhaltung auch den Anspruch auf eigene Entscheidungen und Handlungsorientierungen („Eigensinn“) aufgab. Dabei dachten die Eltern aber weniger an eine bedingungslose Ein- und Unterordnung als an eine bürgerlich-elegante Interaktionskompetenz. Generell legten sie bei Mädchen und Jungen in der Familienerziehung und in der Beurteilung der Persönlich-

Ersten Weltkrieg ein Studium noch nicht die Regel war. Habituell zugänglicher schien vielen jungen Frauen aus dem Wirtschaftsbürgertum offenbar eine künstlerische oder kunsthandwerkliche Ausbildung. 178 Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 3, 1849–1914, S. 1215. 179 Vgl. Hattenhauer, Geschichte des Beamtentums, S. 268ff. Sebastian Haffner (1907– 1999), Sohn eines preußischen Volksschulrektors, beschreibt, typisch für eine durchschnittliche Beamtenfamilie der Vorkriegszeit, dass er die Sommerfrische mit seiner Familie regelmäßig auf einem Gut in Hinterpommern verbrachte. Vgl. Haffner, Geschichte eines Deutschen, S. 13ff. 180 FFA, B4g58, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 30. Mai 1874.

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keitsentwicklung vergleichbare Maßstäbe an:181 Bescheiden und zurückhaltend sollten beide Geschlechter als Kinder und Jugendliche sein; bürgerlich sein hieß, die Balance zu halten zwischen eigenen Ansprüchen und Verkehrsformen der Umwelt. Im Zweifelsfall hatten bei Mädchen wie bei Jungen immer die eigenen Wünsche und Bedürfnisse zurückzustehen; bei Mädchen allerdings im Unterschied zu den Jungen auch die eigenen Bildungsambitionen. Die zwei in Straßburg mit weiteren Pensionärinnen aus Frankreich und England verbrachten Jahre der Tochter Adele wurden nur durch Besuche der Eltern während der Sommerzeit und durch Ferienreisen mit den beiden Pensionatsvorsteherinnen und den Mitpensionärinnen unterbrochen: „Adele sieht gut aus, nur schien sie uns magerer, wenigstens war ihr das Weiß & blau getüpfelte Kleid zu weit und meinten die Damen, sie habe in den letzten Tagen das Lernen übertrieben! sie bekommen nun Ferien und dann wird sie sich rasch wieder erholen; sie reisen in die Nähe von Sion […]. Ich hatte wirklich Freude an Adele, sie ist ein bescheidenes, stilles und liebes Mädchen, dessen erste Sorge ist uns Freude zu machen.“182 „Adelens Brief hat mir auch viele Freude gemacht, sie hat ein liebes Gemüth, u. lebt nicht gedankenlos in den Tag hinein, ich hoffe es geht ihr gut auf dieser Reise, u. der Winter bringt ihr noch das Nöthige ein, damit sie befriedigt auf ihre Pensionszeit zurück sehn kann. Es thut mir leid, daß sie im Englischen nicht Gelegenheit hat weiter zu kommen, wenn es ihr aber Ernst ist, kann sie auch zu Hause noch viel lernen, sei es durch gemeinsames Lesen od. Unterhaltung.“183

Wie in allen anderen beschriebenen Fällen war auch für Adele Colsman die formale Bildung mit dem Pensionatsbesuch im Alter etwa siebzehn Jahren abgeschlossen. Ihr Vater holte sie während einer Geschäftsreise, aus der Schweiz kommend, ab. In einem Brief an seinen Onkel Eduard kritisierte er die aus seiner Sicht noch nicht weiblich gemessene, sondern spontane und ungezügelte Körpersprache seiner Tochter, deren erwachsenengemäße Habitualisierung er sich doch vom Pensionat versprochen hatte: „In Strassburg fanden wir eine blühende Tochter, doppelt erregt durch die unverhoffte Aussicht zur baldigen Rückkehr an Mutters ‚Suppentopf‘ so erregt, daß sie beim Anblick ihres Papa im Pensionshofe statt durch die Thür, durch die Scheiben fliegen wollte, wenigstens stieß sie eine große Scheibe in der Hast mit der Hand durch!! so zappelig sind die Kinder noch, selbst nachdem sie zwei Jahre in der Bildungsanstalt gewesen! das ist zu arg!!“184

Persönliche Gespräche der Eltern mit den Pensionatsleiterinnen sollten nicht nur die Kenntnis der Eltern über die materielle Umwelt und die Pensionatsführung verbessern, sondern auch eine persönliche Verpflichtung der Pensionatsleiterinnen erzeugen. Wilhelm Colsman-Bredts und Adele Colsmans jüngere Tochter Laura (1865–1956) wurde 1882 mit fünfzehn Jahren, zum ersten Mal in 181 182 183 184

Vgl. dazu Kapitel III über frühkindliche Erziehung und Sozialisation. FFA, B4g58, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 3. August 1875. FFA, B4g58, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 30. August 1875. Archiv Neuborn, Sign. A 8, Wilhelm Colsman-Bredt an Eduard Colsman, 8. Mai 1876.

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der Unternehmerfamilie, in ein Schweizer Pensionat gegeben.185 Der Vater hatte dieses auf einer Geschäftsreise zuvor in Augenschein genommen und der Mutter darüber berichtet. Entscheidend waren für die Eltern neben einer schönen Lage in der Natur, hier am Rande der Glarner Alpen, die Erziehung durch zwei französischsprachige Pensionatsleiterinnen und ein internationales Publikum an Mitpensionärinnen: „An Laura schrieb ich gestern Abend einen längeren Brief, der jedenfall mit dazu beitragen wird, ihr den Abschied & die Trennung leichter zu machen! Sie ist in B. in treuen, liebevollen Händen, obgleich ich mir nicht verhehle daß sie in Bezug auf mancherlei Einrichtungen etwas sehr rosig gemalt haben; z. B. Baden, Spazieren, Revision der Schränke etc letzteres ist besonders das Steckenpferd von Madam da sie es so oft ritt, frug ich Laura wie die Schränke denn seien, sie meinte Nichts weniger als sehr ordentlich! – Mündlich mehr, treu & fromm sind sie & auch sehr sorglich! Alle Kinder sahen famos aus und meinte Laura sie würde bald keine Ausnahme machen! Doch Du wirst gleichzeitig ihren Bericht erhalten! Laura ist lieb, sehr lieb & sah so fröhlich, vertrauend drein, daß es eine Freude war! Gott sei ihr freundlich & lasse sie recht glückliche Zeit dort verleben! Die Gegend ist herrlich, Luft balsamisch! […] das Haus hat große Souterrains die die Eigenthümer für Blumen gebrauchen, die I Etage ist das ganze Pensionat, auf dem Dach […] wohnen die Eigenthümer, 2 Damen, denen auch der große Garten gehört & die denselben in Ordnung halten, nur große Grasbeete & viele Obstbäume, auch einige hohe epheubewachsene Tannen! Hohe Mauern mit Spalierbäumen. Die Alpenkette […] lag unvergleichlich schön vor uns, ich habe nie ein solches Panorama gesehen.“186

Auch in diesem Fall sprach der Vater nicht von Unterricht und intellektueller Förderung. Desgleichen war es auch für die Mutter entscheidender, dass ihre Tochter in einer neuen Erziehungs- und Sozialisationsumgebung und in einer Mädchengruppe lebte: „Der Abschied mag Laura wohl noch ein wenig schwer werden, doch durch Alles Neue, was ein Mädchen wahrnimmt, die veränderte Lebensweise, das Zusammenleben mit ihres Gleichen, wird die Thränen bald trocknen, auch ist sie so verständig zu wissen, daß es ihr gut thut […].“187

Dass Mädchen wie Jungen das Elternhaus im Rahmen ihrer Bildungskarrieren und ihrer Sozialisation in der Jugend verlassen sollten, war für die Eltern selbstverständlicher Teil ihrer Erziehungs- und Sozialisationsordnung. Im Gegensatz zu den Jungen, für die sich an die höhere Schule nach dem Erhalt der EinjährigFreiwilligen-Berechtigung in der Regel die Lehrzeit, dann das Militärjahr und schließlich weitere Berufspraktika im Ausland anschlossen,188 kehrten die Mädchen aber nach ihrer Pensionatszeit wieder ins Elternhaus zurück.

185

Vgl. zur Pensionatserziehung am Beispiel zweier wohlhabender Familien auch Michaelis, Zwischen Pflichterfüllung und Glücksversprechen, S. 158ff. 186 FFA, B4g59, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 20. April 1882. 187 FFA, B4g59, Adele Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 20. April 1882. 188 Vgl. dazu Kapitel IV über Schulbesuch und Sozialisation der Jungen, Teilkapitel 3.

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Die spätere Ehefrau Paul Colsmans, Elisabeth Barthels (1866–1965), Tochter eines Barmer Textilfabrikanten, besuchte ab 1882 mit sechzehn Jahren ebenfalls für ein Jahr ein privates Mädchenpensionat. Auch dieses befand sich im Ausland, in Brüssel, es war die „Institution pour jeunes filles dirigée par Mlles Brossel“, mitten in der belgischen Hauptstadt gelegen. Das Pensionat wurde von zwei alleinstehenden Damen geführt, die Verkehrssprachen waren deutsch und französisch, mit Elisabeth Barthels befanden sich noch siebzehn weitere Pensionärinnen dort. Das Institut beherbergte deutsche, französische und britische Bürgertöchter und erteilte Unterricht in den klassischen Fächern der Mädchenbildung: Schönschreiben, Konversations- und Grammatikunterricht in französischer Sprache und Literatur, Deklamation und Rhetorik, Geschichte, Geographie, Deutsch und Englisch. Dazu kamen obligatorisch Zeichnen, Klavierspielen und Gesangsunterricht.189 1893 schrieb eine der Institutsleiterinnen an ihre ehemalige Schülerin: „Ich weiß nicht, liebe Elisabeth, ob du je erfahren, daß die arme Elise Fey, die sehr glücklich in Verviers verheirathet war, im dritten Wochenbett dieses Jahr gestorben. Sophie Balaerts v. Blokland, deren Schwester auch 2 Jahre hier war u. schon verheirathet ist, wird sich in diesen ersten Wochen mit dem Sohn des Finanzministers aus dem Haag verheirathen. Sie hat dies Glück recht verdient, da sie sich so vorzüglich nach dem Tode ihrer Mutter der Haushaltung und jüngeren Geschwistern angenommen hat. Die arme Emilie Franchomme ist auch nach dem ersten Kinde gestorben. Jeanne de Bendt ist noch unverheirathet.“190

Obwohl die Institutsleiterin selbst Unternehmerin war,191 beschränkten sich ihre Mitteilungen im gesamten Brief auf bürgerliche Weiblichkeitsideale der Ehe und Familiengründung. Bei der Klientel, die sie erzogen hatte, vermutete sie offenbar keine anderen Interessen, obwohl sie selbst dem bürgerlichen Lebensideal der Ehefrau und Mutter nicht entsprach. Dass Frauen als Lehrerinnen und Erzieherinnen junger Mädchen (in Volksschulen und höheren Mädchenschulen, in Volksschulen auf dem Land aber auch von Jungen)192 wirkten, war mit dem Frauenbild während des gesamten 19. Jahrhunderts vereinbar.193 Im 189

190 191 192

193

Vgl. Archiv WHC, Sign. 176, Trimesterzeugnisse für Elisabeth Barthels im Institut Brossel, 1. Klasse, 1882/83. Soénius berichtet für die Töchter der Unternehmerfamilie Scheidt von einem vergleichbaren Pensionat in Brüssel in den 1880er Jahren, das sich ebenfalls durch eine internationale Durchmischung der Pensionärinnen auszeichnete, die aus dem deutschen Kaiserreich, den USA und der Niederlande stammten. Vgl. Soénius, Wirtschaftsbürgertum, S. 130f. Archiv WHC, Sign. 140, Mademoiselle Brossel an Elisabeth Colsman, 27. September 1893. Vgl. dazu Glaser, Lehrerinnen als Unternehmerinnen, S. 180ff.; Schraut, Bürgerinnen im Kaiserreich, S. 81ff. Im Kaiserreich war nach der Jahrhundertwende etwa ein Fünftel der Lehrkräfte in den Volksschulen weiblich, was u. a. an dem dauerhaften männlichen Nachwuchsmangel im Volksschullehramt lag. Vgl. Titze, Lehrerbildung und Professionalisierung, S. 364. Vgl. Schraut, Bürgerinnen im Kaiserreich, S. 76ff., sowie Kleinau, Bildung und Geschlecht, S. 25, S. 31f.

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Falle der Leiterinnen privater Mädchenpensionen wurde zugleich darüber hinweggesehen, dass diese Frauen eben nicht nur Lehrerinnen waren, sondern eigene Unternehmen führten und damit professionell tätige Selbstständige waren. Wie sich die Lehrerinnen und Pensionatsleiterinnen selbst einschätzten, ob als nur aus Not berufstätig oder aber aus Wunsch und Können, muss offenbleiben; die mir vorliegenden Briefe geben dazu keine Auskunft. Da sich Lehrerinnen im Kaiserreich aber zunehmend berufsständisch organisierten, zum Beispiel im „Allgemeinen Deutschen Lehrerinnen-Verein“ ab 1890, bereits zehn Jahre später mit etwa 16.000 Mitgliedern der größte Berufsverband für Frauen,194 verweist dies auf ein wachsendes berufliches Selbstbewusstsein. Mit ihren Organisationen präsentierten sich die Lehrerinnen als berufstätige Frauen im späten Kaiserreich sichtbar im öffentlichen Raum. Elisabeth Barthels’ Eltern formulierten dagegen in ihren Briefen für ihre Tochter ein klassisches Weiblichkeitsideal. Die „wissenschaftliche Ausbildung“, von der ihr Vater im folgenden Brief sprach, bezog sich auf das Unterrichtsangebot in den Mädchenpensionaten im Sinne einer über die Volksschule hinausreichenden Bildung, aber nicht auf eine wissenschaftliche Bildung im engeren Sinne: „Bei meiner Fahrt zum Bahnhof, am vorigen Montag fiel auch hin und wieder noch eine Thräne und ich mußte mir, gerade wie du auch wiederholt sagen, wie nützlich der dortige Aufenthalt für die Vollendung deiner wissenschaftlichen Ausbildung und für manches Andere sei, um wieder die richtige Herrschaft über meine Gemüthsstimmung zu gewinnen. Bei unseren Mahlzeiten wird natürlich von unserem Hinz [Elisabeth Barthels, CG] ein ehrliches Wort gesprochen und der Schluß ist gewöhnlich der Ausspruch unserer Freude darüber, daß Du dort so gut aufgehoben bist. Verliere doch auch ferner ja nicht aus den Augen, mein liebes Kind, daß Du die Gelegenheit nicht zum zweiten Male im Leben haben wirst, Deine Kenntnisse in so mannigfacher Weise zu bereichern, wie gerade jetzt. Ich bedaure es noch täglich, nicht viel mehr gelernt zu haben, als es der Fall ist. Das eifrige Studium wird neben den Stunden der Erholung, die Euch ja auch genügend zu gemessen werden, das beste Mittel für Dich sein, die Heimwehgedanken fern zu halten.“195

Der Vater appellierte in erziehender Absicht zwar an Leistungsbereitschaft und Erkenntnisinteresse der Tochter und verglich diese auch mit eigenen Lern- und Bildungserfahrungen, aber eine gleichwertige Bildung war damit für die Tochter nicht gemeint. Vielmehr wurde auch hier an eine umfassende Bildung für Frauen im Rahmen eines auf den Raum der Familie bezogenen Weiblichkeitsmodells gedacht, und wenn Philipp Barthels davon sprach, er hoffe, dass „manche in Deinen Kenntnissen vorhandene Lücke – hoffentlich für immer – zugestopft“ sei, so durfte seine Tochter das nicht zuletzt auch wörtlich, in Anlehnung an weibliche Handarbeitsaufgaben, verstehen.196 Dennoch indizierte die Wortwahl des Vaters („wissenschaftliche Ausbildung“), dass die Bildung der 194 195 196

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Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 3, 1849–1914, S. 1093. Archiv WHC, Sign. 151, Philipp Barthels an Elisabeth Barthels, 9. Oktober 1882. Archiv WHC, Sign. 151, Philipp Barthels an Elisabeth Barthels, 17. Juli 1883.

Tochter, wie auch in den anderen beschriebenen Fällen, ernst genommen wurde, sie war die Grundlage der Entwicklung zur bürgerlichen Frau. Mädchenbildung war jedoch weder gleichartig mit derjenigen der Jungen, noch wurde in sie derselbe Aufwand und dasselbe Geld investiert.197 Wie schon in den Jahrzehnten zuvor wurden Weihnachten und die Sommerfrische auch von Elisabeth Barthels im Pensionat verbracht, unterbrochen nur von kurzen Besuchen der Eltern: „Hoffentlich ist die Kiste für dich rechtzeitig dort eingetroffen, worüber uns bis morgen wohl eine Karte von Frl. Brossel in Kenntniß setzen wird, wir erfahren dann auch wohl wann Ihr Eure Bescheerung habt, ich denke mir vielleicht schon morgen Abend, damit Eure Geduld nicht auf eine zu harte Probe gestellt wird. Ob Ihr wohl Eure Kisten selbst auspackt? Was wird das für ein Jubel sein! ich wäre doch gar zu gerne dabei.“198

Das mit der Weihnachtsfeier eng verbundene Familienideal und dessen Gefühlsbetontheit wird hier ebenso deutlich wie die auch in allen vorausgehend beschriebenen Fällen vorhandene ‚elliptische‘ Beziehungsstruktur zwischen Pensionat und Herkunftsfamilie. Die Töchter wurden von den Familien in die Pensionate gegeben, um sich dort auf das Lebensideal einer bürgerlichen Ehefrau und Mutter vorzubereiten und ihre Lebensform und ihre Handlungsorientierungen darauf auszurichten. 1885 begann Antonia („Tony“) Klincke (1870–1946), Tochter eines Drahtfabrikanten aus dem westfälischen Altena und die spätere Ehefrau Peter Lucas Colsmans (1854–1925), einen Briefwechsel mit einer Cousine und Freundin. Während sie selbst nach dem Besuch der privaten Höheren Töchterschule am Heimatort in einem Mädchenpensionat in Darmstadt weilte, war ihre Freundin Frieda Trappenberg zeitgleich in einer Haustochterstelle in Kirch Grubenhagen an der mecklenburgischen Seenplatte untergebracht worden, im Haus eines evangelischen Pastors, der im Nebenerwerb mehrere solcher Stellen unterhielt. Aus den Briefen der Mädchen wird deutlich, wie unterschiedlich, je nach Wunsch und Einkommen der Eltern, Erziehungsinstitute und Haustochterstellen gestaltet sein konnten. Die Freundin Frieda beispielsweise hatte im Haushalt der Pastorenfamilie viele Pflichten: „Das Leben hier ist reizend in jeder Beziehung; alles ist sehr gut. Wir stehen Morgens um ½ 6 Uhr auf. Sodann geht jede an ihre bestimmte Arbeit. Wir haben alle unsere Wochen, die eine Küchenwoche, die andere Kaffeewoche, die dritte Stubenwoche. Ich habe jetzt eine sehr angenehme Woche, ich muß nach dem Aufstehen eine Stube, die sogenannte ‚graue Stube‘ fertig machen, dann darf ich handarbeiten bis zum Kaffeetrinken, welches um ½ acht stattfindet. Nach dem Trinken muß jede ihr Schlafzimmer fertig machen, sodann hat jede wieder ihre bestimmte Arbeit. Um ½ 1 Uhr wird zu Mittag gegessen, und nach dem Essen fangen unsere Stunden an. Entweder haben wir Englisch, oder Französisch, oder Litteratur, od. Kunst od. Kirchengeschichte. Letztere Stunde haben wir mit 197

Vgl. dazu Kapitel IV über Schulbesuch und Sozialisation der Jungen sowie Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben, S. 227ff. Vgl. auch Klika, Die Vergangenheit ist nicht tot. 198 Archiv WHC, Sign. 151, Philipp Barthels an Elisabeth Barthels, 23. Dezember 1883.

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drei Fräulein von Frisch zusammen. Nach dem Nachmittagskaffee machen wir einen Spaziergang (wenn es nicht zu heiß ist, sonst später). Nachher wird gehandarbeitet, wobei abwechselnd Französisch od. Englisch bei vorgelesen wird. Den Inhalt des Gelesenen müssen wir dann nächste Stunde in fremde Sprache erzählen. Nach dem Abendessen wird ein klassisches Stück gelesen. Um 10 Uhr gehen wir zu Bett, nachdem wir vorher noch viel Unsinn zusammen gemacht haben.“199

Da der Pfarrhaushalt auch eine kleine Landwirtschaft zur Ergänzung des Lebensunterhalts unterhielt, gab es rund um das Pfarrhaus „Schafe, Kühe, Pferde, Störche, Hühner, Tauben und eine Katze und einen Hund“.200 Diese waren durch die Haustöchter ebenfalls mitzuversorgen. Neben weiteren Arbeiten wie dem Gärtnern im Nutzgarten und dem Einmachen von Obst und Gemüse waren die Haustöchter auch gehalten, Koch- und Tischdienste für die große Pastorenfamilie zu leisten: Außer drei weiteren Haustöchtern besaß die Familie sechs eigene Söhne und zwei eigene Töchter. Die Söhne befanden sich, wie bei bürgerlichen Familien in Kleinstädten und Dörfern ohne ausreichendes Schulangebot meist notwendig,201 in auswärtigen höheren Schulen und auf der Universität, kehrten aber in den Ferien ins Elternhaus zurück: „Ich habe grade Kaffee gemacht für 15 Personen, denn alle sechs Söhne des Hauses, ein Student, ein Unteroffizier, ein Oberprimaner, ein Obersecundaner, ein Obertertianer, und ein Quartaner sind seit acht Tagen hier;“202 Für die Haustöchter boten sich damit vielfach Gelegenheiten, ‚Verhältnisse‘ mit den Söhnen einzugehen, nicht anders als dies Adele Bredt in ihrem Barmer Elternhaus um die Jahrhundertmitte auch getan hatte. Aus eben diesem Grund gaben aber viele Eltern ihre Töchter nicht in Haustochterstellen, in denen zeitgleich erwachsene Söhne der Gastfamilien anwesend waren, weil sie durch die räumliche Distanz wenig Kontrolle über die Sozialisationskontexte und Verhaltensweisen ihrer Töchter besaßen. Dass es sich in diesem Fall um eine Pastorenfamilie handelte, mag die Eltern in die trügerische Sicherheit gewiegt haben, die moralische Integrität des Haushalts und eine Überwachung der Geschlechterbeziehungen sei damit bereits genügend abgesichert. Frieda Trappenberg berichtete Tony Klincke und deren älteren Schwester Selma allerdings über mannigfache Gelegenheiten zu Flirts und Beziehungsanbahnungen, wenn die Söhne des Pfarrehepaars im Haus weilten: „[…] sodann gings wieder hinaus in den Garten, um Gesellschaftsspiele zu machen. Wir thun dann: ‚englisch Laufen‘, ‚Dritten abschlagen‘, ‚mit den Löffeln eine Person suchen‘ (du kennst das ja Toni von Barmen her) oder Thaler, Thaler du mußt wandern, chasservous – placer vous und was der Spiele mehr sind. Die Abende und die Spiele sind zu schön, und werden durch die vielen Herrn noch mal so interessant. Sehr oft spielen wir 199 200

Archiv Landfried, Sign. 10, Frieda Trappenberg an Tony Klincke, 12. Juni 1885. Archiv Landfried, Sign. 10, Frieda Trappenberg an Tony und Selma Klincke, 12. Juni 1885. 201 Vgl. dazu Kapitel IV über Schulbesuch und Sozialisation der Jungen, Teilkapitel 2 und 3. 202 Archiv Landfried, Sign. 10, Frieda Trappenberg an Tony Klincke, 1. Oktober 1885.

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jedoch auch Abends Croquet mit Mond, Sternen und Lampenlicht. Bernhard, der Lustige sitzt dann hoch oben auf dem einen Birnbaum und macht die tollsten Witze über die verschiedenen Personen und die Schläge die sie thun. Ich wollte nur ihr wäret mal mit hier, beschreiben lassen sich so Ferien nicht.“203

Aber auch in den Mädchenpensionaten, zumindest wenn diese nicht in einer ländlichen Abgeschiedenheit lagen, waren Anknüpfungen mit männlichen Jugendlichen, zum Beispiel durch benachbarte Schulen, möglich. Tony Klincke hatte in Darmstadt ein ‚Verhältnis‘ mit einem Gymnasiasten, während sie dort das Pensionat besuchte. Ihre Freundin Frieda schrieb ihr: „Was Du mir über Arnold schreibst interessiert mich natürlich sehr. Doch ich stimme mit Dir darin überein, daß du ihm Dein Bild nicht gut schicken kannst, sondern nur seine Wünsche erwiedern kannst. Fritz [der älteste Sohn und das ‚Verhältnis‘ der Freundin Frieda, CG] war leider nicht hier, die andern alle. Es that mir sehr leid. Zu Neujahr schickte er einen einfache Gratulationskarte (ein kleines Mädchen, mit einem Bouquet von Rosen und Vergissmeinnicht) mit der Unterschrift „blau, rot“. Die Bedeutung dieser beiden Farben weißt Du ja, doch für uns hat sie noch eine ganze besondere Bedeutung.“204

Ein Großteil der Briefe der Freundinnen befasste sich mit ihren Beziehungen und deren Verwicklungen. So taxierte Frieda Trappenberg sämtliche Söhne ihrer Gastfamilie sehr genau und schätzte deren männliche Attraktivität gegenüber Tony Klincke und deren älterer Schwester Selma ab: „Zuerst muß ich wohl die Euch noch unbekannten Söhne vorstellen. Also erstens […] Friedrig oder Fritz Hoyer Student der Theologie. Er ist hübsch, besonders von der Seite, äußerst liebenswürdig, zuvorkommend, höflich bringt uns immer zum Nachtisch das schönste Obst ect. ect. Wir haben ihn alle sehr gern. Sodann kommt Wilhelm der dritte Sohn, Günther der zweite ist nicht zu Hause da er dient, also Wilhelm der Oberprimaner ist nicht so nett wie sein Bruder und nicht so lustig, da er so viel fürs Examen zu lernen hat. Ferner Bernhard, Obersecundaner. Er ist wieder hübsch und der lustigste und witzigste von allen. Wir kommen beim Croquet spielen oft aus dem Lachen nicht heraus und amüsieren uns natürlich immer köstlich dabei. […] Weiter folgt Franz, Obertertianer. […] Wir führen hier jetzt ein Leben, es ist wirklich wonnevoll.“205

Die Verhältnisse endeten häufig mit dem Verlassen der Pensionate und Haustochterstellen. In diesem Fall ging der älteste Sohn Fritz nach Beendigung seines Studiums für ein Jahr als Hauslehrer nach Bayern, und Frieda Trappenberg ging davon aus, dass sie ihn nicht wiedersehen würde. Da das Verhältnis sich intensiviert hatte, sie aber keinerlei Absicht hegte, diese Beziehung auf Dauer zu stellen, sondern sich vielmehr schon auf eine zweite Haustochterstelle in Eng203

Archiv Landfried, Sign. 10, Frieda Trappenberg an Tony und Selma Klincke, 12. August 1885. 204 Archiv Landfried, Sign. 10, Frieda Trappenberg an Tony Klincke, 19. Januar 1886. 205 Archiv Landfried, Sign. 10, Frieda Trappenberg an Tony und Selma Klincke, 12. August 1885. Gisela Wilkending beschreibt in ihrer Darstellung der Mädchenliteratur zwischen 1850 und dem Ersten Weltkrieg, dass einige Werke voreheliche Beziehungen und die Sexualität junger Mädchen in der Darstellung nicht aussparten. Vgl. Wilkending, Mädchenliteratur, S. 221f., S. 232f.

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land freute, schrieb sie, es sei „ganz gut, wenn er bald geht. Ich bitte hierüber um tiefstes Stillschweigen, und ich weiß ja auch, daß du liebe Töne deine Frieda nicht verrätst.“206 Haustochterstellen waren auch im Kaiserreich wie schon in den Jahrzehnten zuvor nicht als Bildungseinrichtungen konzipiert, sondern dienten der Haushaltsvorbereitung bürgerlicher Mädchen. Anders gestaltete sich dies in den meist exklusiveren Mädchenpensionaten. Tony Klinckes ältere Schwester Selma berichtete aus demselben Darmstädter Pensionat, das auch Tony Klincke später besuchen sollte, dass sie in die Darmstädter bürgerliche Gesellschaft eingeführt wurde und einen Offiziersball207 besucht hatte: „Am Mittwoch Abend war ich von von Schenks zu einem Casinoball eingeladen worden, ich habe mich ganz köstlich amüsiert. Von 7–11 Uhr habe ich getanzt. Die Namen der Offiziere und Lieutnants denen ich vorgestellt bin habe ich wieder vergessen. Die [unleserliches Wort, CG] habe ich mit einem Oberst von Keller getanzt, die Francaise mit einem Leutnant von Bodmer, mit Herrn von Schenk habe ich 5mal getanzt, mit Herrn Carl von Schenk (der Vetter von Anna von Schenk) auch ein paar mal. Ich hatte das Kleid mit der blauen Sammettaille an, meine Granatkette um und ein paar prachtvolle Rosenknospen anstecken. Der Boden des Tanzsaales war so glatt, daß man schliendern mußte um nur nicht hinzufallen. Ich wollte, du hättest diesen herrlichen Abend mit erlebt, es war wirklich zu schön.“208

Viele Pensionate organisierten im Kaiserreich ein ansprechendes Freizeitprogramm für die Mädchen, das Theater- und Konzertbesuche einschloss sowie kleinere Gesellschaften, zu denen die Mädchen einzeln oder in Gruppen eingeladen wurden oder welche sie selbst im Pensionat gaben, wie dies schon in dem Berliner Pensionat der Fall gewesen war, das Mathilde Schniewind von 1869 bis 1870 besucht hatte. Eine weitere Freundin schrieb an Tony Klincke aus einem Pensionat in Wiesbaden, dass sie gemeinsam mit Mit-Pensionärinnen regelmäßig das Theater besuche, in den Ferien sogar zweimal wöchentlich.209 Mit diesen Teegesellschaften, Soireen und Bällen wurden die Mädchen gezielt auf ihre Rolle als potentielle Heiratskandidatinnen vorbereitet, die sich auf Gesellschaften souverän als elegante und kultivierte junge Frauen präsentieren sollten. Tony Klincke besuchte, nachdem sie in Altena drei Jahre lang eine private Höhere Töchterschule absolviert hatte, in Darmstadt ab 1885 für ein Jahr die Victoriaschule, eine öffentliche höhere Mädchenschule, die nicht nur über ein angeschlossenes Mädchenpensionat verfügte, sondern auch über ein ebenfalls an die Schule angeschlossenes Lehrerinnenseminar zur Ausbildung von Volks206 207

Archiv Landfried, Sign. 10, Frieda Trappenberg an Tony Klincke, 1. Oktober 1885. Offiziere waren als Tänzer auch bei bürgerlichen Abendgesellschaften sehr gefragt, als Heiratspartner für Bürgertöchter aufgrund ihrer schlechten Gehälter allerdings weniger. Vgl. Kapitel VI über Einjährige, Militär und Männlichkeit, Teilkapitel 3 und 4. 208 Archiv Landfried, Sign. 10, Selma Klincke an Tony Klinke, o. D., etwa 1883. 209 Archiv Landfried, Sign. 10, Toni (Nachname unbekannt) an Tony Klincke, 1. Oktober 1885 und 8. Januar 1886.

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schul- und Mädchenschullehrerinnen. Die ältere Schwester Selma, die vor ihr das Mädchenpensionat und die Schule besucht hatte, schrieb dazu: „Die deutschen Classiker lesen wir erst im Winter. Montags haben wir französisches Kränzchen, wozu auch noch einige junge Damen aus der Stadt eingeladen werden. Am besten spricht natürlich die Seminaristin, Elisabeth Hölb. Dieselbe wird im August 17 Jahr. Sie macht kommenden Ostern übers Jahr ihr Examen sie bekommt nicht übermäßig viel auf zu lernen, da nur von 8–12 Schule ist, so hat sie ja auch den ganzen Nachmittag Zeit dazu, u. außerdem hat sie des Morgens auch noch eine Stunde Zeit um ihre Arbeiten noch mal durchzusehen. Ob die Ansprüche des Seminars groß sind weiß ich nicht, ich werde Dir später darüber schreiben.“210

Die Seminaristinnen, d. h. diejenigen Schülerinnen, welche das Lehrerinnenseminar besuchten und zum Teil ebenfalls im Mädchenpensionat lebten, bereiteten sich auf eine Berufstätigkeit als Lehrerin vor, während Selma und Tony Klincke die öffentliche höhere Mädchenschule und das Mädchenpensionat als Vorbereitung auf Eheschließung und Familienleben nutzten. Dennoch hatten ihre Eltern offenbar Wert auf eine qualitativ hochwertige Mädchenbildung gelegt, denn Tony Klincke schrieb ihrem Vater mehrere lange Briefe, in denen sie wie in dem folgenden Brief über ihren Unterricht und die Lehrervorträge in Form eines Lernberichts referierte: „Du wünschest, lieber Papa, daß ich Dir mal einige Mitteilungen über die Vorträge in der Victoriaschule machen möchte. […] Sehr interessant u. angenehm ist es dagegen daß der Herr Director uns immer einiges von dem betreffenden Dichter in der eigentlichen alten Form vorliest. – Diese Zeit bis zu 1748 ist einer der trübsten Perioden unserer deutschen Literatur. Nur ¼ der sämmtlichen Einwohner Deutschlands waren übergeblieben nach dem 30jährigen Kriege; alles war elend u. verkommen. […] In der Lese Stunde haben wir mit Lessings ‚Nathan der Weise‘ begonnen. Zuerst sprach der Herr Director natürlich im allgemeinen über das Stück. – Er sagte daß Lessing uns durch seinen Nathan hat zeigen wollen, daß es auf das Dogma nicht ankommt, sondern wie der Mensch sich in seinem Leben bewährt. […] Er weicht darin von seinen eigenen Regeln in Bezug auf den Bau eines Dramas ab […], es ist vielmehr ein Seelengemälde. […] Göthes Tasso ist auch kein gewöhnliches Drama. – Der Grund warum gerade ein Jude Gegenstand der Bewunderung in dem Stück ist, liegt darin, zu beweisen, daß die Christen nichts vor dem Judenthum voraus haben. – So weit sind wir mit Nathan bis jetzt gekommen; wenn es dich interessiert, lieber Papa, werde ich noch mehr darüber schreiben, falls der Herr Dir. uns mehr davon sagen sollte. – Über die Vorträge in Poetik werde ich nächstes Mal schreiben.“211

Dass der Schuldirektor männlich war, lag vermutlich an der Überfüllungskrise im akademischen Lehramt für die Knabenschulen in den 1880er Jahren, so dass viele männliche Lehrer zunächst ein Auskommen als Lehrer an höheren Mädchenschulen suchten. Da diese Schulen aber eine Erziehung und Bildung zu kultivierter Weiblichkeit anstrebten, wurde männlichen Schuldirektoren öffentlicher Mädchenschulen per amtlichen Erlass eine weibliche Leitungsassistenz an 210 211

Archiv Landfried, Sign. 10, Selma Klincke an Tony Klinke, o. D., etwa 1883. Archiv Landfried, Sign. 23, Tony Klincke an Hermann Klincke, 27. Januar 1886.

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die Seite gestellt.212 Das der Victoriaschule angeschlossene Mädchenpensionat wurde ohnehin von einer Frau geleitet. Der Schuldirektor besaß offenbar über die Leitung einer Mädchenschule hinausreichende berufliche Ambitionen. So schrieb er zu Gotthold Ephraim Lessings Geburtstag in einer Zeitungsbeilage der überregionalen Frankfurter Zeitung einen Artikel und forderte die Schülerinnen augenscheinlich mit anspruchsvollem Literaturunterricht heraus.213 Da auch die Eltern dies wünschten, regte sich bei Tony Klincke anders als bei Gertrud Colsman und Mathilde Schniewind kein Widerstand gegen den Unterricht. Gleichzeitig wurde im gemeinsamen Pensionatsleben für die Mädchen deutlich, dass die Bildungsverläufe und Lebensideale je nach Herkunftsmilieu unterschiedlich sein konnten. Die Seminaristinnen arbeiteten auf ihr Lehrerinnenexamen hin, die anderen Pensionärinnen besuchten Bälle und wurden in die Gesellschaft eingeführt. Alle gemeinsam erhielten aber auch ein durch das Pensionat organisiertes Freizeitprogramm, das der Gemeinschaftsbildung dienen sollte: „Am Donnerstag Abend um 8 Uhr machten wir uns auf die Beine, und gingen wir gleich in den Wald (eine ganze Gesellschaft), nachdem wir einige Zeit gegangen waren und es anfing dunkel zu werden fanden und fingen wir die ersten Glühwürmchen, gleich lösten wir alle unser Haar auf und setzten uns die Thierchen hinein, da es bereits dunkel war so sahen dieselben grade wie Diamanten aus. Da meine Pensionsschwestern alle schwarze Haare haben, und ich die einzige war die hellblond ist, so wurde ich Preziosa genannt. Nachdem wir auf einem freien Platz (hoch auf dem Berge) angelangt waren auf welchem ein reizender Tempel stand, wurde die mitgebrachte Laterne angezündet und dann lustig darauf losgetanzt, der Mann, von Fräulein Thomas Freundin Herr Anton spielte auf einer Flöte dazu, es war wirklich feenhaft. Bei Mondschein und Laternenbeleuchtung mit aufgelöstem Haar, dazu die lockenden Töne einer Nachtigall und Flöte des Abends um 10 Uhr im Walde zu tanzen, etwas schöneres habe ich beinah noch nicht erlebt. Um 12 Uhr kamen wir dann tot müde wieder zu Hause an. Herrliche Partien nicht wahr?“214

Unabhängig von solchen inszenierten Gemeinschaftserlebnissen begann sich bürgerliche Mädchenbildung gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu differenzieren: in ästhetische Bildung ohne Berufsnot für gutsituierte Milieus und in berufsrelevante Bildung mit staatlichem Qualifikationsnachweis für diejenigen bürgerlichen und mittelständischen Milieus, die eine Versorgung eventuell unverheirateter Töchter nicht dauerhaft gewährleisten konnten.215 Das Eine wie das Andere konnte emanzipativ gestaltet werden. Mädchen mit guten Fremdsprachenkenntnissen und häufig internationaler, bürgerlicher Sozialisation konnten sich ebenso gut von klassischen Frauenrollen lösen wie junge Frauen mit seminaristischer Lehrerinnenausbildung oder nach der Jahrhundertwende 212

Vgl. Kraul, Höhere Mädchenschulen, S. 285; Zymek/Neghabian, Sozialgeschichte und Statistik des Mädchenschulwesens, S. 32f. 213 Vgl. Archiv Landfried, Sign. 23, Tony Klincke an Hermann Klincke, 13. Februar 1886. 214 Archiv Landfried, Sign. 10, Selma Klincke an Tony Klincke, o. D., etwa 1883. 215 Vgl. Zymek/Neghabian, Sozialgeschichte und Statistik des Mädchenschulwesens, S. 29f.; Kuhn, Familienstand: ledig, S. 39ff.

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mit akademischem Studium. Dass Mädchen aus dem Wirtschaftsbürgertum zunächst nur in geringer Zahl unter den Studentinnen anzutreffen waren, bedeutete deshalb nicht, dass sie ab dem späten Kaiserreich ihr Leben nicht auch nach eigenen Lebensidealen zu gestalten begannen, wie nachfolgend gezeigt wird.

4. Nach 1900: Neue Perspektiven für Mädchen Um die Jahrhundertwende änderte sich der Sozialisationsrahmen für bürgerliche Mädchen deutlich. Neue Möglichkeiten für junge Frauen taten sich auf. Berufsfelder, insbesondere im öffentlichen und privaten Fürsorge- und Bildungsbereich, begannen sich auch für Frauen zu öffnen, und die rasant anwachsenden und sich vervielfachenden Großstädte schufen sichtbare alternative Lebensformen auch für Frauen. Dies reichte von dem Besuch von Cafés oder Restaurants in einer Frauengruppe ohne männliche Begleitung über eine eigene Wohnung oder das Zusammenleben mit einer Freundin bis zu einer Berufstätigkeit. Die Lebensideale wurden vielfältiger, bürgerliche Mädchen aller Milieus und auch die Töchter des neuen und alten Mittelstandes, d. h. die Töchter unterer und mittlerer Beamter und Angestellter, kleinerer Kaufleute und Handwerker, konnten sich ab der Jahrhundertwende in pluraleren Sozialisationskontexten bewegen und sich mit einiger Aussicht auf Realisierung an neuen Rollenvorbildern orientieren: Studentin, anschließend Lehrerin, Ärztin, Rechtsanwältin oder Forscherin; selbstständige Hutmacherin, Schneiderin oder Fotografin, Künstlerin oder Kunsthandwerkerin, technische Assistentin in der Industrie u.v.m.; es gab die ersten Abteilungsleiterinnen großer Unternehmen.216 Zwischen der Jahrhundertwende und dem Ende des Ersten Weltkriegs wurden die Lebensideale und Lebensformen junger Frauen auch in der Unternehmerfamilie Colsman diversifizierter. Die Versendung in ausländische Mädchen216

Vgl. dazu exemplarisch Groppe, Bildung, Beruf und Wissenschaft: Erika Schwartzkopff, verh. Wolters, S. 186ff., sowie den gesamten Band „Frauen um Stefan George“, hrsg. von Oelmann/Raulff. Der Band enthält zahlreiche Biographien von Frauen im Kaiserreich, die nicht mehr dem Ideal der Hausfrau und Mutter entsprachen. Auch das Recht nahm die sich verändernden gesellschaftlichen Rollen auf und schuf ab 1900 im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) den Status der mit einundzwanzig Jahren volljährigen und voll geschäftsfähigen, alleinstehenden Frau. Verheiratete Frauen standen im BGB weiterhin unter der rechtlichen Vormundschaft des Ehemannes, z. B. hinsichtlich Wohnort, Führung des Haushalts, Erziehung, Schul- und Berufswahl für die Kinder, Verwaltung und Nutznießung des von der Frau in die Ehe eingebrachten Vermögens, auch wenn das Arbeits- und Handelsrecht individualistisch war, d. h. es war auf den Vertragsschluss mit einer (weiblichen) Person ausgerichtet. Einspruchsrechte des männlichen Ehepartners waren nicht erwähnt, waren aber durch das Familienrecht im BGB existent. Vgl. BGB 1896, in Kraft getreten am 1. Januar 1900, §§ 1353–1363. Vgl. auch Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1, S. 46, S. 74.

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pensionate blieb zwar weiterhin ein wichtiger Faktor in der weiblichen Sozialisationsordnung, aber die Möglichkeiten alternativer Lebensplanung für die Zeit danach stiegen.217 Am Beispiel Elisabeth Colsmans (1892–1976), der einzigen Tochter Paul Colsmans und Elisabeth Barthels’, lässt sich das zeigen: Sie besuchte zunächst sechs Jahre lang, von 1902 bis 1907, die private Höhere Töchterschule in Langenberg.218 Dass die dortige Schulbildung für die Tochter nicht besonders herausfordernd war, war auch ihrem Vater bewusst: „Elisabeth II wandert langsam & behaglich durch die mit mancherlei Mängel behaftete hiesige Töchterschule.“219 Von 1907 bis 1909 besuchte sie das Mädchenpensionat Diesterweg in Bonn.220 Im Anschluss daran wurde sie von den Eltern für ein Jahr ins Londoner Westend geschickt, als Haustochter einer mit dem Vater bekannten Familie. Für Paul Colsman gehörte ein Haustochterjahr, möglichst im Ausland, noch dazu; die Ausbildung seiner Tochter war für ihn erst mit dem Erlernen der Hauswirtschaft abgeschlossen, weshalb „Papa lebhaft dagegen ist, sie [die Tochter Elisabeth, CG] mehr als ein paar kurze Monate hier [zuhause] zu haben, sondern erst ihre Ausbildung fertig sehen will. Er besuchte vor vierzehn Tagen in Kensington, London W., eine Dame deren Mann Advokat ist, und die einzelne junge Mädchen aufnimmt, und in alles Gewünschte einführt: Ich habe von verschiedenen Stellen mündlich und schriftlich die beste Auskunft über den Aufenthalt bekommen […].“221

Nach ihrer Rückkehr aus London 1910 heiratete die junge Frau zunächst nicht. 1914 wurde sie wie viele junge bürgerliche Frauen Lazarettschwester zur Versorgung der Kriegsverwundeten.222 Sie begann im Frühjahr 1915 in einem Krankenhaus in Barmen eine Krankenschwesterausbildung und bestand im Sommer 1916 ihr Examen zur staatlich geprüften Krankenschwester.223 Sie arbeitete anschließend in einem Kriegslazarett in Kettwig bei Essen für Schwerverwundete, nicht weit von ihrer Heimatstadt Langenberg, und schrieb von dort Briefe an ihre Mutter, aus denen hervorgeht, dass sich die Vierundzwanzigjährige durch die Berufsarbeit von ihrem Elternhaus zu lösen begann und ein anderes Verständnis der Frauenrolle in der Gesellschaft entwickelte: „Heute Abend oder morgen kommt der erwartete Transport [der Verwundeten, CG]. 217 218 219 220

221 222

223

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Die Ambivalenzen der Entwicklungen und die männliche Gegenwehr betonend Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben, S. 247ff. Vgl. Archiv WHC, Sign. 46, Familienchronik Paul und Elisabeth Colsman, 1880–1931. Archiv WHC, Sign. 2, Paul Colsman an Peter Conze, 26. September 1904. Archiv WHC, Sign. 46, Familienchronik Paul und Elisabeth Colsman, 1880–1931. Dieses Pensionat war unter rheinisch-westfälischen Unternehmerfamilien sehr bekannt und beliebt. Vgl. dazu Soénius, Wirtschaftsbürgertum, S. 129ff. Archiv WHC, Sign. 70, Elisabeth Colsman an ihren Sohn Wilhelm Colsman, 26. Februar 1909. Lazarettschwestern bildeten zwei Fünftel des gesamten Sanitätspersonals im Ersten Weltkrieg. Sie kamen aus den Diakonissen-Mutterhäusern und aus den Häusern des Roten Kreuzes. Es handelte sich vielfach um junge bürgerliche Frauen. Vgl. Mommsen, Bürgerstolz und Weltmachtstreben, S. 718. Vgl. Archiv WHC, Sign. 46, Familienchronik Paul und Elisabeth Colsman, 1880–1931.

Von freien Nachmittagen oder ähnlichem kann keine Rede sein. […] Wenn ich mal Zeit habe, telephoniere ich mal […].“224 Arbeit, auch wenn diese zunächst der weiblichen Hilfstätigkeit im Krieg zugerechnet wurde, wurde Teil der Sozialisationserfahrung Elisabeth Colsmans wie auch vieler anderer junger Frauen: „Es fehlt auch an Schwestern, und daher ist die Arbeitseinteilung ziemlich kompliziert. Es sind nur schwer Verwundete da. Das heißt, sie sind weniger schrecklich anzusehn, als man sich denkt, doch liegen alle zu Bett, was viel Arbeit macht, besonders durch die kleinen unübersichtlichen Zimmer. […] Heute Abend oder morgen kommt der erwartete Transport. Von freien Nachmittagen oder ähnlichem kann keine Rede sein.“225

Die junge Frau präsentierte sich gegenüber ihrer Mutter selbstbewusst und selbstständig, positionierte sich zu ihr in dem Brief in einer gleichrangigen Position und beschrieb ihr ihre sowohl patriotische als auch familienorientierte Sicht auf die Freiwilligenmeldung ihres Bruders: „Wieviele gute Wünsche hat man auf dem Herzen, doch sind es im Grunde ja nur die, die jedes deutsche Herz bewegen. An die Mutterherzen werden wohl die größten Anforderungen gestellt. […] Ich kann es Dir so gut nachfühlen, daß es Dir schwer wird Paul ziehen zu lassen;226 gerade ihn, der vielleicht besonders der elterlichen Sorge noch bedurfte. Aber er wird sich gewiß durchbeißen, er hat schon das Zeug dazu, und gesund und stark ist er ja auch.“227

Im selben Brief beschrieb sie ihrer Mutter, die selbst niemals berufstätig gewesen war, in aufschlussreichen Formulierungen ein Treffen mit ihrem Vater Paul Colsman im Kettwiger Lazarett: „Es tat mir leid, daß ich für Vater nur so wenig Zeit hatte, aber morgens drängen die Geschäfte immer sehr. Doch kann er sich ja wenigstens eine Vorstellung von dem Anwesen hier machen. Der Oberschwester hatte es so imponiert, daß er gefragt hatte, ob ich auch ordentlich arbeite. Sonst seien die Eltern immer nur besorgt, ob ihre Kinder nicht überanstrengt würden.“228

Dass Geschäfte drängten und wenig Zeit für die Familie blieb, war bislang ein klassisches männliches Argument und mit der männlichen Rolle in der Gesellschaft verknüpft gewesen. Nun formulierte dies eine junge Frau mit denselben Worten, und auch ihr Vater hatte ihre Tätigkeit nach ihrer Aussage als Arbeit und nicht als Pflege, Hilfe o. Ä. bezeichnet.

224 225 226 227 228

Archiv WHC, Sign. 184, Elisabeth Colsman an ihre Mutter Elisabeth Colsman, 9. November 1916. Archiv WHC, Sign. 184, Elisabeth Colsman an ihre Mutter Elisabeth Colsman, 9. November 1916. Der zweitälteste Sohn Paul hatte sich im Herbst 1916 freiwillig gemeldet. 1917 kam er an die Westfront. Vgl. dazu Kapitel VII über den Ersten Weltkrieg. Archiv WHC, Sign. 184, Elisabeth Colsman an ihre Mutter Elisabeth Colsman, 18. November 1916. Archiv WHC, Sign. 184, Elisabeth Colsman jun. an ihre Mutter Elisabeth Colsman, 18. November 1916.

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Nach dem Krieg schloss sich für Elisabeth Colsman in der Mitte der 1920er Jahre eine Ausbildung in der Berliner Kunstschule von Albert Reimann an. Diese vor dem Ersten Weltkrieg gegründete private „Kunst- und Kunstgewerbeschule“ hatte von Beginn an auch junge Frauen zugelassen, bildete in den 1920er Jahren in sämtlichen Kunstgewerben aus und bezog sich insbesondere auf die neuen Gewerbezweige der Großstädte. So gab es Ausbildungen in Modezeichnen, Textilentwurf, Plakatkunst, Schaufensterdekoration, Bühnenbildgestaltung, Malerei und Plastik, Fotografie und Film.229 Vier Jahre lang verbrachte Elisabeth Colsman den Großteil des Jahres in Berlin an der Kunstschule, zweimal unterbrochen von Aufenthalten zur weiteren Ausbildung in den Wiener Werkstätten. Neben Textilentwurf und -gestaltung hatte sie sich auch zur Buchbinderin ausbilden lassen. In den zwanziger Jahren besaß sie zusammen mit einer weiteren Frau eine kleine Werkstatt in Berlin, in der sie eigene Textilentwürfe zu Batiken verarbeitete und auf Messen verkaufte. 1931 heiratete sie mit neununddreißig Jahren einen Berliner Pfarrer und lebte seitdem mit ihm in Berlin.230 Auch eine Tochter Emil und Mathilde Colsmans entwickelte um die Jahrhundertwende weitreichendere Ambitionen als nur die der Haushaltsführung und Familienarbeit. Marie-Helene Colsman (1889–1960) besuchte im Anschluss an die Höhere Töchterschule kurz nach der Jahrhundertwende für ein Jahr das exklusive Pensionat Montmirail in der Schweiz, einem von der Herrnhuter Brüdergemeine unterhaltenen, großen Mädchenpensionat mit etwa siebzig internationalen Pensionärinnen. Der gesamte Schulunterricht wurde dort auf Französisch erteilt und mit den Eltern in Stundenumfang und Fächerwahl individuell vereinbart. Er umfasste mit Französisch, Deutsch, Englisch, Geschichte, Geographie, Rechnen, Naturkunde, Zeichnen, Malen, Chorsingen, Turnen und Handarbeiten den klassischen Kanon der Mädchenbildung.231 Nach einer kurzen Rückkehr ins Elternhaus absolvierte Marie-Helene Colsman eine Ausbildung zur Krankenpflegerin in der Kaiserswerther Diakonie.232 1909 ging sie 229 230

Vgl. Kuhfuss-Wickenheiser, Die Reimann-Schule, S. 33ff., S. 40ff. Zu den Ausbildungsstationen von Elisabeth Colsman vgl. Archiv WHC, Sign. 46, Familienchronik Paul und Elisabeth Colsman, 1880–1931. Die Information, dass Elisabeth Colsman zeitweise eine eigene Werkstatt besaß, verdanke ich ihrer Tochter Hildegard Meumann. 231 Vgl. Archiv ACE, Sign. VII,32, Werbebroschüre des Instituts Montmirail, Schweiz, o. J., circa 1910. Im Anschluss an das Pensionatsjahr konnten die Schülerinnen auch noch ein Haushaltsjahr im Pensionat absolvieren, was Marie-Helene Colsman aber nicht tat. Viele etablierte und vermögende Schweizer Familien schickten ihre Töchter ebenfalls dorthin. Vgl. Blosser/Gerster, Töchter der guten Gesellschaft, S. 188. 232 Auch Agnes Colsman (1880–1941), die Tochter von Andreas Colsman, Teilhaber von Gebrüder Colsman, und seiner Frau Laura, absolvierte eine Krankenschwesterausbildung, bevor sie 1912 heiratete. Sie trug Reformkleidung, d. h. lose fallende Gewänder ohne stützendes Korsett. Vgl. Archiv Landfried, Sign. 47, Festschrift zur Hochzeit von Agnes Colsman und Otto Blank am 4. Januar 1912. Zur ambivalenten Bedeutung der Diakonissentätigkeit in Bezug auf die Frauenemanzipation vgl. Kuhn, Familienstand: ledig, S. 54ff.

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nach Danzig und arbeitete dort als Krankenschwester. Im Ersten Weltkrieg war sie als Lazarettschwester in Berlin und in Konstantinopel im Osmanischen Reich tätig. Nach dem Krieg arbeitete sie kurzzeitig als Sekretärin für die 1919 gegründete Schweizer Gesellschaft für Psychoanalyse in Zürich. An der Berliner Letteschule absolvierte sie anschließend eine Ausbildung zur Fotografin.233 Der Lette-Verein firmierte seit seiner Gründung 1866 als „Verein zur Förderung der Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts“ als Organisator und finanzieller Unterstützer qualifizierter Ausbildungen für junge Frauen aus Mittelstand und Bürgertum. Wilhelm Adolf Lette, der wichtigste unter den Vereinsgründern, wollte die ökonomische Selbstständigkeit alleinstehender Frauen durch eine Berufstätigkeit fördern. Der Verein finanzierte Schulen und Ausbildungsstätten, beispielsweise für Köchinnen, Handarbeitslehrerinnen und Bürofachkräfte. Seit 1890 unterhielt der Lette-Verein auch eine fotografische Lehranstalt, nach dem Ersten Weltkrieg kamen auch technische Berufe hinzu; auch in weiteren neuen gewerblich-technischen Berufen wurden Frauen durch den Lette-Verein ausgebildet, nach dem Ersten Weltkrieg zum Beispiel als medizinisch-technische Assistentin und als Chemielaborantin. Bereits in den 1870er Jahren besaß der Lette-Verein in Berlin ein eigenes Haus für eine Gewerbeschule und mit Wohnräumen für Schülerinnen, nach der Jahrhundertwende errichtete er mehrere eigene Gebäude, in denen die Ausbildungen stattfanden.234 Marie-Helene Colsman arbeitete anschließend als Fotografin in Tilsit, bis sie 1926, mit siebenunddreißig Jahren, einen habilitierten Mediziner heiratete, der 1928 eine Professur an der Universität in Greifswald erhielt und mit dem sie seitdem in Greifswald lebte.235 In diesen beiden Biographien deuten sich neue Konturen weiblicher Lebensläufe im 20. Jahrhundert an. Für die meisten bürgerlichen Frauen blieben Eheschließung, Familienarbeit und Kindererziehung zwar weiterhin der Normalentwurf der weiblichen Lebensform, und dies bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein. Aber die Möglichkeit einer anderen Lebensplanung war nach dem Ende des 19. Jahrhunderts durch die Öffnung von Berufsfeldern und durch das Frauenstudium gegeben, die Arbeitswelt des Kaiserreichs veränderte sich sukzessive zugunsten einer qualifizierten weiblichen Berufstätigkeit.236 Damit verbunden war die Chance wirtschaftlicher Unabhängigkeit und 233

Auch Agnes Colsman hatte um 1906 an der Berliner Letteschule eine Ausbildung absolviert. Leider ließ sich nicht mehr rekonstruieren, welche Ausbildung sie dort absolvierte. Vgl. Archiv Landfried, Sign. 45, Peter Lucas Colsman an seine Söhne, 16. Februar 1906. 234 Zum Lette-Verein vgl. Obschernitzki, Der Frau ihre Arbeit, S. 1ff., S. 19ff., S. 109ff., S. 122ff. 235 Biographische Informationen zu Marie-Helene Colsman aus: Nachrichtenblatt der Familie Colsman, Jg. 30, 1961, Nachruf Marie-Helene Steinhausen, S. 2f. 236 Parallel verrichteten viele Frauen im bäuerlichen Milieu ganz selbstverständlich und von den Männern nicht in Frage gestellte Arbeiten, da dies zum Unterhalt der Familien notwendig war. Ebenso verhielt es sich mit den städtischen Arbeiterinnen, für die eine entlohnte Arbeit, zumindest bevor die ersten Kinder kamen, im Kaiserreich selbstver-

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gesellschaftlicher Emanzipation der Frauen. Für sehr viele von ihnen war die Berufsarbeit aber kein Gegenentwurf zu Heirat und Familie, sondern zumeist ein vorauslaufendes Stadium. Dennoch: Qualifizierende schulische Bildung, Berufsausbildung und berufliche Tätigkeit wurden in der zweiten Hälfte des Kaiserreichs für bürgerliche Mädchen erfahrbare Tatsachen im Lebenslauf. Mädchen konnten sich darauf beziehen, das veränderte auch in der Unternehmerfamilie Colsman den Erwartungshorizont und die Qualifikationswege junger Frauen.

5. Fazit und Forschungsperspektiven Die in diesem Kapitel vorgestellten Mädchenjugenden verliefen inner- und außerhalb der Familie unterschiedlich. Wie viele Freiheiten zur Selbstorganisation in Peer Groups ein Mädchen beispielsweise besaß, hing auch in demselben sozialen Milieu stark von Lebensideal, Erziehungsstil und Sozialisationskontext des Elternhauses ab. Wie groß die Freiheitsräume und wie stark die Förderung eigener Interessen der Mädchen im Verhältnis zu familialen Verpflichtungen im Elternhaus sein konnten und wie sich dies im 19. und frühen 20. Jahrhundert entwickelte, kann bislang mangels Forschung für das Bürgertum noch nicht beantwortet werden. Hier besteht ein deutlicher Forschungsbedarf. Fast alle jungen Mädchen aus der hier untersuchten Unternehmerfamilie hatten zudem während der gesamten zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ‚Verhältnisse‘. Sie besaßen Verehrer, trafen sich heimlich mit ihnen und tauschten sich mit Freundinnen darüber aus. Die Eltern gaben den meisten Mädchen genügend Freiräume, um solche Verhältnisse zu unterhalten. Junge Mädchen waren daher nicht völlig unwissend, wenn sie in die Ehe gingen. Die jugendlichen Beziehungen der Geschlechter im Kaiserreich sind jedoch noch weitgehend unerforscht. Solange die Mädchen in den untersuchten Fällen gemeinsam mit den Jungen koedukative Schulen besucht und dort offenbar einen sie intellektuell herausfordernden Unterricht erlebt hatten, waren sie entweder explizit unzufrieden mit dem Bildungsangebot ihrer Pensionate oder fühlten sich zumindest latent unterfordert. Erst nachdem die Mädchenbildung vollständig feminisiert worden war – und dies häufig schon mit Beginn des Elementarunterrichts, weil die höheren Mädchenschulen zumeist auch diesen anboten –, fügten sich die Mädchen mangels anderer Sozialisations- und Bildungserfahrungen in das reduzierte und verweiblichte Bildungsangebot. In der ersten Hälfte des Kaiserreichs war die Mädchensozialisation in der Unternehmerfamilie dadurch zunächst noch ständlich war. Beide Male handelte es sich aber nicht um qualifizierte, mit Ausbildung und Berufsabschluss verbundene Tätigkeiten, sondern um familial erlernte oder im Betrieb angelernte Arbeit.

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stärker als in den Jahrzehnten davor an ein weibliches Rollenideal in Ehe und Familie gebunden worden. Die Haustochterstellen, in denen Mädchen auf die Führung großer Haushalte vorbereitet worden waren, gingen im Kaiserreich bereits vor der Jahrhundertwende in ihrer Bedeutung für die untersuchten Unternehmerfamilien zurück. Die Mädchenpensionate dagegen behielten ihre Bedeutung über die gesamte Zeit des Kaiserreichs hinweg. Die Haustochterstellen waren wie die Schülerpensionen für männliche höhere Schüler ‚Schwellenorganisationen‘, in denen eine Vielzahl an Rollen eingeübt und ausbalanciert werden mussten, die von einer Stieftochter mit Familienanschluss, zahlender Kundin und Gast bis zur Schülerin der Gastmutter und zur Repräsentantin der Herkunftsfamilie reichten. In den Haustochterstellen mussten sich die Mädchen wie ihre Brüder in den Schülerpensionen in komplexen, sowohl universalistisch als auch partikularistisch angelegten, ambivalenten Sozialisationskontexten bewegen. In beiden Fällen waren die Jugendlichen gehalten, Rollenerwartungen selbstständig auszutarieren und dabei eigene Lebensmodelle der Balance zu entwerfen. Im Unterschied zu den Jungen, für welche aus dem Blickwinkel ihrer Eltern und Lehrer die schulischen Leistungen im Mittelpunkt standen, war aber für die Mädchen das Erlernen von familienbezogener Kultiviertheit zentral und die Familie, nicht Beruf und Öffentlichkeit, ihr Orientierungsrahmen. Während die Haustochterstellen in ihrer Bedeutung für die untersuchten Unternehmerfamilien im Kaiserreich zurückgingen, behielten die Mädchenpensionate, insbesondere als im Ausland besuchte Institute, ihre Bedeutung, denn sie sicherten die fremdsprachliche Kompetenz der Mädchen ebenso wie sie Weltläufigkeit herstellten. Die oftmals rein weiblichen Sozialisationsumgebungen der Mädchenpensionate mit ihrem auf ästhetische Bildung und Fremdsprachen ausgerichteten Lehrplan und ihrem curricularen Leitbild einer kultivierten Weiblichkeit waren durch ihre letztlich unklare Zielsetzung in ihrem Entwicklungsangebot allerdings ebenfalls ambivalent. Mädchen sollten Wissen erwerben und gebildet sein; ihr Wissen und ihre Bildung sollten aber nicht mit derjenigen der Jungen konkurrieren, sondern darauf gerichtet sein, anderen, u. a. einem späteren Ehemann, zu gefallen. Ehrgeiz, Leistungen und die Bewältigung intellektueller Herausforderungen waren wenig relevant und stellten die Mädchen vor das Problem, wie sie sich mit dauerhafter Motivation dem Wissenserwerb und der Bildung widmen sollten, wo es doch auf Resultate letztlich nicht ankam. Ob ein Mädchen auf Konzertniveau Klavier spielte oder es soeben zu kleinen Salonstücken brachte, war unwichtig. Im Gegenteil: Ein ‚übertriebener‘ Ehrgeiz war nicht weiblich, denn Frauen sollten den Männern stets den Vortritt lassen. Alle Mädchen der Unternehmerfamilie Colsman und auch die späteren Ehefrauen der Söhne besuchten seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Pensionate außerhalb der Heimatorte. Diese befanden sich zunächst innerhalb der deutschen Staaten, nach der Reichsgründung verlagerten sich die besuchten Pensionate zunehmend ins Ausland. Besonders attraktiv waren für die Töchter international agierender Unternehmer Pensionate, die ein internationales Publikum 367

aufwiesen, also Pensionärinnen beispielsweise aus Frankreich, Italien, England, der Niederlande und der Schweiz beherbergten. Alle in diesem Kapitel vorgestellten Mädchen berichteten in ihren Briefen von ausländischen Mitpensionärinnen. Pensionate boten zum Teil fremdsprachigen Fachunterricht an, also beispielsweise Unterricht in Geographie oder Geschichte auf Französisch, und warben auch damit, dass tageweise nur Englisch oder Französisch im Pensionat gesprochen wurde. Insgesamt wurde auf diese Weise nicht nur die geläufige Konversation in den Fremdsprachen gefördert, sondern es wurden durch das Zusammenleben im Pensionat auch internationale Netzwerke bürgerlicher Frauen gebildet. Auch in den Mädchenpensionaten spielte das Lebensmodell der Balance eine Rolle, als Austarierung von Selbst- und Fremdbestimmung und von Erziehungsinstanzen und Feldern der Lebensführung zueinander. In einem überwiegend weiblichen Sozialisationskontext, bestehend aus dem Zusammenleben mit einer weiblichen Peer Group und mit weiblichen Institutsleiterinnen, sollten die Mädchen einerseits bürgerliche Handlungsorientierungen und Verhaltensformen entwickeln und sich diejenigen Elemente bürgerlicher Bildung aneignen, die kultivierten bürgerlichen Frauen angemessen war. Aber junge Frauen sollten ihr Wissen und Können andererseits nicht für sich selbst, sondern für die Herkunftsfamilie und vor allem für ihre eigene, zukünftige Familie erwerben. Während Erziehung, Bildung und Sozialisation der Jungen auf deren berufliche und gesellschaftliche Selbstständigkeit zielten, standen sie bei den Mädchen sowohl in den Mädchenpensionaten als auch in den Haustochterstellen immer in ‚Bezügen‘. Auf diese Weise entstanden ambivalente Entwicklungskonzepte zwischen Eigenständigkeit und Begrenzung auf die Familie, welche die Mädchen selbsttätig ausbalancieren mussten. Ein gebildetes Mädchen und eine gebildete junge Frau zu sein hieß in bürgerlichen Kontexten, genau über diese Fähigkeit zu verfügen. Dass Mädchen wie Jungen das Elternhaus im Rahmen ihrer Bildungskarrieren und ihrer Sozialisation in der Jugend verlassen sollten, war für die Eltern aller hier untersuchten Familien Bestandteil der Erziehungs- und Sozialisationsordnung für ihre Kinder. Im Gegensatz zu den Jungen, für die sich an die höhere Schule nach dem Erhalt der Einjährig-Freiwilligen-Berechtigung in der Regel die Lehrzeit, dann das Militärjahr und schließlich weitere Berufspraktika im Ausland anschlossen, kehrten die Mädchen aber im Alter von circa siebzehn Jahren zunächst wieder ins Elternhaus zurück. Dort begann dann eine Zeit des Wartens, bis zur von den Eltern wie den jungen Frauen erhofften Eheschließung. Die Artikulation alternativer Lebensideale und deren Umsetzung in die Praxis wurde für bürgerliche Mädchen in dem Moment möglich, in dem sich die Lebenswelt und damit der Sozialisationsrahmen so verändert hatten, dass sich aus einer latenten und richtungslosen Unzufriedenheit mit der weiblichen Bildung konkrete Kritik und neue weibliche Lebensperspektiven entwickeln konnten. Ein solcher ‚Möglichkeitsraum‘ entstand im späten Kaiserreich ab den 368

1890er Jahren durch eine sichtbare Pluralisierung der Lebensformen und das Angebot alternativer weiblicher Rollenvorbilder, von der Lehrerin über die Ärztin und Rechtsanwältin bis zur Abteilungsleiterin in Unternehmen und zur selbstständigen Besitzerin eines Geschäfts. Für die meisten bürgerlichen Frauen, auch in der Unternehmerfamilie Colsman, war die Berufsarbeit aber kein Gegenentwurf zu Heirat und Familie, sondern zumeist ein vorauslaufendes Stadium. Dennoch hatten sich in der zweiten Hälfte des Kaiserreichs für bürgerliche Mädchen der Erwartungshorizont und die Bildungswege pluralisiert, die weiblichen Lebenswege waren variabler geworden. Bürgerliche Mädchen konnten sich darauf beziehen und taten es auch in der Unternehmerfamilie Colsman nach der Jahrhundertwende in wachsendem Maß. So zeigt sich auch für die Mädchensozialisation, dass das Kaiserreich sich deutlich veränderte: Mädchen wurden 1870 anders sozialisiert als 1910, auch wenn die Sozialisationsordnung für die Jugendphase stabil blieb: allgemeinbildende höhere Schule, meist am Heimatort, ein bis zwei auswärtige Pensionatsjahre, manchmal noch eine anschließende Haustochterstelle, dann die vorübergehende Rückkehr ins Elternhaus. Ab dem Ende des 19. Jahrhunderts konnten sich an die Rückkehr aber weitere Bildungs- und Ausbildungsstationen sowie eine zeitweilige Berufstätigkeit anschließen, was in den beiden Jahrzehnten nach der Reichsgründung noch nicht möglich gewesen war; das weibliche Rollenspektrum wurde damit erweitert. Die bildungshistorische Forschung hat sich der Mädchenbildung in Pensionaten und Haustochterstellen bislang so gut wie nicht gewidmet. Weder die „Datenhandbücher zur deutschen Bildungsgeschichte“ noch die verschiedenen Bände des „Handbuchs der deutschen Bildungsgeschichte“ berücksichtigen diese besondere Form weiblicher Erziehung, Bildung und Sozialisation. Wie auch im Falle der Schülerpensionen für Jungen steht die Bildungsgeschichte hier allerdings zunächst vor dem Problem, dass sich die Mädchenpensionate und Haustochterstellen statistisch nur schwer erfassen lassen. Wie die Schülerpensionen müssen Mädchenpensionate und Haustochterstellen aus den Steuer- und Gewerbelisten der Kommunen und aus historischen Adressbüchern der Städte und Gemeinden erhoben werden,237 da die Bildungsstatistik der deutschen Staaten diese als nicht institutionalisierte, private Einrichtungen für Mädchen ebenso wenig erfasste wie die private Unterbringung der Jungen als auswärtige Schüler. Am ehesten lassen sich Anzahl, städtische oder regionale Verteilung und die innere Struktur (Zahl der Pensionärinnen, Leiter und Leiterinnen, Lehrpersonal) der Mädchenpensionate wohl durch Lokalstudien rekonstruieren. Es wäre schon viel gewonnen, wenn die Forschung zunächst einmal mehr über die Rahmendaten dieser Bildungsangebote im 19. und frühen 20. Jahrhundert 237

Darüber hinaus gab es z. B. in Preußen für private Unterrichtsanstalten staatlicherseits festgelegte Kriterien der Zulassung, so dass gegebenenfalls auch Akten des preußischen Innen- und des preußischen Ministeriums der geistlichen, Unterrichts- und MedicinalAngelegenheiten zu konsultieren wären.

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wüsste. Eine besondere Schwierigkeit stellen in diesem Zusammenhang die Haustochterstellen dar, welche in der Regel nur durch mündliche Empfehlungen weitgegeben wurden und vermutlich auch nur zeitweise von den einzelnen Familien oder alleinstehenden Frauen unterhalten wurden. Hier kann vermutlich nur die mühsame Suche in Steuerlisten zum Erfolg führen. Darüber hinaus sind Familienarchive, die sich die historische Forschung zunehmend nutzbar macht, geeignet, mit ihren Brief- und Tagebuchquellen die Erziehung und Sozialisation bürgerlicher Mädchen in solchen Einrichtungen zu analysieren. Aus den Briefen der Pensionärinnen und ihrer Eltern, aus den Entwicklungsberichten der Leiterinnen und Leiter an die Eltern und aus den Werbebroschüren der Pensionate lassen sich die Mädchenpensionate und auch die Haustochterstellen als Sozialisationsinstanz bürgerlicher Mädchen im 19. und frühen 20. Jahrhundert zumindest fallbezogen beschreiben. Nicht zuletzt erweist sich in den in diesem Kapitel analysierten Briefen als sehr auffällig, dass viele englische Pensionärinnen in deutschen Mädchenpensionaten zu Gast waren. Warum dies so war und wie sich dieses deutsch-englische Verhältnis in der privaten Mädchenbildung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts entwickelte, wäre ebenfalls eine bildungshistorische Analyse wert. Schließlich stellt sich die Frage nach der sozialen Herkunft, der sozialen Lage und den Qualifikationen der Pensionatsleiter und -leiterinnen und der Anbieter und Anbieterinnen von Haustochterstellen. Die in diesem Kapitel formulierte These, dass es sich dabei zumeist um unverheiratete und finanziell unzureichend abgesicherte weibliche Adlige mit geerbten Gutshäusern, Pastorenehepaare mit großen Pfarrhäusern und bürgerliche, alleinstehende Frauen, Witwen oder bürgerliche Ehepaare mit entsprechenden Villen, aber ohne auskömmliches monetäres Vermögen handelte, müsste in weiteren Untersuchungen überprüft werden. Bis auf einige Fallgeschichten weiß die Forschung kaum etwas über die Qualifikationen und das Selbstverständnis dieser Personengruppe. Waren sie in ihrer Selbstpräsentation vor allem Lehrer und Lehrerinnen und Erzieher und Erzieherinnen? Oder stellten sie sich auch als erfolgreiche Unternehmer und Unternehmerinnen dar? Wie gingen sie mit spezifischen Problemen ihrer Einrichtungen um, insbesondere mit dem ständigen Lehrerwechsel in den Mädchenpensionaten? Und was geschah mit den deutschen Instituten und Haustochterstellen, als die öffentliche höhere Mädchenbildung mit Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend ausgebaut und dem höheren Knabenschulen gleichgestellt wurde? Bislang weiß die Forschung kaum etwas darüber, wie lange diese Institute und Haustochterstellen noch weiterexistierten und wann sie als Phänomen bürgerlicher Mädchenbildung im 20. Jahrhundert schließlich verschwanden.

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VI. Ein Jahr der Freiheit: Einjährige, Militär und Männlichkeit im Kaiserreich

1. Der Sozialmilitarismus im Kaiserreich als Forschungsproblem Die Söhne der Unternehmerfamilie Colsman absolvierten ihren Militärdienst im Kaiserreich bei exklusiven Garde-Kavallerieregimentern in Berlin und Potsdam: bei den Garde-Ulanen, den Garde-Dragonern oder den Garde-Kürassieren.1 Der sogenannte ‚Einjährig-Freiwilligen-Dienst‘ wurde in ihren Lebensläufen grundsätzlich nach Beendigung der Lehrzeit absolviert, im Alter von etwa zweiundzwanzig Jahren,2 bevor sich weitere Auslandsaufenthalte zur Vollendung der Ausbildung anschlossen. Hervorgegangen war die ‚Einjährig-FreiwilligenBerechtigung‘, d. h. die Berechtigung zu einem nur einjährigen Wehrdienst, aus der 1814 in Preußen vorgenommenen Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Das bedeutete, dass nach Maßgabe der Militärreformer nun die „gleichmäßige Verpflichtung aller waffenfähigen Einwohner, das Vaterland auf der Grundlage innerer Anteilnahme zu verteidigen und in dem Einsatz des Lebens für König und Vaterland eine Ehre zu sehen“,3 zur Basis der militärischen Organisation wurde. Diese ‚innere Anteilnahme‘ wurde jedoch nur sozial gestaffelt abverlangt. Das mit der Einführung der Wehrpflicht für alle männlichen Einwohner über zwanzig Jahre parallel dekretierte Einjährigenrecht war zunächst ein Zugeständnis des preußischen Staates an die Bürger seiner Städte gewesen, die durch die neue Militärgesetzgebung am Anfang des 19. Jahrhunderts mit der allgemeinen dreijährigen Wehrpflicht für alle Bürger des Staates konfrontiert worden waren, von der sie durch das preußische Kantonreglement von 1733 ausgenommen gewesen waren.4 Denjenigen, die als gebildet eingestuft werden konnten und über so viel Besitz verfügten, dass sie sich selbst ausrüsten und verpflegen konnten, wurde das Recht auf einen nur einjährigen und in vielerlei Hin1

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Das Königlich Preußische Gardekorps war in Berlin, Potsdam und Umgebung stationiert und besaß sämtliche Truppenteile. Die Kavallerie des Gardekorps bestand aus Kürassier-, Dragoner-, Husaren- und Ulanen-Regimentern. Als Überblick über den Aufbau und die Truppenteile des Gardekorps vgl. Redlin, Feldzeichen. Die Garderegimenter gehörten zu den vornehmsten und teuersten der gesamten Armee. Vgl. Pröve, Militär, Staat und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, S. 32; Funck, Bereit zum Krieg, S. 80. Der einjährig-freiwillige Militärdienst konnte zu einem Zeitpunkt der Wahl abgeleistet werden, dies galt bis zur Vollendung des dreiundzwanzigsten Lebensjahrs, ausnahmeweise auch bis zur Vollendung des sechsundzwanzigsten Lebensjahrs. Danach verfiel der Anspruch auf einen nur einjährigen Dienst. Ein früherer Dienstantritt war ab Vollendung des siebzehnten Lebensjahres möglich. Vgl. Der Einjährig-Freiwillige und sein Dienst, S. 24f.; Hahn, Der Freiwillige, S. 8. Wohlfeil, Vom Stehenden Heer des Absolutismus zur Allgemeinen Wehrpflicht, S. 116. Vgl. Müller/Zymek, Sozialgeschichte und Statistik des Schulsystems, S. 21.

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sicht bevorzugten Militärdienst eingeräumt. Voraussetzung zum Erwerb der Einjährig-Freiwilligen-Berechtigung war im Kaiserreich die Erteilung eines Berechtigungsscheins durch eine Prüfungskommission nach Vorlage entsprechender Schulzeugnisse oder durch das Ablegen einer schriftlichen und mündlichen Prüfung vor der Prüfungskommission. Der Besuch von Schulen, die aufgrund ihres Lehrplans und ihrer Stellung im Bildungssystem berechtigt waren, wissenschaftliche Befähigungsnachweise der Berechtigung zu einem einjährigfreiwilligen Militärdienst auszustellen, waren für bürgerliche Schüler äußerst wichtig, war der Erhalt des Befähigungsnachweises durch Schulzeugnisse doch deutlich leichter als das Ablegen einer eigenen Prüfung vor einer Prüfungskommission, welcher einige Lehrer der höheren Schulen am Ort als auswärtige Mitglieder angehörten sowie „als ordentliche Mitglieder zwei Stabsoffiziere oder Hauptleute und zwei Mitglieder der Zivilverwaltung“.5 Nicht zuletzt aufgrund dieses Zusammenhangs klagten die höheren Schulen im Kaiserreich über die Vielzahl von Schülern, die sich nur ihren Berechtigungsschein ‚ersitzen‘ wollten.6 Den wissenschaftlichen Befähigungsnachweis für das einjährig-freiwillige Militärjahr und damit de facto die Berechtigung dazu, falls nicht gewichtige Gründe für eine Verweigerung oder finanzielle Hürden auf Seiten des Bewerbers vorlagen,7 durften nach der Wehrordnung von 1875 alle gymnasialen Vollanstalten ausstellen. Es genügte die erfolgreiche Versetzung in die Klasse 11 (Obersekunda), ebenso bei den Realschulen 1. Ordnung. Siebenjährige Progymnasien (Gymnasien ohne Unter- und Oberprima), Provinzialgewerbeschulen und siebenjährige Höhere Bürgerschulen durften den wissenschaftlichen Befähigungsnachweis ebenfalls ausstellen, sechsjährige Höhere Bürgerschulen mussten eine eigene Entlassungsprüfung vornehmen. Für einen kurzen Zeitraum (1892–1900) musste zusätzlich am Ende der Untersekunda an allen Pround Vollanstalten eine Prüfung abgelegt werden, danach nur noch an den inzwischen generell auf sechs Jahre verkürzten Proanstalten.8 Wenn sich die Gelegenheit geboten hatte, war im ersten Drittel des 19. Jahrhundert in der Unternehmerfamilie Colsman vor dem Hintergrund der zu dieser Zeit vielfach vorhandenen bürgerlichen Distanz zum Militär noch versucht worden, durch Untauglichkeitsnachweise den Militärdienst trotz erhaltener Einjährig-Freiwilligen-Berechtigung zu vermeiden. Sowohl August Colsman (1805–1832) als auch Eduard Colsman (1812–1876) wurden auf Betreiben des Vaters und durch Intervention des Langenberger Bürgermeisters als untauglich ausgemustert.9 Die Söhne sollten so schnell wie möglich in die Berufslaufbahn 5 6 7

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Müller/Zymek, Sozialgeschichte und Statistik des Schulsystems, S. 24. Vgl. Messerschmidt, Die politische Geschichte der preußisch-deutschen Armee, S. 92f. In Preußen erhielten zwischen 1890 und 1895 547 von 764 Bewerbern den Berechtigungsschein, zwischen 1900 und 1904 736 von 989, also jeweils über 70% der Bewerber. Vgl. Schmidt-Richberg, Die Regierungszeit Wilhelms II., S. 58. Vgl. Müller/Zymek, Sozialgeschichte und Statistik des Schulsystems, S. 24f.; Messerschmidt, Die politische Geschichte der preußisch-deutschen Armee, S. 93ff. In Köln wurden 1816/17 51% der Wehrpflichtigen ausgemustert. Auf dem Rheinischen Provinziallandtag 1843 hatte ein Abgeordneter der Ritterschaft dem bürgerlichen

eintreten, der einzuschiebende Militärdienst war lediglich eine Störung vor dem Eintritt in die Familienunternehmen oder in einen anderen Beruf. Kamen die Unternehmersöhne nicht um den Militärdienst herum, so nahmen sie diesen im ersten Drittel des Jahrhunderts noch nicht als bedeutsame Sozialisationsinstanz wahr. Der Dortmunder Unternehmersohn Moritz Mallinckrodt berichtete seinem Freund Eduard Colsman 1835 über seinen einjährigen Militärdienst in Wesel: „Du willst wissen, wie ich hier meine Zeit anwende? […] Morgens zuweilen einige Stunden exerciren, Nachmittags Vergnügungen und eine Stunde thematischen Unterricht beim Lieutnant. Abends bei einem meiner Freunde. Hiebei vergesse ich aber doch nicht mitunter ein französisches Buch zur Hand zu nehmen […] und so vergehen mir hier die Tage recht schnell und angenehm. Ich betrachte mein Dienstjahr als eine Erholung von der Arbeit, wo man sich neue Kräfte zu neuer Arbeit sammelt.“10

Ab den 1850er Jahren absolvierten dann alle jungen Männer der Unternehmerfamilie Colsman ihren Militärdienst als Einjährig-Freiwillige; die meisten von ihnen wurden anschließend zudem Reserveoffiziere. An ihren Fällen wird in diesem Kapitel diskutiert, ob sich die Militär- und Reservistenzeit als Grundlage dessen kennzeichnen lässt, was Hans-Ulrich Wehler und andere den Sozialmilitarismus im deutschen Kaiserreich nennen: „Militärische Gewohnheiten drangen im Deutschen Kaiserreich immer tiefer in das tägliche Leben ein: der Kommandoton und das Strammstehen, die herablassende Behandlung des Bürgers durch den Offizier, des ‚Publikums‘ durch den Subalternbeamten mit der ‚Zwölfender‘-Vergangenheit eines Berufssoldaten. Im Verhaltensstil, in der Sprache und Denkweise wurde die Dominanz des Militärs bereitwillig akzeptiert, imitiert und verinnerlicht. Seine Werte und Normen rückten an die Spitze der Ansehensskala. […] Der übermäßigen Hochschätzung des Militärs entsprach das zur Devotion neigende Unterlegenheitsgefühl des Zivilisten.“11

Deutlich habe dieser Sozialmilitarismus – also die politisch ermöglichte und gesellschaftlich akzeptierte Vorrangstellung des Militärs, die soziale Unterordnung unter militärähnliche Befehl- und Gehorsamsstrukturen, zum Beispiel in Institutionen, und die zivile Übernahme militärischer Denkformen und Handlungsorientierungen12 – die Gesellschaft unterminiert, er sei „bis in die letzten

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Abgeordneten und Bankier August von der Heydt aus Elberfeld vorgehalten, dass auf dem ersten Provinziallandtag 1826 offen dargelegt worden wäre, dass noch kein reicher Kaufmannssohn aus Elberfeld, Barmen und Umgebung seiner Militärpflicht genügt hätte. Vgl. Zunkel, Der Rheinisch-Westfälische Unternehmer, S. 86f. Archiv Neuborn, Sign. A 9, Moritz Mallinckrodt an Eduard Colsman, 26. Februar 1835; vgl. zur ähnlichen Haltung des Kettwiger Unternehmers Julius Scheidt 1834/35 Soénius, Wirtschaftsbürgertum, S. 134. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 3, 1849–1914, S. 881f. Ähnlich Wette, Militarismus in Deutschland, S. 75. Zu Militarismus-Definitionen vgl. Pröve, Militär, Staat und Gesellschaft, S. 91ff.; Wette, Für eine Belebung der Militarismusforschung, S. 14; vgl. zur Definition auch Frevert, Gesellschaft und Militär im 19. und 20. Jahrhundert, S. 10, sowie Ziemann, Militarism, S. 369ff.

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Winkel der Mentalität und die verinnerlichten Verhaltensmaximen“ eingedrungen.13 Vergleichbar formulieren dies auch Christa Berg und Ulrich Herrmann für die Bildungsgeschichte und begründen ihre Annahme einer durchgreifenden gesellschaftlichen Militarisierung unter anderem mit deren herrschaftssichernder Funktion als Klammer zentrifugaler Kräfte und Interessen im Kaiserreich, ohne jedoch – wie auch Wehler – mehr als Indizien obrigkeitsstaatlichen, militärbezogenen Handelns zusammenzustellen und mit Wirkungsannahmen zu versehen.14 So seien zum Beispiel militärische Ränge von zentraler sozialer Bedeutung gewesen: „Der Rang eines Reserveleutnants galt dem gebildeten Bürgertum als Ersatznobilitierung, das Institut des Einjährig-Freiwilligen-Dienstes darum als ein entscheidendes Privileg sozialer wie ideologischer Selektion und Segregation.“15 Heinz Stübig ergänzt dies mit einem Verweis auf Karrierechancen im Kaiserreich: „Der Lohn für die Unterwerfung war die Teilhabe an der Macht. Indem der bürgerliche Geschäftsmann Reserveoffizier wurde, partizipierte er am ‚ersten Stand‘ im Staat […].“16 Es scheint jedoch fraglich, ob in der Arbeits- und Leistungsgesellschaft des Kaiserreichs und angesichts von dessen rasantem ökonomischen und industriellen Aufschwung sich ein vermögender Fabrikant, ein Bankier oder ein Professor dem Militär wohl ‚unterworfen‘ hat, d. h. auf bürgerliche Werte und Normen verzichtete, statt dessen militärische übernahm und sich über sein Reserveleutnants-Patent platzierte und definierte.17 Die Ausdifferenzierung und Verselbstständigung der sozialen Felder zu Bereichen mit eigenen Normen und Handlungslogiken im 19. Jahrhundert (Politik, Industrie, Wissenschaft usw.)18 sprechen eher dafür, dass ein solches Patent innerhalb der bürgerlichen Lebensform eine nachrangige Bedeutung besaß: Institutionen und Organisationen übernehmen in modernen, arbeitsteiligen Gesellschaften spezifizierte Aufgaben für diese. Sie regeln solche Aufgaben langfristig und besitzen eine anerkannte, bei Institutionen auch rechtlich geregelte Expertise für ihre Tätigkeiten.19 Sie sind zugleich „Sozialregulationen“, die kollektive Interaktionen in der Gesellschaft verbindlich ordnen und gesell-

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Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 3, 1849–1914, S. 882. Ähnlich auch Reulecke, Mannmännliche Gefühlswelt im jugendbewegten Jungmännerbund, S. 67. Vgl. zur Problematik dieses Forschungsvorgehens kritisch Ziemann, Sozialmilitarismus und militärische Sozialisation, S. 153ff. Berg/Herrmann, Einleitung. Industriegesellschaft und Kulturkrise, S. 13. Stübig, Die preußisch-deutsche Armee, S. 286f. In dieser Ausrichtung auch die Beiträge in Dülffer/Holl, Bereit zum Krieg. Eine solche Annahme findet in den neueren Forschungen zu den Unternehmern und Bildungsbürgern des Kaiserreichs keine Bestätigung, vgl. z. B. Reitmayer, „Bürgerlichkeit“ als Habitus; Kaudelka-Hanisch, Preußische Kommerzienräte. In meinen eigenen Forschungen zum George-Kreis und zu den Universitäten im Kaiserreich lässt sich eine Militarisierung der Interaktionsformen oder der inneruniversitären Sozialisationskontexte ebenfalls nirgends feststellen. Vgl. Groppe, Die Macht der Bildung, passim. Vgl. dazu Kapitel II über Eheschließungen und Ehebeziehungen, Teilkapitel 3.3. Vgl. Senge, Zum Begriff der Institution im Neo-Institutionalismus, S. 35f.

schaftliche Normen und Werte symbolisch festigen.20 Dazu formen sie interne Sozialisationsarrangements und Rollenvorgaben, die verbindlich und sanktionierbar sind21 und welche die Selbstpräsentationen und Handlungsorientierungen der dort tätigen Personen maßgeblich bestimmen. Ein Unternehmer, der im Kaiserreich beispielsweise eine Fabrik mit vielen Arbeitern und Angestellten leitete, oder ein Professor an einer Universität, der mit Studenten arbeitete, regelmäßig wissenschaftlich publizierte und in seinen Laboren experimentierte, dürfte das Reserveoffizier-Patent schwerlich zum Mittelpunkt seines Selbstbewusstseins gemacht haben. Die Sozialisationskontexte und Rollenvorgaben waren im Kaiserreich nicht militarisiert, sondern funktional ausgerichtet auf die Ziele der Institutionen und Organisationen: „Die Gesellschaft ist zunächst bestimmt von Normalität: Arbeit, Berufstüchtigkeit und bürgerlicher Solidität. Sie basiert […] auf Wissen – technischem, ökonomischem, organisatorischem, wissenschaftlichem Wissen – und Können. Das wurde sozial prämiert.“22 Die institutionellen wie gesellschaftsöffentlichen Interaktionsformen waren jedoch, einer Klassengesellschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gemäß, hierarchisch organisiert und beruhten, vergleichbar mit Frankreich, Großbritannien oder den USA derselben Zeit, weit stärker auf Autorität und Anordnung als dies seit den 1960er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland der Fall ist. Schließlich spricht auch die reine Quantität der für den Beruf eingesetzten Zeit gegen ein ‚durchmilitarisiertes‘ Bewusstsein des Bürgertums, nämlich die vielen täglichen Berufsstunden, die zu den wenigen militärischen Reserveübungen in einem krassen Missverhältnis standen: Reserveoffiziere absolvierten in ihrer sechsjährigen Reservistenzeit insgesamt drei vier- bis achtwöchige Militärübungen. Sie mussten darüber hinaus zweimal jährlich an Kontrollversammlungen ihres Landwehrbezirks teilnehmen und sollten nach Möglichkeit bei kameradschaftlichen Offiziersversammlungen ihres Regiments anwesend sein.23 In der auf die Reservistenzeit folgenden Landwehrzeit gab es insgesamt zwei Militärübungen und eine jährliche Kontrollversammlung in den ersten fünf Jahren, danach erfolgte eine vollständige Freistellung. Uniform musste von den Reservisten bei folgenden Anlässen getragen werden: bei den Militärübungen, bei 20 21 22

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Vgl. Rehberg, Institutionen als symbolische Ordnungen, S. 56, Zitat ebd. Vgl. Scholl, Ansprüche an öffentliche Erziehung. Nipperdey, War die Wilhelminische Gesellschaft eine Untertanen-Gesellschaft, S. 175. Ein französischer Beobachter, Victor Tissot („De Paris à Berlin“, 1887), hielt fest, dass sich die Attraktivität der Offiziere für das Bürgertum aufs Tanzen und Repräsentieren beschränkte: „[…] man hat seit einigen Jahren aufgehört, die Bedeutung der Herren Offiziere aus einem ehelichen Blickwinkel zu betrachten, man sieht sie rein und allein als dekorative Erscheinungen. Sie schmücken gut und sind gleichzeitig sehr würdig und amüsant anzusehen. […] Die Karikaturisten werden nicht müde, den Leutnant zu ‚porträtieren‘; sie zeigen ihn in jeder Lage und ziehen ihn bei jeder möglichen Gelegenheit durch den Kakao.“ Auszug abgedr. bei Ulrich/Vogel/Ziemann, Untertan in Uniform, S. 100f. Vgl. von Glasenapp, Handbuch für den Einjährig-Freiwilligen 1895, S. 19ff., sowie von Glasenapp, Handbuch für den Einjährig-Freiwilligen, 3. neu bearb. Auflage 1901, S. 19ff.; Schmidt-Richberg, Die Regierungszeit Wilhelms II., S. 50.

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staatlichen Festen im Beisein des Kaisers, bei Festen und Versammlungen von Militär- und Kriegervereinen, bei Treffen der Offiziere und Reserveoffiziere.24 Zu anderen Gelegenheiten war das Tragen der Uniform freigestellt. Der konkrete Kontakt mit dem Militär war für einjährig-freiwillig Dienende also mit einem Dienstjahr verhältnismäßig kurz und erfolgte auch danach nur zu bestimmten, zeitlich übersichtlichen Anlässen, d. h. zu militärischen Übungen und Meldungen. Gleichzeitig blieb aber jeder Soldat, ob einfacher Mannschaftssoldat oder Offizier, nach seiner Dienstzeit für fünf Jahre Reservist und anschließend Landwehrangehöriger und besaß neben seiner zivilen sozialen Position auch einen militärischen Rang.25 Es ist eine offene Forschungsfrage, inwiefern solche Zugehörigkeit und beispielsweise die Mitgliedschaft in einem Kriegerverein prägend wurden für Selbstpräsentation und Handlungsorientierungen der Einjährigen über das Militärjahr hinaus.26 Die Indizien sprechen eher dagegen.27 24

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Von Glasenapp, Handbuch für den Einjährig-Freiwilligen 1895, S. 20f.; von Maltzahn, Handbuch für den Einjährig-Freiwilligen, S. 69ff. Während des Uniformtragens standen die Reservisten auch unter dem Soldatengesetz. Vgl. Frevert, Die kasernierte Nation, S. 209. Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2, S. 230. Generell bestand nach den Wehrordnungen von 1875 und 1888 für alle Soldaten innerhalb der Wehrpflicht eine siebenjährige Dienstpflicht, eingeteilt in eine aktive Dienstpflicht (drei Jahre) und eine Reservepflicht (vier Jahre) sowie eine anschließende Landsturmpflicht. 1893 wurde die aktive Dienstpflicht auf zwei Jahre verkürzt, die Reserve aber auf fünf Jahre angehoben. Die gesamte Wehrpflicht dauerte nach der Wehrordnung von 1875 vom vollendeten siebzehnten bis zum vollendeten zweiundvierzigsten Lebensjahr, nach der Wehrordnung von 1888 vom vollendeten siebzehnten bis zum vollendeten fünfundvierzigsten Lebensjahr. Die Landsturmpflicht umfasste fünf Jahre in der Landwehr (Wehrordnung 1875) bzw. der Landwehr I. Aufgebots (Wehrordnung 1888), danach folgte die Ersatzreserve I. und II. Klasse (Wehrordnung 1875) bis zum Alter von einunddreißig Jahren bzw. Landwehr II. Aufgebot (Wehrordnung 1888) bis zum Alter von neununddreißig Jahren. Während der ersten Landwehrzeit waren ein bis zwei verpflichtende Übungen vorgesehen, während die Ersatzreserve bzw. die Landwehr II. Aufgebots von Übungen freigestellt war. Vgl. Deutsche Wehr-Ordnung 1875, §§ 4–6, S. 5f.; Deutsche Wehrordnung 1888, §§ 4–6, S. 10ff.; von Glasenapp, Handbuch für den EinjährigFreiwilligen 1895, S. 1f., S. 19ff., sowie 3. neu bearb. Auflage 1901, S. 19ff.; von Maltzahn, Handbuch für den Einjährig-Freiwilligen, S. 535. Vgl. auch Schmidt-Richberg, Die Regierungszeit Wilhelms II., S. 50f. Vgl. zur Historiographie der Kriegervereine im Kaiserreich und ihrer bislang geringen Aussagekraft zum Themenkomplex Sozialmilitarisierung Ziemann, Sozialmilitarismus und militärische Sozialisation, S. 159ff. Vgl. zur Kritik an der These vom Militarismus aus sozialisationshistorischer Sicht insgesamt Ziemann, Sozialmilitarismus und militärische Sozialisation. Ziemann fragt nach der Reichweite von Militarisierungsbestrebungen aus sozialisationshistorischer Perspektive und kritisiert bisherige Forschungsdesigns sowie die Quellenerhebung und -interpretation. Er kommt zu dem Ergebnis, dass bislang „suggestive Plausibilität“ statt akteurszentrierter Überprüfung dominiere und der „makrosoziologische Erklärungsrahmen“ eine differenzierte historische Sozialisationsforschung ersetze. Ebd., S. 163f. Vgl. ders., Militarism, S. 373f.

Unzweifelhaft hatte das Militär für den männlichen Teil des Bürgertums im Kaiserreich einen überwiegend positiven Stellenwert für ihr Leben, aber „keineswegs waren die bürgerlich städtischen Reserveoffiziere in ihrer Mehrheit eingeschworene Protagonisten des Obrigkeitsstaats wilhelminisch-militärischer Prägung“.28 Ute Frevert verweist zudem darauf, dass die im 19. Jahrhundert wachsende Bedeutung des Militärs für die Lebensläufe der männlichen Zivilbevölkerung für beide Seiten folgenreich war. Das Militär war dadurch keine vom Zivilleben abgeschlossene Institution mehr wie im 18. Jahrhundert, sondern war Teil der Gesellschaft, unterlag ihrer Beurteilung und – über den Reichstag – auch der Budgetierung durch gewählte Abgeordnete.29 Militärskandale wie die Posse um den Hauptmann von Köpenick 1906 oder die Zabern-Affäre 1913 zeigen zudem eine durchaus kritische deutsche Öffentlichkeit.30 Vertreter der Militarisierungsthese argumentieren dagegen, dass lebensweltlich eine „beklemmend-groteske Militarisierung des Alltagslebens“ beispielsweise die „Kinderstube mit Soldatenspiel, Zinnsoldaten, Kanonen, ganzen Garnisonen in Kleinformat“ durchzogen habe. „Trommelwirbel und Säbelrasseln begleiteten jede Denkmalsenthüllung, jede Einweihung oder Eröffnung“.31 Es bleibt aber bei einer makrosozialen Rahmenbeschreibung, deren Bedeutung für den Werte- und Normenhaushalt der Bürgerinnen und Bürger des Kaiserreichs bislang nicht nachgewiesen ist und deren Geltung für ihre Sozialisationsprozesse fraglich erscheint.32 So finden sich beispielsweise in den Briefen aus der Unternehmerfamilie Colsman über die gesamte Zeit des Kaiserreichs hinweg – jenseits der militärbezogenen Korrespondenz im Einjährig-Freiwilligen-Jahr – keine Hinweise auf militarisierte Sozialisationskontexte in der Familie, der Schule oder den Peer Groups.33 Dasselbe gilt beispielsweise auch für die Sozialisationsprozesse der jungen Akademiker und Wissenschaftler des Kreises um den Dichter Stefan George und auch für Stefan George selbst. Auch hier 28 29

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Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2, S. 231. Vgl. Frevert, Das jakobinische Modell, S. 46f.; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866– 1918, Bd. 2, S. 206ff. „Das Budgetrecht hat sich immer mehr im Sinne der Spezialisierung entwickelt, das Parlament kontrollierte und bewilligte auch die Einzelposten der Militäretats, besonders eklatant im Flottenbau – das war zweifellos ein Machtgewinn.“ Ebd., S. 208. Vgl. Bösch, Grenzen des „Obrigkeitsstaates“, S. 146ff.; Ziemann, Der „Hauptmann von Köpenick“. Christopher Clark betont in diesem Zusammenhang auch die zahlenmäßige Stärke der deutschen Friedensbewegung vor dem Ersten Weltkrieg, die weit größer war als in allen anderen europäischen Staaten und mit wiederholten Massenkundgebungen für den Frieden an die Öffentlichkeit trat. Vgl. Clark, Preußen, S. 685. Berg/Herrmann, Einleitung. Industriegesellschaft und Kulturkrise, S. 13. Vgl. dazu kritisch und differenziert Ziemann, Sozialmilitarismus und militärische Sozialisation im deutschen Kaiserreich, S. 153ff. Auch Ute Frevert argumentiert bezüglich der Amalgamierung von Bürgertum und Militär differenziert, wenn auch mit der These einer wachsenden Militäraffinität des Bürgertums im Kaiserreich. Vgl. Frevert, Ehrenmänner, S. 119ff. Vgl. die Analysen in Kapitel III zur frühkindlichen Erziehung und Sozialisation und in Kapitel IV zum Schulbesuch und zur Sozialisation der Jungen.

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gibt es für die Zeitphase des Kaiserreichs keine Indizien einer mentalen Militarisierung und entsprechender Sozialisationskontexte.34 Einige wenige Aspekte, die verdeutlichen sollen, dass der lebensweltliche Sozialisationsrahmen und die konkreten Sozialisationskontexte im Kaiserreich noch weit genauer auf ihre Militarisierung hin befragt werden sollten, mögen an dieser Stelle genügen. So wird beispielsweise der sogenannte Zivilversorgungsschein (die Anwartschaft der Unteroffiziere auf eine untere oder mittlere Beamtenstelle bei Reichs-, Staats- oder Kommunalverwaltungen nach ihrer zwölfjährigen militärischen Verpflichtungszeit35) so interpretiert, dass dadurch die Interaktionsmuster zwischen Bürgern und Behörden nach dem Modell von „Befehl und Gehorsam“ gestaltet worden wären: „Durch die Tätigkeit dieser Staatsdiener wurden nicht nur militärische Äußerlichkeiten, sondern auch militärische Denk- und Verhaltensmuster für das zivile Leben prägend […].“36 Die Zahlen stellen diese Aussage allerdings in Frage, hier am preußischen Beispiel: In den großen Verwaltungen der preußischen Staatsbahnen gab es zum Beispiel in den unteren Laufbahnen 94% zivile Beamte, nur im mittleren Dienst wurde in den „Mittelinstanzen der inneren Verwaltungen“ Preußens insgesamt eine etwa 50%ige Militäranwärterquote erreicht, bei den kommunalen Ämtern und den unteren Justiz- und Steuerbehörden waren sie jedoch wieder in der Minderheit.37 Zudem mussten die Unteroffiziere ab 1909 in ihren letzten beiden Dienstjahren einen besonderen Unterricht für Militäranwärter durchlaufen, der sie auf die zivile Berufspraxis vorbereiten sollte.38 Insgesamt findet sich eine Reihe von Hinweisen, welche die Vorstellung einer durchgreifenden Militarisierung der Zivilbehörden im Kaiserreich fraglich erscheinen lässt. Sonja Levsen hebt die militarisierten Umgangsformen in den Studentenverbindungen des Kaiserreichs am Beispiel Tübingens hervor und ihre Prägekraft für das Männlichkeitsideal und das Rollenverhalten der Studenten. Dazu gehörte ein an Regeln entlang organisiertes Auftreten in der Öffentlichkeit, die Restriktion der Verkehrskreise, ein ritualisiertes Trinken (‚Kneipen‘), ein militärähnlicher Ehrbegriff, ständige Kampfbereitschaft und Mutproben (Mensuren fechten). Im Verlauf des Kaiserreichs hätten soldatischer Habitus und militärische Tugenden wie Disziplin und Unterordnung unter die Regeln einer hierarchisch strukturierten Gemeinschaft an Bedeutung zugenommen.39 Dabei ist 34 35

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Vgl. Groppe, Die Macht der Bildung, passim. Bis 1892 war die Anwartschaft der Unteroffiziere auf die niederen und mittleren Beamtenstellen der Kommunal-, Reichs- und Staatsverwaltungen mit vielen verhindernden Ausnahmen und Sonderregelungen versehen gewesen. So waren 1892 zwar 5.000 Zivilversorgungsscheine ausgegeben worden, aber nur 1.700 Anwärter zur Anstellung gelangt. Erst ab 1900 gab es striktere Regelungen, die aber in der Praxis ebenfalls nicht so durchschlagend waren, wie staatlicherseits gewünscht. Vgl. Schmidt-Richberg, Die Regierungszeit Wilhelms II., S. 97ff. Stübig, Die preußisch-deutsche Armee, S. 283f. Vgl. Ziemann, Sozialmilitarismus und militärische Sozialisation, S. 162f., Zitat S. 162. Vgl. Schmidt-Richberg, Die Regierungszeit Wilhelms II., S. 98f. Vgl. Levsen, Charakter statt Bildung, S. 91, S. 95f.

festzuhalten, dass dieser Kult der soldatischen Männlichkeit überwiegend die Verbindungen betraf, öffentlich waren sie allerdings besonders sichtbar und prägend insbesondere für traditionelle Universitätsstädte. Aber es gab im Kaiserreich viele Studenten, die sich das teure Korporationsleben nicht leisten konnten oder wollten. So war insgesamt nur etwas weniger als die Hälfte der Studenten in einer Verbindung organisiert, in einer Großstadt wie Berlin sogar nur ein Viertel.40 Und die katholischen Studenten im Kaiserreich lehnten Mensuren und Duelle zur Verteidigung der ‚Ehre‘ in ihren Korporationen, welche insgesamt nicht als militarisiert beschrieben werden, klar ab.41 1896 gründeten in Leipzig die Nicht-Korporierten die erste freistudentische Vereinigung als Interessenorganisation der Nicht-Verbindungsstudenten. Diese Freistudentenschaften bildeten wissenschaftliche Abteilungen, boten ein Sport- und Kulturprogramm, schufen Ämter für Wohnungssuche, Arbeitssuche, Bücherbörsen usw. und stellten das wissenschaftliche Studium in den Mittelpunkt ihrer Aktivitäten. „Programm und Struktur der Freistudentenschaft waren daher eine unverhüllte Kampfansage an den Korporatismus sowie an den antisemitischen Nationalismus“.42 Die Verbindungen prägten zwar das öffentliche Erscheinungsbild der deutschen Studentenschaft im Kaiserreich, stellten aber eben nur für knapp die Hälfte der Studenten einen konkreten Sozialisationskontext dar. Bezogen auf den Militärdienst waren die Studenten doppelt privilegiert: Sie mussten durch das abgelegte Abitur naturgemäß nur einen einjährig-freiwilligen Dienst absolvieren und zudem ihr Studium nicht unterbrechen, sondern konnten den Militärdienst ‚nebenher‘ ableisten.43 Der Straßburger Professor Theobald Ziegler kritisierte 1895 die soziale Privilegierung der Studenten beim Militärdienst: „Ueberall sonst muß der junge Mann ein Jahr seiner Bildungszeit für den Militärdienst, d. h. für den Staat daran geben, überall sonst müssen seine Eltern oder Vormünder die Kosten für dieses Jahr ganz tragen. Nur bei Ihnen rechnet man dieses Jahr in die Bildungszeit ein, nur Ihnen gewährt man aus allerlei öffentlichen oder privaten Mitteln Beihülfe dazu.“44

Ziegler plädierte deshalb für die Abschaffung der Integration des Militärjahrs in die Studienzeit. Aktuell werden Geltung und Reichweite der Militarisierungsthese in der Forschung wieder intensiv diskutiert und in eine international vergleichende Forschungsperspektive gerückt. So wird das Kaiserreich in seinen militärischen Ausprägungen inzwischen als eine der vielen Varianten des üblichen Nahverhältnisses von Militär und Gesellschaft im europäischen 19. und frühen 20. 40 41 42 43 44

Vgl. Wipf, Studentische Politik und Kulturreform, S. 28f.; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 3, 1849–1914, S. 1217. Vgl. Dowe, Auch Bildungsbürger, S. 129ff. Vgl. Jarausch, Deutsche Studenten, S. 97f., Zitat S. 97. Vgl. Ziegler, Der deutsche Student, S. 126; Frevert, Die kasernierte Nation, S. 220. Ziegler, Der deutsche Student, S. 129.

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Jahrhundert begriffen.45 So betont beispielsweise Frank Becker zwar die Amalgamierung von Militär und Bürgertum in den sogenannten Reichseinigungskriegen, insbesondere im deutsch-französischen Krieg 1870/71, aber er arbeitet gleichzeitig heraus, dass sich das deutsche Bürgertum dabei nicht dem Militär als einer fremden Sozialkultur ‚unterworfen‘ habe, sondern das Militär zunächst in seiner Wahrnehmung verbürgerlicht und die Soldaten zu bürgerlichen Helden voller Pflichterfüllung, Arbeitseifer, Familienorientierung und Redlichkeit stilisiert habe.46 In seinen 1872 verfassten und 1883 publizierten Erinnerungen an den deutsch-französischen Krieg konstruierte Emil Colsman (1848–1942), Unternehmersohn und 1869/70 als Einjähriger bei den GardeUlanen in Berlin dienend, genau diese Verbürgerlichung des Militärs. Er selbst war noch aus dem Einjährig-Freiwilligen-Jahr im Juli 1870 zum Kriegsdienst im Rang eines Unteroffiziers einberufen worden und missbilligte in seinem Text die militärische Requirierung französischen Privatbesitzes. Er selbst hatte nach eigenen Aussagen Wert auf höflichen Umgang mit der französischen Bevölkerung (wie in seiner Darstellung alle deutschen Soldaten) gelegt. In diesem für die Öffentlichkeit bestimmten Erinnerungstext wurde der Krieg wiederholt aufgelöst in eine friedliche Idylle, die sich nach zunächst ängstlicher Erwartungshaltung französischer Zivilisten durch das höfliche Verhalten der deutschen Soldaten als eine harmonisch-hierarchische Vergemeinschaftung französischer Familien (Dienstleistende) mit den deutschen Soldaten (milde Herrschende) darstellte. Die Quartiere wurden durch die deutschen Unteroffiziere und Offiziere im Text stets selbst gereinigt und zu bürgerlichen Wohn- und Schlafstuben hergerichtet.47 Frank Becker hält für das Kaiserreich fest, dass eine von bürgerlichen Werten geprägte Nation im Kampf, eigenständig handelnd, aber zugleich struktu45

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So z. B. Christopher Clark: „Nicht nur in Preußen zog die militärische Kultur in den letzten vier Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg immer weitere Kreise. Auch in Frankreich strömten Veteranen und Militärangehörige in Scharen zu militärischen Clubs und Vereinigungen – die Mitgliedszahlen waren durchaus vergleichbar mit denen in Preußen-Deutschland. […] Selbst in Großbritannien […] lockte die ultrarechte National Service League gut 100.000 Mitglieder an, darunter 177 Abgeordnete aus dem Unterhaus.“ Clark, Preußen, S. 685. Ebenfalls in Abgrenzung von der Militarisierung als hervorstechendem Merkmal der preußisch-deutschen Gesellschaft Stargardt, The German idea of militarism. Vgl. auch Frevert, Das jakobinische Modell, S. 45ff. Vgl. Becker, Strammstehen vor der Obrigkeit, S. 92ff. Vgl. Colsman, Tagebuch eines Ulanen, S. 16f., S. 38, S. 44f., S. 98f., S. 101, S. 106f. Vgl. auch einen Brief Emil Colsmans an seinen Bruder, in dem er solche Situationen bereits aus dem Krieg nach Hause kommunizierte: „Nach und nach kehren nun auch einzelne Leute, nachdem sie sich überzeugt haben, daß wir doch keine Menschenfresser sind zurück, und werden dieselben gut von uns aufgenommen. Auch mein Wirth ist zurückgekehrt, hat gleich ein gutes Pferd mitgebracht und beginnt nun von uns unbelästigt, seine Felder wieder zu bestellen. […] Heute will bereits die 3te Familie zurückkehren, während ich die erste mit Gewalt 2 ½ Stunden von hier unter Thränen holen mußte, da die Frau u. die Kinder furchtbare Angst hatten.“ FFA, B4g53, Emil Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 13./16. Oktober 1870.

riert und begleitet durch staatliche Instanzen, in der Öffentlichkeit zum positiven Deutungsmuster des deutsch-französischen Krieges wurde. Dieses Deutungsmuster sei von allen Schichten aktiv mitgetragen worden, aber auch durch die Kriegervereine.48 Es sei im Kaiserreich vom Bürgertum schließlich auf das generelle Verhältnis zum Militär übertragen worden; das Bürgertum verstand sich als aktiver Teil des Militärs und das Militär wiederum als eine an bürgerlichen Werten orientierte Institution, die für die Nation wirkte.49 „Dieser Militarismus hatte offensichtlich mit Untertanengeist oder einer Kapitulation vor der Obrigkeit nur wenig zu tun. Vielmehr brachte er eine selbstbewußte Partizipation der bürgerlichen Schichten zum Ausdruck.“50 In dieser Interpretation scheint ein ganz anderer ‚Militarismus‘ auf; nicht einer der Unterwerfung unter militärische Rollenvorgaben und Handlungsorientierungen, sondern einer, der Wehrpflicht und Kriegseinsatz als Teil staatsbürgerlicher Verpflichtung im Kontext einer wehrhaften Zivilgesellschaft begriff. Das Militär sollte ein institutionalisierter und funktionaler Teil der Gesellschaft sein, nicht umgekehrt. Dies mögen Teile der Generalität und der Berufsoffiziere anders gesehen haben; für das Bürgertum eröffnete diese Definition ‚seines‘ Militärs dagegen Spielräume, die von der Aneignung militärischer Verhaltensweisen (z. B. der ‚schnarrende Kasinoton‘, das Sprechen in unvollständigen, kurzen Sätzen und ohne Personalpronomen)51 und einer mehrheitlich positiven Grundeinstellung zum Militär über dessen Hinnahme als notwendiges Übel bis zu bewusster Ablehnung (eine kleine Minderheit) reichen konnte. Eine große Staatsloyalität war dem deutschen Bürgertum, wie auch dem der europäischen Nachbarstaaten, allerdings ganz sicher zu Eigen. Vor diesem Hintergrund gab es in Frankreich und Deutschland auch einen sehr ähnlichen öffentlichen „Kult um die ‚Nation in Waffen‘“.52 Das „Fort48

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Vgl. zu den Kriegervereinen vor allem Rohkrämer, Der Militarismus der „kleinen Leute“; vgl. auch Förster, Militär und Militarismus im Kaiserreich, S. 71ff. Förster betont neben dem Militarismus der Militärs, des Adels und von Teilen der Politik (konservativer Militarismus) mit der Tendenz zur Sicherung eines Status-quo auch einen mittelständisch-bürgerlichen Militarismus, der aktiv auf einen Krieg hinarbeitete: anders als der konservative Militarismus sei dieser imperialistisch und aggressiv gewesen. Vgl. auch ders., Alter und neuer Militarismus im Kaiserreich, S. 128ff. Förster hält aber auch fest, dass die aktive Mitwirkung am und die positive Grundhaltung zum Militär kein besonderes Kennzeichen des Kaiserreichs war, sondern in ganz Europa verbreitet war. Vgl. Förster, Ein militarisiertes Land, S. 159. Vgl. Becker, Strammstehen vor der Obrigkeit, S. 92ff., S. 109. Die aktive Mitwirkung der Bevölkerung und ihre positive Rezeption des Militärs betonen auch Rohkrämer, Der Militarismus der „kleinen Leute“ und Frevert, Das jakobinische Modell, S. 45. Zur positiven Wahrnehmung der Militärzeit durch einfache Soldaten im Kaiserreich vgl. z. B. die Selbstzeugnisse bei Ulrich/Vogel/Ziemann, Untertan in Uniform, S. 75–83. Becker, Strammstehen vor der Obrigkeit, S. 110. So gab es naturgemäß auch auf der Seite des Bürgertums aggressive Militaristen und bürgerlich-imperialistische Interessenverbände. Vgl. dazu z. B. Förster, Alter und neuer Militarismus, S. 136ff. Vogel, Nationen im Gleichschritt, S. 280; vgl. Frevert, Das jakobinische Modell, S. 46.

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bestehen ‚traditioneller‘ Elemente im nationalen Kult beider Länder“, so Jakob Vogel, darf daher „nicht nach einer in der Forschung zum wilhelminischen Deutschland geläufigen Interpretation als Ausdruck einer grundsätzlichen Rückwärtsgewandtheit des Staates betrachtet werden“.53 Das Konzept der Nation in Waffen war vielmehr in Frankreich wie in Deutschland „Grundlage für die öffentliche Repräsentation der Armee“ unter aktiver Beteiligung der männlichen Bevölkerung mit Militärerfahrung und emphatischer Anteilnahme der Gesamtbevölkerung: Staat und Armee inszenierten sich in beiden Staaten als Einheit; der „verbreitete Folkloremilitarismus“ der Bevölkerung im deutschen Kaiserreich wie der französischen Republik ließ in diesem Zusammenhang „militärisch-nationale Massenfeste“ als „charakteristisches Kennzeichen der deutschen und französischen Vorkriegsgesellschaft“ entstehen.54 Es handele sich beim Militarismus des Kaiserreichs nicht um einen ‚deutschen Sonderweg‘, sondern dieser sei, so Vogels Bilanz, eine irreführende Zuschreibung vor dem Hintergrund bis dato fehlender vergleichender Forschung gewesen. Frankreich und Deutschland partizipierten mit ihren „dominierenden Leitbildern der militarisierten Nation in Waffen“ zugleich an „breiteren Prozessen der Nationalisierung und Militarisierung, der allgemein die Entwicklung der europäischen Gesellschaften seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kennzeichnete“.55 Militär und Bürgertum rückten im Kaiserreich sicher näher aneinander; aber das Bürgertum, so kann man bilanzieren, formulierte für das Militär zugleich bürgerliche Leitbilder der Pflicht, der Arbeit, der Askese und des Gemeinwohls. Eine mentale Unterwerfung unter adligen Standesdünkel und adlige wie militärische Weltsichten war dies nicht, und inwiefern die Hochschätzung des Militärs im öffentlichen Diskurs und der staatlichen Repräsentation des Kaiserreichs auf die Lebensform des Bürgertums durchschlug, muss als eine offene Forschungsfrage angesehen werden.56 Nimmt man einen spezifischen ‚deutschen Militarismus‘ schließlich noch einmal aus einer anderen Perspektive zum hypothetischen Ausgangspunkt einer Beschreibung des Kaiserreichs, so erstaunt die relativ geringe Größe der deutschen Armee. 1914 besaß die preußische Armee etwa 22.000 aktive Offiziere, dazu trat noch die sehr viel kleinere Gruppe der Offiziere der anderen Bundesstaaten. Rund 750.000 Soldaten besaß das gesamtdeutsche Heer kurz vor dem Ersten Weltkrieg; inklusive der Marine bestanden die Streitkräfte des Deutschen

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Vogel, Nationen im Gleichschritt, S. 281. Anders Wette, der den Sozialmilitarismus in Frankreich geringer einschätzt und der Gesellschaft ein Übergewicht über die Armee zugesteht. Sie sei das Ordnungsmodell für die Armee gewesen statt umgekehrt wie in Deutschland. Es bleibt allerdings offen, woran sich dies genau nachweisen ließe. Vgl. Wette, Militarismus in Deutschland, S. 76. Vogel, Nationen im Gleichschritt, S. 285f., S. 288ff. Vgl. Vogel, Nationen im Gleichschritt, S. 289, Zitate S. 290f. Benjamin Ziemann hält fest, dass die Militarismus-These eine der „letzten und beständigsten Bastionen“ der weitgehend revidierten Forschungsposition eines deutschen Sonderwegs sei. Ziemann, Sozialmilitarismus und militärische Sozialisation, S. 153.

Reiches aus knapp 900.000 Soldaten.57 Zum Wehrdienst eingezogen wurde im Kaiserreich in der Regel nur gut die Hälfte eines dienstpflichtigen Jahrgangs, die nicht eingezogenen Wehrpflichtigen besaßen daher keine militärischen Sozialisationserfahrungen. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges waren infolge der vorangegangenen geringen Einberufungen von 10,4 Millionen Wehrpflichtigen (die Altersklassen vom 20. bis zum 45. Lebensjahr) 5,4 Millionen nicht ausgebildet.58 In dieser Hinsicht gab es keine gravierenden Unterschiede zu anderen europäischen Staaten, wobei Großbritannien bis 1916 keine Wehrpflicht-, sondern eine Berufsarmee besaß.59 Frankreich hatte als aktives Heer zu Beginn des Ersten Weltkrieges 9% seiner Bevölkerung unter Waffen (6% waren es im deutschen Kaiserreich) und berief seine Wehrpflichtigen mit 60% auch etwas stärker ein. 1913 betrug die Friedensstärke des französischen Heers rund 845.000 Soldaten, bei einer kleineren Bevölkerungszahl (40 Millionen) als im Deutschen Reich (68 Millionen). Auch Russland besaß eine allgemeine Wehrpflicht und hatte bei einer Bevölkerungszahl von etwa 181 Millionen eine Heeresstärke von 1,4 Millionen Soldaten 1914, mit einer Einberufung der Wehrpflichtigen zu etwa 53%.60 Vergleichbare Wehrpflichtmodelle (allgemeine Wehrpflicht) und prozentuale Einberufungen (knapp über 50%) besaßen auch Österreich-Ungarn und Italien. In dieser Hinsicht wies das deutsche Kaiserreich keine Auffälligkeiten auf; vielmehr stellte sich Großbritannien als europäischer Sonderfall dar.61 Welche Bedeutung dem Militär von den jungen bürgerlichen Männern im Kaiserreich tatsächlich zugemessen wurde, wie es als Sozialisationsinstanz im einjährig-freiwilligen Dienst und danach in der Reserve erlebt und interpretiert 57 58 59

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Vgl. Wette, Militarismus in Deutschland, S. 52; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866– 1918, Bd. 2, S. 239; Frevert, Das Militär als Schule der Männlichkeiten, S. 60. Vgl. Schmidt-Richberg, Die Regierungszeit Wilhelms II., S. 52. Die britische Armee wurde in dem Teil der Offiziersränge, die der Adel besetzte (Adelsanteil 1850 und 1900 knapp 50%), weitgehend durch diejenigen Adelssöhne bestückt, die nicht die elterlichen Besitzungen erben konnten. Darüber hinaus waren die britischen Kolonien und die dort stationierte Armee eine immerwährende Möglichkeit, als bürgerlicher oder adliger Nachkomme Karriere zu machen. Im Zusammenhang des britischen Empire und seiner Politik entwickelte sich die Armee im 19. Jahrhundert zu einer professionalisierten, fast jährlich Kriege führenden Einsatzarmee, wobei deren kämpfende Offiziere überwiegend bürgerlicher Herkunft waren. Vgl. dazu Strachan, Militär, Empire und Civil Society. Vgl. Wette, Militarismus in Deutschland, S. 71; Schmidt-Richberg, Die Regierungszeit Wilhelms II., S. 41ff. Vgl. Strachan, Militär, Empire und Civil Society. Strachan stellt allerdings auch dar, wie stark in Großbritannien eine positive Haltung zur Armee vorhanden war, wie präsent Krieg und britische Armee in Spielzeug und Literatur waren und wie außerordentlich viel Steuergeld sich die Briten diese Armee klaglos kosten ließen, pro Kopf der Bevölkerung etwa dreimal so viel wie das deutsche Kaiserreich oder die französische Republik. Vgl. ebd., S. 88ff., sowie Jahr, British Prussianism, S. 295ff. Zum europäischen Vergleich siehe auch Jansen, Der Bürger als Soldat.

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wurde, darüber wissen wir so gut wie nichts.62 Bislang fehlt eine Forschung, welche der These von der Sozialmilitarisierung sozialisationshistorisch nachgeht: „Lehrplanvorgaben sind keine Unterrichtsbeschreibungen, Rektorenreden, Aufsatzthemen und Sedansfeiern keine ausreichenden Belege für die Schüler- und Lehrermentalität, Kaiserreden mit bildungspolitischen Aspekten keine Zielkataloge. Selbst wenn eine gesamtgesellschaftlich formulierte Zielvorgabe für das Bildungswesen im Kaiserreich bestanden hätte – z. B. ein schulisches ‚Nationalisierungs- und Militarisierungsprogramm‘ – wären Rückschlüsse auf deren faktische Realisierung nicht möglich.“63

Die folgenden Analysen zu den Einjährig-Freiwilligen-Jahren der Söhne der Unternehmerfamilie Colsman werden die militärischen Sozialisationskontexte und deren Wandel im Kaiserreich ebenso zu erfassen suchen wie die darauf bezogenen Selbstpräsentationen und Handlungsorientierungen der Einjährigen, welche sie in Briefen an die Eltern, Freunde und Geschwister darlegten. Neben den zahlreich vorhandenen Briefen der Einjährigen, die sie zum Teil wöchentlich nach Hause schrieben und in denen sie ihre Militärerfahrungen präsentierten und interpretierten, liegt eine Vielzahl von Briefen insbesondere der Väter an die Einjährigen vor, die ebenfalls zur Analyse herangezogen werden. Dadurch können zeitgenössische Kommunikationen und Selbstverortungen der jungen Männer und auch ihrer Eltern bezüglich des Militärs und ihr Rekurs auf Erwartungen und Werte- und Normenordnungen im Kaiserreich sichtbar gemacht werden, ohne dass retrospektive Reflexionshorizonte späterer Zeiten wie in Erinnerungen und Autobiographien dazwischentreten.64 Gefragt wird insbesondere, ob sich die Selbstpräsentationen und Handlungsorientierungen der Söhne während des Militärjahrs militärisch ausrichteten und wie die Eltern brieflich zu dem Militärjahr Stellung bezogen. Denn eigentlich, so hält Messerschmidt fest, war die so intensiv nachgesuchte Einjährig-Freiwilligen-Berechtigung ja ein „Befreiungszeugnis“.65 Daher wird in den folgenden Teilkapiteln auch diskutiert, ob der Militärdienst von den Einjährigen nicht auch als militärische Bestätigung ihres Bildungsniveaus und ihrer sozialen Position begriffen werden konnte und sich ihr Verhalten und das der Militärs stärker daran ausrichtete als an militärischen Hierarchien und Anforderungen. Thematisch wird es in den folgenden Ausführungen um militärische Erfahrungsräume und Interaktionen, um Männlichkeitsideale und männliches Rollenverhalten sowie um die 62 63

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Vielmehr wird hinsichtlich der Sozialisation von „unterstellten Wirkungen“ her argumentiert. Ziemann, Sozialmilitarismus und militärische Sozialisation, S. 157. Müller, Schulkritik und Jugendbewegung, S. 197. So verbleibt auch Schubert-Weller, der sich der Militarisierung der männlichen Jugend im Kaiserreich widmet, weitgehend auf der Ebene der politischen Absichten und der Verbandsgeschichte. Vgl. Schubert-Weller, „Kein schönrer Tod …“. Zur Kritik an solcher Vorgehensweise und an einem verbreiteten „Zitierkarussell“ weniger autobiographischer Belegstellen vgl. Ziemann, Sozialmilitarismus und militärische Sozialisation, S. 156ff., Zitat S. 156. Messerschmidt, Die politische Geschichte der preußisch-deutschen Armee, S. 96.

Anordnung der Sozialisationsräume (Militär und Großstadt) gehen sowie um deren eventuelle Veränderung im Verlauf des Kaiserreichs. Darüber hinaus werden der Stellenwert des Reserveoffizierspatents und die Einschätzung des Militärs durch die erwachsenen Unternehmer in ihrem weiteren Lebensverlauf untersucht.

2. Der einjährig-freiwillige Militärdienst: Rahmenbedingungen des Militärjahres Das Einjährig-Freiwilligen-Jahr unterschied sich als Sozialisationskontext erheblich von der auswärtigen Schulzeit und der Lehrzeit, welche die männlichen Jugendlichen der Unternehmerfamilie zuvor absolviert hatten. Die Familien hatten dort für eine weitgehende soziale Kontrolle gesorgt: Die Jugendlichen hatten bei Schullehrern und -direktoren in Schülerpensionen mit Familienbezug und später bei ihren Lehrherren gewohnt, so dass die Eltern über Verhalten und Entwicklung ihrer Söhne stets informiert gewesen waren und diese erziehend begleitet hatten. Dies änderte sich grundlegend im Einjährig-Freiwilligen-Jahr. Die Söhne bezogen allein oder zusammen mit Kameraden ein Zimmer zur Untermiete in Berlin bei Vermietern, die den Eltern unbekannt waren und für die nur Empfehlungen von Freunden und Bekannten vorlagen. Ein Leben in der Kaserne wurde den Einjährigen von militärischer Seite nicht abverlangt. Dadurch entfiel nicht nur viel militärische Kontrolle und Aufsicht, sondern auch ein Teil der alltäglichen physischen und psychischen Beanspruchung, die das Leben in der Kaserne ansonsten mit sich brachte. Wie wurde man Einjähriger, und wie war die Sozialisationsinstanz Militär im Einjährigendienst beschaffen? Neben den schon beschriebenen Schulzeugnissen als sogenanntem „wissenschaftlichen Befähigungsnachweis“ mussten der Prüfungskommission eine Geburtsurkunde, die schriftliche Einwilligung des Vaters bzw. Vormundes über die Kostenübernahme für Verpflegung, Ausrüstung und Wohnung und eine amtliche Bescheinigung über ausreichende Vermögensverhältnisse des Vaters oder Vormunds sowie ein amtliches Führungszeugnis (auszustellen durch die Schuldirektoren) vorgelegt werden.66 Um 1900 dienten jährlich circa 11.000 Einjährig-Freiwillige in Heer und Marine, wobei nur rund ein Drittel der Einjährigen den Dienst tatsächlich angetreten hatte; zwei Drittel konnten den Einjährigendienst entweder aufgrund finanzieller Restriktionen nicht absolvieren oder wurden als nichttauglich ausgemustert.67 66 67

Vgl. Der Einjährig-Freiwillige und sein Dienst, S. 14ff.; von Glasenapp, Handbuch für den Einjährig-Freiwilligen 1895, S. 4. Vgl. Schwiening, Ueber die Körperbeschaffenheit der zum einjährig-freiwilligen Dienst berechtigten Wehrpflichtigen Deutschlands; Ritter, Das deutsche Kaiserreich, S. 99; John, Das Reserveoffizierkorps im Deutschen Kaiserreich, S. 57.

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Eine medizinisch-statistische Untersuchung über die körperliche Verfassung der Einjährigen-Aspiranten der Jahre 1904–1906, die rund 53.000 Personen umfasste, stellte fest, dass im Schnitt 35% der Einjährigen-Aspiranten als für den Militärdienst körperlich untauglich eingestuft wurden. Die Untauglichkeitsquoten der Einjährigen-Aspiranten sind deshalb bemerkenswert, weil der Verfasser der Studie, selbst Stabsarzt und Referent im Kriegsministerium, ausdrücklich festhielt, dass an die körperliche Fitness der Einjährigen-Anwärter regelmäßig die „zulässig niedrigsten Anforderungen“ in den Tauglichkeitsuntersuchungen gestellt würden, von ihnen also bereits weniger körperliche Leistungsfähigkeit erwartet wurde als von den anderen Wehrpflichtigen.68 Der prozentual größte Teil der Ausgemusterten (über 60%) litt bei den Einjährigen an „allgemeiner Schwächlichkeit“, „Krankheiten des Herzens“ oder an „Augen-Fehlern“. „Fettleibigkeit“ oder „Krankheiten des Nervensystems“ schlugen dagegen nur mit insgesamt rund 3% zu Buche.69 Zugleich gelang es weniger als der Hälfte der einjährig Wehrdienstleistenden im Kaiserreich, während des Wehrdienstes die Anwartschaft für ein Reserveoffizierspatent zu erwerben, denn dabei spielten auch die soziale Herkunft und die ‚gute Familie‘ eine erhebliche Rolle. Am Beginn des Ersten Weltkriegs besaß die deutsche Armee rund 120.000 Reserveoffiziere.70 Das Einjährig-Freiwilligen-Jahr war aber nicht nur ein Bildungsprivileg, sondern in allererster Linie ein kostspieliges Unterfangen. Während des Einjährigenjahrs wurde kein Sold gezahlt; neben Unterkunft und Essen mussten bei der Kavallerie noch die Unterstellung und der Unterhalt des Dienstpferdes von den Einjährig-Freiwilligen bzw. deren Vätern bezahlt werden. Wilhelm Colsman-Bredt (1831–1902) verglich 1880 die Ausbildung seines Sohnes Paul (1861–1922) an der Akademie in Lausanne mit seinem eigenen Einjährigendienst: „Ich finde du kostest dort enorm viel Geld, viel mehr als ich je, selbst während des Dienstjahres meinen sel. Vater gekostet!“71 Für Wilhelm ColsmanBredt stellte sein Einjährig-Freiwilligen-Dienst den Höhepunkt der eigenen Ausbildungskosten dar, an denen er die Ausbildungsausgaben für seinen Sohn maß. Ein Einjährig-Freiwilligen-Jahr bei der Infanterie am Ende des 19. Jahrhunderts kostete inklusive Wohnung und Unterhalt für das gesamte Jahr etwa 68

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Vgl. Schwiening, Ueber die Körperbeschaffenheit, S. 44ff., Zitat S. 45. Die Schwieningsche Statistik umfasste allerdings nur die endgültig tauglich oder untauglich geschriebenen Bewerber, die zeitweise zurückgestellten (immerhin knapp 28.000) wurden nicht in die Untersuchung einbezogen. Schwiening, Ueber die Körperbeschaffenheit, S. 44, S. 50f. Gleichzeitig waren die Einjährigen-Anwärter im Schnitt deutlich größer als die anderen Wehrpflichtigen. Knapp 55% waren größer als 171 cm, dagegen nur rund 31% der übrigen Wehrpflichtigen. Der Verfasser der Studie führte dies vor allem auf die besseren Lebensverhältnisse, insbesondere die Ernährung der Einjährigen zurück. Vgl. ebd., S. 75ff. Vgl. Ritter, Das deutsche Kaiserreich, S. 99; Frevert, Die kasernierte Nation, S. 210; John, Das Reserveoffizierkorps im Deutschen Kaiserreich, S. 147; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2, S. 231. Archiv WHC, Sign. 142, Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 16. Februar 1880.

1.800 Mark, bei der Kavallerie auch bei sparsamer Lebensführung zwischen 3.000 und 3.600 Mark.72 Daher war die Kavallerie für viele Bürgersöhne unerschwinglich, und ein Einjährig-Freiwilligen-Jahr bei der Kavallerie des Königlich Preußischen Gardekorps (Garde-Kürassiere, Garde-Ulanen, Garde-Dragoner, Garde-Husaren) in Berlin oder Potsdam war noch weit teurer; hier musste in den 1890er Jahren mit Gesamtkosten von etwa 7.500 bis 9.000 Mark gerechnet werden.73 Durch die unterschiedlichen Kosten unterschieden sich die Regimenter in sozialer Hinsicht erheblich: Es gab vornehme Regimenter, traditionsreich und mit überwiegend adligen Berufsoffizieren, in angenehmen Garnisonsstädten oder in der Hauptstadt gelegen; an deren Spitze wiederum standen die Regimenter des Gardekorps. Und es gab – in sich abgestuft – die Regimenter in Kleinstädten und abgelegenen Provinzorten.74 Seit 1890 betrieb die deutsche Regierung indes eine gezielte Öffnung des Offizierkorps für das Bürgertum (nicht für die gesamte Bevölkerung). Adel der Herkunft und Adel der Gesinnung (staatsloyal, konservativ oder nationalliberal, keinesfalls sozialdemokratisch) sollten gleichwertig werden. Das Offizierkorps wurde zur Jahrhundertwende hin tatsächlich in den Herkunftsmilieus bürgerlicher als noch zur Reichsgründung, aber mit feinen Unterschieden: Die bürgerlichen Berufsoffiziere dominierten die weniger angesehenen Regimenter und diejenigen Waffengattungen, die modernes Wissen und Können voraussetzten: Marine, Train, Artillerie; die adligen Berufsoffiziere bestimmten weiterhin die Kavallerie und die Infanterie. Am Beginn des 20. Jahrhunderts waren aber immerhin 70% der Berufsoffiziere bürgerlicher Herkunft, bei den Obersten und den Generälen 48%.75 Gleichzeitig blieb die Bezahlung der Berufsoffiziere insgesamt schlecht: 72

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Vgl. Der Einjährig-Freiwillige und sein Dienst, S. 6ff. So mussten die zur Verfügung gestellten Dienstpferde von den Einjährigen finanziert werden, um 1900 mit 400 Mark bei der Kavallerie, bei Artillerie und Train mit 150 Mark. Vgl. ebd., S. 43. Genaue Aufstellungen auch bei Hilken, Praktische Winke für Einjährig-Freiwillige, S. 16, S. 22f. Emil Colsman musste für sein Einjährig-Freiwilligen-Jahr 1869/70 bei den GardeUlanen 1.200 preußische Taler aufwenden; das entspricht etwa 3.600 Mark im Kaiserreich, was für ein Militärjahr beim Gardekorps recht wenig war. Vgl. Archiv EC, D2/36, Emil Colsman, Lebenserinnerungen, S. 24. Vgl. John, Das Reserveoffizierkorps im Deutschen Kaiserreich, S. 56. Es entstanden daher Militärversicherungen und Kreditangebote, den heutigen US-amerikanischen Krediten für Studiengebühren vergleichbar, die es Eltern ermöglichen sollten, für den Einjährigendienst ihrer Söhne finanziell aufzukommen. Vgl. ebd. Obwohl die mittleren Einkommensgruppen (mit einem Einkommen von 900 bis 6.000 Mark) durch die wirtschaftliche Hochkonjunktur von 23,8% 1896 auf 46,5% 1912 der Einkommenssteuerzahler angestiegen und die unteren Lohngruppen mit einem Einkommen unter 900 Mark von 75% auf 51% gesunken waren, war doch ein einjähriger Dienst eine für viele Familien äußerst teure Angelegenheit. Über 6.000 Mark verdiente überdies nur 1% der Einkommensbezieher. Vgl. zu den Einkommen Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1, S. 289. Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2, S. 220. Vgl. Schmidt-Richberg, Die Regierungszeit Wilhelms II., S. 50, S. 86; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2, S. 221. Vgl. auch Pröve, Militär, Staat und Gesellschaft, S. 36f.; Frevert, Ehrenmänner, S. 121; Frevert, Die kasernierte Nation, S. 208.

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Erst ab dem Rang eines Hauptmanns war eine einigermaßen auskömmliche Existenz möglich und damit eine Heirat. Kompensiert wurde dies teilweise durch gesellschaftliches Ansehen.76 Die Einjährigen verteilten sich auf die Regimenter und Garnisonen gestaffelt nach Kosten und Renommee. Das führte dazu, dass die Söhne des Wirtschaftsbürgertums in die vornehmen Kavallerieregimenter mit adligen Berufsoffizieren strömten, die Söhne des Bildungsbürgertums dagegen zur Infanterie oder Artillerie.77 Die Einjährigen der Gardekavallerie konnten daher sicher sein, dass sie militärisch in den ‚besten Kreisen‘ verkehrten: mit dem vermögenden Bürgertum als Einjährigen-Kameraden und mit den adligen Offizieren. Der Dienst der Einjährigen begann in der Regel am 1. Oktober eines jeden Jahres.78 Verglichen mit den einfachen Wehrdienstleistenden dienten sie nur ein Drittel, seit bis 1893 die Hälfte der regulären Zeit, da der Wehrdienst ab da von drei auf zwei Jahre (außer bei der Kavallerie und der berittenen Artillerie) verkürzt wurde. Die Privilegien der Einjährigen endeten aber nicht mit der stark verkürzten Dienstzeit. Neben der freien Wahl von Teilstreitkraft (Heer oder Marine), Waffengattung (Infanterie, Artillerie, Kavallerie, Train) und sogar der Garnison79 konnten die Einjährigen, wie bereits beschrieben, privat wohnen statt in der Kaserne. Wegen der Regimentswahl schrieb Peter Lucas Colsman (1854–1925) 1876 vor Antritt seines Dienstjahrs leicht besorgt an seinen Vater: „Die Untersuchung meiner Tauglichkeit als Cavallerist war in fünf Minuten vollzogen, & zogen wir mit diesem Attest wieder nach dem Regiments Bureau. Hier erfuhren wir, daß seit einiger Zeit die Einrichtung getroffen ist, nach welcher die Einjährigen von den Regimentern, wo sie sich angemeldet haben, an die Devision verwiesen werden, resp. wenn

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Über die Verteilung von Adel und Bürgertum auf die Regimenter und Truppengattungen vgl. auch den Artikel eines adligen Offiziers im Berliner Tageblatt 1909, abgedr. bei Ulrich/Vogel/Ziemann, Untertan in Uniform, S. 104f. Dort heißt es u. a. selbstkritisch: „Von den Reiterregimentern haben natürlich die, welchen die Grenzhut anvertraut ist, die meisten bürgerlichen Offiziere, während der Adel sich in die vornehmen Regimenter, die großen Garnisonen und an die Fürstenhöfe zusammendrängt.“ Ebd., S. 105. Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2, S. 222; Pröve, Militär, Staat und Gesellschaft, S. 37f. Die Söhne der Kettwiger Textilfabrikantenfamilie Scheidt gingen im Kaiserreich ebenfalls alle zur Kavallerie. Vgl. Soénius, Wirtschaftsbürgertum, S. 133ff. Vergleichbar war es auch in der Familie Thyssen im Kaiserreich, vgl. Derix, Die Thyssens, S. 78ff. Max Weber dagegen, Sohn eines Juristen und Reichstagsabgeordneten, diente 1884 als Einjährig-Freiwilliger bei der Infanterie. Vgl. Radkau, Max Weber, S. 73ff. Allerdings leistete auch er sich für 70 bis 80 Mark einen Putzer für die einfachen Reinigungsdienste und Dienstleistungen. Vgl. Frevert, Die kasernierte Nation, S. 219. Ein Eintritt in die Armee war auch zum 1. April möglich, komplizierte aber die Ausbildungsabläufe in den Garnisonen und wurde deshalb nicht empfohlen. Vgl. Hilken, Praktische Winke für Einjährig-Freiwillige, S. 20f. Wenn ein Truppenteil in Friedenszeiten verlegt wurde, konnten sich die Einjährigen zudem auf Wunsch eine neue Garnison aussuchen. Sie waren nicht gezwungen, bei ihrem alten Regiment zu bleiben. Vgl. Der Einjährig-Freiwillige und sein Dienst, S. 33; von Unger, Hilfsbuch, S. 4; Hilken, Praktische Winke für Einjährig-Freiwillige, S. 6.

die Anmeldungen erfolgt sind, von der Devision auf die Regimenter vertheilt werden. Hier noch ist die Möglichkeit vorhanden, daß ich, obgleich beim I. Dragoner Regiment angemeldet, doch bei einem andern Regiment dienen muß. Der Regimentsschreiber sagte uns doch zur Beruhigung, daß die Wünsche der Einjährigen, bei einem bestimmten Regiment zu dienen, meistentheils angenommen würden, weßhalb ich doch wahrscheinlich beim I. Drag. Reg. dienen könnte.“80

Von einfachen Putzarbeiten („Arbeitsdienst“)81 konnten sich die Einjährigen befreien lassen, indem sie einen Putzer aus den Reihen der Soldaten des Regiments anstellten, der dies für sie erledigte: „Die Einjährig-Freiwilligen müssen verstehen, ihre Sachen selbst vorschriftsmäßig zu putzen, und sind allein für deren Reinigung und Instandhaltung verantwortlich. Unter dieser Verantwortlichkeit können ihnen auf ihr Ansuchen und insofern Leute hierzu bereit sind, solche gestellt werden, die in dienstfreien Stunden für sie putzen. Die Vergütung hierfür beträgt monatlich 6 M. und ist am 1. jeden Monats nachträglich beim Löhnungsappell in Gegenwart des Offiziers v. Dienst pp. vom Einjährig-Freiwilligen unmittelbar an den Putzer zu zahlen. Das Putzen des Pferdes, sowie Reinigen der Ausrüstungsstücke ist ebenfalls Sache des Einjährig-Freiwilligen und muß daher gründlich erlernt werden. Hierzu werden die Einjährigen nach der Einstellung 4–6 Wochen zum Stalldienst herangezogen. Nach Ablauf dieser Zeit kann ihnen auf ihr Ansuchen nach Ermessen des Batteriechefs gestattet werden, das Putzen des Pferdes und der Reitzeugstücke durch Leute der Batterie versehen zu lassen, die sich hierzu bereit erklären; die Vergütung hierfür beträgt monatlich 3 M. einschließlich des Putzzeuges und ist ebenfalls am 1. jeden Monats wie oben angegeben zu zahlen.“82

Damit besaßen viele Einjährige schon im Alter von etwa zweiundzwanzig Jahren faktisch einen eigenen Burschen, so wie auch die Offiziere ihres Regiments, der für sie die einfachen Dienstleistungen verrichtete und dem sie Anweisungen erteilen konnten. Emil Colsman hielt in seinen 1872 niedergeschriebenen Erinnerungen an seine Teilnahme am deutsch-französischen Krieg fest, dass er wie auch die anderen Einjährigen das Satteln ihrer Pferde schlecht beherrscht hätten, denn sie hätten „in der Garnison stets fein ihren Burschen gehabt, und selten das ölige Sattelzeug berührt“.83 Erstmals, nach Familienerziehung und sozialisation, Schule und Schülerpension, Lehrherrnregiment und Lehrzeit, waren die Unternehmersöhne in den Autoritätsverhältnissen nun diejenigen, die formal zu Befehl und Anordnung berechtigt waren. Als ‚junge Herren‘ mit einer Unterkunft außerhalb der Kaserne waren alle Einjährigen zugleich relativ autonom in ihrer Lebensführung, da diese weder von Familien- noch von Militärseite durchgreifend kontrolliert werden konnte. Ihre eigene Wohnung schuf zudem einen privaten Rückzugsraum, den die anderen Rekruten und die Mann80 81 82 83

Archiv Landfried, Sign. 3, Peter Lucas an Eduard Colsman, 17. Mai 1876. Vgl. Bestimmungen über die Dienstverhältnisse, S. 8. Bestimmungen über die Dienstverhältnisse, S. 5f. Vgl. John, Das Reserveroffizierkorps im Deutschen Kaiserreich, S. 127. Colsman, Tagebuch eines Ulanen, S. 15. Vgl. auch den Bericht eines Soldaten, der für die Einjährigen putzte bei Ulrich/Vogel/Ziemann, Untertan in Uniform, S. 75f.

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schaftssoldaten nicht besaßen. Dieser Privatraum eröffnete auch eine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben der Garnisonsstädte oder in Berlin in weit umfangreicherer Weise als für die an die Kaserne gebundenen Soldaten.84 Einjährige trugen darüber hinaus an der Uniform Schnurabzeichen, d. h. zweifarbige, gedrehte, in Preußen schwarzweiße Schnüre, die um die Schulterstücke von Uniformrock und -mantel genäht wurden, und durften sich eine Extra-Uniform zulegen, d. h. eine selbst angeschaffte und daher meist passgenauere und in besserem Zustand befindliche Uniform, die sie außer Dienst tragen durften. Sie durften sich auch eine eigene Ausrüstung mit Helm, Seitengewehr, Säbel usw. zulegen.85 Einjährige waren auf der Straße somit als einjährig Dienende durch die Schnurabzeichen erkennbar und wurden dadurch einerseits in der Sphäre der Öffentlichkeit kontrollierbar, andererseits wurden sie aus der Masse der Soldaten sichtbar hervorgehoben. Sie gehörten, durch die Uniform symbolisch markiert, zu dem kleinen, männlichen Bevölkerungsteil mit höherem Schulbesuch.86 Bereits als Einjährige und dann später als Reserveoffiziere partizipierten sie aber auch am gesellschaftlichen Ansehen der Berufsoffiziere und an deren Privilegien (Hoffähigkeit).87 Welche Selbstsicherheit den Einjährigen zugeschrieben wurde, spiegelt eine literarische Episode aus Klaußmanns fiktivem „Tagebuch eines Einjährig-Freiwilligen“ (1887). Als ein Sergeant die Einjährigen bei ihrem Dienstantritt anherrscht zu schweigen, be84

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Ute Frevert betont dagegen die Erziehungs- und Disziplinierungsfunktion des einjährigen Wehrdienstes. Sie bezieht sich dabei insbesondere auf Erinnerungen ehemaliger Einjähriger, macht aber die konkreten Rahmenbedingungen des Militärdienstes nicht stark, die eine solche Funktion in Frage stellen lassen. Vgl. Frevert, Die kasernierte Nation, S. 209ff. An anderer Stelle verweist sie allerdings selbst auf die geringe Kontaktzeit von täglich nur wenigen Stunden zwischen Einjährigen und Militär. Vgl. ebd., S. 229. „Wer die ‚einjährigen‘ Schnüre trägt, der wird sich neben seiner Uniform […] noch eine Extra-Uniform anschaffen, ebenso Seitengewehr, Helm und dergleichen; wieviel er dafür anlegen wird, hängt ganz von seinem Geldbeutel ab.“ Der Einjährig-Freiwillige und sein Dienst, S. 5. Vgl. auch von Glasenapp, Handbuch für den Einjährig-Freiwilligen der Kavallerie 1895, S. 92f. sowie S. 83ff.; von Maltzahn, Handbuch für den EinjährigFreiwilligen, S. 66ff.; Bestimmungen über die Dienstverhältnisse und die Ausbildung der Einjährig-Freiwilligen, S. 3f. Im Staat Preußen besaßen 1875 etwa 3% der fünfzehnjährigen männlichen Bevölkerung eine Einjährigenqualifikation, 1890 waren es 4,4% und 1910 schließlich 6,2%. Vgl. Müller/Zymek, Sozialgeschichte und Statistik des Schulsystems, Tab.10.5, Höhere Schulen insgesamt, Staat Preußen, S. 170. Schon ein einfacher preußischer Leutnant war hoffähig, während dies erst dem Beamten vom Rat 2. Klasse an zustand (etwa der Rang eines Oberst). Aber dies war in der Gesellschaft eher symbolisch als praktisch relevant. Ob das geringe Konfliktpotential der Bevorzugung der Offiziere bei Hof wirklich mit der Tatsache zu tun hatte, wie Schmidt-Richberg vermutet, dass viele Beamte Reserveoffiziere waren und von daher die Konflikte nicht aufkamen (entweder aus Gründen der militärischen Gleichrangigkeit oder der Subordination der Beamten), muss offenbleiben. Vgl. Schmidt-Richberg, Die Regierungszeit Wilhelms II., S. 87. Ebenso wahrscheinlich ist die Annahme, dass die symbolische Hoffähigkeit für die Lebensform und Lebenswelt des Bürgertums: Arbeit, Beruf, bürgerliche Kultur, Bildung usw., keine große Rolle mehr spielte.

schwert sich der Ich-Erzähler: „Ich dachte im Sinne der sämtlichen Kameraden zu handeln, wenn ich etwas vortrat und ziemlich energisch bemerkte: ‚Entschuldigen Sie, Herr Sergeant, wir sind Einjährig-Freiwillige.‘“88 Schließlich aber erkennt der Einjährige in dem militäraffinen Text den Sinn des Drills: „Dieses Herumreiten auf Kleinigkeiten ist die Vorarbeit zur Erreichung großer Zwecke, die eiserne Disziplin, die gewissenhafte Pflichterfüllung […] sind die Grundbedingungen der Stärke und Schlagfertigkeit einer Armee. Es lebe der Kaiser und seine Armee! Das deutsche Volk in Waffen!“89 Inwiefern die Vorzugsbehandlung der Einjährigen zu einer positiven Einstellung zum Militär als Institution führte, wird weiter unten in diesem Kapitel diskutiert. Während die einfachen Rekruten von ihren Vorgesetzten geduzt wurden, wurden die Einjährigen von ihren Ausbildern respektvoll mit ‚Sie‘ angesprochen.90 Sie wurden also besser behandelt als die anderen Rekruten. Allerdings, so wurde im Kaiserreich in Militärkreisen kritisch diskutiert, erwarteten viele Unteroffiziere in den Regimentern Schmiergelder von den Einjährigen zwecks ihrer weiteren dienstlichen Schonung. Sie waren „goldene Kälber“, die bei Erfolgen etwas ausgeben oder aber bei Versagen dieses durch Tabak und Alkohol wettmachen mussten.91 Geschenke für die Gattinnen und die Familien der Unteroffiziere kamen noch dazu, so dass die von Militärseite zwar untersagte, aber nicht konsequent unterbundene Bestechung eine regelmäßige Gehaltsaufbesserung der Unteroffiziere darstellte.92 Paul Colsman berichtete 1883 aus seinem Einjährigendienst, dass „betreffs der Schmiererei“ es laut Regimentsbefehl „aufs Strengste verboten sei, irgend einem Vorgesetzten auch nur etwas zu geben […] An Reserve Officier sei nicht zu denken, wenn derartiges bekannt 88 89 90 91

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Klaußmann, Tagebuch eines Einjährig-Freiwilligen, S. 6. Ähnliche Fälle schildert auch Frevert, Ehrenmänner, S. 161f. Klaußmann, Tagebuch eines Einjährig-Freiwilligen, S. 15. Vgl. John, Das Reserveroffizierkorps im Deutschen Kaiserreich, S. 126f. Vgl. John, Das Reserveroffizierkorps im Deutschen Kaiserreich, S. 129, Zitat ebd., sowie zu den Schmiergeldern S. 130f. Gleichzeitig hatte sich die Entlohnung der Unteroffiziere im Kaiserreich deutlich verbessert, um geeignete Bewerber zu gewinnen. Die ökonomische Prosperität des Kaiserreichs, insbesondere seit 1890, machte Handel und Industrie zu scharfen Konkurrenten der Armee um Arbeitskräfte. Vgl. SchmidtRichberg, Die Regierungszeit Wilhelms II., S. 96. Die Dienstbestimmungen verboten das strikt, aber ohne größere Wirkung. Vgl.: „Es ist auf das strengste verboten, an Vorgesetzte oder deren Angehörige Geschenke zu machen desgleichen diese oder Mannschaften der Wache freizuhalten oder mit Lebensmitteln und Getränken zu versehen.“ Bestimmungen über die Dienstverhältnisse, S. 7. Gleichlautend von Maltzahn, Handbuch für den Einjährig-Freiwilligen, S. 12 und von Unger, Hilfsbuch, S. 3. Bei letzterem hieß es scharf: „[…] lebt so zu sagen der Unteroffizier auf Kosten des Einjährig-Freiwilligen, oder artet die Gepflogenheit zu häufigen Gelagen aus, die aus des Einjährigen Tasche bezahlt werden, so liegt darin eine böse Schädigung der Disziplin, d. h. in diesem Falle der Stellung zwischen Untergebenen und Vorgesetzten.“ Das „Schmieren“ der Unteroffiziere zur Erleichterung des Dienstes sei zudem ein „skandalöser Vorgang“. Solche Handlungen hätten auch negativen Einfluss auf die Beförderung.

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würde!“93 Bereits sechs Wochen später erhielt der ausbildende Unteroffizier zur weiteren schonenden Behandlung der Einjährigen von diesen allerdings 40 Flaschen Wein.94 Die Einjährigen wurden als mögliche spätere Reserveoffiziere von den Offizieren auch ins Offizierskasino eingeladen. Grundsätzlich sollten die Einjährigen nur in ‚anständigen‘ Lokalen verkehren, in denen die bürgerliche Gesellschaft und auch die Offiziere anzutreffen waren. Alles andere, so die Warnung, wäre für die Karriere schädlich: „Er [der Einjährige, CG] darf nur solche Lokale aufsuchen, in denen die besseren Kreise der Gesellschaft sich zeigen. Er muß also, wenn er Offizier werden will, seinen Verkehr so einrichten, daß ihm dieser kein Hindernis bei der Erreichung seines Zieles bereitet.“95 Gegenüber den Offizieren hatte der Einjährige sich auch in der zivilen Öffentlichkeit stets respektvoll und militärisch korrekt zu verhalten: „Betritt der Einjährige ein Lokal, in welchem sich Vorgesetzte befinden, so lege er besonderen Werth auf eine gute Ehrenbezeugung; er tritt, die Kopfbedeckung an der rechten Lende haltend, in dienstlicher Haltung bis auf einige Schritte an den Vorgesetzen heran, jedoch nur in dem Falle, wenn eine Störung oder Belästigung des Publikums, wie sie z. B. in eng besetzten Konzertsälen eintreten würde, dadurch nicht entsteht. Nachdem die Ehrenbezeugung von dem Vorgesetzten erwidert ist, tritt der Einjährige weg und setzt sich auf seinen Platz. Gesprochen wird zu den Offizieren nur dann, wenn diese den Freiwilligen anreden. Tritt ein Vorgesetzter in das Lokal oder verläßt er dasselbe, so erhebt sich der Einjährige von seinem Sitz. Beim Verlassen des Lokals empfiehlt er sich dem Vorgesetzten in gleicher Weise wie beim Eintritt.“96

Während der ersten drei Monate wurden die Einjährigen gemeinsam mit den Rekruten der Kompanie von den Unteroffizieren ausgebildet (Turnen, Exerzieren, Schießen usw.), bekamen aber in der Kavallerie separaten Reitunterricht. Danach erhielten sie einen nur für sie stattfindenden Unterricht, unterteilt in Theorieunterricht und praktische Übungen, durch einen Offizier, der dem Hauptmann beim Stabe direkt unterstand. Hier lernten die Einjährigen unter Anleitung, Mannschaften zu kommandieren und Aufgaben eines Unteroffiziers wahrzunehmen und mussten weiterhin regelmäßige Turnübungen zur körperlichen Fitness absolvieren. Teile der Mannschaft der Garnison wurden für die Ausbildungsübungen der Einjährigen abgestellt. Hausarbeiten und Klausuren, welche die Einjährigen für den unterrichtenden Offizier anzufertigen hatten, sollten der Prüfung ihrer Befähigung zum Reserveoffizier dienen, ebenso prak93 94 95

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Archiv WHC, Sign. 149, Paul Colsman an die Eltern, 7. Oktober 1883. Vgl. Archiv WHC, Sign. 149, Paul Colsman an die Eltern, 19. November 1883. Von Maltzahn, Handbuch für den Einjährig-Freiwilligen, S. 12. Ergänzend heißt es bei von Unger: „Was den Besuch von Wirtshäusern, den Verkehr mit Zivilpersonen und alles Benehmen in der Öffentlichkeit anbetrifft, so genügt für den Einjährig-Freiwilligen der Hinweis, wie alles vom Uebel ist, was den Standespflichten des gebildeten anständigen Mannes, des Trägers des Soldatenrocks und des zukünftigen Offiziers auch nur im Geringsten zuwiderläuft.“ Von Unger, Hilfsbuch, S. 4. Von Glasenapp, Handbuch für den Einjährig-Freiwilligen 1895, S. 9. Gleichlautend von Maltzahn, Handbuch für den Einjährig-Freiwilligen, S. 12f.

tische Prüfungen im Vorexerzieren eines Zuges, in der Vorinstruktion einer Abteilung über ein vorgegebenes Thema, der Lösung einer Felddienstaufgabe usw.97 Nach sechs Monaten konnten Einjährige zu Gefreiten, nach neun Monaten zu Unteroffizieren befördert und damit bereits zu Vorgesetzten der Mannschaftssoldaten werden.98 Kurz vor dem Ende des Militärjahrs fand eine Abschlussprüfung ausgewählter und für geeignet befundener Einjähriger statt, die endgültig feststellte, ob diese zu Reserveoffizieren taugten. Wenn dies nicht der Fall war, konnten sie Unteroffiziere der Reserve werden. Diejenigen, welche die Prüfungen erfolgreich absolvierten und auch in Praxis und Verhalten für geeignet befunden worden waren, wurden vom Regiment zu Offizieraspiranten ernannt und erhielten ein Befähigungszeugnis.99 Um anschließend Reserveoffizier zu werden, mussten die Aspiranten in den beiden auf das Dienstjahr folgenden Jahren zwei achtwöchige Übungen absolvieren. Auch während dieser Übungen durften sie privat wohnen, sollten aber mit den anderen Offizieren im Kasino speisen. Absolvierten sie die Übungen und die begleitende theoretische und praktische Prüfung erfolgreich, konnten sie durch das Offizierkorps des Landwehrbezirks, in dem sie wohnhaft gemeldet waren, zu Reserveoffizieren gewählt werden.100 Für die Wahl kam es weniger auf militärische Fähigkeiten als auf ‚Passung‘ an, auf habituelle Kriterien (z. B. erwartete man von Seiten des Militärs ‚Schneidigkeit‘, ‚Strammheit‘ usw.), auf eine positive Haltung zum Militär und zum Offizierberuf und auf die soziale Herkunft. Ab der Jahrhundertwende bildeten das Bildungs- und das Wirtschaftsbürgertum mit rund 70% die deutliche Mehrheit im Reserveoffizierskorps des Kaiserreichs, wobei auch hier die Klagen der Militärs über die mangelnden militärischen Fähigkeiten der Reserveoffiziere nicht abrissen.101 Die Dienstzeit als Offizier der Reserve betrug sechs Jahre. In diesen sechs Jahren waren drei weitere Übungen von vier bis acht Wochen Dauer zu absolvieren. Insgesamt wurden die Einjährigen nur mäßig von militärischer Ausbildung und militärischen Diensten beansprucht; sie wurden von ausgesuchten Offizieren unterrichtet und ausgebildet und konnten ansonsten ihr Leben frei gestalten. 97

Vgl. von Unger, Hilfsbuch, S. 302ff.; von Maltzahn, Handbuch für den EinjährigFreiwilligen, S. 516ff. Zusammenfassend auch Frevert, Die kasernierte Nation, S. 216. 98 Vgl. Ritter, Das deutsche Kaiserreich, S. 99. 99 Ausbildungsverlauf nach: Bestimmungen über die Dienstverhältnisse, S. 8ff., sowie Der Einjährig-Freiwillige und sein Dienst, S. 45ff. 100 Reserveoffizierausbildung nach: Bestimmungen über die Dienstverhältnisse, S. 15ff. Vgl. von Unger, Hilfsbuch, S. 11; von Glasenapp, Handbuch für den Einjährig-Freiwilligen, 3. neu bearb. Auflage 1901, S. 12. 101 Vgl. John, Das Reserveoffizierkorps im Deutschen Kaiserreich, S. 246ff., S. 270ff., S. 323; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2, S. 231. Aber die gründliche militärische Ausbildung, so die Vertreter der Militarisierungsthese, sei auch nicht die Hauptsache gewesen, sondern die Bindung des Bürgertums „an den Militärstaat“. Wette, Militarismus in Deutschland, S. 62. Wie sich dies allerdings angesichts der kurzen Kontaktzeiten der Einjährigen und der Reserveoffiziere mit dem Militär hätte realisieren lassen, bleibt unklar.

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Ihre Sozialisationskontexte in der Militärzeit waren dadurch nicht ausschließlich militärisch, sondern umfassten eine Vielzahl weiterer Sozialisationsinstanzen. Der Unternehmersohn Wilhelm Scheidt aus Kettwig berichtete 1860 in Briefen nach Hause aus seinem Einjährigendienst als Kavallerist in Düsseldorf von einem morgendlichen Turnunterricht, danach gab es etwas freie Zeit zur Rekreation, in der gelesen oder geschrieben wurde, dann folgte Reitunterricht, danach wieder etwas Freizeit und das Mittagessen, das außerhalb der Kaserne eingenommen wurde. Am Nachmittag wurde eine Stunde exerziert, an einigen Tagen gab es noch einen einstündigen Theorieunterricht. Damit endete der militärische Teil des Tages. Am späten Nachmittag begann erneut die Freizeit, die Wilhelm Scheidt mit Billardspielen, Theater- und Konzertbesuchen verbrachte.102 Angesichts solcher angenehmen Dienstverhältnisse, die sich in den Rahmenbedingungen während des Kaiserreichs nicht veränderten, warnten die militärischerseits herausgegebenen Handbücher für die Einjährig-Freiwilligen scharf vor der Einschätzung des einjährigen Militärdienstes als Auszeit von Universität, Ausbildung und Beruf: „Das Dienstjahr soll nicht ein Jahr des Genusses sein, sondern ein Jahr strenger, ernster Arbeit […]. Je größer die Zuschüsse sind, die der Einjährige von [zu] Hause erhält, desto mehr ist es seine Pflicht, keinen Luxus zu treiben oder irgendwie Aufhebens davon zu machen. […] Der Einjährige hat nur dann Aussicht, im späteren Verlauf seiner Dienstzeit zum Reserveoffizier befördert zu werden, wenn er durch dienstliche Tüchtigkeit und durch richtiges Benehmen außer Dienst die nötige Reife für seinen Beruf gezeigt […] hat.“103

Aus Abiturienten, Studenten, jungen Fabrikanten und Kaufleuten konnten innerhalb eines Jahres aber keine militärisch adäquat ausgebildeten Offiziersanwärter gemacht werden. Letztlich wurden die Einjährigen nur in die Lage versetzt, militärische Abläufe (Exerzieren, Schießen, Reiten in Formation usw.) einigermaßen mit zu vollziehen. Militärisches Fachwissen und gründliche praktische Übung fehlten, und dieses Fehlen wurde auch militärischerseits konstatiert: „Häufig genug wurden die Einjährigen wegen ihrer mangelnden militärischen Kenntnisse gar zum Gespött der Routiniers auf den Kasernenhöfen. Wenn etwas schiefging, hieß es regelmäßig: ‚Typisch Einjährig-Freiwilliger!‘.“104 „Natürlich wieder der Einjährige!“ war eine stehende Redewendung in den Garnisonen.105

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Vgl. Soénius, Wirtschaftsbürgertum, S. 136. Von Maltzahn, Handbuch für den Einjährig-Freiwilligen, S. 13. Ähnlich von Unger: „Irgendwie Luxus zu treiben, ziemt überhaupt dem Einjährig-Freiwilligen garnicht.“ „Wer also über Geldmittel verfügt, die ihm größeren Aufwendungen gestatten würden, der beherzige, daß er sie lieber zu etwas Besserem ausgibt, als für ein Uebermaß von Vergnügungen und Schwelgereien.“ Von Unger, Hilfsbuch, S. 3. 104 Wette, Militarismus in Deutschland, S. 62. 105 John, Das Reserveoffizierkorps im Deutschen Kaiserreich, S. 140. Zum geringen militärischen Können der Einjährigen vgl. auch Messerschmidt, Die politische Geschichte der preußisch-deutschen Armee, S. 98ff.

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Hartmut John möchte für den Einjährigendienst festhalten, dass dieser die bürgerlichen Jugendlichen erstmals, nach verhältnismäßig vielen Freiheiten in Familie und Schule, einer autoritären Sozialisationsinstanz mit rigorosen Befehls- und Gehorsamsstrukturen unterwarf.106 Das Gegenteil war meines Erachtens der Fall. Bereits die zeitgenössische Literatur des Kaiserreichs enthielt viele Hinweise, dass die Einjährigen ihre Dienstzeit eher als „Vergnügungsperiode“, „Jahr austobender Lebenslust“ und als „fröhliches Dienstjahr gegen den elterlichen Geldbeutel“ einschätzten.107 Die Erwartung der Einjährigen war zudem darauf gerichtet, bald die Rolle eines militärischen Vorgesetzten zu übernehmen. Ihre Bereitschaft, harte Dienste zu verrichten, war nicht sehr ausgeprägt, und ihr mangelnder Leistungswille und ihre geringe Unterordnungsbereitschaft wurden militärischerseits immer wieder beklagt.108 Es ist nachvollziehbar, dass die Berufsoffiziere und die Mannschaften die wenig ausgebildeten und in jeder Hinsicht privilegierten Einjährigen insgeheim oder auch offen als eine soziale und militärische Plage empfanden. Von „Schmerzenskindern“ der Hauptleute und vom „Schrecken aller Zugführer“ war in militärischen Publikationen während des Kaiserreichs die Rede.109 In einer literarischen Fassung liest sich das so: „Die jungen, studierten Leute aus Familien, die ihre Söhne verhätscheln, waren immer ein Hemmschuh für die Ausbildung der ganzen Kompanie. Sie mußten für sich in kurzer Zeit exerziert werden, nahmen […] wochenlang seine Unteroffiziere in Anspruch und wollten mit Glacéhandschuhen angefaßt sein. Das Beschwerderecht war ihnen in den ersten acht Tagen schon geläufig.“110

Für den militärischen Erfolg der Einjährigen, d. h. für ein mögliches späteres Reserveoffizierspatent, war es allerdings wichtig, ihre soziale Vorrangstellung aufgrund von Herkunft und geringeren militärischen Anforderungen in den Regimentern nicht zum militärischen Problem werden zu lassen. Die ständigen Warnungen der Handbücher an die Einjährigen, das von zu Hause übersandte Geld vorsichtig und zurückhaltend zu gebrauchen und damit ihre Vermögensverhältnisse den Unteroffizieren und Mannschaften nicht zu offenbaren, verweisen darauf, dass die Gefahr zu großer ökonomischer und sozialer Differenzen militärischerseits sehr wohl gesehen wurde: „Vornehmer ist es zudem immer, von etwaigem Reichtum kein Aufhebens zu machen und sich in seiner

106 107

John, Das Reserveoffizierkorps im Deutschen Kaiserreich, S. 115. Diese Zitate aus der zeitgenössischen Literatur des Deutschen Heeres stehen bei John selbst, Das Reserveoffizierkorps im Deutschen Kaiserreich, S. 116. 108 Vgl. John, Das Reserveoffizierkorps im Deutschen Kaiserreich, S. 137. 109 Zitate nach John, Das Reserveoffizierkorps im Deutschen Kaiserreich, S. 139, dort noch weitere Belegstellen. Vgl. auch Frevert, Die kasernierte Nation, S. 217. 110 Stilgebauer, Edward, Götz Krafft. Geschichte einer Jugend (1904/05), zit. nach John, Das Reserveoffizierkorps im Deutschen Kaiserreich, S. 139f.

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äußern Lebensführung nach denjenigen Kameraden zu richten, die mit geringeren Mitteln hauszuhalten gezwungen sind.“111 Einjährige sollten bereits während ihrer Rekrutenzeit von den einfachen Soldaten Abstand halten, gleichzeitig aber Freundlichkeit und Führung ihnen gegenüber einüben.112 Parallel sollten sie das Militär sowie den Beruf und die Tätigkeit des Offiziers schätzen lernen, und dazu scheint ihnen der Militärdienst möglichst angenehm gemacht worden zu sein.113 Die Einübung eines militärbezogenen Rollenverhaltens (der sie in den ersten Wochen ausbildende Unteroffizier war zunächst der militärisch Gebildetere und ihnen Vorgesetzte) sollte dazu führen, dass militärische Autorität anerkannt und Befehls- und Gehorsamsstrukturen eingeübt wurden. Da die meisten Einjährigen sich aber auf dem Weg zum Unteroffizier befanden, waren sie bald, nach neun Monaten, selbst die Vorgesetzten der Mannschaften. ‚Fraternisierungen‘ mit diesen, aber auch mit den Unteroffizieren sollten, da aus Einjährigen Reserveoffizieraspiranten wurden, möglichst nicht stattfinden und die Verkehrskreise sich stattdessen von Anbeginn an den Offizieren der Garnison orientieren.114 Gegenüber den Offizieren sollten die Einjährigen sich aber erst in der Zukunft als Gleichrangige verhalten: „In der Unterhaltung mit Offizieren lasse es der Einjährige niemals an dem nötigen Taktgefühl fehlen. […] Wird der Einjährige oder Reserveoffizieraspirant etwa zum Offiziermittagstisch herangezogen, so zeige er hierbei ganz besonders gute Formen, er vergesse nicht, daß die gute Erziehung und die Fähigkeit, sich in Gesellschaft zu benehmen,

111

Von Unger, Hilfsbuch, S. 3; vgl. Hilken, Praktische Winke für Einjährig-Freiwillige, S. 9ff. 112 „Im übrigen kommt es ganz besonders darauf an, daß er außer Dienst diesen gegenüber den richtigen Ton findet. Ohne dass er sich von ihnen in dem Gefühl eines völlig unangebrachten Hochmutes zurückhalten soll, vermeide er alle Vertraulichkeiten. Ein Verkehrston, wie ihn die Leute im Gespräch untereinander haben, wäre durchaus unrichtig. Durch nichts kann sich der Einjährige bei ihnen eine bessere Stellung verschaffen, als durch eine freundliche ruhige Art außer Dienst und durch persönliche Tüchtigkeit im Dienst.“ Von Maltzahn, Handbuch für den Einjährig-Freiwilligen, S. 11. Vgl. John, Das Reserveoffizierkorps im Deutschen Kaiserreich, S. 121f. 113 Ute Frevert betont dagegen die körperdisziplinierende Bedeutung des Exerzierens und der Felddienstübungen. Vgl. Frevert, Die kasernierte Nation, S. 224. Die harten militärisch-körperlichen Übungen bestimmten aber vor allem die ersten drei Monate des Militärjahrs. 114 Ein französischer Beobachter, Victor Tissot („De Paris à Berlin“, 1887), schrieb: „Diese jungen Herren [die Einjährigen, CG] genießen alle Arten von Privilegien; […] man sieht im Winter in der Ballsaison junge Freiwillige die Quadrillen dirigieren, eher kommandieren, indem sie die Figuren mit einer Donnerstimme aufrufen und den Takt mit festen Fußtritten klopfen. Es gibt nicht die geringste Beziehung zwischen diesen Freiwilligen und ihren Kameraden des Regiments.“ Auszug abgedr. in: Ulrich/Vogel/ Ziemann, Untertan in Uniform, S. 128–129, hier S. 129. Vgl. auch Frevert, Die kasernierte Nation, S. 225f.

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außer seiner dienstlichen Tüchtigkeit ein Maßstab ist, der bei seiner Beförderung zum Reserveoffizier angelegt wird.“115

Der einjährige Militärdienst bot somit unterschiedliche Rollen in militärischen Autoritätsverhältnissen an: Rekrut, Gefreiter, Unteroffizier, schließlich Reserveoffizieraspirant. Wer es sich leisten konnte, war darüber hinaus Vorgesetzter eines Burschen. Dabei wechselten die Positionen für die Einjährigen rasch und erforderten in der Rollenwahrnehmung zugleich Ambiguitätstoleranz.116 Aus Rekruten und Gefreiten wurden nach neun Monaten Unteroffiziere mit Befehlsgewalt, nach weiteren drei Monaten schließlich Reserveoffiziersanwärter im höheren Rang als die Unteroffiziere, als Teil des Offizierkorps. Doch diese Rollen bezogen sich nur auf die Verhältnisse innerhalb der Kaserne und auf die Begegnungen mit Militärs in der Öffentlichkeit. Gleichzeitig waren die Einjährigen Teil der bürgerlichen Gesellschaft der Garnisonsorte. Hier trafen sie bei Einladungen und Empfängen auf vollkommen andere Sozialisationsumgebungen, und ihre Einjährigen-Uniform zeigte in diesem Zusammenhang weniger das Eindringen militärischer Ränge in die Zivilgesellschaft als die demonstrative Zugehörigkeit der Einjährig-Freiwilligen zu einem Bevölkerungsteil an, der gebildet und privilegiert genug war, keinen drei- bzw. zweijährigen Wehrdienst leisten zu müssen. In den folgenden Ausführungen werden anhand von Briefen aus der Militärzeit die auf das Militär bezogenen Selbstpräsentationen und Handlungsorientierungen der Einjährig-Freiwilligen aus der Unternehmerfamilie Colsman im Kaiserreich analysiert. Ebenso werden die außerhalb des Militärs relevanten Sozialisationsinstanzen beschrieben und in ihrer Bedeutung für die Einjährigen analysiert. Einbezogen wird in der Darstellung auch diejenige Generation, die ihren Militärdienst schon in den 1850er Jahren ableistete, um Konstanz und Wandel im Kaiserreich besser herausarbeiten zu können.

3. Die Einjährig-Freiwilligen beim Militär: Sozialisationserfahrungen zwischen Herkunftsfamilie, Kaserne und Großstadtleben In ihrem Militärjahr als Einjährig-Freiwillige fanden sich die männlichen Jugendlichen der Unternehmerfamilie Colsman zum ersten Mal in ihrem Leben nicht in familienartigen Sozialisationskontexten wieder, sondern lebten allein 115

Von Maltzahn, Handbuch für den Einjährig-Freiwilligen, S. 12; zum Verhalten in Gesellschaft und in der Garnison vgl. ebd., S. 11ff. In einem weiteren Handbuch hieß es: „Im dienstlichen und außerdienstlichen Verkehr mit den Offizieren zeichne den Einjährig-Freiwilligen besondere Strammheit und militärischer Anstand, Bescheidenheit und Höflichkeit aus. Wird er in den Kreis der Offiziere hineingezogen, so zeige er sich dieses Vorzuges durch Hervorkehrung bester gesellschaftlicher Formen würdig.“ Von Unger, Hilfsbuch, S. 3. 116 Vgl. John, Das Reserveoffizierkorps im Deutschen Kaiserreich, S. 120f.; auch Frevert, Die kasernierte Nation, S. 217.

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oder mit Kameraden in der preußischen, später gesamtdeutschen Hauptstadt. Berlin besaß um 1850 427.000, 1870 dann bereits 786.000 Einwohner. Seit den 1850er Jahren entwickelte sich in Berlin eine Stadtstruktur, innerhalb derer das Zentrum weiterhin aus den preußischen Regierungs- und Verwaltungskomplexen und den Paradestraßen und -plätzen bestand; aber „mit dem Aufschwung des Maschinen- und Instrumentenbaus, des Kattundrucks und Textilgewerbes, der Banken und Versicherungen bildeten sich scharf getrennte Produktions-, Dienstleistungs- und Wohngebiete zügig heraus“.117 Die Eisenbahn band Berlin rasch an das Umland und die anderen preußischen Provinzen an. Berlin wuchs im Kaiserreich weiterhin rasant: 1914 besaß es über zwei Millionen Einwohner, ohne in unmittelbarer Nähe gelegene Städte wie Charlottenburg, Schöneberg, Neukölln und andere dazuzurechnen, die erst im Groß-Berlin-Gesetz 1920 zu Berlin eingemeindet wurden.118 Diese ‚Vorstädte‘ und weitere Gemeinden waren aber so eng mit Berlin verbunden, dass sie zusammen kurz vor dem Ersten Weltkrieg einen städtischen Ballungsraum mit fast vier Millionen Einwohnern bildeten. Das Wachstum Berlins war im Europa des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts beispiellos, auch wenn London 1910 bereits über sieben Millionen Einwohner zählte und Paris knapp drei Millionen. Beide Städte waren aber traditionell große Metropolen gewesen und hatten bei weitem kein so rasantes Wachstum zu verzeichnen gehabt wie Berlin.119 Für die Einjährig-Freiwilligen der Unternehmerfamilie Colsman war dies durchweg die erste Sozialisationserfahrung in einer Metropole, bevor sich für sie nach dem Militärjahr weitere Ausbildungsstationen in Großstädten des europäischen Auslands (London, Mailand) und nach der Jahrhundertwende auch in den USA (New York) anschlossen. 1852/53 absolvierte Wilhelm Colsman-Bredt als erster Sohn der Unternehmerfamilie seinen einjährig-freiwilligen Militärdienst in Berlin.120 Er tat dies beim Königlich Preußischen Garde-Artillerie-Regiment, aber er qualifizierte sich während seines Dienstes nicht zum Reserveoffiziersanwärter, sondern nur zum Unteroffizier. Als ausgebildeter Kanonier wurde er anschließend zur Reserve entlassen, 1865 wurde er wegen chronischer Erkrankung des Fußgelenks aus der Landwehr 2. Aufgebots ausgemustert.121 Dass das Militär in seinen Einstellungen zu Politik und Gesellschaft, in seiner Selbstpräsentation und in seinen Handlungsorientierungen jemals eine Rolle gespielt hätte, ist seinen Briefen aus dem Einjährig-Freiwilligen-Jahr und auch seinen späteren Briefen nicht zu entnehmen. Deutlich zeichnet sich in seinen Briefen aus dem Einjährig117 118 119 120

121

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Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 3, 1849–1914, S. 21. Einwohnerzahlen ebd. Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 3, 1849–1914, S. 512f. Vgl. dazu insgesamt Lenger, Metropolen der Moderne, S. 27ff. Zuvor war in der Familie versucht worden, den Militärdienst möglichst zu vermeiden und sich ausmustern zu lassen. Lediglich der Vater Wilhelm Colsman-Bredts hatte 1820/21 sein Einjährig-Freiwilligen-Jahr in Düsseldorf tatsächlich ableisten müssen. Vgl. Archiv WHC, Sign. 24, Militärpapiere Wilhelm Colsman-Bredt 1853–1862; Archiv WHC, Sign. 39, Wilhelm Colsman-Bredt, Ausmusterungsschein, 19. August 1865.

Freiwilligen-Jahr dagegen ab, wie sich seine Sozialisationskontexte in Berlin gestalteten. Wilhelm Colsman-Bredt lebte zusammen mit einem Freund in einem Zimmer zur Untermiete, wurde militärisch nur zeitweise übermäßig beansprucht und hatte in dem folgenden Brief nach einer Pockenimpfung gerade eine Woche freibekommen: „[…] der Dienst ist allerdings zuweilen sehr unbequem und anstrengend, doch da ich glücklicher Weise nicht gerade zu den Schwächsten gehöre und mich auch, wenigstens bis jetzt noch, für das Kriegshandwerk interessiere, fällt er mir nicht gerade schwer. Die laufende Woche ist für mich eine Woche der Erholung; wir, mein Stubengenosse Albert Reichm. und ich, wurden nemlich in voriger Woche geimpft […] Die uns auf diese Weise so unverhofft zu Theil gewordenen Ferien […] werde [ich] […] nun benutzen um die Stadt Berlin d. h. deren Sehenswürdigkeiten etwas kennen zu lernen und dann auch um Collegien zu besuchen und endlich um etwas wieder im Klavier-Spielen zu üben; wir haben uns nemlich soeben, in Berücksichtigung der vielen freien Zeit ein kleines Instrument gemiethet. – Das Leben hier ist im Ganzen wenngleich sehr ungemüthlich und geräuschvoll, ziemlich angenehm, an Abwechselung und dergl. fehlt es nie; man fühlt sich hier unter der ungeheuren Masse Menschen die man nicht kennt und von der man nicht gekannt ist zwar nicht heimlich, aber dagegen ist man ganz und gar sein eigener Herr und kann leben wie man es gerade für gut findet.“122

Berichtenswert war für Wilhelm Colsman-Bredt nicht die militärische Praxis, die für die Adressatin, seine Großmutter, unbekannt und daher durchaus interessant hätte sein können, sondern seine Lebensumstände in Berlin und sein Eindruck von der Großstadt. Die militärische Praxis wurde nur knapp skizziert, und zwar als eine primär körperliche Herausforderung, aber auch als eine Praxis, welcher der Briefschreiber grundsätzlich positiv gegenüberstand. Universitätsseminare, Klavierspielen (mit einem von den beiden Einjährigen für ihre Wohnung gemieteten Instrument) und die ungewohnte Anonymität einer Stadt um 1850 mit fast einer halben Million Bewohnern, die eine geringe soziale Kontrolle und viel Freiheit der Lebensführung bereithielt, waren in dem Brief jedoch das eigentlich Eindrückliche und bestimmten die Selbstpräsentation und die Handlungsorientierungen des Schreibers. Auch Emil Colsman, der seinen einjährig-freiwilligen Dienst siebzehn Jahre später, 1869/70, beim 2. GardeUlanen-Regiment in Berlin absolvierte, sprach in diesem Zusammenhang kurz nach der Dienstzeit von den „bisher unbekannten Genüssen“ und der „geistigen Anregung“, die das Berliner Dienstjahr für ihn bereitgehalten habe. Insbesondere aber sei es eine „herrliche Ausspannung“ gewesen.123 Seinem Vater berichtete Wilhelm Colsman-Bredt 1852/53 neben der Wohnsituation über die Militärparaden, über seine in Berlin gepflegten Geschäftskontakte und über seine geschäftlichen Überlegungen, aber wiederum nur am Rande vom eigentlichen Militärdienst:

122

Archiv WHC, Sign. 39, Wilhelm Colsman-Bredt an seine Großmutter Johanna Bleckmann, 6. Dezember 1852. 123 Colsman, Tagebuch eines Ulanen, S. 3.

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„Unsere Wirthin ist eine sehr artige und gebildete Frau; sie bot uns bei unserm Einzug an, ob wir nicht bei ihr zu Mittag essen wollten und da ich das Essen im Wirthshause leid war, nahm ich diesen Vorschlag an, aber mußte mich bald wieder eines Anderen besinnen, denn die Essenszeit war so unregelmäßig und spät, sehr häufig wurde es 2 Uhr, daß ich, wenn ich Morgens einige Stunden exercirte, meinen Magen nicht so lange bändigen konnte und mich deshalb genöthigt sah zu der früheren Weise zurückzukehren. […] Die gestrige Parade war, wie dergl. gewöhnlich, ziemlich langweilig, wozu noch eine Kälte von ca 30 unter 0 die Sache höchst ungemüthlich machte; unser Zug kam sehr gut vorbei. […] Am 4. Mai wird das ganze Garde Corps von hier & Potsdam eine Corps-Übung und große Parade auf dem Kreuzberg halten […] Zuweilen, wenn ich gerade in die Spandauer Straße komme, besuche ich den Einen oder Andern unserer Geschäfts-Freunde, vor einigen Tagen war ich bei H. Joseph Cohn, traf aber nur dessen Bruder, der mich dann zu einer Tasse Caffe nöthigte; […] und [ich] glaube daß die Errichtung resp. Erweiterung der Webeschule wie sie da näher angegeben für Elbf.[Elberfeld, CG] sowohl als auch für die ganze Umgegend wenigstens auf die Dauer der Zeit, von nicht geringem Nutzen sein wird; ob man dadurch aber eine Unabhängigkeit von Lyon wird erzielen können, glaube ich fast nicht.“124

Vergleichbar schilderte Emil Colsman seiner Frau 1879 bei einem geschäftlichen Berlin-Besuch seine Wohnung und seine Lebensumstände als EinjährigFreiwilliger in Berlin zehn Jahre zuvor, auch hier ohne die Darstellung der militärischen Ausbildung: „Gestern machten wir noch einen höchst plaisirlichen Besuch in Moabit bei der Ulanen Caserne bei meines u. Eduards früherer Wirthin. Als ich schellte u die Thüre aufgemacht war kannte mich Frau Lübders sofort wieder, u. mit einem Ah – Herr Colsman!! mußte ich mit in unsere frühere Soldatenstube, die jetzt von 2 andern Einjährigen Ulanen bewohnt war. Greifbar stiegen vor mir die Zeiten vor 10 Jahren auf, ich sah unsern alten Schreibtisch u. unsere durch spanische Wand getrennte Betten, sah uns wieder staubbedeckt von Kreuzberg kommen u. dann durch Schinken u. Bier gekräftigt, bald in die Stadt zu schönen Collegien eilen, sah uns dann aber auch im Ernst unsere Kiste packen, als die Mobilmachungsorder da war, u wir nach Frankreich zogen!“125

Das Militärjahr in Berlin war für Wilhelm Colsman-Bredt und Emil Colsman auch verbunden mit neuen Bildungserfahrungen: Sie schrieben sich beide als Gasthörer an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität ein. Dazu waren sie durch ihr schulisches Befähigungszeugnis für den Einjährig-Freiwilligen-Dienst berechtigt. Die Einjährigenqualifikation verlieh den Inhabern in Verbindung mit dem Selbstverständnis der höheren Schulen den Charakter des Nachweises der Zugehörigkeit zu einem gebildeten Bevölkerungsteil, und das Gasthörerrecht an der Universität bestätigte dies praktisch und symbolisch. Der mit Wilhelm Colsman-Bredt gleichaltrige Langenberger Seidenfabrikantensohn Gottfried Conze (1831–1920) leistete im selben Jahr wie dieser, 1852/53, in Berlin seinen einjährig-freiwilligen Dienst ab und schrieb an seine Eltern: 124

Archiv WHC, Sign. 39, Wilhelm Colsman-Bredt an Johann Wilhelm Colsman, 17. April 1853. 125 Archiv ACE, Sign. V,12, Emil Colsman an Mathilde Colsman, 3. April 1879.

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„Ich höre bei Michelet 4 mal wöchentlich Geschichte der Philosophie, ein Kolleg, das mir, nach den beiden ersten Vorlesungen zu urtheilen, viele Freude und Gewinn bringen wird; 1 mal Sonnabends bei Prof. Panofka Vorlesungen über die Bedeutung der besten antiken Monumente im Museum und werde noch hören, sobald die Kollege beginnen: 6 mal wöchentlich bei Mitscherlich Experimentalchemie. 1 mal Theorie der Chemie bei Rammelsberg, 2 mal Meteorologie bei Dove, 2 mal nordische Mitologie und 2 mal Erklärung des Nibelungenliedes bei von der Hagen. So bin ich ganz prächtig eingerichtet und wünsche nur, daß mich der Dienst am Besuch der Vorlesungen nicht hindern möge.“126

Wie Wilhelm Colsman-Bredt und Emil Colsman hatte Gottfried Conze eine Realanstalt mit Einjährigenberechtigung besucht und in Elberfeld in einer Schülerpension gelebt. Seinen einjährigen Militärdienst absolvierte auch er beim Königlich Preußischen Gardekorps, beim Garde-Fußartillerie-Regiment.127 Für Gottfried Conze war in seiner Selbstpräsentation gegenüber den Eltern sein wissenschaftliches Engagement zentral, der Militärdienst dagegen nur dessen ermöglichender Rahmen. Die Handlungsorientierungen richteten sich auf das Studium. Weitere Briefe Gottfried Conzes schildern Gesellschaften und Empfänge, der Militärdienst ist nur in einem einzigen der abgedruckten Briefe die Hauptsache des Berichts.128 Der Eindruck, dass der eigentliche militärische Dienst in der Selbstpräsentation der Einjährigen und späteren Reserveoffiziere eine untergeordnete Rolle spielte, wird durch die Lebenserinnerungen Emil Colsmans verstärkt, der über seinen einjährig-freiwilligen Militärdienst 1869/70 bei den Berliner Garde-Ulanen zwei Jahre später euphorisch festhielt: „Das Dienstjahr mit 2 guten Barmer Freunden Eduard Molineus und Albert Erbslöh verabredet, ergab in seinem Verlauf einen Glanzpunkt meines bisherigen Daseins, da der Dienst bei der Kavallerie nach Erledigung der ersten anstrengenden 6 Wochen viel freie Zeit liess, um die vielerlei Anregungen, welche damals Berlin bot, zu geniessen. Wir waren als Hospitanten bei der Universität eingetragen, konnten Kunstgeschichte, NationalOekonomie hören und genossen dazu die Schätze der Museen und der National-Gallerie in vollsten Zügen, nebst Theater und Konzerten.“129

Die Beschreibung des einjährigen Militärdiensts als ein Kultur- und Gesellschaftsjahr setzte sich bei den Einjährig-Dienenden aus der Unternehmerfamilie mit Beginn des Kaiserreichs ungebrochen fort. Peter Lucas Colsman berichtete 126

Gottfried Conze an seine Eltern, 24. Oktober 1852, abgedr. in Conze, Conze. Ein Familienbuch, S. 124. 127 Vgl. Conze, Conze. Ein Familienbuch, S. 111f.; Briefe von Gottfried Conze aus dem Berliner Einjährigendienst ebd., S. 124–132. Ab den 1860er Jahren wurde der EinjährigFreiwilligen-Dienst dann von den Söhnen der Unternehmerfamilie bei der Kavallerie des Gardekorps abgeleistet. Andreas Colsman (1840–1917), der Cousin Wilhelm Colsman-Bredts und Sohn des Teilhabers Eduard Colsman, absolvierte 1862/63 als Erster seinen einjährig-freiwilligen Militärdienst als Kavallerist bei den Berliner Garde-Dragonern. Vgl. Archiv AC, Eduard Colsman, Tagebuch, Eintragungen 1862/63, S. 142ff. 128 Vgl. die abgedruckten Briefe Gottfried Conzes in Conze, Conze. Ein Familienbuch, s. 124–132. 129 Archiv EC, D2/36, Emil Colsman, Lebenserinnerungen, S. 23.

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seinen Eltern während seiner Berliner Militärzeit 1876/77 beim 1. Garde-Dragoner-Regiment weit mehr über Gesellschaften, Opernbesuche und Museen als über den Militärdienst: „Samstag Abend bei Ebarts, die Leute waren wie immer recht freundlich. Es war eine Gesellschaft von ca. 20 Personen; der Vater von Ebart ist Commerzienrath geworden, & galt demselben wol das feierliche Essen. Ich lernte dort verschiedene angenehme Herren kennen, mit denen ich vielleicht später noch in Berührung kommen werde. Mit Einem derselben trank ich am selbigen Abend noch ein Glas Bier, & bat er mich ihm mal gelegentlich zu schreiben, wo wir uns treffen sollten, um ein Glas Wein zu trinken. Außerdem war noch ein Kreisgerichtsrath, der Director vom Thiergarten, der Abgeordnete Gärtner, (welcher Gottfried Conze bekannt ist) & ein Buchhändler Schlenter anwesend; […] Im Dienst wenig Neues. Die Knie machen sich. Durch die körperliche Anstrengung wird auch der Geist müde, weßhalb so wenig Lust und Kraft zum Studium.“130 „In der letzten Woche war ich zweimal im Opernhaus, wo ich mit Lebrecht & Familie zusammenstieß. Joseph in Egypten & Genoveva wurden gegeben. Heute Abend dachte ich ins Schauspiel zu gehen, wo Hamlet gespielt wird.“131 „Gestern hörte ich mit Raymond eine Vorlesung in der Universität bei Prof. Dambach über ‚Neuere Geschichte‘. In den vorigen Tagen habe ich häufig des Theater besucht, werde aber nachdem ich ‚Fidelio‘ gehört, damit aufhören für dieses Saison, falls ich nicht mit Bekannten herein müßte.“132

Am 26. September 1883 trat Paul Colsman (1861–1922) seinen einjährig-freiwilligen Dienst bei den Garde-Kürassieren in Berlin an; sein jüngerer Bruder Johannes (1868–1922) absolvierte seinen Einjährigendienst bei demselben Regiment 1890/91. Auch für Paul Colsman war der einjährige Militärdienst nicht sehr zeitaufwendig und die tägliche Freizeit üppig. Er schrieb schon unmittelbar vor seinem Dienstantritt an seine Eltern, dass er für den Verkehr außer Dienst vor allem die Adressen Berliner Wirtschaftsbürger und von Freunden der Familie wünsche.133 Auch die ersten Wochen der gemeinsamen Ausbildung mit den anderen Rekruten charakterisierte er als körperlich nicht übermäßig fordernd, präsentiert wurde die Ausbildung aber gleichwohl als intensive Körpererfahrung: „Die erste Dienstwoche liegt nun hinter mir & kann ich über den Dienst nicht klagen; ich hatte mir die Sache viel schlimmer vorgestellt & vermuthe auch fast, daß das dicke Ende noch kommt, denn bis jetzt ist es noch nicht viel! Natürlich ist einem die Arbeit ungewohnt, & freue ich mich jeden Abend auf mein Bett! […] Um 5 Uhr stehe ich auf & putze von 5 ½ bis 6 ½ Uhr mein Pferd, gehe dann nach Hause & frühstücke, (Rauchfleisch, Zunge etc.). Um 7 ½ werden die Pferde zum Reiten in Ordnung gemacht & um Punkt 8 heißt es: ‚Nach zählen fertig zum Aufsitzen‘. Jeder freut sich dann wenn er auf 130

Archiv Landfried, Sign. 3, Peter Lucas Colsman an die Mutter Sophie Colsman, 28. Januar 1877. 131 Archiv Landfried, Sign. 3, Peter Lucas Colsman an die Mutter Sophie Colsman, 3. März 1877. 132 Archiv Landfried, Sign. 3, Peter Lucas Colsman an die Mutter Sophie Colsman, 9. Mai 1877. 133 „Wann kommt Papa? An die Adressen seiner hiesigen Freunde denkt er wohl?“ Archiv WHC, Sign. 149, Paul Colsman an die Eltern, 3. Oktober 1883.

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der Kröte sitzt & dann wird geritten. […] Nach dem Reiten haben wir von 10–11 Fußdienst, der mir auch nicht schwer fällt, da derselbe in frischer Luft auf dem Hof gethan wird. Am Nachmittag ist dann von 1 – ½ 3 Turnen & Instruktion im Stall bei 140 Pferden! Ersteres ist für uns alle das Schlimmste, da man von der Arbeit des Morgens noch müde ist & die Klimmzüge am Reck wollen nicht recht! Um 3 Uhr werden bis ½ 5 die Pferde geputzt & ist man dann frei. Ihr seht also so schlimm ist die Sache nicht! Geschwitzt habe ich aber die letzte Woche wie nie & glaube ich, daß ich schon bei meinem Gewicht ein Manko konstatieren kann, denn mein Fingerreif fiel mir die letzten Tage beim Waschen immer ab […].“134

Max Weber, der zur selben Zeit, 1883/84, seinen einjährigen Militärdienst bei einem Infanterie-Regiment in Straßburg absolvierte, schilderte dagegen seine Ausbildung als fast unerträgliche Qual, was aber, so Joachim Radkau, vor allem mit seiner Persönlichkeit und nicht zuletzt auch mit seinem Übergewicht zusammenhing. Ironische Bemerkungen des ausbildenden Unteroffiziers vor versammelter Mannschaft, bei Webers Turnübungen sei es, als würden „100 Hektoliter Pschorr am Reck“ baumeln, erlebte dieser als schamvolle Demütigung und verachtete gleichzeitig die „elendesten Halunken“, die ihn ausbildeten. Sein jüngerer Bruder Alfred nahm den Militärdienst kurze Zeit später weit weniger als Schikane und Demütigung wahr.135 Paul Colsman beschrieb seinen Dienst dagegen als insgesamt wenig strapaziös und seine Wohnverhältnisse als sehr angenehm: „Da bin ich jetzt auf meiner neuen Bude Neuenburger Straße 26 bei Frau Wwe Reinhorst II Treppen fertig eingerichtet & sehe den Dingen die kommen sollen noch entgegen. Die letzten drei Tage bestand der Dienst im Stehen, den ersten Tag erlebte Papa noch hier. […] Die Kürassiere betreiben die Sache gemüthlich! Herr v Doering & Herr Welle aus Mecklenburg resp Brandenburg scheinen ganz nette Herren zu sein, ersterer kennt fast sämmtliche Officiere des Regiments, was vielleicht für uns zwei ganz angenehm ist. Das Pferd, welches ich reiten werde, heißt Neptun ist neun Jahre alt & 1.73 Meter hoch. Unser Wachtmeister scheint ein ordentlicher Kerl zu sein; mit dem Schmieren werden wir noch warten! […] Meine Wohnung liegt an einer ziemlich breiten Straße […]. Preis 16 Thaler & M 10 Bedienung. Licht, Kaffee, Heizung extra. […] Die Wohnung besteht aus einem großen Wohnzimmer mit Alkoven für Bett, Waschtisch, Stiefel etc.“136

Paul Colsman stellte einen eigenen Burschen an („Mein Bursche scheint ein ordentlicher Kerl zu sein, er heißt Schilling & ist Mecklenburger“)137 und ließ sich auch eine Extra-Uniform schneidern: „Mir graut schon ordentlich vor der Schneiderrechnung! Meine extra Uniform erhalte ich hoffentlich noch heute & werde ich bei schönem Wetter morgen A Hoddick in Wilmersdorf in derselben

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Archiv WHC, Sign. 149, Paul Colsman an die Eltern, 13. Oktober 1883. Zitate aus Webers Jugendbriefen nach Radkau, Max Weber, S. 73f. Zu Max Webers Militärerfahrungen vgl. auch ebd., S. 73ff.; Frevert, Die kasernierte Nation, S. 218ff. 136 Archiv WHC, Sign. 149, Paul Colsman an die Eltern, 3. Oktober 1883. 137 Archiv WHC, Sign. 149, Paul Colsman an die Eltern, 7. Oktober 1883.

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meinen Besuch machen.“138 Der Vater sorgte sich um die wachsenden Aufwendungen und Ausgaben seines Sohnes: „Was ein weißes Koller ist, wissen wir nicht, würden es eher begreifen wenn du uns sagtest, welche Ansprüche ein solches an mein Portemonnaie stellt!??“139 „Fidelio hörtet Ihr ja neulich auch für meine Rechnung & kennt ihr ja wohl schon auswendig!“140 Auch wenn Paul Colsman sich im Unterschied zu seinem Vater und den älteren männlichen Verwandten Emil und Peter Lucas Colsman nicht an der Berliner Universität einschrieb, so war das Militärjahr doch auch für ihn voller neuer kultureller Erfahrungen und Freizeiterlebnisse: „Gestern Abend war ich im Opernhaus & hörte ‚Tannhäuser‘ von Richard Wagner, es war eine herrliche Musik & wundervolle Dekorationen!“141 „Von unserm Zusammensein mit Lucas werdet Ihr wol gehört haben! Lucas war sehr freundl & er nahm uns mit zu Hiller zum Essen [ein feines Restaurant Unter den Linden, CG] & am Abend zu Renz in den Circus, wo die Aufführungen famos waren. Besonders gut gefielen mir die 12 in Freiheit dressierten Schimmel Hengste!“142

Folgt man der Militarisierungsthese, wäre angesichts einer Hochschätzung alles Militärischen und der Übernahme militarisierter Interaktionsformen (BefehlsGehorsamsstrukturen) in der Zivilgesellschaft eine ausführliche Darstellung von Kaserne und Garnison, von Ausbildungserfahrungen, Vorgesetzten usw. zu erwarten gewesen, nicht zuletzt, weil sich auch der Erwartungshorizont der Briefempfänger bzw. der Leserschaft darauf bezogen hätte. Das eigentlich Militärische bleibt in den Briefen jedoch durchweg nebensächlich. Für alle beschriebenen Einjährigen war die Teilhabe an der Hauptstadtkultur und -gesellschaft die Hauptsache ihrer Darstellungen, und auch die elterlichen Briefe bezogen sich fast ausschließlich darauf. Insbesondere bemühten sich die Einjährigen, als wissenschaftlich und künstlerisch interessierte junge Männer mit geschliffenen bürgerlichen Umgangsformen wahrgenommen zu werden. Lebensgenuss anstelle harten Exerzierens und militärisch-asketischer Lebensbedingungen prägte das Bild, das die Einjährigen von ihrem Militärjahr zeichneten. Dazu kamen ergänzend die sich rasch bildenden Peer Groups aus gleichaltrigen und gleichrangigen Einjährigen anderer Regimenter, die den Eindruck des Militärjahrs als eines jugendlichen Moratoriums, als von verantwortlicher Mittätigkeit entlastete und durch gesellschaftliche Freiräume geprägte Phase der Persönlichkeitsentwicklung,143 vor dem Eintritt in die Berufstätigkeit verfestigen helfen: „Zu den Spezialfreunden […] fand sich bald ein grosser Kreis von Kameraden des eigenen wie der verschiedenen Berliner Reiter-Regimenter mit denen wir

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Archiv WHC, Sign. 149, Paul Colsman an die Eltern, 13. Oktober 1883. Archiv WHC, Sign. 183, Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 1. Dezember 1883. Archiv WHC, Sign. 183, Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 24. Oktober 1883. Archiv WHC, Sign. 149, Paul Colsman an die Eltern, 3. Oktober 1883. Archiv WHC, Sign. 149, Paul Colsman an die Eltern, 13. Oktober 1883. Vgl. als Überblick Zinnecker, Kindheit und Jugend als pädagogische Moratorien.

uns besonders gut verstanden [...].“144 Zu den neuen Erfahrungen gehörte für viele Einjährige auch das regelmäßige auswärtige Speisen in Restaurants in der Gesellschaft Gleichaltriger. So aß Emil Colsman 1869/70 mit seinen Einjährigen-Kameraden mittags mit den Einjährigen des Garde-Dragonerregiments in einer Weinstube und gönnte sich sonntags mit Freunden kleinere Diners in den Hotels „Angleterre“ oder „Stadt London“ in der Friedrichstraße,145 die damals – neben der Straße Unter den Linden – eine zentrale Berliner Flaniermeile mit Restaurants, Varietés, Hotels und auf ein bürgerliches Publikum zielenden Ladengeschäften war. Gegenüber den Schweizer Städten, die er nach der Schule als Volontär in einer Schweizer Seidenweberei 1868 kennengelernt hatte, hielt Emil Colsman Berlin infrastrukturell allerdings für rückständig: „‚Berlin wird Weltstadt‘ wurde damals nur im Wagener-Theater als Couplet gesungen! während die Strassen – selbst die Friedrichstrasse – sich noch in unglaublichem Zustande befanden.“146 Die Militärzeit war eine Zeit emotionaler Vergemeinschaftung der jungen Männer, eine Möglichkeit altershomogener Organisation zum Erwerb weiterer Erfahrungen und Kompetenzen für das Erwachsenenleben, sie war zudem begleitet durch spezielle Lernangebote und Freiräume und damit im modernen Sinne Teil einer Jugendphase als psychosoziales Moratorium vor dem Eintritt in das Erwerbsleben.147 Der Briefwechsel Paul Colsmans mit seinem Vater im Berliner Militärjahr betont eine weitere wichtige Facette des Militärdienstes der Unternehmersöhne in Berlin, nämlich die Intensivierung geschäftlicher Kontakte und die Einführung der Einjährigen in die bürgerliche Gesellschaft der Hauptstadt. Der Sohn wurde vor seinem Dienstantritt bei den Geschäftsfreunden angekündigt, und es wurden bei den Geschäftsfreunden überdies Erkundigungen eingeholt, wo es für den gesellschaftlichen Verkehr angemessen schien, weitere Visitenkarten abzugeben. Ein befreundeter Berliner Rechtsanwalt und Bankier schrieb an Wilhelm Colsman-Bredt: „Sehr geehrter Herr Commerzienrath. Im Drange der Geschäfte habe ich ganz vergessen, Ihnen zu sagen, daß Ihr Herr Sohn bei Herrn Geh. Rath v. Hansemann die freundlichste Aufnahme finden wird. Er wird dort auch am besten erfahren, wo er sonst noch Karten abgeben sollte, um mit einem [Mal] sich mitten in die hiesige Gesellschaft zu setzen. Mit bestem Gruß Ihr ergebenster A Salomonsohn“148

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Archiv EC, D2/36, Emil Colsman, Lebenserinnerungen, S. 23. Vgl. auch Archiv ACE, Sign. V,12, Emil Colsman an Mathilde Colsman, 3. April 1879; Archiv Landfried, Sign. 3, Peter Lucas Colsman an die Mutter Sophie Colsman, 3. März 1877. Archiv EC, D2/36, Emil Colsman, Lebenserinnerungen, S. 24. Archiv EC, D2/36, Emil Colsman, Lebenserinnerungen, S. 23. Zum Einjährigendienst als Abschluss der Jugendzeit vgl. Frevert, Die kasernierte Nation, S. 228. Archiv WHC, Sign. 183, Adolph Salomonsohn an Wilhelm Colsman-Bredt, 3. November 1883. Adolph von Hansemann (1827–1903) war Bankier und stammte aus Aachen. Er war Geschäftsführer der von seinem Vater David Hansemann gegründeten Dis-

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Der Vater gab dem Sohn anschließend genaue Ratschläge, wann welche Visite bei den Geschäftsfreunden angemessen war und wer darüber hinaus zu besuchen war: „Einliegend findest du den Brief von Herrn Rechtsanwalt Salomonsohn, Mitinhaber der Discontoges.[ellschaft], der dir also sagt, daß du bei Geh. R. Adolph v. Hansemann recht willkommen sein würdest! benutze also die erste Gelegenheit dort deine Aufwartung zu machen & sieh, daß du mit den Leuten in guten Gang kommst; es ist beste Gesellschaft der Hauptstadt & kann dir viel Freude bereiten; wegen der angedeuteten weiteren Adressen resp Familien mußt du dann mal sehen! jedenfall grüße den Geh. Rath herzlich von mir & sage, ich sei ihm sehr dankbar für seine Freundlichkeit dir gegenüber. […] erkundige dich nur genau nach den Gebräuchen und Pflichten & dann genieße die sich bietenden Einladungen mit Vorsicht & Bescheidenheit.“149

Paul Colsman folgte offenkundig den Ratschlägen seines Vaters, und so schrieb der Vater an seinen Sohn sechs Wochen nach dessen Dienstantritt: „Daß du bei verschiedenen meiner Freunde so freundliche Aufnahme fandest, hatte ich nicht bezweifelt! Halte die Beziehungen nur fest, sie werden dir im Jahr viele Freude machen. Dann sei vorsichtig im Thun u. Lassen, in Reden & Schweigen, gelegentliche Grüße von mir hast du hiermit à discretion! […] Ist der Wachtmeister recht freundlich; wie heißt er eigentlich? ist doch die IV Schwadron? – doch genug! Laß bald wieder von dir hören & behalte lieb deinen treuen Papa“150

Wichtiger als der eigentliche Militärdienst, der in dem Brief nur am Rande Erwähnung fand, war Wilhelm Colsman-Bredt, dass sich sein Sohn als zukünftiger Unternehmer in den gesellschaftlichen Umgangsformen gebührend präsentierte: „Wie du es mit neuen Besuchen bei Hansemann machst, muß nach dortigen, vorher sorgfältig zu erforschenden Usancen erledigt werden; vor dem Fest hat es keinen Zweck & ist Russel in d. Trauer wegen dem Tode seiner Mutter. Eine quasi Abschiedsvisite vor dem Urlaub & Anwünschung froher Fest & Neujahrstage sind ja bei Lent auch angebracht & gewiß freundlich.“151

Paul Colsman gelang die Platzierung in Berlins bürgerlicher Gesellschaft offenkundig gut, und er bemühte sich, diese Erfolge dem Vater auch zu vermitteln.152 Gleichzeitig markierte er in seinen Briefen die Differenzen zwischen

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conto-Gesellschaft. Diese war eine der führenden Privatbanken des deutschen Kaiserreichs, und Adolph von Hansemann war einer der reichsten Bürger dieser Zeit. Adolph Salomonsohn (1831–1919) war Jurist, ebenfalls vermögender Bankier und Mitinhaber der Disconto-Gesellschaft. Vgl. Achterberg, Hansemann, S. 625f.; Müller, Salomonsohn, S. 384f. Archiv WHC, Sign. 183, Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, o. D., etwa November 1883. Archiv WHC, Sign. 183, Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 12. November 1883. Archiv WHC, Sign. 183, Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 11. Dezember 1883. Vgl.: „Um 6 Uhr des Abends war ich dann bei Salomonsohn zum Diner, wo ich u. a. Russell’s traf. Salomonsohn waren recht freundlich & trug mir Madame beim Fortge-

einem etablierten Wirtschaftsbürgertum, dem er selbst zugehörte, und den unternehmerischen Newcomern, denen die bürgerlich-ausbalancierten Verhaltensformen noch fehlten. Gleichwohl nötigte ihm deren ökonomischer Erfolg Respekt ab, und einem gesellschaftlichen Verkehr stand nichts im Wege. Aber ‚feine Unterschiede‘ blieben: „Heute gehe ich auf die vierte Gesellschaft seit Mittwoch […] Nun wird es Euch wol interessieren zu hören auf welchen Gesellschaften ich war & wie es mir bei den verschiedenen erging. Am Mittwoch war ich bei Koennecke’s einem Freund von Hoddick und Koester. Koennecke ist ein self made man was man ihm noch gut und seiner Frau sehr stark anmerkt. Die Gesellschaft ca 40 Personen konnte daher auf eine feine Gesellschaft wol kaum wol aber auf eine lustige & nette Gesellschaft Anspruch machen. […] Es war 4 ½ Uhr als ich von dieser Gesellschaft nach Hause kam!“153

Gegenüber dem Vater legte Paul Colsman besonderen Wert darauf, dass er zwischen feiner und weniger feiner Gesellschaft unterscheiden gelernt hatte, sich gesellschaftlich dazu richtig verhalten konnte und zudem die korrekten Wertmaßstäbe entwickelt hatte: „Den Donnerstag Abend verlebte ich in der Hoddickschen Familie, die zum letzten Mal ihr Winterquartier in der Stadt bezogen hat. Am Samstag hatte ich einen sehr angenehmen Abend bei Lents, welche dich bestens grüßen lassen! H Baurath Lent, der mit dir wohl im Vorstand von Gelsenkirchen ist, war auch mit seiner Frau da & trug mir ebenfalls Grüße an dich auf! Beide Ehepaare sind nette freundliche Leute & sagte mir H Lent ich möchte doch des Abends mal ungenirt uneingeladen antreten, was ich gerne versprach zu thun. Mit Frieder war ich am Mittwoch bei Schickedanz zum Scat & lernten wir da mal so recht berliner Gesellschaft kennen; ich fand es eigentlich wenig fein, & die Späße, die sich H. Sch. mit seiner Gattin erlaubte, waren auch lange nicht alle salonfähig! Von einem Abend bei Hummel’s, Lent’s od. Lampson’s hat man doch ungleich viel mehr Freude als wie von einem solchen Abend.“154

In den Briefen von Vater und Sohn wurden die Prioritäten für das Dienstjahr klar gesetzt: Von zentraler Bedeutung waren die in Berlin geknüpften oder intensivierten gesellschaftlichen Netzwerke mit Berliner Wirtschaftsbürgern, die ökonomisch und sozial gleichrangig waren und mit denen Geschäftsbeziehungen bestanden oder angebahnt werden sollten. In dieser dynamischen Milieubildung verschränkten sich ökonomische und soziale Interessen ebenso wie sich der Habitus des ‚Feinen‘ in diesen Sozialisationskontexten weiter entwickelte. „Am Samstag war also der große Ball bei v. Hansemanns; 250 Einladungen waren ergangen & ca 180/200 Personen erschienen unter denen der chinesische Botschafter Li Song Pao entschieden die interessanteste war. […] Ferner waren der österreichische Botschafter […] & eine ganze Reihe von Exzellenzen da […] Ich kann nicht anders sagen als daß ich mir als ganz Fremder ziemlich vereinsamt in der großen Gesellschaft vorkam, da nur hen an Euch Beide Grüße auf, die ich bei meinem nächsten Besuch wol erwideren darf?!“ Archiv WHC, Sign. 149, Paul Colsman an die Eltern, 27. März 1884. 153 Archiv WHC, Sign. 149, Paul Colsman an die Eltern, 26. Februar 1884. 154 Archiv WHC, Sign. 149, Paul Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 19. November 1883.

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wenig & sehr undeutlich vorgestellt wurde. Getanzt habe ich wenig, da sehr viel Herren zu viel da waren. […] Angenehm war es mir als ich auf einmal in all den fremden Gesichtern die bekannten & mir sehr sympathischen von Russells & Lents auftauchen sah. Beide Familien waren sehr freundlich, zu ersterer bin ich zu heute Abend zum Ball eingeladen, letztere baten mich gestern auf Samstag zum Diner.“155

Einjährig-Freiwillige wie Paul Colsman übten sich erstmals ohne begleitende Betreuung durch anwesende Erwachsene wie die Eltern, die Ersatzväter in den Schülerpensionen oder die Lehrherrn selbstständig in der Unterscheidung der Gesellschaften nach passenden und weniger passenden Veranstaltungen; durch ihre Interaktionen auf solchen Gesellschaften wurden sie aber auch selbst zugeordnet. Gesellschaftliche Schichtung (sozialer Status, Herkunftsfamilie) wurde so handelnd reproduziert und die Einjährigen in diesen Sozialisationszusammenhängen habitualisiert. Paul Colsman beschrieb den entstehenden Habitus der Differenz in den vorausgehend zitierten Briefen, indem er Gesellschaften in feine und weniger feine einteilte und sich selbst auf der Seite der feinen Gesellschaften verortete. Diese Briefe waren an seinen Vater gerichtet, der diese Einschätzungen mit Wohlgefallen aufgenommen haben dürfte. Welche Möglichkeiten die Stadt Berlin für einen Zweiundzwanzigjährigen noch bereithielt, erfuhr der Vater aus den Briefen des Sohnes allerdings nicht. Die ‚Hinterbühne‘ des Berliner Militärjahrs wird weiter unten in diesem Kapitel noch zum Thema gemacht. Auf militärische Verkehrskreise legten Vater und Sohn Colsman nicht den geringsten Wert; keine einzige Briefstelle des Vaters weist auf den Wunsch nach gesellschaftlichen Kontakten zu den Berufsoffizieren hin, und auch der Sohn erwähnt diese in keinem gesellschaftlichen Zusammenhang. Sie spielten in seiner Kommunikation mit der Familie nur an den wenigen Stellen eine Rolle, bei denen es um den eigentlichen Militärdienst ging, zum Beispiel um Dienstzeiten oder um Paraden.156 Offiziere besaßen für die Unternehmer und ihre Söhne auch keinen exklusiven gesellschaftlichen Rang, sondern unterlagen bürgerlichen Bewertungskriterien. So fand ein Offizier, der seine Mutter und seine Schwestern durch Schuldenmachen ruiniert hatte, eine äußerst missbilligende Darstellung durch Wilhelm Colsman-Bredt, denn er hatte bürgerliche Normen verletzt: verantwortliche Sorge für die Familie, Sparsamkeit und letztlich die Balance in der Lebensführung.157 Die bürgerlichen Wertmaßstäbe zeigen sich 155 156

Archiv WHC, Sign. 149, Paul Colsman an die Eltern, 26. Februar 1884. „Über die Kaiserparade schrieb ich nach Schlangenbad & dachte, du würdest dort den Brief lesen, wenn du Mama hingebracht hättest. Ich habe von der ganzen Geschichte eigentlich nichts gesehen, denn was man beim eigentlichen Vorbeireiten von Majestät & seiner Suite sieht ist so gut wie nichts; & von der fünften Schwadron konnte man keinen Menschen sehen, viel weniger erkennen, als Majestät die Front abritt, wir sahen nur die Federbüsche.“ Archiv WHC, Sign. 149, Paul Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 12. Juni 1884. 157 „Leopold Rose, der berühmte stolze Landwehr Officir hat auch Concurs angemeldet, nachdem er seine alte Mutter & die beiden Schwestern complet an den Bettelstab gebracht hat; was hier allgemein Entrüstung hervorgerufen.“ Archiv WHC, Sign. 183,

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auch in dem nüchternen Urteil Paul Colsmans, wie unwirtschaftlich die kaiserliche Armee mit ihren Dienstpferden umging: „[…] morgen soll ich bei Graf Roedern als Ordonanz reiten & da soll mein armes Thier doch daran glauben müssen, denn dann wird geritten als ob das Pferd keinen Groschen kostete;“158 Der einjährige Militärdienst in der Garnison war die Basis für die Etablierung der männlichen Jugendlichen aus Unternehmerfamilien in den gehobenen bürgerlichen Verkehrskreisen der Hauptstadt, die überdies wichtige Netzwerke für ihre spätere Berufstätigkeit darstellen konnten. Für Emil Colsman knüpften sich zudem durch die Regimentsfreundschaften mit anderen Einjährigen „dauernde Beziehungen für das spätere Leben“.159 Das militärische Personal spielte für die hier untersuchten Einjährigen nur eine Nebenrolle, nämlich als Teil der zu absolvierenden dienstlichen Pflichten in der Garnison. Gleichzeitig wurde bei den Söhnen der Unternehmerfamilie Colsman durch die schonende militärische Behandlung eine positive Haltung zum Militär erzeugt bzw. verstärkt. Negative Äußerungen über ihren Dienst, über die Vorgesetzten oder generell über die Institution des Militärs finden sich in keinem Brief. Der einjährige Militärdienst war vornehmlich eine Bühne, auf der die gesellschaftlichen Platzierungen der Einjährigen vorgenommen wurden. In ExtraUniform auf bürgerlichen Diners, Empfängen und Bällen erscheinend und als möglichst gewandte Tisch-, Gesprächs- und Tanzpartner junger bürgerlicher Damen fungierend, waren die Einjährigen bei solchen Gelegenheiten zwar auch dekorativ und unterhaltend, aber sie teilten nicht das Schicksal junger Berufsoffiziere, für welche es häufig bei einer dekorativen Funktion blieb. Denn durch die geringen Gehälter waren die Berufsoffiziere als Heiratspartner für wirtschafts- und bildungsbürgerliche Mädchen und vor allem für deren Eltern nicht sehr attraktiv.160 Dagegen konnten die Einjährigen ihren kurzen und angenehmen Dienst als symbolisches Kapital einsetzen: Sie waren nicht nur gebildet und auf dem Weg in bürgerliche Berufspositionen, sondern dieser Status wurde auch militärischerseits durch eine Vorzugsbehandlung und durch besondere Uniformabzeichen unterstrichen. Einjährige waren auf den Straßen Berlins oder bei einem bürgerlichen Diner deshalb nicht primär Vertreter des Militärs und Teil einer ‚Militarisierung der Zivilgesellschaft‘, sondern vielmehr wurde für diese Gruppe der militärische Rang zur symbolischen Bestätigung bürgerlicher BilWilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 12. November 1883. Grundsätzlich entsprach das Schuldenmachen allerdings auch nicht der Ehre der Offiziere. Vgl. zu den Normen der Offiziersehre Frevert, Ehrenmänner, S. 101. 158 Archiv WHC, Sign. 149, Paul Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 23. Juli 1884. 159 Archiv EC, D2/36, Emil Colsman, Lebenserinnerungen, S. 23. 160 Als elegante Tänzer waren auch die Berufsoffiziere dagegen auf Gesellschaften gern gesehen. Vgl. Frevert, Die kasernierte Nation, S. 208f. Zur problematischen ökonomischen Situation der Berufsoffiziere aufgrund ihrer geringen Einkommen vgl. die zeitgenössischen Quellen bei Ulrich/Vogel/Ziemann, Untertan in Uniform, S. 100ff. Vorschläge (hier im Militärwochenblatt 1889) gingen u. a. dahin, dass die nicht verheirateten pensionierten Offiziere mit ihren geringen Pensionen Männerkommunen gründen sollten. Vgl. ebd., S. 114f.

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dungsleistungen und ökonomischer Erfolge. So kreuzten sich auch die gesellschaftlichen Verkehrskreise der Berufsoffiziere und der einjährig dienenden Unternehmersöhne nicht; die enge Verbindung von Militär und männlichen bürgerlichen Jugendlichen blieb eine der Kasernen und der bunten Paraden. Für den ältesten Sohn Paul Colsmans, Wilhelm (1888–1917), war der einjährige Militärdienst 1907/08 bei einem Feldartillerie-Regiment (berittene Artillerie) in Karlsruhe, den er parallel zur Aufnahme des Studiums an der Karlsruher Technischen Hochschule angetreten hatte, dagegen mit weniger gesellschaftlicher Abwechslung und Unterhaltung verbunden. Auf seine sofortigen Klagen über Langeweile antwortete sein Vater: „Sonst scheinst du mir etwas am Haderwasser zu stehen? [...] Auf die mit dem Dienst in erster Zeit verbundene Zeitvertrödelung hatte ich dich ja vorbereitet. Das ist nun einmal so! Das Wort ‚Dienst‘ läßt sich nicht mit Freiheit vereinigen, als Soldat ist man eben nicht sein eigener Herr.“161 Diese Aussage, dass militärischer Dienst eben keine Freiheit bedeuten könnte, stand in deutlichem Kontrast zu Paul Colsmans eigenen Militärerfahrungen in Berlin. Eine erweiterte Lesart entsteht, wenn man den anschließenden Textteil des Briefes hinzuzieht: „Ein activer Offizier ist in seinem ganzen Leben kein freier Mann & doch oft freier wie ein Fabrikant, dem eine Fabrik im Nacken sitzt. […] Das Geschäft war leidlich, & ich will nicht klagen. Man möchte gerne bessere Preise für die erzielten Verkäufe in den Büchern sehen, aber das ist ein Wunsch, der wohl immer bleiben wird. Wichtig & dankenswerth ist es ja schon, wenn man für die große Stuhlzahl Beschäftigung hat. Heute ist der 105te Stiftungstag der Firma.“162

Paul Colsman, zu diesem Zeitpunkt bereits seit fast zwanzig Jahren Teilhaber von Gebrüder Colsman und seit 1900 nicht mehr einfacher Leutnant, sondern Rittmeister (Hauptmannsrang) der Reserve, reflektierte in seinem von einer Geschäftsreise aus London geschriebenen Brief die Autoritätsstrukturen des Militärs vor dem Hintergrund seiner eigenen beruflichen Tätigkeit als Unternehmer. Dass seine berufliche Situation eine Reihe von Zwängen beinhaltete, die aus der Unternehmenstradition sowie aus der unmittelbaren Abhängigkeit der in der Fabrik tätigen über 1.000 Arbeiter und Angestellten von seiner erfolgreichen Verkaufstätigkeit, insbesondere im Hauptmarkt Großbritannien, erwuchsen, vermittelte er seinem Sohn und schätzte die Verantwortung für den Lebensunterhalt seiner Firmenangehörigen als eine höhere Belastung ein als die Kommandierung eines Regiments, dessen Soldaten immerhin durch staatlichen Sold abgesichert waren. Waren auch schon durch Paul Colsmans Vater Aufforderungen an seinen Sohn zu maßvoller Lebensführung und Ausgabenkontrolle mit Klagen über schlechte Geschäftslagen verbunden worden, so trat in den Briefen Paul Colsmans an seinen Sohn das Element des unternehmerischen Zwangs neu hinzu. Die große Seidenweberei mit ihren Maschinensälen, ihren 161 162

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Archiv WHC, Sign. 70, Paul Colsman an Wilhelm Colsman, 16. Oktober 1907. Archiv WHC, Sign. 70, Paul Colsman an Wilhelm Colsman, 16. Oktober 1907.

fest angestellten Arbeitern und ihrem Produktionstempo verstärkte das Verantwortungsgefühl und den Erfolgsdruck gegenüber der vorausgegangenen Zeit der Heimweberei erheblich: „Die Kunden sind auf der ganzen Linie aufsässig & wollen sich von ihren Verpflichtungen drücken. Seide wird noch immer billiger. Da ist es denn enorm schwierig die große Fabrik in Kupferdreh in Gang zu halten.“163 Ebenso wie sein Vater Wilhelm Colsman-Bredt ihm gegenüber ermahnte jetzt Paul Colsman seinen ältesten Sohn zu Sparsamkeit und bescheidenem Auftreten im Einjährigendienst und monierte die hohen Kosten des Militärjahrs: „Deinen Wunsch wegen der Seide konnte ich dir nicht befriedigen. Bist du einmal Hauptmann oder wenigstens Oberleutnant, & dein Einkommen gestattet es, dann werde ich mich freuen, wenn du mit deinen schwachen Kräften zur Belebung des Seidengeschäftes beiträgst. Als ganz gewöhnlicher gemeiner Soldat ist seidenes Rockfutter unmilitärisch & ein unnöthiger Luxus. Hoffentlich legst du diese Absage mir nicht als Geiz aus!“164 „Hauptzweck dieser Zeilen ist die Erledigung der Schneiderfrage. Ich bin nicht der Ansicht, daß du bei einem so abnorm theuren Schneider, wie der ist, von dem du schreibst, arbeiten läßt. Die Ausgaben wachsen in’s Ungeheure! Ich möchte dir vorschlagen, deine Sachen in Elberfeld zu bestellen. [...] Ob du dann später in Karlsruhe einen für unsere Verhältnisse passenden Schneidermeister findest, kann abgewartet werden. Nach dem 1. Octbr. werden deine Bezüge aus der väterlichen Kasse hoffentlich wesentlich geringer werden. Das jetzt zu Ende gehende Jahr ist doch recht, recht theuer geworden, wie mich gestern ein Einblick in dein Conto überzeugte. Geld verdienen ist auf jeden Fall sehr viel schwieriger wie es auszugeben!“165

Nach längerer Überlegung gestattete Paul Colsman seinem Sohn, in das Corps Bavaria an der Karlsruher Technischen Hochschule einzutreten, eine schlagende Verbindung. Ihm selbst war siebenundzwanzig Jahre zuvor der Verbindungsbeitritt auf der Akademie in Lausanne durch die Eltern noch verboten worden: „Wenn du mir versprichst, ein guter Sohn zu bleiben, der die Lehren seiner Eltern beherzigt und dich so in der Fremde betragen willst, daß du deinen Eltern stets klar in die Augen sehen kannst, dann habe ich nichts gegen deinen Eintritt bei der Bavaria einzuwenden.“166 Die zurückhaltende Andeutung, die verbindungsstudentischen Trinkgelage, die Mensuren und das für Verbindungsstudenten nicht ehrenrührige Schuldenmachen („schone nach Möglichkeit deinen winterlichen Geldbeutel!“, hieß es in demselben Brief) zu vermeiden, wurde von der Mutter unterstützt: „Du kommst mit so manchen Männern zusammen, jungen, die noch ungewiß herumschwimmen, und ältern, und wirst sie dann bald zu werten wissen. Bitte hüte

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Archiv WHC, Sign. 70, Paul Colsman an Wilhelm Colsman, 4. April 1908. Vgl. dazu auch das Kapitel II über Eheschließungen und Ehebeziehungen, Teilkapitel 5. 164 Archiv WHC, Sign. 70, Paul Colsman an Wilhelm Colsman, 1. Dezember 1907. 165 Archiv WHC, Sign. 70, Paul Colsman an Wilhelm Colsman, 9. September 1908. 166 Archiv WHC, Sign. 70, Paul Colsman an Wilhelm Colsman, 5. Dezember 1907.

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dich recht [...].“167 Die Gleichzeitigkeit von Militärdienst und Verbindungsleben sorgten allerdings dafür, dass das eigentliche Studium kaum zum Tragen kam, was auch der Vater konstatierte: „Vergiß also die ernste Arbeit nicht, denn hast du den bunten Rock ausgezogen, dann muß mit der Arbeit energisch begonnen werden.“168 Auch für diesen Sohn wurde das Militärjahr als ein jugendliches Moratorium gestaltet, selbst wenn dieses nicht unter den abwechslungsreichen Berliner Rahmenbedingungen verbracht wurde. „Ernste Arbeit“ jedenfalls enthielt es nicht, denn diese auch nach Vorstellung des Vaters musste erst begonnen werden, wenn der „bunte Rock“ ausgezogen worden war. Kompensiert wurden die gegenüber Berlin geringeren Freizeitmöglichkeiten Karlsruhes durch das Verbindungsleben, das die Eltern aber insbesondere bezüglich der Mensuren mit gemischten Gefühlen beobachteten: „Ich bin froh, daß es dir in jeder Weise gut geht, und daß mal wieder so eine üble Hauerei vorbei ist. Hoffentlich bist du bald tapfer genug, daß du nicht mehr heran brauchst, oder sollten das nur meine Illusionen sein? Ich kann mir nicht denken, daß du das so Spaßes halber fortsetzen wolltest […] Also denk mal daran, daß das weibliche Geschlecht an einem so verunzierten Gesicht wenig Gefallen findet.“169 „[…] die Mensuren, besonders in der Sommerhitze gefallen mir indes schlecht, denn ein Unglück hat eine kleine Stelle! Also sei bitte recht vorsichtig! […] Hoffentlich wird noch für die kurze Zeit bis Semesterschluß tüchtig gearbeitet.“170

Die studentischen Mensuren besaßen offenbar für den Sohn Attraktivität oder wurden zumindest als Teil des Verbindungslebens in Kauf genommen, während die Mutter hoffte, dass nach einigen Beweisen männlichen Mutes auf dem Paukboden sich die Mensuren erledigen würden.171 Der Vater appellierte zudem an den Arbeitseifer des Sohnes, die im verbindungsstudentischen Jargon als ‚Philisterium‘ bezeichnete Welt des Fachstudiums und der anschließenden Berufsarbeit nicht zu vernachlässigen. Insgesamt war in allen beschriebenen Fällen der Militärdienst für die Einjährigen weniger eine intensive Einübung in militärische Strukturen und Interaktionsformen als die Grundlage einer äußerst freiheitlichen Lebensführung gewesen. So viel unkontrollierte und unreglementierte Zeit wie in ihrem Militärjahr sollten die Unternehmersöhne in ihrem Leben nie wieder besitzen. Kein Wunder, dass sie ihre Militärzeit später verklärten. Dies hatte allerdings weniger mit Militarismus als mit der Erinnerung an eine im jungen Erwachsenenalter vor dem Eintritt in das Berufsleben erlebte vollständige Freisetzung aus Schul- und Berufszwängen zu tun. Darüber hinaus blieben die Sozialisationskontexte in der 167 168 169 170 171

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Archiv WHC, Sign. 70, Elisabeth Colsman an Wilhelm Colsman, 24. Mai 1908. Archiv WHC, Sign. 70, Paul Colsman an Wilhelm Colsman, 5. Dezember 1907. Archiv WHC, Sign. 70, Elisabeth Colsman an Wilhelm Colsman, 3. Februar 1909. Archiv WHC, Sign. 70, Paul Colsman an Wilhelm Colsman, 6. Juni 1909. Zu Form und Ablauf studentischer Mensuren vgl. ausführlich Frevert, Ehrenmänner, S. 149ff. Dort auch Hinweise, dass die Offiziere die Zugehörigkeit der Einjährig-Freiwilligen zu schlagenden Verbindungen mit entsprechenden Ehrenkodexen nicht ungern sahen. Vgl. ebd., S. 163.

einjährigen Militärzeit stark bürgerlich bestimmt. Der Sozialisationseffekt des Militärjahrs bestand durch die Anordnung der Sozialisationsinstanzen Militär, bürgerliche Gesellschaft und Großstadt- bzw. Verbindungsleben nicht in einer Militarisierung der Selbstpräsentation und Handlungsorientierungen und in einer militarisierten Gesellschaftsinterpretation, sondern vielmehr in einer weiteren, durch die jungen Männer selbstständig vollzogenen Verbürgerlichung. Maßhalten in jeder Hinsicht und innengeleitete Handlungsregulierung wurden von den Einjährigen von Seiten der Eltern und der bürgerlichen Öffentlichkeit ebenso erwartet wie die Umsetzung der Normen des Feinen und Schicklichen. Als jugendliches, psychosoziales Moratorium vor dem Eintritt ins Erwerbsleben verlangte das Militärjahr den Jugendlichen zugleich eine erhöhte Fähigkeit zur Ausbalancierung sehr unterschiedlicher Lebensbereiche ab: Sie organisierten ihren Alltag auf ihrer Bude, schufen sich eigenständig ein Freizeitleben, standen als Soldaten unter Befehlsgewalt, bewegten sich selbstständig und möglichst souverän auf bürgerlichen Diners, Empfängen und Bällen sowie in Restaurants und konnten eine neue Peer Group aus den Einjährigen der umliegenden Regimenter bilden, mit der die Freizeit verbracht wurde. Gegen Ende des einjährigen Militärdiensts wünschte Paul Colsman 1908 seinem Sohn, dass „der Rest des Dienstjahres noch zur Zufriedenheit verlaufen [möge], damit du auf die Dienstzeit später mit Befriedigung zurückblicken kannst“.172 Für Paul Colsman lag die eigene Dienstzeit zu diesem Zeitpunkt bereits über zwanzig Jahre zurück, und er entschied sich, sein Reserveoffizierspatent als Rittmeister der Reserve zurückzugeben. Seinem Freund Peter Conze hatte er bereits 1905 seine diesbezüglichen Überlegungen eröffnet: „Leider fing das neue Jahr im königl. Dienst mit einer groben Enttäuschung an, indem mir mein Kommandeur den so nothwendigen Urlaub für eine Geschäftsreise nach England rundweg abschlug & mir dadurch die so wie so schon recht schlecht sitzende Übung direct verleidete. Ich hatte nicht gedacht, daß mich mein Militärvogel – denn so darf meine Liebhaberei, beim Kürassier Regt. zu bleiben, wohl bezeichnet werden – noch ein derartiges Opfer, wie es eine 8wöchentliche Übung fordert, kosten würde. Meine Zeit kann eigentlich besser benutzt werden, als durch das Studium des königl. Fuhrwesens.“173

Die mangelnde Rücksichtnahme des Militärs auf seine unternehmerischen Verpflichtungen ließ die Entscheidung schließlich 1908 spruchreif werden; im selben Jahr wurde sein Abschied aus der Armee bewilligt.174 Ein bereits kurz nach dem Ende des Militärjahrs bzw. dem Erhalt des Reserveoffizierspatents nachlassendes Interesse der Unternehmer am Militär wird in vielen Briefen deutlich. Für Wilhelm Colsman-Bredt war das Militär nach seinem Dienstjahr kein Thema mehr, es spielte in seiner gesamten Korrespondenz, außer in den Brie172 173 174

Archiv WHC, Sign. 70, Paul Colsman an Wilhelm Colsman, 15. Juli 1908. Archiv WHC, Sign. 2, Paul Colsman an Peter Conze, 19. Mai 1905. Vgl. Archiv WHC, Sign. 33, Abschiedsbewilligung für Paul Colsman, 17. Dezember 1908.

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fen an seinen Sohn Paul, keine Rolle. Emil Colsman, der frühere Garde-Ulan, war nach dem Ablauf seiner sechsjährigen Reservistenzeit 1877 froh, dass er sich nun zum Militär in Distanz setzen und unbehelligt von Reserveübungen seinem 1873 gegründeten Unternehmen, der Seidenbandweberei „Colsman & Seyffert“, widmen konnte: „Unsereins paßt doch nicht so arg gut mehr zum bunten Rock“.175 Peter Lucas Colsman, einjährig-freiwilliger Garde-Dragoner, wurde 1877 nach erfolgreichen Prüfungen als Reserveoffiziersanwärter entlassen.176 Seine späteren Übungen als Reserveoffizier waren wenig anstrengend und Paraden auch außerhalb solcher Übungen für ihn vor allem ein ästhetisch schönes Schauspiel: „Von unserem Regiment in Hagenau habe ich wiederholt Offiziere & Mannschaften gesehen & auch manche davon angesprochen! Da ich Soldat gewesen, so hatte ich von der Parade einen doppelten Genuß. Die Hohen Häupter habe ich alle nach der Reihe wiederholt gesehen; auch im Hoch auf den Kaiser oft begeistert mit eingestimmt. Interessant war für mich gestern hier in französischen, englischen & deutschen Journalen die Kritik über die Parade etc zu lesen.“177

In der Folgezeit wurde das Militär in den Briefen Peter Lucas Colsmans an seine Mutter und Geschwister und später an seine Ehefrau und seine Kinder nicht mehr erwähnt. Als Paul Colsman 1889 als Leutnant der Reserve eine achtwöchige Reserveübung in Münster absolvierte, schrieb er an seine Frau: „In acht Tagen ist auch die Hälfte der Übungszeit hinter mir und dann wird es immer kürzer. Heute an einem Ehrentag des Regiments, dem Gedenktag der großen Kaiserschlacht von Marslatour, in welcher die 4ten Kürassiere mit stritten und kämpften fürs lb. deutsche Vaterland, können wir uns wirklich dankbar freuen, daß es nicht zum ernsten Krieg in die weite Welt geht, sondern daß es nur ein harmloses Kriegsspiel ist, welches ich mitzumachen habe. […] Gestern morgen regnete es nur einmal und machst du dir keinen Begriff von dem Schmutz, der auf der Heide ist. Heute Morgen kamen Roß und Reiter in einem derartigen Zustand wieder, daß ein Schwein im Vergleich zu uns ein reinlicher Mensch zu nennen wäre.“178

Paul Colsman stellte die Verdienste des Militärs im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 als bewunderungswürdig dar; gleichzeitig formulierte er eine deutliche Erleichterung, dass seine eigene Reserveübung nur ein „harmloses Kriegs175

Archiv ACE, Sign. IV,8, Emil Colsman an seine Verlobte Mathilde Schniewind, 7. Juli 1877. 176 „Inhaber dieses, der einjährig freiwillige überzählige Unteroffizier Peter Lucas Colsman geboren am 4 September 1854 zu Langenberg, welcher vom 1. Oktober 1876 bis 30 September 1877 bei der 4 Eskadron, 1. Garde Dragoner Regiments gedient hat, wird seiner dienstlichen und außerdienstlichen Qualifikation nach, für qualificiert zur Reserve-Officier erachtet und zur Reserve der Provinzial-Cavallerie entlassen. Berlin, den 30. September 1877. Kommando des 1. Garde Dragoner Regiments.“ Archiv Landfried, Sign. 9, Entlassungsschein Peter Lucas Colsman. 177 Archiv Landfried, Sign. 3, Peter Lucas an die Mutter Sophie Colsman, 22. September 1879. 178 Archiv WHC, Sign. 57, Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 16. August 1889.

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spiel“ war. Das waren die Reserveübungen aus militärischer Sicht mitnichten, aber für ihn waren sie, vor dem Hintergrund seiner geringen militärischen Erfahrungen im Einjährig-Freiwilligen-Jahr, eine Fortsetzung der bunten Paraden und gleichzeitig Teil einer erneuten intensiven Körpererfahrung, die in starkem Kontrast zu seiner bürgerlichen Lebensform stand. Der Begriff des Spielens fiel in seinen Briefen aus der Militärübung mehrmals, so zum Beispiel in einem Brief, der auch Paul Colsmans Ambivalenz in der Wahrnehmung des Militärs zum Ausdruck brachte: „Ich freue mich recht, wenn wir wieder gemeinsam unter unserem Dache leben. Für einen Familienvater ist das Soldatspielen doch nichts mehr, dies bestätigte mir jetzt noch ein Reservekamerad von den Trier Husaren, der seit seiner letzten Übung doppelter Vater geworden war. Er meinte, man wäre doch nicht mehr so dabei wie früher. Trotzdem amüsierten wir uns famos auf od. bei dem Liebesmahl der Husarenbrigade in Neuhaus – Montag den 26. Das Fest war ungemein fidel, nachher tanzte die ganze Gesellschaft, Generäle und Kommandeure; später wurde dann noch ein Umzug durch den Ort gemacht und bevorzugten Leuten ein Ständchen gebracht. […] Das Exerzieren ist famos, ich wollte du könntest es einmal mit ansehen.“179

Das Militär wurde hier als Teil einer letztlich fremd bleibenden, wenn auch unterhaltsamen Parallelwelt dargestellt. Denn, so Paul Colsman, das Militär war für Männer des Bürgertums mit Familie und mit zeitfordernden Berufen im Grunde kein angemessener Ort mehr. Was für ihn als Reserveoffizier aber attraktiv blieb, war die zeitweilige Teilnahme an einer Institution, die eine grundlegende Außeralltäglichkeit bereitstellte. Die intensive Körpererfahrung, die Regimentsfeste und die Uniformen behielten für ihn lange eine Faszination. In Fortsetzung der Sozialisationserfahrungen im Einjährigendienst reduzierte er das Militär aber für seine Person auch auf diese Bereiche. Der deutsche wie europäische ‚Folklore- und Dekorationsmilitarismus‘180 zeigt sich in seinen Briefen deutlich, beispielsweise in der Begeisterung für die die Reserveübung abschließende große Kaiserparade: „Die Parade war bei denkbar schönstem Wetter ganz herrlich. Leider sieht einer, der selbst mit in Paradestellung steht, wenig oder nichts. Der Kaiser [Wilhelm II., CG] sah nach meiner Meinung recht angegriffen u. ungesund aus, eine Ansicht, die noch viele mit mir theilten. Minden hatte sich ganz famos aufgeputzt & war die Beleuchtung am Abend ganz wunderschön. Den großen Zapfenstreich habe ich mit angehört, es war für die Offiziere ein großer Platz reserviert, dicht beim Kaiser, der vielleicht 20 Schritte von mir stand. Der sogenannte Abendsegen, das Lied ‚Ich bete an die Macht der Liebe‘ wurde zum Schluß gespielt & machte auf mich von allen Musikstücken den gewaltigsten Eindruck. Es waren viele hundert Musiker, die bei der Aufführung mitwirkten. […] Der gestrige Manövertag vor Majestät verregnete ganz, es war stellenweise ein derartiger Dunst von Nebel & Pulverdampf, daß man absolut nicht wußte, welche Waffe man vor sich hatte.“181 179 180 181

Archiv WHC, Sign. 57, Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 28. August 1889. Vgl. Vogel, Nationen im Gleichschritt, S. 285f.; Funck, Bereit zum Krieg, S. 82. Archiv WHC, Sign. 57, Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 13. September 1889.

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Neben den Paraden war die militärische Körpererfahrung des langen Reitens im Manöver besonders eindrücklich, machte Paul Colsman aber auch die grundlegende Differenz von Soldatenleben und bürgerlicher Lebensform bewusst: „[…] gestern haben wir unglaublich unter persönlicher Leitung von Majestät geritten. Einzelheiten behalte ich einer mündlichen Erzählung vor. Es war aber schön, wie die 13 Kavallerie Rgter also ca 6500 Pferde durch die Ebene sausten; ca 40 bis 50 Gräben mußten wir springen. Bei einer Attacke ritt der Kaiser mit gezogenem Degen dicht vor unserem Regiment. Das Biwak verlief bei gutem nicht zu kaltem Wetter ganz gut, doch wäre mein Bedarf in dieser Art Nachtquartieren gedeckt & gäbe ich die zwei nächsten Biwaks & den ganzen Manöverzauber billig. Ich bin ganz zufrieden und werde froh & dankbar sein, wenn ich gesund bei Weib & Kind daheim bin.“182

Erstaunlicherweise wurde an keiner Stelle der Briefe Paul Colsmans die Diskrepanz zwischen der rasanten Industrialisierung und Technisierung – zur Zeit dieser Militärübung hatte das Unternehmen Gebrüder Colsman unter maßgeblicher Beteiligung Paul Colsmans gerade eine große Fabrik in Betrieb genommen – und der sehr traditionellen militärischen Truppengattung der Kavallerie thematisiert. Dabei hätte ihm angesichts dieser Entwicklungen leicht bewusst werden können, dass ein Krieg in der Zukunft wohl kaum noch mithilfe einer starken Kavallerie gewonnen werden würde, sondern durch Technik und durch technisches Wissen und Können.183 Seiner Frau wurde aus seinen Briefen jedoch klar, dass die Begeisterung ihres Mannes für Paraden und bunte Röcke merklich nachließ: „Du hast recht, daß mir das Soldatenleben und -gebahren fremd ist, und da du nicht mehr so Feuer und Flamme dafür bist, wie damals als du von dem ersten Gang in Parade mit den hohen Stiefeln mir vorschwärmtest, daher kann ich auch die schönen Seiten nicht so wohl einsehen!“184 Die Reserveoffiziere der Unternehmerfamilie Colsman waren keine Militaristen; vielmehr integrierten sie das Militär in eine durchweg bürgerlich-zivile Selbst- und Weltinterpretation, und der ihnen staatlicherseits abverlangte Militärdienst machte ihnen eine solche Interpretation leicht. Dass sie während ihrer Reservistenzeit eigentlich Offiziere im sogenannten ‚Beurlaubtenstand‘ waren, also neben ihrem Zivilstand auch noch einen militärischen Rang bekleideten, spielte für ihre Lebensform und ihre Selbstpräsentation keine Rolle. Dieter Langewiesche hat in einem anderen Zusammenhang zudem davor gewarnt, öffentliche Inszenierungen der Nation und deren Mitfeier – wozu auch die Militärparaden und großen Manöver unter Anteilnahme der zivilen Öffentlichkeit zu rechnen wären – unmittelbar und dauerhaft auf individuelle Zugehörigkeiten, Emotionen und langfristige Dispositionen zu übertragen. Vielmehr sollte, so Langewiesches Vorschlag angesichts erster Analyseergebnisse privater Dokumente, die Untersuchung solcher Inszenierungen und deren Wirkung „situativ angelegt“ und Äußerungen im öffentlichen Raum von denen im pri182 183 184

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Archiv WHC, Sign. 57, Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 18. September 1889. Vgl. dazu auch Frevert, Ehrenmänner, S. 216. Archiv WHC, Sign. 157, Elisabeth Colsman an Paul Colsman, 28. August 1889.

vaten unterschieden werden.185 Die von Langewiesche gestellten Fragen sind auch für die Militarismusforschung provokant: „Die Nationsforschung beansprucht, Aussagen machen zu können über die Wirkung nationaler Ideen, die sie als gesellschaftliche Handlungsdispositionen begreift. Doch was ist, wenn diese angenommenen Wirkungen nicht einmal die autobiographischen Sinnkonstruktionen derer durchdringen, die als Sprecher [hier: das Bildungsbürgertum, CG] der Nation auftreten?“186 Auch in den Briefen der Unternehmersöhne und der älteren Unternehmer als Reserveoffiziere war die Begeisterung für das Militär okkasionell. Faszinierend waren und blieben die Paraden, die neuen Körpererfahrungen und die persönliche Auszeichnung durch eine entsprechende militärische Wertschätzung als Einjähriger bzw. Reserveoffizier mit Bildung und Vermögen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass in den analysierten Briefen nirgends von einem rüden Befehlston, von Drill und Kasernenhofschinderei, die Rede ist. Vielmehr wurden die Einjährigen von den Unteroffizieren den Briefen nach zu urteilen respektvoll behandelt. Die vorausgehend skizzierten Militärerfahrungen Max Webers spiegeln sich in keinem Brief wider, und es scheint fraglich, ob das bürgerliche Selbstbewusstsein junger angehender Akademiker, Kaufleute und Fabrikanten in einer hierarchisch organisierten Klassengesellschaft eine flächendeckend und dauerhaft schikanöse Behandlung hingenommen hätte.187 Vielmehr wurden bei den hier analysierten bürgerlichen Unternehmern Vorzugsbehandlung und geringe zeitliche Belastung zu Vorbedingungen der Loyalität gegenüber dem Militär. Dass von Seiten des militärischen Generalstabs und des Kaisers, von Teilen der Reichsregierung und der im Reichstrag vertretenen Parteien das Verhältnis von Militär und Gesellschaft viel autokratischer und hierarchischer konzipiert wurde,188 zeigt, dass Sinndeutungen, Gesellschaftsinterpretationen und Handlungsorientierungen feld- und klassenspezifisch betrachtet werden müssen. Inwiefern die positive Grundhaltung der Unternehmer der Familie Colsman zum Militär und zu einer wehrhaften Zivilgesellschaft sich zu Beginn des Ersten Weltkriegs mobilisieren ließ, wird im letzten Kapitel dieses Buches behandelt. Die Einstellungen zum Militär unterlagen bei den untersuchten Einjährigen im Verlauf des Kaiserreichs keinen generationellen Veränderungen. Die grundsätzlich positive Haltung zum Militär als Teil einer bürgerlich geprägten, wehrhaften Zivilgesellschaft blieb bemerkenswert konstant; sie veränderte sich weder in die Richtung einer Militärkritik noch in die Richtung einer wachsenden Militäraffinität. Auch die militärischen Sozialisationskontexte in den Garnisonen 185 186

Vgl. Langewiesche, Gefühlsraum Nation, S. 210. Zitat ebd. Langewiesche, Gefühlsraum Nation, S. 196f. Vgl. dazu auch Kapitel II über Eheschließungen und Ehebeziehungen, Teilkapitel 1. 187 Ute Frevert referiert im Zusammenhang ihrer Analyse autobiographische Berichte und Briefe von Einjährigen mit unterschiedlicher Ausrichtung, die einerseits von nachträglicher Militärverklärung sprechen, aber auch Schilderungen von Schinderei enthalten. Vgl. Frevert, Die kasernierte Nation, S. 207ff. In den Briefen der Colsman-Söhne spiegelt sich letztere nicht. 188 Vgl. dazu Förster, Ein militarisiertes Land, S. 159ff.

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und die militärischen Aufstiegsmöglichkeiten blieben für die Einjährigen und Reserveoffiziere gleich, und die sekundäre Aufgabe des Militärjahrs, nämlich die selbstständige Platzierung der Söhne in der bürgerlichen Gesellschaft, unterlag ebenfalls keiner Veränderung. Ein aggressiver, nach außen gerichteter Militarismus, wie er sich in Teilen der Politik und der medialen Öffentlichkeit nach 1890 entwickelte, konnte bei den untersuchten Unternehmern auf keine Zustimmung rechnen. Zu stark waren die Handelsverbindungen mit ganz Europa und den USA. In gewisser Weise setzten die hier untersuchten Unternehmer auf eine diplomatische deutsche ‚Weltpolitik‘, die ihren Verbindungen mit den europäischen und überseeischen Märkten zuarbeitete. So hoffte Paul Colsman beispielsweise auf eine positive Wirkung des Staatsbesuchs Kaiser Wilhelms II. in Großbritannien und schrieb im Oktober 1907 an seinen Sohn in dessen Einjährigendienst: „Letzte Woche waren wir einen Abend bei Bekannten im [Londoner] Westend & einen Abend war ich mit Onkel Hermann im Offizier-Verein, wo der Lord Mayor mit zwei Sheriffs erschien, jeder von zwei Bedienten in goldstrotzenden Uniformen begleitet. Der Lord Mayor hielt eine gute, sehr witzige Rede, er erzählte von seiner Reise nach Berlin und bedauerte, daß der Kaiser nach London käme, wenn er gerade 4 od 5 Tage aus dem Amte sei. Am 9. Nov. tritt der neue Lord Mayor seinen Posten an. Man liest in den Zeitungen viel von der Reise des Kaisers nach London, & ich glaube man wird ihm einen ausgezeichneten Empfang bereiten.“189

Paul Colsman sollte sich nicht täuschen, in Großbritannien wurde der deutsche Kaiser während seines Staatsbesuchs im November 1907 tatsächlich sehr freundlich empfangen. Eines der Resultate dieses Besuchs war dann allerdings die Daily Telegraph-Affäre im Herbst 1908. Auslöser war ein in Deutschland heftig kritisiertes ‚Interview‘ des deutschen Kaisers, das der Aufzeichnung eines Gesprächs Wilhelms II. mit dem britischen Adligen Edward James StuartWortley durch einen britischen Journalisten entstammte und im Herbst 1908 in Großbritannien im Daily Telegraph und einen Tag später in einer deutschen Zeitung in deutscher Übersetzung erschien. Die sehr britenfreundliche, aber zugleich herablassend-belehrende und taktlose Haltung des Kaisers bezüglich der richtigen Außenpolitik, die Großbritannien gemeinsam mit dem Deutschen Reich gestalten sollte, löste auf deutscher wie britischer Seite starke Verstimmung aus. Anders als in Großbritannien reagierte in Deutschland ein großer Teil der medialen Öffentlichkeit aber regelrecht aufgebracht auf die Äußerungen des Kaisers, einerseits wegen seiner großen Britennähe, andererseits wegen seiner selbstherrlichen Einmischung in die politische Arbeit der Reichsregierung und wegen des Ansehensverlusts der Monarchie durch seine großspurige Ungeschicktheit.190 Den ersten Teil der öffentlichen Kritik, die Britennähe, haben die in diesem Buch untersuchten Unternehmer wohl kaum geteilt, den anderen Punkten haben sie sich vermutlich angeschlossen. 189 190

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Archiv WHC, Sign. 70, Paul Colsman an Wilhelm Colsman, 9. Oktober 1907. Vgl. zur Daily Telegraph-Affäre Kohlrausch, Der Monarch im Skandal, S. 243ff.

4. Männlichkeit und Sexualität in der Metropole Das Militärjahr der Einjährigen besaß eine Vorderbühne und eine Hinterbühne. Von der Vorderbühne berichteten die männlichen Jugendlichen ihren Familien ausführlich: Von Empfängen und Diners, von Restaurantbesuchen und Freundschaften war in den Briefen viel die Rede, auch von den kulturellen Ereignissen der Berliner Theater und Konzerthäuser. Von der Hinterbühne, d. h. dem Berliner Nachtleben mit seinen Kneipen und Varietés und seinen vielfachen Gelegenheiten, junge Frauen kennenzulernen und aufregende Stadtviertel jenseits der gutbürgerlichen Quartiere zu erforschen, erfuhren die Eltern aus den Briefen nichts. Aber die Ratschläge und deutlichen Wünsche, die Wilhelm Colsman-Bredt seinem Sohn Paul während dessen Dienstzeit 1883/84 übermittelte, bezogen sich genau auf diese besonderen Reize und Versuchungen der Hauptstadt: „[…] sei nur in jeder Beziehung recht vorsichtig & halte dich von allem Schlüpfrigem ferne! es vergiftet Herz, Gemüth & Fantasie!“191 „[…] es ist auch gut daß du die Anwesenheit dort zur Ausbildung in dieser Richtung [Besuch wissenschaftlicher Vorträge, CG] und nicht allein zum Besuche von Theatern & sonstigem benutzest! es ist gut und wünschenswerth daß dein Geist außer in dieser und in der Stall Luft, auch in geistiger Atmosphäre athmet & sich erquickt.“192

An anderer Stelle formulierte Wilhelm Colsman-Bredt noch deutlicher, dass er die „Gefahren“ des Dienstjahrs in Berlin fürchtete, und warnte den Sohn vor diesen.193 In vergleichbarer Weise schrieb sein Sohn Paul an den eigenen Sohn Wilhelm und bezog sich dabei ebenfalls auf die möglichen Gefährdungen im Einjährig-Freiwilligen-Jahr: „Nimm dich vor Dummheiten in Acht & muthe deinem Körper im Kreise der Kameraden nicht zu viel zu. Die Gesundheit ist ein kostbares Gut!“ Im selben Brief wurde ihm geraten: „Sei auch vorsichtig mit der Auswahl deiner Freunde.“194 Wiederholt riefen die Eltern ihre Söhne hinsichtlich möglicher Gefahren zur Selbstreflexion auf und betonten vor allem die langfristigen Folgen des Handelns, „damit du dein ganzes Leben froh und un-

191 192

Archiv WHC, Sign. 183, Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 24. Oktober 1883. Archiv WHC, Sign. 183, Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, o. D., etwa November 1883. 193 Archiv WHC, Sign. 183, Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 5. Mai 1884. Vorsichtig andeutend war von solchen Gefahren auch schon in früheren Zeiten und zu anderen Gelegenheiten die Rede. So schrieb Wilhelm Colsman-Bredt an seine Frau Adele über seinen jüngeren Bruder Adalbert auf der Webschule in Lyon: „Adalb. war sehr dankbar für meine Begleitung, der Abschied gestern wurde ihm schwer, es war gut daß ich bei ihm, er ist jetzt mit manchen netten Leuten bekannt die ihm ihre Familien öffnen & wo er rechte Freundschaft genießen wird und so den Gefahren die Lyon in vielleicht größerem Maße als irgend eine Stadt bietet entrückt ist.“ FFA, B4g57, Wilhelm Colsman-Bredt an Adele Colsman, 12. April 1861. 194 Archiv WHC, Sign. 70, Paul Colsman an Wilhelm Colsman, 5. Dezember 1907.

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getrübt auf dieses Jahr der Freiheit und Sorglosigkeit zurückblicken kannst“.195 „Bitte hüte dich recht, wenn du so fröhlich das große Fest [Regimentsfest, CG] genießest, daß du später nur gern daran zurückdenkst und auch uns Eltern dabei im Sinne haben kannst.“196 Was die langfristigen Folgen betraf, an welche die Eltern so wiederholt und nachdrücklich erinnerten, so waren damit nach den kulturellen Codes des 19. und frühen 20. Jahrhunderts nicht nur die Spätfolgen exzessiven Trinkens oder die ‚Schmisse‘ durch verbindungsstudentische Mensuren gemeint. Vielmehr adressierten die elterlichen Formeln die möglichen Folgewirkungen sexueller Aktivitäten,197 d. h. Geschlechtskrankheiten, die bis zur Entdeckung des Penicillins in den 1930er Jahren nur sehr schwer oder gar nicht mehr zu heilen waren, und uneheliche Kinder. Es ging um körperliche Langzeitschäden und um Ereignisse, welche die bürgerliche Reputation der jungen Männer nachhaltig erschüttern konnten. Daher warnten die Eltern wiederholt: „Wir gönnen dir ja von Herzen eine frohe Jugendzeit, vorausgesetzt, daß alles anständig & ehrenhaft hergeht;“198 ‚Anständig‘ war eine oft bemühte Kategorie, um den Jugendlichen einen Maßstab für den zu wählenden Umgang mit Kameraden mitzuteilen. Wilhelm Colsman-Bredt appellierte zudem eindringlich an seinen Sohn Paul, seine vielen freien Abende im Berliner EinjährigFreiwilligen-Jahr im Voraus zu planen, um nicht in die Versuchung ziellosen Herumschlenderns mit entsprechenden Ab- und Ausschweifungen zu geraten, und in jedem Fall niveauvolle Kulturveranstaltungen der leichten Unterhaltung vorzuziehen: „Ich freue mich sehr daß du so manche Freude hast, möchte aber noch mal dringend bitten, die Erholung & das Amusement nicht hauptsächlich im Theater zu suchen; das ist auf die Dauer geisttödtend! Es gibt dort so viele wirklich geistige Genüsse durch Vorträge, Concerte etc die dem Theater und seinem Firlefanz gewiß vorzuziehen sind! Es bedarf dafür nur Tages vorher die Durchsicht einer betreffenden Zeitung, z B der Kreuz Zeitung [der deutschkonservativen Partei nahe stehend, CG] und ist dies ja auch besser als ein planloses Herankommen des Abends, ohne zu wissen, wo man sich hinsetzen & bleiben soll! sei also in dieser Richtung etwas vorsorglich! hast du den kaufmännischen Verein in der Friedrich Straße […] nicht mal aufgesucht!“199

So wie sich die Einjährigen in der feinen Berliner Gesellschaft trotz der vielen Empfehlungsschreiben letztlich eigenständig etablieren mussten (ein Erfolg war, wenn man erneut eingeladen oder gar zum Abendtisch der Familie gebeten wurde), so waren auch ihre selbstständigen abendlichen Unternehmungen trotz 195 196 197

Archiv WHC, Sign. 183, Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 5. Mai 1884. Archiv WHC, Sign. 70, Elisabeth Colsman an Wilhelm Colsman, 24. Mai 1908. Vgl. dazu Gay, Erziehung der Sinne, S. 83ff. Gay schlüsselt diese Codes für Großbritannien, die USA und Deutschland zwischen 1850 und dem Ersten Weltkrieg auf und zeigt, dass diese über Andeutungen funktionierten wie „köstlich“, „unaussprechlich“, „behaglich“ usw. 198 Archiv WHC, Sign. 70, Paul Colsman an Wilhelm Colsman, 6. Juni 1909. 199 Archiv WHC, Sign. 183, Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 11. Dezember 1883.

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vieler Handreichungen und elterlicher Weisungen letzten Endes nicht zu beaufsichtigen. Zwar schrieb das militärische Reglement das Tragen der Uniform auch außerhalb der Kaserne vor, nicht zuletzt aus Gründen der Kontrolle und Disziplinierung, aber ob das, insbesondere am Abend und in nicht ganz standesgemäßer Umgebung, von den Einjährigen jederzeit eingehalten wurde, und ob das Ausgehen ohne Uniform in der Großstadt überhaupt bemerkt worden wäre, ist fraglich. Es ist den Briefen nur ansatzweise zu entnehmen, wie Wilhelm ColsmanBredt 1852/53, Emil Colsman 1869/70, Peter Lucas Colsman 1876/77, Paul Colsman 1883/84 und Wilhelm Colsman 1907/08 die Abende in Berlin bzw. letzterer in Karlsruhe verbrachten, wenn sie nicht zu bürgerlichen Gesellschaften eingeladen oder nachweislich im Theater oder im Konzert gewesen waren. An seinen Vater, der sich nach den abendlichen Vergnügungen seines Sohnes erkundigt hatte, schrieb Paul Colsman: „Antwortlich deiner Frage nach meinem Thun und Treiben nach dem Dienst, kann ich dir folgendes mittheilen. Gegen 11 oder 11 ½ komme ich aus dem Stall, dann ist das Frühstück fertig, bestehend in zwei belegten Brödchen & einem Fläschchen Bier, welches in wenigen Minuten verschwindet. Nach diesem Genuß strecke ich mich auf das Sopha & lese die Zeitung bei welchem Geschäft ich eindusele. Habe ich des Nachmittags nun noch Dienst, so werde ich schon bald aus meinem angenehmen Dusel aufgeweckt, wenn nicht schlafe ich aus, ziehe mich an & bleibe bis 5, 5 ½ zu Hause lesend oder schreibend. Um ½ 6 treffen wir Kameraden uns bei Wendeborn zum Essen & bleiben in der Regel zusammen bis zum zu Bett gehen. Entweder machen wir dann nach Tisch einen Spaziergang, oder gehen in den Zoologischen oder die Flora, wo fast täglich Konzert ist, hie & da besuchen wir auch wol noch ein Theater, doch in letzter Zeit selten.“200

Paul Colsman schilderte in dem Brief exakt das, was sein Vater fürchtete, nämlich das ‚ziellose‘ Zusammensein mit Kameraden in Restaurants und Cafés, den abendlichen Besuch von Theatern und das Herumschlendern auf den Boulevards der Großstadt. Nach Dienstschluss waren alle Einjährigen ab etwa 17 Uhr frei, in Berlin zu tun, was sie wollten. Die Flora war beispielsweise ein in Charlottenburg zu Beginn der 1870er Jahre errichtetes Vergnügungslokal mit großen Sälen, Palmengarten, Restaurants und Varieté-Veranstaltungen; es war eines der neuen Amüsieretablissements des Ballungsraums Berlin für ein zahlungsbereites städtisches Publikum. Auch der Berliner Zoologische Garten enthielt Restaurants, Gartenwirtschaften und Bars. Wilhelm Colsman-Bredt sprach seine vorausgehend zitierten Befürchtungen allerdings aus eigener Erfahrung aus, denn er hatte in seinem Berliner Einjährigendienst ebenfalls mit Regimentskameraden in den Restaurants der Stadt gefeiert und seinen Eltern geschrieben: „Sehr gerne wäre ich Sylvester Abend bei Euch gewesen […] da dies leider nicht möglich war, habe ich diesen Abend mit Albert [Reichmann, Zimmergenosse, CG], & Gottf [Gottfried Conze, CG] und in Gesellschaft von noch einigen andern Landsleuten so gut es eben anging, verbracht. Wir waren zusammen bei Berens [Restaurant, CG] […] und

200

Archiv WHC, Sign. 149, Paul Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 12. Juni 1884.

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hatten uns zur Feier der Freude auch eine kleine Bowle angesetzt und waren recht vergnügt.“201

Die Einjährigen der Unternehmerfamilie besaßen zudem eigenes Geld durch die väterlichen ‚Wechsel‘ und Konten, so dass die Versuchungen der Großstadt in greif- und vor allem bezahlbarer Nähe waren. Paul Colsman war beispielsweise berechtigt, Geld von einem Konto bei einem befreundeten Berliner Großhändler, Emil Lampson, zu entnehmen, unter der Auflage, dem Vater die Höhe der Entnahmen jedes Mal brieflich mitzuteilen und sich so sparsam wie möglich zu verhalten.202 Es war also keine unbegründete Annahme der Eltern, dass ihre Söhne in Berlin einer Menge Versuchungen und – aus ihrer Sicht – Gefahren ausgesetzt waren: Zunächst einmal waren die Söhne junge Männer im Alter von etwa zweiundzwanzig Jahren. Die Uniform der Garde-Kavallerie mit den Einjährigenschnüren machte sie auf der Straße und in Gesellschaften zu Repräsentanten ihres sozialen Status, nämlich zu Absolventen höherer Schulen und Söhnen gutsituierter bürgerlicher Elternhäuser, aber auch zu Repräsentanten höherer Ränge im Militär. Dass das Tragen einer militärischen Uniform zudem eine spezifische Form männlicher Selbstpräsentation beinhaltete, ist wiederholt erforscht worden. Militärische Uniformen repräsentierten im europäischen 19. Jahrhundert Männlichkeit in einer kriegerischen, diszipliniert-kontrollierten Form und verwiesen auf „energy, will, straightforwardness and courage“.203 Welche Männlichkeitsideale formulierten die Einjährigen und ihre Eltern im Militärjahr? Wie zeigte sich Männlichkeit in ihren Selbstpräsentationen und Handlungsorientierungen? Welchen Wandlungen unterlagen solche Konzepte von Männlichkeit, von Seiten der männlichen Jugendlichen wie der Eltern, gegebenenfalls im Verlauf des Kaiserreichs? Prägte das insbesondere durch die Berufsoffiziere im Kaiserreich kultivierte Ideal der ‚Schneidigkeit‘ und ‚Strammheit‘ auch das Männlichkeitsideal des Bürgertums?204 Repräsentierte dieses Männlichkeitsbild hegemonial das, was das Ideal der Männlichkeit der hier untersuchten Einjährigen im Kaiserreich ausmachte?205 Zumindest hatten die Einjährigen während ihrer Dienstzeit und anschließend auch die bürgerlichen Reserveoffiziere Anteil an einer solcherart militärisch konnotierten männlichen Körperlichkeit. Die Uniformen modellierten den 201 202

Archiv WHC, Sign. 39, Wilhelm Colsman-Bredt an die Eltern, 8. Januar 1853. Vgl. „Es ist mir ganz lieb, daß du von dem weißen Rock absiehst, es kostet Geld genug und mögte ich nur bitten mir jedesmal die Entnahme bei Lampson aufzugeben, wie es ja in der Ordnung ist; L. hat seither Nichts aufgegeben, kann auch unterbleiben, da die Comis es ja nicht zu wissen brauchen, ich wünsche aber en courant zu bleiben!“ Archiv WHC, Sign. 183, Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 11. Dezember 1883. 203 Tosh, A Man’s Place, S. 111. Ähnlich Frevert, Ehrenmänner, S. 216. 204 Ute Frevert legt das in einem Beitrag nahe. Vgl. Frevert, Das Militär als Schule der Männlichkeiten, S. 59, S. 62f., S. 69. Schneidigkeit meinte neben einem zackig-forschen Auftreten auch die Übereinstimmung von Innen und Außen, von inneren Haltungen und äußerem Handeln. Vgl. auch Tramitz, Nach dem Zapfenstreich, S. 212. 205 Zum Konzept der ‚hegemonialen Männlichkeit‘ vgl. Connell, Der gemachte Mann.

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Körper nach einem nachgerade klassisch-antiken Schönheitsideal der breiten Schultern und des breiten Brustkorbs, bei schmalen Hüften und schlanken Beinen.206 Ein solches Ideal körperlich auszufüllen, gelang den Einjährigen als jungen Männern naturgemäß leichter als älteren Reserveoffizieren. Auch die mit dem Uniformtragen verbundene Anforderung der geraden Haltung und der elastischen Körperspannung war für junge Männer einfacher zu bewerkstelligen als für ältere, insbesondere dann, weil letztere als Reserveoffiziere dies nur selten praktizieren mussten und zum Beispiel als höhere Beamte oder Unternehmer vornehmlich sitzenden Tätigkeiten nachgingen. Eine forcierte ‚Schneidigkeit‘ der Berufsoffiziere konnte aber in der Zivilgesellschaft auch prekär werden, wenn sie nicht mit bürgerlichen Interaktionsformen korrespondierte. Eine überzogene Körpersprache des Strammen und Forschen und das abgehackte Sprechen im sogenannten ‚Kasinoton‘ (bruchstückhafte Satzbildung ohne Personalpronomen) konnte im Verkehr mit bürgerlichen wie adligen Zivilisten leicht lächerlich wirken.207 Ein literarisches Beispiel dafür ist der Leutnant a. D. Vogelsang in Theodor Fontanes „Frau Jenny Treibel“ (1892), dessen Zwanghaftigkeit und Unfähigkeit, sich bei einem vornehmen bürgerlichen Diner der dort erwünschten eleganten Umgangsformen zu bedienen, eine eingeladene adlige Hofdame zu der Äußerung veranlasst, er stünde „als Warnungsschatten vor den Prinzipien, die das Unglück haben, von ihm vertreten zu werden“.208 Mathilde Colsman belustigte sich 1882 gegenüber ihrem Mann über einen hohen Offizier, der bei einem festlichen Mittagessen die bürgerlichen Umgangsformen unzureichend beherrschte und aus ihrer Sicht verkrampft und übertrieben agierte: „Bei table d’hote war’s freilich ohne Euch noch feiner wie in der feinen Stube; Herr Hauptmann als Präsident schlug sich vor Liebenswürdigkeit doppelt, unterhielt krampfhaft u. zierlich – ich that ganz ungeniert (war’s freilich nicht so arg) während die beiden kleinen Damen sanfte u. zaghafte Bemerkungen einsträuten. […] Das schönste aber war, daß, als ich mich erhob, H. Hauptmann das Gleiche that: ‚Erlauben gnä Frau, daß ich Sie bis zur Thür geleite.‘ Schlußtableau. Ich gravitätisch durch den Saal schreitend – hinter mir mit ernster Schützermiene der Hauptmann. Das nennt der Unglücksmensch männlichen Beistand.“209

Der auf bürgerliche Männer und Frauen nicht notwendigerweise attraktiv, sondern bisweilen auch gekünstelt und zwanghaft wirkende Habitus so mancher Berufsoffiziere stand in latentem Widerspruch zu den vom etablierten Wirtschafts- und Bildungsbürgertum als fein und elegant klassifizierten Umgangs206

Zu Funktionen und Wirkungen von Uniformen vgl. Hackspiel-Mikosch, Die Theorie der Uniform; Frevert, Das Militär als Schule der Männlichkeiten, S. 63f. 207 Marcus Funck hat dargestellt, wie der aristokratische Offiziershabitus, der neben Schneidigkeit auch besondere Eleganz im Auftreten, gutes tänzerisches Können und ausgesuchte Umgangsformen gegenüber Frauen umfasste, im Kaiserreich zunehmend als ‚weibisch‘ kritisiert wurde. Vgl. Funck, Bereit zum Krieg, S. 73ff. 208 Fontane, Frau Jenny Treibel, S. 321. 209 Archiv ACE, Sign. V,17, Mathilde Colsman an Emil Colsman, 7. Mai 1882.

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formen. Die massenhaften Karikaturen des preußischen Leutnants in Zeitungen und Zeitschriften des Kaiserreichs sprechen zudem für eine noch breitere Wahrnehmung der Fremdheit und Lächerlichkeit des Verhaltens mancher Offiziere.210 Eine Idealisierung solchen Verhaltens durch die Bürgersöhne im Einjährigendienst ist eher unwahrscheinlich und ihre durchgreifende militärische Habitualisierung angesichts ihres nur sporadischen Kontakts mit den Berufsoffizieren und mit militärisch bestimmten Räumen auch nicht plausibel.211 Vielmehr legen die im vorausgehenden Teilkapitel zitierten Briefe der Einjährigen nahe, dass der bürgerliche Habitus der maßvollen Zurückhaltung und der inneren und äußeren Balance als ‚innere Grammatik‘ dominant blieb und die zulässigen Formen des Verhaltens und Sprechens weiterhin festgelegte. Die brieflichen Erziehungsversuche der Eltern wiesen in dieselbe Richtung: Die Söhne sollten sich bürgerlich verhalten und in bürgerlichen Kreisen verkehren. Die Männlichkeit, welche die Einjährigen jeweils ihrer Umwelt präsentierten, war gleichzeitig abhängig von Zeitpunkten und sozialräumlichen Kontexten. Emil Colsman referierte beispielsweise aus dem deutsch-französischen Krieg, an dem er als junger zweiundzwanzigjähriger Unteroffizier teilgenommen hatte, wie sich dort Geschlechterrollen im kameradschaftlichen Zusammenleben mit zwei weiteren befreundeten Einjährigen grundlegend veränderten. Nicht nur mutierten die drei Freunde zu Hausmännern,212 sondern auch zu Köchen, die miteinander um die besten Rezepte und Kochresultate wetteiferten: „So hatte Freund Erbslöh zum Glück seiner Braut öfter in der Küche Gesellschaft geleistet und so etwas Kochkunst spielend studirt, die uns allen jetzt trefflich zu statten kam. […] Inzwischen waren Molineus und ich nicht faul gewesen, hatten in Suppen, von welchen ich besonders die Brodsuppe mit Rothwein, die Mehl- oder Klossuppe, ferner die Kartoffelsuppe erwähne, und in Kartoffeln unser Bestes geleistet. […] einzelne Kochgeschirre, besonders ein schöner Suppentopf von Eisen und zwei Kasserolls waren vorhanden und unterstützten uns herrlich bei den nun beginnenden Kochstudien […].“213

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Vgl. dazu Seidler, Das Militär in der Karikatur, S. 35ff., Abbildungen S. 45ff. Spätestens an der Jahrhundertwende galt: „Die Zeit, in der die tanzenden Offiziere auf dem gesellschaftlichen Parkett und in der militärischen Organisation den Ton angaben, war vorüber.“ Funck, Bereit zum Krieg, S. 82. 211 Marcus Funck hat zudem gezeigt, dass sich auch im Offizierkorps an der Jahrhundertwende neue Leitbilder durchsetzten, nämlich statt des aristokratischen, ‚tänzelnden‘ Offiziers das bürgerliche Leitbild des nüchternen, hart arbeitenden Berufssoldaten, aber auch das des aggressiven Kriegers. Vgl. Funck, Bereit zum Krieg, S. 85f. 212 „Unsere Stube […] war mit großem Fleiß und wahrer Liebhaberei gereinigt und in Ordnung gebracht;“ Colsman, Tagebuch eines Ulanen, S. 99. 213 Colsman, Tagebuch eines Ulanen, S. 99ff. Etwa gleichlautend schrieb Emil Colsman an seinen ältesten Bruder Wilhelm Colsman-Bredt: „Bevor unsere Wirths-Leute hier ankamen haben wir, Erbslöh als Hauptkoch, ausgezeichnet gekocht u. geschmort, und uns sogar bis zu Spinat Savoyen [Wirsing, CG] u. Möhren emporgeschwungen, ein Genuß der uns in den letzen Monaten nicht oft vorgekommen war, u. deshalb doppelt erfreute.“ FFA, B4g53, Emil Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 13./16. Oktober 1870.

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Bemerkenswert ist, mit welcher Selbstverständlichkeit hier in einem für die Öffentlichkeit bestimmten Text (1872 verfasst und 1883 publiziert) klassische männliche Rollen verlassen und weibliche Tätigkeiten übernommen wurden. Ute Frevert beschreibt Vergleichbares aber auch für die Tätigkeiten von Soldaten in Friedenszeiten: „Sie lernten sich selber organisieren, ihre Dinge in Ordnung halten – auch wenn solche Funktionen in der Außenwelt Frauensache waren.“ Sie bilanziert: „Es ist nicht überliefert, dass sie daran Anstoß genommen hätten. Offenbar erlaubte ihnen die Männergesellschaft des Militärs, Grenzüberschreitungen gelassen anzugehen.“214 Emil Colsman ging in den Grenzüberschreitungen allerdings noch deutlich weiter, wenn er die Freundesgemeinschaft im Feld in einem öffentlichen Text als „Familie“ kennzeichnete: „Wieder gingen 1, 2 und 3 Wochen dahin, die uns mit ihren Feldwachen, ihren Familienfreuden, denn Molineus, Erbslöh und ich hatten uns nun als Familie von Mann und Frau und Erbslöh als Kind organisirt, ihrem häufigen Wachtdienst und Exerziren schnell dahin gingen.“215

Thomas Kühne hat für deutsche Soldaten im Zweiten Weltkrieg gezeigt, dass Kameradschaftskonzepte den Verlust emotionaler Nähe von Seiten der Familie im Krieg kompensieren halfen. Kameradschaften waren aber nicht nur männerbündische Gegenentwürfe zu geschlechterheterogenen Familiengemeinschaften, sondern auch deren Substitute. Sie waren emotionale Schutzräume,216 in denen im vorliegenden Fall sogar Geschlechter- und Generationsrollen adaptiert wurden. Emil Colsman war es aber auch nachträglich, in Friedenszeiten, offenbar nicht unangenehm, diese Rollenwechsel darzustellen und zu publizieren.217 Mit dem im Text beschriebenen Ende des deutsch-französischen Krieges verschwand dort auch das soldatische, kämpferisch-aggressive Leitbild männlichen Verhaltens, das im Text ebenfalls seinen Platz gehabt hatte und mit der Denkfigur von Schmach, Kränkung und Rache legitimiert worden war: „Ja, der deutsche Michel war erwacht, und nicht so leicht läßt er sich wieder beruhigen. […] Nein, ihr Franzosen, so haben wir diesmal nicht gewettet; jetzt bezahlt ihr neue und so viel alte Schuld […].“218 Das Männlichkeitsideal des aggressiven Kriegers war im Verlauf des Textes allerdings wiederholt von Beschreibungen des friedlichen Zusammenlebens von deutschen Soldaten und französischen Familien und von Familienbildern der Offiziersgemeinschaft durchkreuzt und 214 215 216 217

Frevert, Das Militär als Schule der Männlichkeiten, S. 72. Colsman, Tagebuch eines Ulanen, S. 106. Vgl. Kühne, Kameradschaft. Im Kapitel II über Eheschließungen und Ehebeziehungen in der Unternehmerfamilie Colsman wird außerdem deutlich, dass Geschlechterbeziehungen sowie männliche und weibliche Selbstpräsentationen im Kaiserreich weniger auf Geschlechterstereotype festgelegt waren als nach öffentlichen Geschlechterdiskursen erwartbar. Vgl. zu diesen Frevert, „Mann und Weib, und Weib und Mann“, insbesondere zur Begriffsgeschichte von „Geschlecht“ sowie „Mann“ und „Frau“ in Konversationslexika, S. 13–60. 218 Colsman, Tagebuch eines Ulanen, S. 70.

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überlagert worden.219 Das Thema der kriegerischen Auseinandersetzung wurde gegen Ende des Texts schließlich verlassen und Großbritannien statt Frankreich als Ausland bedeutsam. England wurde zum Sehnsuchtsort unternehmerischen Engagements: „Mit Lob und Dank saß ich in Dieppe auf einem ins Meer hinaus gebauten Damme, nun fröhlich, wenn auch sehnsüchtig des Tages gedenkend, wo ich wieder auf Friedenswegen gen England fahren konnte.“220 In der Situation des nahenden Kriegsendes gewann die internationale Vernetzung des Unternehmers auch in den nach Hause gesandten Briefen die Oberhand. In einem Brief kurz vor Kriegsende schrieb Emil Colsman an seinen Bruder Wilhelm Colsman-Bredt: „Niemand froher als wir [die Einjährigen, CG], wenn ‚Heimwärts tönt der sanfte Friedensmarsch‘ und wir endlich einmal wieder in unsern Beruf zurück können, das Pferd mit dem Comptoirstuhl, Säbel u. Lanze mit Lineal und Seidenstrang vertauschen können.“221 In den Briefen Emil Colsmans verband sich das deutsche Heer allerdings nicht zu einer klassenübergreifenden Soldatengemeinschaft, im Gegenteil brach sich in ihnen gegen Ende des Krieges deutliche Kritik an den Berufsoffizieren Bahn: „Wir treiben uns hier immer noch als wohlbestallte Vices mit Thl. 18 monathlicher Gage herum und drillen täglich die Rekruten, resp. alte Reserve Männer, die das Reiten mindestens ebenso fix kennen wie wir, bis zum Officier scheint indeß eine unübersteigbare Kluft bleiben zu sollen, obgleich sich die Herren ab u zu herablassen dem Ein od. Andern von uns (wozu ich sicher nicht zähle!) bei Tempel od. Ecarte einige Thlr. abzunehmen, im Übrigen dann aber ziemlich erhaben bleiben. Wir haben eben nicht Viel von unserm Garde Officier gehabt und ihr Andenken bei uns wird sich in 2 Worten zusammenfassen lassen… Doch denke nur nicht, daß ich mich darnach sehnte mit den Herrn zu verkehren, im Gegentheil wir paßten doch nicht zusammen, und so ist es viel besser so wie es ist.“222

Der Krieg gegen Frankreich brachte Emil Colsman in seiner nachträglichen Bewertung aber doch ein „liebes Vaterland“ ein.223 Wenn er in seiner Darstellung des deutsch-französischen Krieges von „Heimat“ sprach, dann waren allerdings die Kleinstadt Langenberg und das Bergische Land gemeint.224 Ein nationales „Wir“ bringt der Text noch nicht zustande; vielmehr gibt es eine Gegenüberstellung: das „Vaterland“ und das „Volk“ auf der einen Seite und auf der anderen Seite diejenigen (insbesondere die bürgerlichen Kriegsdienstleisten219 220 221 222 223 224

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Vgl. als Überblick zu Männlichkeitsidealen Martschukat/Stieglitz, Geschichte der Männlichkeiten, S. 64ff. Colsman, Tagebuch eines Ulanen, S. 163. FFA, B4g53, Emil Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 24. Februar 1871. FFA, B4g53, Emil Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 8. Mai 1871. Colsman, Tagebuch eines Ulanen, S. 5. Dieter Langewiesche stellt in Briefen aus dem Ersten Weltkrieg fest, dass für die Soldaten ‚Heimat‘ ein Bezugsraum war, der Nähe voraussetzte und sogar dem besetzten Ort im Feindesland zukommen konnte. Heimat war also in den Briefen nicht die ‚Nation‘, sondern die vertraute Umgebung. Das war auch bei Emil Colsman der Fall. Vgl. Langewiesche, Gefühlsraum Nation, S. 206ff.

den und die Mannschaftssoldaten), die es im Krieg konstituieren.225 Soldatentum und Nation gehen nicht ineinander auf. Und so ließ Emil Colsman die kämpferisch-aggressive Männlichkeit des Krieges nicht nur in seinem Erinnerungstext, sondern auch in allen Briefen, die er nach dem Krieg an seine Herkunftsfamilie und an seine Ehefrau schrieb, bald hinter sich.226 Erst in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg tauchten in den Selbstund Fremdbeschreibungen der Einjährigen und ihrer Eltern wieder soldatische Konnotationen der Härte auf. So schrieb die Mutter Elisabeth Colsman an ihren Sohn Wilhelm 1909 nach Karlsruhe: „Ich möchte gern für Papa, daß er bei Zeiten sähe, daß seine Jungens sich stählen und zu rechter Arbeit taugen, er sieht die geschäftliche Zukunft oft nicht rosig vor sich […].“227 Jetzt erst werden Zuschreibungen an die Männlichkeit der Söhne mit Adjektiven wie „stramm“ und „tüchtig“ vorgenommen, die vorher nur für die Verhältnisse gewählt worden waren: als ‚stramme Arbeit‘ oder ‚strammer Dienst‘, also als zeitaufwendig und körperlich wie geistig fordernd. Nun sollte die Person selbst stramm werden. Den Begriff der Schneidigkeit wählten die Briefschreiber im Kaiserreich, Eltern, Kinder und Freunde, zur Beschreibung männlichen Verhaltens allerdings kein einziges Mal.228 Gleichwohl schienen die Sachzwänge des inzwischen hochtechnisierten Familienunternehmens mit seiner großen Fabrik und den vielen Arbeitern, die beispielsweise Paul Colsman gegenüber seinem Sohn wiederholt zum Ausdruck brachte, neue Selbstpräsentationen und Handlungsorientierungen nahezulegen. Die Eltern setzten nun für die Söhne stärker auf ein innerliches und äußerliches ‚Stählen‘, um dem neuen Maschinenzeitalter standzuhalten.229 Sie forderten dies den Söhnen aber nicht als selbstständige Leistung außerhalb der Familie ab, sondern wollten sie durch Erziehung dazu in die Lage versetzen. Eltern und Kinder rückten durch die beginnende Interpretation der technisierten Umwelt als „stahlhartem Gehäuse“230 noch näher zueinander. 225

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Vgl. Colsman, Tagebuch eines Ulanen, S. 5, S. 105, S. 167. Er schreibt, Frankreich sei verblendet gewesen, denn es habe den „gewaltigen Aufschwung unseres deutschen Volkes nicht sehen und verstehen“ können. Ebd., S. 2. Auch hier spricht der Text nicht von „unserem Aufschwung“, sondern der Schreiber setzt sich dem „deutschen Volk“ gegenüber, zu dem aber durch das Possessivpronomen ein direkter Bezug besteht. Vgl. Kapitel II über Eheschließungen und Ehebeziehungen, Teilkapitel 4. Archiv WHC, Sign. 70, Elisabeth Colsman an Wilhelm Colsman, 3. Februar 1909. Vgl. dazu sowie zu der mit der Schneidigkeit verbundenen männlichen Ehre Frevert, Ehrenmänner, S. 89ff. Die größte Sorge militärischer Vertreter der Schneidigkeit war es, als ‚schlapp‘ oder als ‚Schlappi‘ zu gelten. Vgl. dazu ausführlich Radkau, Das Zeitalter der Nervosität, S. 389ff. Zur beginnenden Verhärtung des Männerideals um 1900, das im anglo-amerikanischen Raum seinen Anfang nahm, vgl. Radkau, Das Zeitalter der Nervosität, S. 391, sowie zur Bedeutung des Ersten Weltkriegs als traumatisierende Technikerfahrung und als Reaktion darauf mit Entwürfen von stahlharten, maschinengleichen Charakteren Kurig, Bildung für die technische Moderne, S. 79ff. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, S. 188. Max Weber spricht an anderer Stelle vom „stählernen Gehäuse der modernen gewerblichen Ar-

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Dagegen fällt wiederholt das Verb ‚spielen‘, wenn es um den einjährigen Wehrdienst geht. Noch am Ende des deutsch-französischen Krieges hielt Emil Colsman brieflich fest: „Wohl macht es manch einem von uns einen Strich durch die Rechnung immer noch Soldat spielen zu müssen, statt zu arbeiten und vorwärts zu kommen […].“231 Das „Soldatspielen“ und der „Manöverzauber“232 wurden in Briefen der Unternehmer über das gesamte Kaiserreich hinweg zur ironischen Platzierungsformel des Einjährigen- und des Reservedienstes innerhalb der bürgerlichen Lebensform. Daran änderte auch die Mitgliedschaft in Kriegervereinen nichts.233 Den ‚Ernst des Lebens‘ stellten dagegen die Familie und das Unternehmen dar. Die von den Eltern gewünschte Männlichkeit der Söhne und deren Selbstpräsentationen richteten sich an klassischen bürgerlichen Normen und Werten aus. Junge Männer berichteten aus dem Einjährig-Freiwilligen-Jahr vom Klavierüben und vom Besuch von Vorlesungen, von Vorträgen und Theaterbesuchen. Darüber hinaus besichtigte man die Sehenswürdigkeiten der Hauptstadt und vermittelte die eigene touristische Bildungsbeflissenheit nach Hause. Emil Colsman hatte dies in einem Brief an seine Frau 1879 retrospektiv festgehalten: Morgens Militärdienst, nachmittags Vorlesungen in der Universität.234 Der einjährigfreiwillige Dienst wurde in eine Alltagsstruktur eingebunden, die weit mehr als bürgerlich konnotiertes, männlich-jugendliches Moratorium interpretiert wurde denn als aufopferungsvoller männlich-harter Dienst am Vaterland. Die von den Einjährigen der Unternehmerfamilie Colsman wiederholt geschilderten Diners, Empfänge und Bälle verlangten ihnen darüber hinaus zurückhaltende, bürgerliche Umgangsformen ab. Diese reichten von der gekonnten Reihenfolge der Begrüßungen bei einer Visite über das Wissen um angebrachte Konversationsthemen bis zum unaufdringlichen Sichzurückziehen, und dies zu nicht allzu später Stunde. Ein zu langes Bleiben wurde in eleganten Gesellschaften als lästiges „Kleben“ empfunden.235 Die Eltern unterstützten das richtige gesell-

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beit“. Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, S. 464. Vgl. zu den sich verändernden Eltern-Kind-Verhältnissen nach der Jahrhundertwende auch das Kapitel IV über Schulbesuch und Sozialisation der Jungen, Teilkapitel 4.3 und 4.4. FFA, B4g53, Emil Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 8. Mai 1871. Archiv WHC, Sign. 57, Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 28. August 1889 und 18. September 1889. Sowohl Paul Colsman als auch Emil Colsman waren Mitglieder des örtlichen Kriegervereins in der Stadt Langenberg, Paul Colsman auch zeitweise dessen Vorsitzender. Vgl. Archiv WHC, Sign. 37, Abnahmebuch Paul Colsman, 1901–1907. „[...] ich sah [auf unserer Bude, CG] unsern alten Schreibtisch u. unsere durch spanische Wand getrennte Betten, sah uns wieder staubbedeckt von Kreuzberg kommen u. dann durch Schinken u. Bier gekräftigt, bald in die Stadt zu schönen Collegien eilen [...].“Archiv ACE, Sign. V,12, Emil Colsman an Mathilde Colsman, 3. April 1879. Zu der Begrifflichkeit gibt es viele Belegstellen in der Briefkommunikation zwischen Eltern und Kindern. „[…] will ich dir nur sagen […] wenn du ausgehst, auch die Uhr in der Hand, resp. im Kopf hast und nicht über Gebühr klebst!“ Archiv WHC, Sign. 160, Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 3. Januar 1882.

schaftliche Verhalten brieflich durch Ratschläge und Belehrungen. Immer freundlich, bescheiden, maßvoll-ausbalanciert, aufmerksam und gleichzeitig als unterhaltsame Gesprächspartner für bürgerliche Mädchen und ältere Herrschaften gleichermaßen in Frage kommend sollten die Einjährigen sein. Von Schneidigkeit als hegemonialem Männlichkeitsideal konnte in diesem bürgerlichen Milieu keine Rede sein. Dennoch mussten die jungen Männer in ihren Einjährigenuniformen eine Balance zwischen militärischen und bürgerlichen Verhaltensformen entwickeln. Dazu zählten soldatische Ehre (‚des Kaisers Rock tragen‘) und diese bei Beleidigungen notfalls zu verteidigen, und die Pflicht, den Berufsoffizieren als Vorgesetzten und Höherrangigen stets mit gebührendem Respekt und formal korrekt in der Öffentlichkeit gegenüberzutreten. In diesen beiden Fällen, Beleidigungen des Militärs und Begegnungen mit Offizieren in der Öffentlichkeit, hatten eine Verteidigung der Ehre des Militärs mit der Waffe (Duell bei vorhandener Satisfaktionsfähigkeit) und eine Unterordnung unter militärische Normen und Hierarchien Vorrang vor bürgerlichen Rängen und Verhaltensformen. Die Briefe der Einjährigen der Familie Colsman geben allerdings keine Auskunft, ob solche Fälle vorgekommen sind. Eine spezifische, militärisch konnotierte Männlichkeit der Ehre und der jederzeitigen Kampfbereitschaft lassen die Briefe allerdings nicht erkennen. Gleichwohl besaßen die Einjährigen in ihrem Militärjahr zumindest zeitweilig einen völlig neuen Sozialisationskontext. Zudem trugen sie eine Uniform, die sie als Teil einer besonderen militärischen Gruppe, als Einjährige, auszeichnete, und sie konnten von der Umwelt, zum Beispiel auf den Berliner Straßen, auch so wahrgenommen werden. Da die Uniformen der Regimenter und militärische Rangabzeichen der Gesellschaft des Kaiserreichs viel geläufiger waren als dies heute in der Bundesrepublik Deutschland bei der Bundeswehr der Fall ist, waren die jungen Männer anhand ihrer Uniformen rasch zuzuordnen und im sozialen Status einzuschätzen.236 Eine der verführerischsten Verlockungen der Großstadt war für junge Männer zweifellos die Anwesenheit vieler junger Frauen und die Möglichkeit ihres Kennenlernens, ohne dass dies wie zuhause einer sozialen Kontrolle durch Eltern oder Verwandte unterlag. Nicht zuletzt war das Thema ‚Frauen‘ in der Kaserne ständig präsent.237 Die Situationen des Kennenlernens waren wiederum nicht zu trennen vom Status der Einjährigen als bildungsprivilegierte und – bei den Colsman-Söhnen an den Uniformen der Gardekavalleristen ersichtlich – aus gutsituierten Elternhäusern stammende junge Männer, dessen sich auch die jungen Frauen bewusst waren. Lassen sich 236

Zur Attraktivität von Uniformen, bezogen auf das mit ihnen verbundene heroische Männlichkeitsideal und die unterstellte sexuelle Virilität, vgl. Tramitz, Nach dem Zapfenstreich, S. 212ff. 237 Vgl. Frevert, Die kasernierte Nation, S. 223f. Sie hält fest, dass der Militärdienst für viele Einjährige sexuell „eine Übergangs- und Initiationsphase gewesen zu sein“ schien. Ebd., S. 224.

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Aussagen treffen über mögliche Begegnungen von jungen Männern und Frauen, auch wenn die vorliegenden Briefe der Einjährigen dazu keine Auskunft geben? In welchen Konstellationen waren Begegnungen vorstellbar? Aus den Briefen der Einjährigen wird wiederholt deutlich, dass diese in ihrer Freizeit als Gruppen unterwegs waren. Gemeinsam mit anderen Einjährigen ging man in der Stadt zum Essen, besuchte Theater, Varietés und Bars und schlenderte durch die Straßen und Stadtviertel.238 In aller Deutlichkeit schilderte ein einschlägiger Reiseführer von 1895 die Berliner Amüsiermöglichkeiten und die überall verfügbare Prostitution in der Hauptstadt: „Wenn des Tages Lärm verrauscht, wird’s nicht still auf den Strassen Berlin’s. […] Die Theater-Vorstellungen sind zu Ende – nun beginnt das Ausschwärmen der buntschillernden Schmetterlinge. Eine wandelnde ‚horizontale Gewerbe‘-Ausstellung! Ein hübsches Mädchen streift im Vorbeigehen unsern Arm. Auch sie steht ‚im schwarzen Buch der Stadt Berlin‘ am Alexanderplatz verzeichnet.“239

Sogenannte Animier-Kneipen und „Rinnfall-Buden“ waren im Zentrum Berlins spezialisiert auf Touristen und unerfahrene Gäste, und die Bedienungen waren junge Frauen, die oftmals auch für sexuelle Dienste zur Verfügung standen.240 Viele Kneipen, Bars und Cafés hatten trotz polizeilicher Sperrstunden Tag und Nacht geöffnet. Eine Reihe von Etablissements (‚Ball-Lokale‘ und ‚Tanzsalons‘) besaß eigene Ballsäle, in denen für ein breites Publikum regelmäßig Tanzabende veranstaltet wurden. Varietés und Kabaretts boten tägliche Aufführungen und Chanson-Abende. Die jungen Frauen, die hier als ‚Chanteusen‘, Tänzerinnen, Bardamen und Bierkellnerinnen in Erscheinung traten oder dort einfach ihre Freizeit nach der Arbeit verbrachten, gehörten nicht der sozialen Klasse an, der die bürgerlichen Einjährigen entstammten.241 Vielmehr waren es meist unverheiratete junge Frauen aus Arbeiter- und Bauernfamilien und dem unteren Mittelstand. Die mangelnde Erfahrung im Umgang oder gar der intimen Begegnung mit dem anderen Geschlecht war im Bürgertum – im öffentlichen Diskurs – dagegen geradezu die Voraussetzung, um als anständiges Mädchen zu gelten. Die ‚Reinheit‘ des Mädchens konnte nach dieser Maßgabe auch Aufschluss geben über ihren Charakter. Sie sollte nicht nur unschuldig sein, weil die Eltern und die durch diese gestalteten Sozialisationskontexte jede ‚Versuchung‘ ferngehalten hatten, sondern ein bürgerliches Mädchen sollte auch selbstbeherrscht sein, 238

Das galt für Soldaten allgemein. Sie verbrachten ihre Freizeit in der Regel in der Gruppe mit anderen Soldaten. Vgl. Frevert, Die kasernierte Nation, S. 235. 239 Berliner Amüsements, S. 57. Vgl. dazu auch Schlör, Nachts in der großen Stadt, S. 162ff. Zu den für die meisten europäischen Großstädte schon vor der Jahrhundertwende vorliegenden gedruckten Führer durch deren Nachtleben vgl. Bloch, Das Sexualleben unserer Zeit, S. 324ff. 240 Vgl. Berliner Amüsements, S. 55f. Zitat S. 55; Bloch, Das Sexualleben unserer Zeit, S. 382f. 241 Vgl. dazu Bloch, Das Sexualleben unserer Zeit, S. 331ff., S. 381ff.; Meirowsky, Geschlechtsleben der Jugend, S. 27ff.

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denn Situationen, in denen Flirts und tiefe Blicke möglich waren, konnten überall entstehen. Wie gesagt, das war die öffentliche Moral; diese bekam mit zunehmendem Großstadtleben und der Frauenbewegung im Kaiserreich ab 1890 deutliche Risse. Noch weniger aussagefähig war die öffentliche Moral über das reale Verhältnis junger bürgerlicher Frauen und Männer im Kaiserreich.242 Anders als Richard Sennett halte ich das 19. Jahrhundert nicht für die Zeit des wachsenden Vordringens der individuellen Persönlichkeit in den öffentlichen Raum. Die Suche nach der wahren Person hinter ihrer öffentlichen Rollen, so argumentiert dagegen Sennett, sei im Laufe des 19. Jahrhunderts zwanghaft geworden und habe die Voraussetzungen für das geschaffen, was er für das späte 20. Jahrhundert die ‚Tyrannei der Intimität‘ nennt, durch welche die Sphäre der Öffentlichkeit mit dem Maßstab des Privaten vermessen werde.243 Mir scheint es angesichts der von mir analysierten Selbstzeugnisse näherliegender, im Gegenteil von einem bewusst differenzierenden Umgang, insbesondere im Bürgertum, mit den Sphären Privatheit und Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert zu sprechen. Dazu gehörte, dass das private Verhalten mit dem öffentlichen nicht zwingend übereinstimmen musste.244 Was man in der Öffentlichkeit tun durfte, war stark durch Normen und Regeln geprägt, für die Privatheit galt das weitaus weniger. Das eigentlich Private und Intime, welches das Leben der Bürgerinnen und Bürger im Kaiserreich ebenso bestimmte wie das Leben in der Öffentlichkeit, tritt in den Selbstzeugnissen jedoch nur selten und indirekt zutage. Die Analysen Peter Gays zur Sexualität im europäischen und US-amerikanischen Bürgertum des 19. Jahrhunderts beschreiben eindrücklich, welche Differenzen zwischen öffentlicher Tabuisierung und privater sexueller Praxis bestanden.245 Das konnte einerseits zu einer für die Beteiligten quälenden Doppelmoral führen, wenn der Öffentlichkeit harmonische Ehebeziehungen vorgetäuscht wurden, die nicht existierten, andererseits konnten sich – gerade durch die starke Abschließung des Privaten – bürgerliche Männer und Frauen, ob verheiratet oder nicht, einen nicht unerheblichen Freiraum eröffnen. Das war im Risiko aus der Geschlechterperspektive allerdings nicht gerecht verteilt, denn es war für Männer in den Folgen weit weniger dramatisch, wenn Privates öffentlich wurde, das nicht den bürgerlichen Moralmaßstäben entsprach. Dies betraf insbesondere die Sexualität. Wenn ‚Verfehlungen‘, zum Beispiel Ehebruch, bekannt wurden, ruinierte dies den ‚Ruf‘ der Frau, betraf aber auch die beteiligten Männer. Geert von Innstetten, Ehemann Effi Briests und hoher Ministerialbeamter in Berlin, entdeckt in Fontanes Roman „Effi Briest“ 242 243 244

Vgl. dazu auch Kapitel V über die Sozialisation der Mädchen. Vgl. Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, S. 225, S. 249ff. Den Hinweis, dass das Verhältnis zwischen öffentlich und privat im 19. Jahrhundert eben nicht, wie im 20. Jahrhundert, als Übereinstimmung, sondern als Differenz gedacht und dies positiv bewertet wurde, und dass von den Personen dabei in der Balancierung beider Sphären eine gewisse Souveränität erreicht werden konnte und sollte, verdanke ich meiner Kollegin an der Universität der Bundeswehr Hamburg, Esther Berner. 245 Vgl. Gay, Erziehung der Sinne, S. 93ff., S. 124ff.

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(1894/95) in einer Schublade nach Jahren die Liebesbriefe des Major Crampas an seine Ehefrau. Er überlegt, diesen zum Duell zu fordern, obwohl er innerlich seiner Frau den Ehebruch verzeihen kann. Um sich darüber zu beraten, schickt er eine Nachricht an einen Freund. Dies ist aber letztlich schon die Entscheidung, das Duell doch auszutragen. Von Innstetten begründet diesen Vorgang gegenüber dem Freund in einem Gespräch: „Ich ging zu Ihnen und schrieb Ihnen einen Zettel, und damit war das Spiel aus meiner Hand. Von dem Augenblicke an hatte mein Unglück und, was schwerer wiegt, der Fleck auf meiner Ehre einen halben Mitwisser, und nach den ersten Worten, die wir hier gewechselt, hat es einen ganzen. Und weil dieser Mitwisser da ist, kann ich nicht mehr zurück. […] Und ereignet sich’s gar, daß ich in irgendeiner ganz alltäglichen Beleidigungssache zum Guten rede, ‚weil ja der dolus fehle‘, oder so was Ähnliches, so geht ein Lächeln über Ihr Gesicht, oder es zuckt wenigstens darin […].“246

Fontanes Roman benennt in diesem kurzen Dialog die Differenz zwischen Verhaltensregeln in der Öffentlichkeit und im Bereich des Privaten. Von Innstetten hätte das Duell vermeiden können, solange niemand außer ihm selbst von dem Ehebruch seiner Frau gewusst hätte. Mit dieser Publikmachung gegenüber dem Freund ist das unmöglich geworden. Ergänzend tritt hinzu, dass auch die Spielregeln der Öffentlichkeit nicht immer eindeutig waren. So zeigen zum Beispiel die Sozialisationskontexte bürgerlicher Mädchen von 1850 bis zum Ende des Kaiserreichs erhebliche Freiräume nicht nur zur Begegnung mit jungen Männern, sondern auch zur Selbstorganisation ihrer Lebensformen.247 1916 hielt eine pädagogische Schrift, die Jugendliche zur sexuellen Enthaltsamkeit vor der Ehe erziehen wollte, als ‚abschreckendes Szenario‘ der Gegenwart fest, dass höhere Schüler ab der Tertia in den öffentlichen Parks mit bürgerlichen Mädchen händchenhaltend und ins Gespräch vertieft spazieren gingen. Schüler der Gymnasien und Schülerinnen höherer Mädchenschulen „poussierten“, und die Eltern und Bürger der Stadt fanden das zur Missbilligung des Autors nicht nur unproblematisch, sondern verwiesen darauf, dass dies in ihrer Jugend auch nicht anders gewesen sei. Die Gymnasiasten sprachen, so der Autor, die Mädchen auf der Straße an, man verabredete sich zu einem Spaziergang und begann ein ‚Verhältnis‘.248 Im viktorianischen England, so John Tosh, musste sich ein männlicher Jugendlicher des Bürgertums bis zum sexuellen Verkehr mit einem bürgerlichen Mädchen allerdings mit einem Intervall von zehn bis fünfzehn Jahren von der Pubertät bis zur Eheschließung arrangieren, wobei es in England wie in Deutschland im Bürgertum weniger die Frage war, ob man heiratete, sondern wann. In dieser Zwischenzeit seien bürgerliche Mädchen sexuell unerreichbar gewesen. Sexuelle Kontakte seien daher nur mit Mädchen niederer sozialer

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Fontane, Effi Briest, S. 236f. Vgl. dazu Kapitel V über die Sozialisation der Mädchen. Vgl. Kertz, Der höhere Schüler und die Mädchen, S. 3. Zitat ebd.

Schichten möglich gewesen und mit Prostituierten:249 „Young men were the prime market for commercial sex, especially those removed from home constraints;“ Neben die Problematik der fehlenden Kontrolle sei der Druck der Peer Group getreten. Sexuelle Erfahrungen zu sammeln, habe gegolten als „rite de passage to manhood, and repeated intercourse was a form of display intended to impress other males“.250 Tosh hält diejenigen jungen Männer, die Verfügbarkeit und Gruppendruck dauerhaft widerstanden, für eine Minderheit, und auch andere Forschungen sprechen dafür, dass die überwiegende Mehrheit der jungen Männer, auch die des Bürgertums, sexuelle Erfahrungen vor der Ehe machte.251 Für männliche bürgerliche Jugendliche waren solche sexuellen Erfahrungen nicht nur – in einer meines Erachtens klassischen bürgerlichen Trennung von öffentlichem Anspruch und privater Wirklichkeit – durchaus üblich, sondern für die Öffentlichkeit auch eine lässliche Verfehlung, für junge bürgerliche Frauen war dies jedoch nicht so.252 Dennoch gab es auch für Mädchen des Bürgertums Möglichkeiten, junge Männer kennenzulernen, mit ihnen ein Verhältnis zu beginnen und erste körperliche Erfahrungen zu machen.253 Im Kaiserreich war die „Verwendung empfängnisverhütender Mittel […] in den Ober- und Mittelschichten sowie in der Stadt früher und weiter verbreitet als bei den Unterschichten und auf dem Land“. Dies ebnete sich aber bereits vor dem Ersten Weltkrieg ein, so dass davon auszugehen ist, dass die Mehrheit der deutschen Bevölkerung nach der Jahrhundertwende Methoden der Empfängnisverhütung kannte und praktizierte.254 Die Unehelichenquoten verteilten sich im Kaiserreich sehr ungleich. Besaßen vorübergehend die ländlichen Gebiete einen Vorsprung, übertrafen die städtischen Gebiete diese dann am Ende des Jahrhunderts. Dabei bildeten die Universitäts- und Garnisonsstädte die Spitze,255 d. h. diejenigen Orte, an denen viele Männer ohne Ehefrauen lebten. 249 250 251 252

Vgl. Tosh, A Man’s Place, S. 107f. Tosh, A Man’s Place, S. 108. Vgl. König, Das Kondom, S. 41. Der Geschlechtsverkehr zwischen volljährigen Unverheirateten stand nicht unter Strafe, aber seine Förderung durch Zimmervermietung sehr wohl. Außerehelicher Geschlechtsverkehr galt im Kaiserreich grundsätzlich als sittenwidrig. Vgl. König, Das Kondom, S. 36, S. 41. 253 Vgl. dazu Kapitel V über die Sozialisation der Mädchen sowie mit vielen Beispielen Gay, Erziehung der Sinne, S. 90ff. Zu Sexualkontakten zwischen Verlobten im Kaiserreich vor der Eheschließung vgl. Jütte, Lust ohne Last, S. 231. 254 Vgl. König, Das Kondom, S. 37f., Zitat S. 37. König zählt eine Reihe von Verhütungsmethoden auf, neben dem Kondom waren dies u. a. coitus interruptus, Oral- und Analsex und Scheidenspülungen. Die am weitesten verbreitete Methode war, so die Literatur übereinstimmend, der Coitus interruptus, gefolgt von Scheidenspülungen. Vgl. auch König, Geburtenkontrolle, S. 130, S. 134, sowie Jütte, Lust ohne Last, S. 220ff. 255 Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 3, 1849–1914, S. 519. Sybille Buske vermutet in diesem Zusammenhang, dass Abtreibungen bürgerlicher Mädchen und Frauen in den Statistiken kaum auftauchten, weil hier auf besondere Diskretion Wert gelegt und entsprechende, Diskretion garantierende Einrichtungen aufgesucht wurden. Manche zeitgenössische Studien beziffern den Anteil bürgerlicher Mädchen an den le-

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Ebenso waren die offene und die verdeckte Prostitution vorwiegend städtische Phänomene. Grundsätzlich gab es in den Städten viele Gelegenheiten, an denen sich Männer und Frauen kennenlernen konnten, vom Café und der Bar, dem Theater, Konzert oder Varieté bis zu Begegnungen auf der Straße. Die Möglichkeiten, männliche und weibliche Bekanntschaften zu schließen, waren viel größer als auf dem Land. Jede Nicht-Beaufsichtigung männlicher und weiblicher Jugendlicher legte daher im öffentlichen Diskurs die Gefahr sexueller Kontakte und möglicher Folgewirkungen wie Geschlechtskrankheiten und unehelichen Nachwuchs nahe.256 Frauen firmierten dabei wahlweise als Verführerinnen oder verführte Unschuld. Männer traten ebenso als Verführer oder Verführte auf; war der Mann älter, erschien er in der Literatur zumeist als der Verführer junger, unschuldiger Mädchen.257 Während die von der Polizei überwachten städtischen Bordellbetriebe ab den späten 1880er Jahren in der Zahl generell zurückgingen, wuchs die heimliche, im Unterschied zu den überwachten Bordellbetrieben strafbare Prostitution mit Übergängen zum abendlichen Amüsiermilieu an. Gaststätten und Bars waren Anbahnungsorte käuflichen Geschlechtsverkehrs, in denen viele Mädchen ohne polizeiliche Erfassung, aber häufig unter Aufsicht eines Zuhälters, operierten.258 Dazu trat die Gelegenheitsprostitution, die oftmals in sogenannte ‚Verhältnisse‘ mit und ohne Bezahlung überging, und welche die Mehrheit der geldlichen Sexualität im Kaiserreich ausmachte: Die Mädchen und Frauen waren in der Regel Kellnerinnen, Barfrauen, weibliche Bedienungen in Geschäften und Arbeiterinnen.259 Für Berlin wird die Zahl der Prostituierten um 1900 auf 50.000 geschätzt, bei nur 5.000 von der Polizei registrierten Prostituierten.260 Die Einjährigen in ihren Uniformen konnten für verschiedene Gruppen junger Frauen interessant sein: Für Mädchen unterschiedlicher sozialer Herkunft auf der Suche nach einer Liebesbeziehung und einem festen ‚Verhältnis‘, für Prostituierte wegen der Annahme, dass sie Geld hätten, für Mädchen insbe-

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digen Müttern aber immerhin auf 10%, wobei diese Zahlen aber nicht nachprüfbar sind. Vgl. dazu Buske, Fräulein Mutter und ihr Bastard, S. 37, S. 42f. Vgl. Buske, Fräulein Mutter und ihr Bastard, S. 58, S. 60. Vgl. zu den Sittlichkeitsdebatten und Geschlechterbildern Buske, Fräulein Mutter und ihr Bastard, S. 63ff. Die lange Zeit der Nicht-Verheiratung und Nicht-Beaufsichtigung bei Studenten hatte nach Aussage des ersten Generalsekretärs der 1902 gegründeten „Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten“, Dr. Alfred Blaschko, erhebliche Auswirkungen auf ihre Erkrankungszahlen. In Berlin waren nach Auskunft der studentischen Krankenkasse 25% der Studenten erkrankt, dagegen nach den Zahlen der Berliner Garnisonen nur 4–5% der Soldaten und nach Auskunft der Zentral-Krankenkasse der Tischler nur 8% der Arbeiter. Besonders gefährdet waren bei den Frauen Gelegenheitsprostituierte wie Kellnerinnen mit 30%, nach Angaben der Berliner Polizei, während bei der Ortskrankenkasse der Gastwirte die Erkrankungszahl nur mit 13,5% angegeben wurde. Vgl. Blaschko, Die Geschlechtskrankheiten, S. 9. Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 3, 1849–1914, S. 520. Vgl. König, Das Kondom, S. 42; König, Der Staat als Zuhälter. Vgl. König, Das Kondom, S. 43.

sondere aus dem alten und neuen Mittelstand und aus dem Bürgertum darüber hinaus als Heiratskandidaten wegen des an der Uniform ablesbaren sozialen Status. Ebenso wie Studenten waren Einjährige eine von elterlicher und institutioneller Aufsicht weitgehend freie Gruppe männlicher Jugendlicher, die überwiegend in homosozialer Gemeinschaft (Korporation, Vereine bzw. Garnison) verkehrten. Die meisten lebten gemeinsam mit einem Kommilitonen bzw. Kameraden auf einer gemieteten Bude. Für die Gruppe der Studenten gibt es Umfragen von Medizinern kurz vor dem Ersten Weltkrieg, die zu dem Ergebnis kamen, dass faktisch alle Befragten entweder bereits in der Schulzeit oder aber als Studenten Geschlechtsverkehr hatten.261 Aber auch bürgerliche Mädchen waren weniger unaufgeklärt und unerfahren als oft vermutet. Peter Gay verwirft in seiner Studie zur bürgerlichen Sexualität im 19. Jahrhundert dezidiert die „Schauermärchen vom verklemmten Geschlechtsleben oder von den anständig erzogenen jungen Männern und Frauen, die in puncto Sexualität von einer rührenden Unbedarftheit waren“.262 Auch bürgerliche Mädchen besaßen sexuelle Kenntnisse und Erfahrungen vor der Ehe. So berichtete ein deutscher Arzt vor dem Ersten Weltkrieg nicht nur, dass etwa neun Zehntel der männlichen Schüler höherer Schulen regelmäßig masturbierten, sondern dass dies auch für die bürgerlichen Mädchen gelte.263 Erhebungen kurz vor dem Ersten Weltkrieg in der Breslauer Studentenschaft sowie unter deutschen Ärzten (Selbstauskünfte, keine Patientenauskünfte) zeigen eine erstaunlich hohe Aufgeklärtheit und eine rege sexuelle Aktivität unter bürgerlichen männlichen Jugendlichen.264 So gab knapp die Hälfte der Befragten an, im Alter von neunzehn Jahren bereits Geschlechtsverkehr gehabt zu haben, bis zum Alter von vierundzwanzig Jahren waren es über 90%. Insgesamt hatten 22% schon als Primaner Geschlechtsverkehr gehabt.265 Überwiegend (über 90%) war nach Angaben der Befragten der erste Geschlechtsverkehr mit Prostituierten und „Vertreterinnen der geheimen Prostitution (Dienstmädchen, Geschäftsmädchen, Kellnerinnen)“266 ausgeübt worden. Vereinzelt mieteten Schüler und Studenten, die schon ein ‚Verhältnis‘ hatten, ein 261

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Vgl. Heimann, Das Sexualproblem der Jugend, S. 5f. Vgl. als eine der wenigen Forschungen, die sich mit Fragen jugendlicher Sexualität im Kaiserreich befassen und die sexuelle Aktivität der Jugendlichen betonen Taylor, The crisis of Youth in Wilhelmine Germany, Kap. 6, The Passionate Pause: Youth and Sex in Wilhelmine Germany, S. 258ff. Taylor arbeitet ausschließlich mit zeitgenössischen Quellen wie medizinischen und pädagogischen Publikationen. Zu den Sexualkontakten der Abiturienten und Studenten vgl. ebd., S. 267ff. Gay, Erziehung der Sinne, S. 291. Vgl. zu der großen Spannweite im Umgang mit der Sexualität in der Familie von sexueller Aufklärung bis zu bewusstem Beschweigen alles Sexuellen ebd., S. 292ff. Vgl. Gay, Erziehung der Sinne, S. 310. Ebenso Meirowsky, Geschlechtsleben der Jugend, S. 10. Vgl. Meirowsky, Geschlechtsleben der Jugend. Vgl. Meirowsky, Geschlechtsleben der Jugend, S. 19f. Meirowsky, Geschlechtsleben der Jugend, S. 21.

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„Absteigequartier“, um sich dort mit ihren Freundinnen bzw. mit Gelegenheitsprostituierten zu treffen.267 Oder sie besaßen eine „sturmfreie Bude“268 mit wegschauenden Vermietern. Die sexuelle Aufklärung erfolgte nach Auskunft der Studenten und Ärzte im Vorfeld entweder durch Freunde oder durch Erzählungen beispielsweise in den Schülerverbindungen und durch die Lektüre von medizinischen Lexika. Nicht zuletzt boten auch die Schülerpensionen Gelegenheit, von anderen, gleichaltrigen Jungen sexuelle Kenntnisse zu erwerben.269 Die sexuelle Aktivität von Schülern in Groß- und Mittelstädten war in den Umfragen dabei höher als die in Kleinstädten; von den Befragten, die angaben, als Schüler sexuell aktiv gewesen zu sein, hatten vier Fünftel in Groß- und Mittelstädten gelebt und nur ein Fünftel in einer Kleinstadt.270 Wiederholt ist bei den Befragten die Rede vom sexuellen Verkehr auch mit bürgerlichen Mädchen, zum Beispiel mit den Schülerinnen der höheren Mädchenschule der Stadt und mit den Töchtern bürgerlicher Familien, die man auf Gesellschaften kennengelernt hatte.271 Inwiefern es sich hier um Renommiergerede handelte, bleibt unklar, jedoch beziehen sich die Aussagen zu bürgerlichen Mädchenimmerhin auf die Selbstaussagen der Mediziner und nicht auf die Umfrage mit Studenten. Oftmals in der Forschungsliteratur zu Sexualität und Verhütung kaum explizit berücksichtigt wird in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass Sexualität nicht nur aus Vaginalverkehr bestehen muss. Anal- und Oralverkehr, gegenseitige Masturbation und vieles mehr waren Möglichkeiten, die für das Bürgertum so wichtige Jungfräulichkeit der Mädchen zu erhalten, ohne dass die männlichen und weiblichen Jugendlichen auf sexuelle Kontakte verzichten mussten. Der Arzt und Sexualwissenschaftler Iwan Bloch widmete der „freien Liebe“ und der „wilden Liebe“ jeweils ein ganzes Kapitel in seinem 1906 erschienenen Buch „Das Sexualleben unserer Zeit in seinen Beziehungen zur modernen Kultur“.272 Nicht nur hielt er die sexuelle Aktivität aller nichtverheirateten jungen Männer für gegeben, sondern er beschrieb die Großstadt als einen sozialen 267

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Vgl. Meirowsky, Geschlechtsleben der Jugend, S. 28, Zitat S. 22. So gab es in Berlin Zimmervermietungen für kurze Zeiten (Wochen oder Monate oder auch nur Tage), die auf eine Klientel zielten, die für sich und ein Mädchen eine Unterkunft suchte. Oftmals teilten sich mehrere junge Männer die Kosten eines solchen Zimmers. Vgl. Bloch, Das Sexualleben unserer Zeit, S. 386. Der Begriff entstammt der Studentensprache und wird bei Bloch zitiert: Das Sexualleben unserer Zeit, S. 334. Vgl. zu den Schülerpensionen Kapitel IV über Schulbesuch und Sozialisation der Jungen, Teilkapitel 4.3. Vgl. Meirowsky, Geschlechtsleben der Jugend, S. 22, S. 26. Vgl. Meirowsky, Geschlechtsleben der Jugend, S. 28f., S. 32; Taylor, The Crisis of Youth in Wilhelmine Germany, S. 281ff. Bloch, Das Sexualleben unserer Zeit, Kap. 11, „Die freie Liebe“, S. 260ff., Kap. 12, „Verführung, Genußleben und wilde Liebe“. Während die „freie Liebe“ bei Bloch eine den Sexualverkehr einschließende, ethisch gerechtfertigte Liebesbeziehung außerhalb der Ehe darstellt, ist für ihn die „wilde Liebe“ die Bezeichnung für Promiskuität und daher abzulehnen.

Raum, den auch viele junge Frauen für sich sexuell nutzten. Er traf dabei aber einschränkend die Feststellung, dass in den großbürgerlichen Milieus mit ihren „Abendessen, Jours, Kränzchen, Bällen usw.“ erotische Aufladungen zwar Teil des Geschlechterverhältnisses seien, diese aber nicht zur Ausführung gelangten und die sexuelle Spannung der Männer sich dann bei den Prostituierten oder in Verhältnissen mit Mädchen außerhalb des eigenen Sozialmilieus ein Ventil suchten.273 Für die Mädchen sei ein Verhältnis mit einem vornehmen Verehrer ebenfalls attraktiv, werte es sie doch selbst auf: „Man redete eine Verkäuferin an, man begleitete sie ein Stück, man traf eine Verabredung für den nächsten Abend; dann ging man vielleicht schon irgendwohin, man sah, wie die Kleine sich verliebte, das Du und der Kuß folgten; noch ein paar Mal so, und man fühlte, daß die Glückliche selber nur noch mit brennender Begierde die letzte Bitte erwartete: ‚mitzukommen‘. Und wenn das geschehen war, dann hatte man eben sein ‚Verhältnis‘.“ Bloch vermutete die Bereitschaft junger Frauen, Verhältnisse einzugehen, bis ins „mittlere Bürgertum“ hinein.274 Wer damit genau gemeint war, verriet der Autor nicht, und er erläuterte auch nicht, warum ein Teil des Bürgertums promiskuitiv gewesen sein soll und ein anderer, der großbürgerliche, dagegen nicht. Bloch riet dabei generell zu sexueller Aufklärung der Jugendlichen und zur gleichzeitigen Förderung von deren Enthaltsamkeit mithilfe einer darauf bezogenen Erziehung zur Charakterstärke.275 Wenn die Briefe der in diesem Kapitel untersuchten Einjährigen zum Thema Sexualität schweigen und nur die Briefe ihrer Eltern darauf mit Warnungen und Appellen hinweisen und dies vermutlich auch in den meisten anderen Briefen bürgerlicher Einjähriger und ihrer Eltern der Fall ist, dann kann die Forschung die Frage nach der Sexualität nicht anders als mit der Rekonstruktion möglicher Erfahrungsräume beantworten. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass männliche Jugendliche im einjährigen Militärdienst sexuelle Erfahrungen machen konnten, wenn sie dies wollten. Die Großstadt Berlin bot Gelegenheiten und zugleich Anonymität, und die Organisation des Wehrdienstes eröffnete genügend Freizeit, um eine Beziehung zu führen. Zudem war die bürgerliche Gesellschaft weniger sexuell restriktiv als vielfach angenommen; Öffentlichkeit und Privatraum wurden mit unterschiedlichen Normen und Sprachregeln belegt. Wer also wollte, musste als junger Mann nicht unerfahren bleiben, bis er eine Ehe einging.

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Vgl. Bloch, Das Sexualleben unserer Zeit, S. 317f., S. 331ff., Zitat S. 317. Bloch, Das Sexualleben unserer Zeit, S. 332f. Vgl. auch Taylor, The Crisis of Youth in Wilhelmine Germany, S. 271f. 275 Vgl. Bloch, Das Sexualleben unserer Zeit, S. 746ff.; Taylor, The Crisis of Youth in Wilhelmine Germany, S. 278f. Bloch nennt eine große Anzahl von zeitgenössischen Schriften zur Sexualaufklärung und -erziehung für Jungen und Mädchen (S. 747) und spricht sich für eine Sexualaufklärung ab dem Alter von zehn Jahren aus. Vgl. ebd., S. 753.

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5. Ausblick und Forschungsperspektiven Fragen des Militärs sind bislang in der Historischen Bildungsforschung kaum unter dem Gesichtspunkt von Sozialisationsprozessen untersucht worden, obwohl das Militär im gesamten 19. und 20. Jahrhundert in Deutschland und Europa für das Aufwachsen junger Männer eine wichtige Rolle spielte. Vielmehr operiert die Historische Bildungsforschung für das Kaiserreich noch überwiegend mit Annahmen über die Wirksamkeit militärischer Institutionen, ohne diese bislang einer empirischen Überprüfung zu unterziehen. Gleichzeitig werden die differenzierten Ergebnisse der Geschichtswissenschaft bezüglich der Militarisierung der deutschen Gesellschaft im Kaiserreich bislang nur unzureichend berücksichtigt. Die in diesem Kapitel analysierten Fallgeschichten bieten Anlass, die Annahme einer durchgreifenden Militarisierung der deutschen Gesellschaft im Kaiserreich mit weiteren empirischen Untersuchungen kritisch zu prüfen. Mit dem Thema des Militärs eng verbunden sind die Frage nach hegemonialen Männlichkeiten im Diskurs einer Gesellschaft und die Frage nach Männlichkeit als kultureller Praxis im Kontext von Sozialisationsprozessen, wobei in diesem Kapitel Differenzen zwischen öffentlichem und privatem Diskurs auftraten.276 In den vorausgegangenen Analysen zeigte sich bei den Einjährigen kein militärisch konnotiertes Männlichkeitsideal und keine entsprechenden Praktiken, sondern ein bürgerliches, auf Maßhalten, Zurückhaltung und Balance ausgerichtetes Männlichkeitsmodell. Aber trifft dies auch auf diejenigen Wehrdienstleistenden zu, die einen drei- bzw. zweijährigen Wehrdienst ableisteten und währenddessen in der Kaserne lebten? Schließlich: Die Sexualität junger unverheirateter Männer und Frauen im 19. und frühen 20. Jahrhundert ist bislang kein Thema der deutschen Historischen Bildungsforschung geworden.277 Hier ginge es nicht nur darum, die reichlich vorhandene zeitgenössische sexualwissenschaftliche Literatur und die Erziehungs- und Aufklärungsschriften zu analysieren, sondern auch, wie Peter Gay dies bereits versucht hat, sich auf die Suche nach Selbstzeugnissen zu begeben, die Auskunft geben können über sexuelle Wünsche und Erfahrungen, über familiale Sexualerziehung und über die Rolle von Sexualität in jugendlichen Peer Groups. Die Historische Bildungsforschung hätte hier als Kindheits-, Jugendund Familienforschung ein weites Feld vielversprechender Studien vor sich.

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Vgl. dazu auch Kapitel II über Eheschließungen und Ehebeziehungen, Teilkapitel 3.2. Anders dagegen in den USA und in Großbritannien. Vgl. neben Gay, Erziehung der Sinne, auch Tosh, A man’s place, und Taylor, The Crisis of Youth in Wilhelmine Germany.

VII. Der Erste Weltkrieg als Jugend- und Generationserfahrung

1. Vorbemerkung: Das Ausland ist nah Als Paul Colsman seinem Freund Peter Conze zehn Wochen vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs von einer Geschäftsreise aus London seine Sehnsucht nach einer „wirklich weiten Reise“ vermittelte, konnte sich dies nur noch auf die ‚Neue Welt‘, Asien oder Russland beziehen. Paul Colsman kannte ganz Europa; er hatte in der Schweiz gelebt und hielt sich seit seinem Eintritt in das Berufsleben viele Wochen im Jahr in Großbritannien auf. Er hatte den Orient bereist, war in Algier und Istanbul gewesen und kannte die südosteuropäischen Teile Österreich-Ungarns. Die kontinentaleuropäischen Haupt- und Großstädte besuchte er als Seidenfabrikant regelmäßig, von Paris und Wien über Brüssel, Zürich und Mailand bis Berlin, München und Frankfurt am Main. Er lebte ein internationales Leben, auch wenn er selbst dies im nachfolgenden Zitat anders bewertete, aber die Vereinigten Staaten hatte er noch nicht gesehen, auch nicht Südamerika oder Australien. Eine „wirklich weite Reise“ bedeutete für ihn deshalb etwas anderes als für die meisten Bürgerinnen und Bürger des Deutschen Reiches: „Ich war jetzt einen Abend mit einem Herrn Tarst aus Hückeswagen zusammen, der im Wollgeschäft tätig ist. Der Mann hatte lange in Sydney gewohnt & war wiederholt um die Welt gereist. […] Schade, daß wir Seidenfabrikanten durch unseren Beruf so sehr an die Stelle gebunden sind. Ich möchte sehr gerne einmal eine wirklich weite Reise machen.“1

Wer nicht in die Neue Welt auswanderte, war im Kaiserreich zwar ausgesprochen binnenmobil und erfuhr auf vielfältige Weise – durch Zeitungen, Belletristik, Lichtspielhäuser, Kolonialausstellungen und Kolonialwarenläden, Warenhäuser u.v.a. – von der internationalen Welt, aber Auslandsreisen waren nur für die wenigsten erschwinglich. Die neue Arbeitsmigration ins Kaiserreich ab den 1890er Jahren schuf ebenfalls vielfache Kenntnisnahmen des Fremden durch die deutsche Bevölkerung, insbesondere in den Großstädten und neuen Industriezentren wie dem Ruhrgebiet; sie führte durchaus auch zu Distanzierungen von dem, was als ‚fremd‘ wahrgenommen wurde. Die Auswanderung nach Übersee führte ebenfalls dazu, dass über Briefkontakte oder die Re-Migration der Ausgewanderten das Ferne nicht fern blieb. Der Kaiser, die Reichsregierung und der Reichstag machten unterdessen die neue ‚Weltpolitik‘ des Deutschen Reiches zum öffentlichen Dauerthema. In diesem Zusammenhang wiesen auch die Wirtschaftspolitik und die Kulturpolitik des Reiches zunehmend internationale Orientierungen auf, welche der deutschen Öffentlichkeit stolz präsentiert

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Archiv WHC, Sign. 2, Paul Colsman an Peter Conze aus London, 15. Mai 1914.

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wurden.2 Auch die Bildungssysteme der deutschen Einzelstaaten wurden nicht nur international wahrgenommen und visitiert, sondern insbesondere die Universitäten und Technischen Hochschulen wurden in ihrer studentischen Zusammensetzung internationaler. Ausländische Studierende kamen vor allem aus Russland, gefolgt von Österreich-Ungarn, der Schweiz und den USA.3 Die Studienvoraussetzungen der ausländischen Studierenden bleiben anders als für die deutschen Studierenden bis nach dem Ersten Weltkrieg ungeregelt; deren Prüfung oblag den einzelnen Fakultäten an jeder Universität oder Technischen Hochschule.4 Der Anteil deutscher Studierender an den im Ausland Studierenden aus europäischen Staaten und den USA lag vor dem Ersten Weltkrieg bei etwa 25%.5 Parallel nahmen die Auslandskontakte deutscher Professoren zu, zum Beispiel durch den Besuch internationaler Kongresse wie dem Wissenschaftskongress („Congress of Arts and Science“) im Rahmen der Weltausstellung in St. Louis 1904, insbesondere aber durch staatliche Austauschprogramme und internationale Fachgesellschaften.6 Das wissenschaftliche Wissen war ohnehin international vernetzt. Deutsche, US-amerikanische, britische, französische und russische Forscher kannten die Forschungen ihrer jeweiligen internationalen Kollegen in ihren Fachgebieten genau. Nicht zuletzt, um einige weitere Beispiele zu nennen, organisierte die deutsche Friedensbewegung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts ihre Kongresse überwiegend international, ebenso die Frauenbewegung, zum Beispiel mit den Internationalen Frauenkongressen 1904 und 1912 in Berlin, letzterer unter der Schirmherrschaft der Kaiserin und mit rund 5.000 Teilnehmerinnen aus der ganzen Welt.7 Auch die Lebensreformbewegungen waren international vernetzt, vom neuen Ausdruckstanz und der Vegetarismusbewegung bis hin zur Reformpädagogik, und verfügte über international besuchte, spirituelle Begegnungszentren wie den Monte Verità bei Ascona. Viele Großunternehmer waren wie die Unternehmerfamilie Colsman 2

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Zu Internationalisierungsphänomenen vgl. Conrad, Globalisierungseffekte; Torp, Die Herausforderung der Globalisierung; Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 575ff.; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 3, 1849–1914, S. 1137ff. Knapp 10% ausländische Studierende studierten 1914 an den Hochschulen des Kaiserreichs, zu Beginn des Kaiserreichs waren es nur 5% gewesen. Nach Russland waren es Österreich-Ungarn und die Schweiz, welche die größten Kontingente ausländischer Studierender stellten, gefolgt von den USA. Hartmut Titze u. a. halten fest: „Die Zahl der russischen Staatsbürger, die sich 1911/12 zum Universitätsstudium in Deutschland aufhielten, entsprach der gesamten Studentenfrequenz von zwei kleinen Universitäten (Greifswald und Rostock).“ Titze/Herrlitz/Müller-Benedict/Nath, Wachstum und Differenzierung der deutschen Universitäten, S. 46, Zitat ebd. Vgl. auch Drewek, „Die ungastliche deutsche Universität“, S. 201ff. In der Regel wurde z. B. in Preußen ein ungefähres Äquivalent der Kenntnisse eines deutschen Schülers mit Befähigungsnachweis für den Einjährig-Freiwilligen-Dienst erwartet. Die Regelungen der Fakultäten konnten aber auch mehr vorsehen. Vgl. Drewek, „Die ungastliche deutsche Universität“, S. 207. Vgl. Drewek, „Die ungastliche deutsche Universität“, S. 205. Vgl. von Ungern-Sternberg, Wissenschaftler, S. 169f. Vgl. Beuys, Die neuen Frauen, S. 261.

beruflich wie privat international ausgerichtet und besuchten das europäische Ausland mehrfach im Jahr. Englische Besucher wunderten sich über die große Auslandszugewandtheit vieler Deutscher und nicht zuletzt über ihre Sprachkenntnisse. Ein englischer General zeigte sich anlässlich eines für ihn gegebenen Diners in Berlin 1911 verblüfft, dass „alle vierzig deutschen Gäste einschließlich Bethmann Hollwegs [Reichskanzler, CG] und des Großadmirals Tirpitz fließend Englisch sprachen“. Und der deutsche Botschafter in Großbritannien, Fürst Lichnowsky, „war mit der festen Absicht nach London gekommen, sich selbst und sein Vaterland beliebt zu machen“.8 Zudem waren für viele deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, nicht nur für das Bürgertum und den Adel, sondern beispielsweise auch für den politisch engagierten Teil der Arbeiterschaft, Selbstpräsentationen und Handlungsorientierungen trotz eines starken Nationalbewusstseins nicht unbedingt national begrenzt.9 Internationale Orientierungen konnten in diesem Zusammenhang als internationaler Wettbewerb und als Konkurrenz der Nationalstaaten miteinander begriffen werden, als transnationale Organisation und Vernetzung politischer oder wirtschaftlicher Interessen oder auch als Teil eines imperialistischen Weltreichsanspruchs. Nicht selten mischten sich solche Möglichkeiten widerspruchsvoll in einer Person, so dass unterschiedliche soziale Felder in der persönlichen Lebensform mit unterschiedlichen Nationalismus- und Internationalismusvorstellungen versehen sein konnten, beispielsweise internationale Handels- oder Wissenschaftskooperationen mit Vorstellungen scharfer Konkurrenz des jeweiligen Heimatstaats mit anderen Staaten und Nationen um koloniale Ressourcen. Dennoch: Die Bürgerinnen und Bürger der Staaten Europas hätten in der „Belle Époque“ der ersten wirtschaftlichen Globalisierung10 und angesichts einer wachsenden Internationalisierung vieler gesellschaftlicher Bereiche und politischer wie kultureller Bewegungen leicht auf die Idee verfallen können, dass Kriege für die Zukunft nur noch schwer realisierbar und angesichts zunehmender internationaler Verflechtungen auch keineswegs wünschenswert seien. Im folgenden Kapitel werden Selbstpräsentationen und Handlungsorientierungen in der Unternehmerfamilie Colsman bei Ausbruch und im Verlauf des Ersten Weltkrieges analysiert. Mithilfe ihrer Briefe zu Kriegsbeginn und während des Ersten Weltkriegs sollen insbesondere unterschiedliche Interpretationen und Positionierungen von Familiengenerationen sichtbar gemacht werden. Darüber hinaus werden die Analysen in den Zusammenhang aktueller Forschungsfragen zum Ersten Weltkrieg gestellt: nach der Kriegsbegeisterung in der deutschen Bevölkerung zu Kriegsbeginn 1914, nach Positionierungen zum Krieg in der Bevölkerung während dessen Verlauf und nach ihrer Interpretation des Waffenstillstands 1918. 8 9

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Tuchman, August 1914, S. 101. Zur inneren Verbindung von Nationalismus und Internationalismus vgl. Conrad, Globalisierungseffekte, S. 406ff.; Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat, S. 35f. Vgl. Torp, Erste Globalisierung und deutscher Protektionismus, S. 422. Zitat ebd.

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2. Das ‚Augusterlebnis‘ und der ‚Geist von 1914‘: Mythen und Realitäten Rückblickend bescheinigte Stefan Zweig sich und seinen Zeitgenossen für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg eine große Naivität und Hybris: „Mit Verachtung blickte man auf die früheren Epochen mit ihren Kriegen, Hungersnöten und Revolten herab als auf eine Zeit, da die Menschen eben noch unmündig und nicht genug aufgeklärt gewesen. Jetzt aber war es doch nur eine Angelegenheit von Jahrzehnten, bis das letzte Böse und Gewalttätige endgültig überwunden sein würde […]. An barbarische Rückfälle, wie Kriege zwischen den Völkern Europas, glaubte man so wenig wie an Hexen und Gespenster; beharrlich waren unsere Väter durchdrungen von dem Vertrauen auf die unfehlbar bindende Kraft von Toleranz und Konzilianz.“11

Nicht zuletzt sei es, so die These Holger Afflerbachs, die von der Mehrheit der europäischen Politiker, Diplomaten und Militärs angenommene Unwahrscheinlichkeit eines großen Krieges gewesen, welche die diplomatischen Provokationen, das Setzen von Ultimaten und die Kriegsdrohungen kurz vor dem Ausbruch des Krieges ermöglicht hätte.12 1910 war in London ein vielgelesenes Buch des britischen Publizisten Norman Angell mit dem Titel „The Great Illusion“ erschienen, in welchem er darzulegen versuchte, dass die engen wirtschaftlichen Beziehungen einen Krieg zwischen den europäischen Mächten im Grunde verunmöglicht hätten, denn ein solcher würde alle Seiten finanziell und industriell ruinieren. Keine europäische Nation, so Angell, würde heutzutage noch einen Krieg riskieren.13 Noch vierzehn Tage vor Kriegsausbruch vertrat der deutsche Nationalökonom Lujo Brentano dieselbe Position, nämlich dass die Verflechtung der Weltwirtschaft einen größeren Krieg gar nicht mehr zuließe.14 1911 war allerdings auf deutscher Seite auch die Schrift des Generals a. D. von Bernhardi, „Deutschland und der nächste Krieg“, erschienen, in welcher er genau das Gegenteil, nämlich die Notwendigkeit eines großen Krieges zur Selbsterhaltung Deutschlands und für den Sieg über den stets lauernden Erbfeind Frankreich propagierte.15 Ein 1913 publiziertes Buch des Journalisten Hans Plehn mit dem Titel „Deutsche Weltpolitik und kein Krieg“, „von Bethmann Hollweg unterstützt, vertrat [dagegen] die offizielle Linie“16 der deutschen Regierung. In der deutschen Presse konnte man im Frühjahr und Sommer 1914 vor allem vom Vertrauen auf das diplomatische Können der Regierung und noch bis kurz vor Kriegsausbruch überwiegend vom Glauben an eine Vermeidbarkeit des Kriegs lesen.17 Mit welcher Zielrichtung aber auch immer 11 12 13 14 15 16 17

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Zweig, Die Welt von Gestern, S. 20f. Vgl. Afflerbach, The Topos of Improbable War, S. 165ff., S. 174f. Vgl. Tuchman, August 1914, S. 19f. Vgl. Radkau, Max Weber, S. 701. Vgl. Tuchman, August 1914, S. 20f. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2, S. 678. Vgl. Geinitz/Hinz, Das Augusterlebnis in Südbaden, S. 24f.

argumentiert wurde: Dass ein großer Krieg der europäischen Nationen „would devastate Europe for decades“ und deshalb entweder vermieden oder eben um diesen Preis erkauft werden musste, war eine allgemeine Grundüberzeugung bei Politikern, Diplomaten und Militärs. Noch in der Juli-Krise 1914, kurz vor Kriegsausbruch, rechneten die meisten Tageszeitungen mit einem begrenzten Konflikt, nicht mit einem großen europäischen Krieg.18 Nichtsdestotrotz gab es außerhalb der Tagespresse, in der literarischen und weltanschaulichen Publizistik, auch andere Haltungen zu einem zukünftigen Krieg. Nicht wenige deutsche Schriftsteller und Publizisten hielten diesen schon an der Jahrhundertwende für eine innere Reinigung der Nation, eine Überwindung von faulem Wohlleben und Dekadenz.19 Jenseits solcher Aufbruchs- und Ausbruchsphantasien angriffslustiger deutscher ‚Kultursoldaten‘ gab es in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg auch von Seiten der Regierung, parallel zu der Betonung diplomatischer Lösungsversuche, Beschwörungen der Einkreisung des Deutschen Reiches durch feindliche Mächte und Allianzen.20 Vor diesem Hintergrund konnten 1914 Szenarios akuter Bedrohung des Deutschen Reiches entwickelt und Angriffskriege zu Verteidigungsmaßnahmen umgedeutet werden. Vor dem Hintergrund der schwer einzuschätzenden Haltung der Bevölkerung zu einem Kriegseintritt des Deutschen Reiches hatte General Ludendorff 1912 militärischerseits deshalb in einer Denkschrift gefordert, dass man den „casus belli so zu formulieren“ habe, „daß die Nation einmütig und begeistert zu den Waffen greift“.21 Die öffentliche Meinung sollte spätestens mit der Juli-Krise 1914 gezielt in dieser Richtung beeinflusst und gewonnen werden. Als Kaiser Wilhelm II. am 6. August 1914, nachdem das Deutsche Reich zur Unterstützung seines Verbündeten Österreich-Ungarn am 1. August 1914 die Generalmobilmachung angeordnet und Russland den Krieg erklärt hatte, seinen Aufruf „An das deutsche Volk“ publizieren ließ, versuchte er genau dies. Er inszenierte den Krieg als reinen Verteidigungskrieg, als letztes Mittel gegen den von den Feinden gewollten Untergang Deutschlands und als einen Akt der Selbsterhaltung: „[…] die Gegner neiden uns den Erfolg unserer Arbeit. Alle offenkundige und heimliche Feindschaft von Ost und West, von jenseits der See haben wir bisher ertragen im Be18

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Vgl. Afflerbach, The Topos of Improbable War, S. 171, Zitat S. 165. Zur Diskussion der These vom „improbable war“ vgl. Canis, Internationale Stellung und Außenpolitik, S. 186f., der argumentiert, ein großer Krieg sei zwar nicht gewollt, aber doch ins Kalkül gezogen worden. Vgl. als Überblick zu der in wachsendem Maß aggressiven deutschen Kultur- bzw. Zivilisationskritik vor 1914 Beßlich, Wege in den Kulturkrieg; Flasch, Die geistige Mobilmachung; zusammenfassend bezüglich der Haltung deutscher Intellektueller am Kriegsbeginn 1914 Hirschfeld/Krumeich, Deutschland im Ersten Weltkrieg, S. 62ff.; am Beispiel des George-Kreises und seiner internen Diskussionen über die Bedeutung des Ersten Weltkriegs für die eigenen Ziele Groppe, Die Macht der Bildung, S. 254ff. Vgl. Clark, Die Schlafwandler, S. 261ff.; Canis, Internationale Stellung und Außenpolitik, S. 187. Zit. nach Mommsen, Der Topos vom unvermeidlichen Krieg, S. 383.

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wußtsein unserer Verantwortung und Kraft. […] So muß denn das Schwert entscheiden. Mitten im Frieden überfällt uns der Feind. Darum auf! zu den Waffen! Jedes Schwanken, jedes Zögern wäre Verrat am Vaterlande. […] Wir werden uns wehren bis zum letzten Hauch von Mann und Roß. Und wir werden diesen Kampf bestehen, auch gegen eine Welt von Feinden.“22

Am 3. August 1914 folgte die deutsche Kriegserklärung an Frankreich, am 4. August erfolgte der Abbruch der diplomatischen Beziehungen von Seiten Großbritanniens gegenüber dem Deutschen Reich. Weitere Kriegserklärungen der Entente (Großbritannien, Frankreich, Russland) und der Mittelmächte (Deutschland, Österreich-Ungarn sowie das Osmanische Reich und Bulgarien) folgten noch im August 1914, bis sich fast ganz Europa miteinander im Krieg befand. Im April 1917 traten auch die USA mit der Kriegserklärung an das Deutsche Reich an der Seite der Entente in den längst zum Weltkrieg ausgeweiteten Krieg ein.23 Eine „Opferideologie“, so Christopher Clark, verringerte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in der Politik die Bereitschaft zur Selbstreflexion und führte zu einer Grundhaltung, dass ein Krieg zwar nicht gewünscht oder forciert werden sollte, aber nach Analyse der Lage unter Umständen als Verteidigungskrieg doch geführt werden müsste; diese Haltung setzte sich „sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland“ durch, letztlich galt sie für ganz Europa.24 Dass die europäischen Regierungen in der Kriegsentscheidung aber von der aggressiven Kriegsstimmung in ihren Bevölkerungen getrieben worden wären, ist für Clark ein späterer Rechtfertigungsversuch der beteiligten Staatsmänner: „Der Mythos, dass die Europäer eifrig die Gelegenheit ergriffen hätten, einen verhassten Feind zu schlagen, ist inzwischen völlig widerlegt.“25 Für den Kriegseintritt war nicht entscheidend, was die Bürgerinnen und Bürger der europäischen Staaten dachten oder wünschten. Vielmehr dominierten die Machtmechanismen und -konstellationen des politischen Feldes, während zum Beispiel die „religious, racial, cultural and dynastic ties which, so many people felt, bound Britain and Germany together were of little or no weight in the changing relationship“.26 Am 30. Juli 1914 schrieb Elisabeth Colsman (1866–1965) an ihren Sohn Wilhelm (1888–1917), der sich seit Mai des Jahres in den USA zur Ausbildung bei der New Yorker Agentur, Fredk. Vietor & Achelis, befand, einen besorgten Brief ob der Lage in Europa: 22

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Wilhelm II., Aufruf „An das deutsche Volk“ vom 6. August 1914, als Digitalisat und Abschrift unter http://www.dhm.de/lemo/bestand/objekt/d2942003 sowie als Tonaufnahme des Kaisers unter: https://www.ersterweltkrieg.bundesarchiv.de/tonaufnahmen.html. Vgl. zum Verlauf Frank, Chronik 1914–1918, S. 1063ff. Clark, Die Schlafwandler, S. 313; vgl. Jeismann, Propaganda, S. 200f. Clark, Die Schlafwandler, S. 707. Kennedy, Paul, The Rise of the Anglo-German Antagonism 1860–1914 (1980), S. 7, zit. nach Brechtken, Kaiser, Kampfschiffe und politische Kultur, S. 218.

„Mein lieber Wilhelm […] Ob du nun vor Boston oder etwa dort von der starken Beunruhigung gehört hast, die Europa ergriffen hat. Oesterreich-Ungarn hat ja den Serben den Krieg erklärt, da die Beantwortung seiner Note nicht befriedigend war. Wenn es erklärt keine Besitz-Erweiterungen anzustreben, läßt Rußland sich vielleicht abhalten, Serbien zu Hülfe zu kommen, man darf wohl noch annehmen, daß die russische Regierung friedliebend ist. […] Aber es ist doch höchst zweifelhaft, ob es der Diplomatie gelingen wird den Krieg zu lokalisieren. Man zittert vor dem Weltkrieg, es ist nicht möglich, ihn sich vorzustellen, all’ das in Jahren des Friedens ruhig erarbeitete zu zerstören. Und doch, kann es so weiter gehen mit Rüstungen, Kriegsdrohungen und schamlosen Verbrechen! Es scheint doch für uns noch nie so nah am Kriege gewesen zu sein, alle Fürsten sind zurückgekehrt, Truppen von ihren Übungsplätzen hereingeholt, Rheinbrücken und Eisenbahnlinien sollen bewacht sein. Manchem zerrinnen seine Reisepläne! Was kann auch mit dir, mein Sohn, von einem Tag zum andern werden! […] Mit treuen Grüßen deine dich innig liebende Mutter“27

Elisabeth Colsman sprach zwei Tage vor der deutschen Generalmobilmachung am 1. August 1914 von einem möglichen „Weltkrieg“,28 sie erwartete offenbar keinen begrenzten militärischen Konflikt, sollte Russland Serbien als seinem Bündnispartner beistehen. Der Brief drückt Ängste und Sorgen aus: um den Sohn und seinen voraussichtlichen Kriegseinsatz (Wilhelm Colsman war Reserveoffizier) und um die erarbeiteten Errungenschaften, wobei der Brief nicht verdeutlicht, ob hier nur die privaten oder auch die politischen, also zum Beispiel die Existenz des Deutschen Reiches, gemeint waren. Eine schwache Hoffnung auf eine mögliche Friedfertigkeit der russischen Regierung formulierte Elisabeth Colsman in dem Brief noch. Von nationaler Euphorie und Kriegsbegeisterung ist in dem Brief nichts zu spüren, lediglich in einem Satz gab es einen Widerschein der öffentlichen Rhetorik, indem die „Rüstungen, Kriegsdrohungen und schamlosen Verbrechen“ beschrieben wurden, ohne diese freilich genau zuzuordnen. Wer war gemeint? Nur die Mächte der gegnerischen Entente oder möglicherweise alle beteiligten Staaten? Im Gegensatz zu Elisabeth Colsman war sich die Mehrheit der deutschen Intellektuellen – also Personen und Gruppen, die sich für die öffentliche Deutung und Kritik politischer, gesellschaftlicher und kultureller Entwicklungen zuständig fühlten29 – sicher, wie Gut und Böse zu sortieren waren und wie der heraufziehende Krieg zu interpretieren war. Mit Kriegsbeginn feierten unzählige deutsche Professoren, Publizisten und Schriftsteller diesen als den großen Erlöser und Erneuerer der deutschen Kultur.30 Keine andere Gruppe in der deut27 28

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Archiv WHC, Sign. 40, Elisabeth Colsman an Wilhelm Colsman, 30. Juli 1914. Ähnlich sah das auch der sozialdemokratische „Vorwärts“, in dem am 25. Juli 1914 in einem Demonstrationsaufruf gegen den Krieg stand: „Gefahr ist im Verzuge! Der Weltkrieg droht!“ Zit. nach Hirschfeld/Krumeich, Deutschland im Ersten Weltkrieg, S. 54. Vgl. zum Begriff der Intellektuellen ausführlich Hübinger, Die Intellektuellen; Bering, Die Intellektuellen. Verhey, Ideen von 1914, S. 568, spricht von der „überwiegenden Mehrheit“ der deutschen Intellektuellen, die den Krieg begrüßte. Gleiches geschah auch in den anderen

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schen Gesellschaft exponierte sich im August 1914 und in der Folgezeit so dermaßen kriegsbegeistert wie der Großteil der deutschen Intellektuellen. Gegen einen ‚substanzlosen‘ Liberalismus und Individualismus des Westens, bald zusammengefasst als die französischen ‚Ideen von 1789‘, wurden deutscher Geist und deutsche Kultur buchstäblich in Stellung gebracht.31 Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit seien „in Wahrheit ‚echte und rechte Händlerideale‘“, „die nichts anderes bezweckten, als den Individuen bestimmte Vorteile zu verschaffen“. Dagegen gelte es in einer neuen „deutschen Revolution“ den Zusammenschluss gegen diese staats- und kulturzerstörenden Ideale zu suchen.32 Ein besonders drastisches Beispiel gefühlter deutscher Kulturhegemonie war die anti-britische Schrift „Händler und Helden“ (1915) von Werner Sombart, zu dieser Zeit Staatswissenschaftler an der Berliner Handelshochschule. Einem nichtswürdigen „englischen Händlertum“ stellte er „deutsches Heldentum“ „als Weltanschauung und entsprechende Kultur“ gegenüber. Die „Händlerweltanschauung“ habe das gesamte Leben in England kommerzialisiert, den „Staat kann sich der Händler nicht anders vorstellen als unter dem Bilde eines riesigen Handelsgeschäfts“. Aber gegen die Bedrohung der Welt durch „Verpöbelung“ und „Verameisung“, da sich „der Händlergeist“ „überall einzunisten im Begriff stehe“, habe sich mit dem Krieg der „alte, deutsche Heldengeist“ erhoben, der die „Kulturwerte“ der Welt schützen und erhalten werde. Alle Erziehung habe nur noch ein Ziel: „deutsche Helden zu erziehen. Heldische Männer und heldische Frauen“. Aufgeräumt werden musste nach Sombart „mit den verderblichen händlerischen Anschauungen der ‚westeuropäischen Zivilisation‘“, denn „ein stahlgepanzerter, mächtiger Staat und in seinem Schutze ein freies, tüchtiges Volk sind das Ideal“: „Und das auserwählte Volk dieser Jahrhunderte ist das deutsche Volk.“33 Der Dichter Ernst Lissauer verstieg sich in seinem „Haßgesang gegen England“ zu folgenden Zeilen: „Wir haben alle nur einen Haß,/Wir lieben vereint, wir hassen vereint,/Wir haben alle nur einen Feind:/England.“34 Auch Max Weber phantasierte: „Denn einerlei was der Erfolg ist, – dieser Krieg ist groß und wunderbar.“35

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kriegführenden Staaten wie Frankreich, England und Österreich-Ungarn. Vgl. Hüppauf, Kriegsdeutungen, S. 632f. Vgl. Mommsen, Der Geist von 1914; Jeismann, Propaganda, S. 202, sowie Verhey, Der „Geist von 1914“, S. 211ff. So postulierten es die sogenannten deutschen ‚Ideen von 1914‘, wie sie ein Artikel der „Frankfurter Zeitung“ im Dezember 1914 kritisch referierte. Zit. nach Mommsen, Der Geist von 1914, S. 415. Sombart, Händler und Helden, S. 4, S. 14f., S. 22, S. 117, S. 120, S. 124, S. 131, S. 142. Zit. nach Hirschfeld/Krumeich, Deutschland im Ersten Weltkrieg, S. 65. Weber, Max, Brief an Karl Oldenberg am 28. August 1914, zit. nach Kaesler, Max Weber, S. 739. „Weitgehend ungerührt vom menschlichen Elend, mit dem Max Weber in der Erscheinungsform schwer verwundeter und sterbender deutscher und französischer Soldaten täglich [als kurzzeitiger Leiter eines Kriegslazaretts, CG] konfrontiert war, jubelte er geradezu über diesen Krieg […].“ Ebd.; vgl. auch Radkau, Max Weber, S. 699ff.

Die Intellektuellen, darunter neben vielen geistes- und sozialwissenschaftlichen Professoren auch Schriftsteller wie Richard Dehmel, Thomas Mann und Gerhart Hauptmann, positionierten und präsentierten sich als Mobilisierungsagenten. Thomas Mann formulierte in einem im November 1914 in der „Neuen Rundschau“ publizierten Beitrag „Gedanken im Kriege“, den er in den ersten Kriegswochen verfasst hatte: „Krieg! Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden, und eine ungeheurere Hoffnung. […] Was die Dichter begeisterte, war der Krieg an sich selbst, als Heimsuchung, als sittliche Not. Es war der nie erhörte, der gewaltige und schwärmerische Zusammenschluß der Nation in der Bereitschaft zur tiefsten Prüfung […]. Deutschlands Sieg wird ein Paradoxon sein, ja ein Wunder, ein Sieg der Seele über die Mehrzahl – ganz ohne gleichen.“36

Thomas Mann entwickelte in dem Text den klassischen Gegensatz der deutschen Kulturkritik der Zeit zwischen Kultur und Zivilisation. Kultur sei „Sublimierung des Dämonischen. Ihre Zucht ist strenger als Gesittung, ihr Wissen tiefer als Aufklärung […].“ Zivilisation dagegen sei „Vernunft, Aufklärung, Sänftigung“ und weder genial noch tief. Sie ist Oberfläche.37 Thomas Mann wertete im weiteren Verlauf des Textes die französische Republik als „unsauber plutokratische Bourgeois-Republik“ mit einem „Advokaten-Parlamentarismus“ ab und stellte ein „soziales Kaisertum“ diesem als deutsche Alternative und bessere Zukunft gegenüber, ganz im Sinne der deutschen ‚Ideen von 1914‘.38 Deutsche Kultur wurde im Text mit moralischer Überlegenheit verbunden, „weil dieses innerlichste [deutsche] Volk, dies Volk der Metaphysik, der Pädagogik und der Musik ein nicht politisch, sondern moralisch orientiertes Volk ist“.39 Mit dem Anschluss an die Sache eines ‚großen vaterländischen Kriegs‘ zeichneten sich für die Intellektuellen in vielerlei Hinsicht Gewinne ab. Sie konnten im öffentlich-medialen Diskurs mit Kriegsbeginn eine Position einnehmen, welche durch die Entstehung der Massenpresse in den 1890er Jahren Schritt für Schritt verloren gegangen war. Diese hatte die Bedeutung der Intellektuellen in der Öffentlichkeit deutlich reduziert, und die ressentimentgeladene Kulturkritik, die vor allem eine Kritik der modernen Gesellschaft war, die sich parallel zum Umbau des Kaiserreichs zum Industriestaat und zu einer technisierten Arbeitsgesellschaft Bahn brach, war nicht zuletzt Ausdruck ihres Kampfes um Diskurshoheit.40 Jetzt aber waren die meisten Intellektuellen ‚dabei‘, auch ohne Fronteinsatz, und wurden öffentlich gehört. Wer abseits stand bei der großen vaterländischen Sache, gehörte 1914 unter den Intellektuellen zu 36 37 38

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Mann, Gedanken im Kriege, S. 193f. Mann, Gedanken im Kriege, S. 188f. Der Begriff „Ideen von 1914“ stammte von dem Staatswissenschaftler Johann Plenge, der diesen in Reden im Herbst 1914 ausformulierte und konkretisierte. Vgl. Verhey, Ideen von 1914, S. 569. Mann, Gedanken im Kriege, S. 197. Vgl. dazu Groppe, Kulturkritik und ‚Geistesgeschichte‘; ausführlich zur Kultur- bzw. Zivilisationskritik als Wegbereitung des Krieges Beßlich, Wege in den Kulturkrieg.

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einer Minderheit; prinzipiell waren solche Distanzierungen auch verdächtig.41 Der Diskurs der ‚Ideen von 1914‘ arrangierte die Intellektuellen neu zu einer Avantgarde, hinter ihnen ‚das Volk‘, an ihrer Seite ein starker Staat, dessen intellektuelle Wacht sie zugleich bildeten. Unterschiedlich mochte sein, ob man die deutsche Kultur lediglich zu verteidigen meinte oder ob man mit ihr romantische Welterlösungsideen oder auch aggressive Eroberungsphantasien verband; im Kern war der Krieg für die meisten deutschen Intellektuellen verbunden mit einer höheren Idee,42 welche in ihrer Bedeutung über die Materialität des Krieges, seine Opfer und seine politisch-strategischen Ziele hinausreichte und welche ihnen zugleich einen prominenten Platz im Geschehen sichern sollte. Mit den durch die Intellektuellen vorgenommenen Selbstbeschreibungen im Kontext der ‚Ideen von 1914‘ und den damit verbundenen gesellschaftlichen Platzierungsversuchen lässt sich meines Erachtens die kollektive Begeisterung der Intellektuellen für den Krieg erklären.43 Im sogenannten „Kränzchen“, einer wöchentlichen Zusammenkunft der Langenberger Wirtschafts- und Bildungsbürger, also der örtlichen Unternehmer, der Schullehrer der höheren Schule, der Pfarrer, Ärzte, Rechtsanwälte und höheren Beamten, waren in einer fortlaufenden Chronik seit den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Gesprächsthemen und Lektüren der Zusammenkünfte festgehalten worden. Für Januar und Februar 1914 wurden Lektüren über „das Kinowesen“, Auszüge aus einer Publikation des früheren Reichskanzlers von Bülow über deutsche Außenpolitik, ein Aufsatz über Richard Wagner aus den „Preußischen Jahrbüchern“, Auszüge aus Bismarcks „Gedanken und Erinnerungen“ und ähnliches notiert.44 Im März 1914 wurde für dieses Jahr erstmals ein aktuelles politisches Thema behandelt, es wurde ein Artikel Maximilian Hardens aus dessen Zeitschrift „Die Zukunft“ gelesen, welcher nach Auskunft der Chronik das aktuelle Verhältnis Russlands zu Deutschland zum Thema hatte. Zusätzlich wurde ein „Russenartikel“ aus der „Kölnischen Zeitung“ (der nationalliberalen Partei nahe stehend) besprochen. Danach wurde erst am 1. Juli 1914 wieder ein aktuelles politisches Ereignis diskutiert, nämlich die Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand und seiner Frau am 28. Juni 1914. In den nächsten vier Wochen dominierte der drohende Krieg die Gespräche im Kränzchen: Man las wöchentlich mehrere Zeitungsartikel über den österreichisch-serbischen Konflikt, am 29. Juli 1914 wurde die „Kriegserklärung

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Zur Spionage- und Sabotagehysterie in den ersten Kriegswochen vgl. Geinitz/Hinz, Das Augusterlebnis in Südbaden, S. 28ff.; Hirschfeld/Krumeich, Deutschland im Ersten Weltkrieg, S. 59ff. Zu unterschiedlichen ideellen Fluchtpunkten des Kulturkrieges vgl. Beßlich, Wege in den Kulturkrieg, S. 19ff., S. 36ff., S. 327ff. Vgl. in dieser Argumentationsrichtung Mommsen, Bürgerliche Kultur, S. 117ff., sowie bereits Siegfried Kracauer 1915 („Vom Erleben des Krieges“), vgl. dazu Verhey, Der „Geist von 1914“, S. 215f. Vgl. FFA, B4j71, Chronik des Kränzchens, Bd. 2.

Oesterreichs an Serbien; ihre möglichen Folgen“ diskutiert.45 Nach diesem Eintrag wurde die Chronik für die Dauer des Krieges unterbrochen. Eingeschoben zwischen dem letzten Eintrag am 29. Juli 1914 und der Wiederaufnahme der Chronik viereinhalb Jahre später, im Januar 1919, war ein Bericht über das Erleben des Kriegsbeginns in Langenberg, der vermutlich nach den ersten Kriegsmonaten abgefasst wurde.46 Die Darstellung, deren Verfasser wie bei allen Eintragungen in die Chronik unbekannt ist, ist daher kein zeitgenössisches Dokument zum Kriegsausbruch im engeren Sinne, da es erst einige Zeit nach dem beschriebenen Ereignis abgefasst wurde. Sie enthält jedoch einige Beobachtungen, die mit zeitgenössischen Briefen aus der Unternehmerfamilie Colsman, welche in den folgenden Ausführungen herangezogen werden, in Beziehung gesetzt werden können, um zu zeigen, wie sich Wahrnehmungen und Interpretationen desselben Ereignisses binnen kürzester Zeit verändern konnten. In der Chronik wurde der Kriegsanfang, beginnend mit dem 31. Juli 1914, dem Tag der offiziellen Erklärung des „Zustands drohender Kriegsgefahr“ im Deutschen Reich, und dem 1. August 1914, dem Tag der Generalmobilmachung und der Kriegserklärung an Russland, folgendermaßen wiedergegeben: „Eine fast unerträgliche Spannung beherrscht auch Langenberg. Wieder und wieder fahren einige hinüber in die Großstädte Elberfeld und Essen, um die neuesten Nachrichten zu hören. Die jüngsten Jahrgänge der Kasernen werden einberufen zu Übungen auf ‚unbestimmte Dauer‘ – das ist der Krieg! Der Krieg ist da, auch wenn die Mobilmachung noch nicht befohlen ist. Die Stimmung ist ernst, aber voll fester Zuversicht: vaterländische Lieder klingen in die Abschiedshymnen hinein. Am Samstag Abend gegen 6 ½ Uhr klingt’s von der Post herauf: ‚Es wird mobil gemacht! Krieg!‘ Nicht lange und die Glocken heben an: in ihrem Klingen ist’s wie starke Zuversicht, die über alles Abschiednehmen, über alles Dunkel kommender Tage hinaufweist zu dem Gott, der das Welten und Völker Geschick in seiner Hand hält; in ihrem Klingen ist aber auch der ernste Klang der Totenglocken, die von Scheiden und Leiden redet und von dem Abschied auf immer. […] Am Sonntag, d. 2. August, vermögen die Kirchen die Massen kaum zu fassen: alle, alle kamen. Die die heimisch sind in ihres Gottes Haus, und die, die längst den Weg nicht mehr gefunden hatten. Die, die hinaus wollten zu Schlacht und Sieg, und die, die daheimbleiben mußten mit dem Abschiedsweh im Herzen und doch auch dem Stolz, daß auch sie einen der ihren hinaussandten zu den Fahnen. Sie alle suchten Ruhe, Klarheit, Zuversicht, Geborgensein in Gottes Willen – und zogen hinaus und gingen heim und wußten’s: es ist ein heiliger Krieg, für unseres Volkes Leben, für unseres Vaterlandes Ehre! Wieder und wieder geleiten die Langenberger ihre Söhne, Männer, Freunde, Väter zum Bahnhof, Musik voran. Ein kurzes Wort des Abschieds, ein letzter Händedruck, ein langer, stummer, letzter Abschiedsblick – dann verläßt Langenbergs wehrhafte Mannschaft mit donnerndem Hurra die Heimat. Laut klingt dies Hurra über Langenberg dahin und weckt in hunderten und aber hunderten den Wunsch: wäre ich nur auch bald dabei! 45 46

FFA, B4j71, Chronik des Kränzchens, Bd. 2. Auf die Darstellung der Generalmobilmachung, der Einberufung der Soldaten und der Freiwilligenmeldungen folgen viele leere Seiten; weitere Eintragungen zu den Jahren des Ersten Weltkriegs fehlen. Auch werden die Gefallenen nicht notiert, so dass einiges für die Abfassung des Textes noch im Herbst 1914 spricht.

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Gott Dank, daß diese große Stunde kein schwächliches, ängstliches Geschlecht traf, daß des Vaterlandes Notruf die Jugend froh und begeistert, die Männer fest und entschlossen, die Frauen auch stark und opferwillig fand. Mag kommen, was will, wir können diese Tage nie vergessen! Auch im Kreis der Kränzchenfreunde, in ihren Häusern gabs vielfaches Abschiednehmen. Von den Kränzchenmitgliedern zog Johannes Colsman als Rittmeister hinaus, Pfr. Meyer u. Pfr. Ohl stellten sich zum Heeressanitätsdienst. K.R. [Kommerzienrat] Emil Colsman, Paul Colsman, Fritz Colsman, Lucas Colsman, Direktor Dr. Schmitz sehen ihre Söhne hinausziehen. Ihnen folgten später (nach dem Notabitur) der älteste Sohn von Johannes Colsman und weitere Söhne von Lucas Colsman, Fritz Colsman, Paul Colsman und Direktor Schmitz.“47

Das Ereignis des Kriegsbeginns wurde im Text eingebettet in Stereotypen, welche nach Kriegsbeginn rasch die offiziellen Schilderungen der Ereignisse des Augustanfangs 1914 zu dominieren begannen.48 Im vorausgehend zitierten Text waren dies der Ernst, die Entschlossenheit und die Vaterlandsliebe aller Langenberger Einwohnerinnen und Einwohner und ihre Darstellung als ein gleichdenkendes und -fühlendes Kollektiv. Dazu gesellte sich eine religiöse Aufladung des Krieges; es war ein „heiliger Krieg“, der hier geführt wurde, die Krieger und ihre Familien waren religiös gestimmt, strömten in die Kirche und suchten dort nach Aussage des Texts Trost und Sinnstiftung. Der Text schwankte zwischen Fatalismus und Zuversicht; zwischen Religion als Sinnstiftung sinnloser Kriegstode und als Fundament kriegerischen Muts und Siegesgewissheit. Er entwickelte zugleich aufschlussreiche Generationendifferenzen: Die Jugend war „froh und begeistert“, die Männer dagegen „fest und entschlossen“. Dazu trat noch eine Beschreibung der ‚Kriegerfrauen‘ als „stark und opferwillig“. So eingeführt wurden dann diejenigen Kränzchenmitglieder benannt, welche Söhne in den Krieg schicken mussten oder selbst eingezogen wurden. Der Text spiegelte recht präzise, was die Propaganda der Regierung und viele Tageszeitungen schon kurze Zeit nach Kriegsausbruch als sogenanntes ‚Augusterlebnis‘ mythisieren und verklären wollten. Vom „heiligen Krieg“ war in einer Zeitung schon zu Augustbeginn zu lesen, der geführt werde zum Erhalt der „Kultur der Welt“ und für den „Frieden“.49 Schriftlicher und bildlicher ‚Hurra-Kitsch‘ dominierte die deutschen Zeitungen und rasch geschriebene und aufgeführte Theaterstücke über den neuen nationalen Aufbruch die deutschen Bühnen. Doch als die Realität des Krieges durch Briefe von der Front, durch die ersten Gefallenenlisten und die Verwundetentransporte bereits im Herbst 1914 in die Heimat zurückwirkten, verschwand der Hurra-Kitsch schnell, auch wenn das vermeintliche ‚Augusterlebnis‘ während des gesamten Krieges immer wieder propagandistisch beschworen wurde. Aus ihm wurde zudem ein Mythos nationaler Einigkeit und Entschlossenheit kreiert, der ‚Geist von 1914‘. Die Begeisterung und der Jubel, welche ein kleiner Teil der Bevölkerung auf die Straßen getragen hatte, wurden propagandistisch verallgemeinert und zum Indi47 48 49

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FFA, B4j71, Chronik des Kränzchens, Bd. 2. Vgl. Verhey, Der „Geist von 1914“, S. 224ff. Zit. nach Verhey, Der „Geist von 1914“, S. 199.

kator deutscher kollektiver Eigenschaften und Handlungsorientierungen: treu, einig, entschlossen, pflichtbewusst, am Ganzen orientiert, nicht individualistisch, den Krieg als Kultur- und Friedensmission gegen die Barbaren (Russen), Händler (Briten) und Kulturverächter (Franzosen) zur eigenen Verteidigung führend.50 Allerdings war die Stimmung in der deutschen Bevölkerung schon in der Julikrise 1914 widersprüchlich und sozial differenziert gewesen und keineswegs kollektiv euphorisch.51 Dies blieb auch bei Kriegsausbruch so. In der von Jeffrey Verhey vorgenommenen Auswertung deutscher Tageszeitungen aus dem Juli und August 1914 wird deutlich, dass von allgemeiner Kriegsbegeisterung nicht die Rede sein konnte.52 Die „überwältigende Zustimmung“ war vor allem ein Phänomen „namentlich der bürgerlichen Schichten und der Intellektuellen“. Kurzzeitig gab es aber auch in Gruppen, die nationalistischkriegerischen Haltungen eher fern standen, wie beispielsweise die Arbeiterschaft, Zustimmung.53 Neuere Forschungen warnen jedoch davor, auch die ‚Kriegsbegeisterung‘ derjenigen, die sie zeigten, allzu wörtlich zu verstehen. Es handelte sich vielfach um eine kurzzeitige, situationsgebundene Euphorie, um die kollektive Lösung von Anspannungen oder um die gemeinsame Bewältigung von Ängsten.54 Die konkret stattfindenden Kundgebungen und Umzüge vom Juli und August 1914 entpuppten sich in den Berichten der Tagespresse schnell als weitgehend bürgerlich-mittelständische Veranstaltungen, die überdies vornehmlich in Städten stattfanden. Ende Juli 1914 versammelten sich beispielsweise Studenten in Berlin in der Straße Unter den Linden und sangen patriotische Lieder; verschiedene kleinere Umzüge formierten sich und zogen mit nationalistischen Parolen und Liedern durch die Berliner Innenstadt und zur österreichischen Botschaft, insgesamt nicht mehr als etwa 30.000 Personen: „Der Großteil von ihnen gehörte zur gebildeten Jugend, waren Studenten oder Angestellte. Die jungen Männer wurden von ebenso gut gekleideten jungen Frauen begleitet, die Arm in Arm mit ihnen marschierten und, nach allem, was man hörte, ebenso laut sangen wie sie. Die älteren Teilnehmer gehörten, in den Worten eines Berliner Polizeibeamten, ‚durchweg zu den besten und besseren Gesellschaftskreisen‘.“55

Die Kundgebungen verliefen in den Städten überall ähnlich; es dominierten bürgerliche und mittelständische Jugendliche, meist Studenten und junge Ange50

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Kritische zeitgenössische Artikel zum ‚Hurra-Kitsch‘ zitiert Verhey, Der „Geist von 1914“, S. 202f. Zur abklingenden Begeisterung in den Medien schon am Ende des Jahres 1914 und zur propagandistischen Entwicklung des Mythos vom „Geist von 1914“ vgl. ebd., S. 211, S. 214ff. Vgl. als Forschungsüberblick über die Frage der Kriegsbegeisterung 1914 Chickering, „War enthusiasm“. Vgl. Verhey, Der „Geist von 1914“, S. 31ff. Vgl. Mommsen, Deutschland, S. 16, Zitate ebd. Vgl. Chickering, „War enthusiasm“, S. 204f. Verhey, Der „Geist von 1914“, S. 61; zu den Demonstrationen und Umzügen und zu ihren Teilnehmerzahlen vgl. ebd., S. 56f., S. 67ff.

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stellte, auch junge Mädchen, und einige ältere Bürgerliche; es wurden Versammlungen an patriotischen Denkmälern abgehalten, Lieder gesungen, Hurra gerufen und nationale, kriegsbefürwortende Reden gehalten. Nicht zuletzt aufgrund der sozialen Selektivität waren die Umzüge und Kundgebungen in der Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer durchweg übersichtlich, meist waren es nur wenige hundert. In Berlin, wo die größten Demonstrationen stattfanden, versammelten sich am 1. August 1914 vor dem Stadtschloss etwa 50.000 Menschen, bei einer Einwohnerzahl Berlins 1914 (ohne Umland) von über zwei Millionen. 100.000 Menschen waren dagegen am 28. Juli 1914 zu einer Friedensdemonstration in Berlin auf die Straße gegangen, überwiegend aus der Sozialdemokratie.56 In vielen Städten fanden kriegsbegeisterte Kundgebungen und Umzüge überhaupt nicht statt, zum Beispiel in den meisten Städten des Ruhrgebiets. Vielfach wurde zudem in der Presse von Angst und Anspannung berichtet, gerade in Kleinstädten und Dörfern.57 Neuere Lokalstudien beispielsweise zur Lage in Darmstadt und im südlichen Bayern im August 1914 bestätigen nicht nur die sozialen Differenzen in den Haltungen, die ambivalenten Gefühlslagen bei Kriegsausbruch und die recht geringe allgemeine Kriegsbegeisterung, sondern sie zeigen auch kritische lokale Stimmen. Sie beschreiben zudem, wie stark bereits zu Kriegsbeginn die Propaganda inszenierend und Deutungen vorgebend eingriff, zum Beispiel durch Bildunterschriften in Zeitungen.58 Die bäuerliche Bevölkerung im südlichen Bayern reagierte auf den Kriegsbeginn beispielsweise vor allem mit Sorgen und Ängsten bezüglich der Ernteeinbringung und wie auch die Arbeiterschaft in den Städten mit Befürchtungen, den oder die Ernährer bald zu verlieren und dadurch in prekäre soziale Lagen zu geraten. Die einzige Gruppe, die auch auf dem Land Anzeichen von euphorischer Stimmung zeigte, war diejenige der unverheirateten Männer.59 In den bürgerlichen Cafés der Großstädte konnte dagegen die Begeisterung groß sein und sich im gemeinsamen Intonieren patriotischer Lieder und in spontanen Kriegsreden äußern, wie ohnehin viel vom patriotischen Überschwang in Cafés und Vergnügungslokalen stattfand. Weitere Vergemeinschaftungsmöglichkeiten bürgerlichen Hochgefühls bestanden in Konzerthäusern und Theatern, in denen patriotische Musik- und Theaterstücke aufgeführt wurden: „In den Pausen wurden häufig die neuesten Kriegsmeldungen verlesen, am Schluss der Vorstellungen erklangen regelmäßig die Kaiserhymne ‚Heil Dir im Siegerkranz‘ oder das überaus populäre ‚Lied der Deutschen‘.“60 Sozialdemokratische wie bürgerliche Journalisten beklagten gleichzei56

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Zu den Teilnehmerzahlen vgl. Hirschfeld/Krumeich, Deutschland im Ersten Weltkrieg, S. 54f. Ähnlich war dies z. B. in Darmstadt, wo ebenfalls viele Sozialdemokraten gegen einen drohenden Krieg demonstrierten. Vgl. Stöcker, „Augusterlebnis 1914“ in Darmstadt, S. 31. Vgl. Verhey, Der „Geist von 1914“, S. 65f. Die Presse spricht für die Arbeiterschaft und die Landbevölkerung von Angst und Niedergeschlagenheit, vgl. ebd., S. 160ff. Vgl. Stöcker, „Augusterlebnis 1914“ in Darmstadt, S. 22ff. Vgl. Ziemann, Front und Heimat, S. 41f., S. 47. Hirschfeld/Krumeich, Deutschland im Ersten Weltkrieg, S. 66.

tig die Rüpelhaftigkeit vieler Kriegsbegeisterter und die „Alkohol-Patrioten“: Nicht euphorisch erscheinende Bürgerinnen und Bürger wurden nicht selten aus Gaststätten geworfen oder verprügelt.61 Auffällig ist in den Berichten der zeitgenössischen Presse neben der Bürgerlichkeit die wiederholte Betonung der Jugendlichkeit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den patriotischen Umzügen und Kundgebungen.62 Auch die bürgerliche Jugendbewegung war an einer großen Anzahl städtischer Demonstrationen für den Weltkrieg aktiv und organisatorisch beteiligt, ebenso wie viele Mitglieder von Jugendorganisationen, welche im „Jungdeutschland-Bund“, einem militärischen Dachverband, zusammengeschlossen waren. Ein Teil dieser Kundgebungen und Umzüge wurde bereits gefilmt und in Kinos gezeigt, zum Teil unter Zuhilfenahme von Inszenierungen, welche dann gedreht wurden.63 Die Jugendlichkeit der Kriegsbegeisterten stellt die Verbindung zu einem weiteren Mythos des Kriegsbeginns her: demjenigen der vielen Freiwilligenmeldungen. Die Rede war in den Zeitungen von ein bis zwei Millionen. De facto konnten sich angesichts der Generalmobilmachung aber nur diejenigen freiwillig melden, welche noch keinen Gestellungsbefehl erhalten hatten oder unter achtzehn bzw. über fünfundvierzig Jahre alt waren, also noch nicht oder nicht mehr der Wehrpflicht unterlagen. Effektiv meldeten sich etwa 260.000 Freiwillige in Preußen am Beginn des Krieges, wovon nur rund 185.000 im August 1914 zum Kriegsdienst eingezogen wurden. Die in den Zeitungen genannte, enorm hohe Zahl von ein bis zwei Millionen war Teil des Konstrukts des ‚Augusterlebnisses‘ und des ‚Geists von 1914‘.64 Wie viele Freiwillige dabei einfach ihrem Gestellungsbefehl zuvorkamen, ist unklar; durch die Freiwilligenmeldung demonstrierten sie aber ihre Bereitschaft zum patriotischen Einsatz für das Vaterland.65 Darüber hinaus scheint es an den deutschen höheren Schulen und den deutschen Universitäten auch einen erheblichen Gruppendruck zur Freiwilligenmeldung gegeben zu haben.66 In ihrer sozialen Zusammensetzung sind die Kriegsfreiwilligen eindeutig zu charakterisieren: Es waren auch hier überwiegend bürgerliche und mittelständische Jugendliche, zumeist Gymnasiasten und Studenten, wenig vertreten waren junge Arbeiter. Dies war auch in Großbritannien und Frankreich so: In Großbritannien waren es vor allem Studenten der Colleges von Oxford und Cambridge und Schüler der Public Schools, in Frankreich ebenfalls Studenten der Universitäten und Grandes Écoles und 61 62 63

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Vgl. Verhey, Der „Geist von 1914“, S. 81f., Zitat aus einer Zeitung vom 1. August 1914, zit. nach ebd., S. 82. Vgl. Verhey, Der „Geist von 1914“, S. 67ff. Vgl. Stöcker, „Augusterlebnis 1914“ in Darmstadt, S. 31f.; Verhey, Der „Geist von 1914“, S. 80f. Zur Beteiligung des Wandervogels und des Jungdeutschlandbunds an den patriotischen Umzügen und Demonstrationen vgl. ebd., S. 77ff. Vgl. Ziemann, Kriegsfreiwillige, S. 639. Vgl. dazu die dichte Darstellung der Freiwilligenmeldung des achtzehnjährigen Gymnasiasten Otto Braun 1914 aus seinen Briefen und denen seiner Eltern bei Wierling, Eine Familie im Krieg, S. 42ff. Vgl. Verhey, Der „Geist von 1914“, S. 173.

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Schüler der Oberstufen höherer Schulen.67 Dennoch: „Die übergroße Mehrheit der über 13 Millionen deutschen Soldaten, die zwischen 1914 und 1918 ihren Kriegsdienst leisteten, folgte schlicht ihrer Einberufung.“68

3. Der Krieg als Generationserfahrung: Eltern, Söhne und Töchter 3.1 Die ältere Generation im Gespräch über den Krieg Viele deutsche Unternehmer reagierten, wie andere Teile der Bevölkerung auch, bei Kriegsbeginn zurückhaltend und besorgt. So dominierte in Württemberg beispielsweise von Seiten der Industrie der Appell an „Ruhe und Besonnenheit“; der „leider über uns hereingebrochene Krieg“ wurde beklagt, nicht gefeiert. Die Aufmerksamkeit und die Sorgen galten zunächst den Unternehmen, den durch den Krieg in Frage gestellten Märkten und den eigenen Angestellten und Arbeitern.69 Ein Teil der Belegschaften wurde bald zum Kriegsdienst einberufen, ein weiterer musste in vielen Branchen wegen des gleich mit Kriegsbeginn einsetzenden Rohstoffmangels entlassen werden.70 Für das Unternehmen Gebrüder Colsman stellte sich die Situation aus dem Blickwinkel einer Firmengeschichte, welche in den frühen 1920er Jahren im Unternehmen verfasst wurde, wie folgt dar: „Eine Wirkung trat [1914, CG] sofort ein: Die beiden feindlichen Mächtegruppen schlossen gegeneinander ihre Grenzen, England und Frankreich gingen sehr bald rigoros gegen das gegnerische Eigentum in ihren Ländern vor durch Schließung oder durch Sequestrierung der Geschäfte, womit auch die einstweilige Beschlagnahme der ausstehenden Forderungen verbunden war. Die Firma Gebrüder Colsman wurde dadurch sehr schwer getroffen, da Läger und Forderungen in England einen Wert von weit über eine Millionen Mark darstellten. Jede Verbindung mit den englischen Vertretern war sofort aufgehoben, und es ist auch bis zur Gegenwart […] nur ganz selten gelungen, durch Vermittlung etwas über das Schicksal namentlich des Hauptvertreters, Firma A. Stenger & Co./Inhaber Heinrich Windgens und Lauks, beide Deutsche, und über das Schicksal der großen englischen Läger zu erfahren. […] Das ganze englische Debet, Läger eingeschlossen, hatte bei Kriegsbeginn einen Wert von rund 1.300.000. Horn, der Londoner Vertreter in der

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70

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Vgl. Ziemann, Kriegsfreiwillige, S. 639; Audoin-Rouzeau, Kinder und Jugendliche, S. 137f. Hirschfeld/Krumeich, Deutschland im Ersten Weltkrieg, S. 62. Vgl. Hopbach, Der Erste Weltkrieg in der Erfahrungswelt württembergischer Unternehmer, S. 252ff., Zitate S. 252f. Ähnlich dachten viele Unternehmer, vgl. Plumpe, Eine wirtschaftliche Weltmacht, S. 59f. Vgl. Ullmann, Kriegswirtschaft, S. 221f.; Hirschfeld/Krumeich, Deutschland im Ersten Weltkrieg, S. 189ff.

Cravattenbranche, starb April 1915; über ihn und sein Lager, wie über die anderen englischen Vertreter Jukes & Steven, fehlt jede weitere Nachricht.“71

Deutlich wird die existentielle Krise, welche für das Unternehmen Gebrüder Colsman durch den Kriegseintritt Großbritanniens entstand. Unmittelbar mit Kriegsbeginn war der britische Markt verloren gegangen, ebenso die dort befindlichen Vermögenswerte. Nachdem das Unternehmen deswegen im Herbst 1914 faktisch stillgelegt werden musste, konnte es 1915, aber nur in Bezug auf den deutschen Markt, denn die ausländischen Märkte aller Entente-Mächte waren weggefallen, wieder die Umsatzstärke der Vorkriegszeit erreichen. Mit der Kriegserklärung Italiens an Österreich-Ungarn im Juni 1915 wurde allerdings die Einfuhr von Rohseide in das Deutsche Reich als Verbündetem Österreich-Ungarns erheblich erschwert und im November 1916 endgültig unterbunden. Rohseide musste seither mit großem Aufwand und zu hohen Preisen über die Schweiz beschafft werden. Im Sommer 1917 wurde ein Ausfuhrverbot von Rohseide aus der Schweiz ins Deutsche Reich erlassen. Die deutsche Heeresverwaltung wiederum beschlagnahmte parallel sämtliche im Reich befindliche Rohware an Baumwolle, Wolle und Seide. Mit dem Rest der verbliebenen Rohseide wurden noch bis Ende 1917 bei Gebrüder Colsman zivile Stoffe gewebt. Ab November 1917 stellte das Unternehmen, da inzwischen ohne Rohware, auf Heeresbelieferung um, auf Ballonstoffe und Stoffe für Fallschirme, produziert mit Rohseide aus Heeresbeständen und mit Kunstseide.72 Damit konnte ein kleiner Teil der mechanischen Webstühle in Gang gehalten werden, etwa 150, gegenüber mehr als 900 vor Kriegsbeginn.73 Das Unternehmen bemühte sich, die Angestellten und Arbeiter auch während des Krieges an sich zu binden. So wurden Unterstützungen und Gehälter auch an diejenigen Arbeiter- und Angestelltenfamilien gezahlt, deren Ernährer an der Front waren oder kriegsbedingt keine Arbeit an den Webstühlen hatten. Wie auch die staatlichen Unterstützungsleistungen (Kindergeld, Mietzuschüsse, Preiskontrollen sowie Kriegsversehrtenrenten)74 verloren die Unterstützungen und Gehälter angesichts der großen kriegsbedingten Teuerungsraten aber bald an Wert.75 Durch die knappheitsbedingten massiven Preiserhöhungen für zivile Seidenstoffe während des Krieges sowie die Kriegsproduktion für die Armee überstand das Unternehmen den Krieg; es war danach zwar deutlich verkleinert, konnte aber nach 1918 die Produktion für den zivilen Markt wieder aufnehmen. 71 72 73

74 75

FFA, 9.34, Firmengeschichte Gebrüder Colsman. Vgl. zur Wirtschafts- und Produktionsgeschichte des Unternehmens im Ersten Weltkrieg FFA, 9.34, Firmengeschichte Gebrüder Colsman. Paul Colsman notierte in der Familienchronik: „23. April 1918 In Kupferdreh laufen noch ca. 140 Stühle. 35 für Ballonstoffe. […] Seide seit 13. Juli 17 beschlagnahmt.“ Archiv WHC, Sign. 46, Familienchronik Paul und Elisabeth Colsman, 1880–1931. Vgl. auch FFA, 4.81, Webstuhlverzeichnisse 1910/1911 und 1914–1918. Vgl. Geary, Arbeiter, S. 144. 1916 lagen die Kosten für Nahrungsmittel in Berlin 278% über denen von 1914. Selbst die hohen Löhne in der Rüstungsindustrie hielten mit der Kriegsinflation nicht mit. Vgl. Geary, Arbeiter, S. 146f.

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1921 waren bereits wieder rund 600 Arbeiter und Angestellte im Unternehmen an rund 450 Webstühlen beschäftigt.76 Unternehmer wie die Colsmans – dies betraf nicht nur die Teilhaber des Stammunternehmens Gebrüder Colsman, sondern auch die Inhaber der Seidenwebereien Colsman & Seyffert, Conze & Colsman und Peter Lucas Colsman – waren vor Kriegsbeginn Teil einer international agierenden deutschen Großunternehmerschaft gewesen mit Agenturen und Absatzmärkten in der gesamten westlichen Welt und in Asien.77 In ihrer Sicht auf die moderne Welt und deren Entwicklung war ein Krieg, wie vermutlich für die meisten international engagierten Unternehmer, ausgenommen diejenigen mit direkter Rüstungsproduktion, dysfunktional. Kaum etwas findet sich dementsprechend von der „geistigen Mobilmachung“78 der Intellektuellen in den Briefen und Unterlagen der Unternehmerfamilie Colsman. Dass der vorausgehend zitierte Chroniktext des „Kränzchens“ ihre Haltung bei Kriegsausbruch im August 1914 spiegelt, ist daher sehr fraglich. Der Text enthält zudem schon das spätere Deutungsmuster des ‚Geists von 1914‘. In die Familienchronik hatte Paul Colsman für den August 1914 lediglich folgende nüchterne Informationen eingetragen: „1. August 1914 Samstag 6 Uhr wird unsere Armee gegen Rußland & Frankreich mobil gemacht. Sohn Wilhelm ist im Westen Amerikas, kommt nach 3 Wochen & geht als Res. Offizier zu s. Regiment in Karlsruhe.“ „3. August 1914 Bruder Johannes geht zur Armee. Über Düsseldorf, Saarlouis nach Weißenburg zur Übernahme der Fuhrparkkolonne No 5 31. Division. Sohn Hans macht Notabitur & meldet sich als Kriegsfreiwilliger bei Ul 7 in Saarbrücken.“ „25. August 1914 Sohn Wilhelm kommt von New York über Bergen zurück; er entging den Engländern die 2 x sein Schiff durchsuchten.“79

In den Eintragungen dort gibt es keine aggressiven Feind-Adressierungen, sondern es erfolgte lediglich der Hinweis, dass es sich bei Deutschen und Briten nun um Gegner mit entsprechenden Verhaltensweisen handelte. Auch an den Familienbriefen aus der Zeit des Kriegsbeginns und der folgenden Kriegsjahre ist auffällig, dass eine kämpferische Feindbezeichnung fehlte. Dies war sowohl in den Briefen der Eltern als auch der jungen Soldaten der Fall und blieb nicht auf die Familie Paul Colsmans beschränkt. Auch in den Briefen Peter Lucas Colsmans aus den Jahren 1914 und 1915 fehlten solche Adressierungen.80 Kurz 76 77 78 79 80

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Vgl. FFA, 9.34, Firmengeschichte Gebrüder Colsman; Archiv WHC, Sign. 46, Familienchronik Paul und Elisabeth Colsman, 1880–1931. Vgl. dazu Kapitel II über Eheschließungen und Ehebeziehungen, Teilkapitel 2. Flasch, Die geistige Mobilmachung; vgl. Verhey, Ideen von 1914, S. 568. Archiv WHC, Sign. 46, Familienchronik Paul und Elisabeth Colsman, 1880–1931. „Ferner unsre lieben Jungens vorab! Ich denke viel, viel an sie! Peters letzter Brief ist doch sehr ergreifend. Was der Junge unter der Hand alles erlebt, geht aus diesen Zeilen hervor. Gott behüte ihn! Ich muß natürlich viel & oft über die 3 Söhne erzählen, weil ja auch bei Andren das Hauptgespräch über den Krieg & die im Felde ist! […] Im Geschäft ist’s recht schwierig.“ Archiv Landfried, Sign. 41, Peter Lucas Colsman an Tony Colsman, 31. Januar 1915.

nachdem sein ältester Sohn Wilhelm als Reserveoffizier der Feldartillerie an die Westfront ausrücken musste, schrieb ihm Paul Colsman: „Lieber Wilhelm! Die Gedanken weilen mehr oder weniger stets bei unserm tapfern Heer, zu dem du ja auch gehörst […]! Wir warten sehnsüchtig auf eine gute Nachricht von den französischen Schlachtfeldern. Gestern war es ja Gutes was das Hauptquartier meldete, möchte eine ergänzende gleich günstige Nachricht bald folgen! […] Heute ist der Tag der Zeichnung der Kriegsanleihe. Ich bin gespannt, welcher Betrag schließlich zusammenkommt. Hier in Langenberg zeichneten kleine Leute ca. 500.000 M. Die Geschwister zeichneten heute Morgen, E [Elisabeth] 300, P [Paul] 200 & Udo 100 Mark. Sie zogen mit ihren Sparkassenbüchern zu Fl. Rohde & jeder mußte auf seinen Namen zeichnen. Wir haben bei der Firma auf die verschiedenen Teilhaber […] verschieden verteilt 750 mille [750.000 Mark, CG] gezeichnet. Mama Barthels M. 100.000. Hoffentlich zahlen unsere Feinde die Zinsen & auch ein namhaftes Plus. Vergangene Woche war ich einige Tage in Berlin. Wir hatten zwei Tage mit unsern Kunden gemeinsam Sitzung um zu beraten, wie man die Conventionsbedingungen den schwierigen Zeiten entsprechend mildern könnte. Dann habe ich noch einige Besuche in der Kundschaft gemacht, bei denen ich den Eindruck bekam, daß unser Geschäft doch mehr wie schwierig liegt, & die Aussichten auch bei einem denkbar günstigen Ausgang des Krieges sehr wenig gute sind. Wir werden in Folge dessen wohl in der kommenden Woche unsern Betrieb noch mehr einschränken, wenn die Geschäftsstille anhält im Lauf der kommenden Monate mehr oder weniger zum Stilliegen kommen. […] Wir wollen mit C & C [Conze & Colsman] und Peter L. [Peter Lucas Colsman]81 gemeinschaftlich vorgehen & dieserhalb in den nächsten Tagen beraten. […] Die Bilanz vom verflossenen Jahr war fertig & dankenswert gut. Es soll ein ordentlicher Posten in die Reserve gestellt werden. Seit einigen Tagen haben wir 83 Verwundete hier. Schwester E. ist sehr tätig. Sie hat mit noch einigen Freundinnen im Meybergstift für 17 Soldaten zu sorgen. Mama hat auch manche Sitzung wegen Frauenverein & Rotem Kreuz. Die Not ist an vielen Stellen groß! […] In treuer Liebe dein Vater P. C.“82

Der Brief des Vaters an seinen sechsundzwanzigjährigen Sohn enthielt wie alle Briefe von Vätern der Unternehmerfamilie an ihre Söhne Beschreibungen der väterlichen Berufswelt und der wirtschaftlichen Lage. Dies änderte sich auch durch den Ersten Weltkrieg nicht. Gleichzeitig beschrieb der Brief für den Sohn die Situation an der sogenannten ‚Heimatfront‘, welche im Ersten Weltkrieg als begriffliche Umschreibung eines gemeinsamen Kampfes von Soldaten und Zivilisten propagandistisch konstruiert und von der Zivilbevölkerung, wie hier von Paul Colsman, vielfach aufgenommen und wiedergegeben wurde:83 von den Kriegsanleihen, von deren insgesamt neun die ersten in den Jahren 1914 und 1915 besonders erfolgreich für den Staat waren,84 bis zu den kriegsunterstützenden Arbeiten der Mädchen und Frauen. Dass der Krieg das Familienunternehmen stark tangierte, wurde dem Sohn aber ebenso an die Front ver81 82 83 84

Conze & Colsman und Peter Lucas Colsman waren die beiden weiteren Tuchwebereien am Ort, während bei Colsman & Seyffert Bänder gewebt wurden. Archiv WHC, Sign. 40, Paul Colsman an Wilhelm Colsman, 19. September 1914. Vgl. zum Topos der ‚Heimatfront‘ Buschmann, Der verschwiegene Krieg, S. 211ff. Vgl. Zilch, Kriegsanleihen, S. 628.

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mittelt wie die noch gute Bilanz des Geschäftsjahres 1913. Der Vater stellte die Verhältnisse ausführlich dar, was auch, wie bei vielen Kriegsbriefen, als Kontakterhalt zwischen Kriegsfront und Heimat gedacht war. Auch an Freunde schrieb Paul Colsman in aufschlussreicher Weise über den Krieg, insbesondere hinsichtlich seiner Einstellungen zu den Kriegsgegnern und seiner Siegesgewissheit. An einen befreundeten Unternehmer im badischen Emmendingen schrieb er in den ersten Kriegsmonaten: „Mein lieber Freund und unverbesserlicher Kritiker! […] Man braucht sich wegen unserer Führung keine Sorge zu machen. S. M. [Seine Majestät, Kaiser Wilhelm II., CG] spricht den Generälen nicht herein. […] Fehler kommen immer vor und sind 70/71 in großer Menge gemacht. […] Wir dürfen heute voll und ganz zufrieden sein, auch ein süddeutscher Demokrat wie du hat keinen Grund besorgt zu sein. Das Ringen um den endgültigen Sieg ist ja ganz gewaltig, aber ich bin fest davon überzeugt, daß der Sieg an unsere Fahnen geheftet wird. Unsere Truppen schlagen sich famos & jeder Mann vom obersten bis zum untersten tut seine […] Pflicht! Also nur Mut nicht so kritisch! […] Wir verlebten stille Weihnachtstage […]. Bei den großen Sorgen, die der Krieg nun einmal mit sich bringt, müssen die persönlichen geschäftlichen Nöte in den Hintergrund treten. Nach einem siegreichen Frieden werden die Menschen auch wohl wieder Seidenwaare gebrauchen. Einstweilen kennen wir im Geschäft nur Verluste. […] Die Engländer sind recht gemeine Kerle! Aber die Franzosen sind doch die Urheber allen Elends. […] Das muß doch festgehalten werden.“85

In diesem Brief dominierte zu Beginn des Krieges noch die Siegesgewissheit. Ihm ist auch zu entnehmen, dass sich jetzt, einige Monate nach Kriegsbeginn, eine ‚Feind‘-Definition ergeben hatte, allerdings in weit weniger aggressiven Tönen, als sie die Intellektuellen 1914 angeschlagen hatten. Insbesondere Frankreich trug für Paul Colsman die Hauptschuld am Krieg. Auch aus den Briten wurden in dem Brief nun Feinde, aber sie traten, obwohl für das Deutsche Reich der wichtigere und mächtigere Gegner, für ihn hinter Frankreich zurück. Da sich der Freund offenbar skeptisch hinsichtlich eines Siegs der Mittelmächte geäußert hatte, bemühte sich Paul Colsman, ihn vom Gegenteil zu überzeugen und vertraute dabei vermutlich den Heeresberichten und Zeitungsartikeln, obwohl der deutsche Vormarsch an der Westfront bereits im September 1914 an der Marne zum Stillstand gekommen und die Kriegsstrategie des Deutschen Reiches, nämlich eine schnelle Niederwerfung Frankreichs, damit faktisch schon gescheitert war.86 Der geschäftliche Niedergang wurde im Brief zudem als persönliche Bürde dem größeren Allgemeinen, dem „siegreichen Frieden“, untergeordnet. Ähnlich formulierte es Ende Oktober des Jahres 1914 Peter Lucas Colsman in einem Brief an seine Frau Tony von einer Geschäftsreise aus Berlin: „Hier nichts Neues passirt; im Geschäft dieselbe Not; alles steht quasi still. […] Unsere Truppen gehen ja immer langsam aber stetig vorn, das ist das beruhigende. Ich sitze hier 85 86

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Archiv WHC, Sign. 74, Paul Colsman an Ringwald (Vorname unbekannt), 9. Januar 1915. Vgl. Deist, Die Kriegführung der Mittelmächte, S. 251.

im Pschorr (meine bekannte Kneipe). Ein Ritter des Eisernen Kreuzes saß eben in m. Nähe. […] Hoffentlich hören wir bald etwas von Peter [der älteste Sohn, Kriegsfreiwilliger, CG]!“87

Noch dominierten die Siegeszuversicht, die Hoffnung auf die Unversehrtheit der Söhne an der Front und die Inkaufnahme der Geschäftsprobleme für ein übergeordnetes nationales Ziel. Im Mai 1915, ein Dreivierteljahr nach Kriegsausbruch, schrieb Paul Colsman seinem Freund in Süddeutschland erneut: „Leider lassen mich alle meine Beziehungen zu England im Stich. Der Verkehr mit einem Deutschen scheint in dem so hoch gepriesenen Land der Freiheit mit den schwersten Strafen bestraft zu sein. […] Meine Geschwister sind Mitte Januar aus der englischen Gefangenschaft heimgekehrt. Wir freuten uns riesig, sie wohlbehalten hier im Vaterland begrüßen zu können. […] Von unserem Sohn hören wir bis jetzt, zuletzt am 13 Jr, Gott Lob Gutes. Er war [….] 26 Stunden im Gefecht. Jetzt ist er mit seiner ganzen Batterie zu einem neu zu bildenden Regiment versetzt. […] Mein Bruder ist seit etwa 2 Monaten in Rußland und schildert in lebhaften Farben die den Truppen dort zugemuteten Strapazen. Sein Sohn ist vor einigen Wochen als Freiwilliger auch nach dem Osten geschickt worden. Hoffentlich gelingt es Hindenburg bald mit den Russen fertig zu werden. Die Verluste, die die Russen bei allen Gefechten erleiden, sind augenscheinlich enorm. Lange kann die Gesellschaft das doch kaum aushalten. […] Der Weg, die Engländer auf die Knie zu bekommen, kann noch langwierig und schwer sein! An einem endgültigen Sieg dürfen wir nicht zweifeln!“88

Der Brief schilderte nicht nur die inzwischen vielfachen Kriegseinsätze in der engeren Familie – der älteste Sohn Wilhelm war als Offizier an der Westfront, Paul Colsmans jüngerer Bruder Johannes und dessen Sohn Hans waren als Offizier und Unteroffizier an der Ostfront –, sondern er formulierte auch erste Durchhaltesätze wie die Aufforderung, nicht am Sieg zu zweifeln und sich auf einen langen Krieg einzustellen. Weiterhin fehlten scharfe Töne gegen die feindlichen Nationen, wie sie fast zeitgleich Werner Sombart in krasser nationalistischer Form formulierte.89 Vielmehr trugen für Paul Colsman nicht die Engländer als Nation die Schuld am abgebrochenen Kontakt, sondern deren Regierung. Peter Lucas Colsman, dessen drei Söhne sich 1914 freiwillig gemeldet hatten und am Ende des Jahres 1914 alle an der Front waren, schrieb an seine Frau aus Berlin: „Mein liebes Herz! […] es sieht wirklich trostlos bei unsren Kunden aus. Bei Licht besehen wird von unsren Kunden heute nichts Neues bestellt, die Abwicklung & Hereinnahme alter Orders wird vorgenommen; […] aber davon läuft keine Fabrik, für diese Popelines wird Wolle gebraucht & diese ist im ungesponnenen Zustand von der Regierung für Militairzwecke mit Beschlag belegt; […] Sonst geht’s mir recht gut! Der erste Tag wird mir immer am schwersten. Paul [Colsman] traf ich morgens bei der Kundschaft. – Gestern Abend war ich bei Max H’feld [Hirschfeld] zum Abendbrod, nur die 87 88 89

Archiv Landfried, Sign. 41, Peter Lucas Colsman an Tony Colsman, 30. Oktober 1914. Archiv WHC, Sign. 74, Paul Colsman an Ringwald (Vorname unbekannt), 22. Mai 1915. Vgl. Teilkapitel 2 in diesem Kapitel.

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engere Familie, 18 Personen, es war die erste Wiederkehr des Hochzeitstages, ich saß neben dem Schwager Dr. Warschauer, dem ersten Rabbiner, sehr interessant; natürlich nur Kriegsgespräche; viele Interesse für unsre Jungens & besonders für Peter; ihr Bild circulirte. […] Hoffentlich treffen bald wieder Nachrichten von den Söhnen ein.“90

In diesem Brief fehlten feindselige Bezüge auf den Kriegsgegner ganz. Im Kontrast zu den publizistischen Tiraden aus der Feder mancher Intellektueller standen auch Ereignisse wie die Kriegsweihnacht von 1914, welche eine „massenweise Soldatenverbrüderung an allen Fronten, insbesondere zwischen deutschen und britischen Soldaten an der Westfront“ hervorbrachte. Dazu gehörten neben dem gemeinsamen Singen von Weihnachtsliedern Fußballspiele der Deutschen und Briten zwischen den Fronten. Darüber hinaus gab es während „des gesamten Krieges […] an allen Fronten informelle Vereinbarungen zwischen den Gegnern, nicht oder nur in ritualisierter und dadurch berechenbarer Form aufeinander zu schießen“.91 Im September 1915 begannen Paul Colsmans Zweifel zu wachsen, ob ein Sieg noch erreichbar sein würde. An seinen Freund Peter Conze schrieb er: „In der Zeitung las ich heute Morgen daß dein hoher Chef Dr. Solf [Staatssekretär im Reichskolonialamt, CG] guten Mut für unser zukünftiges Kolonialreich hat. Möchten seine Hoffnungen in Erfüllung gehen! Vielleicht sehen wir dich dann noch als ViceKönig von Afrika? Friede & ein ehrenvoller das ist der Wunsch, den wir wohl alle heute an erster Stelle im Herzen haben.“92

Ein ehrenvoller Friede, kein großer Sieg, wurde im Brief als Hoffnung formuliert. Das Amt eines afrikanischen Vizekönigs als ironischer Wunsch an den Freund und Unterstaatssekretär im Reichskolonialamt kann als Hinweis auf die schwindende Zuversicht auf ein siegreiches Kriegsende gelesen werden. Die wachsende Familienbelastung durch den Krieg hielt Paul Colsman 1915 in einer Notiz in seiner Familienchronik fest: „4. Dezember 1915 Hans Colsman, Kommandeur einer Fuhrparkkolonie, Hans, Sohn, Vizewacht. U 7, Adolf Vorwerk, Oberltnt., Ul 5 IX Kavalleriedivision, Eduard Andreas Colsman, Peter Colsman, Ltn. Res. Art., Erwin Colsman, Ltn Ul 7, im Urlaub mit ihren Familienangehörigen abends bei uns versammelt.“93

Der eigene Sohn Wilhelm befand sich zu dieser Zeit an der Westfront, er fiel während eines Granatangriffs im April 1917. Nach dem Tod des Sohnes formulierte der Vater Paul Colsman in seinen Briefen keinen Hass, sondern Erschöpfung und die Hoffnung auf einen, wenn auch möglichst von deutscher Seite siegreichen, Friedensschluss: „Möchte uns allen in deinem neuen Lebensjahr in nicht zu ferner Zukunft der von allen guten Deutschen ersehnte Frieden, von uns vorgeschrieben, geschenkt werden.“94 Aber im Herbst 1918 schrieb er 90 91 92 93 94

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Archiv Landfried, Sign. 41, Peter Lucas Colsman an Tony Colsman, 29. Oktober 1914. Jahr, Weihnachten 1914, S. 957, S. 959. Archiv WHC, Sign. 2, Paul Colsman an Peter Conze, 12. September 1915. Archiv WHC, Sign. 46, Familienchronik Paul und Elisabeth Colsman, 1880–1931. Archiv WHC, Sign. 2, Paul Colsman an Peter Conze, 13. September 1917.

an Peter Conze nur noch: „Wann nimmt der Kampf ein Ende? Momentan kann man sich von der Zukunft & den kommenden Dingen schlechter ein Bild denn je machen! Wie gerne sähe man das Ende!“95

3.2 Die Kriegsbereitschaft der bürgerlichen Jugend „Die Kriegsbegeisterung beschränkte sich weitgehend auf die Großstädte, und dort erfaßte sie vor allem die besseren Schichten, insbesondere die gebildete Jugend.“96 Auch die Freiwilligenmeldungen, selbst wenn sie weniger zahlreich waren als in der Presse dargestellt, lassen sich überwiegend auf bürgerliche und mittelständische Jugendliche zurückführen. Bürgerliche Eltern, sofern sie den Krieg nicht als euphorisierendes Ereignis einer nationalen Erhebung interpretierten, sondern als bitteren Tribut und Pflichterfüllung für das Vaterland, hatten es schwer, gegen die Freiwilligenmeldungen ihrer Söhne Einwände zu erheben, ohne dass dies nach Kritik und Distanzierung von der vaterländischen Sache geklungen hätte und nach egoistischer Zurückhaltung der eigenen Söhne von der Teilnahme an der ‚großen vaterländischen Aufgabe‘. Wenn aber, wie vorausgehend dargestellt, weder die Arbeiterschaft noch die ländliche Bevölkerung nachhaltig von einer Kriegseuphorie affiziert waren und auch deren Jugend bei den Freiwilligenmeldungen deutlich unterrepräsentiert war, wenn darüber hinaus auch viele bürgerliche Erwachsene auf den Kriegsausbruch zurückhaltender reagierten als die bürgerliche und mittelständische Jugend, stellt sich die Frage nach Ursachen, Motiven und Zielrichtung der Begeisterung dieser Jugendlichen. Eine ‚vaterländische Erziehung‘ hatte in allen Schulformen stattgefunden; diese betraf sowohl die Unterrichtsinhalte als auch den schulischen Kontext wie Liedgut, Schulfeiern (Sedantag, Kaisers Geburtstag) und Ausflüge zu patriotischen Denkmälern mit begleitenden Ansprachen. Vormilitärische Ambitionen hatte es darüber hinaus besonders in den Volksschulen gegeben, die Formierung der Schülerschaft mit militärähnlichen Kommandos zur Aufrechterhaltung von Unterrichtsdisziplin, als Kommunikationsstil und zur Körperschulung wurde in Handreichungen für den volksschulischen Unterricht wiederholt empfohlen.97 Allerdings zeichnen neuere Studien inzwischen ein differenzierteres Bild von Erziehungs- und Unterrichtsvorgaben in den Volksschulen des Kaiserreichs. Die Konzepte der Führungspraktiken im Klassenzimmer, so beispielsweise Caruso, seien zugunsten eines Liberalismus verändert worden, durch welchen entwicklungs- und lernunterstützende Tätigkeiten des Lehrers und Aktivierungen der Selbsttätigkeit der Schülerinnen und Schüler in den Vordergrund getreten seien,98 ohne dass damit allerdings Verän95 96 97 98

Archiv WHC, Sign. 2, Paul Colsman an Peter Conze, 11. September 1918. Verhey, Der „Geist von 1914“, S. 190f. Vgl. Stübig, Die preußisch-deutsche Armee, S. 292ff. Caruso, Biopolitik im Klassenzimmer, S. 474ff.; vgl. auch Geißler, Schulgeschichte in Deutschland, S. 227ff.

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derungen am Ziel der Erzeugung vaterländischer Handlungsorientierungen bei den Schülerinnen und Schüler beabsichtigt gewesen wären. Die Inhalte des Deutsch-, Religions- und Geschichtsunterrichts sollten diese ebenso erzeugen helfen wie die Schulfeiern und Ausflüge. Der „Folkloremilitarismus“99 und die Programmatik vaterländischer Identitätsbildung waren in den Volksschulen genauso präsent wie in den Höheren Schulen.100 Die mangelnde Kriegsbegeisterung der Volksschulklientel 1914, also der Arbeiterjugend und der Landjugend, wirft deshalb nochmals die methodische Frage auf, inwieweit in der Forschung zur ‚autoritären Schule‘ und zur schulischen Militarisierung im Kaiserreich durch Wirkungsannahmen, abgeleitet aus den Zielsetzungen öffentlicher Dokumente, die differenzierte Realität der schulischen und außerschulischen Sozialisation verdeckt wird.101 Aus der mangelnden Begeisterung der Volksschulklientel ergibt sich darüber hinaus die Frage, warum dies bei einem Großteil der bürgerlichen Jugend, Mädchen wie Jungen, anders war. Waren es sozialdemokratische Eltern und die Einbettung der Sozialisation in ein solches Milieu, oder auch, bei der katholischen Arbeiterschaft und auf dem Land, in ein religiöses Milieu mit Kirchenbindung und entsprechenden Vereinen, die eine Kriegseuphorie 1914 verhinderten oder mindestens erschwerten? Und beförderte eine Sozialisation in konservativen oder nationalliberalen bürgerlichen Elternhäusern eine kriegsbegeisterte Stimmung bei den Jugendlichen? Zumindest im Fall der Unternehmerfamilie Colsman spricht nichts dafür. Vielmehr dominierten unter den älteren Unternehmern Pflichtbewusstsein und ein Stück weit Fatalismus, aber keine Euphorie angesichts des Krieges. Zur Erklärung der Kriegsbegeisterung der bürgerlichen Jugend, die bislang zwar konstatiert, aber noch wenig erforscht worden ist,102 spielen meines Erachtens insbesondere die Länge und die Struktur der Jugendphase derjenigen Jugendlichen, welche die höheren Schulen und die Universitäten besuchten bzw. nach einem höheren Schulbesuch weitere Ausbildungsstationen anschlossen, eine zentrale Rolle. Dadurch befanden sie sich zum Teil bis weit über das Mündigkeitsalter hinaus in Abhängigkeit von ihren Eltern.103 Bürgerliche Jugendliche, sowohl Mädchen wie Jungen, wurden auch sehr viel länger und intensiver als ihre Altersgenossen aus der Arbeiterschaft oder aus bäuerlichen 99 100

Vogel, Nationen im Gleichschritt, S. 285. Das Militär selbst beurteilte die möglichen militarisierenden Wirkungen von Erziehung und Unterricht allerdings zurückhaltend. Vgl. zu Schule und Militär Geißler, Schulgeschichte in Deutschland, S. 249ff., S. 259ff. 101 Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel VI über Einjährige, Militär und Männlichkeit, Teilkapitel 1 und 3. 102 Vgl. Audoin-Rouzeau, Kinder und Jugendliche, S. 137. 103 Thomas William Taylor und Dolores L. Augustine haben mit Bezug auf familiale Generationskonflikte im Bürgertum des deutschen Kaiserreichs argumentiert, dass diese vor allem auf verlängerte Bildungs- und Ausbildungsgänge bürgerlicher Jugendlicher und langfristige Abhängigkeiten vom Elternhaus zurückzuführen seien. Vgl. Augustine, Patricians and Parvenus, S. 92; Taylor, The Crisis of Youth in Wilhelmine Germany, S. 36ff., S. 190ff.

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Milieus in altershomogenen Gruppen sozialisiert. Nicht nur verbrachten sie viel mehr Zeit in der Schule und in Schulklassen, sondern sie besaßen auch weit mehr Freizeit, die sie wiederum überwiegend in altershomogenen Peer Groups verbrachten. Die Meldung als Kriegsfreiwilliger und die damit verbundene patriotische Euphorie vieler männlicher bürgerlicher Jugendlicher kann – so meine Forschungshypothese – mit ihrem noch unsicheren gesellschaftlichen Status verknüpft werden: Eine gegenüber anderen sozialen Klassen generell längere Jugendphase, langandauernde Abhängigkeiten vom Elternhaus bis ins junge Erwachsenenalter, eine noch nicht gesicherte berufliche Zukunft und noch wenig eigene soziale Verantwortung, beispielsweise für eine Familie, ermöglichten die Interpretation des Krieges als Aufbruch in eine der zivilen Erwachsenenwelt unbekannte Dimension. Dieser zunächst nur imaginierte neue „Erfahrungsraum“ konnte auf vielfältige Weise mit der eigenen Jugendlichkeit zu einem neuen „Erwartungshorizont“ verknüpft werden:104 Jugendliche konnten sich als Soldaten in der Position fühlen, welche bislang die arbeitenden männlichen Erwachsenen ausgefüllt hatten; das Vaterland war in ihrem Bewusstsein von ihrer Tätigkeit im Kampf und von ihrem Erfolg abhängig. Der Kriegsdienst konnte für sie auch Emanzipation von der Erwachsenenwelt bedeuten, er konnte romantisches Abenteuer und einen kampfbetonten jugendlichen Männlichkeitsentwurf darstellen.105 Jugendliche konnten den Krieg schließlich auch als Gegenwelt zur bürgerlichen Lebensform, ihrem bisherigen Sozialisationskontext, interpretieren, als Ausbruch aus der Bürgerlichkeit und anschließenden Neubeginn. Wie Verhey ausführt, konnte der innerhalb jugendlicher Peer Groups ausgeübte Druck zur Meldung als Kriegsfreiwilliger erheblich sein;106 zu vermuten ist, dass dies aufgrund jugendlicher Selbstpräsentationen und Handlungsorientierungen wie den vorausgehend skizzierten geschah, ohne dass dabei die Handlungsorientierungen des Elternhauses eine wichtige Rolle spielen mussten. Auch die bürgerliche Jugendbewegung, sowohl der Wandervogel als auch andere jugendbewegte Gruppen, welche der wilhelminischen Gesellschaft und der modernen Lebenswelt der Großstädte stets kritisch gegenübergestanden hatten, zeigte sich überaus bereit, den Weltkrieg nicht nur als vaterländische Pflicht, sondern auch als ‚große Fahrt‘, als Aufbruch in eine neue Zeit und als jugendbewegte, körperliche wie geistige Bewährung zu interpretieren. Die bürgerliche Jugendbewegung stellte eine beträchtliche Zahl an Kriegsfreiwilligen. So hatten sich von rund 10.000 Soldaten aus dem Wandervogel während des Weltkriegs etwa 4.000 zu Kriegsbeginn freiwillig gemeldet.107 Nicht zuletzt 104

Vgl. zur Verbindung von Erfahrungen und Erwartungen Koselleck, ‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘. 105 Vgl. Audoin-Rouzeau, Kinder und Jugendliche, S. 137; Verhey, Der „Geist von 1914“, S. 171f. 106 Vgl. Verhey, Der „Geist von 1914“, S. 173. 107 Vgl. Fiedler, Jugend im Krieg, S. 38, S. 43; Bias-Engels, Zwischen Wandervogel und Wissenschaft, S. 181ff.

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wollten die Jugendbewegten im Kriegsdienst vorbildhaft auf die Gesellschaft einwirken, also letztlich das im Krieg realisieren, was die Friedensgesellschaft ihnen verwehrt hatte.108 Literarisch wird die Hauptfigur Ernst Wurche in Walter Flex’ „Der Wanderer zwischen beiden Welten“ (1917) verklärend als ein solcher Wandervogel geschildert. Trotz seiner Jugend (er ist Student) bereits als Persönlichkeit vollkommen ausgereift, hoch gebildet und stets die Balance zwischen Gefühl und Verstand, Empathie und kämpferischer Entschlossenheit wahrend, ein Lebensmodell der Balance auch in der Ausnahmesituation des Krieges realisierend, ist er ein Vorbild für die ihm als jungem Offizier untergebenen älteren Mannschaftssoldaten und begreift den Krieg für sich als existentielle, positive Erfahrung. Der Tod an der Front nimmt dieser Figur nichts mehr, sie ist bereits vollendet.109 Angesichts des bevorstehenden oder eingetretenen Kriegsausbruchs ließen sich, so ist zu vermuten, Generationsverhältnisse und Statuszuweisungen durch die bürgerlichen Jugendlichen neu interpretieren und zum Teil, sofern sie Soldaten wurden, tatsächlich verändern. Auch für die Erwachsenen wandelten sich die Generationsbeziehungen mit dem Fronteinsatz der Jugendlichen. Söhne waren nun nicht mehr nur Söhne, sondern auch Verteidiger des Vaterlands mit entscheidenden Aufgaben für Staat und Gesellschaft. Angesichts der klassenbedingt unterschiedlichen Verhaltensweisen von Jugendlichen bei Kriegsausbruch sind Annahmen einer erfolgreichen Militarisierung und Sozialisation in autoritären, obrigkeitsstaatlichen Kontexten nicht plausibel, selbst wenn staatliche und militärische Ansätze und Absichten dazu vorlagen. Im Fall der bürgerlichen Jugendlichen helfen auch die politischen Orientierungen der Elternhäuser zur Erläuterung nicht weiter. Vielmehr wird man Erklärungen generell eher in sozialisationshistorischen Analysen zur Jugendphase in den unterschiedlichen sozialen Klassen finden können.

3.3 Kriegserfahrungen der jüngeren Generation: Interpretationen im Austausch mit der ‚Heimatfront‘ Bei Kriegsausbruch 1914 meldeten sich aus der Unternehmerfamilie vier Jugendliche freiwillig: die drei Söhne Peter Lucas Colsmans, Peter Lucas (1892– 1917), Hermann Helmuth (1893–1962) und Erwin Eduard (1896–1962), und Hans Colsman (1896–1977), der Sohn Johannes Colsmans. Zum Kriegsdienst 1914 einberufen wurden aus der Familie drei Reserveoffiziere: Johannes Colsman (1868–1922), Wilhelm Colsman (1888–1917) und Eduard Andreas Cols-

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Vgl. zur Interpretation des Weltkriegs durch die Jugendbewegung 1914 Fiedler, Jugend im Krieg, S. 35f., S. 40f. 109 Vgl. Flex, Der Wanderer zwischen beiden Welten, S. 7ff., S. 22ff., S. 35ff., S. 82ff.

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man (1885–1955).110 1916 meldete sich Paul Colsman jun. (1898–1922) freiwillig zum Kriegsdienst. Wilhelm Colsman und Peter Lucas Colsman fielen 1917 in Frankreich; Johannes, Paul jun., Hermann Helmuth, Erwin, Eduard Andreas und Hans Colsman überlebten den Kriegsdienst. Alle hatten sich mehrere Jahre lang als Soldaten an der Ost- oder Westfront befunden. Für die männlichen Jugendlichen an der Front war der Krieg eine Fundamentalerfahrung, welche sie mit den Eltern und den Geschwistern, die keine Soldaten waren, nicht teilen konnten. Die ausführlichen Kriegsbriefe, welche beispielsweise Wilhelm (1888–1917) und Paul Colsman jun. (1898–1922) ab 1914 nach Hause schrieben und die häufig mehr als vier eng beschriebene Seiten umfassten, versuchten in der möglichst genauen Schilderung von Unterkunft, Gefechtsstand, Essensversorgung und alltäglichen Abläufen etwas von der Kriegserfahrung den Eltern, der Schwester Elisabeth (1892–1976) und dem jüngsten Bruder Udo (1903–1989) zu vermitteln.111 Da für diese Familie ein dichter Briefwechsel aus der Kriegszeit vorliegt, wird insbesondere an ihrem Beispiel analysiert, wie sich jüngere und ältere Generation zum Krieg verhielten und über ihn austauschten, und welche Interpretationen des Kriegs bei Ausbruch, während und kurz nach dem Krieg vorgelegt wurden. Zunächst ist auffällig, dass in den Briefen der jugendlichen Kriegsteilnehmer Hinweise auf die Schrecken der Front weitgehend fehlten. Vielmehr dominierten harmlose Alltagsbeschreibungen und Umschreibungen von Ereignissen und Erfahrungen,112 welche die körperlichen und psychischen Belastungen des Stellungskrieges ebenso verbargen wie die Entbehrungen und die beständig drohende Todesgefahr im Fronteinsatz: „Mit dem grössten Vergnügen und ausgezeichnetem Appetit habe ich mittlerweile Dein selbstgebackenes Küchlein und Deine Marmelade etc verzehrt. Für dieses ausserordentliche liebenswürdige Zeichen Deines Gedenkens möchte ich Dir hiermit auf das aller herzlichste danken! Kam der Kuchen mir doch gerade ausserordentlich gelegen, da wir augenblicklich nicht immer genügend Brot zur Verfügung haben, um unsern Hunger vollauf befriedigen zu können. Von Erwin hatte ich zuletzt am 9. Januar einen Brief von ungeahnter Länge. Er berichtete genau wie Helmuth und er Weihnachten, Sylvester und Neujahr verbracht hatten. Dass sie nun jetzt nach Russland geschickt worden sind ist ja

110

Über die Kriegsteilnahme der drei Söhne Emil Colsmans, Heinrich (1878–1954), Emil Theodor (1885–1951) und Rudolf (1891–1916), ist wenig bekannt, außer dass Rudolf Colsman seit 1916 nach einem Gefecht an der Ostfront als vermisst galt. 111 Ähnliches zeigt Molthagen in einer Auswertung von Feldpostbriefen, vgl. Molthagen, Das Ende der Bürgerlichkeit, S. 156ff. 112 Das war offenbar typisch für die von der Front geschriebenen Feldpostbriefe des Ersten Weltkriegs. Vgl. dazu Reimann, Die heile Welt der Stahlgewitter, der diese Veralltäglichung und Verschleierung der Kriegsschrecken an Briefen von britischen und deutschen Soldaten, welche diese nach Hause schrieben, zeigt und als „diskursives Schweigen“ zur Eigentlichkeit des Krieges und als „Entlastungsdiskurse“ bezeichnet (ebd., S. 131f.).

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sehr ärgerlich! Hoffentlich ist es dir oder Onkel Lucas gelungen, Erwin u. Helmuth irgendwo zu treffen.“113

Paul Colsman jun. schrieb zu Pfingsten 1917 von der Westfront an die Eltern und Geschwister: „Ihr werdet sicher ebenso oft an mich gedacht haben wie ich an Euch, nur daß Ihr Euch wahrscheinlich Vorstellungen gemacht habt, die viel schlimmer sind, als es in Wirklichkeit ist […] nur ganz vereinzelte Schüsse hört man […] sonst ist es überall wie im Frieden.“114 Literarisch spielte Erich Maria Remarque, der selbst als Soldat an der Westfront gewesen war, auf diese Praxis in seinem 1929 erschienenen Antikriegsroman „Im Westen nichts Neues“ an. Im Roman erscheint die Gefechtspause nach einer grauenhaften Abnutzungsschlacht als – trügerische – Idylle: „Und rund um uns liegt die blühende Wiese. […] wir lesen Briefe und Zeitungen und rauchen, wir setzten die Mützen ab und legen sie neben uns […] Leicht hätte es sein können, daß wir heute nicht auf unsern Kästen säßen, es war verdammt nahe daran.“115 Die Sozialisationskontexte der jungen Weltkriegssoldaten waren trotz gegenläufiger Schilderungen in den Briefen, welche ein Bild von Normalität in die Heimat vermittelten, vollständig anders als diejenigen der ‚Heimatfront‘; es war eine ständige Außeralltäglichkeit. Der Erste Weltkrieg war zudem in vielerlei Hinsicht ein „Jugendphänomen“.116 So wurde wegen der hohen Verluste das Mobilisierungsalter in Frankreich von einundzwanzig Jahren im Kriegsverlauf bis auf achtzehn Jahre abgesenkt. Auch das Deutsche Reich reduzierte das Mobilisierungsalter nach und nach auf achtzehn Jahre, gegen Kriegsende wurden in der deutschen Armee sogar noch jüngere Soldaten eingesetzt. Durch die Mobilisierung der vielen Reservistenjahrgänge waren die europäischen Armeen zwar altersmäßig durchmischt, aber die jüngeren Soldaten wurden häufig in den gefährlicheren Frontabschnitten eingesetzt und waren überrepräsentiert beim Feindkontakt. „Weniger der eigentliche Krieg, sondern das Sterben im Krieg besaß ein jugendliches Aussehen.“ An der Westfront fielen in den Schlachten an der Somme fast 28% und im Stellungskrieg von Verdun rund 22% der jungen französischen Soldatenjahrgänge.117 Da die „Zahl der Verletzten noch drei- bis vier Mal höher war als die der Getöteten“, kamen fast alle jungen französischen Soldaten mit Tod und Verwundung in Kontakt.118 Die bei Fiedler aufgeführten hohen Verlustzahlen bei den rund 10.000 Wandervogel-Soldaten von gut einem

113 114 115 116 117

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Archiv Landfried, Sign. 41, Hans Colsman an seine Großtante Tony Colsman, 4. Februar 1915. Archiv WHC, Sign. 28, Paul Colsman jun. an die Eltern und Geschwister, 27. Mai 1917. Remarque, Im Westen nichts Neues, S. 14f. Audoin-Rouzeau, Kinder und Jugendliche, S. 135. Zahlen nach Audoin-Rouzeau, Kinder und Jugendliche, S. 135f. Zitat S. 136. Zu den militärischen Kriegsverlusten im Ersten Weltkrieg vgl. als Überblick Overmans, Kriegsverluste, S. 664f. Vgl. Audoin-Rouzeau, Kinder und Jugendliche, S. 136, Zitat ebd.

Viertel gegenüber einem Achtel bei den älteren Soldaten im Verlauf des Krieges weisen darauf hin, dass es im deutschen Heer wohl ähnlich war.119 Wie in den vorausgehend zitierten Briefen der Väter aus der Unternehmerfamilie gab es auch in den Briefen der Söhne von der Front keine aggressiven Formulierungen gegenüber den britischen, russischen oder französischen Soldaten. Vielmehr blieb der Feind, wie auch in der Realität des Graben- und Stellungskrieges,120 in den Briefen unsichtbar und ungreifbar. Verhey gibt Aussagen jugendbewegter Kriegsfreiwilliger wieder, welche schon ihre Freiwilligenmeldungen nicht als Bereitschaft zu kriegerisch-aggressiver Feindbekämpfung gedeutet hatten, sondern als Möglichkeit einer Charakterschulung, welche Opferwilligkeit und Tapferkeit fördern und als Haltungen in der Person dauerhaft verankern würden.121 Hinter dem Kollektivsingular des „Franzmanns“ verschwand in den Feldpostbriefen der Söhne der einzelne französische Soldat als Feind, wie hier bei Paul Colsman jun. Der ‚Franzmann‘ wurde auch als Kollektivbezeichnung nicht mit negativen Beschreibungen verbunden: „An der Front herrschte große Ruhe auch wurden wir durch keinen Schuß vom Franzmann gestört.“122 An den Briefen des bei Beginn seines Fronteinsatzes Achtzehnjährigen – er war vom Frühjahr 1917 bis zum Waffenstillstand im November 1918 an der Westfront eingesetzt – wird deutlich, dass seine Selbstpräsentationen und Handlungsorientierungen, die er gegenüber den Eltern und Geschwistern formulierte, insbesondere dazu dienten, diese nicht zu ängstigen und zu verstören. Seine Freiwilligenmeldung 1916 war darüber hinaus nicht von Kriegsbegeisterung getragen gewesen, sondern von Überlegungen, welche Strategie eine Überlebenswahrscheinlichkeit erhöhen könnte. Im September 1916 hatte er an seine Eltern geschrieben: „Die Ausmusterung meines Jahrgangs findet bestimmt Ende September oder Anfang Oktober statt. Es ist mein brennender Wunsch noch vorher zu versuchen beim Feld Artillerie Regiment 14 als Fahnenjunker [Offizieranwärter, CG] einzutreten. Vielleicht gelingt es, daß ich angenommen werde. Andernfalls werde ich voraussichtlich doch zur Infanterie gezogen. Das müßt Ihr Euch nun mal überlegen. Der Krieg dauert doch noch einige Zeit und wenn ich mich für 3 Jahre verpflichten muß, so findet sich doch schon ein Ausweg bei Friedensschluß loszukommen. […] Als Fahnenjunker der Artillerie habe ich es jedenfalls im Feld bedeutend besser als wie als gezogener Musketier.“123

119 120 121 122

Vgl. Fiedler, Jugend im Krieg, S. 43. Vgl. Ziemann, Soldaten, S. 156f. Vgl. Verhey, Der „Geist von 1914“, S. 174. Archiv WHC, Sign. 40, Paul Colsman jun. an die Eltern und Geschwister, 27. Oktober 1917. Auch Reimann stellt bei der Analyse deutscher wie britischer Soldatenbriefe aus dem Ersten Weltkrieg das Fehlen von Feindbildern fest, ebenso das weitgehende Fehlen der großen, den Krieg interpretierenden Begriffe wie Vaterland, Nation oder Deutschland in den Briefen von der Front. Vgl. Reimann, Die heile Welt der Stahlgewitter, S. 140. 123 Archiv WHC, Sign. 40, Paul Colsman jun. an die Eltern, o. D., im September 1916.

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Freiwilligenmeldungen besaßen generell den Vorteil, sich die Waffengattung selbst wählen zu dürfen. Die Jugendlichen, die sich im späteren Verlauf des Krieges freiwillig meldeten, taten dies meist, um durch die Wahl der Waffengattung eine Aussicht auf einen womöglich etwas weniger gefährlichen Fronteinsatz zu haben; die Infanterie wurde daher nach Beginn des Krieges nur noch sehr selten gewählt.124 Für die Mutter war die bevorstehende Einberufung des zweiten Sohnes eine emotional und in ihrer Haltung zum Krieg schwierige Balance: „Sollte es sich bewahrheiten, daß die 18 Jährigen jetzt schon in die Ziehung müssen, so glaubt man doch nach den vorjährigen Erfahrungen, daß sie erst in einem Jahr etwa dran müssen und hoffe, daß für deine Ausbildung eine Zurückstellung gewährt werden wird. […] Der Gedanke der Musterung erfüllt uns alle mit großem Ernst & zeigt uns wieder, daß wir stramm unter den Kriegsgesetzen stehen, in die wir uns, mögen sie uns noch so hart ankommen, fügen müssen.“125

Im Juni 1917 schrieb Paul Colsman jun. von der Westfront zunächst beruhigend an seine Schwester Elisabeth: „Du machst Dir so schlimme Vorstellungen von meinem Dasein hier, da bist du vollständig auf dem Holzweg, alter Spitz. […] z. B. heute ging ich von 1–3 spazieren, ins Gelände um eine verlassene Haubitzstellung und das Divisionswäldchen zu knipsen. Drilljacke an, Gasmaske um, […] Apparat in der Tasche, abgesehen von der Gasmaske, wie ein Spaziergang über die Hordt [bei Langenberg, CG] nur daß ab u. zu ein Granatloch umgangen werden mußte. […] Als so gegen 3 der Franzmann anfing […] zu schießen kehrte ich um.“126

Ein Großteil des Tages verging gemäß der Schilderung von Paul Colsman jun. mit Warten und soldatischen Vorbereitungsübungen: „Ich habe es hier sehr schön die verhältnismäßige Ruhe tut einem gut, den Kanonendonner hört man nur selten. […] Den Tag über ist Arbeitsdienst, Fußexercieren, Apell und ähnliche den Soldaten verhaßte Dinge. – Wo wir hinkommen ist vollkommen unbestimmt, Elsaß, Verdun, Ypern, Osten […].“127 Nach der Verlegung in eine andere Stellung an der Westfront schilderte er den Eltern seine eigene Unterkunft regelrecht idyllisch, allerdings war diese nun schon von einem durch den Krieg weitgehend zerstörten Dorf umgeben: „Wie ich Euch kurz schon berichtete, sind wir wieder vorne. […] Die Stellung liegt am Rande eines arg zerschossenen Dorfes, an einem Abhang. Oben stehen die Geschütze und unten ist ein Laufgraben und ein Unterstand mit 5 Ausgängen der unter der ganzen Batterie hergeht. Ein Geschütz ist 200 m weit weg als Ablenkungsgeschütz. Die 3 Geschütze hier schießen nur beim Angriff. Natürlich bin ich Telefonist. Zu 3 Mann haben wir 4 Räume. Also eine 4 Zimmerwohnung. 1. Schlafraum mit 4 Betten und Platz für 124 125 126

Vgl. Audoin-Rouzeau, Kinder und Jugendliche, S. 137. Archiv WHC, Sign. 40, Elisabeth Colsman an Paul Colsman jun., 26. September 1916. Archiv WHC, Sign. 28, Paul Colsman jun. an die Schwester Elisabeth Colsman, o. D., im Juni 1917. 127 Archiv WHC, Sign. 28, Paul Colsman jun. an die Eltern, 22. Juni 1917.

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Tornister und Gepäck. 2. Dienstraum mit Telefon und was dazu gehört. 3. Wohnraum, der noch möbliert werden muß, was heute wohl fertig wird. Diese drei Räume bilden den unterirdischen Teil unserer Villa. Oben ist noch eine Art Laube mit Tisch und Bänken. […] Rechts an der Batterie vorbei geht eine Straße. Auf der anderen Seite der Straße steht ein Haus, was noch wenig zerschossen ist. Dort haust unser Koch, der Morgens und Abends dort Kaffee kocht und Mittags das Essen wärmt, was nachts auf einem Wagen herausgeschickt wird.“128

Drangen schon in diesem Brief durch die Idylle auch Aspekte von Gewalt und Zerstörung, so standen in manchen Briefen fast beiläufige Passagen zum Kriegsalltag, welche dennoch geeignet waren, den Eltern die Frontsituation sehr viel drastischer vor Augen zu führen: „Nach dem Tagesbericht [über die Kriegsereignisse, CG] könnt Ihr nicht gehen […]. Wenn wir z. B. einen Tag betrommelt [Dauerfeuer der feindlichen Artillerie, CG] werden, was einmal vorkam und wir den halben Tag unten im Unterstand sitzen müssen, […] wird unsere Meldung über die Geschütztätigkeit des Feindes doch nicht verwertet. Man ist aber nur ein winziger Teil der großen Maschine.“129

Hier wurde nicht nur die Erfahrung wiedergegeben, als Soldat lediglich Funktion in einem bürokratischen und technischen Kriegsapparat zu sein, sondern auch der Maschinenkrieg der großen Geschütze und des massenhaften Artilleriefeuers wurde angedeutet. Und schließlich existiert in einem Brief, mitten zwischen vielen Darstellungen zur Eintönigkeit des militärischen Alltags, die lange Darstellung einer Schlacht, an der Paul Colsman jun. teilgenommen hatte und welche in der „Kölnischen Zeitung“ im Oktober 1917 folgendermaßen wiedergegeben wurde: „In einem gewaltigen Vorstoß haben vereinigte Streitkräfte des österreichisch-ungarischen und deutschen Heeres den ganzen Nordflügel der Zweiten italienischen Armee über den Haufen geworfen. […] Unterdessen ist es den Franzosen gelungen, an der Aisne einen Schlag zu führen, der ihnen den Gewinn des Vorsprungs unserer Stellung von Norden her auf Laffaux brachte. Unsre Linie ist hinter den Kanal Aisne und Oise zurückgenommen worden. […] Die Bodengestaltung begünstigte die Vergasung der angegriffenen Frontteile und seines Hintergeländes, so daß unsere Mannschaften die Gasmasken überhaupt nicht mehr ablegen durften, und weder Reserven herankommen noch Munition und Verpflegung zugeführt werden konnte. […] Wir haben herbe Verluste auch an Material erlitten, und dennoch ist der strategische Zweck, der Durchbruch auf Laon, nicht vom Gegner erreicht worden. Unerschüttert stehen die Eckpfeiler des verlorenen Raumes, und aufs neue sieht sich der Gegner zum Frontalangriff gezwungen.“130

Die Niederlage der deutschen Truppen, durch die Formulierung, dass „die Eckpfeiler des verlorenen Raumes“ „unerschüttert“ stünden, nachgerade poe128 129 130

Archiv WHC, Sign. 28, Paul Colsman jun. an die Eltern, 30. Juli 1917. Archiv WHC, Sign. 28, Paul Colsman jun. an die Eltern, 29. Juni 1917. Archiv WHC, Sign. 28, Kölnische Zeitung, Erste Morgen-Ausgabe, 27. Oktober 1917, S. 1, wohl von den Eltern den Feldpostbriefen von Paul Colsman jun. (1916–1918) beigelegt, weil der Kriegsbericht auf der ersten Seite über den Frontabschnitt Auskunft gab, an dem Paul Colsman jun. Dienst tat.

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tisch verschleiert, liest sich in Paul Colsmans Darstellung sehr viel unpathetischer und ungleich brutaler: „Es regnete in Strömen und der Dreck war unbeschreiblich. Der Mantel zentnerschwer von Regen und Dreck. Wir gehen hinter den Geschützen. Man stolpert von einem Granatloch ins andere. Zeitweise bis an die Knie in Schlamm und Wasser. Schließlich erwischte ich einen Platz auf der Kanone und konnte so den letzten Teil wenigstens stehend fahren. So um 9 Uhr waren wir in Stellung. […] Unsere Feuerstellung wurde zeitweise mit den Geschossen von 3 Kalibern beschossen […] Von da ab war an eine Aufrechthalten der Telefonverbindung keine Rede mehr. […] Diese Tage waren derartig doll, daß ich die einzelnen Ereignisse nicht mehr so auseinanderhalten kann; ich schreibe, was mir noch in Erinnerung ist. Einmal mußte ich noch auf die B-Stelle. Da nie Verbindung war sagten wir Leutnant Kuhlenkampf er solle die B-stelle aufgeben. Ich mußte also los und Offz.-Stellv. Blank und den anderen Telefonisten holen. Es war ein fürchterlicher Weg. Rechts und links schlugen schwere, leichte, Gasgeschosse, Maschinengewehrgarben ein und wie ein Wunder schlängelte ich mich durch und kam wohlbehalten auf der Bstelle an. […] Die Nacht über mußte ich sitzend schlafen, da sonst kein Raum war. Am nächsten Morgen wurde es etwas ruhig und ich benutzte den Augenblick um zur Feuerstelle zu flitzen. Als ich dort ankam sah es böse aus. Seit 2 Tagen war die Battr. vollständig vergast und mehrere Leute waren schon gaskrank. […] Die nächsten Tage kamen wir nicht aus dem Gas heraus. Die Gruppe wurde vollständig zusammengeschossen und wurde erst am 21. wieder an einer anderen Stelle eingerichtet. […] Andauernd waren Steiger und ich unterwegs und jedesmal kamen wir in Feuer und Gas. Das Wetter war allerdings sehr günstig für Gas es war zeitweise Nebel so daß das Gas am Boden blieb. […] Am 20. u. 21. kamen Infanteristen von vorne die berichteten, daß die Stellung unhaltbar sei. Alle Unterstände seien durch die schweren Minen und Artilleriegeschosse eingedrückt, der Graben eingeebnet die Maschinengewehre verschüttet und kaputt. An Infanterie sei nicht mehr viel am Leben […] Gegen 5 Uhr früh begann der Franzmann ganz wahnsinnig zu trommeln auf die Infanteriegräben auf die Batterie sowie ein tolles Feuer auf das Gelände hinter den Batteriestellungen. […] Wir waren vollständig hilflos, kampfunfähig und ohne jede Verbindung. […] Am 23. nachmittags kamen wir ins Feldlazarett wo mir mein Splitter herausoperiert wurde. Erich Kehrmann, der Sohn des Langenberger Stadtsekretärs, mein früherer Wandervogelbruder, hat mich dann verbunden. […] Gleich ist Kirche u. Abendmahl. Für heute will ich schließen, nächstens mehr. Mit herzlichen Grüßen Euer Paul.“131

So unsichtbar der ‚Feind‘ als Individuum in Paul Colsmans Schilderung blieb, so existentiell war die Situation der Schlacht für ihn gewesen. Aber die Beschreibung blieb gegenüber den Eltern bei äußerlichen Ereignissen stehen, von Gefühlen wie Angst oder Wut war nicht die Rede, auch nicht von psychischer Erschöpfung. Weit deutlicher über seine Empfindungen im Krieg äußerte sich Paul Colsman jun. aber gegenüber seiner Schwester Elisabeth, zwei Wochen nachdem sein älterer Bruder an der Westfront gefallen war: „Wenn man sich mal das ‚wofür‘ klar macht, so ist man jetzt doppelt stolz auf den Bruder und das kann man auch gut; und ich, ich beneide ihn. Mit ganz anderen Gefühlen 131

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Archiv WHC, Sign. 40, Paul Colsman jun. an die Eltern und Geschwister, 27. Oktober 1917.

gehe ich jetzt ins Feld. Als Wilhelm noch lebte, dachte ich: ‚Jetzt gehst du drauf bis Du das E.K. I hast und wenn Du bei diesem Draufgehen fällst, dann ist es auch gut, dann hast du den schönsten Tod, den Du Dir wünschen kannst; die Eltern haben drei Söhne und 2 sind auch noch genug.‘ So dachte ich, als Wilhelm noch lebte. Jetzt denke ich anders. Daß ich meine Pflicht tue, ist mir selbstverständlich Ehrensache; aber mich aussetzen um Beförderungen und Ehrenzeichen zu erwerben, das werde ich nicht tun, im Gedanken an unsere Eltern. […] Wenn Wilhelm sein Seitengewehr nicht mit ins Grab genommen hat, schickt es mir bitte als Eilpaket, damit ich es weiter zum Sieg tragen kann.“132

In dem Brief mischten sich widersprüchliche Selbstpräsentationen und Handlungsorientierungen. Ein Held zu sein, als solcher ausgezeichnet zu werden und den Sieg für das Deutsche Reich mit zu erringen, hatte offenbar zunächst eine wichtige Rolle für Paul Colsmans Handlungsorientierung gespielt, aber diese veränderte sich nach dem Tod des Bruders hin auf das Ziel, den Krieg zu überleben. Eine Pflichtethik wurde entwickelt, Heldentum und heldischer Tod traten zurück. Er selbst präsentierte sich der Schwester nun als ein Soldat, welcher zwar für den Sieg des Vaterlands kämpfte, aber sich in seinem zukünftigen Verhalten gleichzeitig an der psychischen Lage der Eltern orientieren wollte. Inwiefern der ursprüngliche Wunsch, ein Kriegsheld zu werden, nicht ohnehin erst nachträglich gegenüber der Schwester konstruiert worden war, muss offenbleiben. Etwa in demselben Zeitraum schickten die Eltern dem Sohn an der Front Briefe, die einerseits Ereignisse am Heimatort und die geschäftliche Lage des Familienunternehmens darstellten, um den Kontakt zur Heimat für den Sohn zu erhalten, andererseits aber während des Krieges auch die Verpflichtung der Heimat zur Mitwirkung am Sieg des Deutschen Reiches betonten, wie hier der Vater: „Geschäftlich habe ich sehr viel zu tun. Die Kunden wollen den Kriegsverhältnissen nicht Rechnung tragen & meinen, es läge an unserem guten Willen wenn wir ihnen keine Waare schickten, dabei ist die Bahn seit dem 24. Januar für alle Stückgutsendungen gesperrt. Den schlechten Transportverhältnissen verdanke ich es auch, daß die in Berlin gekauften & bezahlten guten Sachen, von denen dir auch ein bescheidener Teil zugedacht ist, noch immer nicht angekommen sind. Wenn das Zeug nur nicht verdirbt! […] Uns fehlt im Moment Herr Meyer [Prokurist der Firma, CG] sehr. Wir müssen hier in der Planke [Kontorgebäude, CG] die Bilanz fertig machen & dann die Steuerzettel, letzteres ist eine lästige & kostspielige Arbeit; das neue Kriegssteuergesetz legt einem sehr große Kosten auf & muß natürlich studirt werden, denn sonst macht man Dummheiten. […] Morgen ist eine erste größere Feier in der Turnhalle vom Bürgerhaus. Schade, daß noch keine Siegesfeier abgehalten werden kann. Möchte der rücksichtslose U Bootkrieg uns dem Frieden näher bringen! Wenn unsere Heeresverwaltung & Regierung einen derartigen Schritt tun, dann haben sie auch mit aller Ruhe die Aussichten auf den endgültigen Erfolg geprüft & wir dürfen sicher sein, daß es gut geht. Das walte Gott! die ganze Welt 132

Archiv WHC, Sign. 83, Paul Colsman jun. an seine Schwester Elisabeth Colsman, 9. Mai 1917.

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ist in Aufregung über unser Vorgehen! – Aus dem Heimatsort ist sonst nichts Neues zu berichten.“133

Gegenüber dem Sohn an der Front formulierte Paul Colsman ein unbedingtes Vertrauen in die Regierung und die militärische Führung des Deutschen Reiches und die Hoffnung auf einen Sieg. Angesichts des Kriegsverlaufs zwischen 1914 und dem Beginn des Jahres 1917, den auch die Heeresberichte nur teilweise beschönigen konnten, stellt sich die Frage, woher er dieses Vertrauen nahm oder ob hier nicht eine bewusste Zusprache an den Sohn vorlag, den Mut nicht zu verlieren. Des Vaters Hoffnung auf einen umfassenden Sieg und einen entsprechenden Friedensschluss durch den U-Boot-Krieg sollte sich zudem rasch zerschlagen. Im Januar 1917 hatte Kaiser Wilhelm II. einen „uneingeschränkten U-Boot-Krieg“, beginnend mit dem 1. Februar 1917, angeordnet. „Das veranlaßte den US-Präsidenten Woodrow Wilson am 3. Febr. zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen.“134 Am 6. April 1917 erklärten die USA dem Deutschen Reich den Krieg. Schon 1915 hatten Paul Colsmans Äußerungen gegenüber Freunden bezüglich eines deutschen Siegs anders geklungen als die Verlautbarungen in den Briefen an seine Söhne an der Front.135 In den Briefen an die Söhne ist von Zweifeln so gut wie nichts zu lesen, sondern vielmehr vom ‚Durchhalten‘ und von der Erwartung eines langen Ringens für einen hoffentlich doch noch kommenden Sieg. 1917 hatte die Mutter dem ‚Durchhalten‘ zudem noch eine weitere Bedeutung hinzugefügt – sie bezog es nun auch auf das bürgerliche Lebensmodell der Balance. Da Paul Colsman aufgrund des fortgeschrittenen Alters der beiden anderen Teilhaber Andreas und Adalbert Colsman (beide starben 1917) und aufgrund des Kriegseinsatzes seines jüngeren Bruders Johannes und seines eigenen ältesten Sohnes das Familienunternehmen faktisch allein leitete, hatte sein Bruder Johannes während eines Fronturlaubs bei einem Zusammensein eine Bemerkung gemacht, welche die Mutter, ebenso wie ihre eigene Antwort darauf, ihrem Sohn Wilhelm schilderte: „‚Nicht wahr‘, sagte er zu Papa, ‚wenn es dir nun zu viel wird, mußt du dich melden.‘ Da griff ich doch mal ein ‚welcher Herr täte das wohl!‘“136 Ein Lebensmodell der Balance im Krieg zu praktizieren, bedeutete für Elisabeth Colsman unbedingte Selbstbeherrschung und inneres wie äußeres Maßhalten auch unter hohen Belastungen. Unter den Bedingungen des Krieges konnte das Lebensmodell der Balance, in der Zivilgesellschaft als bürgerlich-souveräne Fähigkeit der Selbstregulierung und Handlungsautonomie konzipiert, sich offenbar transformieren in ein Ideal der Härte gegen sich selbst und gegen die Umwelt. So hing es letztlich von den lebensweltlichen Sozialisationsrahmen ab, wie das Lebensmodell der Balance interpretiert und praktiziert werden konnte; unter den Bedingungen des Krieges 133 134 135 136

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Archiv WHC, Sign. 66, Paul Colsman an Paul Colsman jun., 3. Februar 1917. Rohwer, U-Boot-Krieg, S. 933. Vgl. dazu in diesem Kapitel Teilkapitel 3.1. Archiv WHC, Sign. 69, Elisabeth Colsman an Wilhelm Colsman, 9. April 1917.

lagen bürgerliches Lebensmodell und soldatisches Ideal nicht mehr weit auseinander. Gegenüber den Söhnen wurden etwa ab dem Herbst 1915 auch die großen öffentlichen Diskurse mit den entsprechenden Begriffen bemüht: Vaterland, Deutschland, und umso mehr beschworen, je länger der Krieg dauerte. An den Sohn Wilhelm, der seit über einem Jahr als Reserveoffizier an der Westfront war, schrieb die Mutter Elisabeth 1915: „[…] wie gern wir dich in unsrer Mitte daheim hätten, um einmal Geburtstag miteinander zu feiern […] Aber wie so mancher Wunsch willig zurückgedrängt wird oder auch von selbst verblaßt vor dem einen Wort: Vaterland, das immerfort in klaren Zeichen vor uns steht, so auch dieser […]. Gott schütze & bewahre dich auf allen Wegen, dein Ziel sei das Bleibende, dein Begleiter Wahrheit und Kraft, werde ein ganzer Mann!“137

Die Mannwerdung durch den Krieg verwies in dem Brief dabei auf Fähigkeiten wie die Zurückstellung eigener Ziele und die Härte gegen sich selbst. Ein Jahr später schrieb die Mutter an den Sohn einen Brief, welcher die psychologische Funktion nationaler Sinngebung noch deutlicher belegt: „Des Krieges Gesetz & Macht greift so tief in jedes Einzelnen Geschick, er kann es nur ertragen, wenn er das Wort Vaterland groß & leuchtend allem voran schreibt.“138 Als der Sohn Paul das Testament seines älteren Bruders, das dieser 1914 vor seinem Ausrücken an die Front abgefasst hatte, seinen Eltern nach dessen Tod übergeben hatte, schrieben ihm diese: „Mein lieber, guter Junge, […] Wodurch & wann hast du den Brief an uns, Wilhelm’s Vermächtnis, gefunden? Es ist uns unbeschreiblich teuer, klar & fest und die Bewegung des Gemüts verrät sich auch. […] Und noch einmal Gott geleite dich mit seinem Segen! Tapfer & treu für’s Vaterland. In inniger Liebe deine Eltern“139

Hier wurden dem jüngeren Sohn neben den Segenswünschen auch Handlungsorientierungen vermittelt, die direkt mit der Familie übergeordneten Werten wie dem Vaterland, aber auch mit Tugenden wie Treue und Tapferkeit verbunden wurden. Bemerkenswert ist allerdings, dass auch in der Kriegskorrespondenz von Seiten der Eltern keine negativen Konnotierungen der Feinde vorhanden waren. Statt der Vorstellung, einen verhassten Feind besiegen zu müssen, dominierte in allen Briefen, von Eltern- wie von Kinderseite, die Vorstellung des Krieges als einer persönlichen Bewährung und Reifung, sowohl in der Heimat als auch an der Front. Auch das Deutsche Reich befand sich in der Vorstellung der Briefschreiberinnen und -schreiber in einer solchen Bewährungsprobe. Aber diese Interpretation scheint nicht zuletzt das Ergebnis einer grundlegenden Frage gewesen zu sein, die auch durch die Regierungspropaganda ohne klare Antwort geblieben war. Wie Walther Rathenau 1917 formulierte, später Außenminister der Weimarer Republik und vormals Organisator der deutschen 137 138 139

Archiv WHC, Sign. 69, Elisabeth Colsman an Wilhelm Colsman, 26. Oktober 1915. Archiv WHC, Sign. 40, Elisabeth Colsman an Wilhelm Colsman, 22. Dezember 1916. Archiv WHC, Sign. 66, Elisabeth und Paul Colsman an Paul Colsman jun., 9. Mai 1917.

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Wirtschaft im Krieg: „Wir wissen heute noch nicht, wofür wir kämpfen.“140 Und so findet sich auch in keinem der Kriegsbriefe aus der Unternehmerfamilie Colsman eine Darlegung, mit welchem präzisen Ziel der Krieg ihrer Meinung nach eigentlich geführt wurde.141 Jeismann stellt dar, wie eschatologisch aufgeladen die offizielle Kriegspropaganda von Beginn an war, von einem ‚letzten Krieg‘, der zu führen war, war die Rede, von Erfüllung durch den Sieg und von Erlösung, aber konkrete Ziele jenseits militärischer Operationsziele, welche der Bevölkerung fassbar und sinnstiftend hätten vermittelt werden können, fehlten: „Allein der Sieg konnte, so mußten die Zeitgenossen glauben, dem Krieg noch Sinn verleihen.“142 An dem Tag, an dem er als sechsundzwanzigjähriger Reserveoffizier eines Feldartillerieregiments zum Kriegsdienst ausrücken musste, hatte Wilhelm Colsman für seine Eltern Paul und Elisabeth Colsman ein Testament verfasst: „Liebe Eltern! Solltet Ihr in die Lage kommen diesen Brief zu öffnen, so werde ich einen ehrlichen Soldatentod vor dem Feinde oder auch durch Angriff aus meuchlerischem Hinterhalt gefallen sein & hoffentlich in fremder Erde den letzten Schlaf schlafen. Ihr werdet es schwer finden, Euch damit abzufinden. Gott gebe Euch Kraft & der Gedanke, daß es mir vergönnt war, für die Größe unseres viel- & heißgeliebten Vaterlandes mein Blut zu vergießen. Ich danke Euch für all Eure Güte & Treue, die ich hoffte, Euch nun bald teilweise lohnen zu können. Es war anders bestimmt. Mein kleines Guthaben bei G. C. [Gebrüder Colsman, CG] bitte ich zum besten der Hinterbliebenen gefallener Krieger, bei Bedarf vorwiegend aus dem Arbeiterkreis von Ph. B.-F. [Ph. Barthels-Feldhoff, CG] zu verwenden. Ich hoffte, ihnen meine Lebensarbeit zu widmen, so sei dies mein letzter Gruß. Besondren Dank zum Schluß dafür, daß Ihr Euch so bemühtet, mir das Herz heute nicht schwer zu machen.“143

Wilhelm Colsman ordnete mit diesem Text nicht nur seinen Nachlass, sondern formulierte für die Eltern auch eine Einordnung und Interpretation seines möglichen Soldatentodes. Dabei fällt auf, dass auch hier der ‚Feind‘ nur unbestimmt als notwendiger Teil einer Kriegskonstellation benannt wurde. Sein Tod, so Wilhelm Colsman, sollte einer für das Vaterland sein, aber mit welchem präzisen Ziel dieses Opfer verbunden sein sollte, vermittelte der Text nicht. Das ‚Vaterland‘ stand stellvertretend für ein Kriegsziel. Das Testament formulierte jedoch zugleich ein Lebensideal, welches nicht in Krieg und soldatischer Männlichkeit aufging, sondern vielmehr eine bürgerliche Lebensform als Unternehmer im Familienbetrieb beschrieb. Trotz der Überhöhung des Soldatentodes als Opfer für das Vaterland machte der Schreiber doch deutlich, dass hier eine höhere Macht seine eigene, bürgerliche Lebensplanung durchkreuzt hatte. 140

Walther Rathenau an Leopold Ziegler, 28. Juli 1917, zit. nach Jeismann, Propaganda, S. 202. 141 Vgl. auch Reimann, Die heile Welt der Stahlgewitter, S. 141. Reimann zeigt an deutschen und britischen Soldatenbriefen, dass auch bei ihnen eigentliche Kriegsziele, jenseits einer unspezifischen Heimatverteidigung, in den Darstellungen fehlten. 142 Jeismann, Propaganda, S. 202. 143 Archiv WHC, Sign. 40, Wilhelm Colsman an die Eltern Paul und Elisabeth Colsman, 26. August 1914.

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Als der Sohn im April 1917 fiel, überlegten die Eltern zunächst eine Überführung des Leichnams, die besonders die Mutter gewünscht hatte. Der Vater Paul Colsman aber sprach sich gegenüber seiner Frau schließlich mit bemerkenswerten Argumenten dagegen aus: „Ich komme mehr & mehr zu der Auffassung, von einer Überführung in die Heimat abzusehen. Für unsere Erinnerung & Empfindung hat das Leben unseres Sohnes im Krieg einen harmonischen Abschluß gefunden. Treue Kameraden, die ihn verehrten, gaben ihm das letzte Geleit, & Gottes Sonne beschien den Grabhügel in La Malmaison ebenso freundlich, als wenn der Hügel hier auf dem Ehrenfriedhof aufgeschaufelt wäre. Die Erde ist des Herrn, das gilt auch für französischen Boden.“144

Auch wenn Paul Colsman in dem Brief den Soldatentod seines Sohnes positiv zu interpretieren versuchte, so waren seine weiteren Argumente doch nicht nur eingebettet in eine harmonische Vorstellung von Kriegskameradschaft und in die Riten eines zivilen Begräbnisses,145 sondern zeigten vor allem eine Entkoppelung von Beerdigungsort und Kriegsgegnerschaft. Der Tod des Sohnes wurde zu einer privaten und den Krieg zeitweise transzendierenden Angelegenheit umgedeutet, und in einer solchen Perspektive gab es für Paul Colsman keine feindlichen Gefühle gegenüber Frankreich. Die Trauer der Familie sollte in der Heimat zudem nicht zu einer öffentlichen Demonstration deutscher Opferbereitschaft stilisiert werden: „Wenn du zurück bist, dann wollen wir im mündlichen Austausch das Für & Wider erwägen. Mir ist der ganze Umstand hier bei der Beisetzung, Kriegerverein etc. etc. direct zuwider. An eine stille Beisetzung ist hier im Ort nicht zu denken!“146 Die Überführung des Leichnams unterblieb schließlich. Kurz vor dem Tod des ältesten Sohnes hatte die Mutter im April 1917 an diesen geschrieben: „Mein lieber Wilhelm, […] ich weiß wohl, daß du dich & deine Leute nicht unnötig einsetzt, aber was gelten Menschen in dem entsetzlichen Ringen. […] Es gehört jugendliche Schwungkraft dazu, wieder froh zu werden, wenn man im dritten Jahre das Leid & Elend sieht.“147 Und Paul Colsman hatte in einem Brief an seine Frau Vergleichbares formuliert, wenn er die Schrecken des Krieges nannte, auch wenn er diese mit der Hoffnung auf einen baldigen Sieg verband: „An Wilhelm muß ich viel denken. Wo soll man ihn in Gedanken aufsuchen? Man kann nur bitten: Gott schütze ihn! Das Ringen im Westen ist ganz furchtbar! […] Die Erfolge der U-Boote sind auch recht erfreulich. So dürfen wir denn, Gott sei Dank, mit Vertrauen in die Zukunft sehen. Ich kann mir nicht denken, daß dieses furchtbare Morden & Vernichten noch längere Monate andauert.“148

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Archiv WHC, Sign. 73, Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 14. Oktober 1917. Vgl. dazu Buschmann, Der verschwiegene Krieg, S. 213f. Archiv WHC, Sign. 73, Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 18. Oktober 1917. Archiv WHC, Sign. 69, Elisabeth Colsman an Wilhelm Colsman, 23. April 1917. Archiv WHC, Sign. 176, Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 27. April 1917.

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Nach dem Tod des Sohnes Wilhelm schrieb die Mutter an den jüngeren Sohn Paul dagegen einen Brief, in welchem der Tod und die Entbehrungen ganz in den Dienst an der Nation gestellt, die ‚Heimatfront‘ in diesen Zusammenhang einbezogen wurde und nicht mehr der – unrealistische – Sieg, sondern das Durchhalten dominierte: „Krieg & harte Gesetze stehen alle Morgen vor deinen Augen, und wir sehen kein Ende. Aber Hindenburg hat am 3. Oktober das rechte Wort getroffen & uns allen zugerufen: die Muskeln gestrafft, die Nerven gespannt, die Augen gerade aus, wir sehen das Ziel vor uns: Ein Deutschland hoch in Ehren, frei & groß. Gott wird auch weiter mit uns sein. Solche Worte heben uns wieder empor & machen uns opferbereit für’s Vaterland! […] Vater steht seinen Mann eigentlich für 2 Männer in dieser Zeit.“149

Nach dem Tod des Bruders schrieb auch die Schwester Elisabeth, die als inzwischen examinierte Krankenschwester in einem Kriegslazarett arbeitete, einen vergleichbar argumentierenden Brief an ihren jüngeren Bruder Paul: „Zum Schluß hat er gesagt [der Militärpfarrer am Grab des Bruders Wilhelm in Frankreich, CG], daß wir an diesem Grab eines treuen tapferen Soldaten schwören wollen durchzuhalten und zu siegen. Lieber Paul, das wollen und müssen wir nun alle, jeder an seinem Teil, wir wollen uns die Hand darauf geben und versuchen einander zu helfen wenn es geht. […] Die ersten Tage hier zu Hause sind natürlich schwer, und man kann sich schwer in den Gedanken des ‚nimmermehr‘ fügen.“150

Eltern, deren Söhne fielen, und Geschwister, die Brüder verloren, blieben häufig traumatisiert zurück: „Die Trauer erreicht in solchen Fällen fast immer pathologische Dimensionen, alle Gedanken der Eltern werden bis zu ihrem Tode von der Erinnerung an den Verstorbenen überlagert.“151 Die Einbettung des Todes des Sohnes bzw. Bruders in ein großes nationales Projekt und in eine heroische Haltung der Überlebenden kann als Bewältigungsversuch gelesen werden. Paul Colsman jun. allerdings hatte in einem vorausgehend zitierten Brief an die Schwester formuliert, dass er nach dem Tod des Bruders vor allem den Krieg überleben wollte; Durchhalten und Siegen hatten zwar auch in seinem Brief ihren Ort, aber dies sollte nicht durch heldisches Verhalten, sondern durch reguläre Pflichterfüllung erreicht werden. Alle Briefe ließen bezeichnenderweise offen, was geschehen sollte, wenn Durchhalten, Pflichterfüllung und heroische Haltung für einen Sieg nicht ausreichen würden. Die radikale Differenz der Kriegserfahrungen zwischen den jungen Soldaten, ihren Eltern und denjenigen jüngeren Geschwistern, welche nicht an der Front gewesen waren, hat Remarque in „Im Westen nichts Neues“ (1929) zu einer Sozialisationsgeschichte der jugendlichen Soldaten des Weltkriegs verarbeitet. Zunächst habe man, so beschreibt es die Hauptfigur Paul Bäumer, ein Gymnasiast, durch die Fronterfahrungen die Autorität der Eltern- und Lehrergenera149 150 151

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Archiv WHC, Sign. 66, Elisabeth Colsman an Paul Colsman jun., 9. Oktober 1917. Archiv WHC, Sign. 66, Elisabeth Colsman jun. an Paul Colsman jun., 8. Mai 1917. Audoin-Rouzeau, Kinder und Jugendliche, S. 136f.

tion nicht mehr anerkennen können. Paul Bäumer hatte sich im Roman, von einem Lehrer getrieben, wie seine Klassenkameraden freiwillig an die Front gemeldet: „Sie sollten uns Achtzehnjährigen Vermittler und Führer zur Welt des Erwachsenseins werden, zur Welt der Arbeit, der Pflicht, der Kultur und des Fortschritts, zur Zukunft. […] Mit dem Begriff der Autorität, dessen Träger sie waren, verband sich in unseren Gedanken größere Einsicht und menschlicheres Wissen. Doch der erste Tote, den wir sahen, zertrümmerte diese Überzeugung.“152

Aus dieser Einsicht folgt für den Protagonisten die Erkenntnis, dass „nichts von ihrer Welt [der Erwachsenen, CG] übrigblieb. Wir waren plötzlich auf furchtbare Weise allein; – und wir mußten allein damit fertig werden.“ Die zerbrochene Autorität der älteren Generation wird im Roman als Aufhebung von Alterszuschreibungen thematisiert: „Wir sind alle nicht mehr als zwanzig Jahre. Aber jung? Jugend? Das ist lange her. Wir sind alte Leute.“153 Die sterbenden Jugendlichen, deren Tod im Lazarett Remarque mit erschütternder Nüchternheit schildert, die jugendlichen Regimenter, die, kaum an der Front, von feindlichen Luftgeschwadern dezimiert werden,154 die Hilflosigkeit gegenüber der übermächtigen Wirkung der Panzer der Entente-Mächte sowie der lang andauernde Fronteinsatz führen im Roman zu einer massiven Entfremdung der überlebenden jungen Soldaten von der Zivilwelt: „Wir werden uns nicht mehr zurechtfinden können. Man wird uns auch nicht verstehen – denn vor uns wächst ein Geschlecht, das zwar die Jahre hier gemeinsam mit uns verbrachte, das aber Bett und Beruf hatte und jetzt zurückgeht in seine alten Positionen, in denen es den Krieg vergessen wird, – und hinter uns wächst ein Geschlecht, ähnlich uns früher, das wird uns fremd sein und uns beiseiteschieben. Wir sind überflüssig für uns selbst […] – die Jahre werden zerrinnen und schließlich werden wir zugrunde gehen.“155

Remarque formulierte damit nicht nur ähnlich wie Ernest Hemingway und andere Schriftsteller das literarische Motiv der ‚verlorenen Generation‘ der jungen Weltkriegssoldaten,156 sondern er begründete es wie diese auch aus den differenten Sozialisationserfahrungen der Alterskohorten. So hatte es in Remarques Roman für die jungen Soldaten kaum Gelegenheiten gegeben, in ihrer Jugend Lebensformen auszuprobieren und Lebensideale zu entwickeln, wohingegen die älteren Soldaten, wie im vorausstehenden Zitat formuliert, zu ihren vorherigen Lebensformen und in ihre Berufspositionen zurückkehren konnten. 152 153 154

Remarque, Im Westen nichts Neues, S. 17. Remarque, Im Westen nichts Neues, S. 18, S. 20. Vgl. Remarque, Im Westen nichts Neues, S. 30ff. „Unsere Artillerie ist ausgeschossen – sie hat zu wenig Munition […]. Unsere frischen Truppen sind blutarme, erholungsbedürftige Knaben, die keinen Tornister tragen können, aber zu sterben wissen. Zu Tausenden. Sie verstehen nichts vom Kriege, sie gehen nur vor und lassen sich abschießen. Ein einziger Flieger knallte aus Spaß zwei Kompagnien von ihnen weg, ehe sie etwas von Deckung wußten, als sie frisch aus dem Zuge kamen.“ Ebd., S. 247. 155 Remarque, Im Westen nichts Neues, S. 257f. 156 Vgl. Reimann, Lost Generation, S. 684.

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Die jüngeren Alterskohorten, welche keine Fronterfahrung als Soldaten gemacht hatten, besaßen für Remarque zudem die Möglichkeit, vergleichsweise normale Sozialisationsprozesse in der Zivilwelt durchlaufen. Nimmt man Remarques literarische Darstellung als Forschungsthese auf, so wäre zu prüfen, wie stark sich diese differenten Sozialisationsprozesse und Erfahrungsräume auf Selbstpräsentationen und Handlungsorientierungen derjenigen jungen heimkehrenden Soldaten, welche vor dem Krieg noch keinen Erwachsenenstatus durch Berufstätigkeit und Familiengründung erreicht hatten, auswirkten. Eine Sozialisationsgeschichte der Kriegserfahrungen von Jugendlichen könnte damit erweitert werden zu einer alterskohortenspezifischen Sozialisationsgeschichte in der Weimarer Republik. Am Ende des Krieges machten sich auch in der Unternehmerfamilie Colsman die kriegsbedingten Erfahrungsdifferenzen zwischen den Familiengenerationen bemerkbar. Nach einem jahrelangen brutalen Abnutzungskrieg, monatelanger Beschönigung der drohenden vollständigen militärischen Niederlage im Sommer 1918 durch Regierung und Oberste Heeresleitung, dem Eingeständnis der wahren Lage durch das Gesuch um einen Waffenstillstand Anfang Oktober 1918 beim US-Präsidenten Wilson sowie mit der Aussicht auf militärisch sinnlose „Todesfahrten“ war am 30. Oktober 1918 die Rebellion der Matrosen in Kiel ausgebrochen. Anfang November schlossen sich weitere Soldaten und Arbeiter an; die Revolution war nicht mehr aufzuhalten.157 Am 9. November wurde die Abdankung des deutschen Kaisers verkündet, am 10. November ging er ins niederländische Exil, am 11. November wurde der Waffenstillstandsvertrag zwischen dem Deutschen Reich und den Siegermächten der Entente unterzeichnet. Der Sozialdemokrat Friedrich Ebert wurde Reichskanzler mit der Aufgabe, eine Nationalversammlung einzuberufen, um über die Zukunft des Deutschen Reiches zu befinden.158 Das Kaiserreich war zu Ende. Paul Colsman jun. schrieb während seines Rückmarschs von der Front am 25. November 1918 an die Eltern: „Es wäre alles ganz gut und schön wenn man nicht immer über unsere politische Lage nachdenken müßte. Die Soldatenratgeschichte ist soweit ja ganz gut und gegen die Einrichtungen die diese Leute treffen ist eigentlich nichts einzuwenden. Im Augenblick ist nur bei uns große Verwirrung da infolge der Rückständigkeit der Befehle, die durch die Reise hervorgerufen wird, ziemliche Unklarheit herrscht, ob die Befehle des Soldatenrates tatsächlich mit Hindenburg übereinstimmen. […] Was die Berliner Unruhen betrifft, so hoffe ich stark, daß es der sogenannten neuen Volksregierung gelingt den Bolschewismus mit aller Gewalt zu unterdrücken denn sonst haben wir in 14 Tagen den Feind im Land. Hoffen wir, daß uns dies erspart bliebe. Wenn es der Regierung gelingt die Na-

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Vgl. Epkenhans, Matrosenaufstand, S. 705, Zitat ebd. Vgl. die zusammenfassenden Darstellungen der Ereignisse vom Oktober und November 1918 bei Mommsen, Bürgerstolz und Weltmachtstreben, S. 810ff.; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2, S. 871ff.

tionalversammlung einzuberufen so kommen auch die bürgerlichen Parteien wieder zum Wort.“159

Seine positive Haltung zu den Maßnahmen des Soldatenrats und zur Einrichtung einer Nationalversammlung mit Beteiligung der bürgerlichen Parteien, also zu einer Demokratisierung, ging dem Vater entschieden zu weit, und er schrieb an seinen Sohn und dessen Schwester Elisabeth über solche Verlautbarungen: „Heute heißt es nun, einen Festgruß zu zimmern; das ist nicht leicht, denn trotz starker Gegenwehr wird man vom Schmerz über unser tief gesunkenes Vaterland sehr im Gemüt bedrückt. […] möchte Paul etwas vom inneren Frieden in den Festtagen nach dem rauen Kriegerleben verspüren. Der demokratische Ton seines letzten Briefes vom 15 ds. war keine reine Freude. Wir wollen uns doch nun nicht dem Wahn hingeben, daß durch die Revolution und ihre traurigen Erscheinungen alle Unterschiede in der menschlichen Gesellschaft verwischt seien & es kein Autoritätsprinzip mehr gäbe.“160

Aber einen Vorschlag, wie Niederlage und Waffenstillstand in sinngebender Weise interpretiert werden könnten, hatte der Vater auch nicht. Vielmehr führte er in dem Brief nur soziale Differenzen und ein politisches Autoritätsprinzip gegen Revolution und demokratische Bestrebungen ins Feld und appellierte an Kontinuität. In einem vier Wochen zuvor an seinen Sohn geschriebenen Brief zeigte sich seine ganze Hilf- und Ratlosigkeit, wie im Gefolge des Todes seines ältesten Sohnes und des Zusammenbruchs des Kaiserreichs, für das dieser Sohn in den Krieg gezogen war, eine Sinndeutung der Ereignisse entwickelt werden könnte und was aus ihnen folgen sollte. Unter dem Eindruck des zehn Tage zuvor geschlossenen Waffenstillstands, seiner kapitulationsgleichen Bedingungen und der begonnenen Revolution schrieb Paul Colsman an seinen Sohn: „Gott sei Lob & Dank, daß Er dich in den mancherlei Gefahren gnädig bewahrt hat, & wir wohl bald die Freude haben dürfen, dich hier im Elternhaus in die Arme schließen zu können. Kehren die Frontsoldaten auch nicht als Sieger heim, so sind sie doch unbesiegt & haben mit ihrem Leben unsere Grenzen vor feindlichen Einfällen & Verwüstungen geschützt. Der Lorbeer gebührt ihnen! Wir haben heute früh schon die Fahne mit einem großen Lorbeerkranz herausgehangen. Es kommen wahrscheinlich in den nächsten Tagen Truppen durch. Wie so ganz anders hatte man sich das Kriegsende gedacht! Noch neulich, als wir in Vohwinkel von einander Abschied nahmen, war ich guter Hoffnung, daß wir zu annehmbaren, anständigen Bedingungen Schluß machen würden. Und nun dieser plötzliche innere Zusammenbruch, & der jähe Sturz aus lichter Höhe in dunkele Tiefen. Wie hat es nur so kommen können? Die Frage stellt man sich immer wieder & findet keine Antwort.“161

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Archiv WHC, Sign. 28, Paul Colsman jun. an die Eltern, 25. November 1918. Archiv WHC, Sign. 66, Paul Colsman an die Kinder Elisabeth und Paul Colsman jun., 22. Dezember 1918. 161 Archiv WHC, Sign. 66, Paul Colsman an Paul Colsman jun., 21. November 1918.

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4. Ausblick und Forschungsperspektiven Die mangelnde Kriegsbegeisterung in Deutschland und in den anderen europäischen Staaten am Beginn des Ersten Weltkriegs kann aus heutiger Sicht nicht beruhigen. Bestürzend ist im Gegenteil, dass ihr Vorhanden- oder Nichtvorhandensein für den Ausbruch des Krieges, der zum Weltkrieg wurde, gar keine Rolle gespielt hatte. Dass sich die Staatsbürgerinnen und -bürger in Europa überwiegend in einer „Welt der Sicherheit“ (Stefan Zweig) gewähnt hatten, dass sie sich von einem technischen Fortschritt begleitet gefühlt hatten, welcher das Leben leichter machte, dass sie von einem kontinuierlich wachsenden ökonomischen Wohlstand ebenso überzeugt waren wie von einer Zunahme der Bildungschancen und der Teilhabe an der Kultur sowie der Aussicht auf eine gute Zukunft für ihre Kinder, war eine trügerische Annahme gewesen. Die Vorkriegswelt brach nach Beginn des Krieges in kürzester Zeit in ganz Europa zusammen und wurde durch Gesellschaften ersetzt, deren Fluchtpunkte der Krieg und der Sieg der eigenen Nation waren. Die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (George F. Kennan)162 bestand nicht nur darin, dass hier ein beispielloser Maschinenkrieg und bis dahin ein unvorstellbares soldatisches Massensterben stattgefunden hatte, sondern dass durch den Krieg in Deutschland eine Radikalisierung des Nationalismus und ein neuer Revanchismus mit Hass auf die Siegermächte in bis dato ungekannter Vehemenz und gesellschaftlicher Verbreitung entwickelt wurde, der nicht unmittelbar auf die Vorkriegszeit zurückzuführen ist.163 So konnten die Briefschreiberinnen und Briefschreiber aus der Familie Paul Colsmans weder am Beginn noch im Verlauf des Ersten Weltkriegs klar angeben, wozu dieser Krieg aus ihrer Sicht letztlich hatte geführt werden müssen. Diese Leerstelle wurde in den Briefen während des Krieges mit Begriffen wie Vaterland, Deutschland und Sieg aufgefüllt und die fehlenden Kriegsziele durch sie ersetzt. Nachdem der Krieg verloren worden war, blieben die Begriffe zurück und mussten mit neuen Bezügen versehen werden. Der vormals sinnsetzende Rahmen des Kaiserreichs, der in der Familie Begriffe wie Vaterland und Deutschland strukturiert und ihren Bedeutungshorizont eingefasst hatte, war jedoch zerbrochen. Im zeitlichen Umfeld der Unterzeichnung des Friedensvertrags von Versailles (28. Juni 1919) trug Paul Colsman in die Familienchronik ein: „2. Juli 1919 173 Stühle [Webstühle, CG] laufen. Schmachfrieden! Rohseide ist nicht zu bekommen. Linke Rheinseite gesperrt.“164 Es war das einzige Mal im Verlauf der gesamten Chronik, dass der Text die Ebene der sachlichen Er162

Vgl. zur Diskussion der Perspektive von der Urkatastrophe Reimann, Der Erste Weltkrieg – Urkatastrophe oder Katalysator, Zitat von Kennan S. 30, sowie Hirschfeld, Der Erste Weltkrieg in der deutschen und internationalen Geschichtsschreibung. 163 Vgl. zum Ersten Weltkrieg als „Zäsur in der Geschichte des Nationalismus“ Langewiesche, Nationalismus, S. 1043. 164 Archiv WHC, Sign. 46, Familienchronik Paul und Elisabeth Colsman, 1880–1931.

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eignisdokumentation verließ. Auf welches Kollektiv oder welche Institution sich die Schmach des Friedensschlusses für ihn bezog, wird erst aus den Briefen Paul Colsmans aus demselben Jahr deutlich. Es war das ‚Vaterland‘ als „imagined community“ (Benedict Anderson), welches für ihn nach dem Untergang des Kaiserreichs und dem ‚Schmachfrieden‘ weder einen angemessenen staatlichen Rahmen noch eine angemessene Position unter den anderen Nationen besaß. Paul Colsmans Briefe an Freunde schwankten im Jahr 1919 zwischen Wut, Hoffnungslosigkeit und dem Willen zu einem Neuanfang. An Peter Conze schrieb er: „Was nützen bei der Not des Vaterlands gute Wünsche für den Einzelnen & doch freut man sich dankbar, wenn alte, treue Freunde einem Gutes wünschen. Man pflegt zu sagen, es kommt nie so gut wie man hofft & nie so schlimm wie man fürchtet. Für unser Vaterland scheint der zweite Teil dieser Redensart nicht zu stimmen. So schlimm wie es gekommen ist, hat kein Mensch für möglich gehalten & wie schlimm es noch kommen wird, können wir heute vielleicht nur ahnen.“165

Dass das Kaiserreich der Vergangenheit angehörte, war für Paul Colsman jedoch eine unwiderrufliche Tatsache, ohne dass er selbst einen alternativen politischen Zukunftsentwurf hätte formulieren können. Gleichwohl bemühte er sich, das Kaiserreich und den Weltkrieg auf konstruktive Weise hinter sich zu lassen: „Ich meine auch, man sollte sich die jetzt für gute Patrioten so schwer zu ertragenden Zeiten nicht dadurch erschweren, daß man immer wieder auf die Fehler und die Unterlassungssünden der Regierenden der Vergangenheit hinweist, ich meine man sollte an der Lösung der Frage tatkräftig mitarbeiten, wie kommen wir aus dem Sumpf, in dem wir stecken, wieder heraus […]? Die Vergangenheit muß begraben werden, Neues und Gutes ist zu schaffen, trotz der zunächst dunkelen Zukunft!“166

Paul Colsman erlebte die Weimarer Republik nur kurze Zeit, im Februar 1922 starb er an einem Herzinfarkt. Sein jüngerer Bruder Johannes, der als Reserveoffizier an der Ostfront gewesen war und nach dem Krieg gemeinsam mit ihm das Familienunternehmen geleitet hatte, starb nur fünf Tage nach ihm an einer Lungenentzündung. Paul Colsman jun. überlebte seinen Vater nur wenige Monate, er starb 1922 an Krebs, möglicherweise infolge der Giftgasangriffe an der Front. Der Sohn Johannes Colsmans, Hans (1896–1977), übernahm im selben Jahr die Leitung des Familienunternehmens. In der bildungshistorischen Forschung hat der Erste Weltkrieg in seiner Bedeutung als „Jugendphänomen“ bislang noch wenig Aufmerksamkeit gefunden.167 So ist er dementsprechend nur in augenfälligen Vorfeldentwicklungen, 165 166

Archiv WHC, Sign. 2, Paul Colsman an Peter Conze, 29. Mai 1919. Archiv WHC, Sign. 74, Paul Colsman an Ringwald (Vorname unbekannt), 20. September 1919. 167 Vgl. bis dato Audoin-Rouzeau, Kinder und Jugendliche, Zitat S. 135; Schubert-Weller, „Kein schönrer Tod …“, S. 217ff.

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zum Beispiel in der Analyse von Militarisierungsprogrammatiken für Institutionen der Erziehung und Bildung vor 1914, in den Blick genommen worden sowie in seinen Folgewirkungen für Schule und Unterricht, Geschlechterverhältnisse und Familiensituationen in der Weimarer Republik. Die Jahre des Ersten Weltkriegs selbst, zwischen 1914 und 1918, sind jedoch noch kaum bildungshistorisch erforscht worden. Dabei stehen für diese Zeit wichtige bildungshistorische Fragen an. Diese beziehen sich einerseits auf die auffällige Euphorie der bürgerlichen und mittelständischen Jugend (und fast ausschließlich dieser!) zu Kriegsbeginn. Hier fehlen Sozialisationsstudien, welche dieses Phänomen für die Sozialisationsinstanzen Familie, Schule und Peer Groups analysieren. In diesem Zusammenhang sind auch kulturgeschichtliche Fragen von sozialisationshistorischer Bedeutung. Welchen Sinn verliehen Jugendliche dem Krieg bei dessen Ausbruch und während seines Verlaufs? Diese Zuschreibungen waren möglicherweise nicht deckungsgleich mit denjenigen, welche die offizielle Propaganda und die Zeitungen der Erwachsenenwelt erzeugen wollten. Einige Thesen zu Sozialisationseffekten und Bedeutungszuschreibungen an den Ersten Weltkrieg durch bürgerliche Jugendliche sind in diesem Kapitel bereits entwickelt worden und müssten in weiteren Sozialisationsstudien überprüft werden. Ein weiteres wichtiges Thema ist die Sozialisation im Ersten Weltkrieg selbst. Die jugendlichen Soldaten an der Front bewegten sich über mehrere Jahre in einem Sozialisationskontext, der weder mit dem ihrer Eltern noch dem ihrer Geschwister oder Freunde, sofern diese keine Fronterfahrung besaßen, vergleichbar war. Wie sie den Kriegseinsatz erlebten und deuteten, welche Selbstpräsentationen sie als junge Soldaten entwickelten und welche Handlungsorientierungen für sie daraus im Krieg und nach der Rückkehr schließlich in der Weimarer Republik erwuchsen, wären wichtige und lohnende Fragestellungen für die Historische Bildungsforschung. Diese betreffen auch die bildungshistorische Geschlechterforschung, weil zum Beispiel heldische Männlichkeitsideale junger Soldaten durch die Erfahrung eines hochtechnisierten Krieges erheblich ins Wanken geraten konnten und in unterschiedliche Richtungen revidiert werden mussten, unter Umständen eine Kriegsversehrtheit verarbeitet werden musste oder weil Mädchen und junge Frauen an der sogenannten ‚Heimatfront‘ durch Arbeit und Berufsergreifung andere Weiblichkeitsideale entwickelten. Kriegsbriefe und weitere Quellen zu solchen Themen, das zeigen jüngere Studien,168 liegen zu vielen Tausenden in öffentlichen und privaten Archiven. Neben seiner Bedeutung für eine Bildungsgeschichte der Jugend ist der Erste Weltkrieg aber auch ein wichtiges Thema für die bildungshistorische Familienforschung. Generationsbeziehungen und Autoritätsverhältnisse in den Familien veränderten sich durch die Erfahrungen der männlichen Jugendlichen im Kriegseinsatz und durch dessen Bewertung vonseiten der jungen Soldaten und vonseiten der Eltern und der Öffentlichkeit. Inzwischen liegen einige Fa168

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Vgl. exemplarisch Ulrich, Die Augenzeugen; Reimann, Der große Krieg der Sprachen.

milienstudien vor, die zeigen, dass auch das Thema Familie und Erster Weltkrieg nicht nur auf einer breiten Quellenbasis bearbeitet werden kann, sondern dass das Thema auch vielfältigen Forschungsperspektiven Raum bietet.169 Dezidiert bildungshistorische Studien liegen jedoch bislang nicht vor, wobei insbesondere das Themenfeld Autorität und Familie in allen seinen Facetten lohnenswert erscheint. Auch das bürgerliche Lebensmodell der Balance müsste angesichts einer möglichen kriegsbedingten Annäherung des Modells an eine soldatische Programmatik und Praxis der Härte in seiner Bedeutung als Bildungsideal und Bildungspraxis der Person weiter diskutiert werden. Wenn der lebensweltliche Sozialisationsrahmen, beispielsweise zu Kriegszeiten mit entsprechenden Auswirkungen auf Gesellschaftsstrukturen und Sozialisationsinstanzen, dieses bürgerliche Modell einer maßvollen Selbstbeherrschung deutlich verwandeln konnte, stellt sich die Frage, was solche veränderten bürgerlichen Praktiken der Balance bedeuteten. Waren sie Möglichkeiten, die Souveränität der Person in belastenden Umwelten zu bewahren, oder bedeuteten sie die Aufhebung einer Bildungsidee und Bildungspraxis, welche die Person selbst, und nicht ihre Härte und Funktionstüchtigkeit, in den Mittelpunkt gestellt hatten? Der Erste Weltkrieg stellt die Bildungsgeschichte noch vor weitere, insbesondere epistemologische Herausforderungen. Mit seinen gewaltigen Dimensionen verführt er dazu, ihn rückblickend für unausweichlich zu halten. Für die Personen der Zeit war er das allem Anschein nach nicht gewesen. Um dieses Moment der Kontingenz zu erfassen, das dieser Krieg ebenso in sich trug wie er in der Geschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts auch seine Vorgeschichte hatte, ist es hilfreich, den Blick auf die Zeitgenossinnen und -genossen selbst zu richten und dies nicht nur auf der Ebene der großen politischen Entscheidungen zu tun, sondern insbesondere auf der Ebene der diesen Krieg erlebenden und erleidenden Bevölkerungen zwischen 1914 und 1918. Das Erschrecken, das sich bei der Lektüre der zeitgenössischen Briefe vor dem und während des Ersten Weltkriegs bei der Autorin dieses Buchs in diesem Zusammenhang einstellte, rührte daher, dass sich die historischen Briefschreiberinnen und Briefschreiber in ihrer Lebenswelt augenscheinlich sicher und geborgen gefühlt hatten; in der Unternehmerfamilie Colsman hatte bis kurz vor Kriegsausbruch niemand mit einem großen bewaffneten Konflikt gerechnet, schon gar nicht mit einem weltumspannenden, vier Jahre andauernden Krieg. Dass dieser dann dennoch plötzlich da war und dass er mit voller Wucht in das Leben so gut wie aller in diesem Buch geschilderten und zum Zeitpunkt des Krieges noch lebenden Personen eingreifen konnte, ist auch hundert Jahre später noch beängstigend.

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Vgl. exemplarisch Wierling, Eine Familie im Krieg; Molthagen, Das Ende der Bürgerlichkeit.

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VIII. Schlussbetrachtung

Das deutsche Kaiserreich und die Bundesrepublik Deutschland weisen an einem bestimmten Punkt eine erstaunlich parallele Entwicklung auf. Vergleicht man die dreiundvierzig Jahre, die das Kaiserreich von 1871 bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs bestand, mit den ersten vierzig Jahren der Bundesrepublik von 1949 bis 1989, fällt ins Auge, dass in beiden Staaten eine Schwellenzeit verdichteter und beschleunigter gesamtgesellschaftlicher Wandlungsprozesse existierte. Im Kaiserreich betrifft dies die 1890er Jahre, in der Bundesrepublik sind es die 1960er Jahre. Bis zur Jahrhundertwende 1900 hatte sich der lebensweltliche Sozialisationsrahmen des Kaiserreichs, also Politik, Sozialstruktur, Wirtschaft und Kultur, gegenüber demjenigen in den 1870er Jahren fundamental verändert, und der lebensweltliche Sozialisationsrahmen der Bundesrepublik unterschied sich in den 1980er Jahren ebenfalls gravierend von demjenigen der 1950er Jahre. Bemerkenswert ist, dass im Zusammenhang dieser Entwicklungen in beiden Staaten neue Selbstpräsentationen und Handlungsorientierungen bei den jüngeren Alterskohorten entstanden, welche sich von denen der älteren Alterskohorten deutlich abhoben. So gesehen waren fundamentale Veränderungen für das Kaiserreich ebenso prägend wie für die Bundesrepublik. Es scheint deshalb angebracht, bildungshistorische Forschungen zum Kaiserreich, vergleichbar mit denjenigen zur Bundesrepublik Deutschland, entweder auf bestimmte Zeitabschnitte zu konzentrieren, beispielsweise auf das Kaiserreich der 1870er Jahre oder auf dasjenige der Jahrhundertwende, oder aber die große Dynamik der Entwicklungen im Kaiserreich konzeptionell so zu berücksichtigen, dass für längere Zeiträume spezifischere, die Dynamik einschließende Fragestellungen gewählt werden. Für historische Sozialisationsstudien zum Kaiserreich ist die Berücksichtigung von dessen lebensweltlicher Dynamik von geradezu fundamentaler Bedeutung. Die Rekonstruktion der jeweiligen Möglichkeitsräume der Persönlichkeitsentwicklung, also die Erfassung und Analyse der konkreten Sozialisationskontexte von Personen wie beispielsweise einer Schule, führt nur dann zu überzeugenden Resultaten, wenn deren Zugehörigkeit zu größeren Zusammenhängen (eine Schule gehört beispielsweise zu einem Schultyp im Bildungssystem) einbezogen und gleichzeitig die Dynamik der Lebenswelt im deutschen Kaiserreich erfasst wird. Auf diese Weise können dann allerdings ‚the people’s connections‘ zum Ausgangspunkt von Forschungen werden, die mehr im Blick haben als einzelne Biographien, nämlich mit neuen Fragestellungen, Forschungskonzepten und Quellen Beiträge zur Analyse historischer Epochen zu leisten. Die in diesem Buch in sechs sozialisationshistorischen Kapiteln untersuchten Personen waren Bürgerinnen und Bürger des deutschen Kaiserreichs im 485

doppelten Sinne: Sie waren zunächst seine Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. In ihren Selbstpräsentationen, Handlungsorientierungen und Weltdeutungen spiegelte sich die Entwicklungsdynamik des Staats, in dem sie lebten. Sie waren seine Bürgerinnen und Bürger aber auch in einem sozialstrukturellen und kulturellen Sinn. Während sozialstrukturelle Fragen in den Buchkapiteln nur am Rande eine Rolle spielen, sind kulturhistorische Fragen der Bürgerlichkeit ausführlich diskutiert worden. Die in der historischen Forschung nach wie vor intensiv geführte Debatte über die Bürgerlichkeit des deutschen Bürgertums ist in diesem Buch mit dem Konzept eines bürgerlichen Lebensmodells der Balance und seiner analytischen Erprobung aufgenommen worden. Das Konzept besitzt den großen Vorteil, nicht über Werte und Normen, also spezifische Inhalte, sondern über Verhaltensformen und Denkweisen konzeptualisiert zu sein. Damit entfällt das Problem, sich wandelnde bürgerliche Werte und Normen mit der Frage der Weiterexistenz oder der Auflösung von Bürgerlichkeit verknüpfen zu müssen. Das bürgerliche Lebensmodell der Balance, so wie ich es bei den historischen Personen in diesem Buch analysieren konnte, war eine Integrationsleistung jeder einzelnen Person, welche die Felder der Lebensführung selbstständig in eine individuelle Balance bringen musste. Dazu gehörten innere Selbstbeherrschung und äußeres Maßhalten sowie ein Bewusstsein von der Notwendigkeit der Deutung und Ordnung der Welt durch die Person. Zugleich erforderte das Lebensmodell der Balance unterschiedliche Konkretisierungen, die sich an den jeweiligen Sozialisationsrahmen und konkreten Sozialisationskontexten ausrichteten. Es fand daher im Kaiserreich bei den untersuchten Personen, sowohl bei Männern als auch bei Frauen, verschiedene Auslegungen und Umsetzungen. Das Lebensmodell der Balance war eine eigenständige bürgerliche Sinnordnung, mit der selbstbestimmt denkenden und handelnden Person als ihrem Mittelpunkt. Die Person musste aber im Bewusstsein der in diesem Buch untersuchten bürgerlichen Erwachsenen zu einer solchen Lebensführung der Balance erst befähigt werden. Eine intensive familiale Erziehung war darum eine zentrale Voraussetzung und fand in den untersuchten Familien während des gesamten Kaiserreichs eine hohe Aufmerksamkeit bei Müttern wie bei Vätern. Auch wenn die in diesem Buch untersuchten Personen den Bildungsbegriff selbst nur höchst selten verwendeten und ihn in der Regel auf Bildungsprozesse im Bildungssystem und auf Kenntnis und Teilhabe an der Hochkultur einschränkten, lässt sich das Lebensmodell der Balance, das die Personen einübten und ihren Kindern vermittelten, dennoch als Bildungsideal und -praxis verstehen. Bildung als Verknüpfung von Ich und Welt in möglichst vielfältiger und interaktiver Weise, wie es Wilhelm von Humboldt in seiner „Theorie der Bildung des Menschen“ 1794/95 formuliert hatte, war nichts anderes als die Befähigung und Fähigkeit der Person, ein Leben in der Balance zu führen. Nicht Maßlosigkeit, sondern Selbstregulierung und -kontrolle, nicht Leidenschaft(en), sondern durch Bildung regulierte Empfindungen sowie ein selbstbestimmter Ausgleich zwischen Verstand und Gefühl, zwischen eigenen Zielen und dem Allgemeinwohl, sollten die Person bestimmen. In einer solchen Perspektive 486

lässt sich Bildung dann auch empirisch in ihrer Entwicklung im Sozialisationsprozess und in ihrer Präsentation und Praxis in zeitgenössischen Texten, insbesondere in Selbstzeugnissen wie Briefen und Tagebüchern, untersuchen. Wie Personen vor dem Hintergrund des bürgerlichen Lebensideals ausbalancierter Lebensführung ihre Lebensform konzipierten und organisierten, wie sie soziale Felder aufeinander bezogen, wie sie in diesen Feldern jeweils agierten und sich präsentierten und welche Handlungsorientierungen und Weltdeutungen sie formulierten, lässt sich ebenso analytisch erfassen wie die Sozialisationsprozesse in Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter, welche zu einem solchen Lebensmodell führten oder es unter Umständen scheitern und kritisch revidieren ließen. Das Lebensmodell der Balance blieb bis zum Ende des Kaiserreichs 1918 bürgerliche Orientierung und Lebenspraxis der untersuchten Personen. Diese Lebensmodell müsste in weiteren Studien allerdings, da es explizit als Möglichkeit der Selbstorganisation in pluralen Umwelten entstanden war und darauf ausgerichtet blieb, hinsichtlich seiner Bedeutung und Gestaltung in Kontexten, die solche Pluralität und Freiräume nicht aufwiesen, diskutiert und historisch weiter untersucht werden. Wenn der lebensweltliche Sozialisationsrahmen, beispielsweise zu Kriegszeiten wie dem Ersten Weltkrieg, dieses bürgerliche Modell der Selbstbeherrschung und des Maßhaltens wie gezeigt auch an soldatische Ideale und Praktiken der Härte und des Funktionierens heranführen konnte, stellt sich die Frage nach seinen Potentialen und Krisen: War eine Annäherung des Lebensmodells der Balance beispielsweise an soldatische Ideale eine Chance, die Souveränität der Person in belastenden Umwelten zu bewahren, oder bedeutete dies die Aufhebung einer Bildungsidee und Bildungspraxis, welche die Person, ihre Selbstgestaltung und ihre sinndeutende und ordnende Kraft, in den Mittelpunkt gestellt hatte? Die in diesem Buch untersuchten Personen konnten durch eine äußerst dichte Quellenlage, die insbesondere aus mehreren tausend Briefen sowie weiteren zeitgenössischen Materialien aus dem Kaiserreich besteht, in ihren Sozialisationsprozessen differenziert analysiert werden. Briefe enthalten die Möglichkeit, historische Personen direkt bei der Kommunikation mit ihren Zeitgenossinnen und Zeitgenossen beobachten zu können. Sie präsentierten sich in Briefen so, wie sie in einer bestimmten historischen Zeit, beispielsweise in den 1880er Jahren oder an der Jahrhundertwende, gesehen werden wollten. Daher führen Briefe zu den Weltdeutungen, Selbstpräsentationen und Handlungsorientierungen der Schreiberinnen und Schreiber in ihrer Zeit, anstatt wie Autobiographien und Erinnerungen historisch überlagerte Rekonstruktionen von Erfahrungen wiederzugeben. Erinnerungen an die Schulzeit im Kaiserreich, die beispielsweise erst in den 1950er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland verfasst worden sind, sagen nichts über diese Schulzeit, aber sehr viel über deren spätere autobiographische Einordnung und Interpretation. Briefe sind in der Historischen Bildungsforschung allerdings bislang wenig als Quellen reflektiert und genutzt

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worden. Dabei besitzen sie ein kaum zu überschätzendes Potential für die bildungshistorische Forschung. Die Ergebnisse der Sozialisationsstudien in diesem Buch sind zum einen geeignet, neue bildungshistorische Forschungsfelder und -perspektiven zum deutschen Kaiserreich zu eröffnen, zum anderen ermöglichen sie, bisherige Forschungspositionen kritisch zu hinterfragen. So konnten zunächst neue Forschungsfelder erschlossen werden: Diese betrafen die frühkindliche Erziehung und Sozialisation in der Familie, die schulische und außerschulische Sozialisation bürgerlicher Jungen und Mädchen, insbesondere in Einrichtungen wie den Schülerpensionen und Mädchenpensionaten, die militärische Sozialisation junger Männer im Einjährig-Freiwilligen-Jahr und schließlich die Kriegssozialisation im Ersten Weltkrieg an der Front und in der Heimat. Auch für die bürgerlichen Ehebeziehungen konnten umfangreiche und dichte Quellenkonvolute erschlossen und als langfristiges Sozialisationsgeschehen zwischen den Ehepartnern ausgewertet werden. Bezüglich der drei leitenden Analyseperspektiven Globalisierung/Nationalbewusstsein, Geschlecht und Autorität sind die in den Kapiteln erzielten Ergebnisse am Schluss jedes Kapitels kritisch reflektiert und mit Forschungsperspektiven für die Historische Bildungsforschung verknüpft worden. Sie werden deshalb an dieser Stelle nur überblicksartig zusammengefasst. Insgesamt lässt sich als Revision bisheriger Forschungspositionen zum Kaiserreich festhalten, dass die in diesem Buch beschriebenen Sozialisationsprozesse durch eine Matrix der Autorität mit begleitender Untertanensozialisation nicht zu erfassen sind. Vielmehr verliefen die dargestellten Sozialisationsprozesse während des Kaiserreichs unter pluralen und dynamischen Rahmenbedingungen, welche durchgehend auf Selbstständigkeit ausgerichtet waren und unterschiedliche Lebensmodelle der Balance ermöglichten. Auch wenn Diskurse, Praktiken, Anerkennungsweisen von und Konflikte um Autorität noch ein erkennbares Gewicht in den analysierten Sozialisationsprozessen besaßen, so waren diese im Prozess des Aufwachsens doch verbunden mit emotionaler, auch körperlicher Nähe zu den Eltern und wurden im Verlauf des Kaiserreichs durch eine wachsende Partnerschaftlichkeit zwischen Eltern und Kindern abgeschwächt. Partnerschaftlichkeit war auch das zentrale Kennzeichen der Ehebeziehungen, die kaum ein hierarchisches Gefälle zwischen den Ehepartnern aufwiesen, sondern gesprächsorientiert und weitgehend symmetrisch strukturiert waren. Die Analyse der Mädchensozialisation in der Familie und in Mädchenpensionaten und Haustochterstellen ergab schließlich, dass sich die bürgerlichen Mädchen im Verlauf des Kaiserreichs von geschlechtsspezifischen Rollenerwartungen emanzipieren konnten. Die Jungen wiederum, die im Kaiserreich fast sämtlich einen großen Teil ihrer Schulzeit in Schülerpensionen außerhalb des Elternhauses verbrachten, durchliefen dort Sozialisationsprozesse, die ebenfalls zu ihrem Selbstbewusstsein als autonome, weltdeutende und -ordnende Personen beitrugen. Der von der bildungshistorischen Forschung vielfach betonte Sozialmilitarismus im Kaiserreich ließ sich in den Sozialisationsstudien dieses Buchs dagegen nicht feststellen. Im Gegenteil erstaunt die geringe Bedeutung des Militärs 488

für die untersuchten männlichen Personen. Das Einjährig-Freiwilligen-Jahr war in militärischer Hinsicht für die jungen bürgerlichen Männer bedeutungslos. Vielmehr war das Militärjahr ein Jahr weitgehender Freiheit, was viel zu dessen späterer positiver Erinnerung beitrug. Auf ihre Lebensform als Unternehmer hatte das Militär trotz ihres späteren Status als Reserveoffiziere keinen Einfluss, weder in der Selbstpräsentation noch in den Handlungsorientierungen. Die fachhistorische Forschung hat das deutsche Kaiserreich in den letzten Jahren verstärkt unter internationalen und globalen Aspekten analysiert. Sie hat die Entwicklung des Deutschen Reiches mit derjenigen anderer europäischer Staaten in verschiedener Hinsicht verglichen und hat das Kaiserreich in Forschungsfragen mit transnationalen Dimensionen einbezogen. Dabei zeigte sich nicht nur, dass das Kaiserreich weit weniger ein europäischer Sonderfall war als angenommen, sondern zudem, wie auch in diesem Buch in vielen Kapiteln thematisiert, dass Globalisierung und internationale Kontakte während des Kaiserreichs in wachsendem Maß zu den Sozialisationserfahrungen gehörten. Ein- und Auswanderung, international berichtende Zeitungen, die neue ‚Weltpolitik‘ des Deutschen Reiches, Kolonialausstellungen und Kolonialwarenläden usw. veränderten für die deutsche Bevölkerung auf vielen Ebenen die Erfahrungsräume und Handlungsorientierungen. Größere Auslandsreisen oder gar regelmäßige längere Auslandsaufenthalte waren dagegen nur für den Adel und das vermögendere Bürgertum möglich: Die in diesem Buch untersuchten Unternehmer und ihre Familien reisten vielfach und für längere Zeit ins Ausland, vornehmlich nach London und in andere britische Großstädte, aber auch in weitere europäische Groß- und Hauptstädte sowie nach New York. Sie waren ‚global people‘, welche internationale Geschäftskontakte pflegten und durch Verwandtschaften, private Freundschaften und Netzwerke mit dem Ausland verbunden waren. Dennoch entwickelten auch sie im Verlauf des Kaiserreichs ein Nationalbewusstsein. Dieses war in seiner Bedeutung und seiner Stärke allerdings abhängig vom Zeitpunkt der Geburt, so dass erst bei den jüngeren Familiengenerationen, welche das Deutsche Reich bereits als Sozialisationsrahmen ihrer Jugend oder ihres jungen Erwachsenenalters erfuhren, ein Selbstverständnis als ‚Deutsche‘ entstand, statt als Preußen innerhalb eines neuen, wenn auch hoch geschätzten staatlichen Gebildes. Bei den älteren Familienmitgliedern, welche deutlich vor der Reichsgründung geboren worden waren, war ein Bewusstsein, ‚Deutsche‘ zu sein, nicht vorhanden und stellte sich auch nach der Reichsgründung nicht ein. Vielmehr musste ein solches Selbstverständnis erst im Sozialisationsprozess der Jüngeren im Kontext des Kaiserreichs entwickelt werden. Aber auch bei ihnen entstand kein aggressiv-kriegerischer Nationalismus, sondern in ihrer Vorstellung existierte vielmehr ein Wettbewerb zwischen den großen europäischen Staaten, der als Ausgangspunkt von politisch-diplomatischen Verhandlungsprozessen verstanden wurde und durch das Geschick der deutschen Regierung zum Vorteil des Deutschen Reiches gelöst werden sollte. Die enge Verflechtung von Beruf und Lebensform mit dem Ausland ließ die in diesem Buch untersuchten Unternehmer und ihre Ehefrauen den Ausbruch des Ersten Weltkriegs am 1. 489

August 1914 daher auch nicht jubelnd begrüßen, sondern als einen Tribut interpretieren, den man der politischen Errungenschaft des Nationalstaats leistete. Warum dies bei den bürgerlichen männlichen und weiblichen Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowohl der in diesem Buch untersuchten Familien als auch gesamtgesellschaftlich anders war, nicht aber bei den männlichen und weiblichen Jugendlichen in der Arbeiterschaft oder in der Landbevölkerung, kann bislang mangels Forschung noch nicht genau beantwortet werden. Da zu diesem Aspekt auch für die im Buch untersuchten Jugendlichen keine ausreichend aussagekräftige Quellenlage besteht, sind im Kapitel über den Ersten Weltkrieg nur erste Überlegungen dazu angestellt worden, beispielsweise hinsichtlich der Länge und Struktur der Jugendphase in Deutschland. Schließlich sind im Verlauf des Buchs Themenfelder sichtbar geworden, welche in der Historischen Bildungsforschung zum Kaiserreich, aber auch über diese Epoche hinaus, bislang kaum Beachtung gefunden haben. Dies betrifft erstens die jugendliche Erotik und Sexualität. Viele der in diesem Buch untersuchten Jungen und Mädchen besaßen Erfahrungen im Umgang mit dem anderen Geschlecht vor der Ehe. Ein ‚Verhältnis‘ zu haben war nicht zuletzt für viele der hier untersuchten bürgerlichen Mädchen in ihrer Jugend selbstverständlich, auch wenn die Briefe keine Auskunft darüber geben, wie weit dabei die erotischen Erfahrungen reichten. Für die Mediziner und Pädagogen des Kaiserreichs jedenfalls war jugendliche Sexualität spätestens seit der Jahrhundertwende ein wichtiges Thema. Das Bürgertum des Kaiserreichs war zudem, zumindest legen dies die Sozialisationsstudien dieses Buchs nahe, weit weniger körperfeindlich als vielfach angenommen, das zeigen sowohl die brieflichen Aussagen der Ehepartner zu Berührungen und Küssen und ihr Wunsch nach körperlicher Nähe der Ehefrau oder des Ehemanns als auch der elterliche Austausch über den Umgang mit Säuglingen und Kleinkindern und der dabei deutlich werdende körperliche Kontakt mit diesen. Zweitens ist der Erste Weltkrieg (wie Kriege überhaupt) noch kaum bildungshistorisch erforscht worden. So ist die auffällige Kriegseuphorie bürgerlicher Jugendlicher 1914 bisher noch keiner bildungshistorischen Analyse unterzogen worden; ebenso wenig ist bislang der Erste Weltkrieg als Sozialisationserfahrung junger Soldaten analysiert worden. Auch die Auswirkung der Jahre zwischen 1914 und 1918 auf Familienstrukturen und -beziehungen, nicht zuletzt unter der Perspektive auseinandertretender Sozialisationskontexte und Sozialisationserfahrungen zwischen jungen Soldaten und ihren Familien, wäre ein wichtiges Forschungsthema für das beginnende 20. Jahrhundert, ebenso wie die durch den Krieg in vielfacher Weise in Frage gestellte elterliche Autorität und die neuen Männlichkeits- und Weiblichkeitsentwürfe von Jungen und Mädchen an der Kriegsfront und an der sogenannten Heimatfront. Drittens wird in der bildungshistorischen Forschung für das deutsche Kaiserreich meist zwischen einer avantgardistischen Lebensreformbewegung inklusive der Jugendbewegung und Reformpädagogik und einer autoritären Mehrheitsgesellschaft und Politik mit entsprechenden Sozialisationsprozessen in 490

staatlichen Schulen unterschieden. Trotz einer seit vielen Jahren erfolgenden kritischen wissenschaftlichen Aufarbeitung insbesondere der Reformpädagogik hat sich bislang wenig an der Beurteilung von deren Rahmenbedingungen, also des Kaiserreichs, als eines autoritären und gesellschaftlich rückständigen Staats geändert. Dagegen zeichnet sich durch die konkreten historischen Sozialisationsstudien des vorliegenden Buchs eine andere Bewertung der lebensweltlichen Rahmenbedingungen des Kaiserreichs ab. Für die bildungshistorische Erforschung des Kaiserreichs wäre es demnach wesentlich, weniger die reformpädagogischen Schulen und ihre sehr kleine Schülerklientel zu untersuchen als sich verstärkt den öffentlichen Regelschulen und damit den vielen Millionen Kindern und Jugendlichen, die diese besuchten, und ihren Sozialisationsprozessen zuzuwenden. Weil dieses Buch als eine Reihe von ‚case studies‘ konzipiert worden ist, können die erzielten Ergebnisse nicht ohne weiteres verallgemeinert werden. Sie können aber zum Ausgangspunkt einer bildungshistorischen Forschung werden, welche das Kaiserreich als Epoche noch einmal mit neuen Forschungsperspektiven, Quellen und Themen in den Blick nimmt und die bildungshistorischen Grundfragen nach Erziehungs-, Bildungs- und Sozialisationsprozessen an diese Wendezeit der deutschen Geschichte neu stellt.

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Anlagen

Die Personen Johann Wilhelm Colsman ∞ 1830 Emilie Bleckmann (1800–1856) (1808–1885) Kinder: Wilhelm (1831–1902) Maria (1833–1916) Alwine (1834–1835) August (1836–1922) Johannes (1838–1839) Adalbert (1839–1917) Hermann (1842–1928) Ernst (1844–1857) Emilie (1844–1917) Emil (1848–1942) Hulda (1850–1935)

Eduard Colsman (1812–1876) Kinder:

∞ 1837 Sophie Wagener (1816–1882)

Laura (1839–1906) Andreas (1840–1917) Eduard (1842–1913) Sophie (1843–1913) Hulda (1845–1918) Carl (1846–1915) Elisabeth (1850–1927) Lydia (1853–1857) Peter Lucas (1854–1925) Gertrud (1855–1923) Martha (1857–1925)

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Wilhelm Colsman-Bredt ∞ 1856 Adele Bredt (1831–1902) (1836–1893) Kinder: Johann Wilhelm (1857–1862) Adele (1859–1907) Paul (1861–1922) Charlotte Emilie (1863–1927) Laura Maria (1865–1956) Johannes (1868–1922) Clara (1872–1932)

Emil Colsman (1848–1942) Kinder:

∞ 1877 Mathilde Schniewind (1853–1933)

Heinrich (1878–1954) Emilie („Milly“) (1880–1954) Emil Theodor (1885–1951) Mathilde („Thilda“) (1887–1968) Marie-Helene (1889–1960) Rudolf (1891–1916)

Paul Colsman (1861–1922) Kinder:

∞ 1888 Elisabeth Barthels (1866–1965)

Wilhelm (1888–1917) Elisabeth (1892–1976) Adele Charlotte (1894–1895) Paul (1898–1922) Udo (1903–1989)

Peter Lucas Colsman (1854–1925) Kinder:

∞ 1891 Antonia („Tony“) Klincke (1870–1946)

Peter Lucas (1892–1917) Hermann Helmuth (1893–1962) Erwin (1896–1962) Toni Lydia (1904–1997)

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Die Teilhaber des Unternehmens Gebrüder Colsman im Kaiserreich Teilhaber von–bis Eduard Colsman d. Ä. (1812–1876) Carl Colsman (1815–1894) Wilhelm Colsman-Bredt (1831–1902) Adalbert Colsman (1839–1917) Andreas Colsman (1840–1917) Eduard Colsman d. J. (1842–1913) Paul Colsman (1861–1922) Johannes Colsman (1868–1922)

1836–1876 1839–1873 1856–1902 1870–1917 1870–1917 1873–1913 1891–1922 1902–1922

Unternehmensgründungen von Söhnen im Kaiserreich, die nicht Teilhaber von Gebrüder Colsman wurden Emil Colsman (1848–1942) 1873 Seidenbandweberei gemeinsam mit einem Associé, Colsman & Seyffert, Langenberg

Peter Lucas Colsman (1854–1925) 1881 Seidentuchweberei Peter Lucas Colsman, Langenberg

Hermann Colsman (1842–1928) 1879 Seidentuchweberei gemeinsam mit Gottfried Conze, Conze & Colsman, Langenberg

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Quellen und Literatur

Editorische Notiz Die Hervorhebungen in Zitaten entsprechen, soweit nicht anders angegeben, den Hervorhebungen im Original; sie werden durch Kursivdruck wiedergegeben. In den Zitaten sind Orthographie und Syntax der Autorinnen und Autoren beibehalten worden. An manchen Stellen sind Groß- und Kleinschreibung schwer zu unterscheiden gewesen, so dass nach der für die Briefschreiberin oder den Briefschreiber typischen Schreibweise sowie nach dem Sinnbezug entschieden werden musste. Auslassungen oder Ergänzungen in Zitaten werden durch […] oder [Text] gekennzeichnet. Briefe aus den Archiven ohne Datierung durch die Briefschreiberinnen und Briefschreiber sind nach Inhalt und Position in den Briefwechseln im Datum eingeschätzt worden und werden entsprechend ausgewiesen.

I. Ungedruckte Quellen 1. Firmen- und Familienarchiv Gebrüder Colsman, Essen-Kupferdreh (FFA) Firmenarchiv 2.51, Lagerbuch. Beteiligung an verschiedenen Unternehmen, 1876–1902. 2.51a, Gewinn- und Verlustbeteiligungen der Teilhaber, 1794–1922. 4.8, Inventarium, 1837. 4.13, Inventarium, 1852. 4.14, Inventarium, 1855. 4.18, Inventarium, 1864. 4.21–4.29, Inventarien, 1873–1910. 4.30, Übersicht über Geschäftsbilanzen, 1810–1882. 4.35, Bilanzkonten, 1895–1908. 4.37, Bilanzkonten, 1855–1891. 4.81, Webstuhlverzeichnisse, 1905–1932. 5.10, Geschäftsbriefe an Gebrüder Colsman, 1817–1879. 5.31, Reisebriefe von Paul Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt und andere, 1886–1887. 5.71, Kundenregister, 1900–1919. 4.100, Gesellschaftsverträge im Unternehmen Gebrüder Colsman, 1794–1921. 9.27, Aufzeichnungen von Johann Wilhelm Colsman d. J./Johannes Colsman u. a. zur Firmengeschichte Gebrüder Colsman (Aufzeichnungen zur Firmengeschichte). 9.34, Johann Wilhelm Colsman d. J./Otto Meigen u. a., Geschichte der Firma Gebrüder Colsman in Langenberg/Rhld., 1852–1925 (Firmengeschichte Gebrüder Colsman).

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Familienarchiv B4g48, Haushaltsrechnungen Wilhelm Colsman-Bredt und Adele Colsman, 1858–1886. B4g52, Briefe von Wilhelm Colsman-Bredt, 1849–1901. B4g53, Briefe von Familienangehörigen an Wilhelm Colsman-Bredt, 1846–1895. B4g54, Briefe von Adele Bredt an Maria Esch, 1849–1855. B4g55, Briefe von Adele Colsman und Wilhelm Colsman-Bredt an die Eltern und Schwiegereltern Emil und Adelheid Bredt, 1852–1883. B4g57–60, Briefwechsel Wilhelm Colsman-Bredt und Adele Colsman, 1857–1893. B4g62, Briefe aus dem Freundes- und Bekanntenkreis an Wilhelm Colsman-Bredt und Eduard Colsman, 1857–1902. B4g242, Briefe von Paul Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 1884–1891. B4j71, Chronik des Kränzchens, handschriftliche Aufzeichnungen, 3 Bde., 1826–1926.

2. Privatarchiv Wilhelm und Helga Colsman, Velbert-Langenberg (Archiv WHC) Sign. 2, Briefe von Paul Colsman an Peter Conze, 1878–1922. Sign. 17, Zeugnisse und Briefe Wilhelm Colsman-Bredt, 1842–1879. Sign. 21, Lebensbilder der Vorfahren. Aufzeichnungen von Udo Colsman über seine Eltern Paul und Elisabeth Colsman, o. J. Sign. 22, Briefe von Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 1898. Sign. 23, Briefe von Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 1876–1897. Sign. 24, Militärpapiere Wilhelm Colsman-Bredt, 1853–1862. Sign. 28, Briefe von Paul Colsman jun. an die Familie, 1916–1918. Sign. 33, Militärunterlagen und staatliche Auszeichnungen Paul Colsman, 1900–1918. Sign. 34, Tagebuch und Briefe Paul Colsman jun., 1916. Sign. 37, Abnahmebuch und Vermögensaufstellung Paul Colsman, 1901–1907. Sign. 39, Briefe und Dokumente Wilhelm Colsman-Bredt, 1844–1870. Sign. 40, Briefwechsel Familie Paul Colsman im Ersten Weltkrieg, 1914–1918. Sign. 46, Familienchronik Paul und Elisabeth Colsman, 1880–1931. Sign. 49, Tagebuch Paul Colsman, 1876–1884. Sign. 50, Briefe von Adelheid Bredt an ihre Tochter Adele Colsman, 1856–1882. Sign. 51, Briefwechsel Paul und Elisabeth Colsman mit ihren Kindern und Eltern, 1884– 1911. Sign. 52, Emilie Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 1845–1865. Sign. 57, Briefe von Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 1889–1911. Sign. 64, Wilhelm Colsman-Bredt und Adele Colsman, Notizen auf der Hochzeitsreise, 3 Hefte, September 1856. Sign. 66, Briefe von Paul und Elisabeth Colsman an Paul Colsman jun., 1917–1918. Sign. 69, Briefe von Paul und Elisabeth Colsman an Wilhelm Colsman, 1914–1917. Sign. 70, Briefe von Paul und Elisabeth Colsman an Wilhelm Colsman, 1907–1910. Sign. 72, Unterlagen der Kaiserswerther Diakonie zu Wilhelm Colsman-Bredt und Paul Colsman, 1870–1922. Sign. 73, Briefe von Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 1917–1919. Sign. 74, Briefe von Paul Colsman an Ringwald (Vorname unbekannt), 1915–1920. Sign. 83, Einzelbrief von Paul Colsman jun. an seine Schwester Elisabeth Colsman, 9. Mai 1917. Sign. 103, Zeitungsartikel betreffend Paul Colsman, 1920–1922.

497

Sign. 139, Briefe von Emilie Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt, 1859–1879. Sign. 140, Briefe an Elisabeth Colsman, 1893. Sign. 142, Briefe von Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 1871–1880. Sign. 145, Briefe von Paul Colsman und anderen an Wilhelm Colsman-Bredt und Adele Colsman, 1879–1886. Sign. 148, Briefe von Elisabeth Barthels an Paul Colsman, 1887. Sign. 149, Briefe von Paul Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt und Adele Colsman, 1883–1884. Sign. 150, Briefe von Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 1891–1894. Sign. 151, Briefe von Philipp und Bertha Barthels an Elisabeth Barthels, 1882–1883. Sign. 152, Briefe von Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 1887–1888. Sign. 156, Briefe von Elisabeth Colsman an Paul Colsman, 1898. Sign. 157, Briefe von Elisabeth Colsman an Paul Colsman, 1889. Sign. 158, Briefe von Adele Colsman an Paul und Elisabeth Colsman, 1876–1893. Sign. 160, Briefe von Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 1881–1882. Sign. 164, Briefe von Elisabeth Colsman an Paul Colsman, 1900. Sign. 168, Briefe von Wilhelm Colsman-Bredt an Verwandte, 1861; Briefe von Paul Colsman an Wilhelm Colsman-Bredt und Adele Colsman, 1876–1888. Sign. 171, Briefe von Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 1889–1890. Sign. 174, Briefe von Paul Colsman an seine Geschwister, 1877–1879. Sign. 175, Briefe von Paul Colsman jun. an Paul und Elisabeth Colsman, 1915–1916. Sign. 176, Briefe von Wilhelm Colsman-Bredt an Philipp Barthels, Unterlagen zum Pensionat von Elisabeth Barthels, 1883–1887; Einzelbrief von Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 1917. Sign. 177, Briefe von Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 1900. Sign. 183, Briefe von Wilhelm Colsman-Bredt an Paul Colsman, 1883–1884. Sign. 184, Briefe in der Familie Paul und Elisabeth Colsman, 1914–1916. Sign. 185, Briefe von Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 1900–1902. ohne Sign., Briefe von Paul Colsman an Elisabeth Colsman, 1894 und 1900.

3. Privatarchiv Dr. Albrecht Colsman und Geschwister I, Velbert-Langenberg (Archiv Landfried) Sign. 3, Briefe von Peter Lucas Colsman an seine Eltern und Geschwister, inklusive Zeugnisse, 1868–1882. Sign. 9, Zeugnisse und Unterlagen zur Einjährig-Freiwilligen-Berechtigung für Peter Lucas Colsman, 1870–1877. Sign. 10, Familien- und Freundesbriefe an Tony Klincke, 1883–1890. Sign. 13, Briefe zur Verlobung von Peter Lucas Colsman und Tony Klincke, 1891. Sign. 20, Briefwechsel Peter Lucas Colsman und Tony Colsman, 1891–1892. Sign. 23, Briefe von Tony Colsman an Peter Lucas Colsman, 1891–1894; Briefe von Tony Klincke aus der Schulzeit, 1886. Sign. 25, Briefe der Familie Klincke an Peter Lucas Colsman, 1889–1892; Briefe von Tony Colsman an Peter Lucas Colsman, 1891–1894. Sign. 26, Briefwechsel Familie Peter Lucas Colsman und Tony Colsman, 1896–1897. Sign. 27, Briefwechsel Familie Peter Lucas Colsman und Tony Colsman, 1905–1908. Sign. 28, Briefwechsel Familie Peter Lucas Colsman und Tony Colsman, 1903–1910. Sign. 41, Briefwechsel Familie Peter Lucas Colsman und Tony Colsman und Verwandte, 1913–1915.

498

Sign. 43, Briefwechsel Familie Peter Lucas Colsman und Tony Colsman, 1905–1908. Sign. 45, Briefwechsel Familie Peter Lucas Colsman und Tony Colsman, 1906–1910. Sign. 47, Schulunterlagen Helmuth Colsman, Reformrealgymnasium Langenberg; Unterlagen zu Familienfeiern, 1912.

4. Privatarchiv Adalbert Colsman Erben (Wolfgang und Sonnhild Wruck und Kinder), Velbert-Langenberg (Archiv ACE) Sign. IV,2, Briefe von Emil Colsman an Mathilde Colsman, 1889–1899. Sign. IV,4, Briefe von Mathilde Colsman an Emil Colsman, 1884–1886. Sign. IV,5, Briefe von Emil Colsman an Mathilde Colsman, 1877. Sign. IV,8, Briefe von Emil Colsman an Mathilde Schniewind, 1877. Sign. V,11, Briefe von Mathilde Schniewind an ihre Mutter Mathilde Schniewind, 1875– 1877. Sign. V,12, Briefwechsel Emil Colsman und Mathilde Colsman, 1879. Sign. V,17, Briefwechsel Emil Colsman und Mathilde Colsman, 1882–1889. Sign. V,18, Mathilde Colsman und Emil Colsman an die Eltern und Schwiegereltern Heinrich Ernst und Mathilde Schniewind, 1877–1881. Sign. VI,22, Briefe von Mathilde Schniewind an die Eltern und Briefe aus der Pensionatszeit, 1867–1870. Sign. VI,24, Briefe von Emil Colsman und Kindern an Mathilde Colsman, 1900. Sign. VII,32, Pensionatsunterlagen des Instituts Montmirail, etwa 1910. Sign. VII,33, Briefwechsel Emil Colsman und Mathilde Colsman, 1884–1886.

5. Privatarchiv Dr. Albrecht Colsman und Geschwister II, Velbert-Langenberg (Archiv Neuborn) Sign. A 8, Briefe aus dem Familien- und Bekanntenkreis an Eduard Colsman, 1864– 1875. Sign. A 9, Briefe von Verwandten und Freunden an Eduard Colsman, 1832–1861. Sign. A 10, Briefe von Autorinnen an Sophie Wagener verh. Colsman, 1834–1882. Sign. A 12, Briefe an Eduard Colsman aus dem Freundes- und Bekanntenkreis, 1829– 1870. Sign. B 1, Briefe von Eduard Colsman und Sophie Colsman an ihre Kinder, 1856–1882. Sign. B 3, Briefe der Kinder an die Eltern Eduard Colsman und Sophie Colsman, 1851– 1872.

6. Privatarchiv Dr. Albrecht Colsman, Köln (Archiv AC) Archivalien ohne Signatur: Tagebuch Eduard Colsman, 1840–1876. Tagebuch Laura Colsman, 1858–1863.

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7. Privatarchiv Eduard Colsman, Velbert-Langenberg (Archiv EC) D 2/36, Emil Colsman, Lebenserinnerungen 1848–1902, Typoskript o. J. (ca. 1910).

8. Archiv des Gymnasiums Velbert-Langenberg (Archiv GVL) Archivalien ohne Signatur: Lebensbeschreibung des Rektors Ludwig Bender einschl. Schulchronik und Schülerlisten der Rektorat- und höheren Bürgerschule zu Langenberg, 1828–1873. Chronik der höheren Bürgerschule zu Langenberg 1878ff., geführt von Rektor Dr. Meyer, einschl. Unterlagen zur Schulentwicklung bis 1911.

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IV. Bildnachweis Sämtliche Fotografien stammen aus dem Privatbesitz der Familie Colsman.

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