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German Pages 351 [352] Year 2009
Anerkennung Herausgegeben von Hans-Christoph Schmidt am Busch und Christopher F. Zum
Deutsche Zeitschrift für Philosophie Zweimonatsschrift der internationalen philosophischen Forschung
Sonderband
Anerkennung Herausgegeben von Hans-Christoph Schmidt am Busch und Christopher F. Zum
Akademie Verlag
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-05-004512-5 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2009 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Lektorat: Mischka Dammaschke Einbandgestaltung: Günter Schorcht, Schildow Satz: Veit Friemen, Berlin Druck: MB Medienhaus Berlin Bindung: Grafisches Centrum Cuno, Calbe Printed in the Federal Republic of Germany
Inhaltsverzeichnis
CHRISTOPHER F. Z U R N
Einleitung
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Teil I FREDERICK NEUHOUSER
Rousseau und das menschliche Verlangen nach Anerkennung J. M .
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BERNSTEIN
Anerkennung und Verleiblichung. Überlegungen zu Fichtes Materialismus
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MICHAEL QUANTE
„Der reine Begriff des Anerkennens". Überlegungen zur Grammatik der Anerkennungsrelation in Hegels Phänomenologie des Geistes
91
LUDWIG SIEP
Anerkennung in der Phänomenologie des Geistes und in der heutigen praktischen Philosophie
107
TERRY PINKARD
Anerkennung, das Rechte und das Gute
125
DANIEL BRUDNEY
Marx'neuer Mensch
145
ANDREAS WILDT
„Anerkennung" in der Psychoanalyse
181
Teil II N A N C Y FRASER
Zur Neubestimmung von Anerkennung
201
A X E L HONNETH
Arbeit und Anerkennung. Versuch einer Neubestimmung
213
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INHALTSVERZEICHNIS
EMMANUEL RENAULT
Das Erbe der Kritischen Theorie: Lässt Marx sich über die Anerkennungstheorie retten?
229
H A N S - C H R I S T O P H SCHMIDT AM B U S C H
Lassen sich die Ziele der Frankfurter Schule anerkennungstheoretisch erreichen? Überlegungen im Ausgang von Nancy Fräsers und Axel Honneths politisch-philosophischer Kontroverse
243
JEAN-PHILIPPE D E R A N T Y
Kritik der politischen Ökonomie und die gegenwärtige Kritische Theorie. Eine Verteidigung von Honneths Anerkennungstheorie
269
A R T O LAITINEN
Zum Bedeutungsspektrum des Begriffs „Anerkennung": die Rolle von adäquater Würdigung und Gegenseitigkeit
301
HEIKKI IKÄHEIMO
Die Realisierung unserer Bestimmung. Anerkennung als ontologischer wie auch ethischer Begriff
325
Personenverzeichnis
349
CHRISTOPHER F.
ZURN
Einleitung
Die Theorie der Anerkennung ist mittlerweile ein bewährtes und ausgereiftes philosophisches Forschungsparadigma. Sie beeinflusst Entwicklungen in anderen Bereichen der Geistes- und Sozialwissenschaften und wird gleichfalls von diesen geprägt. 1 Sie gründet in einem Kernbestand von Begriffen und Annahmen, einer Reihe scharf umrissener Grundthesen, verhältnismäßig gut gegründeter Methoden fur den Umgang mit konzeptionell offenen Fragen sowie einer Anzahl pointierter Diskussionen um bestimmte Behauptungen und Begriffe. Als einem philosophischen Paradigma fehlt ihm jedoch jener tiefsitzende Konsens - u. a. hinsichtlich anerkannter Techniken und Methoden, der Unterscheidung offener von geklärten Fragen, allseits akzeptierter Hintergrundannahmen - , den oftmals Paradigmen im Bereich der Naturwissenschaften auszeichnen. Dennoch ist die Theorie der Anerkennung gegenwärtig auf einem umfassenden Forschungs- und Untersuchungsfeld produktiv, der die Bereiche von Ontologie, Erkenntnistheorie, Moralphilosophie, politischer Philosophie, Gesellschafts- und Handlungstheorie, Rechtsphilosophie, philosophischer Anthropologie und Geschichte der Philosophie umfasst. Der vorliegende Band versammelt eine Reihe von Abhandlungen, deren Verfasser in prominenter Weise auf dem Feld der Anerkennungstheorie arbeiten, und bietet einen einmaligen Einblick in die Tiefe und Vielfalt der philosophischen Forschung zu diesem Thema. Sein besonderer Wert liegt darin, dass er die Ergiebigkeit demonstriert, der im Austausch und Dialog zwischen jenen besteht, die eher von historischen Quellen her arbeiten, und denen, die von zeitgenössischen Untersuchungen ausgehen. So sind wir der Überzeugung, dass sich die Philosophie der Anerkennung nur durch die gesteigerte Aufmerksamkeit gegenüber den historisch gewonnenen Einsichten sowie die gewissenhafte Berücksichtigung sowohl der Eigenart zeitgenössischer Debatten in der Moral-, Sozial- und politischen Philosophie als auch des moralischen, gesellschaftlichen und politischen Lebens weiterentwickeln lässt. Um die Beiträge dieser Aufsatzsammlung verorten zu können, möchte ich einen Überblick über die verschiedenen geschichtlichen Wurzeln des gegenwärtigen Paradigmas geben (I), die gegenwärtige Konstellation in der politischen Philosophie, der Moral- und Sozialphilosophie darstellen, auf welche die Anerkennungstheorie als Antwort verstanden werden kann (II), darauf verweisen, Die ersten drei Abschnitte dieser Einleitung beinhalten Ausführungen, die ursprünglich in meinen einfuhrenden Bemerkungen zum „Schwerpunkt: Anerkennung" veröffentlicht worden waren, den ich als Gasteditor zu diesem Thema in der Deutschen
Zeitschrift für Philosophie,
53 (2005), 3, S. 3 7 7 - 3 8 7 , be-
treut hatte. Für die hier vorliegende Widerveröffentlichung sind diese Abschnitte erheblich überarbeitet worden. Hans-Christoph Schmidt am Busch bin ich für sehr hilfreiche Hinweise beim Abfassen dieser überarbeiteten Version dankbar.
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wie das Paradigma einige der Probleme angeht, welche sich der Kritischen Theorie in Fortführung ihres Projekts unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen stellen (III), ehe ich mit einer kurzen Übersicht über die einzelnen hier versammelten Beiträge schließen werde (IV).
I. Aus geschichtlicher Perspektive lassen sich eine Reihe von Vorläufern der Anerkennungstheorie ausmachen - beginnend mit der klassischen griechischen Vorstellung von Freundschaft, über deren thematische Wiederbelebung im Renaissancehumanismus, der präzisen Analyse gesellschaftlicher Leidenschaften durch verschiedene Geñihlstheorien im Zeitalter der Aufklärung, die in Rousseaus subtiler Darstellung der wesentlichen Gesellschaftlichkeit der wirklichen Menschennatur gipfelt. Trotz dieser reichhaltigen philosophischen Vorgeschichte sieht sich die gegenwärtige Anerkennungstheorie eher im deutschen Idealismus verortet, insbesondere im Werk von Fichte und Hegel, und dort ausgehend von der Fragestellung, in welcher Weise Strukturen von Intersubjektivität konstitutiv und regulativ auf die Entwicklung von Subjektivität bezogen sind. Namentlich Hegels Analyse intersubjektiver Anerkennung, genauer gesagt: seine verschiedenen, von einander abweichenden Analysen sind im Laufe von 200 Jahren in völlig disparaten Traditionssträngen der Philosophie, der sozialwissenschaftlichen, insbesondere aber der politischen Theorie überarbeitet und verwendet worden. Nicht alle dieser Nachfahren nutzen expressis verbis das Wort „Anerkennung" oder mit ihm verwandte Termini. Im Großen und Ganzen kann man jedoch feststellen, dass sie alle eine Reihe von miteinander verwandten Ideen in Anschlag bringen, die in Hegels Einsichten in die Unersetzlichkeit von Intersubjektivität für die menschliche Lebensform gründen. Sie tun dies, um die Grundfragen ihrer jeweiligen Disziplinen und Forschungstraditionen neu auszurichten und zu reformulieren. Der frühe Marx hat diese Erkenntnisse aufgegriffen und durch seine Analyse sowohl des identitätsbildenden Charakters unserer arbeitsvermittelten gesellschaftlichen Beziehungen als auch deren Entstellung, welche die kapitalistische Organisation der Produktionsverhältnisse verursacht, in maßgeblicher Weise neuformuliert. Die Untersuchung dieser Themen - insbesondere des sehr wichtigen Entfremdungsbegriffs - sind für die Entwicklung des westlichen Marxismus in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts von zentraler Bedeutung gewesen. Andrerseits finden sich im Kontext der nordamerikanischen Diskussion schwache aber unverwechselbare Spuren, die der britische Hegelianismus in der Entwicklung des amerikanischen Pragmatismus hinterlassen hat, insbesondere dort, wo dieser nach sozialpsychologischen Belegen für dezidiert intersubjektivistische Theorien der Wahrnehmung, Erkenntnis, der Emotionen und Handlungen suchte, um diese im Zusammenhang von Theorien der Sozialisation und der Entwicklung von Selbstverständnissen [a sense of self] anzuwenden. Aus einer ganz anderen Richtung kommend und mit anderen theoretischen Ambitionen verknüpft, hat Hegels Darstellung der Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft eine ganze Generation französischer Phänomenologen dazu inspiriert, sich mit einer Reihe von Fragen zu beschäftigen, die die konstitutive Rolle intersubjektiver Anerkennung für Erfahrung und Erkenntnis betreffen. Hegels Erkenntnisse hatten auch entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung einer phänomenologisch orientierten Theologie, die vom Bemühen geprägt war, die Struktur interpersonaler Beziehungen im Hinblick auf die Beziehungen der Menschen zum Göttlichen zu überdenken.
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Schließlich muss an die unübersehbare Tragweite der Entwicklung der Psychologie erinnert werden, insbesondere an die Blütezeit der Psychoanalyse sowie die Übertragung ihrer Methoden und Ideen aus therapeutischen Zusammenhängen in solche umfassender kultureller Ordnungen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs rückte der Anerkennungsbegriff immer stärker in den Mittelpunkt einiger auf die Objektbeziehungstheorie ausgerichteter psychoanalytischer Schulen, aber auch in den Blickpunkt der entwicklungspsychologischen Forschung. Beide betonten die zentrale Bedeutung früher Formen von Intersubjektivität, die zwischen Kindern und deren primären Bezugspersonen besteht. Was die Philosophie betrifft, so hat sich die Phänomenologie im Frankreich der Nachkriegszeit zunehmend mit intersubjektivitätstheoretischen Themen beschäftigt, während sie gleichzeitig ihren Forschungsbereich ausweitete, um Fragen der Ontogenese, der Verleiblichung und der soziopolitischen Theorie einzuschließen. In Deutschland ist das Anerkennungsparadigma nicht nur durch die historisch orientierte Forschung zu den entscheidenden Umwälzungen im deutschen Idealismus des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts wiederbelebt worden. Es war darüber hinaus auch von mittelbarem Einfluss auf die durchaus eigensinnige Traditionslinie der philosophischen Anthropologie. Ein zusätzlicher Impuls verdankt sich der Spezifik, in welcher der sogenannte „linguistic turn" der analytischen Philosophie des 20. Jahrhunderts mittels der Theorie des kommunikativen Handelns in eine umfassendere Theorie der sprachlichen Intersubjektivität und des durch kommunikative Interaktionen konstituierten gesellschaftlichen Lebens integriert worden ist. Schließlich gewannen zwei weitere, durch Hegels Einsichten gespeiste intellektuelle Strömungen diesseits und jenseits des Atlantiks an Bedeutung. Erstens lenkte das Interesse von Feministinnen, insbesondere von Theoretikerinnen der zweiten und dritten Generation, an der Überwindung androzentrischer Formen der Ontologie, Epistemologie und Axiologie die Aufmerksamkeit auf jene intersubjektiven und gesellschaftlichen Bedingungen der Identitätsbildung, die spezifisch zum Erhalt des Patriarchats beitragen. Insbesondere bestand ein starkes Bedürfnis nach anthropologischen Modellen, die sich in produktiver Weise dem intellektuellen, kulturellen und soziopolitischen Erbe männlichkeitsbetonter Idealisierungen des Individuums entgegenstellen ließen - dem Bild des atomistischen, rationalen, ichbewussten, selbstbeherrschten, entkörperlichten und emotionslosen Mannes - , und von Feministinnen sowohl für philosophische und sozialwissenschaftliche Erklärungen wie auch die Ausarbeitung alternativer normativer Systeme von moralischem, politischem und ästhetischem Wert anwendbar waren. Zweitens führten die soziopolitischen Herausforderungen, die darin bestehen, das Faktum des kulturellen und Wertepluralismus moderner hochkomplexer Gesellschaften zu begreifen und darauf angemessen zu reagieren, zu einer spezifischen Verwendung des Anerkennungsbegriffs, um die rechtlichen und sozialen Ansprüche verschiedener Gruppen von Minderheiten in multiethnischen und multinationalen Gemeinwesen zu begreifen. Durch die produktive Aneignung dieser verschiedenen Strömungen ist die Theorie der Anerkennung nunmehr zu einer eigenständigen wissenschaftlichen und akademischen Disziplin geworden, was in erheblichem Maße der integrativen Leistung von Axel Honneths Theorie zu schulden ist.
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II. Wenn wir uns nun der gegenwärtigen Konstellation im werttheoretischen Denken zuwenden, so finden wir im Wesentlichen drei miteinander konkurrierende kognitivistische Paradigmen, d. h. solche Paradigmen, durch die einige Typen evaluativer Ansprüche in einem mehr oder weniger starken Sinne anderen gegenüber gerechtfertigt werden: Utilitarianismus, Kantianismus und Neoaristotelismus. In der normativen Moraltheorie, die grob gesagt darüber nachdenkt, was Individuen anderen schulden und wie man leben sollte, lässt sich diese Konstellation mittels dreier untereinander konkurrierender Theorietypen charakterisieren: Konsequentialismus, Deontologie und verschiedene Formen der Tugendethik, wie etwa die Fürsorgeethik oder unterschiedliche Arten partikularer oder situationsbezogener Moraltheorie. In der normativen politischen Theorie findet diese vorherrschende Konstellation eine etwas andere Umsetzung. Formen des Konsequentialismus reichen hier von wirtschaftsorientierten Theorien wie etwa der Wohlfahrtökonomie bis hin zu Theorien des liberalen Perfektionismus; kantianische Theorien orientieren sich am Begriff der Gerechtigkeit und sind in jeweils unterschiedlichem Maße den Ideen der Freiheit, der Rechte, der Gleichheit, der Demokratie und des Gesellschaftsvertrags verbunden; neoaristotelische Themen haben ihre größte Wirkung im politischen Kommunitarismus entfaltet. Als Moraltheorie scheint die Theorie der Anerkennung am engsten mit dem Neoaristotelismus verbunden zu sein. Richtet sie doch ihr Augenmerk auf den konstitutiven Zusammenhang zwischen den gesellschaftlichen Umständen, der Bildung 2 und der Entwicklung eines guten, zumindest jedoch nichtentstellten Lebens. Sie versteht die Ausprägung eines Sinnes für die persönliche Identität als irreduzibles Element des moralischen Lebens; vermeidet eine radikale Trennung der Fragen moralischer Motivation von denen der Rechtfertigung; betont die zentrale Rolle, welche Affekt und Emotion im moralischen Leben spielen; behauptet, dass die Moraltheorie die Bedeutung geteilter Wert- und Bedeutungshorizonte nicht ignorieren darf, weil diese für die moralische Identität eine entscheidende Rolle spielen; distanziert sich von der philosophischen Suche nach einem vermeintlich von allen Personen in gleicher Weise anzuwendenden Regel- und Prinzipienkodex und verwendet ihre Aufmerksamkeit statt dessen auf die Kultivierung gesellschaftlicher Lebensformen, die eine gesunde Selbstverwirklichung befördern, und betont die Vielfalt praktischer Überlegungen, die für individuelle Handlungsalternativen, die Entwicklung eines Lebensplans sowie die Einschätzung vergesellschafteten Lebens bedeutsam sind. Die Anerkennungstheorie steht allerdings auch den Belangen des Konsequentialismus nicht gleichgültig gegenüber. Auch wenn sie die einfachen Modelle der Präferenzenaggregation ablehnt, die im klassischen Utilitarismus und der Wohlfahrtökonomie angenommen werden, ist doch für sie wie auch für den liberalen Perfektionismus das Ausmaß bedeutsam, zu dem der größten Anzahl von Individuen umfassende Formen von Selbstverwirklichung möglich sind. Noch bedeutsamer ist die Tatsache, dass die Anerkennungstheorie einige der interessantesten Merkmale des Kantianismus bewahren möchte, insbesondere den Anspruch, normative Bewertungsstandards erklären und rechtfertigen zu können, die weder kulturell noch sozial kontingent sind. Sie lehnt den reinen Prozenduralismus ab, den der Kantianismus zwecks Rechtfertigung seiner universalistischen Ansprüche praktiziert, und sucht letztere Im Original deutsch [Anm. d. Übers.].
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statt dessen in der anthropologisch universellen Strukturverknüpfung zwischen Formen intersubjektiven Lebens und individueller Entwicklung und Selbstverwirklichung zu verorten. Ferner verspricht sie, dem Wert und der Bedeutung individueller Rechte und der politischen Demokratie ohne den leeren Formalismus gerecht zu werden, für den der Kantianismus leicht empfänglich zu sein scheint, wie auch ohne die praktischen Überlegung auf die Bereiche moralischer Pflicht und Gerechtigkeit zu begrenzen. Die charakteristischen Behauptungen der Anerkennungstheorie ergeben sich aus der Zusammenführung der frühen Hegeischen Analyse intersubjektiver Anerkennung mit einer moralischen Phänomenologie der Erfahrung der Nichtachtung, der Darstellung der intersubjektiven Bedingungen der Ontogenese, die sich sowohl auf Mead als auch auf jüngere Arbeiten der Psychoanalyse der Objektbeziehungen stützt, und einer Theorie des intersubjektiven Charakters der Rechtfertigung von Geltungsansprüchen. All dies mündet in eine moralorientierte philosophische Anthropologie, die in aufschlussreicher Weise unterscheiden kann zwischen drei verschiedenen Formen intersubjektiver Anerkennung - typisiert als Liebe, Achtung und Wertschätzung - , deren Verhältnis zur Entwicklung verschiedener Formen der Selbstbeziehung und den verschiedenen Typen sozialer Beziehungen, welche die Entwicklung einer ganzheitlichen und gesunden personalen Identität befördern oder behindern. Aber nicht allein in der Darstellung des moralischen Lebens liegt die Fruchtbarkeit der Anerkennungstheorie. Sie liegt im Wesentlichen darin, dass diese Moralphilosophie sowohl mit Erklärungs- wie auch Rechtfertigungsansprüchen der politischen Philosophie und der Sozialtheorie verknüpft ist. Auch aus dem Blickwinkel der normativen politischen Theorie entwirft die Anerkennungstheorie eine innovative Kombination von Schwerpunkten und Thesen, die traditionelle Trennlinien zwischen miteinander konkurrierenden politischen Theorien überschreitet. Gleich den neueren kantischen Ansätzen billigt die Philosophie der Anerkennung die Sicherung der Autonomie des Einzelnen durch individuelle Bürgerrechte und Chancengleichheit, bei der politischen Partizipation mittels des modernen Rechtssystems und der Strukturen der konstitutionellen Demokratie. Der Analyse jener Institutionen, welche die Gleichheit bürgerlicher Selbstbestimmung sichern, gibt die Anerkennungstheorie eine spezifische Wendung, insofern sie diese als rechtsförmige Umsetzungen der intersubjektiven Bedingungen von Selbstachtung versteht, d. h. jener Vergesellschaftungsbedingungen, die Personen benötigen, um sich als freie und gleiche Rechtssubjekte sowie als politische Bürger unter anderen Subjekten und Bürgern zu verstehen. Aber anders als in den vorherrschenden Auffassungen, die auf Kant zurückgehen, werden weder Rechtsansprüche noch die politische Demokratie im Sinne eines hypothetischen Gesellschaftsvertrags gerechtfertigt, sondern als Resultate rational rekonstruierbarer geschichtlicher Kämpfe - solcher Kämpfe nämlich, die zur allmählichen Differenzierung und Spezifizierung diverser Formen von Anerkennung fuhren. Insbesondere werden jene Sozialbeziehungen, die Wertschätzungsunterschiede generieren, sukzessiv aus Verwandtschaftsverhältnissen herausgelöst und zunehmend an die individuelle Leistungsfähigkeit gebunden, während sich gleichzeitig die Grundlagen sozialer Wertschätzung von den politischen und Rechtsstrukturen trennen, die wiederum in zunehmendem Maße als Sicherung gleicher Achtung der als autonom verstandenen Personen dienen. Diese verschiedenen Transformationen lassen sich als Entwicklungsfortschritte sowohl im Hinblick auf die Individualisierung sozialer Wertschätzung als auch auf die Egalisierung gesellschaftlicher Achtung begreifen.
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Gleich verschiedenen Formen des politischen Konsequentialismus betont die Anerkennungstheorie, dass die Beförderung individuellen Wohlergehens von Belang ist, insbesondere für die Individualentwicklung. Allerdings steht die Philosophie der Anerkennung befähigungsbezogenen Zugangsweisen [capability approaches] näher als der traditionellen Wohlfahrtökonomie, weil sie die Aggregation von Wertparametern und deren typische Verwendung bei der Wohlfahrtsbemessung anhand einfach aufzudeckender Präferenzen bzw. von Marktpreisen ablehnt. Obwohl daher die Rechtfertigungsstruktur der Anerkennungstheorie dem liberalen Perfektionismus gleicht oder die befáhigungsbezogene Zugangsweise der Beförderung von Freiheit, ist auch hier das Themenspektrum breiter. Thematisch ist nicht allein die individuelle Autonomie - relevant sind darüber hinaus die basale psychische Integrität und eine qualitativ reiche Selbstschätzung. Dieses breiteren Relevanzbereichs wegen hat sich die Anerkennungstheorie auch als ein besonders gutes Paradigma fur die Analyse der politischen Kämpfe um das Ausmaß geschlechtsspezifischer Ungerechtigkeiten erwiesen, die mit der unterschiedlichen Verteilung von Fürsorgepflichten und unbezahlter Hausarbeit verbunden sind. Desweiteren ist die Anerkennungstheorie, wie der vorliegende Band zeigt, gegenwärtig in erheblichem Umfang damit beschäftigt, die Legitimationsgrundlagen des Wohlfahrtsstaats zu überdenken sowie neue und alternative theoretische Konzepte der Wechselbeziehungen zwischen dem kapitalistischen Wirtschaftssystem, staatlichen Umverteilungsmethoden und den Leistungs-, Verdienst- und Vergütungspraktiken zu finden. Mit ihrer Ablehnung des hypothetischen Kontraktualismus und ihrer Befürwortung situationsbezogener historischer Analysen sich wandelnder Lebensformen teilt die Philosophie der Anerkennung, wie bereits bemerkt, eine Reihe von methodologischen und analytischen Anliegen des Neoaristotelismus, die sich insbesondere im politischen Kommunitarismus zeigen: die Orientierung an einer durchgängig sozialen Auffassung des Selbst, verbunden mit dem Nachdruck auf relativ dichte Konzeptionen von Sittlichkeit und miteinander rivalisierenden Werthorizonten; das Interesse an einer Erweiterung der philosophischen Analyse jenseits der liberalistischen Emphase individueller Rechte und Autonomie, um auch die politischen und sozialen Bedingungen des guten Lebens und der individuellen Selbstverwirklichung integrieren zu können; der Schritt weg von einer nur abstrakten, allein der reinen praktischen Vernunft folgenden philosophischen Rechtfertigung und hin zu einer substanzielleren Kritik im Sinne von Normen und Idealen, die sich aus den bestehenden Lebensformen heraus gewinnen lassen usw. Folglich spielt die Anerkennungstheorie in einigen der Debatten eine wichtige Rolle, in welchen auch der Kommunitarismus maßgeblich ist: Auch sie beteiligt sich an Kämpfen um ein angemessenes Verhältnis zwischen religiöser Überzeugung, staatlicher Politik, Formen gesellschaftlicher Organisation und Macht, Debatten um multiethnische und multikulturelle Strategien und Praktiken, und auch sie bekundet eine tiefe Sorge angesichts des exzessiven Individualismus, der durch maßgebliche Institutionen des modernen Lebens gefördert wird. Aber im Unterschied zum Kommunitarismus und im Ausgang von ihren intellektuellen Wurzeln in der Kritischen Sozialtheorie hat die Theorie der Anerkennung das gesellschaftlich und geschichtlich Gegebene niemals seines bloßen Gegebenseins wegen für legitim erachtet. Weder existierende Gruppen noch individuelle Identitäten und Traditionen sind vor kritischer Prüfung gefeit, sie sind keine „selbstbeglaubigende Quellen gültiger Ansprüche" (um hier Rawls aus dem Kontext genommen zu zitieren). Dies lässt sich an der charakteristischen Wendung ablesen, welche die Theorie der Anerkennung den Debatten um den Vorrang des Rechten oder Guten verleiht. Sie zieht es vor, den oberflächlichen Konflikt erster
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Stufe, den die Vertreter der Freiheitsrechte und die Protagonisten kollektiv geteilter Güter miteinander austragen, hinter sich zu lassen, um sich ihres Hegeischen Erbes zu bedienen und aufzuzeigen, wie der bestimmte Typus individuellen menschlichen Handelns - das autonome Handeln - , den zu befördern die Gesetze und Institutionen der Gerechtigkeit entworfen sind, selber das Resultat jener Praktiken intersubjektiver Sozialisierung und Anerkennung sind, die moderne Gesellschaften charakterisieren. So gesehen ist der Typus autonomer Individualität, den der Liberalismus zu schützen und zu befördern sucht, selber eine Folge dieser historisch besonderen Formen intersubjektiven, sittlichen Lebens, denen er die Möglichkeit seiner Entwicklung überhaupt erst verdankt. Der dynamischste Forschungsbereich ist möglicherweise gar nicht die normative Moral- oder Politiktheorie, sondern die normativ instruierte interdisziplinäre Sozialphilosophie. Insbesondere Axel Honneths Darstellung der Beziehungen zwischen intersubjektiver Anerkennung und sozialem Wandel ist hierfür beispielhaft und hatte auf einen Großteil der auf ihn folgenden Arbeiten der letzten Dekade einen produktiven Einfluss. Kurz gesagt, verspricht Honneths Konzept, viele - wenn nicht gar die meisten - der wesentlichen sozialen Kämpfe, die moderne, hochkomplexe Gesellschaften auszeichnen, dadurch analysieren zu können, dass es die interne Beziehung aufweist, die zwischen individuellen Erfahrungen der Nichtanerkennung [misrecognition] und Missachtung einerseits und der Entwicklung umfassenderer sozialer Kämpfe um erweiterte und angemessenere gesellschaftliche Anerkennung andererseits besteht. Dieser Zugang hat sich zum Beispiel nicht allein bei der Untersuchung neuer sozialer Bewegungen als besonders produktiv erwiesen, die des Öfteren unter dem Label „identity politics" verunglimpft worden sind, sondern auch im Hinblick auf die Kämpfe subalterner und ausgegrenzter Minderheiten um erweiterte soziale, politische und kulturelle Autonomie. Er ist im Allgemeinen bei der Konzeption der Frage instruktiv, wie liberale Gesellschaften und konstitutionelle Demokratien die schwer zu erfassenden Untiefen ausloten können, die zwischen Identität und Unterschied, Universalismus und Partikularismus, Individualität und Gemeinschaftlichkeit bestehen. Schließlich ist in neueren Arbeiten das Anerkennungsparadigma auf andere Themenbereiche ausgedehnt worden - eine Erweiterung, die früher aus theorieinternen Gründen vermutlich auf Ablehnung gestoßen wäre. Statt makrosoziale Strukturen und Prozesse sind die Ausgangspunkte der gesellschaftlichen Analyse hier nämlich Praktiken intersubjektiven Interesses: Fragen der gerechten Einkommens- und Vermögensverteilung unter kapitalistischen Bedingungen, Kämpfe um die Durchsetzung materieller Interessen und somit Klassenpolitik. Der ambitionierte Anspruch, der dieser Weiterentwicklung des Anerkennungsparadigmas zugrunde liegt, besteht darin, die geschichtlichen Umbrüche von traditionalen zu feudalen und von feudalen zu bürgerlich-kapitalistischen Formen gesellschaftlicher Organisation als eine fortschreitende AusdifFerenzierung von drei Anerkennungssphären, die ihrerseits geschichts- und gesellschaftsspezifische Institutionalisierungen dreier verschiedener Anerkennungsprinzipien sind, zu verstehen. Zuerst trennt sich die intime Sphäre der Familie entsprechend dem Anerkennungsprinzip von Fürsorge und Liebe von einer allgemeinen Sphäre der Öffentlichkeit ab, wobei die wechselseitige Anerkennung von Personen auf ihre besonderen affektiven, körperlichen und konativen Bedürfnisse zugeschnitten wird. Danach löst sich die feudale Einheit zwischen dem Rechtsstatus von Personen und deren vorab festgelegter Stellung im gesellschaftlichen Standessystem auf. Einerseits entsteht so eine spezielle Sphäre, in der Personen als Rechtssubjekten Rechte und Pflichten zukommen, was deren wechselseiti-
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ge Anerkennung entsprechend dem verallgemeinerten Prinzip gleicher Achtung ermöglicht. Andererseits wird die unterschiedliche Wertschätzung, die bisher mit der jeweiligen Stellung innerhalb einer naturalisierten Standesordnung verbunden war, nunmehr aus den Rechtsbeziehungen herausgelöst und statt dessen an die gesellschaftliche Anerkennung der jeweiligen individuellen Leistungen geknüpft. Insbesondere binden bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsformen die Bewertung der eigenen Befähigungen und Leistungen an eine besondere Interpretation des Leistungsprinzips: nämlich die Differenzierung des einem zustehenden Maßes an Wertschätzung anhand des Bewertungsschemas der Arbeitsteilung. Unterschiedliche Wertschätzungen würden sich dann einfach daraus erklären, dass die jeweilige, am Markt in Form von Geld und Einkommen erworbene quantitative Wertschätzung in die zivilgesellschaftliche Sphäre verlängert wird. Aber natürlich ist das eine ideologisch verzerrte Deutung des Leistungsprinzips, die sich aus der spezifisch kapitalistischen Organisation der Sphäre der Wertschätzung erklärt. Die eigenen Befähigungen und Leistungen werden nur anhand wirtschaftlicher Bemessungsgrundlagen erfasst. Was als Arbeit zählt, welche Formen von Arbeit als wertvoll erachtet werden, wessen Arbeit systematisch erniedrigt oder, schlimmer noch, unsichtbar gemacht wird - all das und noch mehr ist weitgehend von asymmetrischen und hierarchischen Produktionsverhältnissen abhängig.
III. Angesichts dieser sozialphilosophischen Interessen ist es vermutlich kein Wunder, dass die Theorie der Anerkennung den Anliegen der Kritischen Theorie als einer solchen interdisziplinär orientierten Sozialtheorie problemlos entspricht, die darauf abzielt, die emanzipatorischen Impulse zu befördern, die sie in der von ihr untersuchten Gesellschaft sowohl offen wie auch verdeckt vorfindet. Auf diesem Themenfeld sind der Anerkennungstheorie in letzter Zeit m. E. einige der interessantesten - zugleich aber meistenteils auch beunruhigende und problematische - Fragen entstanden. Dies bedarf einer näheren Erläuterung. Die jeweiligen, im Kontext des Frankfurter Instituts fur Sozialforschung entwickelten Ausprägungen der Kritischen Theorie besaßen immer ein mehr oder weniger gemeinsam geteiltes und durchdachtes Gesellschaftsmodell, das von den verschiedenen Forschern auch in dem Falle vorausgesetzt worden war, dass es nur verdeckt im Hintergrund wirkte. Das Modell, das der ersten Generation der Kritischen Theoretiker zur Verfügung stand, war eine Analyse des Kapitalismus, deren tiefste Wurzeln bis zu Marx reichten und welche durch theoretische Verfeinerungen und Erkenntnisse von Lukács, insbesondere aber Max Weber die spezifische Gestalt dessen angenommen hatte, was wir heute „westlichen Marxismus" nennen. Die zweite Generation der Kritischen Theorie favorisierte - paradigmatisch bei Habermas - ein Gesellschaftsmodell, das explizit aus einem vielversprechenden systemtheoretischen Arrangement (über Parsons und Luhmann) entwickelt, durch Webers Theorie der Modernisierung als Rationalisierung moderiert und schließlich mit einer Handlungstheorie verbunden wurde, die auf den Einsichten des Pragmatismus und der analytischen Philosophie in die reproduktiven und integrativen Potenziale sprachlicher Interaktion beruhte. Im Zusammenhang mit einer prozeduralistschen Interpretation moralischer und politischer Rechtfertigung, die dem Anspruch folgte, die kantische praktische Vernunft intersubjektivistisch zu reinterpretieren, ergab sich schließlich eine Schwerpunktverlagerung hin zu den formalen Aspekten von Moral, Demokratie, Recht und dem öffentlichen politischen System. Diese
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Umgestaltungen schienen dann die Kritische Theorie noch weiter von ihren besonderen, geschichtlich tradierten Anliegen abzuführen und sie stattdessen einerseits auf rein technische philosophische und methodologische Interessen an den Formen und Gründen von Rationalität festzulegen, andererseits auf formale normative Theorien politischer Gerechtigkeit und Demokratie, die einen, wenn man so sagen darf, ziemlich „entsozialisierten" Eindruck hinterließen. Was aber wurde aus ehemals bedeutenden kritischen Themen - dem Interesse an den phänomenalen Umwälzungen des kulturellen Lebens, die von industrialisierten Massenmedien und neue Kommunikationstechnologien bewirkt worden waren; der Thematisierung des Wandels der Persönlichkeitsstrukturen, des Wesens und der Rolle von Ideologie bei der Aufrechterhaltung von Herrschafts- und Unterdrückungsstrukturen? Was wurde aus den wegweisenden, mit emanzipatorischem Gehalt imprägnierten Leitbegriffen wie Entfremdung, Anomie, Vermarktung, Verdinglichung, ideologische Naturalisierung, Massenkultur, autoritäre Persönlichkeit, Surplus-Repression, soziale Fragmentierung und Entzweiung, was aus dem Thema der verdeckten Formen gesellschaftlich bedingten Leidens? Was wurde, kurz gesagt, aus dem Interesse an den Lebensformen, die verzerrte wie verzerrende Formen von Subjektivität und Intersubjektivität hervorbringen, was aus dem Augenmerk auf die Pathologien des Sozialen? Sicherlich sind einige dieser Entwicklungen mit wechselnden Interessen der einzelnen Forscher erklärbar oder mit der Abhängigkeit dieser Interessen von sich wandelnden sozialen Bedingungen. Dessen ungeachtet scheint es aber auch einleuchtend, dass der in die früheren Forschungsgebiete und Leitbegriffe investierte Glaube in erheblichem Maße auch deshalb verlustig gegangen ist, weil das Vertrauen auf einen einzigen, allseits geteilten und einheitlichen Deutungsrahmen für das Verständnis gesellschaftlicher Umbrüche und deren Auswirkungen auf unterschiedliche Gesellschaftsgruppen verloren gegangen ist. Einer der ursprünglichen Impulse sowie ein Großteil des frühzeitigen Erfolgs des Anerkennungsparadigmas verdankt sich, wie ich glaube, der Unzufriedenheit mit den damals üblichen sozialen Konfliktmodellen und den gesellschaftlichen Gruppen, welche diese Konflikte zum Ausdruck brachten und sie austrugen. Natürlich war die ältere Kritische Theorie bereits auf erhebliche Probleme auf diesem Gebiet gestoßen. Unter der Voraussetzung des weithin geteilten und von Marx inspirierten Gesellschaftsmodells, das den Hauptakzent auf die ökonomische Sphäre als den zentralen und bestimmenden Ort gesellschaftlicher Konflikte gelegt hatte und sich deshalb nahezu ausschließlich mit Klassenkämpfen als dem Schauplatz der Kämpfe um sozialen Fortschritt beschäftigte, führte die Erschöpfung der revolutionären Kraft der Arbeiterbewegung und ihrer Aktivitäten in der Konsolidierungsphase des liberalen Kapitalismus vor dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere aber danach, zu erheblichen theoretischen Problemen und praktischen Ungewissheiten, die wohlgemerkt eine Theorie betrafen, die sich durch ihre Geschichte hindurch der gesellschaftlichen Emanzipation verschrieben hatte. Die Turbulenzen der 1960er Jahre und deren Auswirkungen auf die Formierung neuer sozialer Bewegungen - ganz zu schweigen von der Widerstandskraft und Anpassungsfähigkeit kapitalistischer Produktionsverhältnisse - deuteten auf gravierende Probleme der gemeinsam vertretenen sozialtheoretischen Annahmen hin. Schon die erste Generation der Kritischen Theorie hatte sich der Tatsache zu beugen, dass im Hinblick auf weitere emanzipatorische Hoffnungen und Handlungen Klassenkämpfen nicht zu trauen war. Zusätzlich zu diesen Enttäuschungen hatten neue soziale - d. h. antikolonialistische, antirassistische, antipatriarchalische und antiheteronormative - Befreiungsbewegungen neue gesellschaftliche Probleme ermittelt, die offenbar nicht den verheerenden Auswirkungen der kapitalistischen Modernisierung zuschul-
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den waren, und sie lenkten somit die Aufmerksamkeit auf ein bisher unbeachtetes Gebiet soziomoralischer Anliegen und normativer Ansprüche. Unglücklicherweise führte die in der zweiten Generation vollzogene Symbiose von Funktionalismus und Hermeneutik - obwohl theoretisch ausgeklügelt und hochentwickelt - wiederum zu einer Reihe von sozialtheoretischen Befunden, die nicht geeignet zu sein schienen, die , Kämpfe und Wünsche der Zeit in Gedanken zu fassen'. Um eine komplexe Behauptung über die Gesellschaftsanalyse der zweiten Generation kurz zu fassen: Der Versuch, die theoretische Hypothese von „Kolonisierungseffekten" an die Formierung, die Anliegen und Zielvorstellungen der neuen sozialen Bewegungen zu binden, schien unbefriedigend zu sein - sowohl als Erklärung für das Aufkommen und die Bedeutung dieser neuen Formen gesellschaftlicher Kämpfe und Kontroversen, als auch als eine These der Kritischen Theorie, die die Teilnehmer der neuen sozialen Bewegungen über den Charakter der gegenwärtigen gesellschaftlichen Probleme aufzuklären in der Lage wäre. Im Unterschied dazu bietet die Anerkennungstheorie eine Darstellung, die eine direkte Beziehung zwischen individuellen Leidenserfahrungen und deren sozialen Ursachen klar ausweist, eine Darstellung, die darüberhinaus auch das gegenwärtige Aufkommen vieler verschiedener sozialer Kämpfe erklärt - nicht nur jener um inhaltliche Erweiterungen und erweiterte Anwendungsbereiche gesetzlich verbriefter Rechte und Ansprüche, sondern auch solcher um herrschaftsfreie Formen des persönlichen Lebens wie auch der um ein soziokulturelles Umfeld frei von Diffamierung und Diskriminierung. Gleichermaßen bedeutsam ist, dass das Anerkennungsparadigma verspricht, diese sozialtheoretischen Analysen systematisch mit einer überzeugenden normativen Darstellung der in diesen Kämpfen erhobenen Rechtfertigungsansprüche zu verknüpfen, und eine Reihe differenzierter normativer Maßstäbe für die Beurteilung der Stichhaltigkeit und des Werts bestimmter Ansprüche artikuliert. Schließlich verspricht es auch, ein entscheidendes Desideratum der Kritischen Theorie zu erfüllen: nämlich einer interdisziplinären Sozialtheorie Ausdruck zu verleihen, deren emanzipatorische Impulse innerhalb der wirklichen Welt bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse existieren, die sich aber mittels begrifflicher und theoretischer Klärung zu Einsichten wandeln lassen, die die Gesellschaftsmitglieder reflexiv anwenden können, um pathologische gesellschaftliche Ordnungen und Verhältnisse zu identifizieren und zu überwinden. Vermöge dieser systematischen Konstellation von Moraltheorie, Sozialtheorie und politischer Analyse vermag die Theorie der Anerkennung die Tradition einer kritischen Befunderhebung gegenwärtiger sozialer Pathologien wiederzubeleben - eine Traditionslinie, die sich schon in nuce in Hegels ursprünglichem Hinweis findet, eine Theorie intersubjektiver Kämpfe um Anerkennung könnte als diagnostisches Mittel für die zugleich fortschrittlichen wie schmerzvollen Prozesse der Modernisierung dienen.
IV. Die vierzehn in diesem Band versammelten Aufsätze greifen die Philosophie der Anerkennung sowie deren vielfaltige Themen und offene Fragen aus theoriegeschichtlicher wie auch aus zeitgenössischer Perspektive auf. Obwohl man denken könnte, dass diese Zweiteilung des Buches zwei verschiedenen methodologischen Einstellungen geschuldet ist - nämlich einer ideengeschichtlichen und einer problemorientierten Analyse - , hoffen wir doch, dass die einzelnen Beiträge ein solch oberflächliches Verständnis philosophischer Arbeitsteilung enttäuschen
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werden. Denn es ist eine Tatsache, und der folgende kurze Überblick über die Abhandlungen wird dies zeigen, dass die Anerkennungsphilosophie der Geschichte des Anerkennungsbegriffs und verwandter Konzepte wichtige Anregungen verdankt, wie auch das sorgfältige Studium dieser Geschichte der zeitgenössischen Theoriebildung unersetzliche Einsichten eröffnet. Gegenwärtig unternommene Arbeiten sind dabei hilfreich, bis dato unbemerkte Schattierungen und Feinheiten historischer Texte auszuleuchten, wie auch die gewissenhafte Untersuchung dieser Texte zu Behauptungen und Argumenten fuhren mag, die für die gegenwärtige Diskussion entscheidend sind. Wie diese Textauswahl zeigt, gelingt die Arbeit auf dem Feld der Anerkennungsphilosophie am besten genau dann, wenn die beiden Perspektiven einander begegnen und erfolgreich interagieren. Für die weitere Funktionstüchtigkeit der Anerkennungstheorie als eines Forschungsparadigmas ist diese dialektische Interaktion ausschlaggebend. Angesichts grundlegender Herausforderungen, denen das Paradigma sowohl seitens ideengeschichtlicher als auch gegenwärtiger Argumente begegnet, bemisst sich dessen Stärke nicht zuletzt daran, in welchem Maße es die bisher ungeklärten Fragen und Probleme zu integrieren und anzupassen vermag, statt sie als theoretisch unbewältigte Anomalien aufzuhäufen. Die hier versammelten Aufsätze veranschaulichen, wie wir glauben, dass es sich bei der Theorie der Anerkennung um ein robustes Paradigma handelt. Auch wenn das Anerkennungsparadigma nach weiterer theorieinterner Entwicklung und Verfeinerung verlangt, zeigen diese Beiträge doch auch, dass ein revolutionärer Theoriewechsel gegenwärtig nicht zu erwarten ist. Im Eröffnungsbeitrag des Bandes untersucht Frederick Neuhouser Rousseaus Darstellung von Γ amour propre als einem wesentlichen menschlichen Streben nach Anerkennung. Obwohl die Anerkennungstheorie oftmals im deutschen Idealismus nach ihren Ursprüngen sucht, sei es tatsächlich Rousseau, der den Kampf um Anerkennung in den Mittelpunkt des menschlichen Lebens stellt und damit als ein grundsätzliches Interesse für die Moral-, Sozial- und politischen Philosophie lokalisiert. Seine umfassende Diskussion der Rousseauschen Theorie von Γ amour propre - seine präzise Erklärung, um welche Art Leidenschaft es sich dabei handelt, wieso diese Leidenschaft so vielen menschlichen Übeln der condition humaine zugrunde liegt, wie diesen Übeln durch Bildung und bestimmte gesellschaftliche und politische Maßnahmen abgeholfen werden kann und wie die Ausprägung der menschlichen Vernunft selber von Vamour propre abhängt - führt Neuhouser zu der Behauptung, im Verhältnis zu Rousseau sei „die Philosophie der Anerkennung im 19. und 20. Jahrhundert" nichts anderes „als eine Reihe von Fußnoten". Besonders instruktiv ist, so zeigt Neuhouser, dass Rousseau sowohl die destruktive als auch die konstruktive Seite erkannte, die der Wunsch nach Aufmerksamkeit durch andere hat - während frühere Denker darin kaum etwas anderes als eine ärgerliche Bekundung menschlicher Eitelkeit gesehen hatten. Sofern Γ amour propre nicht nur durch Bildung und bestimmte gesellschaftliche Bedingungen formbar ist, sondern darüber hinaus mit anderen gesellschaftlichen Arrangements wie etwa Stufen der Ungleichheit und Statusunterschieden interagiert, habe Rousseau in ihm eine wesentliche Bedingung sowohl für den zunehmenden Wettbewerb um symbolische Kleinigkeiten als auch für die Entwicklung des Vermögens der praktischen Vernunft gesehen, die Perspektive des verallgemeinerten Anderen einzunehmen und damit den normativen Bereich der Gründe zu betreten. Obwohl einige der destruktivsten Aspekte der „Zivilisation" auf den menschlichen Grundtrieb nach Anerkennung zurückgeführt werden können, ist dieses Streben Rousseaus Theorie zufolge dennoch wesentlich für eine solche Organisation des moralischen und politischen Lebens, welche die mit diesem Streben verbundene Neigung überwinden kann, Übel zu erzeugen.
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J. M. Bernstein vertritt in seinem Beitrag die These, Fichte habe die erste Konzeption von Rechten als Formen oder Modi intersubjektiver Anerkennung entwickelt. Wenn Anerkennung - und damit der Besitz von Rechten - wesentlich etwas damit zu tun hat, in welchen Beziehungen man zu anderen steht, wofür man von diesen anderen gehalten und wie man von ihnen behandelt wird, wenn sie damit verbunden ist, einen bestimmten normativen Status in einer gesellschaftlichen Welt zu besitzen, dann scheint es sich bei Anerkennung und Rechtsbesitz um paradigmatische Versionen des Idealismus zu handeln: Denn es sei eine im Wesentlichen geistesabhängige Angelegenheit, als eine mit Rechten ausgestattete Person anerkannt zu werden. Natürlich sind die Idealisierungen, die Fichtes Anerkennungsdarstellung beinhaltet, in den konkreten Praktiken gesellschaftlicher Gemeinschaften verortet, statt dass sie, wie im Falle von Kants transzendentalem Idealismus, solitäre Bewusstseinsakte abstrakter Individuen wären. Wie für alle anderen Formen des Idealismus stellen sich dann aber auch für Fichtes Version folgende Fragen. Ist der Preis, der dem Idealismus zur Sicherstellung von Normativität zu entrichten ist, selbst im Falle des rekognitiven Idealismus nicht vielleicht doch zu hoch? Werden die Menschen durch eine solche geistaffizierte Konzeption nicht unweigerlich aus ihren natürlichen Kontexten, aus ihrem evolutionären Umfeld, aus der dichten materialen Verfassung ihrer Alltagsexistenz herausgerissen? Fichte versucht, so zeigt Bernstein, diese Lücke zwischen Idealismus und Materialismus zu schließen, indem er behauptet, intersubjektive Anerkennung sei wesentlich an Verleiblichung gebunden. Indem er die Erkenntnisse wie die Eigenheiten von Fichtes Anerkennungskonzeption im Einzelnen vorstellig macht, gelingt es Bernstein, die Grenzen der Fichteschen Herangehensweise aufzuweisen, aber auch auf das fruchtbare Potential hinzudeuten, das diese für gegenwärtige Anerkennungstheorien bietet. Michael Quante präsentiert eine neue Interpretation einer der berühmtesten Passagen der Phänomenologie des Geistes: der Hegeischen Analyse des Selbstbewusstseins und seiner Entwicklung in der dialektischen Beziehung zwischen Herr und Knecht. Quante legt besonderes Augenmerk auf die Beziehung zwischen „Selbstbewusstsein", „Geist" und „Anerkennung" und erläutert gewissenhaft die jeweiligen Geltungsansprüche und Argumente, die Hegel in diesem Abschnitt der Phänomenologie vorbringt. Er konzentriert sich auf dessen berühmte Erläuterung des Geistes als dem „Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist", und zeigt, dass Hegels Behauptung von der gesellschaftlichen Konstitution des Selbstbewusstseins nicht sogleich die „totalitäre" Überwältigung von Subjektivität durch das Gesellschaftliche beinhaltet. Wenn man, so Quante, Hegels Konzeption von Selbstbewusstsein, Geist und Anerkennung in strikt ontologischem Sinne interpretiert, statt ethische Anliegen in sie einbringen zu wollen, so könne sie für die gegenwärtige Handlungstheorie und die Philosophie des Geistes von großem Interesse sein. Quante begründet seine These, indem er zeigt, dass Hegels Argumentation für die gesellschaftliche Konstitution von Selbstbewusstsein und menschlichem Handeln zentrale Einsichten der gegenwärtigen analytischen Philosophie wie etwa der von Jaegwon Kim und Alvin Goldman vorwegnehmen. Natürlich sind Hegels anerkennungstheoretische Vorstellungen nicht nur im Hinblick auf ontologische Fragen, sondern auch für weite Bereiche der praktischen Philosophie bedeutsam. In seinem Beitrag stellt sich Ludwig Siep die Frage, ob ein Prinzip der Anerkennung in der Tat als Zentralprinzip ethischen Denkens fungieren kann. Um sie zu beantworten, analysiert er wesentliche Unterschiede zwischen Fichtes und Hegels jeweiligen Darstellungen und entwickelt dann eine Typologie zeitgenössischer Anerkennungstheorien. Er zeigt, dass jene zeitgenössischen Theorien, die auf die Beziehung gegenseitiger Achtung zwischen freien und
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gleichermaßen autonomen Akteuren abheben, durch Kant und Fichte inspiriert sind. Obwohl wir diesem Theorietypus bedeutende Einsichten verdanken, biete er doch, so argumentiert Siep, kein Prinzip, das umfassend genug wäre, um die Rationalität aller rekognitiven gesellschaftlichen Beziehungen und Institutionen abschätzen zu können. Er wendet sich dann einem weiteren Strang zeitgenössischer Anerkennungstheorien zu, die sich insbesondere mit dem Problem der Unverwechselbarkeit des Einzelnen und der Konstitution von Individualität beschäftigen. Obwohl diese Theorien von Hegel inspiriert sind, verfugen sie doch Siep zufolge nicht über den konzeptionellen Rahmen, der erforderlich wäre, um Beziehungen zwischen Individuen und gesellschaftlichen Entitäten wie etwa Familien, Gemeinschaften und Staaten einzuschließen. Auch ein dritter Strang, der sich mit der Anerkennung bestimmter Kulturen in multikulturellen Gesellschaften befasst, verdanke seine Anregung Hegel. Mit dem Verlust des Vertrauens in die Hegeische oder christliche Teleologie sei allerdings kein Anerkennungsprinzip mehr greifbar, das die Mittel dafür böte, uns mit der Geschichte zu versöhnen. Obwohl das Prinzip der Anerkennung als ein zentrales ethisches Prinzip des modernen Lebens dienen könne, sei die Anerkennungstheorie dennoch unfähig, uns mit all den begrifflichen Mitteln auszustatten, die wir für die Bewältigung der uns herausfordernden ethischen Dilemmata benötigen. Dies ist das Fazit von Sieps wichtigen abschließenden Überlegungen. Siep verweist dort auf die Bedeutsamkeit von Fragen, die die zeitgenössische Ethik im Hinblick auf die Mensch-Natur-Beziehung stellt und die von der Ökologie bis zur Gentechnik reichen. In seinem Beitrag „Anerkennung, das Rechts und das Gute" nimmt sich Terry Pinkard der drängenden Frage nach dem Vorrang des Rechten vor dem Guten an, den Kant und von ihm inspirierte zeitgenössische Denker vertreten. In diesem Sinne untersucht Pinkard die Beziehung zwischen intersubjektiver Anerkennung und dem Guten. Er behauptet, dass Anerkennung nicht einfach ein Gut unter anderen ist, auch keine Bedingung fur die Verwirklichung anderer Güter - stattdessen sei es welterschließend und konstitutiv für menschliches Handeln. Er untersucht drei Hauptthesen Hegels und sieht in ihnen die überzeugendsten Antworten auf gegenwärtige Fragen der Handlungstheorie, der Philosophie des Geistes und der Sozialphilosophie. Die erste betrifft Hegels dialektische Metaphysik des Handelns: Obwohl individuelle Tätigkeit eine normative Angelegenheit sei, weil es bei ihr um die angemessene Reaktion auf Gründe gehe, sei das, was als angemessene Reaktion zählt, seinerseits selber gesellschaftlich, nämlich durch gesellschaftliche Praktiken, konstituiert. Wenn wir z. B. innerweltlich Güter wahrnehmen, die uns zum Handeln veranlassen, können diese Güter doch selber Gegenstände praktischer Überlegungen und damit zu neuen innerweltlich wahrnehmbaren und zum Handeln anspornenden Gegenständen werden. Zweitens seien Güter wesentlich gesellschaftliche Tatsachen, die durch gesellschaftliche Anerkennung instituiert und aufrechterhalten würden. Praktiken gesellschaftlicher Anerkennung offenbarten uns somit nicht nur die Welt im Lichte dessen, was erstrebenswert und das Beste für uns ist, sie seien auch konstitutiv für unsere praktische Tätigkeit, insofern wir unsere Handlungen an diesen Gütern orientieren. Sollten unsere gesellschaftlichen Praktiken keine geeigneten Güter instituieren und aufrechterhalten, werde Anerkennung als entfremdend und nicht als versöhnend erfahren. Anerkennung ist folglich, so Pinkard, nicht nur unter dem Gesichtspunkt menschlicher Tätigkeit bedeutsam, sondern auch im Hinblick auf die Chancen, in der modernen Welt zu Hause zu sein. In seinem Beitrag vertritt Daniel Brudney die These, dass der Marx von 1844 eine bestimmte Vorstellung von einer wohlgeordneten Gesellschaft hatte. Brudney zeigt, dass die wahre kommunistische Gesellschaft, die Marx damals vor Augen stand, im Grunde mit ei-
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ner bestimmten Praxis gesellschaftlicher Anerkennung verbunden war, die den Selbstwert ihrer Mitglieder aufrechterhalten konnte. Kommunistische Selbstverwirklichung sei Selbstverwirklichung durch andere, d. h. durch eine bestimmte Praxis der gesellschaftlichen Anerkennung individueller produktiver Tätigkeiten. Im Unterschied zu den meisten Vorstellungen von Anerkennung, die eine auf Achtung gegründete anerkennungstheoretische Traditionslinie bilden, konzentriere sich Marx (wie Mill und andere in sentimentalistischer Traditi on) jedoch auf eine Anerkennungsvorstellung, die auf dem Sich-um-andere-Sorgen beruht. Aus diesem Grunde sucht Brudney in einem zentralen Abschnitt seiner Abhandlung zu klären, welche Art sorgebasierter Vorstellung von Anerkennung Marx konkret vor Augen gestanden haben mag, wie die entsprechenden Anerkennungspraktiken zu einer grundlegenden Änderung der Selbstwahrnehmung der Individuen und ihrer gesellschaftlichen Stellung führten könnten und ob diese Form von Anerkennung der ihr von Marx gestellten Aufgabe gewachsen ist: nämlich die entfremdenden Auswirklungen der gesellschaftlich aufgezwungenen Ichbezogenheit zu überwinden. Ein weiteres Hauptziel des Beitrags besteht in der Abwägung verschiedener Einwände, die man gegenüber der Marxschen Vision einer wahren kommunistischen Gesellschaft erheben könnte, indem man die begriffliche und praktische Realisierbarkeit des von Marx vorgestellten menschheitsumfassenden Interesses hinterfragt, das fur die Anerkennungspraxis seiner wohlgeordneten Gesellschaft zentral ist. Korrekt verstanden sei eine sorgebasierte Anerkennungspraxis weder eine begriffliche noch eine praktische Unmöglichkeit. So interpretiert Brudney Marx' Vorstellungen von einer neuen kommunistischen Gesellschaft und ihren individuellen Mitgliedern in diesem Sinne, die damit als realistische utopische Visionen einer wohlgeordneten Gesellschaft verstanden und im Vergleich mit anderen Visionen wohlgeordneter Gesellschaften - wie etwa der liberalen, auf Achtung gegründeten Idee - beurteilt werden müssen. Die Ausführungen schließen mit einigen Überlegungen über die jeweilige Durchführbarkeit und Beständigkeit von weniger wohlgeordneten Gesellschaften, deren Anerkennungsbeziehungen auf Achtung oder Sorge gegründet sind. Andreas Wildt sucht den Grad zu erfassen, in dem ein sachgemäßes psychoanalytisches Verständnis des Begriffs wie des Begriffsumfangs von Anerkennung mit dem von Philosophie und Kritischer Theorie artikulierten Anerkennungsparadigma harmoniert. Wildt stützt sich dabei auf eine Palette verschiedener konzeptioneller Gebrauchsweisen des Anerkennungsbegriffs, die von Freud über die Psychoanalyse in der Tradition von Melanie Klein bis hin zu jüngeren Objektbeziehungstheorien wie der von Donald Winnicott und Jessica Benjamin reicht. Um die Fragestellungen präziser zu fassen, unterscheidet er zwischen zwei verschiedenen Bedeutungen von Anerkennung. Was er „propositionale Anerkennung" nennt, betrifft die in der kindlichen Entwicklung sich vollziehende kognitive und konative Bestätigung des wie auch das affektive S ich-Arrangieren mit dem - propositionalen Gehalt sozusagen der schmerzlichen Tatsachen des Beziehungslebens: nämlich dass das Kind völlig von der Mutter abhängig, die Mutter aber vom Kind unabhängig ist. Im Unterschied dazu meint „personale Anerkennung" die positive Bestätigung einer anderen Person im Lichte ihrer individuellen Interessen, Fähigkeiten, Leistungen und Rechte, wobei diese Form von Intersubjektivität völlig wechselseitig zu werden vermag. Er vertritt die These, dass die propositionale Anerkennung genetisch wie begrifflich den Vorrang vor der personalen Anerkennung habe. Dafür sprächen eine Reihe von Gründen, die innerhalb einzelner psychoanalytischer anerkennungstheoretischer Diskursstränge, aber auch über diese übergreifend vorgebracht werden. Wildt zeigt auch, dass seine Thesen über das Verhältnis von propositionalen und personalen Anerkennungsfor-
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men wichtige, möglicherweise auch destabilisierende Konsequenzen für jene ontogenetische Vorstellung haben, die das Anerkennungsparadigma zugrundelegt, das in den gegenwärtigen philosophischen und sozialtheoretischen Debatten vorherrscht. In „Zur Neubestimmung von Anerkennung" umreißt Nancy Fraser ein Zentralthema der zeitgenössischen Anerkennungstheorie (wie auch verschiedener Beiträge des vorliegenden Bandes): Wie haben wir uns die Beziehungen konkret vorzustellen, die zwischen gesellschaftlichen und politischen Kämpfen um Anerkennung einerseits und Wirtschaftssystemen und der Gerechtigkeit ihrer distributiven Folgen andererseits bestehen? Fraser stimmt der Anerkennungstheorie dahingehend zu, dass viele Kämpfe, die in letzter Zeit um die Anerkennung kultureller Unterschiede ausgetragen wurden, eine bedeutende Gerechtigkeitskomponente besitzen. Zugleich befürchtet sie jedoch, dass die Konzentration auf Anerkennung die traditionelle Grammatik emanzipatorischer, der Verteilungsgerechtigkeit verpflichteter Bewegungen an den Rand zu drängen oder gar zu ersetzen droht. Angesichts globalisierter Kapitalmärkte und zunehmender wirtschaftlicher Ungleichheit sowohl innerhalb von Staaten als auch global sieht Fraser die Gefahr, dass die Anerkennungstheorie weder die begrifflichen noch die normativen Mittel besitzt, das Problem der Verteilungsungerechtigkeit anzugehen. Soweit die Theorie der Anerkennung darüber hinaus nicht nur offensichtlich emanzipatorische Kämpfe um kulturelle Akzeptanz zu bestärken scheint, sondern auch ausgesprochen verwerfliche Bewegungen, die auf kulturalistischem und fremdenfeindlichem Chauvinismus beruhen, drohe, so behauptet Fraser, die Fokussierung auf Problemen von Identität und der Politik der Differenz, Gruppenidentitäten zu simplifizieren, zu verdinglichen und damit künstlich zu verfestigen. Obwohl gesellschaftliche Anerkennung in einer multikulturellen Welt eine Notwendigkeit sei, so berge sie doch auch die Gefahr, Separatismus, Intoleranz, Patriarchismus und Autoritarismus zu stärken. Fraser vertritt die These, gegenwärtige Theorien der Anerkennung sollten sich, um das Problem der Verdinglichung zu bewältigen, an einem Statusmodell, nicht aber an einem Identitätsmodell orientieren. Darüber hinaus sollen sie monistischen Ambitionen einer umfassenden Darstellung gesellschaftlicher Beziehungen abschwören und stattdessen eine multimodale Analyse betreiben, welche die kulturelle Dynamik von Anerkennung von der Wirtschaftsdynamik der Umverteilung analytisch unterscheidet. Axel Honneth, einer der führenden zeitgenössischen Anerkennungstheoretiker, lehnt Fräsers Präferenz für eine separate funktionalistische Analyse der Wirtschaftsdynamik jenseits der hermeneutischen Darstellung der normativen Infrastruktur von Anerkennungsbeziehungen ab. In der hier vorliegenden Abhandlung versucht Honneth, den Begriff sinnvoller, gesicherter und emanzipierender Arbeit jenseits eines bloß utopischen Sollens zu profilieren, und er tut dies angesichts dessen, was viele Intellektuelle als die verhärtete Wirklichkeit eines globalisierten kapitalistischen Arbeitsmarktes betrachten. Obwohl die Arbeit, insbesondere die Lohnarbeit durch die wirtschaftlichen Umgestaltungen immer weniger verlässlich, zunehmend knapp, schlecht bezahlt und unsicher geworden ist, so behauptet doch Arbeit eine Vorrangstellung in der gesellschaftlichen Lebenswelt - sowohl hinsichtlich der Organisation des Alltagslebens als auch als Zentrum der Identitätsbildung. Deshalb schlägt Honneth in seiner Abhandlung eine Neufassung der Kategorie gesellschaftlicher Arbeit für die Zwecke der Kritischen Theorie vor. Insbesondere wird erstens gezeigt, wie bestimmte, die Arbeit betreffende normative Forderungen sich im Medium immanenter Kritik als in die Strukturen der gesellschaftlichen Reproduktion eingebaute Vernunftansprüche verstehen lassen. Zudem wird dafür argumentiert, dass eine Kritische Theorie der zeitgenössischen
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Arbeitswelt sich nicht auf die Universalisierung des romantischen Ideals organischer, ganzheitlicher Handwerkstätigkeit gründen lässt und sie auch die Grenzen funktionalistischer Wirtschaftsvorstellungen überschreiten muss, um die moralische Infrastruktur moderner Arbeitsorganisation zu untersuchen. Zweitens wird gezeigt, dass gesellschaftliche Arbeit nur dann als eine immanente Norm fungieren kann, wenn sie im Sinne von Anerkennungsbedingungen verstanden wird, wie sie in modernen Austauschbeziehungen vorliegen. Wenn schließlich der Markt, statt ihn aus dem Blickwinkel der Systemintegration zu sehen, unter dem Gesichtspunkt der Sozialintegration begriffen wird, könne die Beziehung zwischen Arbeit und Anerkennung zu einer robusten normativen Konzeption der Arbeitsteilung fuhren und auf diese Weise eine wesentliche normative Quelle von Moralprinzipien freigelegt werden, die für die Einschätzung und Umgestaltung des gegenwärtigen gesellschaftlichen Lebens notwendig sind. Das gleiche Themengebiet der Beziehung zwischen Anerkennungstheorie und Wirtschaft betritt Emmanuel Renault, der in seinem Aufsatz fragt, ob und in welchem Sinne Honneths Philosophie der Anerkennung als eine Erneuerung des ursprünglichen, von Max Horkheimer in den 1930er Jahren ausgearbeiteten Programms Kritischer Theorie verstanden werden kann. Obgleich der Terminus „Kritische Theorie" ursprünglich nur eine euphemistische Referenz an den Marxismus war, behauptet Renault, dass sich die kontroverse Frage nach der Beziehung zwischen der Theorie der Anerkennung und dem ursprünglichen Programm der Kritischen Theorie nur dann klären lasse, wenn das Verhältnis dieses Theorieprogramms zu Marx selber geklärt werde. Im vorliegenden Aufsatz analysiert Renault verschiedene Schlüsselkomponenten der Anerkennungstheorie, um einschätzen zu können, inwieweit die von Marx gestellten kritischen Aufgaben innerhalb ihres eigenen sozialtheoretischen Rahmens erneut aufgegriffen werden können. Die Ausführungen konzentrieren sich auf folgende Fragen: 1. Ist die der Theorie angemessene Rolle die einer normativen Philosophie oder die einer Sozialtheorie? 2. Welches Verständnis sozialer Kämpfe zeichnet sie aus? 3. Was sind die interpersonalen Interaktionen, Institutionen und sozialen Strukturen, was deren Wechselbeziehungen - insbesondere hinsichtlich ihres Erklärungspotentials für den Kapitalismus und die gesellschaftliche Entwicklung? 4. Welche Beziehung besteht zwischen verschiedenen historischen Diagnosen und bestimmten Kritiken der gegenwärtigen Gesellschaft, wie sie sich in konkurrierenden Modellen zeitgenössischer, durch Marx inspirierter Gesellschaftstheorie bekunden? Abschließend vertritt Renault die These, die Theorie der Anerkennung könne in der Tat das Erbe der Kritischen Theorie antreten - d. h. als eine interdisziplinäre Theorie, die von der Absicht geleitet ist, die abstrakten Fragen der politischen Philosophie so zu reformulieren, dass sie durch eine materialistische Gesellschaftstheorie in Angriff genommen werden können. Allerdings werde dies nur dann möglich sein, wenn sie ihren kritischen Scharfsinn mit einer umfassenden Gesellschaftstheorie verbindet, die überzeugender zu sein hat als der ursprüngliche Marxismus oder die Theorie des kommunikativen Handelns. Können, so fragt Hans-Christoph Schmidt am Busch, die Analyse des und die Kritik am gegenwärtigen Kapitalismus durch eine auf diese Zwecke zugeschnittene Theorie der Anerkennung geleistet werden? Zur Beantwortung dieser Frage umreißt er erst einmal Honneths Anerkennungstheorie, rekonstruiert die gegen dessen Kapitalismusanalyse gerichteten Einwände (deren profundeste von Nancy Fraser stammen) und zeigt dann, wie eine sorgfaltige Betrachtung der Beziehung zwischen sozialer Wertschätzung und wirtschaftlichen Tätigkeiten diese Einwände entschärfen kann und gleichzeitig überzeugendere Antworten auf drängende
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sozialtheoretische Fragen vermittelt. Insbesondere vertritt Schmidt am Busch die These, dass theoretisch sorgfaltig zwischen verschiedenen Arten von Wertschätzung, Selbstwertschätzung und deren jeweiligen Beziehungen zur eigenen wirtschaftlich relevanten Arbeit zu unterscheiden sei. Die Kritische Theorie müsse diese Differenzierung vornehmen, um begründet darlegen zu können, wie gegenwärtige Praktiken meritokratischer Wertschätzung zu einem letztlich unstillbaren Bereicherungswillen und beruflichem Erfolgsstreben, Geltungskonsum sowie zur Schwächung sozialstaatlicher Sicherungssysteme führen. Darlegungen dieser Art machen dann aber die vermeintliche Notwendigkeit gesonderter funktionalistischer Überlegungen zu ökonomischen Fragen obsolet. Zugleich machen sie den Weg frei für die Entwicklung einer umfassenden, anerkennungstheoretisch gegründeten Analyse und Kritik des Kapitalismus. Auch Jean-Philippe Deranty erhebt in seinem Beitrag den Einwand, eine à la Fraser betriebene Kritik anerkennungstheoretischer Zugänge zur politischen Ökonomie verfehle ihr Ziel. Allerdings setzt seine Verteidigung an anderer Stelle an. Deranty wendet sich direkt der vermeintlich größten Schwachstelle der Anerkennungstheorie zu - ihrem Versuch, die Quellen distributiver Ungerechtigkeit mittels eines moralischen, psychologischen Konzepts zu verdeutlichen - , rekonstruiert die kritischen Einwände, ehe er einwendet, nur das hermeneutisch sensible Instrumentarium der Anerkennungstheorie könne die Sozialpathologien auf dem Niveau und in der Grammatik genau erfassen, auf dem und in der sie alltagsweltlich von jenen erfahren werden, die unter den verheerenden Wirkungen wirtschaftlicher Ungerechtigkeit leiden. Obwohl diese ,Kritik durch Erfahrung' deutlich mache, dass die Anerkennungstheorie beim Erfassen von Sozialpathologien weit scharfsinniger verfahrt als alternative funktionalistische Darstellungen ökonomischer Erscheinungen, demonstriere sie doch noch nicht die explanatorischen Vorzüge der Anerkennungstheorie. Um diese Vorzüge zu erweisen, deutet Deranty auf die großen Schnittmengen, die zeitgenössische Formen unorthodoxer politischer Ökonomie, u. a. die Institutionenökonomik, insbesondere aber die Regulationstheorie, mit der Theorie der Anerkennung teilen. In diesen sieht er folglich vielversprechende Kandidaten für eine Integration rekognitiver Sozialtheorie in die ökonomische Theorie. Angesichts einer solchen Perspektive müsse sich die Kritische Theorie nicht mit einer zweigeteilten Analyse bescheiden, die das Moralische vom Ökonomischen trennen und, zumindest stillschweigend, einräumen würde, dass gegenwärtige kapitalistische Märkte einen relativ normfreien Block der gesellschaftlichen Wirklichkeit bilden, der jeder emanzipatorischen Umgestaltung widerstreitet. Die letzten beiden Abhandlungen wenden sich wieder grundlegenden Fragen der Ontologie, Handlungstheorie, der Moralpsychologie und Ethik zu. Sie tun dies, indem sie Akte der Anerkennung selbst zum Gegenstand ihrer sorgfaltigen Analysen machen. So beschäftigt sich Arto Laitinen in seinem Beitrag mit der Frage, was genau als Gegenstand von Anerkennung zählt, wer als Anerkennungsgeber, wer oder was als Gegenstand von Anerkennung zählen kann und was genau der Bereich der Merkmale ist, auf die man in Akten der Anerkennung antwortet. Diese Analyse erfolgt angesichts der anerkennungstheoretisch grundlegenden Erkenntnis, dass Anerkennung für Individuen wie im gesellschaftlichen Leben speziell deshalb bedeutsam ist, weil sie in einem wesentlichen Zusammenhang mit den praktischen Selbstbeziehungen des jeweiligen Individuums steht, insbesondere mit dessen Selbstsinn [senseof-self]. Allerdings bemerkt Laitinen dabei eine Spannung, die in der Anerkennungstheorie zwischen denen bestehe, die sich auf eine von zwei Einsichten konzentrieren. Einerseits wer-
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de behauptet, Anerkennungsakte seien dann erfolgreich, wenn ein Anerkennungsgeber angemessen auf einige normativ bedeutsame Gegenstandsmerkmale antwortet - eine erfolgreiche Anerkennung könne somit ohne irgendeine normativ geleitete Wechselseitigkeit seitens des Anzuerkennenden vonstatten gehen. Laitinen nennt das die Intuition der „adäquaten Würdigung". Andererseits werde behauptet, erfolgreiche Akte interpersonaler Anerkennung können nur dann erfolgen, wenn der Empfanger von Anerkennung bestimmte Fähigkeiten besitzt, insbesondere jene, den Anerkennenden als einen zur Anerkennung befähigten Anerkennenden anzuerkennen. Laitinen nennt das den „Gegenseitigkeitsgedanken". Weil aber fur jede der beiden Einsichten gute Gründe sprechen und die Heraushebung eines von beiden den Bereich anerkennungstheoretisch relevanter Phänomene in ungerechtfertigter Weise beschränken würde, benötigten wir, so Laitinen, eine zweiteilige, zwischen beiden Sinnrichtungen unterscheidende Darstellung. Obwohl er eingesteht, dass es sich hierbei nur um eine technisch-begriffliche Differenzung handelt, empfiehlt er zwischen anerkennen und anerkannt werden im Hinblick auf adäquate Würdigung und Anerkennung geben und erhalten für den Gegenseitigkeitsgedanken zu unterscheiden. Heikki Ikäheimo zielt auf eine analytische Darstellung von Anerkennung, die Themen verschiedener philosophischer Traditionslinien und Sachbereiche systematisch miteinander zu verbinden vermag. Er plädiert dafür, Anerkennung generell als „praktische Einstellung, etwas oder jemanden für eine Person zu halten", zu verstehen. Damit erhebt er den Anspruch, hinter das Wesentliche der Rede von Anerkennung zu kommen - wie verschieden das Gesagte auch immer sein mag - , die sowohl die gegenwärtige kritische Sozialtheorie als auch die zeitgenössische Hegelforschung praktiziert. Seine Darstellung sei umfassend genug, um die verschiedenen, in diesen Diskursen angesprochenen Themen mittels eines einheitlichen, holistischen Anerkennungsbegriffs abzudecken. Auch behauptet er, seine Konzeption sei in der Lage, die mannigfaltigen anerkennungstheoretischen Diskussionen zusammenzufuhren, die in den verschiedenen philosophischen Teilgebieten geführt werden - in der Ontologie, der philosophischen Anthropologie und Handlungstheorie wie auch in der Ethik, der Politik- und Sozialtheorie. Ikäheimos strategische Absicht ist es zu zeigen, inwiefern Anerkennung einerseits für verschiedene Aspekte voll entfalteten Personseins konstitutiv ist, andererseits aber auch (möglicherweise) den grundlegenden Faktor bei der Bildung von Werturteilen bildet, welche Handlungen, Personen, interpersonale Beziehungen und sozialpolitische Institutionen betreffen. Abschließend verknüpft er seine Anerkennungsanalyse mit der Vorstellung, gesellschaftliche Anerkennung sei der Motor geschichtlichen Fortschritts. Letztendlich möchte er zeigen, dass die Philosophie der Anerkennung auf ein holistisches philosophisches Bild des gesellschaftlichen Lebens zielt, das sowohl ontologisch akkurat als auch gesellschaftskritisch aufschlussreich ist. Aus dem Amerikanischen
von Veit Friemert
Teil I
FREDERICK NEUHOUSER
Rousseau und das menschliche Verlangen nach Anerkennung
Wenn es auch nur selten vergegenwärtigt wird, so ist doch Rousseau der erste Denker in der Geschichte der Philosophie, der das Streben nach Anerkennung durch Andere im Innersten der menschlichen Natur 1 lokalisiert und es damit zu einem zentralen Thema der Moral-, Sozial- und politischen Philosophie macht. Mehr noch, die Ansichten Kants, Hegels und aller späteren Theoretiker der Anerkennung lassen sich als Weiterentwicklungen oder Revisionen der Rousseauschen Position begreifen, die sich innerhalb eines grundlegenden Rahmens bewegt, der im Diskurs über die Ungleichheit, im Emile und im Gesellschaftsvertrag abgesteckt wird. Es lässt sich ohne Übertreibung sagen, dass sich die Philosophie der Anerkennung im 19. und 20. Jahrhundert zu Rousseau verhält wie die abendländische Philosophie zu Piaton: als eine Reihe von Fußnoten. In diesem Aufsatz versuche ich, Rousseaus Überlegungen zum menschlichen Streben nach Anerkennung - der Leidenschaft, die er / 'amour propre nennt - in großen Linien nachzuzeichnen. Es geht mir an dieser Stelle nicht um die Details von Rousseaus komplexer Sicht.2 Ich möchte vielmehr ein allgemeines Bild ihrer wichtigsten Bestandteile skizzieren und zeigen, wie diese sich zu einer ebenso plausiblen wie umfassenden Philosophie der Anerkennung zusammenfugen. Genauer gesagt, werde ich vier Fragen behandeln, die für Rousseaus Theorie grundlegend sind: 1 ) Um was für eine Art von Leidenschaft handelt es sich bei / 'amour propre? 2) Warum ist l'amour propre die Hauptquelle der mannigfaltigen Übel, die vielen Wenn Rousseau l'amour propre im Teil I des Diskurses über die Ungleichheit nicht zur „ursprünglichen" Natur des Menschen rechnet, dann will er damit nur darauf hinweisen, dass sie ihrem Wesen nach eine soziale Leidenschaft ist, nicht aber etwas, das menschlichen Individuen „an sich" (unabhängig von ihren Beziehungen zu anderen) eignet. In diesem Verständnis bezeichnet,menschliche Natur' die grundlegenden Fähigkeiten und Triebe, mit denen die Natur den Menschen als Individuum ausgestattet hat, unabhängig von seinen sozialen Beziehungen. Indem er unserer ursprünglichen Natur amour de soi (Selbstliebe), Mitleid, Perfektibilität und freien Willen zuschreibt, will Rousseau nur darauf hinweisen, dass es sich bei diesen Eigenschaften, im Gegensatz zu / 'amour propre, um solche handelt, die Individuen im Prinzip fur sich allein besitzen können, selbst wenn sie außerhalb der Gesellschaft existieren würden (was jedoch, nach Rousseau, für ein menschliches Wesen unmöglich ist). L'amourpropre kann hingegen nur in einem weiteren Sinne der „Natur des Menschen" zugerechnet werden: Sie ist eine grundlegende Triebkraft menschlichen Verhaltens, die stets in irgendeiner Weise aktiv ist, wenn Menschen als soziale Wesen existieren (was sie immer tun) (vgl. J-J. Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit; Discours sur l'inégalité, hg. u. übers, v. H. Meier, Paderborn 3 1993, S. 94 ff.; J.-J. Rousseau, Discours sur l'inégalité, in: ders., Œuvres complètes, Bd. 3, Paris 1964, S. 140 ff. - im Folgenden abgekürzt: OC 3). Auf diese werde ich in meinem Buch Rousseaus Drive for Recognition
Theodicy of .Amour Propre':
(Oxford 2009) weiter eingehen.
Evil, Rationality
and the
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Denkern - zum Beispiel Hobbes und Augustinus - als intrinsische Bestandteile der condition humaine erschienen? 3) Mit welchen sozialen und politischen Maßnahmen kann diesen Übeln abgeholfen werden? 4) Warum hängt der Erfolg des einzig wirksamen Gegenmittels gegen diese Übel - die Entwicklung und Anwendung der menschlichen Vernunft - davon ab, dass l'amour propre auf die richtige Weise ausgebildet, nicht aber unterdrückt und ausgemerzt wird?
I. Was ist l'amour propre? Wie der Begriff andeutet, handelt es sich bei l 'amour propre um eine Form der Liebe zu sich selbst - eine Liebe zu dem, was jemandem eigen ist oder gehört. „Liebe zu sich selbst" bedeutet in diesem Zusammenhang, eigene Interessen zu verfolgen: Sich selbst zu lieben heißt, am eigenen Wohl interessiert zu sein und das, was man konkret darunter versteht, erreichen zu wollen. Amour propre bedeutet jedoch offensichtlich etwas Spezifischeres als nur, die eigenen Interessen zu verfolgen, denn Rousseau unterscheidet / 'amour propre von einer anderen Form der Liebe zu sich selbst, die er als l 'amour de soi (oder gleichbedeutend / 'amour de soi-même) bezeichnet. Da Rousseau dort, wo er diese beiden Formen der Liebe zu sich selbst voneinander abgrenzt, einer Definition von / 'amour propre am nächsten kommt, sollten wir mit dieser Gegenüberstellung beginnen: „Man darf / ' a m o u r p r o p r e [Eigenliebe] und l'amour de soi-même [Selbstliebe] nicht durcheinanderbringen - zwei Leidenschaften, die ihrer Natur und ihren Wirkungen nach sehr verschieden sind. L'amour de soi-même ist ein natürliches Gefühl, das jedes Tier dazu veranlaßt, über seine eigene Erhaltung zu wachen, und das, im Menschen von der Vernunft geleitet und durch das Mitleid modifiziert, die Menschlichkeit und die Tugend hervorbringt. L'amourpropre ist nur ein relatives, künstliches und in der Gesellschaft entstandenes Gefühl, das jedes Individuum dazu veranlaßt, sich selbst höher zu schätzen als jeden anderen, das den Menschen all die Übel eingibt, die sie sich wechselseitig antun, und das die wahrhafte Quelle der Ehre ist."3
Es fallt zunächst auf, dass Rousseau die beiden Formen der Liebe zu sich selbst anhand des Objekts oder Guts unterscheidet, nach dem sie uns jeweils streben lassen: L'amour de soi ist auf die Selbsterhaltung gerichtet 4 , während es bei / 'amour propre um Urteile über Verdienst und Ehre geht, darum, wie gut man „angesehen" ist. Wie Rousseau an anderer Stelle ausführt, wird ein Wesen, das l 'amour propre besitzt, von dem Verlangen angetrieben, „eine Stellung einzunehmen, mitzuzählen und fur etwas gehalten zu werden". 5 Mit anderen Worten: Ein sol-
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J.-J. Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, a. a. O., S. 369; OC 3, S. 219.
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Obwohl Rousseau dies behauptet, sind die Zwecke von l'amour de soi nicht auf die Selbsterhaltung beschränkt. N. J. H. Dent weist daraufhin, dass die Güter, nach denen l'amour de soi uns streben lässt, sich mit unserem Selbstverständnis ändern können: In dem Maße, in dem wir uns als mehr begreifen als nur körperliche Wesen, werden die Güter, nach denen wir streben, über bloße Lebensnotwendigkeiten hinausgehen (vgl. N. J. H. Dent, Rousseau, Oxford 1988, S. 89 ff.).
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J.-J. Rousseau, Emil oder über die Erziehung, übers, u. hg. v. L. Schmidts, Paderborn 41978, S. 152; J.-J. Rousseau, Emile ou de l'éducation, in: ders., Œuvres complètes, Bd. 4, Paris 1969, S. 421 - im Folgenden abgekürzt: OC 4.
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ROUSSEAU UND DAS MENSCHLICHE VERLANGEN NACH ANERKENNUNG
ches Wesen empfindet das Bedürfnis, geachtet und bewundert oder (in irgendeiner Hinsicht) für wertvoll angesehen zu werden. Dem zitierten Abschnitt zufolge zeichnet sich l 'amour propre durch eine zweite Eigenschaft aus: ihre „Relativität", die in Gegensatz zum „absoluten" Charakter von l'amour de soi steht.6 „Relativ" bedeutet hier relativ zu anderen Subjekten. Es geht Rousseau darum, dass das Gut, nach dem / 'amour propre strebt, durch bestimmte Verhältnisse, in denen man zu anderen Subjekten steht, definiert wird. Genau genommen, ist l'amour propre in zweifacher Hinsicht relativ. Zunächst ist das Gut, nach dem / 'amour propre strebt, seinem Wesen nach komparativ. Geachtet werden zu wollen bedeutet, eine bestimmte Stellung zu wünschen, die im Verhältnis zur Stellung Anderer steht.7 Mit anderen Worten, die Achtung, die l'amour propre erreichen will, ist ein „positional good" (ein stellungsrelatives Gut). Erfolg zu haben (das soziale Ansehen zu erwerben, nach dem ich strebe) bedeutet für mich, Erfolg im Vergleich mit Anderen zu haben. Das Ausmaß, in dem mein Bedürfnis nach Anerkennung befriedigt wird, hängt somit davon ab, wie gut - oder wie schlecht - es Anderen gelingt, das ihrige zu befriedigen. Nun ist es wichtig, sich klar zu machen, dass eine relative Stellung nicht notwendig eine höhere oder niedrigere Stellung sein muss. Wenn l'amour propre mich bloß nach der Achtung streben lässt, die mir als menschlichem Wesen zusteht - einer Achtung, die ich bereit bin, in gleichem Maße anderen zu zollen - , dann bestimmt sich die Stellung, die ich anstrebe, im Verhältnis zu Anderen, ist jedoch keine höhere Stellung. Mit anderen Worten: Auch eine gleiche Stellung einzunehmen bedeutet, eine Stellung relativ zu Anderen einzunehmen. Diese Eigenschaft von / 'amour propre steht insofern im Gegensatz zum nicht-relativen Charakter von / 'amour de soi, als der Wert der Güter, nach denen / 'amour de soi strebt, nicht davon abhängt, wie viel oder wie wenig Andere von diesen Gütern besitzen. Wenn wir uns noch einmal vergegenwärtigen, dass / 'amour de soi der Selbsterhaltung dient, dann wird der Gegensatz zwischen beiden klar: Inwieweit meine Nahrung, meine Behausung und mein Schlaf meine körperlichen Bedürfnisse befriedigen, ist unabhängig davon, wie es anderen in Bezug auf ihre Bedürfnisse ergeht. Im Falle von l 'amour propre hingegen ist die Befriedigung meiner Bedürfnisse davon abhängig, wie sich die Quantität und Qualität der Wertschätzung, die Andere mir entgegenbringen, im Verhältnis zur Quantität und Qualität der Wertschätzung, die sie selbst genießen, verhalten. Da das Gut, nach dem / 'amour propre strebt, die Wertschätzung durch Andere ist, ist sie noch in einem weiteren Sinne relativ: Sie bedarf zu ihrer Befriedigung der Meinungen anderer Subjekte - ihre Befriedigung besteht im Grunde genommen aus diesen Meinungen. 8 L'amour propre ist in diesem zweiten Sinne relativ, da ihr Ziel - die Anerkennung durch Andere - wesentlich sozialer Natur ist. Auch hier steht / 'amour propre in Gegensatz zu / 'amour de soi: Insofern die Meinung unserer Mitmenschen nicht konstitutiv für die Güter ist, nach denen
6
Vgl. ebd., S. 214; OC 4, S. 494.
7
„Bedenkt, daß sich das relative Ich, sobald sich die Eigenliebe entwickelt hat, ständig in das Spiel einmischt, und daß der Jüngling nie die anderen beobachtet, ohne auf sich selbst zurückzukommen und sich mit ihnen zu vergleichen." (Ebd., S. 249; OC 4, S. 534)
8
Rousseau verwendet „relativ" in diesem Sinne in: ders., Emil, a. a. O., S. 12 f.; O C 4, S. 2 4 8 f. Dieses Verständnis des Begriffs ist auch Voraussetzung der These, dass
l'amour propre
der Bestätigung ihrer
eigenen vergleichenden Urteile durch Andere bedarf (vgl. ebd., S. 213; OC 4, S. 534).
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I 'amour de soi strebt, bindet uns / 'amour de soi nicht direkt und notwendigerweise an andere Subjekte, wie es / 'amour propre tut. Natürlich setzt die Befriedigung der zur Selbsterhaltung notwendigen Bedürfnisse unter nahezu allen vorstellbaren Lebensumständen die Kooperation mit anderen als Mittel zum Zweck voraus. Doch bleibt das Gut, das man vermittels dieser Kooperation erlangen will - wenn es sich dabei wirklich um ein Gut im Sinne von / 'amour de soi handelt - , den Beziehungen zu Anderen äußerlich und kontingent. Darüber hinaus ist l'amour propre nicht nur relativ, sondern auch „künstlich" [factice]. Auch in dieser Hinsicht steht sie im Gegensatz zu l'amour de soi, einem „natürlichen" Gefühl. Es ist wichtig, sich klar zu machen, dass Rousseau, wenn er l 'amourpropre als künstlich bezeichnet, damit nicht sagen will, dass das Streben nach Anerkennung ein nur akzidenteller Bestandteil der menschlichen Wirklichkeit ist oder dass es ohne l'amour propre besser um die Menschen bestellt wäre. Er meint vielmehr, dass / 'amour propre ein wesentlich soziales Phänomen ist und ihre Formen aus diesem Grunde höchst unterschiedlich sein können und von der Beschaffenheit der sozialen Welt abhängen, die ihre Träger bewohnen. Menschen können als solche nicht ohne l'amour propre existieren, doch die Art, in der sich l'amour propre in der Welt manifestiert, hängt jeweils von den sozialen Institutionen ab, von denen sie geformt wird. Die bemerkenswerte Wandlungsfähigkeit von l 'amour propre ist fur Rousseau von zentraler Bedeutung. Man sollte dies nicht aus den Augen verlieren, wenn man auf Passagen wie die anfangs zitierte stößt, in denen / 'amour propre ein scheinbar starrer und schädlicher Charakter zugeschrieben wird. Wenn Rousseau dort bemerkt, dass l'amour propre ,jedes Individuum dazu veranlaßt, sich selbst höher zu schätzen als jeden anderen [und] den Menschen all die Übel eingibt, die sie sich wechselseitig antun"9, dann sollte man veranlassen' und ,eingeben' im Sinne von Tendenz und Möglichkeit, nicht von Zwang und Notwendigkeit verstehen. Wie bereits festgestellt, ist Rousseau der Ansicht, dass l'amour propre die Hauptquelle der Übel ist, welche die Menschen bedrängen, aber er meint nicht, dass / 'amour propre notwendigerweise und in jeder möglichen Gestalt Übel hervorruft. Besser von sich zu denken als von anderen, ist sicherlich eine verbreitete Form, in der sich l 'amour propre manifestiert, doch weil l'amour propre „künstlich" ist - weil die Formen, die sie annimmt, stets die Wirkungen kontingenter Umstände sind, die vom menschlichen Willen abhängen - , ist es keineswegs die einzig mögliche. Sich den künstlichen Charakter von l'amour propre zu vergegenwärtigen, ist hilfreich, wenn man den Grund ihrer enormen Veränderlichkeit erhellen will. L'amour propre vermag, kurz gesagt, deshalb höchst verschiedenartige Formen anzunehmen, weil das Streben eines Individuums nach sozialem Ansehen in hohem Maße von seinen „Meinungen" - genauer gesagt, von seinen Vorstellungen von sich selbst - gesteuert wird.10 Die Vorstellungen von sich selbst, um die es hier geht, bestehen nicht nur aus Überzeugungen hinsichtlich des Ausmaßes 9 10
J.-J. Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, a. a. O., S. 369; OC 3, S. 219. J. Cohen hebt dieses Merkmal von / 'amour propre hervor (vgl. J. Cohen, „The Natural Goodness of Humanity", in: Reclaiming the History of Ethics, hg. v. A. Reath u. a., Cambridge 1997, S. 102-137); auch Ν. J. H. Dent (Rousseau, a. a. O., S. 25, 30) macht darauf aufmerksam. Entscheidend dafür, ob l'amour propre bei einem Menschen bös- oder gutartige Formen annimmt - „ob die Leidenschaften, die seinen Charakter beherrschen, menschlich und sanft oder grausam und schädlich sind" - , ist die Vorstellung, die er von sich selbst hat: „welchen Platz er unter den Menschen einnehmen [will]" (J.-J. Rousseau, Emil, a. a. 0 . , S. 239; OC 4, S. 523).
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des eigenen Verdienstes oder Werts, sondern ebenso aus den Idealen, an denen man sich misst und die man zu erreichen versucht. Da diese Vorstellungen von sich selbst äußerst wandelbar sind, kann auch / 'amourpropre bemerkenswert unterschiedliche konkrete Formen annehmen. Mehr noch, um mit Rousseau den Zusammenhang zwischen dem Künstlichen und dem Sozialen zu unterstreichen: Eine der Hauptursachen dafür, dass die Vorstellungen einer Person von sich selbst in hohem Maße wandelbar sind, ist die Tatsache, dass sie von historischen und sozialen Umständen geformt werden, die ihrerseits in hohem Maße veränderlich sind. Weil Sozialisationsprozesse den Wünschen und Idealen, von denen Individuen motiviert werden, bestimmte Formen geben, und weil soziale Institutionen bestimmte Arten, Ansehen zu erwerben, begünstigen, während sie andere ausschließen, werden unterschiedliche Gesellschaften ihren Mitgliedern vielfach unterschiedliche Vorstellungen von persönlichem Wert und damit unterschiedliche Konfigurationen von l 'amour propre aufprägen. Dort, wo Rousseau schildert, wie und warum / 'amourpropre die menschliche Gesellschaft verheert, wird die Heftigkeit und Macht eine zentrale Rolle spielen, mit der l'amour propre von Individuen Besitz ergreift und sie zum Handeln treibt. Dieser heftige und leidenschaftliche Charakter erklärt sich dadurch, dass bei der Aktivität von l 'amour propre etwas sehr Wichtiges auf dem Spiel steht. Ihre Heftigkeit, ihre verzehrende Macht und ihre Fähigkeit, jede menschliche Unternehmung in ihrem eigenen Sinne umzudeuten - all das sind Zeichen für die überragende Bedeutung, die den Zielen von / 'amour propre innewohnt. Es ist kein Zufall, dass Rousseau in seiner Beschreibung der Motive menschlichen Handelns l'amour propre einen ähnlich fundamentalen Status zuschreibt wie den auf die Selbsterhaltung gerichteten Bestrebungen von / 'amour de soi. Dieser gleiche Status widerspiegelt die Tatsache, dass in beiden Formen der Liebe zu sich selbst gewissermaßen das eigentliche Sein des Selbst auf dem Spiel steht. Im Falle von l'amour de soi, die in erster Linie und hauptsächlich auf das physische Überleben gerichtet ist, ist dies offensichtlich, doch gilt es genauso fur / 'amour propre, die auf etwas zielt, das man das moralische und psychologische Überleben des Selbst nennen könnte. Dies ist der Gedanke, den Rousseau vermitteln will, wenn er formuliert, dass ein Individuum, indem es von Anderen anerkannt wird, ein „Gefühl seiner eigenen Existenz"" erlangt. Natürlich bedroht fehlende Anerkennung durch Andere nicht unsere Existenz als physische Entität, und doch versteht jeder, was gemeint ist, wenn man einen Menschen, der keine gesellschaftliche Stellung hat, einen „Niemand" nennt. Die Art von Existenz, um die es hier geht, ist in N. J. H. Dents Beschreibung von Rousseaus Idee der moralischen Präsenz und ihrem Verhältnis zu l'amour propre präzise getroffen: „[Anerkennung durch andere zu erfahren,] ist ein Zeugnis persönlicher Macht und Kraft in der Begegnung und in der Auseinandersetzung mit anderen Personen. Die Zurschaustellung persönlicher Macht ist für einen selbst der Beweis, dass man eine reale, wirksame Existenz hat, eine lebendige Präsenz in der Welt der anderen Menschen. Wir verlangen, um ein Empfinden unserer selbst als lebende, vitale Existenzen zu entwickeln, nach Beweisen für unsere Realität. Diese erhalten wir nur, indem wir uns in unserer Umwelt zur Geltung bringen, sodass wir die Erfahrung einer Welt machen, die Wirkungen unserer Präsenz zeigt." 12
'1
J.-J. Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, a. a. O., S. 269; OC 3, S. 193 (Hervorheb. ν. F. Neuhouser); vgl. auch J.-J. Rousseau, Emil, a. a. 0 . , S. 16, 37 f., 279 f.; OC 4, S. 253, 279 f., 570 f.
12
N. J. H. Dent, Rousseau, a. a. O., S. 49.
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Wenn, allgemein gesprochen, die Realität eines Wesens durch seine Fähigkeit, Wirkungen in der Welt hervorzurufen, angezeigt wird, dann kann die Anerkennung, die es durch andere erfahrt, besonders dann, wenn diese Anerkennung sich in deren Äußerungen und Handlungen niederschlägt, als etwas gelten, was dem Selbst ein Sein oder eine Realität spezifisch menschlicher Art verleiht: Anerkennung zu erwerben bedeutet, eine bestätigte Existenz für Andere als ein tatsächlich vorhandenes, Wirkungen erzeugendes Subjekt zu erlangen.' 3
II. L'amour propre als Hauptquelle menschlicher Übel Als sein Vorhaben im Diskurs über die Ungleichheit bezeichnet Rousseau „die Quelle der Ungleichheit unter den Menschen" 14 , und er will damit zugleich die Quelle der verschiedenartigen Übel, die mit der Ungleichheit einhergehen, aufdecken: Sklaverei, Konflikt, Laster, Selbstentfremdung. Was hier an Rousseaus Position interessiert, ist die Voraussetzung, auf der sie beruht, nämlich dass der Schlüssel zur Erklärung aller nicht-natürlichen Formen menschlicher Ungleichheit darin liegt, ihre psychologische Quelle zu lokalisieren. 15 Rousseaus psychologischer Erklärungsansatz für die Ungleichheit ist deshalb von besonderem Interesse, weil es eben die Entstehung von / 'amour propre - die Entstehung des menschlichen Verlangens nach Anerkennung - ist, die er als den ,,erste[n] Schritt hin zur Ungleichheit und [...] zum Laster" und als die letzte Ursache jener Entwicklungen identifiziert, die „schließlich Zusammensetzungen hervorbrachten], die für das Glück und die Unschuld unheilvoll waren". 16 In diesem Abschnitt möchte ich einige der Gedanken skizzieren, mit denen Rousseau diese zentrale These des Diskurses über die Ungleichheit begründet. Dabei werde ich vor allem versuchen zu erklären, warum Rousseau l 'amour propre nicht bloß als eine von mehreren notwendigen Bedingungen der Ungleichheit betrachtet, sondern als ihre hauptsächliche Ursache - als eine Leidenschaft, die, sobald sie sich einmal im menschlichen Geist eingenistet hat, Ungleichheit und Laster nicht bloß ermöglicht, sondern beinahe unvermeidbar macht. Rousseaus Vorhaben impliziert, dass ohne / 'amour propre diese menschlichen Übel nicht existieren würden. Seine Beschreibung von l'amour propre basiert, mit anderen Worten, auf der Annahme, dass die Elemente der ursprünglichen Natur des Menschen - Mitleid, Selbstliebe, Perfektibilität und freier Wille, also jene Elemente, welche die Individuen „in sich", unabhängig von sozialen Beziehungen besitzen - für sich allein genommen keine ausreichende Erklärung für die Tendenz des Menschen bieten, in Sklaverei, Konflikt, Laster, Elend und Selbstentfremdung zu verfallen. Im vorigen Abschnitt erwähnte ich, dass Rousseau das zerstörerische Potenzial des menschlichen Strebens nach Anerkennung mit der Heftigkeit und Macht erklärt, mit der / 'amour propre Individuen dazu treibt, eine Art von „Sein" für Andere zu erstreben. In der Tat hätte keine der übrigen problematischen Eigenschaften von / 'amour propre besondere Auswirkungen auf die menschlichen Verhältnisse, wenn l'amour propre nur, wie das natürliche 13
Vgl. ebd., S. 50.
14
J.-J. Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, a. a. O., S. 43; OC 3, S. 122.
15
„Nachdem ich bewiesen habe, daß die Ungleichheit im Naturzustand kaum fühlbar ist [...], bleibt mir noch, ihren Ursprung und ihre Fortschritte in den sukzessiven Entwicklungen des menschlichen Geistes zu zeigen." (Ebd., S. 167; OC 3, S. 162 - Hervorh. ν. F. Neuhouser).
16
Ebd., 189; OC 3, S. 169 f.
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Mitleid, „unter bestimmten Umständen" und „mit süße[r] Stimme"' 7 sprechen würde. Rousseau lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Heftigkeit von / 'amour propre, wenn er feststellt, dass von dem Moment an, in dem ziviler Umgang miteinander [civilité] zu einer etablierten sozialen Praxis geworden war, „jedes vorsätzliche Unrecht [...] zu einer Beleidigung [wurde], da der Beleidigte zusammen mit dem Schaden, der aus dem Unrecht entstand, in diesem die Geringschätzung seiner Person sah, die oft unerträglicher war als der Schaden selbst. [Von da an] wurden die Racheakte schrecklich und die Menschen blutgierig und grausam." 18 Es ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass l 'amour propre eine Leidenschaft ist, denn diese Tatsache ist von zentraler Bedeutung, wenn man erklären will, warum die menschliche Gesellschaft in so hohem Maße von Konflikten durchdrungen ist. Für Rousseau ist es nicht die Notwendigkeit der Selbsterhaltung, sondern das „Verlangen nach Reputation, Ehren und Auszeichnungen, [das] alle Menschen zu Konkurrenten, Rivalen oder vielmehr Feinden macht". 19 Rousseau ist der Überzeugung, dass, wenn alltägliche Interessenskonflikte nicht durch die Bedürfnisse von l 'amour propre beeinflusst würden - das heißt, wenn solche Konflikte nicht regelmäßig in Auseinandersetzungen über Wert und Würde der Konfliktparteien umschlagen würden - , Streitigkeiten zwischen den Menschen selten, von kurzer Dauer und ohne bleibende Bedeutung wären. Wenn ein Individuum einem anderen die Früchte stiehlt, die jenes fur seine nächste Mahlzeit gesammelt hat, dann ist es weniger der Hunger, der das bestohlene Individuum zur Rache treibt, als vielmehr seine verletzte amour propre. Für Rousseau ist nicht in erster Linie materielle Not, sondern das unbefriedigte Bedürfnis nach Anerkennung verantwortlich fur jene kriegsähnlichen Verhältnisse zwischen den Individuen, die man leicht für den dauerhaften „natürlichen" Zustand der Menschheit halten kann. Eine weitere Quelle der Gefährlichkeit von / 'amour propre ist ihr relativer Charakter im ersten der beiden weiter oben unterschiedenen Sinne (also insofern die Stellung, die l'amour propre anstrebt, immer im Verhältnis zur Stellung anderer Individuen bestimmt wird). Diese Eigenschaft von l 'amour propre ist deshalb gefährlich, weil Menschen sehr schnell dazu neigen, „gut" (im Verhältnis zu Anderen) mit „besser" gleichzusetzen, wodurch die Suche nach Anerkennung zum Streben danach wird, als besser als Andere anerkannt zu werden. Es liegt auf der Hand, welche ernsthaften Probleme aus / 'amour propre erwachsen, sobald Individuen ein Empfinden dafür entwickeln, dass sie, zur Bestätigung ihres Wertes, darauf angewiesen sind, als ihren Mitmenschen überlegen anerkannt zu werden. Eine offensichtliche Schwierigkeit, die ein allgemein verbreitetes Verlangen nach überlegener Stellung mit sich bringt, ist, dass die systematische Befriedigung von l'amour propre unmöglich wird. Denn sobald / 'amour propre nach überlegener Stellung strebt, wird Anerkennung zu einem knappen Gut: „da jeder bevorzugt werden möchte, gibt es bald viele Unzufriedene." 20 Wenn es einigen gelingt, überlegene Stellungen zu erringen, dann müssen andere zwangsläufig niedrigere Positionen einnehmen, und damit wird Anerkennung, statt für alle erreichbar zu sein, zum Gegenstand endloser Auseinandersetzungen, Konflikte und unerfüllten Verlangens. Ein anderes Problem, das sich aus dem Verlangen nach überlegener Stellung ergibt, ist das Phänomen des „Rattenrennens" oder des Konkurrenzkampfes. Dieses Problem ergibt sich aus 17
Ebd., S. 141, 151; OC 3, S. 154, 156.
18
Ebd., S. 191; OC 3, S. 170.
19
Ebd., S. 257; OC 3, S. 189.
20
J.-J. Rousseau, Emil, a. a. O., S. 214; OC 4, S. 494.
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der Tatsache, dass Überlegenheit, auch wenn man sie erlangt hat, unsicher und kurzlebig ist, solange sie im Verhältnis zu Anderen errungen wird, die ebenfalls nach Überlegenheit streben. Um den Wettbewerber, der mich eben überholt hat, auszustechen, oder um die bevorzugte Position, die ich gerade innehabe, zu verteidigen, muss ich ständig darum kämpfen, meine eigene augenblickliche Stellung zu verbessern. In einer solchen Situation lastet auf den Individuen ein nahezu grenzenloser Druck, ihre Position zu verbessern und damit die Fortschritte ihrer Rivalen auszugleichen oder vorwegzunehmen, was zu einem ruhelosen, endlosen SichÜbertrumpfen fuhrt. Problematisch ist dabei nicht nur, dass l'amour propre nur flüchtige und unsichere Befriedigung findet, sondern auch, dass Bedürfnisse und Wünsche auf eine Art und Weise schrankenlos werden, die das menschliche Glück beeinträchtigt. Während l'amour de soi zufrieden ist, „wenn unsere wahren Bedürfnisse befriedigt sind"21, multipliziert l'amour propre mit rasender Schnelligkeit unsere Wünsche und vermeintlichen Bedürfnisse über jede plausible Vorstellung davon, was unsere „wahren" Bedürfnisse sein könnten, hinaus.22 Solche sich immer weiter ausdehnenden Wünsche zwingen diejenigen, die sie haben, dazu, große Mengen von Mühe und Kraft für die Jagd nach den Gütern und Ehren aufzuwenden, von denen sie hoffen, dass sie ihr Streben nach Überlegenheit befriedigen werden. Doch ist diese Jagd, egal wie sorgfältig und umfassend sie ins Werk gesetzt wird, zum Scheitern verurteilt. Zum einen, weil die Mühe, die sie erfordert, regelmäßig die Befriedigung, die sie verschafft, überwiegt und zum anderen, weil, wenn das Streben nach einer überlegenen Position einmal in diesem Maße die Motivationen von Individuen durchdrungen hat, diese die Fähigkeit verlieren, sich ihrer Besitztümer und Errungenschaften um des intrinsischen (nicht-relativen) Gewinns willen zu erfreuen. In diesem Zustand ist das menschliche Verlangen vollständig pervertiert, denn solche Menschen „[schätzen] die Dinge, die sie genießen[,] nur soweit [...], als die anderen sie entbehren und sie [würden] - ohne daß sich an ihrem Status etwas änderte - aufhören glücklich zu sein, wenn das Volk aufhörte elend zu sein".23 Die erörterten Punkte illustrieren, wie das Trachten nach überlegener Stellung Konflikte und Unglück (frustriertes Verlangen) bei denjenigen hervorruft, die nach solcher Stellung streben. Diese Manifestation von l'amour propre ist jedoch noch in einer weiteren Hinsicht problematisch, nämlich in ihrer Tendenz, Laster oder amoralisches Verhalten hervorzubringen. Laster bedeutet in diesem Zusammenhang die hartherzige Missachtung der Leiden Anderer oder, in seinen destruktiveren Formen, die Neigung, anderen Schaden zuzufügen oder sich an ihrem Unglück zu erfreuen.24 So verstanden, setzt das Laster die Unterdrückung unseres 21
Ebd., S. 213; OC 4, S. 493.
22
Wenn Rousseau von „wahren Bedürfnissen" spricht, sollten diese nicht als eine historisch fixierte oder biologisch determinierte Menge „wahrer" menschlicher Bedürfnisse aufgefasst werden. Rousseau geht vielmehr von einem moralischen Kriterium aus, das bestimmt, was falsche menschliche Bedürfhisse sind: Ein Bedürfnis ist dann falsch, wenn der Versuch, es zu befriedigen, entweder dem eigenen Glück und der eigenen Freiheit widerspricht oder der systematischen Befriedigung der grundlegenden Interessen aller. Mit anderen Worten, falsche Bedürfnisse sind (vermeintliche) Bedürfnisse, ohne die es uns besser ergehen würde, entweder weil sie uns beherrschen oder weil sie zu Frustration und Elend fuhren (vgl. auch J.-J. Rousseau, „Rousseau juge de Jean-Jaques", in: ders., Œuvres complètes, Bd. 1, Paris 1959, S. 846 - im Folgenden abgekürzt: OC 1).
23
J.-J. Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, a. a. O., S. 257; OC 3, S. 189.
24
Zu den Lastern gehören auch Unehrlichkeit, Heuchelei, Hinterlist und Täuschung. Das auch sie fur Rousseau durch das Überlegenheitsstreben von l'amour propre hervorgebracht werden, wird deutlich in: ebd. S. 207 f.; OC 3, S. 175.
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natürlichen Mitleids voraus, was bedeutet, dass der Hang zum Laster, der unter zivilisierten Menschen so verbreitet ist, nicht einfach eine Folge der menschlichen Natur sein kann, sondern einer weiteren Erklärung bedarf. Rousseau findet diese Erklärung im vergleichenden Wesen von l 'amour propre: Wenn der eigene Erfolg daran gemessen wird, dass man erfolgreicher ist als andere, dann kann man diesen Erfolg befördern, indem man denjenigen, mit denen man sich vergleicht, Schaden zufügt. Von dem Moment an, wo ich meine Stellung im Vergleich zur Stellung anderer bewerte, kann ich meine Stellung entweder stärken, indem ich mein Los verbessere oder indem ich das Los meines Gegenübers verschlechtere. So bietet das Verlangen, als überlegen anerkannt zu werden, den Menschen einen Anreiz, der ihnen sonst fehlen würde, sich am Missgeschick Anderer zu erfreuen oder dieses Missgeschick sogar aktiv herbeizufuhren. 25 Wie bereits erörtert, ist / 'amour propre noch in einem zweiten Sinne relativ, und auch in dieser Hinsicht bringt sie Übel hervor. Weil Wertschätzung durch Andere ein Bestandteil des Gutes ist, nach dem l'amour propre strebt - weil zu diesem Gut ein Interesse daran gehört, wie einen andere Subjekte sehen - , sind Wesen, die dieser Leidenschaft unterworfen sind, unmittelbar von Anderen abhängig, um eines ihrer am dringlichsten empfundenen Bedürfnisse zu befriedigen. Für solche Wesen sind Beziehungen zu Anderen nicht nur als Mittel zur Befriedigung ihrer nicht-relativen Bedürfnisse notwendig, sondern auch, weil die positive Meinung Anderer über sie konstitutiv für das Gut ist, nach dem sie streben. Die Gefahr, die diesem Aspekt von l'amour propre innewohnt, wird verständlich im Licht von Rousseaus Sicht auf die Gefahren der Abhängigkeit im Allgemeinen. 26 (Abhängigkeit steht in diesem Kontext in Gegensatz zur Selbstgenügsamkeit oder Autarkie: Ein Individuum ist dann abhängig, wenn es zur Befriedigung seiner Bedürfnisse auf die Kooperation mit Anderen angewiesen ist.) Rousseaus soziales und politisches Denken gründet auf dem Gedanken, dass jede Art von Abhängigkeit die Gefahr mit sich bringt, dass Individuen ihre Freiheit gefährden, um die Bedürfnisse zu befriedigen, derentwegen sie in Kooperation mit Anderen treten. Wenn Freiheit darin besteht, „nicht dem Willen eines Anderen unterworfen zu sein" 27 - oder entsprechend darin, nur dem eigenen Willen zu gehorchen 28 - , dann stellt Abhängigkeit eine beständige Bedrohung der Freiheit dar, da sie die Gefahr birgt, dass mir, um zu bekommen, was ich brauche, keine andere Wahl bleibt, als meine Handlungen dem (oft zufalligen) Willen derer anzupassen, von deren Kooperation ich abhängig bin. Wenn die Alternative lautet, entweder zu bekommen, was man braucht, oder dem eigenen Willen gemäß zu handeln, dann ist es nicht verwunderlich, dass regelmäßig die Bedürfnisbefriedigung der Freiheit vorgezogen wird. Indem er dieses Prinzip auf l 'amour propre anwendet, warnt Rousseau davor, dass die Abhängigkeit von der Wertschätzung durch andere häufig zum Verlust der Freiheit führt:
25
Ebd.
26
Zur Bedrohung der Freiheit durch Abhängigkeit vgl. F. Neuhouser, Foundations Cambridge/Mass. 2000, Kap. 2.
27
J.-J. Rousseau, Lettres écrites de la montagne,
28
Diese Definition der Freiheit ergibt sich aus Rousseaus Formulierung der zentralen Fragestellung der politischen Philosophie im Gesellschaftsvertrag, wird; J.-J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag
of Hegel s Social
Theory,
in: OC 3, S. 841. w o Freiheit als „nur sich selbst gehorchen" glossiert oder Prinzipien
des Staatsrechts
(1. 6), in: ders.,
Politische
Schriften, Bd. 1, übers, v. L. Schmidts, Paderborn 1977, S. 73; OC 1, S. 360; vgl. auch J.-J. Rousseau, Les rêveries du promeneur
solitaire,
in: OC 1, S. 1059.
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„Selbst Herrschaft ist Knechtschaft, wenn sie von der öffentlichen Meinung abhängt. Denn du hängst von den Vorurteilen derer ab, die du durch Vorurteile beherrschst. Um sie nach deinem Willen zu fuhren, mußt du dich nach ihrem Willen richten. Sie brauchen nur ihre Meinung zu ändern, und du bist gezwungen, deine Handlungsweise zu ändern."29
Rousseaus Gedanke ist, dass jemand, der das Bedürfnis nach Anerkennung hat, regelmäßig der Versuchung ausgesetzt ist, sich von den Werten und Vorlieben Anderer seine Handlungen diktieren zu lassen und somit seinen Willen an ihren Wünschen und Werten statt an den eigenen auszurichten. Genau das aber ist Rousseaus Definition der Sklaverei oder des Verlusts der Freiheit, und aus eben diesem Grund betrachtet er / 'amour propre als ernsthafte Bedrohung unserer Fähigkeit, frei zu sein. Noch eine weitere Gefahr ergibt sich aus der Tatsache, dass l'amour propre nach einem Gut strebt, das aus den Urteilen anderer besteht. Diese Gefahr lässt sich am besten als Entfremdung (oder Selbstentfremdung) beschreiben, wenn auch Rousseau den Begriff in diesem Kontext nicht verwendet. 30 So wie ich den Begriff hier verstehe, bezeichnet ,Entfremdung' das Phänomen, welches Rousseau vor Augen hat, wenn er dem zivilisierten Individuum vorwirft, „außer sich" zu existieren, wie an der folgenden Stelle: „[Es gibt] eine Sorte von Menschen [...], denen die Beachtung, die ihnen der Rest der Welt entgegenbringt, etwas bedeutet, die eher auf das Zeugnis anderer als auf ihr eigenes hin glücklich und mit sich selbst zufrieden zu sein verstehen. Dies ist in der Tat die wahrhafte Ursache all dieser Unterschiede: Der Wilde lebt in sich selbst, der soziable Mensch weiß, immer außer sich, nur in der Meinung der anderen zu leben; und sozusagen aus ihrem Urteil allein bezieht er das Gefühl seiner eigenen Existenz." 3 '
„Außer sich" zu existieren, erscheint zweifellos als eine Art von Entfremdung, doch was genau bedeutet es, und wie unterscheidet sich diese Art von Existenz vom Verlust der Freiheit durch Abhängigkeit, wie er oben beschrieben wurde? Der zitierten Stelle zufolge heißt außer sich zu existieren, das Gefühl für seine eigene Existenz aus den Urteilen Anderer zu gewinnen. Wie wir weiter oben gesehen haben, ist es für Rousseau entscheidend, ein Gefühl der eigenen Existenz zu haben, um ein Selbst in einem moralischen, nicht-physischen Sinne zu sein. Dieses Gefühl der eigenen Existenz beinhaltet ein Empfinden - in jedem Fall eine über das rein Kognitive hinausgehende Bestätigung - , das man , jemand" ist, dass man einen nicht-instrumentellen Wert oder eine nicht-instrumentelle Würde hat, die den Wert einer reinen Sache übersteigt. Weil das mit einem Wert versehene Selbst, das der Gegenstand dieses Gefühls ist, um zu sein, von den bestätigenden Haltungen und Verhaltensweisen Anderer abhängt, existiert ein solches Selbst in gewissem Sinne „außer sich". Das bedeutet, dass die Quelle meiner eigenen Existenz (als ein Selbst) nicht alleine in mir, sondern ebenso in Anderen liegt, und damit, dass mein Sein selbst auf den ungewissen, möglicherweise zufalligen Meinungen meiner Mitmenschen beruht. 29
J.-J. Rousseau, Emil, a. a. O., S. 61; OC 4, S. 308.
30
Die beste in den letzten Jahren erschienene Studie zum Thema teilt die Ansicht, dass der Begriff der Entfremdung in Rousseaus Denken implizit eine zentrale Stellung einnimmt: vgl. R. Jaeggi, Entfremdung, Frankfurt/M. 2005.
31
J.-J. Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, a. a. O., S. 269; OC 3, S. 193. Weitere Hinweise auf dieses Phänomen finden sich in: ebd., S. 257; OC 3, S. 189; vgl. femer J.-J. Rousseau, Emil, a. a. O., S. 214; OC 4, S. 494.
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Es wäre jedoch ein Irrtum, daraus zu schließen, dass „außer sich" zu existieren gleichbedeutend mit Entfremdung ist. Beides muss im Gegenteil sorgfaltig voneinander unterschieden werden, wenn Rousseau zu einer kohärenten Lösung der durch / 'amour propre aufgeworfenen Probleme gelangen will, ohne l'amour propre ganz zu eliminieren. Da Rousseau meint, dass das Selbst nur vermittels der Anerkennung durch andere Vollständigkeit erlangt, muss für ihn das menschliche Subjekt immer in gewissem Maße außerhalb seiner selbst existieren. Mit anderen Worten, eine Existenz außer sich (im Urteil Anderer) ist für das Selbst-Sein in jeder seiner Formen notwendig und bedeutet an sich noch keine Entfremdung. Wo liegt dann der Unterschied? Eine sorgfältige Lektüre der oben angeführten Stelle deutet daraufhin, dass die äußere Existenz des Selbst dann eine entfremdete ist, wenn man ständig außer sich existiert, wenn man ausschließlich in der Meinung Anderer lebt und wenn man nur auf der Basis ihres Urteils in der Lage ist, mit sich zufrieden zu sein. Ein entfremdetes Selbst ist mithin kein Selbst, das bloß das Bedürfnis nach Anerkennung durch Andere hat, sondern ein Selbst, das zugleich keine oder nur sehr beschränkte interne Ressourcen zur Selbstbestätigung hat. Ein entfremdetes Selbst trägt keine oder zu wenige der Quellen seines Daseins in sich. Begreift man sie auf diese Weise, dann wird Entfremdung durch die Außenorientierung des Selbst möglich, ist jedoch keine notwendige Folge des Selbstseins. Was es bedeutet, zu wenig interne Ressourcen der Selbstbestätigung zu haben, lässt sich vielleicht am besten erhellen, indem man fragt, warum ein solcher Mangel problematisch ist - mit anderen Worten, indem man untersucht, warum Entfremdung ein Übel ist. Ein Grund ist, dass das spezifische Gut, nach dem uns / 'amour propre streben lässt, notwendig kontingent, unbeständig und stets unsicher bleibt, wenn wir nicht über solche internen Ressourcen der Selbstbestätigung verfügen. Selbst in der besten aller Welten sind andere Subjekte prekäre Quellen der Anerkennung, da sie uns diese vielleicht ganz und gar vorenthalten oder zur falschen Zeit, in falschem Maße und aus den falschen Gründen gewähren. Somit ist das eigene Sein (als ein wertgeschätztes Wesen) in Abwesenheit jeglicher innerer Ressourcen der Selbstbestätigung einer Unzahl von Wechselfallen ausgesetzt, die außerhalb seiner Kontrolle liegen; die eigene Existenz ist so unwirklich - so instabil - wie die verbrannten Überreste eines Holzscheits, die durch eine einzige Berührung von außen zu Asche zerfallen. Der zweite Grund, warum Entfremdung ein Übel ist, liegt darin, dass zu starke Abhängigkeit von der Anerkennung durch Andere uns nicht nur daran hindern kann, das Gut der Bestätigung, sondern auch andere wesentliche Güter zu erlangen. Ein zu großes Bedürfnis nach Bestätigung durch Andere - ständig, in übertriebenem Ausmaß oder für jeden vorstellbaren Verdienst danach zu verlangen - lässt uns leicht der Versuchung erliegen, andere wesentliche Güter wie Gesundheit, Seelenfrieden, Sicherheit oder Freiheit dem Trachten nach jener Anerkennung zu opfern, nach der wir uns so verzweifelt sehnen. Bei der Rekonstruktion der Gefahren des menschlichen Strebens nach Anerkennung sollte man nicht übersehen, dass l'amour propre streng genommen eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung der Übel ist, die soeben beschrieben wurden. Dafür gibt es zwei Gründe. Zum einen manifestiert sich / 'amour propre, obwohl als Leidenschaft stets relativ zu anderen Subjekten, nicht notwendigerweise - unter allen Umständen - als ein Verlangen nach einer überlegenen Position. Wie oben festgestellt, kann die Suche nach einer Position in den Augen Anderer auch die Form des Wunsches annehmen, als gleich anerkannt zu werden - als ein menschliches Wesen beispielsweise, das dieselben Rechte und dieselbe Würde
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hat wie alle Anderen. 32 Dies ist zentral für Rousseaus Theorie der Anerkennung, insofern seine Lösung der zahlreichen durch / 'amour propre verursachten Probleme - eine Lösung, die er im Gesellschaftsvertrag und im Emile darlegt - nicht in der Elimination von l'amour propre, sondern in deren richtiger Ausbildung besteht, in einer Weise, dass die Suche nach Anerkennung mit allgemeiner Freiheit und allgemeinem Glück vereinbar wird. Da eine Elimination von l'amour propre bedeuten würde, die Bedingungen der Vernunft, der Liebe, ja, der Subjektivität selbst zu eliminieren, ist es Rousseaus Ziel, eine Art und Weise zu finden, l 'amour propre so auszubilden, dass sie die Menschen weiterhin motiviert, ohne jedoch die Übel entstehen zu lassen, die sie in ihrer unausgebildeten Form hervorbringt. Der zweite Grund, warum / 'amour propre allein nicht hinreicht, um die Übel der menschlichen Existenz hervorzurufen, ist, dass eine große Zahl anderer, nicht-psychologischer Bedingungen erfüllt sein muss, bevor aus dem bloßen Verlangen nach überlegener Stellung jener Zustand des Kriegs und des Niedergangs werden kann, der am Ende des Diskurses über die Ungleichheit geschildert wird. Solange sich das Streben danach, Anderen gegenüber als überlegen anerkannt zu werden, auf das einfache Verlangen primitiver Wesen beschränkt, als der bester Sänger oder als der Schönste einer Gruppe zu gelten, kann keine signifikante moralische Ungleichheit entstehen. Deshalb meint Rousseau, dass die Ungleichheit, um in der menschlichen Existenz Fuß zu fassen, „des zufalligen Zusammentreffens mehrere äußerer Ursachen bedurfte". 33 Zu diesen zufälligen Ursachen zählen rudimentäre technische Fortschritte, die Ausbildung latenter kognitiver Fähigkeiten, die durch Arbeitsteilung hervorgerufene Spezialisierung und vor allem die Entstehung von Privateigentum, von Staaten und Verfassungen, die alle gleichermaßen daran beteiligt sind, die mannigfaltigen Ungleichheiten zu institutionalisieren und zu verstetigen, die Menschen unter dem Einfluss von / 'amour propre schaffen. Es würde zu weit führen, die je unterschiedlichen Arten zu unterscheiden, auf die jede dieser Ursachen zur moralischen Ungleichheit beiträgt. Jedoch hebt Rousseau in seiner Darstellung hervor, dass die zunehmende Abhängigkeit der Individuen untereinander, die im Zuge dieser Entwicklungen entsteht, weit reichende Wirkungen entfaltet. Die wachsenden Abhängigkeiten, die beispielsweise aus der um sich greifenden Arbeitsteilung entstehen, ermöglichen es / 'amour propre, neue Formen der Befriedigung zu suchen, die dauerhaftere Ungleichheiten mit sich bringen, als sie zu einer Zeit möglich waren, in der die Individuen noch Selbstversorger waren. 34 Denn neben den alten Strategien des Strebens danach, bloß der beste Sänger oder Tänzer zu sein, entstehen neue Wege, Überlegenheit zu gewinnen, darunter die Möglichkeit, die Abhängigkeit Anderer auszunutzen, um sie zu unterjochen. Es liegt auf der Hand, dass ein Bauer, der nur eines der vielen Nahrungsmittel produziert, die er zum Überleben braucht, leichter ein Opfer von Ausbeutung wird als sein selbstversorgender Nachbar. Wie Marx es ausdrücken würde: Abhängigkeit schafft eine der notwendigen Bedingungen für Klassenunterschiede. Die bemerkenswerte Implikation im Diskurs über die Ungleichheit ist, dass diese Art von Unterjochung nur selten, wenn überhaupt je, durch rein ökonomische Zwecke motiviert ist. Denn neben ihren ökonomischen Vorteilen ist die Ausbeutung Anderer vor allem eine attraktive Strategie, um dauerhafte Anerkennung der eigenen überlegenen Stel-
32 33 34
Vgl. zum Beispiel J.-J. Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, a. a. O., S. 189 f.; OC 3, S. 170. Ebd., S. 167; OC 3, S. 162. Vgl. ebd., S. 195; OC 3, S. 171.
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lung durch Andere zu gewinnen - insbesondere dann, wenn die Rollen des Ausbeuters und des Ausgebeuteten von sozialen Institutionen öffentlich bestätigt werden.
III. Soziale und politische Gegenmittel Die Lösungen, die Rousseau für die Probleme von l 'amour propre anbietet, lassen sich grob in zwei Kategorien unterteilen: in solche, die auf die Restrukturierung sozialer und politischer Institutionen zielen, und in solche, die die Ausbildung des Charakters von Individuen betreffen. Hinter diesem zweifachen Ansatz verbirgt sich der Gedanke, dass zwar beide Faktoren - die grundlegenden Institutionen einer Gesellschaft und die Frage, wie die Individuen innerhalb dieser privat erzogen werden - darauf Einfluss nehmen, welche Formen die Suche nach Anerkennung in einer gegebenen Gesellschaft annimmt, jedoch keiner von beiden für sich alleine in der Lage ist, den Gefahren von / 'amourpropre vorzubeugen. Mit anderen Worten, um / 'amour propre gutartig zu machen, müssen nicht nur die richtigen sozialen und politischen Institutionen vorhanden sein, sondern die Individuen müssen an diese Institutionen auch mit den entsprechenden Wünschen, Zielen und einem entsprechenden Selbstverständnis herantreten. Rousseaus soziale und politische Antwort auf die von l 'amour propre hervorgebrachten Übel verfolgt zwei Hauptziele: zum einen, den sozial schädlichen Ungleichheiten, die der Zivilisationsprozess mit sich bringt, entgegenzuwirken und zum anderen, Institutionen zu entwickeln, die stabile und gutartige Formen sozialer Anerkennung für alle erreichbar machen. Da man, um das erste dieser Ziele zu verwirklichen, nicht einfach jede Ungleichheit beseitigen kann - denn damit würden die Voraussetzungen der Zivilisation ganz allgemein zunichte gemacht - , konzentriert sich Rousseaus Lösungsansatz darauf, dem Ausmaß und den Arten gesellschaftlich zugelassener Ungleichheit Grenzen zu setzen. Leitendes Prinzip dabei ist, soweit wie möglich zu verhindern, dass l 'amour propre Befriedigung in Formen von Überlegenheit sucht, die dem Frieden, dem Glück, der Tugend, der Freiheit und einem nicht-entfremdeten Sein aller Mitglieder einer Gesellschaft im Wege stehen. Rousseaus Umgang mit dem Problem der Ungleichheit lässt sich am besten anhand von zwei Beispielen illustrieren. Das eine bezieht sich auf eine Art von Ungleichheit, die Rousseaus Sozialphilosophie gänzlich ausschließen will, während es bei dem anderen um die Begrenzung eines Typs von Ungleichheit geht, der nicht beseitigt, sondern nur in Schach gehalten werden kann. Was Rousseau gänzlich abschaffen will, ist jene Ungleichheit, die Marx als Klassenungleichheit bezeichnen würde. In Marx' Verständnis sind Klassen definiert durch die Beziehung zwischen Individuen und Produktionsmitteln. So besitzt und kontrolliert beispielsweise im Kapitalismus eine Klasse die für die Produktion notwendigen materiellen Ressourcen, während die andere Klasse über keine solchen Ressourcen verfugt - außer ihrer eigenen Arbeitskraft. Zwar hat Rousseau noch nicht Marx' präzise definierten Begriff der Klasse, doch spielt für ihn die Spaltung der Gesellschaft in solche ihrer Mitglieder, die Produktivkräfte, wie zum Beispiel Land, besitzen, und solche, die nicht darüber verfugen, eine wichtige Rolle bei der Zunahme jener Abhängigkeit zwischen den Menschen, die der Diskurs über die Ungleichheit beschreibt und beklagt.35 Im Gegensatz zur materiellen Arbeitsteilung stellt ein 35
Vgl. ebd.
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Klassensystem fur Rousseau (wie fur Marx) eine Ausprägung von Abhängigkeit dar, die zerstörerisch fur die Freiheit ist, die zugleich aber vermieden werden kann. Aus diesem Grund will er seine Abschaffung. Das Prinzip von Rousseaus Ablehnung der Klassenungleichheit wird im Gesellschaftsvertrag explizit formuliert und findet sich implizit in der Darstellung des Ursprungs der Versklavung des Menschen im Diskurs über die Ungleichheit. Im Gesellschaftsvertrag erklärt Rousseau, „daß kein Staatsbürger so reich sein darf, um einen anderen kaufen zu können, und niemand so arm, sich verkaufen zu müssen". 36 Im Diskurs über die Ungleichheit bezeichnet er den privaten Besitz von Land (einem Produktionsmittel) als die eigentliche Ursache von „Verbrechen, Kriege[n], Morde[n], Not und Elend". 37 Es ist wichtig, festzuhalten, dass Rousseau nicht die Aufhebung ökonomischer Abhängigkeit, sondern vielmehr deren Ausgleich fordert, denn sobald es irgendeine Art von materieller Arbeitsteilung gibt, sind Individuen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen, von der Kooperation Anderer abhängig. Wenn es keine Klassengegensätze gibt, werden die gegenseitig voneinander abhängigen Arbeiter sich jedoch im Wesentlichen als Gleiche gegenübertreten, und die strukturelle Grundlage für Herrschaftsverhältnisse löst sich auf. Das Beispiel der Klasse illustriert insofern ein allgemeines Prinzip von Rousseaus Sozialphilosophie: Da sich die Gefahrenmomente der Abhängigkeit in Verbindung mit Ungleichheit enorm vermehren - man könnte sogar sagen, dass Abhängigkeit erst zusammen mit Ungleichheit wirklich gefahrlich wird 38 - , kann die für die Zivilisation notwendige ökonomische Abhängigkeit sowohl stabilisiert als auch erträglich gemacht werden, indem man fur möglichst ausgeglichene Grundverhältnisse sozialer Kooperation sorgt. Für Rousseaus Darstellung von / 'amour propre spielt die Klassenungleichheit insofern eine Rolle, als sie nicht nur eine Quelle ökonomischer Vorteile, sondern auch von sozialem Ansehen ist: Eine gesellschaftliche Position, die einem die Macht gibt, dauerhaft über die Arbeit Anderer zu verfugen und aus ihr Gewinn zu ziehen, ist eine äußerst attraktive Art, die herausragende Stellung zu demonstrieren, die man sowohl in den Augen Anderer als auch im Verhältnis zu ihnen einnimmt. Der erste Grundsatz, den Rousseaus Sozialphilosophie aus seiner Analyse von / 'amour propre ableitet, ist daher, dass gute Institutionen so strukturiert sein müssen, dass die regulären Möglichkeiten, die sie bieten, um eine soziale Position zu erringen, nicht auf der systematischen Unterjochung Anderer beruhen. In einer guten Gesellschaft dürfen die Strategien, die ihre Mitglieder normalerweise anwenden, um Anerkennung zu gewinnen, sich nicht auf fundamentale Asymmetrien sozialer Macht stützen, die es einigen ermöglichen, Anerkennung (und Reichtum) auf Kosten der Freiheit Anderer zu erlangen. Das zweite Beispiel dafür, wie Rousseau mit ökonomischer Ungleichheit umgeht, betrifft eine Art von Ungleichheit, die er bestimmten Beschränkungen unterwerfen, jedoch nicht vollständig eliminieren will. Worum es dabei geht, kommt in der folgenden Feststellung zum Ausdruck: „Wenn ihr dem Staat Beständigkeit verleihen wollt, so nähert die äußersten Rangstufen soweit wie möglich. Duldet weder üppige Reiche noch Bettler. Diese beiden von Natur aus 36
J.-J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag
37
Ders., Diskurs über die Ungleichheit, a. a. O., S. 173; OC 3, S. 164.
38
Rousseau meint übrigens, dass umgekehrt Ungleichheit ohne Abhängigkeit keine emsthaften Folgen für das menschliche Wohlergehen hätte. Die Tatsache, dass Rousseau der Verringerung der Ungleichheit größere Bedeutung beimisst als der Abschaffung der Abhängigkeit, zeugt von seiner Ansicht, dass Letztere eine grundlegendere Bedeutung fur die Zivilisation hat als Erstere.
(II. 11), a. a. O., S. 113.
R O U S S E A U U N D DAS MENSCHLICHE V E R L A N G E N NACH A N E R K E N N U N G
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untrennbaren Stände sind gleichermaßen verhängnisvoll für das Gemeinwesen." 39 Die hier gemeinte Ungleichheit unterscheidet sich von der zuvor behandelten insofern, dass es sich mehr um eine ungleiche Verteilung von Reichtum als um Klassenungleichheit handelt. Selbst wenn Klassengegensätze im Marxschen Sinne überwunden sind, wird es wahrscheinlich weiterhin signifikante Vermögensunterschiede geben, wenn man voraussetzt, dass der Einfluss von Glück, Zielstrebigkeit und angeborenem Talent auf das Schicksal von Individuen nicht gänzlich ausgeschaltet wird. Rousseaus allgemeine Empfehlung, die Ränder der Gesellschaft einander „soweit wie möglich [anzunähern]" 40 , ist geeignet, ein breites Spektrum konkreter politischer Maßnahmen zu begründen, die zugeschnitten auf je spezifische Umstände der „natürlichen" Tendenz der Kluft zwischen Reich und Arm entgegenwirken sollen, (in Abwesenheit staatlicher Regulierung) breiter zu werden.41 Rousseau empfiehlt explizit drei Maßnahmen dieser Art: progressive Besteuerung 42 , Steuern auf Luxusgüter 43 und Beschränkungen des Erbrechts.44 Der wichtigste Grund, den Rousseau für die Regulierung der materiellen Ungleichheit anführt, gleicht seiner Begründung dafür, keine ökonomischen Klassen zuzulassen: Zu große Vermögensunterschiede gefährden die Freiheit der weniger Begüterten. Sie verstärken die ökonomische Abhängigkeit der Armen und erhöhen damit das Risiko, dass diese sich, um ihre Bedürfnisse befriedigen zu können, dem Willen anderer unterwerfen müssen.45 Rousseaus zweite Hauptgruppe sozialer und politischer Gegenmittel gegen die Obel von / 'amour propre ist darauf gerichtet, Institutionen zu entwickeln, die allen einen ausreichenden Zugang zu stabilen und gutartigen Formen der Anerkennung ermöglichen. Wenn die bösartigen Kräfte von l'amour propre auch deshalb zum Ausbruch kommen, weil es in einer Gesellschaft an nicht-destruktiven Möglichkeiten fehlt, sich eine anerkannte Stellung zu verschaffen, dann eröffnet sich die Möglichkeit, dem Unheil, das / 'amour propre anrichten kann, dadurch vorzubeugen, dass man gedeihlichere Alternativen zu den Formen der Anerkennung entwickelt, die Individuen in einer solchen Gesellschaft suchen müssen, die noch nicht nach den Prinzipien der Vernunft organisiert ist. Sobald man das Problem in diesem Licht betrachtet, wird schnell die zentrale Rolle sichtbar, die der Gesellschaftsvertrag in Rousseaus Strategie gegen die Übel von l 'amour propre spielt. Denn eine der Haupterrungenschaften des Verfassungsstaates ist, dass er allen seinen Mitgliedern eine substanzielle Form sozialer Anerkennung garantiert: Als Bürger einer Republik werden sie vom Gesetz gleich geachtet. Mit anderen Worten: Dieser Teil von Rousseaus Strategie macht die politische Gemeinschaft selbst zu einer zentralen Quelle jener Anerkennung, die die Individuen, getrieben von / 'amour propre, suchen.
39
J.-J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag
40
An anderer Stelle formuliert Rousseau diesen Gedanken sogar noch vager: Die Gesetze, die die ökonomische Ungleichheit regulieren, sollen eine Situation herstellen, in der „alle etwas haben und keiner von ihnen zuviel" (ebd. [I. 9], S. 83, Fn. e).
41
Vgl. ebd. (II. 11), S. 113 f.
42
Vgl. J.-J. Rousseau, Abhandlung a. a. O., S. 48 f.; OC 3, S. 271.
43
Vgl. ebd., S. 54 f.; OC 3, S. 275 f.
(II. 11), a. a. O., S. 113, Fn. m.
über die Politische Ökonomie, in: ders., Politische Schriften, Bd. 1,
44
Vgl. J.-J. Rousseau, Constitution pour la Corse, in: OC 3, S. 945.
45
Vgl. ders., Vom Gesellschaftsvertrag
(ILI 1), a. a. O., S. 113.
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FREDERICK N E U H O U S E R
In einer echten Republik - das heißt in jedem Staat, der vom Gemeinwillen regiert wird46 ist das Gesetz die Quelle dreier Arten von Anerkennung, denen gemeinsam ist, dass sie die Gleichwertigkeit der Individuen zum Ausdruck bringen. Die erste dieser drei Arten von Anerkennung wird festgeschrieben in der gewöhnlich so genannten Gleichheit vor dem Gesetz, oder der Gleichheit der Bürger als Untertanen47 Diese Art von Anerkennung beruht darauf, dass rechtmäßige Gesetze allgemein sein müssen, in dem Sinne, dass ihnen jeder gleichermaßen unterworfen ist: Kein einzelner Bürger steht außerhalb ihrer Reichweite. Ein Staat, der die Universalität des Rechts in diesem Verständnis sicherstellt, verleiht seinen Mitgliedern eine gleiche Stellung, indem er darauf besteht, dass kein Individuum „über" dem Gesetz steht. Die zweite Art rechtlicher Anerkennung, die eine Republik ihren Bürgern gewährt, ist ihre Gleichheit als kollektiver Souverän, mithin als Autoren des Rechts. Legitime Gesetze sind nicht nur „auf alle anwendbar", sondern „[gehen] von allen aus". 48 Die Gesetze einer Republik gehen in dem offensichtlichen Sinn von allen aus, dass allen Bürgern die gleichen Rechte politischer Beteiligung gewährt sind: Gleiches Rederecht in der Versammlung, gleiches Stimmrecht und gleicher Zugang zu politischen Ämtern. Doch noch in einer anderen Hinsicht gehen rechtmäßige Gesetze gleichermaßen von allen Bürgern aus. Die Gesetze einer Republik haben auch in dem Sinne ihren Ursprung in den Willen der Bürger, dass, insofern diese Gesetze sich aus dem Gemeinwillen ableiten, sie die grundlegenden Interessen jedes einzelnen Bürgers schützen müssen. Indem sie zum Ausdruck bringen, dass den grundlegenden Interessen jedes Einzelnen dieselbe Stellung zukommt wie denen jedes anderen, erkennen rechtmäßige Gesetze die Gleichwertigkeit der Bürger an. In einer echten Republik hängt es nicht von den zufalligen Handlungen und Dispositionen anderer Individuen ab, ob man diese Art von Anerkennung findet. Sie wird vielmehr von der Herrschaft des Rechts auf eine überpersönliche und verlässlichere Weise garantiert. Doch bietet die Republik noch eine dritte Art von Anerkennung: Das Individuum wird als Träger von Rechten anerkannt. Bürger eines legitimen Staates, so die Idee, haben eine anerkannte Position, die über die des „gleichen Untertanen" und „gleichen Souveräns" hinausgeht. In einer Republik erkennen die Gesetze die Bürger auch als frei Handelnde (oder freie Personen) an. Ihre Bedeutung als frei handelnde Individuen drückt sich in einem System von feststehenden Rechten 49 aus, die der Gesetzgebung Beschränkungen auferlegen und jeder Person eine bestimmte und gleiche Sphäre „bürgerlicher Freiheit" 50 sichern, die sich auf Angelegenheiten erstreckt, die dem Gemeinwillen entzogen sind. Bei den Rechten, die mit der bürgerlichen Freiheit verknüpft sind, handelt es sich im Wesentlichen um Garantien dafür, dass andere - sowohl der Staat als auch andere Individuen - sich nicht in jemandes freie Handlungen, darunter die freie Verfugung über das eigene Eigentum, einmischen, vorausgesetzt, diese Handlungen widersprechen nicht dem bestimmenden Zweck des Allgemeinwillens (die Bedingungen zu sichern, unter denen die grundlegenden Interessen aller Bürger be46
Vgl. ebd. (II. 6), S. 98 Fn. e.
47
Vgl. ebd. (I. 6), S. 74 f.
48
Ebd. (II. 4), S. 91.
49
Diese Rechte werden definiert durch den Zweck der bürgerlichen Gesellschaft, „das Vermögen, das Leben und die Freiheit eines jeden Mitglieds durch den Schutz aller zu sichern" (J.-J. Rousseau, Abhandlung über die politische Ökonomie, a. a. O., S. 19; OC 3, S. 248).
50
J.-J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag
(I. 8), a. a. O., S. 79.
ROUSSEAU UND DAS MENSCHLICHE VERLANGEN NACH ANERKENNUNG
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friedigt werden können). Bei dieser dritten Form von gesetzlicher Anerkennung geht es nicht in erster Linie darum, dass jedermanns Interessen gleichwertig sind, sondern vielmehr darum, einem bestimmten grundlegenden Interesse jeder Person - der Freiheit, über seine eigenen privaten Handlungen zu bestimmen, soweit diese Freiheit mit der Freiheit anderer vereinbar ist - einen wesentlichen und unersetzlichen Wert einzuräumen. Dies bedeutet letztlich, anzuerkennen, dass jedem Individuum der Status eines freien und unverletzbaren Zweckes in sich zukommt. Im Emile setzt sich Rousseaus systematische Auseinandersetzung mit / 'amourpropre insoweit fort, als er dort der Frage nachgeht, wie die richtige Art häuslicher Erziehung verhindern kann, dass gefahrliche Formen von l'amour propre im Charakter eines Kindes Fuß fassen. Emiles Erziehung lässt sich in drei Phasen unterteilen. Anfangs, in den Büchern I bis III, wird Emile ausschließlich „für sich selbst"51 oder in ,,seine[n] Beziehungen zu den Dingen" 52 erzogen. Seine Erziehung findet außerhalb der Gesellschaft statt und ist einer angemessenen Entwicklung und Ausbildung von / 'amour de soi gewidmet, die stets in Übereinstimmung mit den „natürlichen" Idealen individueller Integrität und Selbstgenügsamkeit (beziehungsweise Unabhängigkeit) stehen soll (wobei das Erwachen von l 'amour propre so lange wie möglich hinausgezögert wird). Die zweite Phase von Emiles Erziehung, die in Buch IV beschrieben wird, bringt eine entscheidende Veränderung mit sich: Das Einsetzen der Pubertät, mit der die sexuelle Leidenschaft zum Ausbruch kommt, macht es unmöglich, das Erwachen von / 'amour propre länger hinauszuschieben. Ist / 'amourpropre aber einmal entfacht, kann Emile nicht länger nur für sich alleine existieren. Seine Erziehung - die immer noch isoliert von allen sozialen Verhältnissen stattfindet - muss sich nun darauf richten, / 'amour propre (ebenso wie das Mitleid) in Emile so auszubilden, dass er, wenn er schließlich in die Institutionen der Ehe und des Staates eintritt, über die psychologischen Ressourcen verfügt, um „für andere" zu existieren, während er sich zugleich so weit wie möglich die Integrität und Selbstgenügsamkeit bewahrt, die er sich als Kind angeeignet hat. In der letzten Phase, die in Buch V geschildert wird, wird die exklusive Verbindung zwischen Schüler und Erzieher gelockert, Emile wird mit den Rollen des Ehemannes und Bürgers vertraut gemacht, und tritt schließlich in die soziale Welt ein, optimal gerüstet, um die Spannung zwischen dem Für-sich-selbst-sein und dem Für-andere-sein auszuhalten, die für Rousseau den Grundkonflikt der menschlichen Existenz ausmacht. Es ist die zweite Phase von Emiles Erziehung, die für Rousseaus Theorie von l'amour propre die größte Bedeutung hat. Ihr vorrangiges Ziel ist, dem Heranwachsenden ein richtiges Verständnis des „Rangs" zu vermitteln, den er im Verhältnis zu Anderen einnimmt. 53 Der Rang, den Emile für sich zu beanspruchen lernen soll, ist - wie nicht anderes zu erwarten - die Gleichheit mit allen anderen menschlichen Wesen, wobei im Zentrum dieses Ideals die Idee steht, dass bei der Bestimmung der Gesetze, denen wir gemeinsam verpflichtet sind, niemandes Interessen mehr Berücksichtigung verdienen als die eines Anderen. Die beiden Erziehungsprinzipien, mit denen Buch IV beginnt, betreffen zum einen die zeitliche Reihenfolge, in der den neuen Leidenschaften des Heranwachsenden erlaubt wird hervorzutreten, und zum anderen die psychologische Ressource - die Einbildungskraft des Schülers - von der in dieser Phase der Erziehung in erster Linie Gebrauch gemacht wird, um 51
Ders., Emil, a. a. O., S. 12; OC 4, S. 248.
52
Ebd., S. 213; OC 4, S. 493. Vgl. ebd., S. 249; OC 4, S. 534.
53
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die neuen Leidenschaften zu formen. Rousseau legt großes Gewicht darauf, dass die Entwicklung und Ausbildung des Mitleids der Entfachung von l'amour propre vorangehen soll. Dahinter steht der Gedanke, dass der Heranwachsende, sobald l'amour propre in sein Leben getreten ist, notwendigerweise danach streben wird, sich eine vorteilhafte Stellung im Verhältnis zu Anderen zu verschaffen. Wenn er zu diesem Zeitpunkt aber bereits die Fähigkeit erworben hat, Mitleid mit seinen potenziellen Rivalen zu empfinden - mit ihren Leiden und Sorgen mitzufühlen - , wird es ihm leichter fallen, seinem Streben nach einer Stellung im Verhältnis zu Anderen bescheidene und maßvolle Ziele zu setzen, während dieses Streben in Ermangelung solchen Mitgefühls leicht übertriebene, verderbliche Formen annehmen könnte. Mit anderen Worten, wenn das Mitleid erregt und befestigt wird, bevor l'amour propre die Bühne betritt, ist es in der Lage, den sich ausbildenden Charakter des Heranwachsenden „auf Wohltätigkeit und Güte aus[zu]richten"54, bevor das Verlangen, Andere zu übertrumpfen oder zu verletzen, ihn in die entgegengesetzte Richtung lenken kann. Um das Mitleid zum Erwachen zu bringen, muss ihm ein Objekt gegeben werden, und hierbei übernimmt die Einbildungskraft eine wichtige Funktion. Die Aufgabe der Einbildungskraft dabei, die Leidenschaften auszubilden oder zu Gewohnheiten zu formen - sie „in Fleisch und Blut übergehen" zu lassen - , besteht darin, ihre Objekte zu fixieren, was in diesem Fall bedeutet, zu bestimmen, auf welchen Gegenstand sich Emiles Mitleid richtet und aus welchem Grund. Die Einbildungskraft ist deshalb so zentral für die Ausbildung des Mitleids, weil die Empfindsamkeit für die Leiden anderer Lebewesen von der Fähigkeit zur Identifikation in der Vorstellung abhängt, von dem Vermögen, uns „mit dem leidenden Tier [zu] identifizieren, indem wir sozusagen unser Ich verlassen und seines annehmen".55 Der Erzieher hat somit bei der Ausbildung von Emiles Mitleid eine zweifache Aufgabe: seine bisher latente Einbildungskraft so zu stimulieren, dass Emile in die Lage versetzt wird, das Leiden Anderer als eigenes Leiden zu erfahren, um dann den Anwendungsbereich dieser neu erworbenen Sensibilität nach und nach auszudehnen, bis sie alle menschlichen Wesen, oder wie Rousseau sagt, „die Menschheit" selbst umfasst. Noch bevor l'amour propre in ihm in vollem Maße erwacht ist, gewinnt Emile so ein Empfinden der Gleichheit mit anderen Lebewesen, das als notwendiges Gegengewicht gegen die Tendenz von / 'amour propre wirken kann, nach Überlegenheit, ja nach „dem ersten Platz"56 im Verhältnis zu Anderen zu streben. Auf der nächsten Stufe seiner Erziehung, die mit dem Auftreten von l'amour propre zusammenfallt, wird Emile mit einer Tatsache der menschlichen Existenz konfrontiert, die seinem neu erworbenen Ideal der moralischen Gleichheit zu widersprechen scheint: der grundlegenden und für ihn überraschenden Tatsache sozialer Ungleichheit - der Existenz „künstlicher" Ungleichheiten im Hinblick auf Reichtum und Macht, die, wenn auch ihre Ausprägungen je nach Zeit und Ort äußerst verschieden sind, doch zum Wesen der menschlichen Gesellschaft gehören.57 Doch der Erzieher will seinen Zögling nicht bloß mit der Allgegenwart und Mannigfaltigkeit der sozialen Ungleichheit bekannt machen, er möchte ihn darüber hinaus dazu bringen, den Unterschieden an Reichtum und Macht, die er in der Wirklichkeit um sich her beobachtet, die richtige Bedeutung beizumessen. Emile soll 54 55 56 57
Ebd., S. 222; OC 4, S. 504. Ebd., S. 224; OC 4, S. 505. Ebd., S. 239; OC 4, S. 523. Vgl. ebd., S. 239 f.; OC 4, S. 524.
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vor allem den oberflächlichen und zufalligen Charakter der meisten Ungleichheiten, auf die er trifft, begreifen. Genauer: Er soll lernen, dass wenn auch die Existenz sozialer Vorteile (in gewissem Ausmaß) unvermeidbar ist, diese Vorteile doch zumeist zufallig verteilt sind - anders gesagt, dass die bestehenden Unterschiede von Vermögen, Klasse und Macht nur selten tatsächlichem Verdienst entsprechen. 58 Vorteile im Hinblick auf Reichtum, Klasse und Macht sind, mit anderen Worten, zumeist unverdient, und für die richtige Ausbildung von / 'amour propre ist es von zentraler Bedeutung, einzusehen, dass es zwei vollkommen verschiedene Dinge sind, einen bevorzugten Platz in der Gesellschaft einzunehmen und einen solchen zu verdienen. Zu diesem Teil von Emiles Erziehung gehört es ebenfalls, ihm deutlich zu machen, dass eine bevorzugte Stellung in Bezug auf Reichtum, Klasse und Macht nicht nur meist unverdient ist, sondern (für sich allein genommen) auch selten wirkliche Befriedigung bringt. Emile muss lernen, hinter die Maske zu blicken, die die sozial Erfolgreichen in der Öffentlichkeit tragen, um „in den Herzen zu lesen" 59 und zu erkennen, dass Reichtum und Macht oft von Unsicherheit, Obsessionen, Eifersucht und Schmerz begleitet sind. Die Einsicht, dass Reichtum, Klassenvorteil und Macht wahrem Glück oft im Wege stehen, soll bewirken, dass Emile eher Mitleid mit den Begüterten empfindet, statt sie zu beneiden oder ihnen nacheifern zu wollen, da Letzteres leicht in das Verlangen umschlagen kann, zu übertrumpfen oder zu verletzten, um eine bevorzugte Stellung Anderen gegenüber einzunehmen. Nachdem Emile gelernt hat, den wahren Wert der Formen oberflächlicher Überlegenheit zu beurteilen, ist noch ein letzter großer Eingriff notwendig, um die Ausbildung von / 'amour propre in ihm abzuschließen. 60 Emile muss zu der Erkenntnis gebracht werden, dass selbst diejenigen, die eine bevorzugte Stellung im Hinblick auf die wahren menschlichen Güter Glück, Weisheit, Selbstachtung und Achtung durch Andere - genießen, diese Vorzüge nicht in irgendeinem starken Sinne des Wortes verdienen. Diese Einsicht ist deshalb besonders wichtig für Emile, weil er, der das Glück hatte, eine mustergültige Erziehung zu genießen, mit hoher Wahrscheinlichkeit eine bevorzugte Position genau dieser Art einnehmen wird, was ihn besonders anfallig für jene Art von Eitelkeit macht, der Rousseau hier vorbeugen will. Die Gefahr, der es zuvorzukommen gilt, besteht nicht darin, dass Emile an einer solchen bevorzugten Position Gefallen finden könnte oder gar nach einer solchen Position verlangt, sondern darin, dass er darauf verfallen könnte, „sein Glück seinem eigenen Verdienst anzurechnen" und sich deshalb seines glücklichen Geschicks fur wert zu halten.61 Sich seiner glücklicheren Position für wert zu halten bedeutet, sich über den wahren „Rang", den man innerhalb der menschlichen Gattung einnimmt, in einem grundsätzlichen Irrtum zu befinden. Eine derartige Selbstüberschätzung kann zu einer ernsthaften moralischen und politischen Gefahr werden, denn sie ist unvereinbar damit, ehrlich und zuverlässig die von der Moral und der politischen Gerechtigkeit geforderte Sicht auf Andere einzunehmen - nämlich dass alle Individuen das Glück gleichermaßen verdienen (in dem Sinne, dass die grundlegenden Interessen jeder Person so viel zählen wie die jeder anderen).
58 59 60 61
Vgl. J.-J. Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, a. a. O., S. 67 ff.; OC 3, S. 131 f. J.-J. Rousseau, Emil, a. a. O., S. 242; OC 4, S. 526. Vgl. ebd., S. 251 ; OC 4, S. 536. Ebd., S. 251; OC 4, S. 536 f.
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IV. L 'amour propre als Gegenmittel gegen die von ihr hervorgebrachten Übel Der innovativste Aspekt von Rousseaus Theorie der Anerkennung ist seine These, dass l'amour propre, obwohl in vieler Hinsicht gefahrlich, einen bedeutenden Anteil am Vermögen des Menschen hat, von seiner Vernunft Gebrauch zu machen, sich moralisch zu vervollkommnen und sich selbst als frei zu begreifen. Es ist ein indirekter Weg, über den l 'amour propre zu Vernunft, Tugend und Freiheit fuhrt - und damit gewissermaßen zum Gegenmittel gegen alle von ihr selbst hervorgebrachten Übel wird - , denn es gibt keine unmittelbare Verbindung zwischen den Zielen, nach denen l'amour propre uns streben lässt, und unserem Anspruch, vernünftig, tugendhaft oder frei zu sein. Wir werden nicht vernünftig, moralisch oder selbstbestimmt, weil wir damit unser Verlangen, Wert in den Augen Anderer zu haben, befriedigen. Rousseau meint vielmehr, dass Wesen, denen l'amour propre eigen ist, von ihrem leidenschaftlichen Streben nach Anerkennung dazu gebracht werden, Beziehungen zu Anderen aufzubauen, im Zuge derer sie unmerklich kognitive und affektive Fähigkeiten entwickeln, die ihnen neue Möglichkeiten der Vernunft, der Moralität und der Freiheit eröffnen - Möglichkeiten, die ihnen ohne l'amour propre nicht zur Verfügung ständen. Im Mittelpunkt dieses letzten Abschnitts wird die These stehen, dass / 'amour propre eine der Bedingungen der Vernunft ist, genauer: der Fähigkeit, den Standpunkt der Vernunft einzunehmen und sich von ihm leiten zu lassen. (Das Verständnis von Vernunft, das ich hierbei zu Grunde lege, entspricht der gedanklichen Haltung des Bürgers, der seinem Staat Gesetze geben will, die mit dem Gemeinwillen übereinstimmen. 62 ) Rousseaus Texte enthalten nur wenige Einzelheiten darüber, wie sich das Verhältnis zwischen Vernunft und / 'amourpropre gestaltet. Jedoch findet sich ein Hinweis in dem bekannten Abschnitt des Gesellschaftsvertrages, der jene „bemerkenswerte Verwandlung" beschreibt, die im Menschen stattfindet, wenn der Naturzustand, in dem sein Verhalten von physischen Trieben bestimmt wird, dem bürgerlichen Zustand weicht, in dem Vernunft und Pflicht sein Handeln leiten. Rousseau bemerkt dort: „Nun erst löst [...] das Recht die Begierde ab. Der Mensch, der bisher nur an sich gedacht hatte, sieht sich gezwungen, nach anderen Grundsätzen zu handeln und seine Vernunft zu befragen, ehe er seinen Neigungen folgt." 63 Hier deutet sich folgender Gedanke an: Damit die Vernunft zur Ordnerin des menschlichen Handelns aufsteigen kann, müssen die isolierten Wesen des Naturzustandes auf irgendeine Art und Weise aus ihrer solipsistischen Existenz - in der , jeder einzelne Mensch sich selbst als den einzigen Zuschauer, der ihn beobachtet" 64 , ansieht - heraustreten und lernen, nach Prinzipien zu handeln, in denen die Perspektive ihrer Mitmenschen berücksichtigt wird. Es gibt Gründe anzunehmen, dass Rousseau in l 'amourpropre, mit ihrem expliziten Interesse am Standpunkt Anderer, jene Ressource der menschlichen Natur sieht, die diese erforderliche Erweiterung der Perspektive möglich macht. Auf welche Weise aber kann dies gelingen? Beginnen wir mit dem nahe liegendsten Verständnis davon, wie l'amour propre Menschen die Fähigkeit verleihen könnte, die Perspektive Anderer einzunehmen. Weil / 'amour 62
Zur genaueren Charakterisierung des Standpunktes der Vernunft vgl. F. Neuhouser, „Rousseau on the Relation betwenn Reason and Self-Love {Amour Propre)", in: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus, 2003, S. 221-239.
63
J.-J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag
64
Ders., Diskurs über die Ungleichheit, a. a. O., S. 371 ; OC 3, S. 219.
(I. 8), a. a. O., S. 78 (Hervorh. v. F. Neuhouser).
R O U S S E A U U N D DAS M E N S C H L I C H E V E R L A N G E N NACH A N E R K E N N U N G
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propre nach der guten Meinung Anderer strebt, so dieser Gedanke, hängt ihre Befriedigung von der Fähigkeit ab, die Wünsche und Bedürfnisse anderer zu antizipieren und die eigenen Handlungen mit ihnen in Übereinstimmung zu bringen. Emiles Verlangen danach, von seinen Mitmenschen geliebt zu werden, weckt in ihm den Wunsch, ihnen zu gefallen. 65 Damit ihm dies gelingen kann, muss er jedoch ein Empfinden dafür entwickeln, was denjenigen, an deren Meinungen ihm liegt, Freude oder Leid bereiten würde. Indem sie uns das Verlangen nach der guten Meinung Anderer über uns eingibt, so wird hier angedeutet, zwingt uns / 'amour propre dazu, unsere Fähigkeit zu perfektionieren, die Welt von einem anderen Standpunkt als dem unseren zu betrachten. Es spricht ohne Zweifel einiges dafür, dass l'amour propre zur Ausbildung der Vernunft beiträgt, indem sie Individuen zur Entwicklung ihrer Fähigkeit antreibt, sich vorzustellen und zu berücksichtigen, wie die Welt von Anderen wahrgenommen wird. Doch kann dies nicht Rousseaus zentrale Idee im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen Vernunft und / 'amour propre sein. Denn um die Fähigkeit auszubilden, die Bedürfnisse und Wünsche Anderer zu antizipieren, ist / 'amourpropre nicht notwendig, da / 'amour de soi dies ebenfalls leisten kann. Die tief greifende gegenseitige Abhängigkeit, die schon aus „nicht-relativen" Bedürfnissen wie denen nach Nahrung, Kleidung und Behausung entsteht, ist ein starkes Motiv zu erlernen, die Bedürfnisse und Wünsche Anderer wahrzunehmen, unabhängig von jedem Wunsch, ihren Beifall oder ihre Achtung zu gewinnen. 66 Da schon l'amour de soi uns auf die Kooperation mit Anderen angewiesen macht - da ich in der Lage sein muss, Dir etwas als Gegenleistung anzubieten, wenn ich Deine Hilfe in Anspruch nehmen will - , könnte sie uns auch allein zu der Erkenntnis bringen, wie außerordentlich vorteilhaft es sein kann, die Bedürfnisse Anderer zu antizipieren und unseren sozialen Aktivitäten eine entsprechende Gestalt zu verleihen. Wenn also tatsächlich die Entwicklung der Fähigkeit, die Bedürfnisse Anderer zu antizipieren, gleichermaßen von beiden Formen der Liebe zu sich selbst anregt werden kann, dann ist es uns bisher noch nicht gelungen, den spezifischen Beitrag von / 'amour propre zur Entwicklung der Vernunft zu identifizieren. Um hier voranzukommen, sollten wir uns auf die Eigenschaften von l'amour propre konzentrieren, die sie von / 'amour de soi unterscheiden, insbesondere auf die beiden Hinsichten, in denen / 'amour propre eine relative Leidenschaft ist: erstens, dass die Stellung, nach der l'amour propre strebt, stets eine Stellung in Relation zu Anderen ist; zweitens, dass das Gut, nach dem l'amour propre strebt - soziale Achtung - , von der Meinung anderer Subjekte abhängt beziehungsweise sich dort manifestiert. Um zu verstehen, wie / 'amour propre durch diese erste Form der Relativität zur Entwicklung der Vernunft beitragen könnte, ist es vielleicht hilfreich zu fragen, warum ein anderer Bestandteil der menschlichen Natur - das Mitleid - keine hinreichende Grundlage rationalen Handelns ist. (Mitleid bedeutet die Fähigkeit, die Leiden Anderer zu empfinden und sie lindern zu wollen.) Kurz gefasst, lautet die Antwort, dass Mitleid ein Gefühl ist und Gefühle von der Vernunft geleitet werden müssen, um zuverlässig gute Handlungen hervorzubringen.
65
Vgl. ders., Emil, a. a. O., S. 364; OC 4, S. 668.
66
Im Diskurs über die Ungleichheit (a. a. O.) vertritt Rousseau den Standpunkt, dass l'amour de soi allein keine dauerhaften Abhängigkeitsbeziehungen schafft, da es im „ursprünglichen" Naturzustand, in dem die / 'amour de soi, nicht aber / 'amourpropre aktiv ist, keine solchen Abhängigkeiten gibt. Abhängigkeit wird vielmehr erst dann ein notwendiger Bestandteil der menschlichen Existenz, wenn / 'amourpropre erwacht ist und dem größten Teil der menschlichen Wünsche ihren Charakter aufprägt.
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Denn wenn es nicht durch die Vernunft kontrolliert wird, kann uns Mitleid dazu verleiten, unsere Wohltätigkeit zufallig zu verteilen - vielleicht auf die falschen Empfanger oder auf die richtigen Empfanger, jedoch in falschem Maße. Obwohl Mitleid moralisch von Nutzen sein kann, insofern es uns dazu bewegt, uns für das Wohlergehen von entfernten und unbekannten Anderen zu interessieren, so bleibt es doch „blind". Solange es nicht Ideen untergeordnet wird, die allein die Vernunft liefern kann, wird es nur zufallig zu den Handlungen fuhren, welche die Gerechtigkeit verlangt. 67 Wenn somit auch die Vernunft auf das Mitleid baut, um das Interesse am Wohlergehen Anderer zu wecken, so fordert sie doch zugleich, dass das Mitleid in Schranken gehalten wird, dass man „sich ihm nur insoweit [überlässt], wie es gerecht ist".68 Nur wenn das Mitleid von einer Idee der Vernunft reguliert wird - der Idee der grundlegenden Interessen eines jeden - , kann es den Charakter eines blinden Gefühls abstreifen und sich auf die richtigen Objekte richten.69 Es bleibt die Frage, welche Rolle l'amour propre dabei spielt. Was l'amour propre zur Regulierung des Mitleids durch die Vernunft beitragen kann, ist eine Idee, die ihren Ursprung im relativen Charakter dieser Leidenschaft hat, nämlich dass menschliche Individuen einen Wert im Vergleich zu Anderen haben. Wir sahen bereits, dass die Vernunft, wenn sie das Mitleid auf die richtigen Objekte lenkt, sich der Idee des gleichen moralischen Werts bedient. Rousseau behauptet keineswegs, dass l'amour propre zwangsläufig dazu führt, allen Menschen einen gleichen moralischen Status einzuräumen. Er meint vielmehr, dass erst / 'amour propre die Idee eines Werts im Vergleich zu Anderen - und damit auch die spezifischere Idee eines gleichen Werts - im menschlichen Charakter verankert und damit dieser Idee die Macht verleiht, das Verhalten der Menschen so zu lenken, wie es die Vernunft verlangt. Kurz gesagt, im Gegensatz zum Mitleid stellt l 'amour propre Vergleiche an, und ohne Vergleiche - ohne die richtige Art von Vergleichen - kann es keine Vernunft geben. 70 Wenden wir uns nun der zweiten Hinsicht zu, in der / 'amour propre relativ ist, nämlich dass das Gut, nach dem l'amour propre strebt, in der Meinung Anderer über unseren Wert liegt. Inwiefern dient dieses Charakteristikum von l'amour propre dazu, die Vernunft auszubilden? Wie bereits erwähnt, deutet Rousseau an, dass l'amour propre uns dazu zwingt, unseren „natürlichen" Solipsismus aufzugeben und eine Perspektive einzunehmen, welche die Subjektivität Anderer mit einbezieht. Es zeigte sich ebenfalls, dass, wenn l 'amour propre einen entscheidenden Beitrag zum rationalen Handeln leisten soll, diese Anerkennung der Subjektivität Anderer nicht nur aus der bloßen Antizipation ihrer Freuden und Leiden bestehen kann. Nun unterscheidet sich l 'amourpropre von / 'amour de soi ebenso wie vom Mitleid dadurch, dass sie uns dazu bringt, uns nicht nur für die Ansichten Anderer über die Welt im Allgemeinen zu interessieren, sondern für ihre Ansichten über einen bestimmten Gegenstand, nämlich über uns selbst. Das bedeutet, dass jemand, der Andere zu einer guten Meinung über sich selbst bringen will, versuchen wird, sich vorzustellen, wie bestimmte Aspekte seiner selbst (seine öffentlich sichtbaren Handlungen und Qualitäten) auf Subjekte, die sich in ei67
Vgl. J.-J. Rousseau, Emil, a. a. O., S. 261; OC 4, S. 548.
68
Ebd.
69
Diese Argumente wurden ausgezeichnet formuliert von: A. Chitty, Needs in the Philosophy Rousseau to Marx, Dissertation an der Oxford University 1994, S. 63 ff.
70
Die These, dass der Vergleich grundlegend fur die Vernunft, vielleicht sogar deren zentraler Vollzug ist, findet sich in: J.-J. Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, a. a. O., S. 177 f., 187; OC 3, S. 165 f., 169.
of History:
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ner anderen Lage befinden, wirken und ob das, was diese Subjekte von seiner öffentlichen Persönlichkeit wahrnehmen, ihre Wertschätzung finden wird. Dies deutet darauf hin, dass l'amour propre rationales Handeln dadurch fordern könnte, dass Individuen dazu angeregt werden, sich selbst von einem externen Standpunkt aus zu betrachten und zu beurteilen. Die Bedeutung einer solchen Fähigkeit für das rationale Handeln ist offensichtlich. Wie wir gesehen haben, verlangt die Vernunft vom Individuum, seinen eigenen partikularen Gesichtspunkt, aus dem nur seine Interessen zählen, zu verlassen und sich selbst - seine Intentionen und Charakterzüge - aus einer externen Perspektive zu betrachten, in der allein die grundlegenden Interessen aller von Belang sind. Mit anderen Worten, die Vernunft verlangt, dass wir uns zu einer Art Objekt unseres eigenen Gewissens machen - dass wir unsere Eigenschaften so betrachten, wie wir die von Anderen betrachten würden und dass wir dies mit dem unparteiischen Blick eines verallgemeinerten Anderen tun.71 Mit ihrem Interesse daran, wie man von anderen Subjekten gesehen wird, erscheint / 'amour propre somit besonders geeignet, um in menschlichen Wesen jene Fähigkeit zur Selbst-Objektivierung zu fordern, die Voraussetzung einer vernünftigen Selbsteinschätzung ist. (Um es noch einmal zu wiederholen, Rousseau behauptet nicht, fass l'amour propre allein Individuen zu einer objektiven Sicht auf ihre Intentionen und Eigenschaften befähigt. Es bleibt zweifellos viel Erziehungsarbeit zu leisten, damit Individuen, die zunächst allein an den Meinungen bestimmter Anderer interessiert sind, in Subjekte verwandelt werden, die sich selbst von einem unparteiischen Standpunkt aus beurteilen. Rousseau meint vielmehr, dass die Fähigkeit, uns selbst zum Objekt für den Blick der Vernunft zu machen, ihren Ausgang von dem ursprünglichen, aus l'amour propre hervorgehenden Impuls nimmt - beziehungsweise dessen Verfeinerung ist - , unseren eigenen subjektiven Standpunkt zu verlassen, um herauszufinden, wie wir in den Augen jener spezifischen Anderen erscheinen, nach deren Wertschätzung wir verlangen.) Auch an dieser Stelle könnte man wieder einwenden, dass bereits / 'amour de soi den Individuen einen ausreichenden Anreiz dafür bietet zu lernen, ihr Verhalten aus der Perspektive eines Dritten zu beurteilen. Denn Individuen, die zur Befriedigung ihrer grundlegenden Bedürfnisse auf die Kooperation mit Anderen angewiesen sind, lernen offenbar schnell herauszufinden, was „der Markt" wünscht, und richten ihre Produktion darauf aus, einfach deshalb, weil ein Scheitern gravierende Konsequenzen für sie hätte. Selbst wenn dabei noch Raum für l 'amour propre bliebe, zusammen mit / 'amour de soi die Fähigkeit zu fordern, einen objektiven Standpunkt sich selbst gegenüber einzunehmen, stellt sich die Frage, ob / 'amour propre irgendetwas Spezifisches zu diesem Prozess beiträgt. Und tatsächlich ist dies in zweifacher Hinsicht der Fall. Ein hervorstechendes Merkmal von / 'amour propre ist, dass wir uns für die Meinungen Anderer über unsere Handlungen und Qualitäten nicht aus instrumentellen Gründen interessieren (weil ich die Erwartungen Anderer erfüllen muss, wenn mein Produkt auf dem Markt Absatz finden soll), sondern weil wir diesen Meinungen eine Bedeutung an sich zumessen, als Indikatoren unseres Werts als Individuen. Ein Wesen mit / 'amour propre ist daran interessiert, wie es 7
'
Rousseaus Standpunkt, w i e ich ihn hier rekonstruiere, überschneidet sich in bemerkenswerter Weise mit George Herbert Meads Darstellung der Vernunft (vgl. G. H. Mead, Mind, Self, and Society,
Chicago 1934, Teil
III). Weitergehend argumentiert Mead, dass eben die Fähigkeit, sich selbst als Objekt zu betrachten - sich selbst aus der Perspektive anderer zu sehen - , Kennzeichen von Personalität ist. Damit deutet sich eine Möglichkeit an, w i e Rousseaus These interpretiert werden könnte, dass l 'amour propre Bedingung nicht nur der Vernunft, sondern auch der Personalität im Allgemeinen ist.
eine notwendige
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von Anderen gesehen wird, weil seine öffentlich sichtbaren Handlungen als Reflexionen von etwas gelten, das als das eigentliche Objekt seines Interesses hinter diesen Äußerlichkeiten steht, nämlich seines „Selbst" als eines möglichen Gegenstands von Wertschätzung. Insofern er von l'amour propre motiviert ist, erstrebt ein geschickter Handwerker nicht deshalb Lob für seine Arbeit, weil ein guter Ruf seine Durchsetzungsfahigkeit auf dem Markt erhöht, sondern weil seine Arbeit, in einer für alle sichtbaren Form, ihn selbst widerspiegelt und die Anerkennung ihrer Qualität eine öffentliche Bestätigung seines Werts (als Handwerker) ist. Ein Wesen mit l 'amour propre ist also motiviert zu erwägen, wie seine eigenen Handlungen und Eigenschaften anderen Subjekten erscheinen, die es als das Publikum seines Selbst betrachtet. Ein solches Wesen wird die öffentlich zugänglichen Aspekte seiner selbst zum Objekt seines eigenen Blicks machen und sich dabei fragen: Passen diese Eigenschaften in den Augen meines Publikums zu einer Person von Rang (welches auch immer der Rang sein mag, den es anstrebt)? L'amour propre zwingt die Individuen zu einer Art von Selbsterkundung, bei der sie ihre eigenen Handlungen gemäß nicht-instrumenteller Standards persönlichen Werts beurteilen. Diese Art von Selbsterkundung aber kommt einer moralischen Selbsteinschätzung näher als alles, was l 'amour de soi hervorbringen kann. Denn es ist eines der Kennzeichen einer moralischen Haltung, dass sie eine beabsichtigte Handlung im Hinblick darauf beurteilt, wie diese Handlung, in den Augen eines unparteiischen Betrachters, unseren „inneren Wert" widerspiegelt. Kurz gesagt, ist l'amour propre der affektive Prototyp des Standpunkts der Vernunft. L'amour propre bringt Individuen dazu, eine normative Perspektive auf sich selbst einzunehmen, das heißt sich selbst gemäß nicht-instrumenteller Standards einzuschätzen, die über die Selbstbezüglichkeit von l 'amour de soi mit ihrem ausschließlichen Interesse am nicht-relativen Wohlergehen des Individuums hinausgreifen. Es gibt eine weitere Eigenschaft der in l'amour propre impliziten normativen Perspektive, die auf eine zweite Art verweist, in der diese Leidenschaft dazu beiträgt, die Fähigkeit auszubilden, sich selbst „objektiv", vom Standpunkt der Vernunft aus, zu beurteilen. Es handelt sich dabei um die Art der Autorität der Normen, die l 'amour propre anerkennt und die, keineswegs überraschend, mit der Tatsache verknüpft sind, dass das Gut, nach dem l'amour propre strebt, in der Meinung Anderer liegt. Die Wertungskriterien, derer sich / 'amour propre bedient, unterscheiden sich von denen, auf die sich / 'amour de soi bezieht, nicht nur dadurch, dass sie nicht-instrumentelle Standards persönlichen Werts bereitstellen, sondern auch dadurch, dass ihre Quelle außerhalb der Person liegt, auf die sie angewendet werden, nämlich im Urteil Anderer. Indem ich den Maßstab meines Wertes in die Gedanken Anderer über mich verlege, mache ich ihre Meinungen für mich normativ - das heißt, ich akzeptiere ihre Urteile als gültige Kriterien für meinen Wert und, indem ich mich selbst entsprechend dieser Urteile neu fasse, erkenne sie als „Gesetze" für meinen Willen an. So zwingt l'amour propre, durch die Beschaffenheit der Bedürfnisse, die sie hervorbringt, die Menschen dazu, ihren Willen den Urteilen ihrer Mitmenschen zu unterwerfen, und lehrt sie damit, anderen Standpunkten als den eigenen eine Art von normativer Autorität einzuräumen. Man könnte es so ausdrücken, dass l'amour propre die affektive Quelle des menschlichen Impulses hin zur Objektivität oder zur Vernunft ist und dass damit die „Herrschaft der Meinung", die Rousseau in seinen Schriften immer wieder beklagt, zugleich eine Vorläuferin der Herrschaft der Vernunft ist. Der Grund dafür ist, dass das Verlangen, sich den Meinungen Anderer anzupassen - der Impuls, ihren Vorstellungen vom Guten gerecht zu werden - , nicht zuletzt eine (zugegeben noch primitive) Form ist, sich selbst als Normen unterworfen zu begreifen, de-
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ren Gültigkeit von den eigenen Wünschen und Überzeugungen unabhängig ist.72 Das bedeutet, dass das Streben nach öffentlicher Wertschätzung, bei allen Gefahren, die von ihm ausgehen, gewissermaßen das Übungsfeld der Vernunft ist, auf dem jedes menschliche Wesen seine erste Lektion der unbequemen Wahrheit lernt, dass es nicht ausreicht, etwas fur gut zu halten, damit es gut ist, und dass sein Wille an etwas gebunden ist, das außerhalb der eigenen subjektiven Vorlieben und Überzeugungen liegt. Jenseits dessen nimmt / 'amour propre den Standpunkt der Vernunft noch genauer vorweg, indem sie die Quelle der Beschränkungen, denen der Wille eines Individuums unterliegt, nicht in der Welt der Dinge, sondern in den Urteilen anderer Subjekte lokalisiert. L'amour propre lehrt menschliche Wesen nicht einfach nur, sich selbst aus einer Perspektive zu betrachten, die ihre eigenen spezifischen Wünsche übersteigt; sie macht auch die Meinungen anderer Subjekte bestimmend fur diese Perspektive. Die Leidenschaften nehmen so gewissermaßen den Anspruch der Vernunft vorweg, dass ethische Objektivität sich aus der Übereinkunft rational Handelnder herleitet (und dabei selbstverständlich angemessenen Beschränkungen unterworfen ist) - dass, mit anderen Worten, der Maßstab dafür, was richtig und was falsch ist, sich außerhalb des Bewusstseins der einzelnen Individuen befindet, in einer Art von idealer Übereinkunft zwischen vernünftigen Subjekten. Rousseaus Darstellung der Bedeutung des Strebens nach Anerkennung für die menschliche Existenz geht in ihrer gedanklichen Fülle weit über die Punkte hinaus, die ich auf diesen wenigen Seiten skizzieren konnte. Ich hoffe jedoch, schon mit diesem bloßen Umriss seiner Position gezeigt zu haben, dass in Rousseaus Reflexionen über l 'amour propre die Wurzeln vieler späterer theoretischer Überlegungen zum Wesen und zur Bedeutung von Anerkennung zu finden sind und dass wir auch heute noch weitaus mehr von der Beschäftigung mit ihnen profitieren können, als es die Philosophie bisher getan hat. Aus dem Amerikanischen von Andreas Fliedner
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Eine andere Version dieser These findet sich bei: A. Chitty, Needs in the Philosophy of History, a. a. O., S. 42 f.
J. M .
BERNSTEIN
Anerkennung und Verleiblichung Überlegungen zu Fichtes Materialismus*
Den Menschen anerkennen Eine erste Interpretation von Rechten als Formen der Anerkennung bietet J. G. Fichte in seiner Grundlage des Naturrechts. Demnach besitze ich ein Recht nur insofern, als mir Andere einen bestimmten Status, nämlich den eines Individuums, verleihen, indem sie mich auf gewisse Art behandeln und mir begegnen. Rechte werden zu Formen der Anerkennung, weil man einen bestimmten Status und Stand in der Welt für sich und in den Augen anderer nur innehat, da einige dieser Anderen oder der sie repräsentierende Kollektivkörper sich mir gegenüber auf eine bestimmte Art verhalten. Rechte werden nicht besessen; sie werden von Anderen gewährt, verliehen und zugestanden, wenn auch nicht ohne Grund. Durch das Gewähren, Verleihen und Zugestehen von Rechten wird mir Anerkennung zuteil. Da Rechte Objekte sind, die verliehen werden, kann ich sie in konkreter Form nur besitzen, wenn sie, zum Gesetz formalisiert, von der Gewalt eines Staates gesichert werden. Rechte grenzen also eine Folge von Handlungsbefähigungen und Anspruchsrechten ab, die ich besitzen muss, um einen gewissen Status innezuhaben. Indem andere diesen Status, ζ. B. den eines Staatsbürgers, anerkennen, erhalte ich Zugang zu diesen Handlungsbefähigungen und Anspruchsrechten. Fichte interpretiert politisches Recht auf diese Weise, weil er es für die Entwicklung des Individuums zum selbst bestimmend Handelnden in der Welt für notwendig hält, dass man von Anderen, die man selbst als freie und vernünftige Wesen anerkennt, als ebenso freies und vernünftiges Wesen anerkannt wird. Einzig Anerkennung macht mich zu einem ganzen Menschen. In meiner Anerkennung, die ich als selbstbewusst Handelnder von Anderen erfahre, ist demzufolge mein Verständnis davon begründet, was ein selbstbewusst Handelnder ist. Rechte sind Formen der Anerkennung, da sie meine Stellung als ein selbst bestimmendes Subjekt sichern, das wiederum ein Produkt des Anerkanntwerdens und der Anerkennung ist. In knapper Form ist dies die Struktur von Fichtes Argumentation. Da stark rekognitive bzw. auf „Anerkennung" beruhende Theorien den Menschen unter dem Statusbegriff begreifen, dessen Verwirklichung eine Folge von normativ geregelten Formen der Wechselwirkung ist, werden solche Theorien als paradigmatische Versionen des Idealismus betrachtet. Wenn das Wesen von Objekten zumindest teilweise davon abhängt, wie diese kognitiv aufgenommen oder praktisch behandelt werden, dann sind diese Objekte als empirische Erscheinungen in Raum und Zeit in gewissem Sinn bewusstseinsabhängig. Der vorliegende Beitrag ist eine erheblich erweiterte Fassung des Aufsatzes „Recognition and Embodiment (Fichte's Materialism)", der in German Idealism: Contemporary Perspectives, hg. v. E. Hammer, London/New York 2007 erschienen ist.
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J . M . BERNSTEIN
Rekognitive Versionen des Idealismus haben gegenüber dem traditionellen transzendentalen Idealismus Kantischer Ausprägung den Vorteil, dass sie das idealisierende Element in den sozialen Praktiken konkreter Gemeinschaften und nicht im vereinzelten Bewusstsein abstrakter Individuen (und deren transzendentalen Handlungen) verankern. Der bleibende Anreiz eines Idealismus rekognitiver Art besteht darin, dass er über reichliche Mittel für die Sicherung der normativen Dimensionen des menschlichen Lebens gegen den Angriff von Ernüchterung und Skeptizismus verfügt, indem er zeigt, wie alleine die Idee einer Welt von Dingen und Personen nur durch ihre Erscheinungsweise entsteht. Ihre Erscheinung wird wiederum zum Teil davon bestimmt, wie sie aufgenommen (erkannt, intendiert, auf sie eingewirkt, geformt, etc.) wird. 1 Wenn andererseits Menschen aus ihrer natürlichen Umgebung, aus ihrer Stellung als Ergebnisse der Evolution und aus der festen Materialität des täglichen Lebens gerissen werden, um den Preis für die Sicherung des Normativen zu zahlen, dann ist dieser Preis zu hoch. Man könnte einen Vorwurf gegen den rekognitiven Idealismus so formulieren: Behauptet man, dass Menschsein ein Status ist, der von anderen verliehen wird, dann behauptet man zugleich, dass die paradigmatische Form, einen anderen zu verletzen, darin besteht, ihn nicht anzuerkennen. Solch eine Behauptung ist widersinnig: Die paradigmatische Form, einem Menschen zu schaden, bedeutet, seinen Körper zu verletzen, ihm durch körperliche Misshandlung Schmerz und Leiden zuzufügen, oder - schlimmer noch - ihn zu töten. Während man zu recht sagen kann, dass es eine Form oder Manifestation der fehlenden Anerkennung des Anderen ist, wenn sein Körper brutal misshandelt oder verletzt wird, so ist das bewusste Verursachen von körperlichen Schmerzen und Leiden der zugefügte Schaden und nicht lediglich das Nicht-Anerkennen (wie beleidigt oder beschimpft oder verflucht oder entehrt zu werden). Selbst wenn diese Behauptung mehr Komplexität erfordert, scheint die generelle These unumgänglich: Menschen sind auch natürliche Kreaturen, die entsetzliche körperliche Schmerzen erleiden können und deren Leben gewaltsam beendet werden kann. Vermag die rekognitive Theorie diese Körperlichkeit in ihre Darstellung nicht mit einzubeziehen, so verfälscht sie einen Großteil menschlicher Erfahrung. Fichtes Rechtstheorie möchte rekognitive und körperliche Aspekte vereinen. Die einleitenden Argumente der Grundlage behandeln zwei zentrale Thesen: Erstens, ein ,,endliche[s] Vernunftwesen kann eine freie Wirksamkeit in der Sinnenwelt sich selbst nicht zuschreiben, ohne sie auch anderen zuzuschreiben, mithin, auch andere endliche Vernunftwesen ausser sich anzunehmen" (S. 30)2 - man sollte dies als den Beginn von Fichtes transzendentaler Lösung des Problems anderer Bewusstseine sehen. 3 Zweitens, die These, dass ein vernünftiges Wesen sich nicht selbst als ein Individuum - Gegenstand der ersten These - setzen kann, ohne sich auch einen Leib zuzuschreiben, wobei das Zuschreiben eines eigenen Leibes zugleich erfordert, dass man ihn als „stehend unter dem Einflüsse einer Person ausser ihr" (S. 61) ansieht. Die erste These setzt die zweite voraus: Sich selbst zu setzen erfordert, dass '
Für rekognitiven Idealismus ist auch die Naturwissenschaft eine Form der Weltinterpretation. Der Gegner der Normativität ist nicht die Naturwissenschaft, sondern der Szientismus - die falsche Reifizierung des wissenschaftlichen Naturalismus.
2
J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre, in: Johann Gottlieb Fichte 's sämmtliche Werke, hg. von J. H. Fichte, Berlin 1845, Bd. III. Alle Bezüge auf dieses Werk werden fortan in Klammem in den laufenden Text aufgenommen.
3
Dieser Anfang wurde wunderbar von Paul Franks erörtert in „The Discovery of the Other: Cavell, Fichte, and Skepticism", Common Knowledge 5/2 (1996), S. 72-105.
A N E R K E N N U N G UND VERLEIBLICHUNG
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man ein leibliches Wesen unter anderen leiblichen Wesen ist, die sich gegenseitig kausal und vorsätzlich beeinflussen können. Selbstbewusstsein entsteht also ebenso zwischen-leiblich wie zwischenmenschlich. Während sich in Fichtes Verteidigung der beiden Thesen viel Merkwürdiges finden lässt, da er auf offensichtliche und - wie ich darlegen werde - ebenfalls auf nicht offensichtliche Weise eine Materialisierung des Idealismus versucht, um die materialen Bedingungen des täglichen Lebens in einer Theorie von Anerkennung und Rechten in vollem Umfang zu berücksichtigen, ist sein Projekt es dennoch wert, weiter ausgeführt zu werden. Was eine Interpretation Fichtes in diesem Fall u. a. erschwert, ist seine Behauptung, dass die beiden Hauptthesen eine transzendentale Deduktion von Rechten beinhalten. Transzendentale Rechte und politische Rechte sind gänzlich verschieden; wie soll man sie verknüpfen? Wenn wir uns im Klaren darüber sind, welche Absicht Fichte mit der Darlegung einer transzendentalen Rechtsdeduktion verfolgt, dann können wir seine allgemeine Vorgangsweise vielleicht besser verstehen. Vor der Betrachtung der zwei Grundthesen im Einzelnen werde ich mich daher mit seinem transzendentalen Rechtsbegriff befassen.
Rechte, Proto-Rechte, Normen Worum es in Fichtes Rechtsbegriff tatsächlich geht, das bleibt ein Rätsel. Einerseits hat er die übliche Bedeutung von Eigentums- und ähnlichen Rechten, die zur Sicherung der äußeren Freiheit der Bürger eines liberalen Staates dienen sollen, in dem jeder seine Freiheit beschränkt und somit die Freiheit der Anderen anerkennt. Andererseits weisen die Abschnitte zu Beginn des Buches allesamt auf eine vorpolitische, transzendentale Situation hin, bei der es scheinbar um Höheres und Allgemeineres geht als um die Sicherung des gemeinsamen Lebens der Bürger eines Rechtsstaates. In einem Brief an Jacobi von August 1795 beklagt sich Fichte darüber, dass seine Kritiker seinen Begriff des absoluten Ichs, des denkenden Ichs, das all unsere Repräsentationen begleitet, ständig mit dem endlichen, empirischen Subjekt, dem „Individuum", zusammenwerfen. Fichte räumt ein, dass letzteres erst noch transzendental gesichert werden muss; dies war dann später die Aufgabe seiner Betrachtung der Naturrechte. Die Rechtstheorie ist also Teil des Versuchs, die transzendentale Subjektivität mit dem tatsächlichen selbstbewussten Leben von konkreten, empirischen Individuen zu verbinden. Am Vortag hatte Fichte einen Brief an Reinhold geschrieben, in welchem er diesen Gedanken weiter ausführt. Um mich selbst als ein endliches Subjekt anzusehen, muss ich mich nicht nur als bestimmend in einer Sphäre von Dingen denken, die von sich aus nichts anfangen können (sie werden von den mechanischen Gesetzen von Ursache und Wirkung gelenkt), sondern auch als „ bestimmt in einer Sphäre vernünftiger Wesen außer mir: ich kann das nicht, ohne eine solche Sphäre, und jedes Objekt in dieser Sphäre gleichfalls als Individuum zu sezen: mithin pp. Es ist kein Individuum, wenn es ihrer nicht wenigstens zwei giebt. - Die Bedingungen der Individualität heißen Rechte. Es ist absolut unmöglich, daß ich mir ein Recht zuschreibe, ohne auch einem Wesen außer mir eins zuzuschreiben; da es absolut unmöglich ist, daß ich mich als Individuum setze, ohne ein Wesen außer mir als Individuum zu setzen." 4 J. G. Fichte, Briefwechsel 1793-1795, hg. von R. Lauth u. H. Jacob. In: J. G. Fichte, Briefe, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962, Bd. 2, S. 387 (Hervorhebungen im Original mit Ausnahme von „bestimmt").
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Fichte beginnt hier mit der Überlegung, dass wirkliches Selbstbewusstsein, das empirische Bewusstsein von sich selbst als ein selbstbestimmendes Subjekt, nur möglich ist, wenn man zum Selbstbewusstsein gebracht wird - man muss in einem konstitutiven Sinn von anderen Individuen dazu bestimmt werden, ein Individuum zu werden. Personen werden gemacht, nicht geboren. Die Rolle des anderen Individuums ist hier also mehr als das Widerstandleisten, welches das sich selbst setzende Ich von Seiten des Nicht-Ichs erfahrt. Die entscheidende Kraft geht über Widerstand und Begrenzung hinaus; der Andere ist, wie wir sehen werden, formativ für das Selbstbewusstsein. Wenn man nun die Idee der Individualität als Kürzel für ein endliches, körperliches, freies und vernünftiges Wesen versteht, dann klingt es zwar plausibel zu sagen, dass Rechte Individualität sichern, aber weniger plausibel zu behaupten, dass Rechte den notwendigen Bedingungen der Möglichkeit der Individualität entsprechen. Fichtes im vorhergehenden Abschnitt hervorgehobene Satz und seine Aussage, „Es ist kein Individuum, wenn es ihrer nicht wenigstens zwei giebt", verdeutlichen allerdings, dass er hier den transzendentalen Rechtsbegriff in seiner Beziehung zur Individualität im Sinn hat. Man könnte den Unterschied zwischen einem politischen und einem transzendentalen Rechtsbegriff natürlich mit dem Hinweis hervorheben, dass die notwendigen Bedingungen der Möglichkeit der Individualität überhaupt zu sein nicht gleichbedeutend sein können mit den Rechten, die der liberale Staat gewährt, da es vor und außerhalb der Grenzen des liberalen Staates Individuen gegeben hat. Wenn man die beiden Begriffe zusammenwirft oder eine zu enge Verbindung zwischen ihnen herstellt, dann könnte man Fichte vorwerfen, „dass Individuen sich nur als getrennte Einheiten mit kausaler Wirksamkeit bewusst werden können, wenn sie Teil einer politischen Ordnung sind, die individuelle Rechte schützt [in der liberalen, modernen Bedeutung des Begriffes]".5 Auch wenn Fichtes vorpolitischer Rechtsbegriff Fragen offen lässt, gibt es dennoch keinen Beweis dafür, dass Fichte dieser Fehler nur unterlaufen ist. Im Gegenteil unterscheidet er sorgfaltig zwischen „Urrechten" und „wirklichen Rechten". Urrechte beinhalten „das Recht auf die Fortdauer der absoluten Freiheit und Unantastbarkeit des Leibes" und „das Recht auf die Fortdauer unsers freien Einflusses in die gesammte Sinnenwelt". (S. 119) Einem Gedankengang Rousseaus folgend, wonach Rechte von den Bedingungen beschränkt werden, unter denen sie geltend gemacht werden können, sagt Fichte: „Es gibt keinen Stand der Urrechte ... Wirklich hat [der Mensch] nur in der Gemeinschaft mit andern Rechte ... Ein Urrecht ist daher eine bloße Fiktion." (S. 112) Urrechte eine Fiktion zu nennen, zu beschreiben, inwiefern der Naturzustand eine Fiktion ist, schützt ihn zwar vor einer Sorte von Fehlern, aber es erhellt nicht Fichtes Terminologie. Fichte versteht ein Recht als die normative Unterfütterung der notwendigen Bedingungen für Individualität. Kraft oder Autorität oder Ursprung des Rechts müssen also an diese Mindestbedingungen gebunden werden, durch welche Menschen tatsächliche, selbstbewusste Wesen in einer Sinnenwelt werden, die sie mit anderen Kreaturen teilen, die ihnen gleichen. Dies verlangt eine Erweiterung der transzendentalen Untersuchung. In Übereinstimmung mit einem Gedankengang Kants beinhaltet die Deduktion eines Begriffes den Beweis, dass sie, oder der Erkenntnisakt, der sie vollzieht, eine notwendige Bedingung der Möglichkeit des Selbstbewusstseins ist. Für Kant muss die notwendige Bedingung für Selbstbewusstsein ein Frederick Neuhouser, in seiner Einleitung zu J. G. Fichte, Foundations of Natural Right According to the Principles of the Wissenschaftslehre, übers, v. M. Bauer, Cambridge 2000, S. xvii.
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Apriori sein, das erfahrungsunabhängig erkannt werden kann; was erfahrungsunabhängig erkannt werden kann, kann erkannt werden, da es eher zur Innenausstattung des Bewusstseins gehört als zu der Welt, die vom menschlichen Bewusstsein getrennt besteht. Fichte versucht jedoch, das Recht als „ursprünglichen Begriff der reinen Vernunft" mit einzubeziehen, mit der Begründung, dass ein vernünftiges Wesen sich nicht selbst als ein Selbstbewusstsein setzen kann, „ohne sich als Individuum, als Eins, unter Mehrern vernünftigen Wesen zu setzen, welche es ausser sich annimmt." (S. 8) Auch Leiblichkeit wird als eine notwendige Bedingung fur empirisches Selbstbewusstsein betrachtet. Vielleicht gehören weder der Besitz eines Leibes noch die Existenz Anderer zur Innenausstattung des Bewusstseins in der Weise eines kognitiven Begriffes, aber sie gehören zu den notwendigen Bedingungen der Möglichkeit für Selbstbewusstsein. Als notwendige Grundlagen für Individualität, die wiederum notwendig ist für unser Selbstbewusstsein, werden die Anderen und Leiblichkeit als zum transzendentalen Inventar von Subjektivität gehörig angesehen. Demnach muss das, was völlig außerhalb des Selbstbewusstseins in seinem transzendentalen Gewand - das unmittelbare, präreflektive Selbstbewusstsein, das für Bewusstsein im Allgemeinen notwendig ist - und daher kein reines Produkt der Spontaneität des Bewusstseins ist, dennoch als ein a priori Bestandteil der Subjektivität angesehen werden. Diese Erweiterung der Idee der transzendentalen Untersuchung ist der eigentliche Grund für das Rätsel über den Status des Rechts als die normative Seite der Individualität. In dem Brief an Reinhold präsentiert Fichte diese Erweiterung der transzendentalen Untersuchung als Folge zweier „schwerwiegender Defizite", die er in Kants Moraldenken sieht. Erstens, selbst wenn eine Maxime die Prüfung der Allgemeingültigkeit nicht besteht, welche rationale Kraft zwingt mich dann dazu, lediglich verallgemeinerungsfahige Maxime zu befolgen? Kantische Moralität setzt das woraus, was zu beweisen ist, nämlich, dass mein Leben als frei Handelnder notwendigerweise gebunden an und abhängig von den Leben anderer frei Handelnder ist; Andere gehören innerlich oder wesentlich zu meinem Handeln; sie sind ein wesentlicher Teil meines Selbstverständnisses als ein frei Handelnder, und müssen daher normativ berücksichtig werden. Auch wenn Fichtes Schlussfolgerung hier wenig gesichert scheint und wie auch immer uns Rechte und moralische Normen verbinden und verpflichten, ist es doch prima facie plausibel, darauf zu drängen, dass sie es nur in Beziehung zu einem Material tun können, das a priori zu meiner eigenen Existenz besteht: die Bedingtheit meiner Individualität durch die Individualität Anderer. Man könnte sagen, dass die Prüfungsverfahren des kategorischen Imperativs von selbst eine emphatische Distanz zu anderen Individuen voraussetzen. Prüfungsverfahren für Handlungsmaximen sind daher ein formeller Mechanismus, durch welchen die Existenz Anderer vergegenwärtigt wird. Kantische Moralität, deren abwägendes Verfahren Andere „zurück" in die Überlegung bringt, verdeckt und distanziert uns von den Anderen, deren Nähe zu unserem Handeln der eigentliche Grund fur ihren Anspruch auf uns ist. Zweitens, beim Erwägen von Handlungsverläufen in Bezug zu Anderen ist zu fragen: Welche Andere muss ich bedenken und auf welcher Grundlage? Was ist die Reichweite notwendiger moralischer und politischer Besorgtheit? Wer verdient moralisches Ansehen und das Zuschreiben von Rechten? Alle vernünftigen Wesen? Und wie kann ich erkennen, wer eines von ihnen ist? Ist es notwendig, dass sie Hautfarbe und Sprache mit mir teilen? Ein Mitglied meines „Stammes" sind? Die allgemeine Meinung hat diese Einschränkung sicher gerechtfertigt. Fichte nimmt an, dass, wie auch immer die Grenze moralischer Sorge gezogen wird,
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sie doch bestimmt werden muss durch die Präsentation von Merkmalen der Individualität, die dem Wahmehmungserlebnis zur Verfügung stehen.6 Was es auch immer bedeutet, ein vernünftiges Wesen zu sein, es muss, um als vernünftiges Wesen zu gelten, einen externen, sinnlichen Beweis geben, der für die Überprüfung durch die Wahrnehmung zur Verfügung steht und der für wirkliche Allgemeingültigkeit ausreicht. Fichte behauptet, dass wir als Mensch all das berücksichtigen müssen, was als Mensch erscheint, d. h. das Merkmal des Menschen ist die menschliche Gestalt (aufrechter Stand, opponierbare Daumen, ein ausdrucksstarker Mund, usw.), und es ist die auf diese Weise verstandene Gestalt, die man als „unverlezlich"7 ansehen muss. In einer Bedeutung, die nachstehend weiter ausgeführt werden wird, betrachtet Fichte den menschlichen Leib als die notwendige Erscheinungsform von Freiheit und Vernunft; da Freiheit, wenn sie nicht erscheint, auch nicht ist, wird sie durch Leiblichkeit bedingt. Fichtes Gedanke verläuft etwa so: Durch die Erfahrung eines Anderen Leibes als unverletzlich werde ich dazu bewegt, ihn als einen Zweck an sich selbst zu sehen. Kants Fokus auf die Reinheit des Willens verschleiert hier, wie andere ethisch erscheinen und daher den eigentlichen Gründungsakt ethischer Berücksichtigung (wir müssen es unterlassen, anderen Schmerzen zuzufügen, sie zu verletzen oder ihnen zu schaden indem wir sie oder ihren Leib verletzen). Die Kritik an Kant geht u. a. davon aus, dass es Normativitätsbildung geben muss, die der Moralität vorangeht und von ihr unabhängig ist. Die Art, wie Andere mich behandeln, geleitet von im- oder expliziten normativen Überlegungen, bestimmt zumindest teilweise die Bedeutung von einem selbstbewusst Handelnden. Ziel des transzendentalen Rechts ist die Verknüpfung der Notwendigkeit des Rechts, der Notwendigkeit eines Menschen, auf eine bestimmte Weise behandelt zu werden, mit den Bedingungen, die Selbstbewusstsein ermöglichen. Fichte verfolgt also den Gedanken, dass das Auftreten von Selbstbewusstsein und von normgelenktem Verhalten zwei Seiten desselben Prozesses sind. Im Vergleich zur Moralität in ihrer gewichtigen Kantischen Bedeutung schwächer und externaler wird „normgelenktes Verhalten", so Fichte, wenn formalisiert und explizit gemacht, zu politischen Rechten, d. h. zu den Minimalformen normativer Berücksichtigung, die für eine Gemeinschaft selbst bestimmender Gleichgestellter notwendig sind. Fichtes Thesen gehören hier allesamt zu einer generellen Weiterführung von Kants Behauptung des Primats von praktischem gegenüber theoretischem Denken und zur Ausweitung praktischen Denkens in den Bereich der Wahrnehmungserfahrung. Entweder ist theoretisches Denken von praktischem Denken abhängig oder selbst eine praktische Denkweise, teils weil theoretisches Denken auch eine Form von Spontaneität und daher eine Form von Handeln ist; teils weil theoretisches Denken am Ende sich selbst in empirischer Realität verwirklichen muss (alles Wissen dient Handeln); teils weil perzeptive Erfahrung im wesentlichen selbst die Fähigkeit zu einer kategorisch zwischen Dingen und Personen unterscheidenden Reaktion beinhaltet. Auch ohne es hier auszusprechen, übernimmt schließlich Fichte Kants späte Einsicht, dass die Normen, die praktisches Denken leiten, nicht logisch deduziert werden können, sondern von der „Tatsache der Vernunft" abhängig sind. Der Begriff der „Tatsache der Vernunft" beantwortet die Frage, weshalb das moralische Gesetz uns verbindet, indem er darauf beharrt, dass es uns Fichtes erweiterter Begriff des Wahrnehmungserlebnisses, das auch Erkenntnisurteile über Objekte und Personen einschließt, wird durch eine eigenständige, aber tiefgreifende Adaptierung von Kants Begriff des reflektierenden Urteils ermöglicht (Grundlage, S. 36-38). 7
Fichte, Briefwechsel 1793-1795,
S. 386.
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immer schon verpflichtet hat. Für Fichte ist es ein Irrtum, unser implizites Bewusstsein von der Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes als Tatsache der Vernunft anzusehen. Die eigentliche Tatsache der Vernunft ist das Bemühen des Anderen, was er die „Aufforderung" des Anderen nennt - die Einladung des Anderen, auf ein intentionales Zeichen mit einem intentionalen Zeichen zu reagieren, weil man dazu eingeladen wurde. Sobald etwas wie die Tatsache der Vernunft ins Spiel kommt, verschiebt sich die Logik der transzendentalen Untersuchung, da in diesem Fall „dem unbestimmten Begriffe des überhaupt [so wie „der Begriff des Gegenstandes überhaupt"], ein bestimmter Begriff, von einem bestimmten wirklichen, voraus[geht], und der erstere ist durch den leztern bedingt". (S. 31 ) Und sobald das Partikulare dem Universellen als dessen Bedingung der Möglichkeit vorangeht, verändert sich selbst die Idee von dem, was bei der Untersuchung der Bedingungen der Möglichkeit des Selbstbewusstseins auf dem Spiel steht. In der Grundlage des Naturrechts möchte Fichte die transzendentale Untersuchung mit einer antiplatonischen, aristotelischen Vorgehensweise verbinden. Die transzendentale Untersuchung mit dem Begriff einer a priori-Möglichkeit setzt dabei voraus, dass die Möglichkeit der Wirklichkeit und die Allgemeinheit der Besonderheit vorangeht; das Wirkliche steht dem Möglichen voran und das Besondere dem Allgemeinen. Das Rätsel über den Status des Rechtes ist präzise: Sein Status als anscheinend transzendental notwendig und doch empirisch gebunden. In Wahrheit fuhrt Fichte niemals detailliert aus, wie diese Verbindung erreicht werden soll. Aber er ist sich bewusst, dass er methodologisch die Idee einer transzendentalen Untersuchung selbst verändert und dass er für die Einführung empirischer Bedingungen der Möglichkeit Rechenschaft ablegen muss. Gegen Ende des § 3, in dem er in recht abstrakten und formellen Begriffen die Aufforderung des Anderen - seine neue Tatsache der Vernunft - beschrieben hat, behauptet er plötzlich unvermittelt, dass ,,[d]ie Aufforderung zur freien Selbs[t]thätigkeit [das] ist ... was man Erziehung nennt. Alle Individuen müssen zu Menschen erzogen werden, ausserdem würden sie nicht Menschen". (S. 39) Was also zuerst als eine abstrakte, empirische Bedingung für Individualität erschien, wird nun empirisch spezifiziert dargelegt: Die Aufforderung des Anderen, und die Verbindung von Freiheit und Leiblichkeit sind Ergebnisse einer Kindheitsentwicklung. Offensichtlich enthält die Interpretation der notwendigen Bedingungen der Möglichkeit des Selbstbewusstseins, wie sie Fichte in den ersten Abschnitten der Grundlage darlegt, eine Art genetische Analyse. Die genetische Dimension der Analyse ergibt sich aus der Rolle der Aufforderung: Ein Individuum kann sich selbst nur Selbstbewusstsein zuschreiben, wenn sein Selbstbewusstsein von Anderen anerkannt - aufgefordert - wird, die das anerkannte Subjekt wiederum als frei anerkennt. Eine Demonstration der notwendigen Bedingungen für freies Handeln beinhaltet demnach das Aufzeigen der Bedingungen, die realisiert werden müssen, damit sich freies Handeln verwirklicht, d. h. der Bedingungen, die sein müssen, damit sich freies Handeln manifestieren kann. Individualität entsteht als die Verwirklichung von Selbstbewusstsein. Der beste Beweis für diese Behauptung ist, dass der menschliche Säugling frühreif geboren zur Person wird. Fichte setzt diesen Beweis in seiner Untersuchung voraus. (S. 81-82) Ich schlage daher vor, Fichte bei seinem Wort zu nehmen und sein Argument als den Entwurf eines idealen Sozialisierungsprozesses zu interpretieren und zu rekonstruieren, der es sich zum Ziel setzt, dass das Kind einen Mindestbegriff der Individualität erwirbt, der gegenüber tatsächlichen Idealen und Werten verschiedener Gesellschaften indifferent ist und der dennoch hinreichend die normativen Strukturen unterlegen kann, die für den Schutz eines
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Mindestkerns der Individualität in jeder denkbaren Gesellschaft notwendig sind.8 Diese Normen werde ich „Proto-Rechte" nennen. Proto-Rechte sind offensichtlich weder politische Rechte noch explizite Moralnormen oder tatsächliche Werte, obwohl sie sich mit diesen jeweils überschneiden können; sie sind stattdessen das normative Gerüst, das in einer Entwicklungsabfolge entsteht, die mit einem Individuum enden, das die Fähigkeit besitzt, in Übereinstimmung mit gesellschaftlichen Standards in der Welt zu handeln und mit anderen Individuen zu interagieren.9 Hinter dem Begriff des Proto-Rechts steht der Gedanke, dass die Rechtsstrukturen, durch die Individuen als Individuen anerkannt werden, die funktionalen Imperative nachzeichnen, die notwendig dafür sind, dass Kinder zu Individuen werden. In dieser Hinsicht könnte man sagen, dass transzendentale Notwendigkeit funktionale Notwendigkeit aufzeigt. Die Aussage, dass transzendentale Notwendigkeit die funktionalen Imperative eines idealen Sozialisierungsprozesses aufzeigt, bedeutet jedoch nicht, dass Normen zu funktionalen Anforderungen reduziert werden. Im Gegenteil, und dies ist offensichtlich Fichtes quasi-naturalistischer Gedanke, seine Art, Idealismus und Realismus zu verbinden: Normen (tatsächliche Rechtsstrukturen, ob mehr oder weniger imoder explizit) sind die Weise, in der funktionale Imperative fur freie und vernünftige Wesen befriedigt werden, deren Interaktionsweise mit der Welt, mit Dingen und mit anderen vernünftigen Wesen nicht instinkt-, sondern regelgeleitetes, zielorientiertes Handeln ist. Proto-Rechte sind von Werten umgrenzte Formen von aufAndere bezogene Einstellungen (die für das Leiten von Handlungen genügen). Sie verdichten die Reihe von Bedingungen, die notwendig sind, um ein sich selbstbewegendes, unabhängiges Wesen zu werden, fähig zur Wechselwirkung mit Anderen und mit Objekten auf eine Weise, die genügt, um die Überlebensimperative als ein Mitglied einer Gemeinschaft von Handelnden zu erfüllen. Als das Raster von Normen, die jedes wirkliche Mitglied einer Gesellschaft erfüllen muss, die zur Selbstproduktion fähig ist, 8
In Hegel's Ethical Thought (Cambridge 1990) verknüpft Allen Wood Fichtes Bemerkung über die Rolle der Erziehung mit zeitgenössischer Forschung über Entwicklungspsychologie, und schlägt es als vielversprechend vor, Fichtes Anerkennungstheorie als eine „Darstellung eines idealen Sozialisierungsprozesses für Individuen in einer Kultur, in der Werte wie individuelle Freiheit und Autonomie eine wichtige Stellung einnehmen" (S. 83, Übersetzung Α. V.), zu verstehen. Ich übernehme Woods Begriff einer idealen Sozialisierung, werde aber herausstellen, dass dieser die Tiefe und transzendentale Qualität, die Fichte anstrebt, nur innehaben kann, wenn er die Werte einer liberalen Gesellschaft nicht voraussetzt.
9
P. W. Franks, All or Nothing: Systematicity, Transcendental Arguments, and Skepticism in German Idealism, Cambridge, Mass. 2005, S. 321-325, betont, dass Fichtes Vorlesungen von 1796/1799 eine andere methodologische Lösung für das Rätsel vorschlagen, nämlich ein transzendentales Argument, das ergänzt wird von der Darstellung der Verwirklichung transzendentaler Dinge - ζ. B. indem sie politische Rechte werden. Hieraus erwächst der Gedanke von einem „Isomorphismus" zwischen dem Transzendentalen und dem Empirischen, mit der Berücksichtigung, dass transzendentales Recht, im Gegensatz zum tatsächlichen politischen Recht, „überhaupt keine normative Bedeutung" hat. (S. 325) Dies ist hermeneutisch suggestiv, löst aber nicht das normative Problem, welche Arbeit der Isomorphismus vollbringt. In der von mir eingebrachten Darstellung führen die notwendigen Bedingungen für das Individuum-Werden Normativität herbei, indem sie zeigen, wie die Bedingungen für Individualität als normativ strukturierte Interaktionsformen verwirklicht werden. Dies enthält natürlich einen Normenbegriff, der schwächer ist als der Kantische - eher kategorische Deklarationen als kategorische Imperative - aber das scheint mir ein Teil von Fichtes Revolution zu sein. Ein Teil des Grunds, warum Fichte den Begriff der Individualität eher aufnimmt als den der sittlichen Autonomie, und außerdem eine Verteidigung des Rechts hervorbringt, die nicht auf vorangehende Moralnormen basiert, ist, dass er eine Darstellung beabsichtigt, die unter und außerhalb der Moralität steht, und so in einem gewissen Sinne notwendiger ist als Moralität.
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d. h. iahig dazu, das Leben sich selbst bestimmender Individuen zu reproduzieren, können Proto-Rechte als der transzendentale Grundriss der rekognitiven Strukturen verstanden werden, die menschliches Leben möglich macht. Ich nehme an, dass dies Fichtes Absicht ist, wenn er seine Verteidigung des Rechts mit folgenden Worten wiederholt: „Es ist also dargethan, daß ein gewisser Begriff [X]... dem vernünftigen Wesen, als solchem, nothwendig sey ... Wirken muß dieses X., wo nur Menschen bei einander leben, und sich äussern, und eine Benennung in ihrer Sprache haben, von selbst, und ohne alles Zuthun des Philosophen, der es erst mühsam deduc i l i " (S. 53) Wie dieser Abschnitt verdeutlicht, nimmt Fichte an, dass transzendentales Recht als das aufgedeckt und entdeckt wird, was notwendigerweise allen wirklichen, lebensfähigen sozialen Welten zu Grunde liegt. Die Deduktion des transzendentalen Rechts sollte daher zeigen, weshalb Proto-Rechte die Rolle haben, die sie spielen, und nicht weshalb sie übernommen oder befolgt oder geschätzt werden sollten. Wenn ich mit meiner Beschreibung von Fichtes Verbinden des Transzendentalen und des Genetischen recht habe, also der Weise, in welcher transzendentale Rechte als Proto-Rechte funktionieren, dann kann der Großteil der Einwände gegen Fichtes deduktive Strategien beantwortet werden. Mit der Behauptung, dass Proto-Rechte als ein transzendentales Raster aufzufassen sind, das empirisch und normativ mindestnotwendige Bedingungen fur Individualität für jede mögliche Gesellschaft darstellt, behaupte ich zugleich, dass es unzulänglich ist, wie Fichte transzendentale und politische Rechte tatsächlich verbindet - die Verbindung ist sehr viel lockerer als von ihm entworfen. Für mich ist seine Theorie des politischen Rechts vollkommener Ausdruck und geeignetestes Mittel für „die Verwirklichung und das Erblühen" 10 eines Mindestbegriffes der Individualität, den er im transzendentalen Teil seines Arguments entwickelt. Hingegen bleibt es zweifelhaft, ob sein konkreter Begriff des liberalen Staates diesem Anspruch gerecht werden kann; aber dies ist ein Argument für eine andere Gelegenheit.
Individualität (I): Die soziale Konstitution von Freiheit Ziel der Paragraphen § 1—§ 7 der Grundlage ist die transzendentale Erarbeitung der mindestnotwendigen Bedingungen für Individualität - und nicht moralische Autonomie oder Selbstverwirklichung oder Selbstvervollkommnung. Im Vergleich zu letzteren ist Individualität ein bescheidenerer Subjektbegriff. Wiederum ist Fichte überzeugt davon, dass es einen Mindestbegriff des Subjektes gibt, der zusammenfasst, was eine beliebige Gesellschaft, die fähig zur Selbstreproduzierung ist, sicher stellen muss. Gesellschaftliche Normen garantieren die sogenannte „äußere" oder „formelle" Freiheit eben dieses Subjektes: „Der Begriff des Rechts ist sonach der Begriff von dem nothwendigen Verhältnisse freier Wesen zu einander" (S. 8, Hervorhebung des Verfassers), also jenen Beziehungen zwischen freien Wesen, die eine Mindestreihe von Garantien bieten, welche wiederum notwendig sind für die Aufrechterhaltung der Kräfte, die konstitutiv für jedes tatsächliche selbst bestimmende Subjekt sind. Fichte schlägt also vor, dass das, was als äußere Freiheit im Gegensatz zur moralischen Freiheit angesehen 10
F. Neuhouser, „Fichte and the Relationship between Right and Morality", in: D. Breazeale/T. Rockmore (Hg.), Fichte:
Historical
Contexts
/ Contemporary
Controversies,
Atlantic Highlands, NJ 1994, S. 176.
Neuhousers Essay ist eine energische Verteidigung von Fichtes Trennung des Rechts von der Moralität. Ich betrachte die Argumentation dieses Essays als eine weitere Abwandlung seiner Verteidigung von Fichtes nicht-moralischem Rechtskonzept.
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wird, als Gegenstand des Gesetzes im Gegensatz zu dem, was Gegenstand moralischer Verpflichtung ist, am besten als der Unterschied zwischen den mindestnotwendigen Eigenschaften eines Subjektes und den verschiedenen Idealisierungen dieser (Minimal-)Subjektivität zu konstruieren ist, wobei das Minimalkonzept des Subjektes den notwendigen Bedingungen der Möglichkeit für tatsächliches Selbstbewusstsein entspricht. Für Fichte geht Philosophie entweder dogmatisch oder idealistisch vor. Mit Dogmatismus meint er das, was wir heute einen reduktiven Naturalismus nennen würden, für den alle Objekte, inklusive Menschen, feste, von den Naturgesetzen bestimmte Eigenschaften haben. Idealismus, im Gegenzug, beginnt mit der Idee, dass wir nicht (von unten nach oben) bestimmt, sondern (von oben nach unten) selbst bestimmend oder frei oder selbsttätig sind; einzig weil ein Ich sein Handeln ist, ist praktische Vernunft primär. Seine Untersuchung der mindestnotwendigen Bedingungen für Selbstbewusstsein fragen also nach den Bedingungen, unter denen ein Individuum sich seiner Freiheit bewusst wird. Die erforderlichen Bestandteile von freier Handlung bilden den Kern des Begriffs eines Individuums oder einer Person." Um ein freier Handelnder zu sein, muss man zunächst „das Vermögen [besitzen] durch absolute Spontaneität, Begriffe von [seiner] möglichen Wirksamkeit zu entwerfen". (S. 8-9) Zwei Gedanken werden hier zusammengespannt: (i) freies Handeln beinhaltet Handeln in Bezug zu einem zu verwirklichenden Objektbegriff (Sachlage); und weil freies Handeln begrifflich bestimmtes Handeln ist, können Handlungen als aus einem Grund oder einer Absicht vollzogen angesehen werden, nämlich um einen Begriff zu verwirklichen, den man im Sinn hat. (ii) Frei Handelnde sind die Wesen, die ihre eigenen Ziele bestimmen können und sie nicht von außen bestimmt oder auferlegt bekommen. In gewissem Sinne müssen die Konzepte oder Ziele, denen zu Folge Handelnde handeln, selbst ein Produkt von Spontaneität sein, da sonst Tätigkeiten nur reine Mittel oder Instrumente für die Verwirklichung von äußeren Zielen wären, Ziele, die niemals wahrhaft „meine" 12 sein können. Zweitens muss ein vernünftiges Individuum, um sich selbst als frei anzusehen, nicht nur die „bloße Fähigkeit" zur Bestimmung von Konzepten einer möglichen Wirksamkeit besitzen, sondern es muss auch durch seine Tätigkeit dafür sorgen, dass etwas in der Welt seinem Konzept entspricht. Auf dieser Ebene bedeutet Freiheit nicht nur, die Kraft zu besitzen, mögliche Handlungsziele zu entwerfen, sondern auch die Fähigkeit, sich nach diesen Zielen zu richten und sie in der Welt zu verwirklichen. Frei zu sein beinhaltet zum Teil die Erfahrung, die Welt mit den eigenen Ideen zu prägen, die Welt so zu verändern, dass sie mit diesen Ideen im Einklang ist. In dieser Hinsicht bedeutet ein Individuum zu sein, drittens, dass man sich selbst als durch die eigene, freie Tätigkeit individuiert bewusst ist. Viertens, um in der Welt zu handeln und die eigenen Ziele zu verwirklichen, um die Welt materiell zu verwandeln, muss ein Individuum dem ähnlich und ein Teil dessen sein, das es verwandelt: Individuen müssen einen Leib besitzen. Fünftens, da man sich selbst nur in Beziehung mit anderen Individuen tätig individuieren kann, kann sich ein vernünftiges Wesen nicht als selbstbewusst setzen, „ohne sich als Individuum, als Eins, unter Mehrern vernünftigen Wesen zu setzen, welches es ausser sich annimmt". (S. 8) Wenn wir einzig unter anderen Individuen, die die gleiche Kraft besitzen, in der Welt Auswirkungen hervorzurufen, Individuen sind, dann teilen Individuen Neuhouser, ebd., S. 163-167, erarbeitet sorgfaltig die Elemente von Fichtes Individuumsbegriffs. Meine Darstellung hier verdanke ich teilweise der seinen. 12
F. Neuhouser, Fichte 's Theory of Subjectivity, Cambridge 1990, Kap. 4.
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sich eine Welt, in der sie dazu fähig sind, „aufeinander ein[zu]fliessen, und sich gegenseitig [zu] stören, und fzu] hindern" (S. 9); wenn aber Freiheit nur unter Bedingungen gegenseitiger Einflussnahme existiert, dann können wir, sechstens, nur frei handeln, wenn jeder seine Wirksamkeit innerhalb bestimmter Grenzen beschränkt, d. h. auf eine Weise handelt, die der Anderen Freiheit im Wesentlichen anerkennt. Dies ist Fichtes schwacher Begriff der Person oder des Individuums, den die Deduktionen der § 1—§ 7 in Bezug zu seinen normativ korrelativen, transzendentalen und ursprünglichen Rechten zu begründen suchen. Demnach kann der genetische Weg, auf dem man sich selbst als ein Individuum bewusst wird, sich nur im Zusammenhang mit den normativen Anerkennungen entfalten, durch welche mir dieser Status zugestanden oder übergeben oder verliehen wird. Individualität ist untrennbar etwas, das erreicht, und etwas, das normativ konstituiert wird. Man könnte sagen, dass präzise die Untrennbarkeit dieser zwei Seiten der Individualität - jene Eigenschaften und Fähigkeiten, die man besitzen muss und jene Normen, die die fortdauernde Ausübung und den Besitz dieser Eigenschaften und Fähigkeiten sichern - der Gegenstand von Fichtes Darstellung ist. Da Individualität nur in Zusammenhang mit diesen normativen Garantien entsteht, schließt, wie man argumentieren kann, eine Darstellung der Untrennbarkeit von Kräften und Normen auch eine Darlegung der Entstehung und Einfuhrung von Normativität im Allgemeinen ein, in der Weise, in welcher Normen, indem sie menschliche Interaktionen regulieren, zu entstehen beginnen. Wir sollten einige der Hauptschritte der Individuumswerdung von einem genetischen Standpunkt aus untersuchen. Um ein freies und vernünftiges Wesen zu sein, muss man ein selbst bestimmendes Wesen sein; das Selbst wird also von seiner Tätigkeit bestimmt. Aber das Selbst ist endlich. Endliche Wesen können nur begrenzte oder beschränkte Ziele haben, die definitionsgemäß unabhängig von dieser Tätigkeit sind. Um ein endliches, tätiges Wesen zu sein, muss man eine Welt bewohnen, die von dem vernünftigen Wesen an sich nicht gesetzt werden kann. Dies gehört allesamt zu einer rein transzendentalen Untersuchung; es stellt sich daher folgende empirische Frage: Unter welchen Bedingungen kann dieses endliche Wesen sich seines freien Handelns bewusst werden? Da die Tätigkeit des Selbst von einer unabhängigen Welt beschränkt werden muss, ist Selbstbewusstsein nur durch eine Tätigkeit möglich, die die Welt verwandeln oder verändern kann. Eine Tätigkeit, die die Welt verwandeln kann, beinhaltet mehr als physische Wechselwirkung mit der Welt; sie beinhaltet es, ein Konzept im Sinn zu haben, und in Übereinstimmung mit diesem Konzept zu handeln und dann wahrzunehmen, dass sich die Welt in Übereinstimmung mit den beabsichtigten Tätigkeiten verändert hat. Es ist also nicht lediglich eine Frage des tretenden Kleinkindes und der rasselnden Rassel. Vielmehr muss sich das Kleinkind zu einem gewissen Zeitpunkt auf Grund der Erfahrung des Rasseins, das auf das Treten folgt, und der wachsenden Fähigkeit, seine Körperbewegungen zu kontrollieren, bewusst werden, dass es sein Treten ist, das das Rasseln hervorruft, und dass es dieses Rasseln durch Treten absichtlich hervorrufen kann, und genau dies macht es dann. Selbstbewusstsein des eigenen Handelns ist also nicht perzeptiv, es ist keine Frage sozusagen von außen, Regelmäßigkeiten und Dauerzusammenhänge zu verstehen. Im Gegenteil dazu beinhaltet es die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen Dingen, die geschehen, selbst mit Regelmäßigkeit, und dem Bilden von Absichten und dem Geschehenlassen eines Ereignisses. Darüber hinaus muss das Selbst, um ein Ereignis geschehen zu lassen, sich dessen bewusst werden, dass es eine Sinnenwelt außerhalb von sich selbst gibt. In der Tat beinhaltet das sich seines Handelns Bewusstwerden die Entdeckung, dass Handlungen auf Widerstände treffen; Widerstände sind Folgen. Um die Erfahrung zu machen, ein Ereignis in der Welt in Überein-
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Stimmung mit einem Konzept herbeizuführen, muss ein Kleinkind folglich ein Bewusstsein der Sinnenwelt als ein „System der Objekte" (S. 24) entwickeln, das außerhalb und unabhängig von ihm selbst existiert; das Kleinkind muss erkennen, dass Gegenstände Eigenschaften und Kräfte haben, die unabhängig von seinem subjektiven Handeln bestehen. Als intern, in Wechselbeziehung stehend, erwächst das Bewusstsein des eigenen Handelns zeitgleich mit dem Bewusstsein des Zugangs, den die eigene Tätigkeit zu der Welt als ein System der Objekte besitzt: Das Kleinkind erlernt seine Kräfte, indem es lernt, wie Dinge verändert und nicht verändert werden können. Eine unmittelbare Folge hiervon ist, dass „das praktische Ich das Ich des ursprünglichen Selbstbewußtseyns sey; daß ein vernünftiges Wesen nur im Wollen unmittelbar sich wahrnimmt, und sich nicht, und dem zufolge auch die Welt nicht wahrnehmen würde ... wenn es nicht ein praktisches Wesen wäre". (S. 20-21) Das praktische Ich ist primär, weil ein Kleinkind nur durch Interaktion mit Gegenständen (und Personen) in der Welt selbstbewusst werden kann - selbstgewiss wird man, indem man sich des Unterschiedes zwischen sich selbst und Gegenständen und den (begrenzten) Kräften, auf sie einzuwirken, bewusst wird. Man ist, was man tut. Das theoretische wird von dem praktischen Ich hier weder ausgeschlossen noch unterdrückt, vielmehr absorbiert das praktische Ich theoretisches Verstehen (das Bilden von Urteilen und Meinungen über die Welt) als strukturierte Unterprogramme, die praktisches Tun ermöglichen. Man kann den Vorsatz, die Rassel rasseln zu lassen, nur fassen, wenn man glaubt, dass es einen Gegenstand in der Welt gibt, dessen bestimmte dynamische Eigenschaften sich in Übereinstimmung mit den Kräften, die auf sie einwirken, verändern. Praktische Tätigkeit verankert den Menschen in der Welt und erzeugt ein minimales Selbstverständnis. Das „praktische Vermögen ist die innigste Wurzel des Ich" (S. 21), sagt Fichte deshalb, und dass das Ich nicht deduziert werden kann - all diese jetzt transzendentalen Behauptungen erhalten ihre Berechtigung letztendlich von den Entwicklungsprozessen, die sie implizit repräsentieren. Fichte behauptet, dass es noch kein Bewusstwerden des freien Handelns, noch kein Bewusstsein von sich selbst als bestimmend gibt, wenn man sich der eigenen Tätigkeit durch die Fähigkeit, in der Außenwelt Veränderungen herbeizufuhren, bewusst wird, auch wenn dies sicherlich ein Bewusstsein der individuellen Kräfte ist; im Austausch zwischen wirkungsvollem Wollen und dem Objekt wird „die freie Thätigkeit des Subjekts ... als gehemmt" gesetzt (S. 32), d. h. das wirkungsvolle Wollen setzt nur Kenntnis davon voraus, was man und was man nicht tun kann. Nichts in dieser Darstellung des Selbstbewusstseins als ein kraftvoll Handelnder könnte nicht den aufeinanderfolgenden Lernschritten eines höheren, nichtmenschlichen Säugetiers zugeschrieben werden. Fichte nimmt an, dass eine Ausarbeitung des Handelns im bereits festgelegten Sinne das Individuum nicht in volles Selbstbewusstsein heben könne. Demzufolge kann aber Selbstbewusstsein im vollsten Sinne nicht abgeleitet werden: Tatsächlich kann man den Begriff des Selbstbewusstseins nicht von etwas anderem oder durch das Zusammenfugen eines Bündels von geringfügigeren Materialien entwickeln. Sodann ist transzendentales Selbstbewusstsein ebenso wenig reduktibel wie konkretes empirisches Selbstbewusstsein; menschliches Selbstbewusstsein ist sui generis." Selbstbewusstsein kann nicht transzendental deduziert oder kausal produziert werden; es wird von einem Individuum zum anderen übertragen. Dahinter steht die Annahme, dass ein Individuum, um volles Selbstbewusstsein zu erlangen, sich seiner selbst bewusst werden muss: 13
Für eine weniger großzugige Auslegung dieses Obergangs, siehe A. Wood, Hegels Ethical Thought, S. 79.
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Um sich seiner selbst bewusst zu werden, muss es Gegenstand seines eigenen Bewusstseins sein. Für dieses Ziel ist es nicht ausreichend, Selbstbewusstsein aus der Wechselwirkung mit gewöhnlichen, materiellen Objekten heraus zu entwickeln, da diese nicht die Bedingung dafür liefert, sich selbst von einer Perspektive aus zu beobachten, die nicht identisch mit der Identität des Handelnden ist. Selbstbewusstsein erfordert einen Blick auf freies, selbst bestimmendes Handeln, welchen das Individuum besitzen kann, aber welcher nicht auf das selbstverstehende, implizite Wissen von Handeln selbst beschränkt werden kann. Fichte setzt voraus, dass ein Handelnder, ein Individuum, um sich selbst als ein Objekt zu verstehen, zuerst tatsächlich das Objekt eines Anderen Aufmerksamkeit sein muss. Aber es muss das Objekt der Aufmerksamkeit eines Anderen als ein selbsttätiges Subjekt sein. Das ist sozusagen das Rätsel: Wie kann ein Objekt des Bewusstseins zugleich als Objekt ein Subjekt sein? Der Schauplatz dieser verwandelnden Übertragung, in welcher der „Faden des Selbstbewusstseins" von einem zum anderen gereicht wird, ist die Aufforderung". Wenn die Aufforderung die neue Tatsache der Vernunft ist, muss sich durch sie der Neuling seiner Freiheit bewusst werden. Und genau so spielt sich fiir Fichte der Vorgang der Instruktion ab: Der Neuling empfangt etwas von außen Kommendes: „Aber dasselbe wird nicht anders begriffen, und kann nicht anders begriffen werden, denn als eine blosse Aufforderung des Subjekts zum Handeln. So gewiß daher das Subjekt dasselbe begreift, so gewiß hat es den Begriff von seiner eignen Freiheit, und Selbstthätigkeit, und zwar als einer von aussen gegebenen. Es bekommt den Begriff seiner freien Wirksamkeit, nicht als etwas, das im gegenwärtigen Momente ist... sondern als etwas, das im künftigen seyn soll." (S. 33)
Wir dürfen nicht übersehen, dass was hier als ein einziger Vorfall dargestellt wird, eigentlich ein Prozess ist: Die Erziehung des Menschen zu seiner Menschlichkeit. Als ein Vorfall verdichtet er die komplexe Sammlung von Möglichkeiten, die der Sozialisierungsprozess beinhaltet. Zunächst wird die Aufforderung als eine „blosse" Aufforderung empfunden; Fichte vereinfacht die Komplexität der Aufforderung, um ihren Status als Aufforderung, und nicht als etwas, das man sich als einen bestimmten Gegenstand vorstellen kann, herauszustellen.14 Die Aufforderung ist die Handlung eines Anderen. Es ist eine Handlung, deren Ziel es ist, eine Handlung des Kleinkindes hervorzurufen. Wenn aber das Hervorrufen einer Reaktion das alleinige Ziel der Aufforderung ist, dann würde sie ihre Aufgabe, das Kind zur eigenen Freiheit und Selbsttätigkeit zu erwecken, nicht erfüllen. Zu sagen, dass ζ. B. die Mutter lächelt, um dem Kleinkind ein erwiderndes Lächeln zu entlocken, genügt also nicht, da dieser Austausch auch als eine Bewegung von Stimulus und Reaktion verstanden werden könnte; tatsächlich beginnt mimetische Aktivität, wie interaktiv sie auch sein mag, mit automatischen Reflexhandlungen, die, wie wir heute meinen, in den ersten Lebenswochen einsetzen. Wenn Aktionen, die zu mimetischen Reaktionen einladen, so „bloss" wie nur möglich sind, dann muss Fichte, indem er die Aufforderung als bloß denkt, versuchen, eine Eigenschaft oder einen strukturellen Aspekt von Interaktionen zwischen dem Handelnden und anderen herauszustellen, und nicht eine partikuläre Handlungsform. Tatsächlich werden wir sehen, dass Fichte , jede, nicht nur die ursprüngliche
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Ich stelle mir immer vor, dass Fichtes Vorstellung auch zu Laplanches „enigmatischer Botschaft" wird, die das Kind zu dem auffordert, was es nicht verstehen kann, was zu dem Moment des Unbewussten fuhrt. Dass die Fichte'sche Aufforderung auf diese Weise vielleicht zwei Seiten hat - als zugleich der Weg zum Selbstbewusstsein und zum Unbewussten - macht sie noch plausibler. Siehe Jean Laplanche, Essays on Otherness, London 1999).
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menschliche Interaktion [als] Form einer Aufforderung, einer wechselseitigen Anerkennung"15 betrachtet. Die Aufforderung als eine Form aufzufassen, die jeder wirklichen Interaktion (einer bestimmten Art) angehört, erklärt, weshalb die Aufforderung den Anspruch erhebt, die Kantische Moralität durch eine normativ konstituierte Sphäre zu ersetzen, in welche die Stellung der Individuen als selbst bestimmend Handelnde einbezogen ist. Was fehlt der Szene, in der ein Lächeln ein anderes erzeugt? Was muss hinzugefugt werden, damit das Kind seine Freiheit und Selbsttätigkeit erfahrt? Was setzt Fichte voraus, wenn er die neue Tatsache der Vernunft eine Aufforderung oder eine Einladung oder einen Anruf und nicht eine Forderung oder eine Bedingung oder eine Verpflichtung nennt? (Was nicht abstreitet, dass die Aufforderung einige Eigenschaften einer Forderung hat: Sie ruft ein schwaches „Sollen" hervor.) Für Fichte ist die Aufforderung im Wesentlichen etwas, das die Möglichkeit eröffnet, zu unterlassen, zu verweigern, nicht zu handeln, „nein" zu sagen, zu verneinen. (S. 33-34) Indem der Handelnde sich bewusst wird, dass er auf eine Aufforderung reagieren kann, indem er entweder ihren Forderungen nachgeht oder nicht handelt und auf diese Weise Einwände erhebt, wird er sich bewusst, dass es ihm frei steht, zu reagieren oder nicht zu reagieren. Sich seiner Freiheit, zu reagieren oder nicht zu reagieren, bewusst zu werden ist der Anfang des Bewusstseins davon, dass es fur diese Art von Objekten, die dem Typus der Aufforderung angehören, eine unendliche Zahl verschiedener Reaktionsweisen gibt. Demnach gibt es keinen Weg, den die Handlung oder Nicht-Handlung, die folgen wird, notwendigerweise einschlagen muss. Das Bewusstsein, „Ja" oder „Nein" sagen zu können, ist die Bedingung dafür, sich der Offenheit der Zukunft bewusst zu sein; die Offenheit der Zukunft ist wiederum Bedingung dafür, sich der Unbestimmtheit dessen, was man tut, und der Weise, in welcher man zu dem, der auffordert, in Beziehung steht, bewusst zu sein. Um selbstbewusst zu werden, muss der Handelnde sich selbst als ein Objekt erkennen, allerdings ein aktives Objekt; er muss sich also zur Selbsttätigkeit bestimmt finden. Die Überprüfung von außen, die das Subjekt bestimmt, muss es dennoch im vollen Besitz seiner Freiheit lassen und muss diese Freiheit zum Gegenstand des Bewusstseins machen. Ein Handelnder kann nur dazu bestimmt werden, seine Wirksamkeit auszuüben, wenn er diese Wirksamkeit als etwas vorfindet, dass er möglicherweise in der Zukunft ausüben oder nicht ausüben könnte. Die Annahme, dass man zurücklächeln sollte, bedeutet außerdem, dass man sich des Unterschieds zwischen dem, was geschehen sollte, was den Wünschen der (autoritativen) Mutter gemäß geschehen sollte (wobei die Bedürfnisse der signifikanten (autoritativen) Anderen die Auslöser des „Sollen" sind) und dem, was geschehen wird, bewusst wird und der Tatsache, dass das, was geschehen sollte, vielleicht nicht geschehen wird, da man nicht möchte, dass es geschieht. Die Aufforderung muss also ein Feld eröffnen, dessen Minimalstruktur die Wahl zwischen Ja und Nein des Handelns oder Nicht-Handelns ist. Eine Aufforderung ist eine zielgerichtete Handlung, die ein Handlungsfeld bestimmt, es aber nicht kausal erzwingt. Aufforderungen müssen demnach ein nicht-natürliches Zeichen einer gewissen Art (linguistisch oder nicht-linguistisch) beinhalten, dessen Grundeigenschaft darin besteht, bewusst erzeugt worden zu sein, damit ein Anderer bewusst darauf anspricht. Derjenige, an den das Zeichen gerichtet ist, antwortet, da er dazu eingeladen worden ist, auf eine Weise, die es demjenigen, von dem die ursprüngliche Aufforderung ausging, erlaubt zu verstehen, dass die Reaktion, die erfolgt, als eine Reaktion zu der ursprünglichen Auffor15
P. Franks, „The Discovery of the Other", S. 89.
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derung beabsichtigt worden ist - selbst wenn diese Reaktion negativ ist. (S. 38)16 Formell erfüllt die Abfolge von Aufforderung und Reaktion die Forderung, den Anderen auch als einen Zweck an sich zu behandeln, aber Fichte folgt hier nicht dem Kantischen Präzedenzfall, sondern dem Paradigma der dritten Analogie: Die Abfolge von Aufforderung und Reaktion ist demnach ein Beispiel einer nicht-kausalen (oder nicht rein kausalen) Folge von gegenseitigen Wechselwirkungen und durchgängiger Reziprozität: Ein Zugleichsein in einer durchgängigen Gemeinschaft, um Kants Worte zu benutzen. Während das Lächeln der Mutter lediglich der Auslöser für ein Lächeln des Kindes sein könnte, wird es mit der Zeit als eine Einladung zum Lächeln in Erwiderung verstanden werden, und die Erwiderung, sei sie ein Lächeln oder eine (ironische) Grimasse oder eine Zurückweisung mit steinernem Gesicht wird Teil der Mutter-Kind-Bindung.' 7 Weil Fichte die Komplexität dieses Austausches erkennt, formuliert er erneut den Vorgang der Instruktion als Erziehung, durch welche man, mit dem Erlernen nicht-natürlicher Formen der Wechselwirkung, an eine Gemeinschaft gebunden wird.
Proto-Rechte: Ein erster Ansatz Bevor wir näher auf die Komplexität der materiellen Bedingungen nicht-kausaler Formen gegenseitiger Einflussnahme zu sprechen kommen, ist die Feststellung bedeutsam, dass Fichte seinen Rechtsbegriff direkt von den Bedingungen gegenseitiger Wechselwirkung deduziert. Dies heißt, um es zu wiederholen, dass er uns nahe legt, Recht als den normativen Unterbau dieses Prozesses anzusehen, von einem normativen Standpunkt aus betrachtet als dessen Kehrseite. Damit Wechselwirkung stattfindet, muss der Neuling annehmen, dass es neben Objekten mit kausalen Kräften auch vernünftige Wesen gibt, die ihn zu etwas auffordern. Demzufolge „müssen mehrere sein"(S. 39), damit es Menschen überhaupt gibt; all dies folgt direkt aus dem Vorhandensein von Folgen der Wechselwirkung. Indem der Neuling an solchen Interaktionen Teil hat, muss er einen Sinn für den Unterschied zwischen sich selbst und demjenigen haben, von dem die Aufforderung ausgeht. Außerdem muss er ein Gefühl für einen Raum besitzen, über den er Kontrolle ausübt und in dem es ihm freisteht, zu wählen - Ja oder Nein zu sagen. Ursprünglich ist dies die Sphäre des Körpers als des materiellen Mediums, mit Hilfe dessen nicht-natürliche Zeichen (Worte oder Gesten) hervorgebracht werden. Die Frage der Leiblichkeit soll für den Moment beiseite gelassen werden. Der Neuling muss zu der Erkenntnis gelangen, dass ihm durch die Aufforderung von einem Anderen ein „freier Raum" zugestanden wird, in dem er reagieren kann, und dass er, um in gleicher Weise zu reagieren, Anderen ebenso einen freien Raum gestatten muss. Was bedeutet es, dass der Neuling die Aufforderung als das Zur-Verfügung-Stellen eines freien Raumes begreift? Dahinter steht das Verständnis, dass eine andere Handlung, die nicht dem Typus der Aufforderung angehörte, zur Wahl stand, aber nicht ausgeführt wurde, und dass
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Anstatt von einem nicht-natürlichen Zeichen zu sprechen, benutzt Fichte hier die Sprache eines Austausche von Erkenntnissen, die als solche erkannt werden müssen und auf die entsprechend reagiert werden muss. Natürlich leihe ich den Begriff des nicht-natürlichen Zeichens von P. Grice und P. F. Strawson. Für eine Übertragung dieses Materials in eine Darstellung von gegenseitiger Anerkennung siehe J. M. Bernstein, „From Self-Consciousness to Community: Act and Recognition in the Master-Slave Relationship", in: Ζ. A. Pelczynski (Hg.), The State and Civil Society, Cambridge 1984, S. 14-39.
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J. Benjamin, The Bonds of Love, New York 1988, Kap. 1.
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die Handlung, die dem Aufforderungstypus angehörte, mit Absicht gewählt wurde. Anstatt zu lächeln oder „lächle" zu sagen, hätte die Mutter, mit entblößten Zähnen und erhobener, zum Schlag bereiter Hand drohend „lächle" ausstoßen können. Auch wenn diese Handlungsweise formal beabsichtigt ist, und daher formal die Möglichkeit offen lässt, dass das Kind nicht lächelt, geht sie dennoch nicht davon aus, dass es die Entscheidung des Kindes ist, zu lächeln oder nicht; es muss lächeln - oder sonst... Vielleicht handelt die Mutter noch gewaltsamer, wenn sie, nachdem sie ihm gedroht hat, die Mundwinkel des Kindes roh nach oben zieht - „Siehst du, du weißt, wie man lächelt, nicht wahr?" Eine Aufforderung ist nicht nur etwas Affirmatives, ein Aufruf zu freier Tätigkeit, sondern wird auch durch die Nicht-Anwendung von (kausaler) Gewalt definiert. Mitten in einer Welt, in der das Kind routinemäßig Dinge an seinem Körper erfahrt - es wird gefuttert, gewickelt, getragen, aufgehoben, niedergelegt, etc. - erscheinen Tätigkeiten, die zu den Aufforderungen zählen, als unterscheidbare Tätigkeitsformen, die mit dem Kind auf eine nicht-(lediglich-)kausale Art interagieren, um eine spontane Reaktion hervorzurufen. Das Kind wird sich dessen bewusst, dass es verschiedene Arten von Kräften (die, die Welt zu verändern oder die, einen Anderen aufzufordern) besitzt, und dass es an ihm liegt, sich für eine Handlung zu entscheiden. Fichte formuliert dies als eine doppelte Forderung: Freie Handlungen gegenüber dem Neuling müssen im Bezug zu der immer bestehenden Möglichkeit verstanden werden, den freien Raum des Neulings zu überschreiten, und daher muss derjenige, von dem die Aufforderung ausgeht, seinen Willen beschränken. (S. 43) Als das Paradigma für freies Handeln ist jede Aufforderung selbstbeschränkend, da sie die Behandlung ihres Objektes als ein freies, selbst bestimmendes Wesen und den Verzicht auf den Gebrauch von Gewalt (oder seinen intentionalen Entsprechungen: Täuschung oder Bedrohung) beinhaltet. Als die Form jeder freien menschlichen Wechselwirkung schließt jede Aufforderung den Verzicht auf den Gebrauch von Gewalt ein, d. h. sie beinhaltet, dass innerhalb einer individuellen Freiheitssphäre die Wahl getroffen wurde, die Freiheitssphäre eines Anderen zu berücksichtigen, indem man ihm eine Sphäre der Wahl offen lässt. Jede Aufforderung qua selbstbeschränkende Handlung ist demzufolge eine Anerkennung des Anderen als freies und vernünftiges Wesen. Eine Aufforderung auszusprechen ist gleichbedeutend damit, dem Anderen einen normativen Status zuzugestehen (als ein vernünftiges Wesen, und nicht als Gegenstand behandelt zu werden), und daher in Übereinstimmung damit zu handeln, dass demjenigen, der eine Aufforderung erhält, ein Status oder Stand als frei zugesprochen wird, als ob er ein Recht auf einen solchen Stand hätte - „nur die Mäßigung der Kraft durch Begriffe ist untrügliches und abschliessendes Kriterium der Vernunft und der Freiheit". (S. 44-45, Hervorhebung des Verfassers) Fichte ist sich der Mehrdeutigkeit dieses Rechtskonzepts bewusst. Schließlich ist es von der Perspektive der natürlichen Einstellung aus beinahe unsichtbar; man könnte die Wahl zwischen kausalen / instrumentalen Formen der Wechselwirkung und Formen, die zur Art der Aufforderung gehören, als lediglich eine Frage der Entscheidung für eine von zwei Formen der Wechselwirkung ansehen, die davon abhängt, welche Form die geeignetere und daher angebrachtere ist. Aber diese Vorstellung ist offensichtlich unbefriedigend, da sie die funktionelle Notwendigkeit der Aufforderung im Leben des Neulings unterdrückt und daher verleugnet, wie er zwangsläufig und notwendigerweise den ihm verliehenen Status erfahrt. Als die Rekapitulation der genetischen Folge, die zum Selbstbewusstsein des Neulings führt, zeigt die transzendentale Reflexion, so Fichte, dass mit dem Hervortreten des Unterschiedes zwischen den zwei Formen der Wechselwirkung eine Struktur normativer Erwartungen entsteht, die mit Wechselwirkun-
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gen vom Typus der Aufforderung verbunden ist. (S. 41) Diese Struktur der Erwartungen erhält ihre Autorität davon, dass es die notwendige Bedingung für das Auftreten selbst bestimmender Individualität ist, dass man zum Subjekt und zum Objekt von Interaktionsformen des Aufforderungstypus wird. Da das Individuum Individualität selbst nicht beginnen kann, ist es vollständig auf seine Bezugspersonen angewiesen, die es damit versorgen müssen. Sobald aber Wechselwirkungen des Aufforderungstypus einmal in Bezug auf ein Individuum umgesetzt werden, wird die Überschreitung der impliziten Normen, die in der Stellung eines Individuums als frei und selbst bestimmend am Werk sind, als Unrecht empfunden, als das unerlaubte Übertreten einer Grenze oder Begrenzung, als das Durchstoßen von Fleisch.18 Im Wesentlichen behauptet Fichte demnach, dass Prozesse, die zur Hervorbringung von selbstbewusstem Handeln ausreichen, Sozialisierungsprozesse mit den Strukturen des Aufforderungstypus beinhalten müssen. Indem sie zur Selbstbestimmung auf eine gewisse Art anregen, lösen diese Prozesse zwangsläufig die Entstehung dessen an, was der Neuling als Begrenzungen oder Grenzen oder Einschränkungen in Bezug auf das empfindet, was er und was er nicht unmittelbar kontrollieren kann. Man kann sich seiner Kraft, „Nein" zu sagen, und zwar als Wahl (und nicht lediglich als eine unmittelbare Reaktion) nur bewusst werden, wenn man sich auch dessen bewusst ist, dass man, in gewissem Sinn, das Recht dazu hat, „Nein" zu sagen. Indem Fichte dieser Struktur Recht in der Form von Proto-Rechten zuschreibt, hebt er hervor, dass die Entwicklung dieser Struktur von Erwartungen normativ, jedoch nicht explizit moralisch ist. Und deshalb sieht sich Fichte wiederum in der Lage zu behaupten, dass Recht, im Sinne einer gegebenen Struktur von Erwartungen, die realisiert wird, indem man sich ihr durch Handlungsweisen des Aufforderungstypus und nicht durch begrenzte kausale Handlungsarten nähert, „[wjirken muß ..., wo nur Menschen bei einander leben". (S. 53) Wenn Moralität entsteht, kann man sie sich als die Weise denken, in der eine Gesellschaft diesen normativen Erwartungen Autorität erteilt, aber Sitte, Liebe, Religion, oder gemeinschaftliche Solidarität könnten eine empfundene Fragilität der Autorität oder der Motivation durchaus ausgleichen. Hierbei nimmt man allerdings an, dass der Rahmen bereits vorhanden ist, bevor er rationalisiert wird - wie wichtig irgendeine Rationalisierung für die langzeitige Stabilität der Proto-Rechte auch immer sein mag. Ausschlaggebend ist also nicht, dass die Struktur der normativen Erfahrungen moralisiert wird, sondern nur, dass Sprache und Ausübung über genügend Mittel verfugen, um die konzeptuellen Unterschiede in einer geeignet autoritativen Weise wiederzugeben. Die Einwände, dass es Proto-Rechten nicht gelingt, den Status eines politischen oder moralischen Rechts zu erlangen, sollten in ein Argument gegen die Verdinglichung und Inflation des Normativen verwandelt werden. Dies ist jedenfalls das Ergebnis davon, dass Fichte das moralische Gesetz mit Strukturen der Anerkennung ersetzt: Strukturen des Proto-Rechts werden zu dem normativen Band, das das Selbst und den Anderen aneinander bindet. Fichtes Darstellung über den Körper wird diese Wandlung unterstreichen und vertiefen.
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Das Ziel des nächsten Abschnitts ist es, zu zeigen, dass es sich hier nicht nur um metaphorische Ausdrücke handelt.
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Individualität (II): Freiheit als Leiblichkeit Wenn Individualität ein „Wechselbegriff ' ist, ein Begriff, der nur in Bezug zu einem Anderen gedacht und angewandt werden kann und folglich eine „Gemeinschaft' (S. 47) bestimmt, dann muss für Fichte auch Freiheit einen Wechselbegriff darstellen. Aus Fichtes Behauptung, dass Handlungen vom Typus der Aufforderung selbst beschränkend sind, folgt laut Hegel nicht, dass solche Handlungen eine „Beschränkung der wahren Freiheit des Individuums" 19 darstellen, sondern dass die Beziehungen zu Anderen normativ konstituiert werden, dass diese Normen übertreten werden können, und dass, um sie zu übernehmen, über Gewohnheit und Leidenschaft hinausgehend Überlegung und Wahl vonnöten sind. Tatsächlich wird Freiheit fur Fichte durch Gemeinschaft „vergrößert", in dem offensichtlichen Sinn, dass Selbstbewusstsein von Freiheit, wirklicher Freiheit, nicht außerhalb der Gemeinschaft bestehen kann. Dennoch könnte man bemängeln, dass Fichtes Bild einer Sphäre der Freiheit, die man besitzt und die übertreten werden kann, bislang lediglich metaphorisch zu verstehen ist; und dass daher, zweitens, die vage Idee der Sphäre zur Unklarheit der Ideen von Überschreiten und Übertreten einerseits und Selbstbeschränkung andererseits fuhrt. 20 Fichte nimmt an, dass diese Vorwürfe widerlegt werden können, indem er aufzeigt, dass Individualität, als selbst bestimmende Wirksamkeit, den Besitz eines materiellen Leibes (§ 5) voraussetzt und dass der Besitz eines solchen Leibes notwendigerweise beinhaltet, dass man von dem Leib eines Anderen (§ 6) beeinflusst wird. Auch Leiblichkeit ist daher ein „WechselbegrifF*. Die Tiefe von Fichtes philosophischer Entdeckung des Leibes verstehe ich wie folgt: Nehmen wir fur einen Augenblick an, dass auch fur Kant die Idee einer Tatsache der Vernunft eine erste Bruchstelle im methodologischen Individualismus moderner Philosophie im Allgemeinen und innerhalb von transzendentaler Philosophie im Besonderen ist. In diesem Moment ist die Forderung, die Aufforderungen des Anderen als eine Tatsache der Vernunft zu begreifen, gleichbedeutend mit einer Umkehrung der kopernikanischen Wende: Das Objekt, die Aufforderung, macht Selbstbewusstsein möglich. Fichte gelingt es zumindest zeitweise, die methodologische Störung zu beruhigen, die einem Verständnis von transzendentaler Reflektion als der konzeptuellen (dialektischen) Rekapitulation eines genetischen Prozesses entstammt, oder, annähernd das Gleiche, ein aufsteigendes, progressives Argument mit einem absteigenden, regressiven Argument zu vervollständigen. In dieser Situation ist der Leib nicht nur ein Überbleibsel der Bemühung, eine gegenständliche Welt der Objekte und Personen für ein freies Subjekt zu sichern, oder ein materieller Überschuss, der über das Verstandesvermögen hinausgeht und es ständig unterbricht, oder die natürliche Situation, aus der der Mensch spontan hervorgeht (obwohl es dies auch für Fichte ist). Stattdessen ist der menschliche Leib das wirkliche Medium für Subjektivität selbst, die Verwirklichung von Freiheit, die Exteriorität des Selbst im Hinblick auf sich selbst, das es an Gegenstände und Andere bindet. Indem es das Subjekt 19
G. W. F. Hegel, Differenz des Fichte'sehen und Schelling'sehen Systems der Philosophie, in: G. W. F. Hegel, Werke, auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe, Redaktion E. Moldenhauer u. K. M. Michel, Frankfurt/M. 1968, Bd. 2, S. 82.
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Diese zwei Einwände stammen von Paul Franks, „The Discovery of the Other", S. 90. Franks ist sich darüber im Klaren, dass Fichte seinen Begriff des Körpers als den Hauptteil der Antwort zu einer solchen Frage betrachtet, aber lässt sich davon nicht überzeugen. Meiner Ansicht nach kann man, indem man die Rolle aufzeigt, die der Leib bei der Konstitution von Freiheit und von Andersheit hat, ihm auch die von Fichte zugeschriebene Rolle zusprechen.
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dezentriert, erfordert die Aufforderung, dass das Subjekt inmitten Anderer platziert wird; aber es gibt weder eine „Platzierung" noch ein „inmitten Anderer", ohne das Subjekt zu verräumlichen, Freiheit an sich zu verräumlichen; die Verräumlichung, Determiniertheit und Individualität des Subjektes beruhen allesamt auf seiner Leiblichkeit. Fichte möchte demzufolge behaupten, dass das Subjekt nicht auch, sondern notwendigerweise einen Leib hat, selbst wenn man bei der höchsten Abstraktion des transzendentalen Selbstbewusstseins beginnen würde. Oder noch deutlicher und in angemessen idealistischer Sprache: Der Leib des Menschen ist die notwendige Erscheinung der menschlichen Seele (Freiheit, des Subjektes), wobei eine Essenz, die nicht in Erscheinung tritt, „nichts" wäre. Die Materialisierung dessen, was Kant als noumenale Freiheit betrachtete, Freiheit leiblich zu verstehen, ist Fichtes überzeugendster Vorstoß, um die Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich zu überwinden. Jedes der Theoreme, aus denen sich Fichtes Deduktion des Leibes zusammensetzt, ist eine Rekapitulation seines ursprünglichen Argumentes für Individualität und zeigt den Leib als eine Bedingung der Möglichkeit, als die materielle Voraussetzung fur die Wirksamkeit und Sozialität von Freiheit. Zu Beginn seiner Überlegung erinnert Fichte seinen Leser daran, dass er bereits gezeigt hat, dass ein vernünftiges Wesen sich nur selbst als eine Person setzen kann, indem „es sich ausschliessend zuschreibt eine Sphäre fur seine Freiheit" (S. 56, Hervorhebungen entfernt): In dieser Weise wird sie diese Person. Die ausschließliche Kontrolle einer Sphäre und der Besitz einer bestimmten Identität bedingen sich wechselseitig. Dies ist aber nach wie vor lediglich eine kunstvolle, metaphorische Kette: Frei zu sein bedeutet, eine Sphäre der Entscheidung zu besitzen, die ausschließlich die meinige ist. Um eine solche ausschließliche Sphäre der Entscheidung zu besitzen, muss es eine Möglichkeit geben, diese Sphäre abzugrenzen. Abgegrenzte Sphären müssen Grenzen haben, und was Abgrenzungen und Grenzen besitzt, erfordert das Voraussetzen dessen, was außerhalb der Sphäre liegt. Die partikulare Identität desjenigen, der frei entscheidet, existiert also nur, wenn er voraussetzt, was ihm entgegen gesetzt existiert. Fichte erinnert in dieser Argumentation an das Argument der Wissenschaftslehre, dass man das Ich nur setzen kann, wenn man das Nicht-Ich ebenso setzt. Fichte beginnt tatsächlich damit, dass Kantische Argument des § 24 der B-Deduktion aufzunehmen: „Wir können uns keine Linie denken, ohne sie in Gedanken zu ziehen, keinen Zirkel denken, ohne ihn zu beschreiben ... die Zeit, die doch gar kein Gegenstand äußerer Anschauung ist, uns nicht anders vorstellig machen können, als unter dem Bilde einer Linie, so fern wir sie ziehen ... und ... wir die Bestimmung der Zeitlänge, oder auch der Zeitstellen fiir alle inneren Wahrnehmungen, immer von dem hernehmen müssen, was uns äußere Dinge Veränderliches darstellen." (B 155-156) Kant beginnt hier damit, die Bedingungen zu erwägen, unter denen intellektuelle Aktivität Objektivität besitzen kann. Selbsttätigkeit für sich alleine ist eine rein zeitliche Angelegenheit - da Zeit zumindest Durchgang ist, muss Tätigkeit an sich unbestimmt sein, ein Verstreichen. Um Selbsttätigkeit zu bestimmen, muss sie räumlich werden; d. h. die zeitliche Bewegung der Aktivität wird durch die Entdeckung räumlicher Analogien mit ausgedehnten Objekten, die ruhen oder sich verändern, objektiviert. Man könnte sagen, dass das Ziehen einer Linie die reine Transformation einer temporalen Handlung in eine räumliche Figur ist. Zusammengefasst ist die Frage fur Kant hier die von empirischer Selbsterkenntnis und daher nur eine gewisse Anwendung der Kategorien. Für Fichte sind das Transzendentale und das Empirische enger verbunden. Er behauptet: ,,[D]as sich selbst als thätig anschauende Ich
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schaut seine Thätigkeit an, als ein Linienziehen. Dieses ist das ursprüngliche Schema der Thätigkeit überhaupt." (S. 58) Als Anmerkung sei erwähnt, dass Fichte die Frage, deren Antwort das Linienziehen ist, als offensichtlich transzendental anlegt: Das Ich, das sich selbst anschaut, ist aktiv. Wenn auch hyperbolisch, möchte Fichte doch darauf bestehen, dass Tätigkeit, Zeit und Raum ursprünglich in dieser Bewegung des Linienziehens vereint sind. Daher werden die verschiedenen Elemente logisch erst später vollständig voneinander differenziert. Aus einem gewissen Blickwinkel scheint Fichte alle Objektivität in die Tätigkeit des Selbstbewusstseins zu integrieren; aus einem anderen Blickwinkel scheint er zuzugestehen, dass Raum und Zeit gleichzeitig sein müssen, damit menschliche Tätigkeit auch nur irgendeine Bestimmtheit innehat. Sein Gedanke, dass es transzendental keinen Raum ohne verräumlichende Tätigkeit gibt, beinhaltet, dass der Körper eine „ruhende, und einmal fur immer bestimmte Ausdehnung ist". (S. 58-59) Kants Aussage folgend, dass es keine Einheit ohne Vereinigung gibt, deduziert Fichte den materiellen Körper als eine gewisse Ausführung der Tätigkeit des Linienziehens. Den Körper als Auslöser oder Sedimentation von transzendentaler Tätigkeit zu sehen, ist philosophisch widersinnig. Mit der Übernahme von Kants Gedanken über die Linie versuchte Fichte, innerhalb der engen Grenzen transzendentaler Reflexion zum Körper überzuleiten - ein Weg, den auch Kant in seinen Notizbüchern einschlug. In dieser konstruktiven Analyse gelingt es jedoch nicht, etwas auch nur entfernt Genetisches aufzuzeigen. Dennoch scheint Fichtes zu Grunde liegender Gedanke nicht völlig unpassend, nämlich dass das, was am entferntesten liegt, dennoch intrinsisch zum absoluten Selbstbewusstsein gehören kann, wenn es eine Bedingung der Möglichkeit dafür ist, dass Selbstbewusstsein sich verwirklichen wird. Demnach weist Fichte im Besonderen auf die äußerste Nähe zwischen Selbsttätigkeit und Körperbewegung hin, d. h. er will sicher stellen, dass Selbsttätigkeit immer tatsächlich eine Anstrengung ist, die materielle Bestimmtheit besitzt, und dass der Körper, zumindest von einem Blickwinkel aus, nichts als der materielle Ausdruck freien Handelns ist. Und genau dies legt Fichte dar: „Der abgeleitete materielle Körper ist gesezt, als Umfang aller möglichen freien Handlungen der Person; und nichts weiter. Darinn allein besteht sein Wesen." (S. 59) Vergessen wir nicht, dass wir hier versuchen, die Idee, dass freies Handeln voraussetzt, dass man ausschließlich für sich eine Sphäre setzt, nicht metaphorisch zu verstehen. Es wird also behauptet, dass der Körper, wenn er transzendental bestimmt wird, dieser Sphäre entspricht. Wenn für Fichte der Körper „nichts weiter" ist als die Sphäre der möglichen freien Handlungen einer Person, so versucht er, die Bedeutung des Körpers streng auf dessen Rolle als reines Mittel für das Wirksamwerden des Willens in der Welt zu beschränken. In Anlehnung an Kants Selbsttätigkeitsargument kehrt Fichte unmittelbar zu der Frage zurück, wie freier Wille in der Welt wirksam werden kann. Dies setzt zumindest einen Vermittler zwischen dem rationalen Willen, der eine Idee von der Sinnenwelt besitzt, und der Sinnenwelt selbst voraus. Eine Möglichkeit besteht darin, den Körper als das Medium zwischen Wille und Welt anzusehen. Aber das kann nicht richtig sein: Wenn der Körper nur eine vermittelnde Funktion zwischen Wille (Selbsttätigkeit oder Spontaneität des Verstandes) und der Welt einnimmt, dann würde der Wille einen weiteren Vermittler benötigen, um sich mit dem Körper zu verbinden usw. Da ein infiniter Regress droht, kann der Körper nicht lediglich Instrument oder Mittel sein, durch welches Wollen weltliche Wirksamkeit erhält. Vielmehr steht die Idee des Körpers direkt oder unvermittelt unter der Herrschaft des Willens: „Unmittelbar durch ihren Willen, ohne irgend ein anderes Mittel, müßte sie [die Person] in ihm [dem Körper] das gewollte hervorbringen; wie sie etwas wollte, müßte es in ihm geschehen." (S. 59, Hervorhebung des Verfassers) In-
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dem er sich dafür entscheidet, die Verwirklichung des Willens in einer Körperbewegung als unmittelbar darzustellen, will Fichte die Handlung von jeglicher Idee einer mentalistischen Schattenwelt von „Absichten" oder „Versuchen" oder „Willensäußerungen" befreien, die dann in Körperbewegungen verwirklicht werden. Man hebt den Arm - und nichts anderes. Lucy O'Brien, die so etwas wie eine Neo-Fichte'sche Handlungstheorie entwirft, beginnt damit, uns zu erinnern, dass Handelnde in einer Weise maßgebend fur ihre eigenen Handlungen zu sein scheinen, in der sie es nicht für die Handlungen Anderer sind. Außerdem, fahrt sie fort, erscheine unser Wissen über unsere Handlungen relativ spontan - es ergäbe sich mit der Handlung selbst - und Handlungen könnten nicht sein, wofür wir sie halten, wenn sie nicht relativ unmittelbar erfassbar wären.21 Um diese Eigenschaften von Handlungen zu erklären, rekonstruiert O'Brien eine Theorie, die vor einigen Jahren von Arthur Danto vorgelegt wurde. Überzeugend argumentiert sie fur die Existenz von Basishandlungen. Zu diesen zählen jene Handlungen, die „ein Subjekt direkt ausführen kann, ohne irgendetwas tun zu müssen". Diese Beschreibung von Basishandlungen wird in „Form von Körperbewegungen" gegeben, über die das Subjekt direkte Kontrolle ausübt - Handlungen wie „den Arm heben" oder „den Fuß heben". Ohne den Versuch auszuführen, welche Handlungen Basishandlungen angehören, behauptet O'Brien, dass wir mit Recht annehmen können, dass ein Handelnder „ein nicht-konzeptuelles Verständnis von seinen möglichen Handlungsweisen hat, die in dieser Weise Basishandlungen sind."22 Basishandlungen besitzen folgende vollkommene Fichte'sche Eigenschaft: Wenn ein Individuum bewusst handelt, kann es über seine Tätigkeiten Kontrolle ausüben. Die Direktheit der Kontrolle über seine Tätigkeiten wiederum beinhaltet, dass das Individuum über Wissen über diese Tätigkeiten, über das, was es tut, verfügt, und zwar durch die Tätigkeit, durch Partizipation und nicht durch Beobachtung oder Reflexion. Basishandlungen sind Beispiele für das Ich, das sich durch oder in Körperbewegung intuitiv selbst als tätig begreift. Basishandlungen erfordern eine starke Nähe zwischen Wille und Körper: Von einer transzendentalen Perspektive aus betrachtet ist der Körper der unmittelbare Ausdruck des Willens; daher stellen Basishandlungen einen Entwurf des Körpers bereit - oder, was das Gleiche ist, ein Schema des Willens - aus der Perspektive der Selbsttätigkeit. Körperbewegungen, die eine konkrete Beschreibung von Basishandlungen darstellen, verdeutlichen, dass der Körper der „Umfang aller möglichen freien Handlungen der Person; und nichts weiter" ist. (S. 59) Fichte müsste von O'Briens Darstellung nur in einem Punkt abweichen: Er glaubt nicht, dass es einen definitiven Bestand von Basishandlungen geben kann. Seine Argumentation beginnt mit der Idee, dass es eine unendliche Anzahl von möglichen, konzeptuell vermittelten, Nicht-Basishandlungen gibt. Wir müssen komplexe Handlungen betrachten, die von hochentwickelten Körpertätigkeiten begleitet werden, wie Tanzen (eine Pirouette im Ballet drehen oder ein Shuffle Hop beim Steptanz), ein Musikinstrument spielen (die Fingerbewegungen beim Klavierspielen im Gegensatz zu denen beim Saxophonspielen), ein Werkzeug benutzen (einen Schraubenzieher benutzen), eine Operation durchführen, einen Sport ausüben, geschweige denn die alltäglicheren Tätigkeiten wie Kochen (Schneiden und Würfeln), Schreiben, Sprechen und Singen. Nehmen wir also zuerst an, dass die Möglichkeit solcher komplexen Tätigkeiten kein definites Ende finden, dass neue (wie die X-Games-Sportarten) 21
L. O'Brien, „On Knowing One's Actions", in: J. Roessle, Ν. Eilan (Hg.), Agency and Issues in Philosophy
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and Psychology,
Oxford 2003, S. 359.
Ebd., S. 363. (In englischer Sprache, Uebersetzung Α. V.).
Self-Awareness:
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fortwährend erfunden werden. Zweitens verändert sich ein unabhängiger, beweglicher Teil des Körpers bei jeder komplexen Tätigkeit, die der Körper ausfuhrt: Für einige Tätigkeiten bewegen sich einige oder mehrere Finger, während der Arm stillsteht, für andere bewegt sich der gesamte Arm, während Finger und Handgelenk unbewegt bleiben, während in wiederum anderen sich Handgelenk und Finger bewegen, während sich auch der Arm bewegt (ζ. B. bei einem Sprungwurf). Die Beziehung des Körpers zu seinen Teilen ist eine Beziehung des Ganzen zum Teil, aber diese Beziehung verändert sich ständig hinsichtlich der komplexen Tätigkeit, die ausgeführt wird. Da die Idee des Teiles schließlich in Hinblick auf die komplexe Tätigkeit zu relativieren ist, ist die genaue Auswahl an Basisbewegungen, die ein Teil des Körpers vollfuhren kann (es gibt mehrere physische Einschränkungen) zwar nicht unendlich, aber Undefiniert - die hebend-beugende Bewegung des Arms mit abklappendem Handgelenk und vorwärts schnellenden Fingern kann man sich getrennt von der Tätigkeit, einen Basketball zu werfen, nicht vorstellen. Ein Körper, der diese drei Erfordernisse erfüllt, ist zwangsläufig „artikulirt". (S. 62) Demnach ist ein Leib das, was wir „als ein geschloßnes artikulirtes Ganzes, und uns in demselben als Ursache unmittelbar durch unsern Willen setzen". (S. 62) Genetisch bedeutet dies, dass das Kleinkind ein Bewusstein von sich selbst als wirksam in der Welt nicht nur erlangt, indem es eine Idee im Sinn hat und diese ausfuhrt. Vielmehr hat das Kind eine Idee im Sinn auf Grund seines Bewusstseins, einen Körper zu besitzen, über den es, wie es entdeckt, Kontrolle ausüben kann, und dessen Fähigkeiten die Bedingung dafür sind, seinen Willen der Welt aufzuprägen. Die Rassel zum Rasseln zu bringen beinhaltet zu treten. Demzufolge ist es für die Entdeckung des Willens für das Kind notwendig, die Einflusssphäre zu entdecken, die es besitzt und über die es direkte Kontrolle ausüben kann, und ohne welche es von der Welt vollständig abgeschnitten wäre. Zumindest zum Teil wird das Kind das, das es ist, indem es die Spannbreite der Bewegungen entdeckt, über die es selbst und über die niemand sonst Kontrolle ausübt. Wenn Basistätigkeiten an konzeptuell vermittelten Tätigkeiten beteiligt werden, wird die Bandbreite möglicher Bewegungen, die das Kind ausführen kann, das Spiegelbild von Objekten, die getrennt von ihm existieren, von deren Kräften und von der Natur seiner Kräfte über sie. Zunächst ist die Welt als ein System von Objekten das innere Korrelat des tätigen Körpers. Ein Individuum zu sein, erfordert also, einen artikulierten Körper zu setzen, fähig zu Basishandlungen als dem, was freies Wollen verwirklicht. Der intersubjektive Leib Der in dieser Weise verstandene Körper ist nicht der natürliche Körper, nicht der von der Natur aus gesehene Körper, sondern erneut der aus der transzendentalen Perspektive heraus verstandene Leib, der Selbstbewusstsein möglich macht. Dieser Leib ist voll tätig. Demzufolge muss Fichte nun den passiven Leib deduzieren, der dem Einfluss Anderer ausgesetzt ist, der aufgefordert wurde und so aktiven und passiven Kräften eine transzendentale Bedeutung verleiht. Bekanntlich verwickelt dieser Teil der Argumentation Fichte in eine Unterscheidung zwischen „höheren" und „niederen" Organen und „subtilerer" und „zäher" Materie. Was setzt er mit diesen Unterscheidungen voraus? Einzig dies: Wenn ein Subjekt aufgefordert und so von einem Anderen beeinflusst wird, dann muss der Einfluss einer Person auf die andere - sofern wir nicht an Telepathie oder Magie glauben - eine Form materiellen Einflusses sein. Einzig durch meinen Leib kann ein Anderer Einfluss auf meinen Willen ausüben; wenn nicht jeder Einfluss auf den Leib eine direkte, kausale Einschränkung meiner Willenskräfte ist, d. h.
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eine Art, um gewisse Körperbewegungen entweder zu verbieten oder zu erzwingen, dann muss mein Leib über Sinnesorgane verfügen, die nicht unter direktem Einfluss fester Materie stehen, und es muss eine Form von Materie geben, die den Leib beeinflussen kann, ohne ihn kausal zu determinieren. In nuce ist dies die Argumentation. Fichte war der Erste, der zugab, dass die Details seiner Argumentation alles andere als zufriedenstellend waren (S. 71), aber die zu Grunde liegende These scheint überzeugend. Fichte möchte Standarddarstellungen der Wechselwirkung zwischen Geist und Leib durch eine Interpretation zweier Aspekte von Leiblichkeit ersetzen. Er ist besonders interessiert zu verstehen, wie es möglich ist, dass der Leib „beeinflusst" werden kann, ohne mechanisch determiniert zu werden. Perzeptive Erfahrungen sind dieser Art; in ihnen geschieht eine Bindung meines Sinnesapparates, die dennoch meinen höheren Sinn frei lässt in seiner Reaktion: „Wird eine Gestalt im Räume durch das Gesicht wahrgenommen, so wird innerlich ... das Gefühl des Gegenstandes, d. h. der Druck, welcher geschehen müßte, um durch Plastik diese Gestalt hervorzubringen, nachgeahmet, aber der Eindruck im Auge, wird, als Schema dieser Nachahmung, festgehalten." (S. 70-71) Der physikalische Eindruck, den der Gegenstand auf dem Auge erzeugt, und die imaginäre Aufnahme dieses Eindrucks stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander, und zwar auf eine Art, die zur aktiven Determinierung werden könnte - dies aber nicht tut - , um einen weiteren, ähnlichen Gegenstand zu produzieren. Wir haben es also mit einem Vorgang zu tun, in dem ein Sinneseindruck zu einer aktiven Wiederholung wird und nicht lediglich eine wiederholte Reaktion bestimmt. Gemäß diesem Modell hat Rezeption oder (passives) Verstehen die Struktur einer aktiven Wiederholung. Und dies sollte uns geläufig sein: Wenn man z. B. Lesen lernt, wiederholt man die Worte laut, sagt sie auf und lernt erst später, sie nicht mehr laut auszusprechen und dann seinen Mund nicht mehr zu bewegen, bis man schließlich einfach liest. Fichte vertritt die These, dass dies eine Tiefenstruktur des Verstehens darstellt, die die Bewegung von Rezeption zur aktiven Wiederholung zum Verstummen dieser Wiederholung beinhaltet, die sich in Erwachsenen zwar blitzschnell, jedoch nach wie vor vollzieht. Ebenso beinhaltet das Erlernen von Hören (das Teil des Erlernens von Sprechen ist) anfangs, dass man Worte, die an einen gerichtet werden, hört, indem man sie wiedergibt, oder das Verstehen von Musik, indem man entweder dem Rhythmus folgt und einen Teil seines Körpers im Takt bewegt, oder der Melodie, die man mitsummt. Handlungen werden erlernt, indem man das Beispiel Anderer nachahmt, etc. Fichte verleiht also dem Verstehen als einem Lernprozess einen körperlich-mimetischen Aspekt, der reineren Verstehensprozessen notwendigerweise vorausgeht. Und während dieses Modell, in dem passive Rezeption sich zu aktiver Wiederholung wandelt, wahrscheinlich weniger gut auf visuelle Perzeption anzuwenden ist - obwohl u. a. Hogarth und Merleau-Ponty argumentiert haben, dass das Zeichnen eines Gegenstandes die größte Annäherung an das Erfassen des Prozesses von visuellem Verständnis ist und daher selbst ein aktives Model für konzeptuelles Verständnis im Allgemeinen darstellt23 - geht Fichte hier doch dem Gedanken nach, wie materieller Einfluss zu Tätigkeit, nicht zu erzwungener Bewegung oder körperlicher Hemmung fuhren kann. Im Fall der Wahrnehmung nimmt Fichte an, dass die Lichtwellen, die den physikalischen Eindruck übertragen, eine subtilere Materie sind und die produktive Vorstellung ein höheres Organ ist, dass von diesen Bewegungen der Materie beeinflusst, aber nicht determiniert wird. Es überrascht nicht, dass 23
Für eine Verteidigung der Mimesis in dieser Richtung, siehe T. Huhn, Imitation and Society: The Persistence of Mimesis in the Aesthetics of Burke, Hogarth, and Kant, University Park, PA 2004, Kap. 2.
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Fichte als Musterbeispiel die gegenseitige Wechselwirkung durch das über die bewegliche subtile Materie miteinander Sprechen wählt. (S. 76-77) Fichte betrachtet hier Mimesis als sowohl eine Eigenschaft der Beziehung zwischen dem Subjekt und der Welt als auch als Teil der Beziehung des Subjekts zu sich selbst, wobei er den mimetischen Austausch zwischen höherem und niederem Sinn nach dem Vorbild des mimetischen Austausche zwischen Subjekt und Subjekt sowie Subjekt und Objekt begreift. Während offensichtlich mehr existiert als die mimetische Beziehung zwischen höheren und niederen Organen, höheren und niederen Sinnen, ist Mimesis doch ausschlaggebend für das Lernen und daher entscheidend für die Entwicklung von Selbstbewusstsein. Indem Fichte eine Dialektik zwischen innerem und äußerem Sinn, zwischen phantasievoller (Vorstellungs-)Tätigkeit (als eine noch sinnliche Handlung) und äußerer Körperhandlung annimmt, erreicht er die Vorstellung von zwei Formen, durch die der Leib die Welt beeinflusst und beeinflusst wird. Sobald diese vorhanden sind, kann er den ursprünglichen Instruktionsvorgang umschreiben, in welchem der Neuling unter angemessenen materiellen Bedingungen zum Bewusstsein seiner Freiheit erweckt wird. „Besteht mein Leib aus zäher haltbarer Materie, und hat er die Kraft, alle Materie in der Sinnenwelt zu modificiren, und sie nach meinen Begriffen zu bilden, so besteht der Leib der Person ausser mir aus derselben Materie, und sie hat dieselbe Kraft. Nun ist mein Leib selbst Materie, mithin ein möglicher Gegenstand der Einwirkung des andern durch bloße physische Kraft; ein möglicher Gegenstand, dessen freie Bewegung er geradezu hemmen kann. Hätte er mich für blosse Materie gehalten, und er hätte auf mich einwirken wollen, so würde e r s o auf mich eingewirkt haben, gleicher Weise wie ich auf alles, was ich für blosse Materie halte, einwirke. Er hat nicht so gewirkt, mithin nicht den Begriff der blossen Materie von mir gehabt, sondern den eines vernünftigen Wesens, und durch diesen sein Vermögen beschränkt; und erst jetzt ist der Schluss vollkommen gerechtfertigt, und nothwendig: die Ursache der oben beschriebenen Einwirkung auf mich ist keine andere, als ein vernünftiges Wesen. Es ist hiermit das Kriterium der Wechselwirkung vernünftiger Wesen, als solcher, aufgestellt. Sie wirken nothwendig unter der Voraussetzung auf einander ein, dass der Gegenstand der Einwirkung einen Sinn habe." (S. 68-69)
Damit ein Objekt einen Sinn hat, muss sein Erscheinen und seine Bewegung mehr als reine kausale Signifikanz besitzen. Ich werde mich deshalb im Folgenden der Frage des erscheinenden Leibes zuwenden. Entscheidend ist hier, dass der Andere angesichts dieses Erscheinens eine alternative Art der Wechselwirkung mit dem Neuling einnehmen kann. Diese gleicht der vorherigen, jedoch hat nun jeder Moment der Wechselwirkung einen entsprechenden materiellen Charakter. Der Andere wird den Neuling vielmehr durch materielle Zeichen als durch physische Gewalt beeinflussen: Lächeln als eine Einladung zurückzulächeln oder die physikalischen Töne hervorbringen, aus denen sich das Wort „lächle" zusammensetzt. Für Fichte sind sich aus Phonemen zusammensetzende Wörter ein Paradigma für das Sinngeben. Diese Töne mit dem Mund zu erzeugen verleiht dem Mund seinen geistigen Sinn; ebenso beinhaltet das Leiten dieser Töne zum menschlichen Gehör, dass die Ohren materielle / geistige Organe sind. Wenn Fichte aussagt, dass ein Gegenstand Sinn hat, so meint er diese wechselseitige Bestimmung des Materiellen und des Bedeutungsvollen. Um diesen Gedanken abzuschließen: Was ein Individuum als Individuum konstituiert, ist seine Fähigkeit, die Sinnenwelt mit Bewegungen zu beeinflussen, deren Medium eine Dichte besitzt, die der Dichte von gewöhnlichen physikalischen Gegenständen entspricht (wobei in
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diesem Fall der Leib ein Instrument des Willens ist), und dass man sich außerdem dem Individuum als einem Sinnesobjekt und nicht als einem rein physikalischen Gegenstand nähert. Das bloße Sichnähern eines Anderen genügt nicht: Dem Anfanger muss sich auf eine Art genähert werden, die es ihm ermöglicht, zu erkennen, dass er auch zu etwas gewaltsam gezwungen und nicht aufgefordert hätte werden können und dass er demnach ebenso die Fähigkeit hat, im Gegenzug aufzufordern (indem er gewisse Körperbewegungen wie Gestikulieren oder Sprechen ausfuhrt). Desweiteren erkennt er, dass das Wesen, das ihn ursprünglich aufgefordert hat und das er nun im Gegenzug aufzufordern hat, dieselbe komplexe, doppelte Materialeigenschaft besitzt. Da Wechselwirkungen des Aufforderungstypus vorsätzlich auf physische Gewalt verzichten, ist die Anwendung des Willens in dieser Weise selbst beschränkend. Eine Antwort auf diese selbstbeschränkende Art kommt umso mehr einer Anerkennung des Anderen als vernünftiges Wesen gleich, wobei solche Anerkennung dem Verleihen eines Rechts an den Anderen entspricht. Die Details von Fichtes spekulativer Psycho-Physiologie sollen uns nicht weiter aufhalten. Wichtig ist, dass es ihm die Darstellung erlaubt, seine beiden Desiderata zu erfüllen: Indem Fichte einerseits auf die Verflechtung von aktiven und passiven Kräften beharrt (dass der Leib für sich selbst „Instrument" und „Sinn" ist), kann er mit Recht behaupten, dass der Leib nicht nur metaphorisch, sondern buchstäblich die mindestnotwendige ,,Sphäre" ist, die Freiheit ermöglicht. Der Neuling wird sich selbst einzig als Individuum bewusst, wenn er die Freiheit hat, seinen Leib durch eine bestimmte, große Untermenge der unbegrenzten Auswahl von Möglichkeiten zu bewegen, die ihm sein Körper in seiner bestimmten Beschaffenheit als Reaktion auf Bedürfiiis, Wunsch, Absicht und Aufforderung und in Hinblick auf ein kulturell bestimmtes Standardsortiment von Gegenständen und Personen erlaubt. Andererseits könnte ich nicht von einem Anderen auf eine Art „beeinflusst" werden, die mir den Freiraum lässt, um auf die von der Aufforderung erforderte Weise zu antworten, wenn Leiblichkeit nicht verschiedene Seiten besitzen würde, die dem Unterschied zwischen fester und subtilerer Materie entsprechen. Daher ist die Anerkennung des Anderen als ein selbsttätiges Subjekt die Anerkennung des besonderen menschlichen Leibes. Da der menschliche Leib u. a. dadurch konstituiert wird, dass er behandelt wird, als hätte er Sinn, und da er schließlich Sinn hat, einzig weil er so behandelt (aufgefordert) wird, wird der menschliche Leib intersubjektiv konstituiert, oder, was auf das Gleiche hinausläuft, der menschliche Leib besitzt ein wechselseitiges Konzept. Formal klingt dies ganz wie der Beginn der Lösung des Problems anderer Bewusstseine, nämlich die Anerkennung eines anderen Bewusstseins ist die Anerkennung einer gewissen Art von Körper. Aber dies beinhaltet, dass die Weise, in welcher der menschliche Leib erscheint der ursprüngliche Träger, die Grundlage fur jede menschliche Verbindung ist - wie Fichte behauptet.
Der erscheinende Leib Für diese Verbindung fehlt eine gewisse Verzahnung zwischen Fichtes transzendentaler und seiner genetischen Argumentation. Von einem transzendentalen Standpunkt aus erklärt er: „Das Vorhandenseyn eines Leibes wurde geschlossen aus der Selbstständigkeit und Freiheit. Aber diese ist nur, inwiefern sie gesezt wird: mithin auch, da das Begründete nicht weiter gehen kann, als der Grund, der Leib nur für den, durch den er gesezt wird." (S. 72) Der Leib kann die komplexen Strukturen, die seine duale Beschaffenheit mit sich bringt, nur besitzen, wenn er als im Besitz dieser Strukturen gesetzt wird. Der normative Unterschied zwischen seinen höheren und niederen Organen, entsprechend des Unterschieds zwischen subtilerer
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und zäher Materie, sowie die Tätigkeiten, die von den verschiedenen Organtypen vollbracht werden, können nur existieren, wenn sie angemessen kognitiv anerkannt - vorausgesetzt - werden. Im Gegenzug, „werde [ich] zu einem vernünftigen Wesen, in der Wirklichkeit, nicht dem Vermögen nach erst gemacht·, wäre jene Handlung nicht geschehen, so wäre ich nie wirklich vernünftig geworden. Meine Vernünftigkeit hängt demnach ab von der Willkühr, dem guten Willen eines andern, von dem Zufalle; und alle Vernünftigkeit hängt ab von dem Zufalle." (S. 74) Ich bin nur ein freies Wesen, wenn ich mich als solches setzen kann; ich bin nur ein freies Wesen, indem ich zu einem solchen gemacht werde, wobei dieses Machen von bloßem Zufall abhängt. Fichtes Anliegen ist hier nicht, dass ich zu einem freien Wesen gemacht worden bin (wobei die Logik der Aufforderung als Entwurf für einen Erziehungsprozess als Antwort auf das Paradoxon vorgesehen ist, wie man dazu gemacht wird, frei zu sein), sondern dass dieses Machen so völlig zufallig ist, dass es die Idee des Sich-Setzens untergräbt - j e d e s Individuum ist lediglich „die Accidenz" (S. 74) der Aufforderung eines Anderen. Für Fichte ist dies ein schwieriger Moment. Die Beziehung zwischen dem Aufforderer und dem Aufgeforderten ist asymmetrisch: Die Menschlichkeit des Aufgeforderten hängt gänzlich von dem Anderen ab. Ist diese eine endlose Beziehung von Asymmetrie und Abhängigkeit? Hilft die Erkenntnis, dass es sich zunächst um den Vorgang einer Einweisung handelt, die Teil eines Prozesses ist, den wir hinter uns lassen? Könnte in diesem Fall elterliche Liebe oder die Sorge der Gemeinschaft die Zufälligkeit korrigieren? Auch wenn elterliche Liebe (zum Teil) Veranlagung ist, könnte der genetische Prozess nicht verwendet und vorausgesetzt werden; er würde Zufall normalisieren, ihn weniger zufallig, aber nicht vernünftiger machen. Dieses und ähnliche Probleme veranlassen Hegel dazu, den Einweisungsvorgang zunächst als eine Schlacht und dann als eine intensivierte und zeitlich sorgfaltig erarbeitete Folge von kollektivem, geschichtlichen Lernen zu rekonstruieren, dessen interne Logik die Rationalität für seine spätere Überwindung liefert. Mag dies die Aufforderung als einen genetischen Prozess angemessen abhandeln, es kann dennoch nicht das gesamte Bild ergeben, da die Aufforderung wiederum das Modell aller menschlichen Handlungen darstellt, die eine freie Reaktion des Anderen auslösen. Die Frage stellt sich also, weshalb jemand jemals einen Anderen anerkennt. Was ist die Grundlage für Anerkennung im Allgemeinen? Wer muss einbezogen werden? Was bedeutet es zu sagen, dass jeder Mensch das Recht darauf hat, mit Handlungen des Aufforderungstypus behandelt zu werden? Hegel wird darauf bestehen, dass nur eine Darstellung der historischen Entstehung des liberalen Staates und des von ihm betriebenen Wandels des Individuums zum Staatsbürger diese Fragen vollständig beantworten wird. Auch wenn dies für sich genommen eine angemessene Darstellung ist, läuft für Fichte der Vorgang der Entstehung des Staates dialektisch zu spät ab und setzt zu viel voraus. Es könnte keinen Kampf um Anerkennung geben, wenn die Kampfteilnehmer sich nicht bereits gegenseitig als jemanden anerkannt hätten, der aufgefordert oder körperlich genötigt werden kann; d. h. die Voraussetzung für den Kampf ist die gegenseitige Anerkennung jedes Teilnehmers, dass der andere eine duale Materialstruktur wie seine eigene besitzt. Für Fichte ist die Kampfszene ein Vorgang von Anerkennung und Fehlanerkennung. Hegel gelingt es nicht, die (unzulängliche) Anerkennung am Anfang zu erklären.24 Existiert Fehlanerkennung 24
Natürlich anerkennt Hegel, dass die Gegner einander bereits als Personen anerkannt haben müssen (Hegel 's Phenomenology of Spirit, übers, ν. Α. V. Miller, Oxford 1977), § 187; aber dies setzt er als selbstverständlich voraus, ohne das Bedürfnis fur weitere Erklärungen zu verspüren.
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nicht ohne Anerkennung, wie partiell auch immer, und ist diese Anerkennung nicht nur eine Frage des Zufalls, dann muss es hierfür eine Grundlage geben. Und diese kann es nur geben „als durch die Voraussetzung, daß der andere, schon in jener ursprünglichen Einwirkung genöthiget, als vernünftiges Wesen genöthiget... mich als ein vernünftiges Wesen zu behandeln: und zwar, daß er durch mich dazu genöthiget sey". (S. 74) Dies bedeutet also, dass bereits in dem ursprünglichen Vorgang etwas wie gegenseitige Wechselwirkung zumindest ansatzweise vorhanden war. Dies klingt widersprüchlich, da Fichte nun vorschlägt, dass ich in dem Vorfall, durch welchen ein Anderer mich zum Individuum macht, den Anderen bereits auffordere. Sicherlich geschieht dies nicht durch etwas, das ich tue, d. h. nicht durch meine Teilnahme an Tätigkeiten des Aufforderungstypus, da diese mir noch nicht zur Verfugung stehen. Um Fichtes eigene, paradoxe Formulierung zu verwenden: Man muss wirken ohne zu wirken. (S. 74) Vor dem Hintergrund der vorausgehenden Argumentation wissen wir bereits, wohin uns dies führt: Da meine Unabhängigkeit und Wirkungskraft in der Welt von meinem Leib abhängen, der als die materielle Inschrift meines Willens meine Individualität ermöglicht, vermag ich meine Wirksamkeit durch das Erscheinen meines Leibes auszuüben, der es mir ermöglicht, „thätig [zu] seyn, ohne daß ich durch ihn wirkte". (S. 75) Indem Fichte eine Deduktion der Notwendigkeit der Leiblichkeit fur Selbstbewusstsein liefert, erscheint der Leib als eine Folge von aktiven und passiven Kräften, als ein materielles Objekt mit beweglichen Teilen, befähigt, gewisse Arten von Handlungen auszuführen und auf gewisse Weise behandelt zu werden. Desweiteren hat er Sinn, aber noch kein bestimmtes Aussehen, und hat auf Grund seiner Kräfte noch keine besondere Erscheinungsform. Dies aber ist nicht plausibel: Es kann nichts existieren, das diese Forderungen erfüllt und dennoch keine sinnliche Form besitzt. Ein Lebenswesen, das zu einer gewissen Breite von Tätigkeiten fähig ist, muss eine bestimmte Gestalt haben, eine unverkennbare Beziehung zwischen Ganzem und Teilen, die es ihm ermöglicht, eben diese Tätigkeiten auszuüben. Vom entgegen gesetzten Blickwinkel aus haben wir bereits dargelegt, dass das Inventar von Basistätigkeiten (die aus dem ständig wachsenden Angebot von komplexen Tätigkeiten abzulesen sind) ein Schema des menschlichen Willens bietet - genauer gesagt, sein Aussehen. Wir müssen uns also ein Wesen vorstellen, das dazu imstande ist: Zu sprechen, zu singen, zu essen, zu rufen, zu weinen, zu schreien, zu gehen, zu laufen, zu springen, auf einem Bein zu balancieren, zärtlich zu sein (zu küssen, zu streicheln, zu liebkosen), zu gebären, seinen Nachwuchs zu stillen, sich zu beugen, einen dreifachen Salchow zu springen, Klavier zu spielen, Zwiebeln zu würfeln, einen Pfeil zu schießen, einen Bumerang zu werfen, zu zeichnen, zu schreiben, zu stricken, Fratzen zu ziehen, etc. Je länger und ausgefeilter die Liste von Handlungen und daher von Basishandlungen ist, desto deutlicher wird es, dass der menschliche Leib eine spezielle Gestalt haben muss, eine besondere Organisation des beweglichen Ganzen und seiner Teile, die es ihm erlaubt, diese verschiedenartige Spannbreite von Tätigkeiten auszuführen. Es mag eine andere Gestalt und Organisation des Ganzen und der Teile geben, die aus einem anderen Material bestehen könnten, die all dies tun könnten, aber bis jetzt hat sich sicherlich noch niemand so etwas vorgestellt. Wenn dies wahr ist und die Bandbreite von Tätigkeiten der Ausdruck des Besitzes eines vernünftigen Willens ist, dann muss auch das Gegenteil zutreffen: Das Erscheinen des menschlichen Leibes ist schlicht das Erscheinen des vernünftigen Wesens, d. h. „diese Erscheinung [des Leibes] [soll] so seyn, daß sie schlechterdings nicht zu verstehen, und zu begreifen ist, ausser durch die Voraussetzung, ich sey ein vernünftiges Wesen". (S. 76)
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Mit der obigen Aussage, dass der menschliche Leib die notwendige Erscheinungsform der menschlichen Seele (Freiheit, des Subjektes) ist, habe ich Wittgensteins Diktum funktionell umgestaltet; in seiner ursprünglichen Form ergänzt es seine Ableitung vollkommen: „Der menschliche Körper ist das beste Bild der menschlichen Seele."25 Form und Funktion bedingen sich gegenseitig. Man könnte auch sagen, dass die transzendentale Spezifizierung der materialen Kräfte des menschlichen Leibes eine Ästhetik beinhaltet, eine Gestaltung des menschlichen Leibes. In Hinblick auf Funktion und Form ist der menschliche Leib ein notwendiges Bild der menschlichen Seele. Für Fichte gehört die breite Spezifizierung der Fähigkeiten des menschlichen Leibes zur transzendentalen Erarbeitung des Selbstbewusstseins, während die Argumentation, die zeigt, dass das Erscheinen des menschlichen Leibes es nötig macht, ihn als ein vernünftiges Wesen zu betrachten, zur (niederen) Wissenschaft der philosophischen Anthropologie gehört.26 (S. 77) Aber diese Weise der Aufteilung des Problems wirkt der Verbindung zwischen Fähigkeit und Erscheinung entgegen, welche die Argumentation voraussetzt. Fichtes These geht davon aus, dass das Unverwechselbare des menschlichen Leibes darin besteht, dass seine Erscheinungsform untrennbar mit der Verwirklichung seiner Fähigkeiten, in der Welt zu handeln verknüpft ist, also mit dem, was der Leib als ein weltlicher Gegenstand ist. Von diesem Blickwinkel aus stellt die Ästhetik des menschlichen Leibes nicht einen Abstieg des Menschlichen zum bloßen Erscheinen dar, sondern stellt die stets schockierende Forderung, dass das bloße Erscheinen des menschlichen Leibes eine Anerkennung dieses Gegenstandes in seinem vernünftigen, normativen Kern beinhalten sollte. Die wenigen Details, die Fichte hier anfuhrt, geben einen Hinweis auf die Funktionsweise seiner (transzendentalen) Anthropologie. Die richtungsweisende Prämisse seiner Argumentation lautet, dass der Mensch unreif geboren wird: Anders als das Tier, das „bekleidet" geboren wird, mit der Fähigkeit sich zu bewegen und mit den Instinkten, die notwendig sind fur das Überleben. „Nakt" (S. 82) geboren zu sein beinhaltet nicht nur das Fehlen dessen, was Tiere besitzen, nebst Hilflosigkeit und völliger Abhängigkeit von Bezugspersonen, sondern auch, dass der Mensch das, was ihn fur das Bewohnen der Welt vorbereitet und was Tieren durch ihre Instinkte zur Verfugung steht, durch Prozesse erwerben muss, die die Loslösung des Menschen von seiner natürlichen Bestimmung (als dem was vom Naturgesetz gegeben und durch das Naturgesetz bestimmt ist) weiter vorantreibt. Erziehung ist der Prozess, durch welchen Vernunft und Kultur kompensieren, was die Natur fehlen ließ. Vernunft ist also eine Errungenschaft der gesamten Spezies, die das Mittel für die Reproduktion der Spezies sowie fur individuelle Selbstverwirklichung liefert. Dies sehe ich allesamt als Standardwissen an. Das erste funktionelle / ästhetische Ergebnis der Frühreife ist, dass das menschliche Tier keine festgesetzte Sammlung von (gesetzesgelenkten) Handlungsroutinen besitzt. Daher kann der menschliche Leib sich „überhaupt nicht begreifen lassen, in einem bestimmten Begriffe." 25
L. Wittgenstein, Philosophische New York 1958, S. 178.
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Der eigentliche Grund, weshalb Fichte die Analyse der Erscheinung des menschlichen Leibes der Anthropologie zuschreibt, ist darin zu sehen, dass dies notwendigerweise beinhaltet, ihn als einen Organismus, als ein Naturprodukt zu betrachten, das in einer sehr speziellen Beziehung von Ähnlichkeit zu anderen, natürlichen Organismen wie Pflanzen und Tieren steht. (S. 77-79) Für Fichte ist aber eine Erklärung von etwas unverwechselbar Menschlichem mit Hinweis auf die Gegebenheit der natürlichen Welt Dogmatismus - das genaue Gegenteil des Idealismus. Der Begriff „Anthropologie" deckt also eine Vielzahl philosophischer Vergehen ab.
Untersuchungen.
English and German, übers, v. G. Ε. M. Anscombe,
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(S. 79) Während der tierische Körper auf einen bestimmten Umkreis von Bewegungen deutet, muss der menschliche fähig sein zu ,,alle[n] denkbaren ins unendliche ... Es würde ... lediglich eine Bestimmung [der Artikulation] ins unendliche [seyn] ... der Mensch ist nur angedeutet, und entworfen." (S. 79) Während diese Worte sicherlich einen existenzialistischen Ton enthalten, möchte Fichte mit ihnen erfassen, wie der menschliche Leib der Verwirklichung von begrifflich erfassten Handlungsmöglichkeiten gegenüber offen sein muss, wenn er von dem durch den strengen Überlebensimperativ diktierten Entwurf befreit werden soll. Aber diese Möglichkeiten sind unendlich offen. Daher muss der Leib des Menschen fur das offene Wesen des menschlichen Verstehens und fur die menschliche Fähigkeit, selbst zu schaffen und zu gestalten, einen Platz schaffen, es ermöglichen und ihm Ausdruck verleihen, da dies das Medium und der Ausdruck der Tatsache ist, dass menschliches Handeln konzeptuell vollendet und daher unendlich formbar ist. In dem Versuch, dem erscheinenden Leib seinen geistigen Anteil zu verleihen, wird Fichtes Konstruktion zunehmend spekulativ. In einem Menschen verbreitet sich der Tastsinn „durch die ganze Haut ..., geradezu der Einwirkung derselben blos gestellt". (S. 82) Dies führt gleichzeitig zu einer Intensivierung der Möglichkeiten zu fühlen und einer direkteren Gefahraussetzung. Der aufrechte Gang des Menschen macht die Freiheit von tierischer Routine möglich und spiegelt sie wider: Die Fähigkeit, die Gesamtheit eines offenen Horizontes zu überblicken, ist eng mit der Öffnung menschlichen Handelns fur Möglichkeit und Zukunft verknüpft. Auch befreit der aufrechte Stand Arme und Beine von ihren unmittelbaren, tierischen Imperativen; den Händen steht es also frei, äußere, materielle Gegenstände zu formen und zu modellieren. Die Freiheit der Hände zu formen muss ebenso die Fähigkeit fiir unendliche Aufgaben, die Formen beinhalten, ausdrücken, die wiederum ein unendliches Repertoire von Fertigkeiten erfordern und so erneut eine unendliche Spannbreite von möglichen Körperbewegungen. Was für den Körper im Allgemeinen als das Medium der unbestimmten Handlungsmöglichkeiten gilt, gilt ebenso für das menschliche Gesicht. Ansatzpunkt ist wiederum die Ungeformtheit des früh geborenen Kleinkindes; das gesamte menschliche Gesicht ist zuerst „eine weiche ineinanderfliessende Masse, in der man höchstens finden kann, was aus ihr werden soll, und nur dadurch, daß man seine eigene Bildung in der Vorstellung darauf überträgt, findet". (S. 84) Das Gesicht nimmt Individualität - und nicht bloß physische Unterscheidung - an, indem es dem Ausdruck verleiht, was getan (gesehen, gesagt) und erlitten (gesehen, gesagt) wurde. Im Konkreten drücken die Augen und der Mund des kultivierten Menschen seine geistigen Kräfte und Gemütszustände aus. Im menschlichen Auge erkennen wir sein selbstständiges Aktionsvermögen, das räumliche Formen umschreibt, umreißt und reproduziert, d. h. das Vermögen des Auges, das die imaginäre Projektion einer verwandelten Sinnenwelt ermöglicht, wird wiederum im Blick des Auges reflektiert, das so weniger ein Fenster in die Seele als vielmehr eine der seelischen Erscheinungsformen darstellt. In typisch idealistischer Art und Weise weist Fichte dem Auge seine Rolle bei der Produktion und Reproduktion von räumlicher Form zu, ohne seine expressiven Eigenschaften zu beachten: Traurige oder kummervolle Augen; das Aufblitzen von Vergnügen oder Sorglosigkeit; der bedeutungsschwere Blick; das zu Boden Schauen vor Scham oder Sittsamkeit; das Blinzeln von Zweifel oder Bedrohung; die aufgerissenen Augen von Unschuld; das leere Starren, etc. Dementsprechend ist der Mund, dazu geschaffen, die niedrigsten Funktionen auszufuhren, zum Ausdruck der höchsten Gefühle und Ideen fähig. Der Mund, der lacht oder Grimassen schneidet, opernhafte Töne hervorbringt,
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wehklagt oder aufschreit, küsst, liebevoll, gedankenvoll, poetisch, drohend spricht, der Mund, der sich in Schrecken öffnet oder in Abwehr fest verschließt. Das gleiche Prinzip, nachdem bereits die vorangegangene Darlegung über die Verbindung zwischen Form und Funktion vorangetrieben wurde, organisiert und motiviert auch die folgenden spekulativen Konstruktionen: Die Fähigkeiten des Leibes, in Übereinstimmung mit konzeptuellen Bestimmungen zu handeln, umfasst in jedem Fall die Fähigkeit zur Formbarkeit, sodass sowohl der Begriffsinhalt als auch die Offenheit für Um-Gestaltung an den Leib als unauslöschliche Eigenschaften seines Erscheinens zurückgegeben werden. Präzise: Da die Bestandteile des menschlichen Leibes notwendigerweise von den direkten, funktionellen Imperativen unabhängig sind, ist der Leib als Schauplatz sich ständig verändernder Verhältnisse des Ganzen zu Teilen in Bezug zu begrifflich bestimmten Tätigkeiten und ist die Form des Leibes in seiner Gesamtheit vollständig materiell, ohne dabei wie andere natürliche Körper festgelegt zu sein. Könnte man nicht also umgekehrt sagen, dass der menschliche Leib, da er im näher beschriebenen Sinne nicht natürlich und nicht begrifflich bestimmt ist, als das Erscheinen der menschlichen Seele begriffen werden muss? Was Fichte sich von dieser Argumentation erhofft, ist die - wenn auch partielle - Anerkennung, dass wir die Erscheinung des menschlichen Leibes nicht schlüssig beschreiben oder untersuchen können, ohne diese Makro· Aspekte seiner Erscheinung zu bedenken: Die Bandbreite der Tätigkeiten, die Menschen ausüben und wie sie sie ausüben, muss, wenn auch unbestimmt, in der Art des Objekts, das diese Tätigkeiten ausführt, sichtbar werden. 27 Betrachten wir die Alternativen. Könnte der menschliche Leib lediglich eine neutrale oder ausdruckslose Form besitzen, in der keine innere Verbindung zwischen der Form seiner Erscheinung und den Dingen existiert, die ihn beeinflussen, zwischen der Weise, in der sie ihn beeinflussen, und den Dingen, die er vollbringt, und der Weise, in der er sie vollbringt? Gegenstände können erstaunliche und verborgene Kräfte besitzen, aber was diese Tatsache einzigartig macht, ist genau, dass sie nicht die Regel ist und dass sie einer Erklärung bedarf - wie könnte etwas, das „so" aussieht auf „diese" Weise handeln? Indem Fichte sich auf die externen, performativen, materiellen, Welt bildenden Aspekte von Handlung konzentriert (und nicht auf die Aspekte von Absicht, Intention, Regel, Bedeutung, Willen), schließt er die Lücke zwischen innen und außen, und macht die Eigenschaften von körperlicher Performanz selbst zum notwendigen und besten Bild, zum Aussehen oder zur Gestalt dessen, was vom entgegen gesetzten Blickwinkel zielgerichtet und bedeutungsvoll ist. Man könnte sagen, dass Fichte die Beziehung zwischen Handeln und Leiblichkeit von einer „Technik"- oder „Design"-Perspektive aus betrachtet - allerdings des Designs eines Leibes, dessen Auswahl an Handlungen offen ist. Indem er Handlung von außen betrachtet, zeigt er, dass die „Blackbox"-Idee des menschlichen Leibes unverständlich ist. Aber der klassische Name für das, was ich hier die Vorstellung einer „Blackbox" nenne, ist natürlich lediglich die Idee des Körpers als eine (gesetzesgelenkte, kausale) Maschine im Gegensatz zu einem (sinnvollen) Verstand. Ein Körper, der fähig dazu ist, alle Handlungsarten auszuführen, die ein menschlicher Leib ausführen kann, und der darüber hinaus zu neuen Handlungsarten fähig ist, die eine neue Anordnung von Teilen und Ganzem erfordert, kann keine Maschine sein, d. h. er kann nicht 27
Für eine stärker ausgearbeitete Darlegung zur gleichen Argumentation, mit einer bemerkenswerten Anzahl an Überschneidungen mit Fichte, siehe E. W. Straus, „The Upright Posture", Phenomenological Psychology, New York 1966, S. 137-165.
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begrifflich bestimmt sein in der gleichen Weise, in welcher etwas bestimmt sein muss, um eine Maschine zu sein. Indem Fichte stark dualistische Darstellungen als nicht plausibel beurteilt, schwächt er zugleich die Vorstellung von der skeptischen Kraft schwach dualistischer Darstellungen. Da Handlung konzeptuell bestimmt ist und da das Konzept kontextbedingt ist, muss Fichte zugeben, dass nicht die Bedeutung aller einzelnen, menschlichen Handlungen einsichtig ist. Eine gewisse Art von Skeptizismus lebt davon, einzelnes Scheitern von Bedeutung als Grundlage fur allgemeinen Zweifel zu verwenden, und verwandelt so den Körper zurück in eine „Blackbox". Nachdem er die Idee der „Blackbox" entfernt hat, kann Fichte darauf beharren, dass die Kontextbedingtheit und Nicht-Einsichtigkeit von der anderen Seite her konstruiert werden sollte. Unbestimmt, undurchsichtig, rätselhaft oder irreführend zu sein gehört zu menschlichen Handlungen; diese haben genau die Merkmale von Unbestimmtheit und Bruch, die möglich sind fur die Taten von Wesen, deren Handlungen Sinn haben. Nicht zu wissen, wie eine Maschine funktioniert, oder die Funktion einer bestimmten Reihe von Bewegungen nicht zu kennen, bedeutet nicht, dass man die Bedeutung von Performanz nicht kennt. Die Form des menschlichen Leibes selbst, seine artikulierte Form mit bestimmtem Teil / Ganzem-Verhältnis, beinhaltet, dass seine Leistungen konzeptuell bestimmt, zielgerichtet und kontextbedingt sind. Einige kontextbedingte Taten sind Gattungsuniversalien, andere nicht; die Frage, welche Gattungsuniversalien sind und welche nicht, gehört selbst zu der Verzahnung zwischen menschlichem Leib und der Lebensform der Wesen, die einen solchen Leib besitzen. Die Erscheinungsform des Menschen ist demnach Quelle oder Grundlage fur die Arten von Unbestimmtheiten und Unterschieden, die in Anspruch genommen wurden, um seine Universalität zu leugnen. Daher behauptet Fichte auch, dass das Erscheinen des menschlichen Leibes dem Erscheinen eines selbst bestimmenden, vernünftigen Wesens entspricht und dass der menschliche Leib nicht erscheinen kann, wenn nicht auch der Mensch erscheint. Sobald man dies akzeptieren kann, folgt direkt seine normative Schlussfolgerung. Erstens, aus der Behauptung, dass der Mensch „ursprünglich gar nichts" (S. 80) ist, sondern ein ständiges Werden durch seine gestaltenden und selbst bildenden Tätigkeiten, geht hervor, dass „durch die Unmöglichkeit einer Menschengestalt irgend einen andern Begriff unterzulegen, als den seiner selbst, [...] jeder Mensch innerlich genöthigt [wird], jeden andern für seines gleichen zu halten". (S. 80) Wenn ich Fichte richtig verstehe, dann folgt aus Unbestimmtheit für ihn Gleichheit. Unbestimmtheit ergibt sich, da der menschliche Leib das Medium für unbegrenzte Handlungsmöglichkeiten ist. Gleichheit resultiert daraus, dass es kein bestimmtes Konzept gibt, das sich dafür eignet, solch einen Leib zu erfassen. Einen Leib anzutreffen bedeutet, etwas anzutreffen, das fortwährend die eigenen Fähigkeiten überschreitet, dieses etwas als ein vollständig bestimmtes Medium fur die Taten dieses Wesens zu verstehen. Wenn der Leib des Anderen nichts Bestimmtes aufweist, dann kann ich mein Verständnis des Anderen nur mit seiner Ähnlichkeit mit mir als einem Wesen verknüpfen, das immer ,mehr ist' als seine vergangenen und gegenwärtigen Erscheinungen. Indem mir der Andere in seiner begrifflichen Unbestimmtheit gleicht, ist er mit mir gleichgestellt, wie sehr ich diese Tatsache auch leugnen oder unterdrücken möchte oder ihn gewaltsam dominieren möchte, um die drohende Tatsächlichkeit dieser Tatsache zu zerstören. Demnach ist es lediglich diese Eigenschaft des erscheinenden Leibes, seine Formbarkeit und Unbestimmheit, sein Bereitstehen für unbekannte Möglichkeiten, die jemanden dazu führen kann, solch einen Leib an einem Kampf um Anerkennung zu beteiligen. Ohne die Annahme der Gleichheit im vorgeschlage-
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nen nicht-moralischen Sinn könnte der Kampf um Anerkennung nicht zustande kommen. Die Anerkennung von Gleichheit ist die Grundlage fur folgende Fehlanerkennung. Daher setzt Hegels Dialektik die Verknüpfung von Anerkennung und Leiblichkeit voraus. Zweitens, um diesen Gedanken zu vertiefen, behauptet Fichte, dass eine Berücksichtigung seiner gesamten Analyse des erscheinenden Körpers nicht Stück für Stück erfolgt, wie bei den Philosophen, „sondern in seiner überraschenden, und in einem Momente aufgefaßten Verbindung, in der es sich dem Sinne giebt, ist es, was jeden, der menschliches Angesicht trägt, nöthigt, die menschliche Gestalt überall ... anzuerkennen, und zu respektiren. Menschengestalt ist dem Menschen nothwendig heilig". (S. 84-85, Hervorhebung des Verfassers) Vielleicht besitzt das Wort „Respekt" mehr moralisches Gewicht als es das Argument stützen kann, obwohl es nun klar ist, dass die Erscheinung des menschlichen Leibes, für Fichte, die Tatsache der Vernunft ist. Es ist zunächst der erscheinende Leib, der Anerkennung erzwingt; in seinem Erscheinen stellt der menschliche Leib daher die Möglichkeit fur Individualität und damit für Selbstbewusstsein dar. Indem das Erscheinen des menschlichen Leibes perzeptive Aufmerksamkeit erfordert, treten Individuen unmittelbar in Wechselbeziehung mit Anderen und fordern durch das Erscheinen zur selben Anerkennung auf, die ihnen die Position zurückgeben wird, die nötig ist, um selbst jemand zu sein, der (aktiv) auffordert. Das visuelle Schauspiel des menschlichen Körpers verankert die Art von Handeln und Vernunft, die Menschen besitzen, und stößt daher von selbst die Kommunikation zwischen jedem Selbst und seinen Anderen an, aus deren Gedeih und Verderb sich die Geschichte der Gattung zusammensetzt. Fichtes Behauptung hier kann keine Entdeckung sein - hierfür ist ihre Spannbreite zu universalistisch. Seine transzendentale Anthropologie muss als eine Form von Erinnerung vorgehen. Die Erinnerung besitzt die Kraft, die sie besitzt, weil sie tatsächlich in einer schrittweisen Zerstreuung der Illusion, Unterdrückungen und Fantasien begründet ist, die es uns ermöglicht haben, Tag für Tag zu vergessen oder zu leugnen, was sich direkt vor unseren Augen befindet: Der menschliche Körper ist die Erscheinung des Menschen. Fichte erreicht diese Feststellung, indem er die Lücke zwischen (materiellem) Geist und Körper schließt und das, was der Körper (grundsätzlich) tut, zu den notwendigen und direkten Äußerungen des vernünftigen Verstandes macht. Dies gelingt ihm, indem er die Materialität des Körpers hervorhebt und ihn so von determinierter Beschaffenheit loslöst. Er erreicht es, indem er die Bedeutung der Ganzen-zu-Teilen-Logik neu konfiguriert, so dass es auf die Vielfalt menschlicher Handlungen zugeschnitten ist, und indem er aufzeigt, wie die verschiedenen Aspekte des Körpers Träger unserer Menschlichkeit sein können. Dies gelingt Fichte, indem er die Erfahrung der Leiblichkeit zu einer Quelle von Würde und Geltung in der Welt macht und nicht zu etwas, das verachtet, überwunden und unterdrückt werden muss. Ist Fichte hier der erste, der diese Bühne betritt? Er hat offensichtliche keine modernen Vorgänger, aber die Erinnerung hat andere Formen angenommen. Wie Fichtes Forderung, den Körper in seiner Ganzheit zu sehen, „in seiner überraschenden, und in einem Momente aufgefaßten Verbindung - in der es sich dem Sinne giebt", hat am offensichtlichsten die Geschichte der Bildhauerei und Malerei Ideologie und Unterdrückung durchdrungen und zersetzt, um den Anspruch der Leiblichkeit unumgänglich zu machen - vielleicht nirgends so erschütternd und widersprüchlich wie in den unendlichen Bildern von Christus am Kreuz. Der Leib als das Bild der Seele, die Erscheinung des Menschen ist offensichtlich in jeder Idealisierung des Leibes in einer griechischen Plastik, in jedem Michelangelotorso, in jedem unergründlichen Raphaelgesicht, in dem Blick
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auf Augenhöhe jedes Holbeinporträts, in den bloßen Zehen jeder schweren Rubensfigur, in den Augen jedes Rembrandt-Selbstbildnisses und so fort. Das Erschreckende ist vielleicht, dass wir eine solche Erinnerung überhaupt benötigen. Aber sobald Piatonismus, Christenheit und wissenschaftlicher Naturalismus ihre Zähne in die Kultur geschlagen haben, wurde das Offensichtliche weniger offensichtlich - zumindest für die Reflexion. Nichts ist ein klareres Zeichen dafür als die gähnende Lücke, die zwischen philosophischen und künstlerischen Darstellungen des Leibes existiert. Die wiederkehrende und bösartige Ablehnung von Kunst - als nichts als „Illusion", rein „ästhetisch"- ist eine nicht besonders subtile Weiterfuhrung der Ablehnung des Leibes, seines beharrlichen Erscheinens, und der Mutwilligkeit, die vonnöten ist, um sich aus dieser Erscheinung nichts zu machen.
Der erscheinende Leib, genetische Bedingungen und Proto-Rechte Fichtes Deduktion des menschlichen Leibes als die notwendige materielle Bedingung für Individualität ist sowohl eine strukturelle Fortsetzung seiner Hervorbringung eines von der Sittlichkeit unabhängigen Rechtsbegriffs als auch eine grundsätzliche Voraussetzung für diesen Rechtsbegriff. Traditionell gründet eine Darstellung des Menschen auf der Idee des Menschen als wesensmäßig: Als vernünftig oder eigenständig oder Wissender oder von allgemeinen Prinzipien gelenkt oder als reine Seele. Beginnt man mit solch einer Prämisse, dann erscheint der menschliche Leib als getrennt vom Selbst, als lediglich ein Instrument oder Gefäß, als ein Addendum oder Überschuss. Wenn man wiederum den Körper als vollständig von mechanischen oder biologischen Gesetzten konstituiert ansieht, kann er mit den Normen von Vernunftbegabung und Freiheit nicht vereint werden. Vor dem Hintergrund solcher Anschauungen beginnt der Leib entweder philosophisch als eine Bedingung zu erscheinen, die unterdrückt und überwunden werden muss, oder als eine Störklappe, als der Stolperstein der Natur, der das Hohe zu Fall bringt. Da Fichte auf den Unterschied zwischen absolutem und empirischem Selbst und zwischen transzendentalem und empirischem Selbstbewusstsein mit Nachdruck besteht und für ihn klar ist, dass Ersteres ausschließlich zur philosophischen Darstellung von Selbstbewusstsein gehört, ist er gezwungen, die Verwirklichung der Kräfte des Selbstbewusstseins mit Hilfe von körperlicher Performanz und Ausdrücken zu erörtern, die wiederum vollständig intersubjektiv vermittelt sind. Genau diese Präzision und Maßlosigkeit seines Begriffes der transzendentalen Subjektivität zwingen Fichte dazu, Subjektivität in essentiell leiblichen Begriffen zu steuern und auszuarbeiten. Indem er intersubjektiv vermittelte leibliche Performanz zum wesentlichen Medium fur selbstbewusste Tätigkeit macht, verleiht Fichte Selbstbestimmung und Normativität buchstäblich eine radikal materielle Wendung, da er das Selbst in eine Welt materieller Gegenstände und leiblicher Anderer als den natürlichen Lebensraum menschlicher Existenz einführt. Zwei letzte Kritikpunkte finden hier ihren Platz. Erstens, indem Fichte dem Leib als Medium für Handlung und Wechselwirkung eine solche radikale Rolle zuschreibt, über-idealisiert er den Leib und unterdrückt seine natürlichen und tierischen Funktionen. Zwangsausübung wird so vor allem zu einem Paradigma für Unrecht, nicht für Körperverletzung. Das Fichte'sche Subjekt mag endlich sein, aber es ist kein leidender Sterblicher; Schmerz, oft als ein Kriterium für Empfindungsvermögen angesehen, erscheint nicht in der Anthropologie von Fichtes Grundlage. Fichtes Leib ist beinahe ein rein wissender Leib. Die zweite Kritik
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ist komplexer. Wie wir bereits festgestellt haben und worüber sich fast alle Kommentatoren einig sind, läuft im Übergang von Urrechten zu politischen Rechten etwas schief: Der normativen Autorität des Urrechtes gelingt es nicht, den Begriff des politischen Rechts adäquat herauszustellen.28 Kritiker sind sich auch einig, dass sein argumentativer Lapsus die Architektur der Grundlage untergräbt und das Projekt als Ganzes zu Grunde richtet. Diese Kritik ist gerechtfertigt, aber im Ganzen vorschnell. Der Fehltritt ist anderer und einfacherer Natur als gewöhnlich angenommen und daher einfacher zu beheben. Um uns besser auf diese Schwierigkeit zu konzentrieren, wollen wir in knapper Form Fichtes Argumentation nachgehen. Die richtungsgebende normative These, die Fichte von seiner Darstellung der Leiblichkeit deduziert, ist, dass ,,[a]ller willkiihrlichen Wechselwirkung freier Wesen ... eine ursprüngliche und nothwendige Wechselwirkung derselben zum Grunde [liegt], diese: das freie Wesen nöthigt durch seine bloße Gegenwart in der Sinnenwelt, ohne weiteres, jedes andere freie Wesen es fur eine Person anzuerkennen. Es giebt die bestimmte Erscheinung, der andere giebt den bestimmten Begriff. Beides ist nothwendig vereinigt, und die Freiheit hat dabei nicht den geringsten Spielraum ... Beide erkennen einander in ihrem Innern, aber sie sind isolirt, wie zuvor." (S. 85-86)
Es erstaunt hier, wie Fichte nahtlos von der notwendigen Vereinigung von Subjekten durch - erforderliche - wechselseitige Anerkennung zu der Aussage übergeht, dass in dieser Anerkennung jedes Wesen so isoliert ist wie zuvor. Diese Isolation wird Fichte dazu bewegen, seinen Staat auf der Basis eines Szenariums zu errichten, das in seiner Logik Locke und Hobbes näher steht als Rousseau und Hegel. Dem springenden Punkt von Fichtes Isolationsargument liegt die Tatsache zu Grunde, dass während die Normen von wechselseitiger Anerkennung ausreichen würden, um rechtsachtendes Verhalten zu erzwingen, wenn keine andere Möglichkeit zur Wahl stünde, in Wirklichkeit jede Person auch ein materielles, aus zäher Materie bestehendes Objekt ist und man daher in jeder Wechselwirkung zwischen Subjekten sich entscheiden muss, ob man sich in der eigenen Handlungsweise auf rekognitive Normen oder auf den Gebrauch von (materieller) Gewalt stützen sollte. Da die Anwendung von rekognitiven Normen eine Selbstbeschränkung des Willens beinhaltet, würde zwar die Anerkennung eines Anderen als Person, wenn konsistent durchgeführt, eine rechtsachtende Behandlung erzwingen, aber es gibt dennoch nichts, das Beständigkeit erzwingt und daher nichts, das irgendein Individuum dazu verpflichtet, einen Anderen in einer rechts(be)achtenden Weise zu behandeln. Dies zu tun, wäre also eine Frage der freien Wahl, etwa der eines Gesellschaftsvertrages. Die Situation stürzt also in etwas zusammen, das von klassischen individualistischen Konstruktionen von Gesellschaft und Staat nicht zu unterscheiden ist. In diesem Moment verdunsten die rekognitiven Verbindungen, die Fichte so eifrig erarbeitet hat, wie der Morgennebel. In Erwiderung auf den naturalistischen Einwurf und den Isolationsvorwurf möchte ich darauf drängen, dass der logische Raum, der diesen Einwänden Nährboden liefert, entsteht, weil es Fichte versäumt, seine genetische Analyse von der Entstehung des Selbstbewusstseins - die solch eine herausragende Rolle in seiner Darstellung der Aufforderung einnimmt - adäquat zu 28
Für eine gründliche Behandlung dieser Aspekte, siehe Robert Williams, „The Displacement of Recognition by Coercion in Fichte's Grundlage des Naturrechts", in: D. Breazeale/T. Rockmore (Hg.), New Essays on Fichte's Late Jena Wissenschaftslehre, Evanston 2002, S. 47-64.
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Ende zu fuhren, wenn er den Leib als das wesentliche Medium zwischen menschlicher Wechselwirkung und Sozialität einfuhrt. Dies ist ein Makel, da der ganze Sinn der Darstellung der Leiblichkeit darin bestand, auf ihrer Rolle als der ursprüngliche Ort für intersubjektive Kommunikation zu bestehen, als die implizite Aufforderung an die Menschlichkeit, welche allen expliziten Aufforderungen zu Grunde liegt. Betrachten wir nochmals die Tatsache der Frühgeburt. Wenn die Frühgeburt des menschlichen Kindes den unbestimmten Raum schafft, der die Einsetzung von konzeptualisierter Rationalität an Stelle von mechanischen Instinkten als den Ursprung von Handlung ermöglicht, dann muss es auf den Sozialisierungsprozess, durch den dieses geschieht, ebenso zutreffen, dass er die Menschen zur Erfüllung der Mindestbedingungen des tierischen Lebens befähigt. In Fichtes Darstellung bedeutet, ein Tier zu sein, dass man die Fähigkeiten für Beweglichkeit und Handlung besitzt, welche die Überlebensbedürfiiisse erfüllen: Essen beschaffen, sich vor körperlichem Schaden schützen, etc. Der tierische Körper ist, so Fichte, ganz und vollständig, weil die Handlungsroutinen, durch welche diese Ziele befriedigt werden, selbst geschlossen und determiniert sind. Daher stellt die organische Ganzheit des tierischen Körpers die funktionelle Verbindung seiner verschiedenen Teile dar, damit das Tier die Überlebensbedürfnisse in einer Weise erfüllen kann, die für Gattungsreproduktion ausreichen - eine Hypothese in vollendeter Abstimmung mit den Befragungs- und Erklärungsmodellen der Evolutionsbiologie. Geht man hiervon aus, dann könnte man mit Recht behaupten, dass als mindestnotwendiges Element, das in jedem Sozialisierungsprozess gegenwärtig sein muss, der Körper auf eine Art vollständig werden muss, die für seine tierischen Bedürfnisse ausreicht und die notwendigerweise tierischer Ganzheit entspricht und sich annähert. Die Notwendigkeit ist hier offensichtlich: Der Mensch ist auch ein Tier. Gerade an dieser Stelle misslingt Fichtes Darstellung. Im Ungefähren benutzt Fichte die Tatsache der Frühgeburt als einen Anfang, um die tierischen Elemente, die mit dem vergesellschafteten Leib verflochten und eines seiner Substrate sind, bis hin zu deren Verschwinden zu unterdrücken und aufzuheben. Nachdem er traditionelle Überlegungen zur Frühgeburt festgehalten hat, hebt er hervor: „Ist er [der Mensch] ein Thier, so ist er ein äusserst unvollkommenes Thier, und gerade darum ist er kein Thier. Man hat die Sache oft so angesehen, als ob der freie Geist dazu da wäre, das Thier zu pflegen. So ist es nicht. Das Thier ist da, um den freien Geist in der Sinnenwelt zu tragen, und mit ihr zu verbinden." (S. 82) Wenn Tiersein darin besteht, eine dauerhafte und determinierte Struktur von Körper und Verhalten innezuhaben, dann ist der Mensch kein Tier. Vernunft ist kein evolutionäres Instrument, um anstatt von Instinkten und mechanisierten Routinen Überlebensbedürfnisse auszugleichen und zu erfüllen, sondern eine selbst bestimmte Welt von Ideen, Werten und Normen, die den Leib verwenden, um in der Welt eine sinnliche Präsenz zu erwerben. Man könnte argumentieren, dass Fichtes idealistischer Extremismus hier eine notwendige Folge seines transzendentalen Ansatzes ist. Aber diese Behauptung ist nicht zwingend. Vielmehr entspringt der Extremismus in Fichtes Darstellung der strukturellen Frage in scharf dualistischen Begriffen als sich ausschließenden Alternativen: Entweder existiert Vernunft um des tierischen Lebens willen oder das tierische Leben um der Verwirklichung einer eigenständigen Vernunft willen. Dieses Entweder / Oder ruiniert Fichtes Argumentation. Eine offensichtliche, dritte Alternative steht offen, nämlich dass das Wesen der Vernunft als ein nicht-mechanisches Mittel für die Befriedigung von Überlebensbedürfnissen ihr gleichzeitig ermöglicht, Ziele, Normen und Ideen hervorzubringen, welche die Ziele individuellen Überlebens und der Gattungsreproduktion hinter sich lassen und bei Gelegenheit sogar ersetzen.
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Daher erlauben gesellschaftliche Mechanismen, die Gattungsreproduktion ermöglichen, auch die Reproduktion und Ausweitung einer rationalen Kultur im Allgemeinen. Sobald eine rationale Kultur als Ausweitung und Entwicklung der begründeten Reproduktion des Gattungslebens angesehen wird und Gattungsleben daher als ein ständiger Bestandteil von rationaler Kultur, müssen die genetischen Bedingungen fur die Entstehung von individuellem Selbstbewusstsein zugleich die Entstehung eines Wesens begünstigen, dessen Körperkräfte ausreichen, um die Bedürfnisse seines tierischen Lebens zu erfüllen. Die Bewahrung, Fortfuhrung und Ausarbeitung des tierischen Lebens ist ein Bestandteil jedes menschlichen Lebens. Da es funktionell notwendig ist, dass jedes menschliche Individuum die Körperkräfte erwirbt, die es zu einem guten Tier machen, das fähig ist zu leben, und da der Erwerb dieser Kräfte eine Frage der Sozialisierung des Körpers ist, besteht eine vollständig nicht-optionale, funktionale Notwendigkeit von rekognitiven Normen. Rekognitive Normen sind zuerst Normen, die für das tierische Leben ausreichen, und da sie für das tierische Leben ausreichen, genügen sie möglicherweise für die unendlichen kulturellen Erarbeitungen des menschlichen tierischen Lebens, das eine Folge der Rolle der Vernunft als ein Überlebensmittel ist. Wie bereits dargelegt, ist es die genetische Ortung der empirischen und normativen Bedingungen fur Selbstbewusstsein, die ihnen ihre prima facie Autorität verleiht. Da Fichte es verfehlt, seinen genetischen Ansatz in seiner Betrachtung der Rolle von Leiblichkeit zu Ende zu führen, kann Fichte ein Szenarium entwickeln, in dem jede einzelne menschliche Begegnung die grundlose Entscheidung der an ihr Teilnehmenden beinhaltet, den Anderen als Person oder als Objekt zu behandeln. Aber dieses Szenarium ist an sich falsch. Jedes Kleinkind zum Person-Sein aufzufordern, schließt ein, dass jedes Kleinkind die körperlichen Kräfte für Individualität und die Normen, die wesentlich für den Besitz dieser Kräfte sind, erwirbt. Sich der Kräfte von Selbstbewusstsein bewusst zu werden, bedeutet zugleich, sich ihres normativen Wesens bewusst zu werden. Es sind also diese normativen Annahmen, die, wenn an Gewohnheitsroutinen geknüpft, zu Erwartungen werden, die, wenn sie nicht erfüllt werden, sich zu normativen Forderungen wandeln. Die bloße normative Unterfütterung einer Reihe von intersubjektiven Taten wird, indem sie sich zu normativen Forderungen wandelt, zu bewusst und selbstbewusst gestellten normativen Ansprüchen. Es sind also diese normativen Annahmen, die hinter der Forderung jedes Kindes stehen, diese oder jene Tätigkeit alleine auszuführen, seinen Bewegungs- und Handlungskräften Ausdruck verleihen zu dürfen. Es sind diese Annahmen, die jede körperliche Verletzung, nicht nur die absichtlich zugefügten, anfanglich als ein Unrecht empfinden, das nicht hätte geschehen sollen, und die daher aktive Kräfte und passive Begrenzungen zu einem normativen Selbstverständnis meines Körpers als dem „meinigen" verflechten - als Tatsache und Norm. Diese Annahmen tragen in sich die normative Notwendigkeit für jene Ausdrucksformen des tierischen Lebens. Unumgänglich muss die Kultur, die das Kind erzieht, bereits das, was das Kind als normative Forderungen hervorbringt, in eine Sammlung von ethischen Normen für seine Behandlung umfunktioniert haben. Diese ermöglichen seine Entwicklung von körperlichen Basisfertigkeiten, welche notwendig für Überleben und soziale Wechselwirkung sind und die es sowohl als ein verletzliches Tier als auch als ein „vollwertiges" Mitglied seiner Familie, seiner Sippe, seines Stammes, seiner Gesellschaft (was auch immer ganze Mitgliedschaft in dieser Sippe oder Gesellschaft beinhaltet) schützt. Erziehung zum Selbstbewusstein schließt die Erkenntnis ein, wie genau Kräfte und Normen miteinander verflochten sind; daher kann das Kind die körperlichen Kräfte für Selbstbewusstsein nur erwerben, wenn es sich zugleich die Normen aneignet, die dem fort-
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dauernden Ausdruck dieser Kräfte als prima facie ethische Normen zu Grunde liegen, die soziale Wechselwirkung im Allgemeinen lenken. Diese normativen Erwartungen scheinen gut mit dem Urrecht zusammenzupassen, welches, zur Erinnerung, „das Recht auf die Fortdauer der absoluten Freiheit und Unantastbarkeit des Leibes" und „das Recht auf die Fortdauer unsers freien Einflusses in die gesammte Sinnenwelt" (S. 119) ist. Diese Rechte müssen mit dem gewöhnlichen Ausdruck menschlicher Kräfte verknüpft werden und ebendies in einem Rahmen, der ausreicht, um dem Kind eine Entwicklung zum selbstbewusst Handelnden zu erlauben. Daher stellt sich beim Zusammentreffen mit einem anderen menschlichen Leib, dessen Erscheinen selbst eine Aufforderung dazu ist, in einer rechts(be)achtenden Weise zu antworten, nicht die abstrakte Wahl, ob man dieses Wesen beachten sollte. Es gibt eine prima facie-Forderung, dass Respekt zu gewähren ist. Meine Behauptung, dass Normen, die Proto-Rechte zum Ausdruck bringen, prima facie Autorität innehaben müssen, ist daher mit ihrer Einbettung in die Routinen verbunden, durch welche Neuankömmlinge sozialisiert und zu Handelnden werden. Die Einbettung in diese Strukturen, die für gesellschaftliche Reproduktion auf individueller Ebene notwendig sind, macht den Hinweis darauf überflüssig, dass diese Normen als optional für ein Wesen angesehen werden könnten. Natürlich verleugnet die Art, in der eine Kultur diese prima facie Forderungen, wie Fichte betont, notwendigerweise ausdrückt, nicht die offensichtliche Tatsache, dass die meisten Kulturen provinziell geprägt sind und von Formen der Unterdrückung und Angst gekennzeichnet sind, welche zu kollektiver und individueller Blindheit und Vorurteilen fuhren. Das heißt lediglich, dass die Möglichkeit für falsche Anerkennung stets gegenwärtig, jedoch alles andere als unumgänglich ist. Gegenwärtig zu sein ist nicht gleichbedeutend mit legitim zu sein: In jeder Verleugnung von Universalität steckt ungeheuerliche Irrationalität. Fichtes Darstellung des Übergangs von Proto-Recht zu politischem Recht ist mangelhaft, weil er es versäumt, einen natürlichen, empirischen Ort für die Verwirklichung der ProtoRechte zu finden, und damit eine empirische Reihe von Umständen, in denen sich die Bemühungen von wechselseitiger Anerkennung, die bereits existieren, sich zu Gesetz und politischem Recht entwickeln. Das gemeinschaftliche Umfeld, das die Entwicklung des Kindes zu einem sozialisierten Mitglied der Gesellschaft ermöglicht, bietet solch einen Ort, eine Verbindungsstelle, in der das Gute des nackten Lebens des Individuums in die Mechanismen integriert wird, durch welche das Leben der Gesellschaft und daher der Gattung von Generation zu Generation übertragen wird. Wie niemand sonst besteht Fichte darauf, dass sich all dies im und durch den menschlichen Leib ereignet. So macht er die Vision des menschlichen Leibes selbst zur pulsierenden Beharrlichkeit der Würde des menschlichen Lebens im Allgemeinen. Aus dem Amerikanischen
von Alina Vaisfeld
MICHAEL QUANTE
„Der reine Begriff des Anerkennens" Überlegungen zur Grammatik der Anerkennungsrelation in Hegels Phänomenologie des Geistes
In der wirklichen Gemeinschaft erlangen die Individuen in und durch ihre Assoziation zugleich ihre Freiheit. Karl Marx/Friedrich Engels, Deutsche Ideologie
Die Phänomenologie des Geistes gehört nicht nur zu den wirkmächtigsten Werken Hegels, sie zählt unbestreitbar auch zu den einflussreichsten Werken der Philosophiegeschichte überhaupt.1 Ohne Zweifel hat dieses Buch Hegels bis heute nichts von seinem Gedanken provozierenden Reiz verloren.2 Es ist sicherlich keine Übertreibung zu behaupten, dass der Abschnitt, dem Hegel den Titel „Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewusstseins; Herrschaft und Knechtschaft" gegeben hat, in besonderem Maße die Aufmerksamkeit der Interpreten auf sich gezogen hat. Ob als Grammatik sozialer Konflikte, als Grundstruktur des Selbstbewusstseins oder als eigenständiges Prinzip der praktischen Philosophie: Die Konzeption der Anerkennung, die Hegel an dieser Stelle entfaltet, erfreut sich bis heute in besonderem Maße des Interesses von Philosophen, die in Hegels Werk eine systematische Grundlage für ihre eigenen Überlegungen suchen. Die Bandbreite von eher werkgetreuen bis hin zu eher assoziativ mit Hegels Überlegungen verbundenen Auslegungen ist dabei genauso groß wie die inhaltliche Akzentuierung, die diesem Teil von Hegels Argumentation in der Phänomenologie des Geistes beigefügt wird.3 Es wäre vermessen zu versuchen, den großen Traditionen der Auslegung der Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft einen neuen Strang hinzuzufügen. Genauso vermessen wäre es, zu beanspruchen, eine philosophische Bewertung der unterschiedlichen Zugangsweisen zu Hegels Text vorzunehmen mit dem Ziel zu entscheiden, in welche Richtung die angemessene Deutung zu gehen hat. Beides würde nicht nur den Rahmen eines einzelnen Beitrags bei weitem sprengen, sondern überstiege auch mein philosophisches Leistungsvermögen beträchtlich. Das Ziel dieses Beitrags ist daher wesentlich bescheidener. Im Grunde möchte ich versuchen, mir über den Sinn und die Tragweite einiger der zentralen Thesen Klarheit zu verschaffen, die den von Hegel aufgespannten Zusammenhang von Selbstbewusstsein, Geist Ich danke David Schweikard und Andreas Vieth für ihre kritische Lektüre und zahlreiche Verbesserungsvorschläge. Vgl. dazu die Beiträge in Moyar/Quante (2008). Vgl. hierzu Siep (2000).
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und Anerkennung betreffen. Mein Vorgehen lässt sich dabei durch zwei Auslassungen und eine fundamentale inhaltliche Prämisse charakterisieren. Die erste Auslassung besteht darin, dass ich nicht versuchen werde, Hegels Theorie der Anerkennung in ihrer ganzen Reichweite zu thematisieren.4 Es ist nicht nur so, dass Hegel in den zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlichten Jenaer Systementwürfen, die der Phänomenologie des Geistes vorausgehen, eine Theorie der Anerkennung entworfen hat, die umfangreicher und in vielen Hinsichten attraktiver ist als die entsprechenden Passagen in der Phänomenologie des Geistes. Es ist überdies so, dass Hegel mit der Theorie des objektiven Geistes eine Alternative zu seiner früheren praktischen Philosophie vorgelegt hat. Auch in den Grundlinien der Philosophie des Rechts finden sich viele Arten von Anerkennungsrelationen, ohne dass der Begriff der Anerkennung selbst aber zum organisierenden Prinzip wird. Diese Rolle ist dort dem Begriff des Willens vorbehalten. Ähnliches lässt sich auch für die Phänomenologie des Geistes festhalten: Es gibt auch in Abschnitten, die auf die hier zum Gegenstand gewählten folgen, zahlreiche Relationen, die sich als Anerkennungsrelationen verstehen lassen, ohne dass Hegel sich darum bemüht, diese systematisch eng auf dasjenige Geflecht von Bestimmungen zu beziehen, welches ich im Folgenden ausschließlich beleuchten werde. Die zweite Auslassung besteht darin, dass ich den systematischen Gesamtzusammenhang der von mir diskutierten Passage innerhalb der Phänomenologie des Geistes ausblenden und das Beweisziel Hegels, welches er mit seinem Werk als ganzes verfolgt, ignorieren werde.5 Methodologisch gesehen ist dies natürlich nicht unproblematisch. Ich denke aber, dass es möglich ist, eine solche Abstraktion vorzunehmen, da die Thesen, die mich im Folgenden interessieren, allesamt auf der gleichen ,Erzählebene' der Phänomenologie des Geistes liegen. Bekanntlich muss man in diesem Werk Hegels genau unterscheiden zwischen den Passagen, in denen Hegel die Selbsterfahrung des natürlichen Bewusstseins auf seinem Wege zum absoluten Wissen schildert, und solchen Passagen, in denen das über diesen Standpunkt bereits verfugende philosophische Bewusstsein dem Leser eine Art von Meta-Regieanweisungen gibt über die Struktur der begrifflichen Entwicklung, die sich in der Phänomenologie des Geistes vollzieht. Die Aussagen, die Gegenstand meiner Überlegungen in diesem Beitrag sind, gehören allesamt zu dieser zweiten Sorte, sodass ich zum einen die Komplikation der Perspektive des natürlichen Bewusstseins ignorieren kann. Zum anderen gehören die mich interessierenden Thesen Hegels alle zum gleichen Entwicklungsstadium, sodass ich mich auch nicht mit den komplizierten Problemen des begrifflichen Entwicklungszusammenhangs, den Hegel dialektisch entfaltet, befassen muss. Die doppelte Ausblendung des größeren Zusammenhangs und Kontextes von Hegels Überlegungen hat also zumindest den Vorteil, dass sich die Fokussierung auf ein einzelnes Problem methodologisch sauber durchführen lässt. Wie jeder weiß, der sich darum bemüht, Hegels Argumente im Detail zu verstehen, ist dies kein gering zu schätzender Gewinn. Wie ertragreich eine solche Detailstudie ist, hängt letztlich von dem Ausschnitt, der gewählt wird, und von der systematischen Perspektive, unter der man sich diesem Baustein aus Hegels Werk nähert, ab. Die fundamentale inhaltliche Prämisse, die meine Überlegungen im Folgenden leiten wird, lautet: „Der reine Begriff des Anerkennens" (129,30), den Hegel zu Beginn des Abschnitts „Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewusstseins; Herrschaft und Knechtschaft" entfaltet, enthält eine zentrale sozialontologische Einsicht Hegels: Vgl. hierzu Siep (1979), Wildt ( 1 9 8 2 ) und Honneth (1989). Vgl. hierzu Siep ( 2 0 0 0 ) und Pinkard (1994).
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Die soziale Konstituiertheit des individuellen Selbstbewusstseins.6 Mir geht es im Folgenden also weder um die ethische Dimension des Prinzips der Anerkennung, noch um die Dialektik der Anerkennung als Grammatik sozialer Konflikte. Ich möchte vielmehr verstehen, wie Hegel das Verhältnis von Selbstbewusstsein und Geist auffasst, wenn er es uns als „die Bewegung des Anerkennens" (128, 9-10) präsentiert. Eigentlich sollte man denken, dass dieser Aspekt von Hegels Philosophie in der Forschungsliteratur ausführlich expliziert worden ist, da jede Beschäftigung mit seiner Konzeption der Anerkennung die Klärung der ontologischen Verhältnisse zur Voraussetzung hat. Aber dieser Eindruck täuscht. So herrscht über den Status dieses Verhältnisses eine, mit Hegel gesprochen, .gedoppelte' fundamentale Unklarheit vor. Manfred Frank etwa wirft Hegel vor, in seiner Konzeption die Subjektivität in Intersubjektivität aufzulösen, während Jürgen Habermas im direkten Gegensatz dazu für Hegels Denken ab der Phänomenologie des Geistes konstatiert, dass der interaktivische und intersubjektivistische Ansatz der frühen Jenaer Jahre auf eine monologische Konzeption des Geistes reduziert wird.7 Neben dieser ersten Diskrepanz findet sich, vor allem mit den Namen Karl Popper oder Ernst Tugendhat verknüpft, eine zweite Ungereimtheit. Ich meine die Verschleifung von ethischen und ontologischen Fragestellungen.8 Hegels ontologische These der Dependenz des individuellen Selbstbewusstseins wird gedeutet als die ethische These des normativen Vorrangs des Sozialen vor individueller Autonomie, also als die offene Gesellschaft gefährdender Totalitarismus oder, wie Tugendhat formuliert, als „Gipfel der Perversion".9 Mit meinen Überlegungen möchte ich versuchen, die sachlichen Unklarheiten, von denen die inkompatiblen Deutungen von Frank und Habermas ihren Ausgang nehmen, durch eine detaillierte Analyse der Hegeischen Thesen aufzuklären. Dabei werde ich mich auf die ontologische Dimension des Problems beschränken und die Frage nach der ethischen Bewertung des von Hegel behaupteten Zusammenhangs von Ich und Wir ausblenden, um ein klareres Verständnis von Hegels Konzeption dieses Zusammenhangs zu gewinnen. Ich beginne mit dem „Begriff des Geistes" (127,18), der Hegel zufolge in der vollendeten Realisierung der drei Momente des Selbstbewusstseins schon „für uns vorhanden" (ebd.) ist. Zweitens werde ich den „Begriff des Selbstbewußtseins" (126, 31-32) analysieren, um dann im dritten Schritt Hegels Gleichsetzung „der Verdopplung des Selbstbewußtseins in seiner Einheit" mit dem reinen „Begriff des Anerkennens" (129, 30-31) als sozialontologische These deuten zu können.
I. Der Begriff des Geistes Schaut man an den Anfang des sechsten Abschnitts der Phänomenologie des Geistes, der dem Geist gewidmet ist, nach einer prägnanten Definition des Begriffs „Geist", so stellt man zuerst einmal fest, dass Hegel sich nicht sehr darum bemüht, dieses für seine Philosophie zentrale 6
Ich zitiere die Phänomenologie des Geistes mit Seiten- und Zeilenzahl nach folgender Ausgabe: Nachdruck der kritischen Edition G. W. F. Hegel, Gesammelte Werke, Band 9 in der Philosophischen Bibliothek des Meiner Verlags (Band 414), Hamburg 1988 und die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830) unter Sigle E mit Angabe der §§. Alle Hervorhebungen stammen von mir, M. Q.
7
Vgl. dazu exemplarisch Frank (1991), S. 31 und415 sowie Habermas (1968).
8
Vgl. dazu Quante (1997).
9
Vgl. Tugendhat (1979), S. 349; zur kritischen Zurückweisung dieses Vorwurfs, die sich auf eine gründliche Kenntnis der Hegeischen Texte stützen kann, vgl. Siep (1981) sowie Siep (1992), S. 217-239.
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Konzept explizit zu definieren. In dem den ersten Abschnitt zusammenfassenden Satz finden wir dann aber doch so etwas wie eine bündige Bestimmung: „Das an- und fürsichseiende Wesen aber, welches sich zugleich als Bewußtsein wirklich und sich sich selbst vorstellt, ist der Geist". (288, 32-34)
Einer der Gründe, weshalb Hegel den Begriff des Geistes an dieser Stelle nicht mehr explizit einfuhren muss, sondern ihn mit dieser Aussage, wie wir noch sehen werden, der Sache nach mittels der Struktur des Selbstbewusstseins erläutert, ist darin zu sehen, dass der Begriff des Geistes bereits im Kontext des Selbstbewusstseinskapitels eingeführt worden ist. Dieses expositorische Vorgehen Hegels lässt sich im Rahmen der Gesamtkomposition der Phänomenologie des Geistes rechtfertigen, weil der Begriff des Geistes auf der Erzählebene des philosophischen Bewusstseins eingeführt wird. Es bleibt aber die Frage nach den systematischen Gründen, die Hegel dazu bewogen haben, den Begriff des Geistes in das Zusammenspiel des Begriffs des Selbstbewusstseins und des reinen Begriffs des Anerkennens einzubeziehen. In den Textpassagen, die für uns relevant sind, findet der Vorgriff auf den Begriff des Geistes zweimal statt. Beide Male verweist Hegel auf seine Konzeption des Geistes, um die intersubjektive Struktur des Selbstbewusstseins, die sich in der Relation der Anerkennung manifestiert, zu charakterisieren. So bezieht er sich einmal fast beiläufig auf den Begriff des Geistes: „Die Auseinanderlegung des Begriffs dieser geistigen Einheit in ihrer Verdopplung stellt uns die Bewegung des Anerkennens dar." (128, 8-10, meine Hervorhebung)
Eine genauere inhaltliche Deutung dieser Aussage kann erst im dritten Schritt unserer Überlegungen erfolgen, wenn wir uns dem reinen „Begriff des Anerkennens" (129, 30) zuwenden. Die zweite Bezugnahme Hegels auf seine Konzeption des Geistes findet sich im Zusammenhang seiner Explikation des Begriffs des Selbstbewusstseins und fallt ausführlicher aus. Nachdem er, was wir im zweiten Schritt detailliert analysieren werden, entwickelt hat, dass sich die Struktur des Selbstbewusstseins nur in der Interaktion zweier Selbstbewusstseine manifestieren kann, schreibt Hegel: „ Hiemit ist schon der Begriff des Geistes für uns vorhanden. Was für das Bewußtsein weiter wird, ist die Erfahrung, was der Geist ist." (127, 18-19)
Hegel unterscheidet, darauf möchte ich aufmerksam machen, an dieser Stelle sehr genau die Ebene der begrifflichen Zusammenhänge, wie sie sich für das philosophische Bewusstsein darstellen, von der Erfahrung des (natürlichen) Bewusstseins selbst. Auch die ersten Absätze des Abschnitts „Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußtseins; Herrschaft und Knechtschaft" (127, 33 bis 129, 29) bewegen sich auf der Ebene des philosophischen Bewusstseins. Dies wird dadurch deutlich, dass Hegel anschließend auf die andere Ebene überleitet, indem er uns mitteilt, dass der „reine Begriff der Anerkennung, der Verdopplung des Selbstbewußtseins in seiner Einheit", der bis dahin Gegenstand der Darstellung war, „nun zu betrachten" ist, „wie sein Prozeß für das Selbstbewußtsein erscheint" (129, 30-32). Hegels Darstellung der Zusammenhänge von Selbstbewusstsein, Anerkennung und Geist als Gegenstände der Erfahrung des natürlichen Bewusstseins ist, wie eingangs gesagt, nicht Gegenstand dieses Beitrags. Im Folgenden geht es ausschließlich um die von Hegel auf dem
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Standpunkt des philosophischen Bewusstseins formulierten Zusammenhänge, die ich als sozialontologische Konzeption deuten möchte. Damit komme ich zurück zu dem Zitat, in dem Hegel den „Begriff des Geistes" explizit einfuhrt und den Geist definiert als „absolute Substanz, welche in der vollkommenen Freiheit und Selbständigkeit ihres Gegensatzes, nämlich verschiedener für sich seiender Selbstbewußtseine, die Einheit derselben ist; Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist". (127, 2 0 - 2 4 )
Hegel formuliert hier eine ontologische These: Der Geist wird, ganz analog zu den späteren Ausführungen im Geistkapitel der Phänomenologie des Geistes, als absolute Substanz charakterisiert. Diese Substanz wird bestimmt als Einheit von zwei sich voneinander unterscheidenden Selbstbewusstseinen. Diese Einheit umschreibt Hegel mit der berühmten Redewendung vom „Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist", deren Berühmtheit meines Erachtens im umgekehrten Verhältnis zur Klarheit ihres sachlichen Gehalts steht. Es liegt auf der Hand, dass die einzelnen Selbstbewusstseine als Momente ontologisch unselbständig sind gegenüber dem Geist als der absoluten Substanz. Zugleich werden diese Selbstbewusstseine als dem Geist gegenüber frei und selbständig charakterisiert. Außerdem wird von Hegel behauptet, dass die individuellen Selbstbewusstseine in ihrer Freiheit und Selbständigkeit zu begreifen sind als der Gegensatz des Geistes. Und schließlich heißt es, dass der Geist die Einheit der selbständigen Selbstbewusstseine ist. Diese ontologische Konstellation lässt sich, so meine Vermutung, weder zureichend nach dem Teil-Ganzes- noch ausschließlich nach dem Substanz-Akzidenz- bzw. Substanz-Moment-Modell philosophisch begreiflich machen. Hegels Rede vom „Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist", ist Ausdruck seines Versuchs, diesen ontologischen Zusammenhang in seiner spezifischen Struktur einsichtig werden zu lassen. Was aber ist mit dieser Redewendung genau gemeint? Im Rest dieses Beitrags wird auf der Grundlage von Hegels Analyse des Begriffs des Selbstbewusstseins einerseits und seiner Explikation des reinen Begriffs des Anerkennens andererseits eine plausible Deutung dieser berühmten Formulierung entwickelt, die zugleich die Grundlage einer systematisch aktuellen und attraktiven sozialontologischen Position bereitstellt.
II. Der Begriff des Selbstbewusstseins Um Licht in das Dunkel zu bringen, müssen wir uns nun über den Begriff des Selbstbewusstseins verständigen, wobei zwei Aspekte von Hegels Ausführungen, die er in den ersten Absätzen der Einleitung zum Kapitel „Die Wahrheit der Gewissheit seiner selbst" auf komplizierte Weise einführt, ausgeblendet werden: Weder Hegels Begründung, dass der Begriff des Selbstbewusstseins sich als „Leben" (122, 10) manifestieren muss, noch der Zusammenhang von Selbstbewusstsein und „Begierde" (125, 37) können im Folgenden rekonstruiert werden.10 Die Tatsache, dass empirische Selbstbewusstseine als lebendige Organismen existieren, wird daher akzeptiert, ohne dass Hegels Bemühungen, dieses Faktum philosophisch einsich-
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Vgl. dazu Brandom (2004).
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tig zu machen, weiter thematisiert wird.11 Damit entkoppeln wir den Begriff der „Gattung", der für die Analyse von Hegels Dialektik des Anerkennens und seines Begriff des Geistes noch relevant werden wird, von möglichen naturphilosophischen Konnotationen und deuten ihn lediglich nach dem Schema Universale und Instantiierung. 12 Mit Bezug auf die Verfasstheit des Selbstbewusstseins als Begierde wird Hegels These, dass Selbstbewusstsein primär als ein praktisches Phänomen, d. h. als eine volitionale Einstellung zu analysieren ist, für die weiteren Überlegungen als Prämisse akzeptiert. 13 Hegel schließt hier an Überlegungen Fichtes an, der sowohl in der Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre aus dem Jahre 1796 wie auch in seinem System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre, das er zwei Jahre später publiziert hat, zeigen kann, dass Selbstbewusstsein nur auf der Grundlage volitionaler Einstellungen möglich ist. In Hegels Jenaer Philosophie des Geistes, die in den Jahren 1805-1806 entstanden, aber zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlicht worden ist, findet sich eine Analyse des Willens, die in diesem Punkt mit der späterer Willenstheorie aus den Grundlinien der Philosophie des Rechts übereinstimmt. 14 Aufgrund der praktischen Ausgerichtetheit des Selbstbewusstseins qua Willen ist es möglich zu zeigen, dass die Struktur des Bewusstseins ein integraler Bestandteil des Selbstbewusstseins bleibt. Mit anderen, nicht Hegeischen Worten gesagt: Sich selbst als wollendes Subjekt zu begreifen, das seine Absichten durch Handeln realisiert, impliziert die Annahme einer vom Wollen unabhängigen Realität.15 Diese Annahme ist nicht nur eine Vorbedingung für das Selbstverständnis des Handelns, sondern bewahrt auch die Grundstruktur des Bewusstseins, welches sich ja gerade durch die Unterstellung eines von den Subjektivitätsleistungen unabhängigen Objektbereichs auszeichnet. Zugleich ist es, wie Hegel mit Fichte meint, nur mithilfe eines solchen Gegenstandsbewusstseins möglich, die Grundstruktur des Selbstbewusstseins zu explizieren. Ich übernehme diese für den Deutschen Idealismus insgesamt charakteristische Annahme, die man als Primat des Praktischen und als seine pragmatistische Wurzel bezeichnen kann, ohne sie weiter zu begründen. 16 Hegel deutet Selbstbewusstsein nach dem Subjekt-ObjektModell und ist deshalb darauf angewiesen, die Annahme eines selbständigen Objekts als integralen Bestandteil in sein Selbstbewusstseinsmodell zu integrieren. Dies gelingt ihm durch die Annahme der volitionalen Verfasstheit des Selbstbewusstseins. Ich werde mich im Fol-
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Eine Prüfung der Hegeischen Argumentation müsste sich unweigerlich damit auseinandersetzen, ob dieser Zusammenhang begrifflich notwendig oder kontingent ist, womit die Frage nach der Möglichkeit von „artificial life" und von mit Selbstbewusstsein ausgestatteten Maschinen im Raum stünde.
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In seinem späteren System deutet Hegel das naturphilosophische Verhältnis einzelner Organismen der gleichen Art als Vorstufe von Anerkennungsprozessen; vgl. E § 367 u. § 369. Im Gesamtgang der Phänomenologie wird Selbstbewusstsein als ein epistemologisches Modell eingeführt. Dies ist aber mit der obigen Aussage kompatibel, weil Hegel zufolge die volitionale Struktur eine kognitive Dimension aufweist; ich danke Rolf-Peter Horstmann, der mich zu dieser Klarstellung veranlasst hat. Vgl. dazu Hegel (1987). Dieses Argument entwickelt Hegel in seiner späteren Rechtsphilosophie ausführlich; vgl. dazu Quante, M. (2007), Kapitel 1. Diese pragmatistische Tiefendimension der Hegeischen Philosophie ist von der Anwendung pragmatistischer Argumentationsfiguren innerhalb des Systems zu unterscheiden; vgl. dazu Quante (2004a) sowie Quante (2005).
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genden ebenfalls des Subjekt-Objekt-Modells bedienen und erst im dritten Schritt zur Analyse erstpersönlicher propositionaler Einstellungen übergehen. Wer in der deutschen Sprache kompetent und korrekt „ich" verwendet, der referiert damit erstens direkt, d. h. ohne Anwendung von identifizierenden Kennzeichnungen, auf sich selbst.17 Zweitens weiß der Sprecher, dass er sich mit „ich" auf sich selbst bezieht. Diese beiden Aspekte der Selbstbezugnahme in der ersten Person Singular finden sich in Hegels Charakterisierung des Ich wieder, wenn er schreibt: „Ich ist der Inhalt der Beziehung, und das Beziehen selbst." (120, 3 1 - 3 2 )
Etwas später stellt Hegel klar, dass man im Akt der direkten Selbstbezugnahme „sich als reines Ich zum Gegenstand" (125,28) hat, wodurch die Rolle von Ich als Inhalt näher spezifiziert ist. Zugleich stellt Hegel heraus, dass er mit „Ich" den Akt des sich auf sich Beziehens selbst meint. Er expliziert dann seine Verwendung von „ich" auf folgende Weise weiter: „Es ist es selbst gegen ein anderes, und greift zugleich über dies andre über, das für es ebenso nur es selbst ist." (120, 3 2 - 3 4 )
Da Selbstbewusstsein nach dem Subjekt-Objekt-Modell gedacht ist, muss die selbstbezügliche Bezugnahme sich auf etwas Beziehen, was qua Bezugsobjekt unterschieden ist vom Akt des Sich-Beziehens. Zugleich wird dieses Bezugsobjekt durch den selbstbezüglichen Akt konstituiert und von dem diesen Akt vollziehenden Subjekt auch als solchermaßen konstituierter Gegenstand gewusst. Deshalb greift das sich beziehende Ich über dies andere (= sich selbst in der Rolle des Inhalts der Bezugnahme) über und weiß sich dabei, dies ist die mit der korrekten Verwendung von „ich" garantierte Zusatzbedingung, als mit dem Gegenstand identisch. Die strukturellen Vorbedingungen für Selbstbewusstsein sind also, dass es den Unterschied zwischen der Rolle des Sich-Beziehens und der Rolle des Bezugsgegenstand-Seins gibt (hierdurch wird die Struktur des Bewusstseins im Selbstbewusstsein bewahrt). In der Struktur des Selbstbewusstseins muss dieser vorausgesetzte Unterschied zugleich ontologisch herabgesetzt, oder wie Hegel sagt, zu einem „Moment" der Gesamtstruktur werden (vgl. 121, 9).18 Nur unter dieser Voraussetzung bzw. in dieser Form kann das Subjekt sich wissend auf sich selbst als sich selbst beziehen. Die Selbständigkeit des Gegenstands und die Aufhebung dieser Selbständigkeit können, hierin folgt Hegel Fichte, nur zusammengebracht werden, wenn die erstpersönliche Selbstbezugnahme als volitionale Einstellung, nicht etwa nur als epistemische Einstellung, gedeutet wird. Und da sich das Ich als die Einheit dieser beiden Vorkommnisse im Moment des Sich-Beziehens und des Bezugsgegenstand-Seins weiß, ist es sich darin als „Gattung", d. h. als Universale mit Instantiierungen gegeben.19 17
Damit sind eine systematische und eine interpretatorische These formuliert, die ich in diesem Beitrag nicht einholen kann. Systematisch ist die These, dass „ich" direkt referiert, in der gegenwärtigen sprachanalytischen Philosophie nicht unbestritten geblieben; vgl. für einen Überblick Castañeda (1987) sowie - mit Bezug auf Hegels spätere Willenstheorie - Quante (2007), S. 61-64.
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Unter „ontologisch herabsetzen" ist dabei die These zu verstehen, dass die fraglichen Entitäten nicht vollkommen unabhängig voneinander sind, sondern in einer ontologischen Dependenzbeziehung stehen.
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Hegel nutzt fur seine Analyse des Selbstbewusstseins die Differenz von „ich" als allgemeiner indexikalischer Ausdruck (type) und als konkret individuelles Äußerungsvorkommnis (token) aus, die er auch schon bei seiner Kritik der sinnlichen Gewissheit zu Beginn der Phänomenologie des Geistes in Anspruch
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Um nun den sachlichen Grund dafür zu erkennen, weshalb die Struktur des Selbstbewusstseins sozial konstituiert sein muss, benötigen wir eine weitere Prämisse, die Hegel ebenfalls von Fichte übernimmt. Die erstpersönliche Selbstbezugnahme und die darin sich ergebende Selbstkonzeptualisierung eines Selbstbewusstseins als Ich wird als Autonomie gedeutet, d. h. als Akt der Selbstkonstitution der Bestimmungen, die das Ich sich selbst qua Ich zuschreibt. 20 Mit Hegel formuliert: Ein Ich ist „in sich beschlossen, und es ist nichts in ihm, was nicht durch es selbst ist" (128, 3 6 - 3 7 ) .
Fragt man nun, von welcher Art eine Bezugnahme sein muss, damit eine Struktur entsteht, die als Instantiierung dieses Begriffs des Selbstbewusstseins gelten kann, so kann man mit Hegel festhalten, dass ein Selbstbewusstsein sein Bezugsobjekt in seiner Selbständigkeit negieren muss. Es muss sich als identisch mit ihm begreifen, damit Selbstbewusstsein vorliegt. Zugleich muss diese Aufhebung der Selbständigkeit des Bezugsobjekts mit der Überwindung eines Widerstands, in dem sich die Gegenständlichkeit oder Selbständigkeit des Gegenstandes zeigt, verbunden sein. Dies ist der sachliche Kern dafür, dass Hegel die Begierde, als Grundform aller volitionalen Einstellungen, als notwendiges Implikat von Selbstbewusstsein ansetzt. Zugleich soll dieser Gegenstand aber nichts anderes als das reine Ich, also der Gehalt der autonomen Selbstbezugnahme, sein. Deshalb ist die Struktur des Selbstbewusstseins nur unter zwei Bedingungen instantiiert: Der aufzuhebende Gegenstand des Selbstbewusstseins muss erstens gleichartig, d. h. ein Selbstbewusstsein, sein (sonst wäre die Identitätsannahme und die darin implizierte Annahme der Gattungsidentität nicht gewährleistet). Und da qua Voraussetzung Autonomie zum Wesen der erstpersönlichen Selbstbezugnahme gehört, darf die durch die Begierde erfolgende Negation der Selbständigkeit des Gegenstandes zweitens kein äußerer Einoder Übergriff sein. Denn würde das Ich qua wollendes Subjekt seinen Gegenstand als von außen bestimmt begreifen, verfehlte es die adäquate Selbstkonzeptualisierung seiner selbst als sich selbst bestimmendes Wesen. Dieses aber, davon sind Fichte und Hegel überzeugt, ist die Essenz der erstpersönlichen Selbstbezugnahme. Ein solchermaßen autonomes Selbst, welches in der volitionalen Einstellung die vorausgesetzte Selbständigkeit seines Gegenstandes negiert, kann in dieser Aufhebung nur dann eine adäquate Selbstbezugnahme herstellen, wenn der Bezugsgegenstand erstens als ein Selbstbewusstsein erkannt und anerkannt wird, und wenn dieser Bezugsgegenstand zweitens die in dieser Struktur erforderliche Negation autonom, d. h. an sich selbst vollzieht (vgl. 126, 15-20). Unter den Prämissen, die Hegel fur eine Instantiierung des Begriffs des Selbstbewusstseins ansetzt, kann dieser Begriff nur in der Interaktion zweier Selbstbewusstseine instantiiert sein. Mit anderen Worten: Der Begriff des Selbstbewusstseins ist nur dann adäquat instantiiert, wenn „ein Selbstbewusstsein für ein Selbstbewusstsein" (127,
genommen hat. Für den weiteren Entwicklungsgang im Selbstbewusstseinskapitel stellt sich dann die Aufgabe zu zeigen, wie diese Differenz auch für einzelne empirische Selbstbewusstseine selbst thematisch werden kann. Hierfür ist, so Hegels Vorschlag, sowohl die raumzeitlich leibliche Individuiertheit eines Selbstbewusstseins A wie auch eine inhaltliche Selbstabgrenzung von A gegenüber einem anderen Selbstbewusstsein Β notwendig. Obwohl die Analyse des Selbstbewusstseins und die Analyse der Autonomie von Fichte und Hegel sachlich eng miteinander verwoben werden, handelt es sich doch um zwei verschiedene philosophische Aufgaben, die in einer systematisch ausgerichteten Interpretation zu unterscheiden, wenn auch nicht völlig voneinander zu trennen sind.
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10-11) ist. Dies ist der Sinn von Hegels Bemerkung, dass das Selbstbewusstsein „seine Befriedigung nur in einem anderen Selbstbewusstsein" erreicht (126, 28-30). Mit diesem Ergebnis können wir nun verstehen, weshalb die adäquate Instantiierung von Selbstbewusstsein der Sache nach bereits die Struktur des Geistes, im anderen bei sich selbst zu sein, aufweist. Offen ist aber noch, wie dies mit der Verschränkung von Ich und Wir zusammenhängt. Dies wird sich in einem dritten Analyseschritt aufklären lassen, wenn wir die Struktur der „Bewegung des Anerkennens" mit hinzuziehen.
III. Der reine Begriff des Anerkennens Bis an diese Stelle, so lassen sich die Überlegungen der ersten beiden Schritte zusammenfassen, ergibt sich folgende Situation. Der Begriff des Selbstbewusstseins, oder das Selbstbewusstsein als Universale, kann nur in einer Konstellation instantiiert werden, in der zwei empirische Selbstbewusstseine in einer bestimmten Art von Interaktion stehen. Diese Verschränkung von universaler Ebene des Selbstbewusstseins und konkreten, jeweils für sich freien empirischen Selbstbewusstseinen, die zugleich in einer bestimmten Art von Interaktion stehen, erfüllt die Charakterisierung, die Hegel vom Geist als absoluter Substanz gegeben hat. Damit können wir die Formel vom Ich, das Wir ist, und vom Wir, das Ich ist, einer ersten Deutung zufuhren. Die Instantiierung des Begriffs des Selbstbewusstseins erfordert eine Gesamtstruktur, die nur durch eine Interaktion zweier Selbstbewusstseine realisierbar ist. So verstanden, kann der Begriff des Selbstbewusstseins, das Ich, nur als Wir, instantiiert sein. Instantiieren aber zwei Selbstbewusstseine diese geforderte Struktur, dann sind sie innerhalb dieser Struktur eine Instantiierung des Begriffs des Selbstbewusstseins: also ein Wir, das zugleich Ich ist. Folgt man der bis hierhin entwickelten Analyse, dann zeigen Hegels Überlegungen, dass nicht jede Interaktion eines Selbstbewusstseins mit einem anderen Selbstbewusstsein eine Instantiierung des Begriffs des Selbstbewusstseins darstellt. Hierfür ist eine spezifische Art der Interaktion erforderlich. Für diese steht in dem berühmten Hegeischen Slogan das Wir, über dessen Beschaffenheit wir bisher jedoch noch nicht sehr viel erfahren erhaben. Möchte man die Rede von Wir nicht auf die These reduzieren, dass der Begriff des Selbstbewusstseins durch jede Art von Interaktion zwischen mindestens zwei Selbstbewusstseinen instantiiert wird, dann muss man erstens fragen, welche Art von Interaktion Hegel mit der Rede von „Wir" vor Augen hat. Hier kommt dann, so mein Deutungsvorschlag, Hegels Analyse der „Bewegung des Anerkennens" (128, 9 - 1 0 ) ins Spiel. Denn, so meine erste These, in dem vierten Doppelsinn der Bewegung des Anerkennens, den Hegel in der Phänomenologie identifiziert, finden wir die spezifische Art der Interaktion zwischen zwei Selbstbewusstseinen, die notwendig und hinreichend dafür ist, dass der Begriff des Selbstbewusstseins instantiiert wird. Hegel liefert also, so kann man diesen Punkt formulieren, eine anerkennungstheoretische Analyse von Wir-Intentionen, die fur die gegenwärtige sozialphilosophische Diskussion um Wir-Intentionen und kollektives Handeln von systematischem Interesse ist. Darüber hinaus steht ein Problem im Raum, das in der Diskussion von Hegels praktischer Philosophie schon lange Gegenstand heftiger Kontroversen gewesen ist. Die zweite zu klärende Frage lautet, wie Hegel sich die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen individuellem Selbstbewusstsein und Geist vorstellt. Unbestreitbar findet sich die Rede vom Geist als absoluter Substanz und von den einzelnen Selbstbewusstseinen als bloßen Momenten bei ihm. Manche
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haben dies als Ausdruck einer ethischen Abwertung des individuellen Subjekts zugunsten einer - irgendwie verstandenen - kollektiven Entität bzw. als Ausdruck von Totalitarismus gedeutet.21 Ich werde die ethischen Aspekte dieser Fragestellung hier nicht diskutieren, sondern mich auf eine Klärung der ontologischen Verhältnisse beschränken, wie sie in der Phänomenologie des Geistes von Hegel benannt werden. Denn wir finden dort, so meine zweite These, eine explizite Aussage über die beiden Arten von Relationen, mittels derer Selbstbewusstseine konstituiert werden.
(i) Hegels Analyse des Wir Die „vielseitige und vieldeutige Verschränkung" (127, 36-128, 1) der Interaktion der beiden empirischen Selbstbewusstseine A und B, durch welche der Begriff des Selbstbewusstseins nur instantiiert werden kann, muss Hegel zufolge als „Bewegung des Anerkennens" (128, 9-10) dargestellt werden. In ihr manifestiert sich der „reine Begriff des Anerkennens" (129, 30), d. h. Anerkennung in der Form, wie sie dem philosophischen Bewusstsein einsichtig ist. Die Perspektive von A und B, die später im Text Gegenstand z. B. der Dialektik von Herr und Knecht sein wird, spielt in unserem Kontext also noch keine Rolle. Hegel streicht an dieser Bewegung des Anerkennens vier „Doppelsinne" heraus.22 Die ersten drei betreffen die dialektische Grundstruktur des innerhalb des Subjekt-Objekt-Modells konzipierten Selbstbewusstseins, erstens einen Gegenstand als Objekt zu benötigen, der zweitens in seiner Selbständigkeit negiert werden muss, und diese Negation dabei drittens autonom an sich selbst zu vollziehen hat. Diese Struktur ist uns bereits bei der Analyse des reinen Begriffs des Selbstbewusstseins begegnet und hilft uns deshalb an dieser Stelle nicht mehr weiter. Der vierte Doppelsinn aber, den Hegel dann (128, 31-129,11) expliziert, ist von anderer Art als die anderen drei. Hegel hebt dies selbst hervor, indem er daraufhinweist, dass bis dahin (bei den ersten drei Doppelsinnen) die Anerkennung nur vorgestellt worden ist „als das Tun des Einen" (128,33). Da die dritte konstitutive Bedingung fur Selbstbewusstsein aber verlangt, dass das zum Gegenstand gemachte Selbstbewusstsein seine Negation selbst durchfuhrt, ist es begrifflich notwendig, dass dieses Anerkennen von A „ebenso wohl sein Tun als das Tun des Anderen" (128, 34-35), also ein Tun von Β ist. Nun greift Hegel die Perspektive von A und Β auf das eigene und das Tun des Anderen auf, um die Interdependenz der beiden Anerkennungshandlungen von A und Β als „Teile" einer Anerkennungsbewegung zu explizieren. Zu dieser Rede von „Teilen" werde ich gleich abschließend noch etwas zu sagen haben. An dieser Stelle möchte ich aber erst die Grammatik des Wir explizieren, die sich meines Erachtens in folgender Aussage Hegels finden lässt: „Jedes sieht das andre dasselbe tun, was es tut; jedes tut selbst, was es an das andre fodert; und tut darum, was es tut, auch nur insofern, als das andre dasselbe tut" (129, 2-5).
Um die Struktur nicht komplizierter zu machen als sie der Sache nach ohnehin schon ist und um die erstpersönliche Selbstbezugnahme explizit artikulieren zu können, beschreiben wir diesen Vorgang aus der Perspektive von A: 21 22
Vgl. dazu Quante (2004b), Quante (2005) und Quante/Schweikard (2005). Von einer „Bewegung" ist hier im doppelten Sinne der Entfaltung des Begriffs „Anerkennung" durch eine soziale Interaktion des Anerkennens die Rede.
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(i) Ich erkenne, dass Β mit einer bestimmten Absicht X mir gegenüber handelt, die erstens die Einsicht enthält, dass ich selbst faktisch mit der gleichen Absicht Χ Β gegenüber handele, die zweitens einfordert und voraussetzt, dass ich eine spezifische Einstellung Y gegenüber Β einnehme, und die drittens das Motiv für Bs Handlung ist, in der er seine Absicht X realisiert. (ii) Ich behandele Β faktisch und absichtlich auf die X-Weise und nehme ihm gegenüber absichtlich die Y-Einstellung ein, weil Β dies tut und weil Β diese spezifische Handlung von mir einfordert. A und Β begegnen sich hier mit der Einstellung, sich selbst und den Interaktionspartner als autonomes Selbstbewusstsein zu begreifen. Die Interaktion impliziert damit zum einen die Anerkennung der freien Selbstbestimmung des jeweils anderen, sodass die Interaktion eine Selbstbeschränkung auf beiden Seiten impliziert. Zum anderen enthält diese Einstellung, weil A und Β sich selbst als solche autonomen Akteure begreifen, an den anderen die Aufforderung, sich zu beschränken, um den Freiraum des jeweils anderen offen zu halten. Diese Strukturanalyse der Absichten von A und Β thematisiert dabei nicht die konkreten Inhalte ihrer intentionalen Einstellungen, sondern Präsuppositionen ihrer Anerkennungs- bzw. Kommunikationshandlung. Ob ich Β auffordere, die Tür zu öffnen, indem ich mit Gründen an ihn als rationales Subjekt appelliere, oder ob ich von Β aufgefordert werde, seine moralischen Ansprüche zu respektieren, macht hierfür zunächst keinen Unterschied. Wichtig ist, dass A und Β ihre Einflussnahme auf den jeweils anderen so begreifen und zum Ausdruck bringen, dass der Adressat erkennt, dass ihm der für ein autonomes Subjekt notwendige Raum zur freien Selbstbestimmung zuerkannt wird.23 In dieser Struktur begreifen A und Β sich selbst und den Anderen als autonomes Selbstbewusstsein, sodass eine Verschränkung24 von erstpersönlichen Ich-Intentionen stattfindet: „Sie anerkennen sich, als gegenseitig sich anerkennend". (129, 2 8 - 2 9 )
Aus der Sicht des philosophischen Bewusstseins, nicht aber aus der Sicht von A und Β selbst, ist damit die Struktur des Wir und damit zugleich auch die Struktur des Geistes in ihrer Grundform instantiiert.25 Denn die Erfolgsbedingung dafür, dass diese Grundstruktur instantiiert werden kann, ist die symmetrische Verschränkung der Handlungen von A und Β oder wie Hegel sagt: „das einseitige Tun wäre unnütz; weil, was geschehen soll, nur durch beide zu Stande kommen kann" (129, 5 - 7 ) .
Hierbei handelt es sich, wie Hegel an gleicher Stelle ausführt, um eine spezifische Form von Handeln, das „ungetrennt ebenso wohl das Tun des Einen als des Andern ist" (129, 10-11). 23
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Hier besteht sachlich ein enger Bezug zur Grice'schen und Meggleschen Analyse von Kommunikationsabsichten; vgl. dazu Meggle (1983). Die Ich-Intentionen von A und Β sind deshalb miteinander verschränkt, weil im Gehalt von As Ich-Intention der Gehalt von Bs Ich-Intention vorkommt (und umgekehrt). Damit geht Hegel über die individualistische Analyse von Kommunikation und kollektiven Handlungen genauso hinaus wie über Searles Behandlung des Wir als einer nicht weiter analysierbaren black-box.
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Hegels Darstellung der Art und Weise, wie dieser „Prozeß fur das Selbstbewußtsein erscheint" (129, 32), ist nicht mehr Thema dieses Beitrags. Der Entwicklungsgang muss, soviel ergibt sich aus der Struktur des reinen Begriffs der Anerkennung, dazu führen, dass die für das philosophische Bewusstsein bereits instantiierte Wir-Struktur auch für die beiden Relata dieser Struktur, also fur A und Β selbst zum Gegenstand wird. Mit anderen Worten: Der weitere Gang der Hegeischen Analyse muss zeigen, auf welche Weise A und Β von der Verschränkung ihrer Ich-Intentionen zu einer expliziten Formulierung einer Wir-Intention, in welcher die präsuppositionelle Grundstruktur, die Hegel aufgewiesen hat, fur die beteiligten Akteure selbst thematisch wird, kommen können. Das andere noch offene Problem ist das Folgende. Bietet Hegel uns eine Antwort auf die Frage nach den ontologischen Verhältnissen der beiden Handlungen von A und B? Diese Frage soll Gegenstand der abschließenden Überlegungen sein.
(ii) Zwei Arten von Anerkennungsrelationen Ich möchte vorschlagen, den Satz, mit dem der Abschnitt über die „Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußtseins" beginnt, als Hegels Antwort auf dieses Problem zu deuten. Dieser den Abschnitt eröffnenden Aussage kommt die gleiche Funktion zu, welche die Haupttexte der Paragraphen in den Grundlinie und der Enzyklopädie haben: Sie bringen Hegels Kernthesen und Beweisziele zum Ausdruck: „Das Selbstbewußtsein ist an und für sich, indem, und dadurch, daß es für ein anderes an und für sich ist; d. h. es ist nur als ein Anerkanntes" (127, 33-35)
In der Passage nach dem Semikolon finden wir die These, dass Selbstbewusstsein durch Anerkennungsrelationen konstituiert ist. Eine Entität ist nur innerhalb einer Anerkennungsrelation ein Selbstbewusstsein. Mit Fichte gesprochen: Sein Sein besteht in seinem Anerkanntsein. Die englische Übersetzung von Miller ist an dieser Stelle, obwohl sie die Konstitutionsbeziehung auch mit zum Ausdruck bringt, nicht ganz präzise, da sie nur eine notwendige Bedingung formuliert. Dort heißt es: „it exists only in being acknowledged" (Miller sec. 178). Eine kleinere Interpretationsschwierigkeit bildet der Beginn der Aussage. Wir können den Satz entweder so lesen, dass Hegel über „ein empirisches Selbstbewusstsein A" spricht, welches von einem anderen empirischen Selbstbewusstsein Β anerkannt wird. Möglich wäre auch die Lesart, ein Anerkennungsverhältnis zwischen dem Selbstbewusstsein als Universale und einem für das Universale anderen zu suchen. Diese Deutung scheint mir aber im fraglichen Kontext nicht sinnvoll zu sein, da sie auf eine Entwicklung verweist, die erst im Geist-Kapitel vollzogen wird.26 Nehmen wir also Hegels Aussage so, dass sie von der Anerkennungsbeziehung zwischen zwei empirischen Selbstbewusstseinen A und Β handelt. Der für meine Zwecke zentrale Punkt ist nun, dass Hegel in diesem Satz zwei Arten von Anerkennungsrelationen unterscheidet: die Indem- und die Dadurch-dass-Relation. Auf diese Weise erhalten wir zwei Aussagen: 26
Sie passt allerdings zu Hegels Explikation des Begriffs des Geistes (vgl. (127, 20-24) und gehört sachlich in den Kontext einer Erörterung der Frage, wie sich empirische Selbstbewusstseine zu ihrer eigenen sozialen Konstituiertheit verhalten. Mit den Worten des letzten Abschnitts gesprochen: Wie empirische Selbstbewusstseine von der der Verschränkung ihrer Ich-Intentionen zur expliziten Formulierung von Wir-Intentionen kommen, in denen die intersubjektiven Präsuppositionen für sie selbst gegeben sind.
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(AR-1) Ein Selbstbewusstsein ist an und fur sich, indem es für ein anderes an und für sich ist. (AR-2) Ein Selbstbewusstsein ist an und fur sich, dadurch, dass es für ein anderes an und für sich ist. Der These, Hegel unterscheide hier zwei Arten von Anerkennungsrelationen, könnte man entgegenhalten, es handele sich hier lediglich um eine rhetorische Verstärkung oder eine explikative Wendung Hegels. Für diese schlichte Deutung ließe sich ins Feld führen, dass der semantische Gehalt von „indem" eine Teilmenge des semantischen Gehalts von „dadurch, dass" ist.27 Gegen diesen Einwand möchte ich drei Entgegnungen vorbringen. Erstens findet sich, soweit ich weiß, im ganzen Hegeischen Werk keine Aussage, in der er sowohl „indem" als auch „dadurch, dass" zugleich verwendet. Angesichts der prominenten Stelle unserer Aussage halte ich dies nicht für einen Zufall. Zweitens deckt sich die Semantik beider Relationen eben nur teilweise, sodass man mit gutem Recht auch fragen kann, ob Hegel hier nicht gerade die semantische Differenz aktiviert. Und schließlich gibt es drittens gute systematische und für Hegel auch nahe liegende Gründe, diese semantische Differenz zu verwenden, um seine spezifische These der intersubjektiven Konstituiertheit von Selbstbewusstsein durch Anerkennung zum Ausdruck zu bringen. In gleicher Weise hat es auch der Übersetzer der englischen Ausgabe der Phänomenologie des Geistes gesehen; Miller übersetzt wie folgt: „Self-consciousness exists in and for itself when, and by the fact that, it so exists for another". (Miller Sec. 178)
Auch wenn man sagen muss, dass die englische Übersetzung den Sinn des deutschen Satzes mehr erahnen lässt als wiedergibt, hinsichtlich der Übersetzung von „indem" als „when" und „dadurch, dass" als „by the fact that" trifft Miller etwas ganz wesentliches. „Indem" drückt eine Gleichzeitigkeit aus, die Miller durch „when" einfangt. Dies entspricht auch der lateinischen Wurzel interim bzw. interea: Ersteres meint das Hereinfallen eines Ereignisses in den Zeitraum einer Handlung, letzteres das Geschehen einer Handlung während einer anderen. Mit „indem", so meine Vermutung, greift Hegel auf „interea" zurück, da er eine konstitutive Beziehung zweier gleichzeitig ablaufender Handlungen vor Augen hat. „Dadurch, dass" kann dagegen, in der Bedeutung, die sich nicht mit „indem" deckt, ein zeitliches Nacheinander beinhalten und im Besonderen auch fur eine kausale Relation stehen. Auch dies bringt Millers Übersetzung gut zum Ausdruck, indem er „by" verwendet, welches - gerade wenn von „when" explizit unterschieden - auf die kausale Relation verweist. Dagegen spricht auch nicht, dass Miller, um die Dadurch, dass-Konstruktion des Deutschen wiederzugeben, auf die Wendung „by the fact" übergeht. Denn in alltäglichen Kausalerklärungen fuhren wir häufig Tatsachen als Ursachen an.28 Ich möchte daher vorschlagen, Hegels Kernthese so zu verstehen, dass ein Selbstbewusstsein A konstituiert wird, indem es erstens - aktual, zeitgleich - von einem Selbstbewusstsein 21
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Vgl. zu dem Folgenden die Eintragungen in Grimm, J./Grimm, W. (2004) sowie für die lateinischen Wurzeln der Relationsausdrücke Georges (2002). Vgl. dazu die Untersuchungen von Bennett (1988), Kap. III.
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Β anerkannt wird. Außerdem benötigt Selbstbewusstsein A auch die Anerkennung von Selbstbewusstsein Β als Ursache, mit Fichte gesprochen: den Anstoß oder die Aufforderung, um sich als Selbstbewusstsein konstituieren zu können. Mit der Dadurch, dass-Relation greift Hegel Fichtes Theorie der Anerkennung auf. Diese basiert auf einer letztlich kausalen und deshalb diachronen Relation: Eine Entität B, die sich selbst bereits als Selbstbewusstsein begriffen hat, aktiviert eine bisher nur über potentielles oder latentes Selbstbewusstsein verfugende Entität A durch ihre Aufforderung (das Selbstbewusstsein Β ist also dem Selbstbewusstsein A der Zeit nach vorgängig). Dieses Element der Anerkennungstheorie kann man als ihren individualgenetischen Aspekt bezeichnen. Dieser Initialisierungsaspekt steht jedoch, zumindest auf der Ebene der Analyse des reinen Begriffs der Anerkennung, bei Hegel nicht im Vordergrund, da diese Konstellation asymmetrisch ist und die Existenz eines aktualen Selbstbewusstseins bereits voraussetzt. Zugleich haben wir in Hegels Analyse der Intentionen von A und Β festgestellt, dass A „darum" Β auf bestimmte Weise behandelt, weil A die Absichten und Überzeugungen von Β als die richtigen erkennt. Auch dies lässt sich als eine kausale Relation begreifen, sodass wir auf jeden Fall kausale Elemente in die Anerkennungsbewegung einbauen müssen. 29 Aufgrund der Symmetrieforderung erhalten wir damit eine synchrone Struktur sich wechselseitig bedingender Elemente, die in ihrer Gesamtheit die geforderte Anerkennungsstruktur instantiieren.30 Wenn ich richtig sehe, betrifft diese kausale Dimension die motivationale Seite der Anerkennung, d. h. die kausale Interaktion von A und Β ist notwendig, damit A und Β die für Anerkennung notwendigen Absichten und Überzeugungen ausbilden. 31 Um seine These der sozialen Konstituiertheit von Selbstbewusstsein als eine holistische Konzeption zu etablieren, muss Hegel über diese individualgenetische und motivationale Kausalrelation, die durch die Dadurch, dass-Relation zum Ausdruck gebracht wird, hinausgehen. Dies geschieht, so meine Vermutung, durch seinen Hinweis auf eine „Indem-Relation",
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Geht man davon aus, dass Hegel (wie gegenwärtig ζ. B. Jaegwon Kim oder Alvin Goldman) eine feinkörnige Ereignisontologie vertritt, in der Ereignisse als Instantiierungen von wesentlichen Eigenschaften an RaumZeitstellen konzipiert werden, dann eröffnet seine Unterscheidung der „indem-" und der „dadurch-dassRelation" die Möglichkeit, eine kausale Handlungstheorie mit nichtkausalen Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Handlungen zu kombinieren, auf die sich nicht kausale Handlungserklärungen stützen können; vgl. dazu Quante (2007) und die dortige Zurückweisung der These, Hegel habe das Logische-VerknüpfungsArgument akzeptiert und könne deshalb keine kausale Handlungstheorie vertreten (S. 177-185).
30
Hierbei handelt es sich um ein logisch-semantisches Bedingungsverhältnis (die Verschränkung der Ich-Intentionen) sowie um ein kausales Bedingungsverhältnis der einzelnen Momente der Interaktion von A und B. Aus diesem Grunde kann man die kausalen Momente in Hegels Anerkennungskonzeption auch nicht im Sinne der kausalen Generierung, wie sie von Goldman (1970) vorgeschlagen wird, analysieren. Vermutlich wird eine an der gegenwärtigen Ereignisontologie ausgerichtete Rekonstruktion der Hegeischen Theorie unter Voraussetzung eines feinkörnigen Individuationskriteriums die Möglichkeit zulassen müssen, dass Ereignisse echte Teile von Ereignissen sein können; vgl. dazu Lombard (1986). Aus diesem Grunde habe ich in der vorhergehenden Anmerkung davon gesprochen, dass eine solche feinkörnige Ereignisontologie nur die Möglichkeit eröffnet, kausale mit nicht kausalen Abhängigkeitsbeziehungen zu verbinden. Dies setzt voraus, dass Hegels Theorie der Wahrnehmung eine kausale Komponente eingeschrieben ist. Ich sehe kein prinzipielles Hindernis, Hegel auch für den Erwerb von Überzeugungen eine komplexe Theorie zuzuschreiben, in der kausale und nicht kausale Relationen gleichermaßen in Anspruch genommen werden. Leider kann ich hier weder Hegels Ereignisontologie noch seine Theorie der Wahrnehmung weiter erörtern; vgl. zu letzterer Halbig (2002) und de Vries (1988).
31
,DER REINE BEGRIFF DES ANERKENNENS"
105
die durch die Abgrenzung von der „Dadurch, dass-Relation" in ihrer Besonderheit erst einmal nur ex negativo bestimmt ist. Wir wissen aus unserer Analyse der Wir-Struktur, dass es sich um eine Gleichzeitigkeit zweier Handlungen handelt, die in dem Sinne konstitutiv füreinander sind, dass zu ihren Identitätsbedingungen als einzelnes Tun gehört, Momente der Gesamtstruktur zu sein. In der gegenwärtigen analytischen Handlungstheorie und Ereignisontologie haben Jaegwon Kim und Alvin Goldman gezeigt, dass es solche konstitutiven, nicht-kausalen Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Ereignissen gibt.32 Wenn wir z. B. einen Freund grüßen, indem wir den Arm heben, haben wir zwei Handlungen vollzogen, die in einer konstitutiven Relation zueinander stehen. Hegel ist, so meine Vermutung, in seiner Analyse des Verhältnisses von Selbstbewusstsein und Geist auf genau diese ontologische Abhängigkeitsbeziehung gestoßen, die einen sozialen Raum von Regeln und Konventionen - also eine Sittlichkeit - voraussetzt, in dem eine Handlung der einen Art nur vollzogen werden kann, indem eine Handlung der anderen Art vollzogen wird.33 Wiederentdeckt und für die Handlungstheorie systematisch fruchtbar gemacht hat sie dann später Alvin Goldman, der diese durch soziale Kontexte konstituierten Abhängigkeitsbeziehungen als Baumdiagramme darstellt. Soweit ich sehe, legt Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes keine weitergehende Analyse dieser konstitutiven Relationsart vor. Sie wird von ihm erst in der Willenstheorie der Grundlinien entfaltet. Dort finden wir dann auch vertikale Anerkennungsrelationen, in denen sich zumindest eines der beiden anerkennenden Selbstbewusstseine in der Interaktion als ein Wir begreift.34 Die Anerkennungsbewegung der Phänomenologie des Geistes bleibt dagegen auf die horizontale Anerkennung sich verschränkender Ich-Einstellungen beschränkt. Diese aber bieten, so mein Fazit, ein großes sozial-ontologisches Potential, welches Hegel in seiner späteren Theorie des objektiven Geistes systematisch realisiert hat.35
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32
Vgl. Kim ( 1974) und Goldman ( 1970).
33
Vgl. dazu generell Pippin (2004a) und Pippin (2004b); auch Hegels Kritik an der Handlungstheorie der beobachtenden Vernunft belegt eindeutig, dass er Handlungen als Entitäten begreift, die durch den sozialen Raum konstituiert werden; vgl. dazu Quante (2008).
34
Vgl. dazu Quante/Schweikard (2005); für die Phänomenologie
des
Geistes
siehe auch Schweikard
(2007). 35
E ine detaillierte ontologische Rekonstruktion der kausalen und der nicht kausalen Bedingungs verhältnisse hätte zu zeigen, welche Entitäten in einem zeitlichen Nacheinander und in einer Kausalrelation stehen, und welche Entitäten in einer simultanen (oder atemporalen) und nicht kausalen Dependenzbeziehung zueinander stehen. Dabei wird man ohne Zweifel klarer zwischen logisch-semantischen, nicht-kausalen und kausalen Dependenzrelationen unterscheiden müssen als Hegel selbst dies tut.
MICHAEL QUANTE
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L U D W I G SIEP
Anerkennung in der Phänomenologie des Geistes und in der heutigen praktischen Philosophie
Der deutsche Begriff der „Anerkennung"1 gewinnt seit der Philosophie Fichtes zentrale philosophische Bedeutung. Fichte versteht darunter das wechselseitige Verhältnis selbstbewusster Individuen, die um der möglichen Freiheitsausübung der anderen willen ihre eigene Handlungsfreiheit begrenzen.2 Tun sie das regelmäßig nach einem allgemeinen Gesetz, dann befinden sie sich in einem Rechtsverhältnis, dem nach Fichte einzig möglichen wechselseitigen Verhältnis von Individuen als vernünftiger Sinnenwesen bzw. verleiblichter Vernunftwesen. Ohne ein zumindest gelegentliches Verhältnis der wechselseitigen Anerkennung oder zumindest der freien Aufforderung zu selbstbestimmtem Handeln können sie sich überhaupt nicht ihrer selbst als Individuen bewusst werden. Fichte hat diese Theorie in seiner Jenaer Rechtsphilosophie von 1796/97 und seiner wenig später (1798) veröffentlichten Sittenlehre entwickelt, aber im Wesentlichen auf Rechtsverhältnisse und Beziehungen gegenseitiger moralischer Achtung beschränkt. Nur wenige Jahre später hat Hegel an derselben Universität den Begriff Anerkennung und die Grundlagen der Fichteschen Konzeption aufgenommen und bedeutend erweitert. In den Jenaer Schriften zur Geistphilosophie konzipiert er eine Theorie der Anerkennung als einer „Bewegung",3 die eine Reihe von Stufen sowohl der individuellen Bewusstseinsbildung wie der menschlichen Kulturgeschichte umfasst. Es handelt sich nach Hegel um einen teleologischen Prozess, der bei ungestörtem Verlauf ein Individuum zum Bewusstsein seiner vernünftigen Subjektivität und seiner Stellung in einer vernünftig verfassten Rechts-, Staats- und Kulturgemeinschaft bringen kann. In der menschlichen Kulturgeschichte umfasst er eine Reihe von Stufen der Herrschaft, der Organisation von Arbeit, Moral, Recht, Staat und Kultur, die in den Rechts- und Sozialverhältnissen des modernen europäischen Verfassungsstaats der nachrevolutionären Zeit gipfelt. Hegels bekanntester Text zum Thema Anerkennung ist das Selbstbewusstseinskapitel der Phänomenologie des Geistes von 1807. Phänomenologisch differenzierter und methodisch klarer sind einige Passagen über Anerkennung in den Jenaer Systementwürfen, vor allem der Der französische Begriff reconnaissance scheint, wie die Überlegungen Ricceurs zeigen, umfassender zu sein als das deutsche „Anerkennung". Vgl. P. Ricoeur, Parcours de la reconnaissance. Trois études, Paris 2004. Identifizieren und Wiedererkennen werden im Deutschen kaum unter diesen Begriff subsumiert. Zur Anerkennung bei Fichte vgl. u. a. E. Düsing, InterSubjektivität und Selbstbewusstsein, Köln 1986, sowie L. Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes, Freiburg, München 1979, Kap. I, 1. Von der „Bewegung des Anerkennens" spricht Hegel in der Phänomenologie des Geistes, G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, hg. v. H. Wessels et al., Hamburg 1988, S. 128.
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L U D W I G SIEP
Geistphilosophie von 1805/06.4 Im Folgenden werde ich gleichwohl primär auf die Phänomenologie eingehen. In einem ersten Teil soll Begriff, Theorie und Funktion der Anerkennung in diesem Text erläutert werden. Dabei geht es mir allerdings nicht um eine genaue Textinterpretation, sondern um einen thesenartigen Überblick. Im zweiten Teil werde ich auf moderne Versuche einer Weiterentwicklung der Theorie der Anerkennung eingehen.
I. Anerkennung in der Phänomenologie des Geistes Die Phänomenologie des Geistes hat bekanntlich eine doppelte Funktion in Hegels System: Sie ist zum einen eine Hinfuhrung und ein negativer, die Alternativen widerlegender Beweis der Richtigkeit dessen, was Hegel den Standpunkt der Spekulation nennt. Es handelt sich dabei um eine „geistmonistische" Position, nach der alle Wirklichkeit, sowohl der Natur wie der Kultur und des Denkens, ein Prozess des „Zusichkommens", d. h. des sich Entfaltens und Reflektierens einer vernünftigen Struktur ist. Diese Struktur lässt sich auf ein holistisches System von Bedeutungen zurückfuhren, die in reiner Form in der Wissenschaft der Logik dargestellt werden können. Anders als in den früheren Systementwürfen, in der die Logik als Kritik des Dualismus der Verstandes- und Seinskategorien selber die Funktion der Einleitung ausübte, soll die Logik nach der Phänomenologie von 1807 auf diese als zweiter Teil folgen. Insofern die Phänomenologie bereits die reinen Begriffe der Logik im kulturgeschichtlichen Prozess des Aufstiegs zum spekulativen Wissen durchsichtig machen kann, ist sie zugleich eine Art Gesamtdarstellung des Systems. Denn sie enthält die wichtigsten Phänomene und Betrachtungsweisen der Natur und des Geistes in einer systematischen Darstellung. Diese Darstellung ist aber durch den genannten Aufstieg zum wahren Standpunkt - nach Hegel die „Erfahrung des Bewusstseins" - strukturiert und nicht nach rein systemimmanten Gesichtspunkten.5 Auch in Bezug auf die Anerkennung unterscheidet Hegel in der Phänomenologie den Begriff und die konkreten Gestalten des Selbstbewusstseins und des Geistes, die der Bewegung des Anerkennens zugehören. Der Begriff wird zu Beginn des Selbstbewusstseinskapitels exponiert. Die Bewegung macht wiederum einen teleologischen Prozess aus, der in der Phänomenologie über verschiedene Stationen des Scheiterns und der dadurch ausgelösten dialektischen Erfahrungen zur realisierten Anerkennung im Geist, letztlich im absoluten Wissen fuhrt. Hegel gebraucht den Begriff Anerkennung aber nur an wenigen „Gelenkstellen", vor allem im Abschnitt Β (Unterabschnitt A) des Selbstbewusstseinskapitels und im Abschnitt C (Unterabschnitt c. Das Gewissen etc.) des Geistkapitels. Auf die letztere Erörterung greift er zu Beginn des Schlussabschnittes über das absolute Wissen noch einmal ausdrücklich zurück. Für die allgemeine Struktur der Anerkennung in der Phänomenologie scheinen mir die folgenden Grundzüge maßgeblich: 1. Hegel erweitert die von Fichte analysierte Struktur der wechselseitigen Anerkennung zwischen selbstbewussten Individuen um eine höherstufige Anerkennung zwischen Individuen und Gemeinschaftsformen bzw. sozialen Systemen und Institutionen. Dieses AnerkenVgl. dazu meine o. Anm. 2 genannte Untersuchung. Vgl. zu diesen methodischen und systematischen Aspekten der Phänomenologie auch L. Siep, Der Weg der Phänomenologie des Geistes. Ein einflihrender Kommentar zur „ Differenzschrift " und „ Phänomenologie des Geistes ", Frankfurt/M. 2 2001, Kap. 5.
ANERKENNUNG IN HEGELS PHÄNOMENOLOGIE
UND DER HEUTIGEN PRAKTISCHEN PHILOSOPHIE
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nungsverhältnis entwickelt sich zwischen „Ich" und „Wir". Es ist dem inter-individuellen einerseits als Grundlage vorausgesetzt - so könnte ζ. B. ohne eine Integration in eine Primärgruppe wie die Familie individuelles Bewusstsein nicht adäquat ausgebildet werden. Zum anderen ist die Anerkennung zwischen Individuen aber die Voraussetzung bzw. selber die Existenz bewusster Gemeinschaftsformen oder eines „Wir-Bewußtseins". Wechselseitiges Voraussetzen ist nach Hegels Wesenslogik ja kein logischer Zirkel, sondern eine Struktur sich selbst organisierender und explizierender Verhältnisse. 2. Hegel versteht die Anerkennungsrelationen auf beiden Ebenen als dialektisch in dem Sinne, dass jede Seite die andere zugleich setzt (impliziert) und negiert (sich selbst durch ihre Verneinung konstituiert). Diese fur sich widersprüchliche Struktur muss durch eine zunehmende Differenzierung der Beziehung überwunden werden, in der die Begriffe und Relationen in komplexere überfuhrt werden, die sowohl die Ein- wie die Ausschlussbeziehungen enthalten. In Bezug auf die interpersonalen Verhältnisse nennt Hegel das in der Phänomenologie eine „doppelsinnige" Beziehung. Sie besteht darin, dass jedes selbstbewusste Wesen in gewisser Weise seine Identität in einem anderen selbstbewussten Wesen hat, dem es Bewusstseinseigenschaften zuschreibt und das ihm seine eigenen bestätigt, aber dieses „Anderssein" seiner selbst auch negieren muss. Es muss sich durch Ausgrenzen wiedergewinnen und das andere dadurch zugleich „frei entlassen". Das ist nicht allein durch eigenes Handeln möglich, vielmehr muss der Andere den gleichen Prozess für sich bzw. „durch es selbst" vollziehen. Hegel nennt das den Doppelsinn des Tuns, „ebensowohl sein Tun als das Tun des Anderen zu sein" (128).6 Und das noch einmal in einer „gedoppelten" Weise: das Tun der Aufhebung muss sowohl ein Tun gegen sich und den anderen wie ein Tun des einen und des anderen sein. Selbstbewusstsein verlangt, sich im anderen und in Absetzung vom anderen zu erkennen, und dies durch wechselseitige (kognitive und emotionale) Zuwendung und Befreiung. 3. Diese Struktur, die nicht nur für die „Ich-Anderer", sondern auch fur die „Ich-Wir"Beziehung gilt, wird aber in der Phänomenologie nicht systematisch an Formen des Geistes dargestellt, sondern im Prozess der „Erfahrungsgeschichte des Bewusstseins" entwickelt. Der besteht ja darin, dass die Welt- und Selbstverständnisse, die in der menschlichen Kultur - in Religion und Kunst, Moral und Wissenschaft - aufeinander teils zeitlich gefolgt sind, teils systematisch zu unterscheiden sind, einseitige Thesen über die wahre Realität und das ihr adäquate menschliche Wissen enthalten. Zu diesen einseitigen Bewusstseinsgestalten gehören auch eine Fülle sozialer Beziehungen, die Anerkennung zu realisieren versuchen, sich dabei aber in (praktische) Widersprüche verwickeln. Hegel behandelt davon unter dem Terminus Anerkennung nur einige wenige, man könnte die Struktur der versuchten und gescheiterten Anerkennung aber in einer Vielzahl anderer Gestalten ebenfalls herausstellen. Ich gehe hier nur kurz auf die bekannten Stufen des Kampfes um Anerkennung und der Herrschafts-Knechtschaftsbeziehung ein.7 Ihre Funktion in der Phänomenologie besteht darin, die ontologische These des Selbstbewusstseins zu erproben, dass die wahre Realität keine Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich in den folgenden Abschnitten auf die in Anm. 3 zitierte Ausgabe der Phänomenologie des Geistes. Vgl. dazu ausführlicher L. Siep, D i e B e w e g u n g des Anerkennens in Hegels Phänomenologie des Geistes, in: D. Köhler u. O. Pöggeler (Hg.), G. W. F. Hegel, 127.
Phänomenologie
des Geistes,
Berlin 2 2006, S. 107—
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LUDWIG SIEP
gegenständliche, sondern die des Selbstbewusstseins bzw. des Fürsichseins selber ist. Diese Erprobung hat wiederum zwei Momente: Zum einen muss das selbstbewusste Individuum die Bedeutung des reinen „Fürsichseins" gewissermaßen im „Innenverhältnis" bestätigen. Das heißt, es muss zeigen, dass ihm dieses Selbstbewusstsein alles, das übrige Dasein dagegen - im Konfliktfalle - nichts bedeutet. Und zweitens muss man diesen Beweis einem anderen gegenüber fuhren, der bloß zur Bestätigung dieser „Freiheit" des ersten Individuums da ist. Hegel folgt nun dem Verfahren der Phänomenologie, wenn er diesen Versuch der Bestätigung scheitern und in das Gegenteil des Intendierten bzw. dessen „Verkehrung" umschlagen lässt. Er zeigt das zunächst auf der Seite desjenigen, der im Kampf sein Selbstbewusstsein wirklich über das Leben gesetzt hat und daher „Herr" geworden ist; dann auf der Seite des durch Furcht um sein Leben Gescheiterten, zum Knecht Gewordenen. Das Scheitern bzw. die Umkehrung trifft für beide Seiten zu, aber während es beim Herrn in der Aporie endet, weder unabhängig zu sein noch eine freie Anerkennung erzwingen zu können, fuhrt es beim Knecht zu einer ersten Form der Bestätigung der Freiheit des Selbst in dem ihm gegenüberstehenden Anderen, dem bearbeiteten Ding und dem Herrn. Die Bearbeitung der Natur enthält aber nur die Voraussetzung, nicht die Gewißheit einer Erfahrung der Freiheit. Wie Hegel zu Beginn des nächsten Abschnittes sagt (137), trennt der Knecht („das dienende Bewusstsein") noch zwischen der Vergegenständlichung seines selbständigen Tuns in den bearbeiteten Dingen und dem Freiheitsbewusstsein, das er im Herrn vor sich hatte. Der eigentliche Schritt zur „neuen Gestalt des Selbstbewusstseins" (ebd.) wird durch den analysierenden Philosophen eingeleitet, der erkennt, dass die Einheit der beiden Momente des freien Selbstbewusstseins und seiner Herrschaft über die Dinge in einem Selbstbewusstsein liegt, für das die eigentliche Realität der Dinge in ihrer gedanklichen Form oder in den Begriffen besteht (ebd.). Dieser ontologischen These entsprechen in der Bildungsgeschichte des Geistes die antiken Philosophien, vor allem des Stoizismus und Skeptizismus. In den Texten der Jenaer Geistphilosophie war auf den Kampf um Anerkennung das Rechtsverhältnis gefolgt. In historischer Perspektive gilt das auch für die Phänomenologie, denn der Stoizismus ist für Hegel die Grundlage des römischen Rechts. In der Phänomenologie wird das aber erst auf einer viel späteren Stufe behandelt: Im „Rechtszustand", dem letzten Abschnitt des ersten Teils des Geistkapitels. Aber auch hier ist das interpersonale Rechtsverhältnis nur ein Aspekt. Hegel zeigt in diesem Kapitel vor allem, dass die Idee der Rechtsperson als Inhalt einer Staats- und Gesellschaftsordnung (für Hegel im römischen Kaiserreich manifestiert) nicht ausreichend ist und ihre Verwirklichung in ihr Gegenteil, die absolute despotische Herrschaft, umschlagen muss. Auch hier ist aber die mangelhafte interpersonale Anerkennung, die vor allem in der Eigentums-Struktur des römischen Familienrechts zum Ausdruck kommt (der pater familias als Eigentümer der Mitglieder seines Hauses), nur ein Aspekt der unzureichenden Anerkennung der Individualität in der Staatsordnung. Hegel hat die Anerkennung zwischen selbstbewussten Individuen in der Phänomenologie unter diesem Terminus nicht weiter verfolgt. Er spricht von Anerkennung erst wieder im Kapitel über den moralischen Geist und da geht es vor allem um die Beziehung zwischen Gewissen und moralischer Gemeinschaft, also „Ich" und „Wir". Das bedeutet aber nicht, dass die Anerkennungsbeziehung in den anderen Kapiteln nicht vorkäme oder dass die Realisierung der am Beginn des Selbstbewusstseinskapitels entfalteten dialektischen Struktur der Anerkennung in der Phänomenologie kein Thema mehr wäre. Sie steht aber unter dem Primat des
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UND DER HEUTIGEN PRAKTISCHEN PHILOSOPHIE
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eigentlichen Themas der Phänomenologie, der Aufhebung des ontologischen und erkenntnistheoretischen Dualismus zwischen Bewusstsein und Gegenstand sowie individuellem und allgemeinem Selbstbewusstsein bzw. Geist. Dafür stellt Hegel zwei Prozesse in den Vordergrund: Zum einen die zunehmende „Subjektivierung" der Wirklichkeit in Begriffen der Vernunft und einer im erkennenden und handelnden Subjekt „zu sich kommenden" objektiven gedanklichen Ordnung (Abschnitt „Beobachtende Vernunft"). Zum anderen die Erhebung des Prinzips der selbstbewußten Individualität und Personalität zum Maßstab sozialer Ordnungen (Gestalten der praktischen Vernunft, Vernunftkapitel B) sowie zum Inhalt dessen, was als letzte, absolute Wahrheit gilt (Geist und Religion). Auch diese Prozesse können als Stufenfolge der Anerkennung des Ich im Wir und umgekehrt verstanden werden. Die „praktische" Anerkennung des individuellen Selbstbewusstseins durch andere Individuen, auch durch die soziale Ordnung und die Aktivität des Gemeinwesens, reicht dafür nicht aus. Das Selbstbewusstsein will - wie sich schon im „unglücklichen Bewusstsein" (Kap. IV B) zeigt - sein Wesen auch in einem von den zufalligen Individuen unabhängigen Subjekt anerkannt wissen. Dem entspricht der religiöse Begriff eines absoluten geistigen Wesens, das die Individuen anerkennt bzw. „liebt". Auch über die Verehrung eines jenseitigen, „ganz anderen" Selbst geht die Bewegung des Anerkennens aber noch hinaus. Das individuelle Bewusstsein will sich mit diesem Gott vereinigen. Das Christentum lehrt daher einen Prozess der Trennung und Wiedervereinigung Gottes und des Menschen. In seiner nach-reformatorischen Entwicklung hebt es die Jenseitigkeit dieses Gottes auf und „versöhnt" ihn mit den Menschen in der religiösen und sittlichen Gemeinschaft.8 Deren vollendete rechtliche und staatlich-institutionelle Form wird in der Phänomenologie - anders als in der früheren und späteren Philosophie des Geistes - zwar nicht systematisch erörtert, aber sie wird in der kritischen Form der Behandlung der antiken Sittlichkeit und des entfremdeten Geistes der Neuzeit schon sichtbar. Am Ende dieser Abhandlung im Vernunft- und Geistkapitel steht wieder eine praktische Form des Anerkennens, die Beziehung zwischen Gewissen und moralischem Gemeinwesen. Die darin erreichte Anerkennung macht für Hegel bereits das Wesen des absoluten Geistes aus: „der daseiende Geist, der das reine Wissen seiner selbst als allgemeines Wesen in seinem Gegenteile, in dem reinen Wissen als der absolut in sich seienden Einzelheit anschaut - ein gegenseitiges Anerkennen, welches der absolute Geist ist" (441). Der absolute Geist ist in der höchsten Form der christlichen Religion ja der Geist in der Gemeinde, die in wesentlicher Hinsicht eine solche der moralischen Bildung und Versöhnung ist. Dieses Wissen der Einheit von Gott und Mensch hebt am Schluss der Phänomenologie, im „absoluten Wissen", den letzten Gegensatz zwischen Selbstbewusstsein und Gegenstand, Individuum und geistiger Wirklichkeit auf. Da das Anerkennen des Gewissens und der moralischen Gemeinschaft von Hegel als Vollendung der praktischen Seite des Anerkennens dargestellt wird, soll darauf noch kurz eingegangen werden. Hegel nimmt hier die Themen noch einmal auf, die ihn schon in seinen Frankfurter Schriften beschäftigt haben: die Trennung und Versöhnung des „abweichenden" Individuums von der moralisch und rechtlich integrierten Gesellschaft. Diese AuseinanderVgl. G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften § 552, hg. v. F. Nicolin u. O. Pöggeler, Hamburg 1959, S. 434.
im Grundrisse,
3. Aufl. 1830,
112
L U D W I G SIEP
Setzung wird für ihn in der Phänomenologie durch die Debatten um die „geniale" Moral des Individuums in den Schriften des „Sturm und Drang" und der Romantik repräsentiert.9 Wenn die Moralität in der Autonomie des Gewissens besteht, kann sie jederzeit mit den allgemeinen moralischen Maßstäben in Konflikt geraten. Die verschiedenen Konstellationen dieses Konfliktes im Abschnitt über die Moralität führen zu einer „Versöhnung" in Form eines wechselseitigen Verzichtes. Das auf sein Gewissen pochende Individuum muss die Einseitigkeit und den möglichen Irrtum seiner Entscheidung bekennen. Auf der anderen Seite muss das allgemeine moralische Bewusstsein die Gewissensentscheidung, selbst in ihrer Nonkonformität und „Bosheit", als notwendiges Moment des Geistes anerkennen. Gewissen und allgemeine Gesetzlichkeit sind anerkannt als zwei Momente eines Geistes, der sich in der individuellen Entscheidung konkretisiert und fortentwickelt. Die praktischen und sozialen Formen dieser Versöhnung hat Hegel in der Phänomenologie nicht mehr entwickelt. Der Hinweis im Schlusskapitel (518 f.) auf die Entsprechung zwischen dieser Gestalt der Moralität und der vollendeten (durch Reformation und Aufklärung geläuterten) christlichen Religion lässt aber vermuten, dass er sie vor allem in Formen religiöser Moralität am Werk sieht. Die religiöse Gemeinde wäre dann das primäre Medium der wechselseitigen Korrektur von öffentlicher Moral und privatem Gewissen. Dass diese vernünftige Religiosität nur in einer berufsständisch gegliederten, rechts- und sozialstaatlich verfassten Monarchie möglich ist, hat Hegel in seinen Schriften zur Philosophie des Geistes von 1805 bis 1830 entwickelt. Man kann allerdings bezweifeln, dass die Anerkennung von „Ich" und „Wir" dabei der in ihrem Begriff vorgezeichneten symmetrischen Struktur entspricht.10
II. Anerkennung in der praktischen Philosophie der Gegenwart Der Begriff der Anerkennung war in den letzten Jahrzehnten Gegenstand einer lebhaften philosophische Debatte." Nicht nur Interpretationen des Deutschen Idealismus kreisen um dieses Thema, sondern auch systematische Weiterentwicklungen etwa bei Charles Taylor, Axel Honneth oder jüngst Paul Ricoeur. Ich will hier nicht diese Arbeiten referieren, sondern die Ansätze unter bestimmten Themen gruppieren. Dabei unterscheide ich drei Themenkomplexe: 1. Anerkennung als wechselseitiger Respekt zwischen autonomen Personen, im Anschluss an die Kantische und Fichtesche Moral- und Rechtsphilosophie. Dieses Thema der Bedingungen und Grenzen der Beziehung zwischen autonomen Personen, vor allem in Kontexten der Abhängigkeit und der asymmetrischen Kompetenzverteilung, beschäftigt auch die moderne angewandte Ethik. 2. Anerkennung in einem sozialpsychologischen und bewußtseinstheoretischen Kontext der Bildung von Identität oder Authentizität. Dieses Thema hat Jürgen Habermas in seinen Studien zu den sozialpsychologischen und gesellschaftlichen Bedingungen von persönlicher 9
Vgl. O. Pöggeler, Hegels Kritik der Romantik, Bonn (Diss.) 1956, sowie L. Siep, „Individuality in Hegel's Philosophy of Spirit", in: Κ. Ameriks, D. Sturma (Hg.), The Modern Subject. Conceptions of the Self in Classical German Philosophy, Albany 1995, S. 131-148.
10
Zu einer solchen Hegel-immanenten Kritik vgl. meine Anm. 2 genannte Untersuchung, Kap. V, 2.
11
Vgl. dazu auch Ch. Halbig, Art. Anerkennung, in: Handbuch Ethik, hg. v. M. Düwell, Ch. Hübenthaler, M. Werner, Stuttgart 2006, S. 303-307.
ANERKENNUNG IN HEGELS PHÄNOMENOLOGIE UND DER HEUTIGEN PRAKTISCHEN PHILOSOPHIE
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Identität zuerst mit dem Begriff der Anerkennung und der idealistischen Tradition in Verbindung gebracht. Sein Schüler Axel Honneth hat diese Linie weiter ausgezogen. 3. Anerkennung zwischen Gruppen verschiedener Weltanschauungen und Kulturen in einem multikulturellen Gemeinwesen. Dabei geht es über die rechtliche Duldung hinaus um die Integration sowohl der Gruppe wie des individuellen Gruppenmitgliedes in eine Gesamtidentität. Man kann mit dem anspruchsvollen Hegeischen Begriff von einer Anerkennung des Ich im Wir als einer Art von „Versöhnung" sprechen. In dieser Richtung zielen vor allem Arbeiten von Charles Taylor. Zum Schluss möchte ich auf meinen eigenen Versuch zurückkommen, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie aufzufassen und meine heutige Sicht der Schwierigkeiten und Grenzen dieses Versuchs umreißen. (1) Viele moderne Theorien des wechselseitigen Respekts zwischen Personen, der oft auch mit dem Begriff „Anerkennung" wiedergegeben wird, gehen den Weg von Fichte zu Hegel gewissermaßen zurück. Anstatt wie Hegel in den konkreten Beziehungen der Liebe, des Kampfes, der Herrschaft oder auch in den Gemeinschaftsformen der Familie, des Berufes, des Staates einen Prozess der Aufstufung und der Erfüllung von Anerkennung ausfindig zu machen, wird die basale Anerkennung des Anderen als Ursprung unabweisbarer Ansprüche auf Achtung (self-originating claims, second-personal authority etc.)12 als Maßstab aller sozialen Beziehungen betrachtet. Liebe, familiäre oder staatliche Fürsorge führen in dieser Sicht zum Pateraalismus eines Bevormundens, das sich an Werten und Institutionen orientiert, um die angeblich irrationalen Wünsche des Anderen zu übergehen. Überlegungen dieser Art haben heute einen besonderen Platz in Diskussionen der angewandten Ethik, vor allem der Medizinethik. In diesem Bereich hat sich ja ein sozialer Paradigmenwechsel vollzogen: von einer asymmetrischen Beziehung des paternalistischen Arztes zu seinem inkompetenten Patienten hin zur symmetrischen Beziehung zwischen autonomen Partnern. Entscheidend war dafür das Prinzip des „informed consent" des Patienten zu therapeutischen Maßnahmen oder medizinischen Versuchen. Ähnliches hat sich aber auch in der Erziehung und im Arbeitsverhältnis abgespielt. Die Theorie des Respekts oder der moralischen und rechtlichen Anerkennung besagt, dass die Einstellung des Respekts vor der Autonomie anderer Personen grundsätzlich von emotionalen Beziehungen und Bewertungen ihrer Wünsche und Gründe getrennt werden müssen. So heißt es etwa in den Einwilligungserklärungen von Teilnehmer klinischer Prüfungen, dass sie jederzeit „ohne Angabe von Gründen und ohne Nachteile befürchten zu müssen" von ihrer Teilnahme zurücktreten können - obwohl sie dadurch dem Prüfarzt und dem Forschungs- oder Therapieprojekt evtl. Schaden zufügen. Die „Unverständlichkeit" der Gründe einer Handlung für den dadurch Betroffenen darf kein Grund sein, ihr den Respekt zu verweigern. So muss man in der Medizin u. U. auch den Verzicht der Angehörigen von bestimmten Religionen auf lebenserhaltende Maßnahmen respektieren, selbst wenn dadurch der ärztliche Heilauftrag undurchführbar wird.13 Oder in der Erziehung: Bei „Religionsmündigkeit" oder Volljährigkeit müssen 12
Vgl. T. M. Scanion, What we owe to each other, Cambridge (Mass.), London 1999; St. Darwall, „The Value of Autonomy and Autonomy of the Will", in: Ethics, 116 (January 2006), S. 263-284.
13
Zur Debatte um Autonomie und informierte Zustimmung in der modernen Medizinethik vgl. auch R. R. Faden u. T. L. Beauchamp (gemeinsam hg. mit N. M. P. King), A History and Theory of Informed Consent, Oxford 1986, und M. Quante, Personales Leben und menschlicher Tod, Frankfurt/M. 2002, Kap. 5.
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die Eltern Entscheidungen respektieren, die in ihren Augen das leibliche Wohl oder das ewige Seelenheil des Jugendlichen gefährden. Dass der Respekt vor Personen sich in Rechtsbeziehungen äußert, die allein an den eigenen, rechtlich zulässigen Interessen und Gesichtspunkten der beteiligten Personen orientiert sind, wird auch in der Philosophie Hegels nicht bestritten. Die Frage ist nur, ob die Anerkennung in den verschiedenen Sozialverhältnissen und Institutionen von einem gleich bleibenden Maßstab rationaler Beziehung zwischen Personen her beurteilt werden muss und kann, oder ob solche „abstrakt"-rechtlichen Beziehungen nur eine Form der Anerkennung sind, die durch andere, komplexere und den ganzen Menschen umfassenden Formen ergänzt werden müssen. Für das Letztere kann man auch aufgrund der erwähnten Beispiele aus der Medizin und der Erziehung argumentieren: Die Anerkennung des anderen als mündigem Patienten kann ohne die durch Wohlwollen, Hilfsbereitschaft und Fürsorge geprägte Haltung des Arztes nicht gelingen. Sie muss am Verbot der Missachtung oder Manipulation der Wünsche des Patienten seine Grenzen haben - einschließlich des Sterbewunsches. Aber der Respekt muss selber mit einer emotionalen Achtung des Anderen verbunden sein. Und er muss eingebunden sein in andere emotional-vernünftige Beziehungen, die die Lebensgeschichte und die Eigenschaften der Institution und der Gruppe - also etwa eines Krankenhauses oder Pflegeheimes - berücksichtigen und integrieren. Schließlich muss man sich, in Erinnerung an Hegel, dessen bewusst sein, dass Menschen keine fertigen Monaden sind, sondern die wechselseitige Beziehung, das Tun des Einen und des Anderen, ihre Urheber ständig und in Abhängigkeit voneinander verändert. Das Gleiche gilt fur die „Erziehungsumgebung" eines Menschen, also eine Familie, Lebensgemeinschaft oder Erziehungseinrichtung. Dass schließlich im Berufsleben die Nichtdiskriminierung sich nicht allein auf den grundsätzlichen rechtlichen und moralischen Respekt reduzieren lässt, sondern eine Fülle von anderen Bedingungen hat - von der Gestaltung der räumlichen Umgebung über die emotionale Rücksichtnahme und die Bereicherung durch kulturelle Verschiedenheit - ist Gegenstand vieler Einsichten und Auseinandersetzungen im Rahmen der Antidiskriminierungspolitik. In der konkreten Erörterung dieser Probleme müsste beantwortet werden, ob die wechselseitige Anerkennung von Personen oder Vernunftwesen rein als solcher mehr als eine Verbotsgrenze sein kann. Selbst wenn man für eine Entfaltung konkreter Anerkennungsformen eine gestufte Theorie im Anschluß an Hegel benötigt, ist allerdings nicht gesagt, dass Anerkennung eine teleologische Struktur hat, so dass man die notwendigen Stufen und die erfüllte Form von Anerkennung in kleineren und größeren Gemeinschaften definitiv angeben könnte. (2) Die zweite hier zu diskutierende Richtung der Aneignung der Anerkennungstheorie geht ebenfalls auf eine Entwicklung in den interpersonalen Beziehungen zurück, die sich seit Hegel sicherlich verstärkt hat: Es geht um die Bedingungen der Selbstverwirklichung im Sinne der Unverwechselbarkeit oder der Unvertretbarkeit des Individuums. Seit Herder und der Romantik - man denke an Friedrich Schlegel oder Kleist - bekommt die Frage nach der individuellen Selbstfindung und -darstellung eine Bedeutung, die über die älteren Ideale der Erfüllung gesellschaftlicher Pflichten oder der Erringung des ewigen Seelenheils durch die Nachfolge Christi hinausgehen. Die Übertragung des künstlerischen Genieideals auf die Moral, die „antibürgerlichen" Ideale des 19. und 20. Jh., die existenzphilosophische Ablehnung
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des „Man" zugunsten der Eigentlichkeit und die gegenwärtigen „Hausse" der Begriffe Selbstverwirklichung und Authentizität setzen eine Linie fort, die Interpreten wie Charles Taylor, Jürgen Habermas oder Richard Rorty ausführlich und teils kritisch - vor allem Taylor - interpretiert haben.14 Da bei Fichte und Hegel Anerkennung auch Bedingung des Bewusstseins der eigenen Individualität ist - nach Fichte wird ja erst durch die Aufforderung und Anerkennung aus dem allgemeinen Selbstbewusstsein ein individuelles - wurde immer wieder Anerkennung auch als Bedingung der Bildung eines unverwechselbaren, unvertretbaren, authentischen Selbst verstanden. Für Fichte ist das nur teilweise richtig - insofern er dem Gewissen eine besondere Bedeutung bei der Erkenntnis der eigenen Bestimmung zuschreibt. Sie bleibt aber in den Grenzen einer allgemeinen Pflichtenlehre. Das gilt auch noch für Hegel, der dem Gewissen und der Übertragung des Geniebegriffs auf die Moral noch skeptischer gegenübersteht. In der Phänomenologie hat er aber gezeigt, dass die Anerkennung der Einzelheit des Gewissens, auch in seiner möglichen Abweichung von den sozialen Regeln, zum Geist eines Gemeinwesens gehört. Eine solche Abweichung verleiht allerdings keine Rechte und setzt die Gesetze nicht außer Kraft. Auch im sozialen Leben der Berufe und Institutionen hat der Einzelne umso mehr „Wirklichkeit", wie er den Geist dieser Einrichtungen und der ihr zugrunde liegenden „Verfassung" eines Volkes in sein Verhalten aufnimmt und bewusst vollzieht. Dazu kann allerdings auch eine Aktualisierung dieser Regeln und eine Art „schöpferischer Interpretation" gehören.'5 Die Auflösung der ständischen Gesellschaft, die Pluralisierung der Wertesysteme und der Zweifel an einem umfassenden und linearen Fortschritt der Vernunft in der Geschichte haben das Ideal der „Bildung" des Individuums zu einem vollgültigen Standesmitglied und Staatsbürger verblassen lassen. In modernen Sozialisationstheorien wird zwar die Prägung durch gesellschaftliche Verhaltens- und Wertmuster betont, aber zugleich in einer Bindung an die eigene Bestimmung, die persönlichen starken Wertungen (Taylor) oder die Entscheidung zu dem, was einem persönlich etwas bedeutet (Frankfurt),16 das eigentliche Ziel der Persönlichkeitsentwicklung gesehen. Das geht bis zum Ideal der individuellen Selbsterfindung etwa bei Richard Rorty17. Wenn das individuelle Selbstbewusstsein von der Anerkennung durch andere abhängt, dann ist diese auch eine Bedingung der Selbstfindung und Selbstverwirklichung. Aber zweifellos kann ein Subjekt, das auf seiner Autonomie und der Würde und Gleichheit von Personen besteht, nicht jeden Selbstentwurf tolerieren oder gar durch positive Bestätigung unterstützen. Auch die Freiheit, die eigene Bestimmung zu finden, muss sich nach allgemeinen 14
J. Habermas, Der philosophische
Diskurs
Self, Cambridge 1989; ders. The Malaise derne.
der Moderne, of Modernity,
Frankfurt/M., 1985; Ch. Taylor, Sources Concord 1991 (dt. Das Unbehagen
Übers, v. J. Schulte, Frankfurt/M. 1995; R. Rorty, Contingency,
1988 (dt. Kontingenz,
Ironie und Solidarität,
irony, and solidarity,
of the
an der
Mo-
Cambridge
übers, ν. Ch. Krüger, Frankfurt/M. 1992). Zu den romanti-
schen Quellen und kulturgeschichtlichen Ausprägungen des modernen Individualitätsbegriffes vgl. auch J. Früchtl, Das unverschämte
Ich. Eine Heldengeschichte
der Moderne,
15
Vgl. Hegel, Rechtsphilosophie
16
Vgl. Ch. Taylor, „Was ist menschliches Handeln?", in: ders., Negative
in: ders., Praktische
Philosophie
lichen Individualismus,
im Deutschen
R. Rorty, Contingency,
Idealismus,
Frankfurt/M. 1992, S. 2 1 7 - 2 3 9 . Freiheit.
Zur Kritik des
neuzeit-
übers, v. H. Kocyba mit einem Nachwort von A. Honneth, Frankfurt/M. 1992,
S. 9 - 5 1 ; H. Frankfurt, The importance 17
Frankfurt/M. 2 0 0 4
§ 207 und L. Siep, „Was heißt Aufhebung der Moralität in Sittlichkeit?",
of what we care about. Philosophical
irony and solidarity
(vgl. o. Anm. 14).
Essays,
Cambridge 1988.
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Regeln einschränken lassen. Es kann aber soziale Regeln und Einrichtungen geben, die dem Spielraum solcher Suche mehr Raum geben als andere. Für Hegel etwa war Voraussetzung fur die Entwicklung eigener Fähigkeiten und die Suche nach einem Platz im sozialen Gefüge die bürgerliche Gesellschaft mit freier Berufswahl und Gewerbefreiheit, gebunden nur an den Nachweis von Qualifikation und Kompetenz. Der Streit darüber, ob der Markt und seine ökonomischen Gesetze zu den günstigen Bedingungen der Anerkennung individueller Besonderheit gehört, ist bis heute auch politisch virulent. Die einen verweisen auf die großen Möglichkeiten des „pursuit of happiness" in diesem System, oder auch auf die ständige Individualisierung der Bedürfnisbefriedigung - etwa mit der „on demand" Produktion. Die anderen betonen die rigiden ökonomischen Gesetze, die Uniformierung der Lebensweisen in der globalisierten Wirtschaft und die Zwänge etwa der Informations- und Verkehrstrukturen fur die Lebensweisen. Die Wahl von Lebensplänen hängt eben nicht nur davon ab, dass sich der Staat aus der Bevormundung der Selbstverwirklichung zurückzieht, sondern auch, welche Lebensweisen in einer effizienten, hochtechnisierten Gesellschaft überhaupt noch möglich sind. Vor allem aber hat die Effizienz dieser Strukturen zu einem strikten Leistungswettbewerb und zu einer Selektion von Fähigkeiten und von Leistungsbereitschaft gefuhrt, die Anerkennung auf die Belohnung für und den Respekt vor Erfolgen reduziert, die mit betriebswirtschaftlichen Kriterien zu messen sind. Man braucht nur an die Leistungs-, Selektions- und Anerkennungskriterien moderner Unternehmen, aber auch von Bildungseinrichtungen zu denken, um zu sehen, dass die Elemente der „Familiensittlichkeit", d. h. der leistungsunabhängigen Unterstützung, emotionalen Zuwendung und Respektierung aus den Marktgesellschaften zu verschwinden drohen. Anerkennung der individuellen Unverwechselbarkeit und Integrität, auch bei Menschen, die unter den herrschenden Leistungskriterien eher als „Versager" gelten, erfordert nach wie vor Verhaltensweisen und „Gruppenidentitäten", die, wie bei Hegel die Familie und die Korporation, den Anerkennungskriterien der bürgerlichen Marktgesellschaft entgegengesetzt sind. Axel Honneth hat versucht, solche Kriterien in einer an Hegel anschließenden, aber auf moderne Sozialpsychologie gestützten Weise zu systematisieren. Die drei „Muster intersubjektiver Anerkennung", die er so herausarbeitet, sind „Liebe", „Recht" und „Solidarität". Der Begriff der Liebe knüpft an Hegel an, umfasst aber alle „Freundschaften" und Verwandtschaftsbeziehungen, insofern sie „aus starken Gefuhlsbindungen zwischen wenigen Personen bestehen" (153).18 Wie in Hegels „Familie", aber möglicherweise auch in anderen Partnerschafits- und Freundschaftsformen, erfüllen sie das Bedürfnis nach Hilfe und Unterstützung ohne Vorleistung und mit „affektiver Zustimmung und Ermutigung" (ebd.). Auch in den Beziehungen des modernen Rechts ist nach Honneth eine öffentliche Anerkennung des Individuums als Person mit bestimmten Fähigkeiten der moralischen Autonomie, der elementaren Bildung und des Geltendmachens sozialer Ansprüche enthalten. Vor allem wenn man die Theorie der verschiedenen Generationen von Grundrechten (liberale Freiheitsrechte, politische Grundrechte, soziale Wohlfahrtsrechte)19 akzeptiert (188), dann liegt im Status des Rechtssubjektes, auch wenn es von sozialer Wertschätzung unabhängig ist, eine „Chance zur Ausübung von Selbstachtung" durch die öffentlich anerkannte Fähigkeit 18
19
A. Honneth, Kampf um Anerkennung, Frankfurt/M. 1992 (Seitenzahlen im folgenden Text beziehen sich auf dieses Buch). Vgl. T. H. Marshall, Sociology at the Crossroads, London 1963.
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des Einklagens von Rechten und der „Teilnahme an einer diskursiven Willensbildung" (195). Um diesen Status kommt es daher in modernen Gesellschaften auch zu einem „Kampf um Anerkennung" von sozialen Gruppen. 20 Während Liebe und Recht den Individuen Selbstvertrauen und Selbstachtung verleihen sollen, geht es bei der Solidarität um Selbstschätzung durch die soziale Wertschätzung der anderen. Sie bedeutet, „sich reziprok im Lichte von Werten zu betrachten, die die Fähigkeiten und Leistungen des jeweils anderen als bedeutsam fur die gemeinsame Praxis erscheinen lassen" (209 f.). Obwohl diese Wertschätzung dem Individuum in seiner Besonderheit gelten, ist sie doch in der Regel gebunden an „ein Gefühl des Gruppenstolzes", das darin besteht, Mitglied einer Gruppe zu sein, deren Leistungen für die gesamte Gesellschaft wertvoll sind und als solche anerkannt werden (208). Auch diese Anerkennung muss von der Gruppe und mit der Gruppe erkämpft werden. Honneths drei „Kriterien" für die soziale Anerkennung von Individuen in ihrer unverwechselbaren Individualität bzw. Identität sind an Hegels Formen der Sittlichkeit angelehnt, sollen aber durch empirische sozialwissenschaftliche Erkenntnisse der Gegenwart abgesichert werden. Was offen bleibt, ist der Grund, weshalb unabhängig von Hegels System gerade eine solche Trias die vollständigen oder jedenfalls entscheidenden Bedingungen enthalten soll.21 Offen bleiben ferner die Bedingungen einer Gesellschaft, die notwendige oder zumindest bereichernde Beiträge von Individuen und Gruppen zu einer „gemeinsamen Praxis" identifizieren und anerkennen kann. Man muss dazu schon einen im zumindest schwachen Sinne „kommunitaristischen" Ansatz verfolgen, nach dem das soziale Leben das Tun und Werk aller ist, dessen Lasten und Verdienste nach gemeinsamen Kriterien zuerkannt werden können. Wie die Debatte um die Gerechtigkeitstheorien von Rawls oder Walzer gezeigt hat, ist dies keineswegs unumstritten. 22
20
N. Fraser macht dagegen kritisch geltend, dass die Konzentration auf die Frage der Anerkennung von Identitäten die Gefahr der Marginalisierung materieller Verteilungsprobleme und der „Reifizierung" von Gruppenidentitäten (zu Lasten der Mitglieder) mit sich bringt. N. Fraser, „Rethinking Recognition", in: New Left Review, May/June 2000, S. 107-120. Vgl. dies., „Social Justice in the Age of Identity Politics: Redistribution, Recognition, Participation", in: N. Fraser, A. Honneth, Redistribution or Recognition, London, New York 2003, S. 7-109.
21
Honneth bemüht sich in seinen jüngeren Forschungen um empirische Bestätigungen für diese Formen. In seinem Buch Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie, Frankfurt/M. 2005, Kap. III, versteht er unter Rückgriff auf Tomasello Anerkennung als die empathische oder „libidinose" Einnahme der Perspektive Anderer im Kleinkindalter (ca. 9 Monate), die für die Erkenntnisentwicklung notwendig sei (vgl. M. Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition, übers, v. Jürgen Schröder, Frankfurt/M. 2006). Außerdem werden am Frankfurter Institut für Sozialforschung die Bedingungen und Störungen der Selbstachtung und sozialen Wertschätzung in der modernen Erwerbsgesellschaft untersucht. Vgl. dazu K. Dröge, „Gruppenexperiment", in: A. Honneth/Institut für Sozialforschung (Hg.) Schlüsseltexte der kritischen Theorie, Wiesbaden 2006, S. 259-263. sowie S. Neckel/ K. Dröge, „Die Verdienste und ihr Preis: Leistung in der Marktgesellschaft", in: A. Honneth (Hg.) Befreiung aus der Mündigkeit. Paradoxien des gegenwärtigen Kapitalismus, Frankfurt/M., New York 2002, S. 93-116. - In Kampf um Anerkennung verweist Honneth auch auf Parallelen zu den drei Formen bei Mead, Scheler und Plessner (S. 151 ff.)
22
J. Rawls, A Theory of Justice, Oxford University Press 1971; M. Walzer, Spheres of Justice. A Defence of Pluralism and Equality, New York 1983.
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Aber selbst unter einer kommunitaristischen Grundausrichtung ist noch unklar, worin im Besonderen die Beiträge zu dem gemeinsamen Werk liegen. Es bedürfte einer Einigung über Sphären der Gerechtigkeit im Sinne Walzers oder über die Art der notwendigen oder allgemein wünschenswerten öffentlichen und kommunalen Güter.23 In einer modernen Gesellschaft, in der notwendige oder allgemein anerkannte Güter und dafür aufzubringende Arbeit immer schwerer bestimmbar sind und das „System der Bedürfnisse" sich in immer schnellerer Entwicklung befindet, stellt das ein schwer lösbares Problem dar. Zumal in der modernen Theorie sozialer Systeme (Luhmann) umstritten ist, ob es ein die besonderen Systeme umfassendes Gesamtsystem „Staat" oder „Gesellschaft" überhaupt noch gibt.24 Ist das nicht der Fall, dann steigt die Bedeutung der sozialen Gruppen selber fur die „Identität" und „Selbstachtung" ihrer Mitglieder. Zur Anerkennung zwischen Individuen sowie - möglicherweise - zwischen dem „Ich" und dem „Wir" einer Gesamtgesellschaft kommt dann aber die zwischen den Gruppen, sei es im Rahmen einer gemeinsamen politischen Kultur oder in einer offenen multikulturellen Gesellschaft. Diese Form der Anerkennung ist Gegenstand der dritten Strömung der modernen Anerkennungstheorie auf die ich im Folgenden kurz eingehen will. (3) Nach Charles Taylor besteht zwischen den beiden ersten erwähnten Formen der Anerkennung, der Anerkennung der universalen Gleichheit von Moralsubjekten und Rechtspersonen einerseits (1) und der ihrer „unverwechselbaren Identität" (28) andererseits (2), die sich „in Dialog und Kampf mit signifikanten Anderen" (27) herausbilde, eine Spannung.25 Vor allem dann, wenn beides Gegenstand der Politik wird. Denn die erste Form wird ermöglicht durch eine Politik des „Universalismus" bzw. der „Gleichheit", die zweite erfordert eine „Politik der Differenz" (27, 29). Minderheiten, deren Gruppenidentität durch ethnische, religiöse, historische, oder sprachliche Zugehörigkeit bestimmt wird, oder Angehörige traditionell diskriminierter Geschlechter müssen in pluralistischen, toleranten und demokratischen Rechtsstaaten zum Gegenstand einer „differenzierenden Praktik" (30) gemacht werden. Sie kann darin bestehen, Gruppenrechte (z. B. Sammelklagen von Verbänden oder Bürgerinititativen, Bereitstellung von Finanzmitteln, kompensatorisch diskriminierende Zugangsrechte) einzuräumen, aber auch Individuen unter besondere Pflichten zu stellen (z. B. ihre Kinder eine bestimmte Schule besuchen und eine bestimmte Sprache erlernen zu lassen).26 Dadurch wird prima facie sowohl das Prinzip der Gleichbehandlung aller Bürger wie das autonomer Individualrechte, z. B. Elternrechte, verletzt.
23
Vgl. M. Walzer, Spheres of Justice (Anm. 21); J 1 Waldron, „Can communal goods be human rights?", in ders., Liberal Rights - Collected Papers ¡981-1991, Cambridge, New York, Oakleigh, 1993 S. 339-369; L. Siep, Private und öffentliche Aufgaben, Münster 2005.
24
Vgl. Ν. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft,
25
Ch. Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, folgenden Text beziehen sich auf dieses Buch).
26
Man muss allerdings auch die Zugehörigkeit von Individuen zu verschiedenen kulturellen Strömungen und die Freiheit der Auswahl zwischen ihnen respektieren. Vgl. dazu A. Sen, Identity and Violence. The Illusions of Destiny, New York, London 2006. Die Angewiesenheit der Individuen auf Gruppen und ihre Traditionen ist zudem j e nach Gesellschaftsform verschieden. In modernen Einwanderungsgesellschaften lässt sich auch eine zentripetale Tendenz der frei gewählten Isolierung feststellen. Vgl. M. Walzer, Über Toleranz. Von der Zivilisierung der Differenz, Hamburg 1998.
Frankfurt/M. 1997. Frankfurt/M. 1992 (Seitenzahlen im
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Die Spannung kann nach Taylor nur durch Abwägungen zwischen der „Wichtigkeit bestimmter Formen von Gleichbehandlung", vor allem der Garantie individueller Abwehrrechte, und der „Wichtigkeit des Überlebens einer Kultur" gelöst werden (56). Dazu sind in einem modernen Rechtsstaat bzw. in „von der gerichtlichen Überprüfung der Gesetzgebung geprägten Kulturen" (ebd.) geeignete Institutionen geschaffen worden. Voraussetzung ist allerdings, dass das Bestehen einer Vielzahl von Kulturen in einem Gemeinwesen überhaupt als ein Wert und ein Recht verstanden wird.27 Allein auf individuelle Rechte, wie das Recht auf freie Religionsausübung, ist das nicht zu begründen. Es gehört dazu vielmehr eine bestimmte Tradition der liberalen Demokratie, die darin besteht, das Zusammenspiel oder zumindest das faire Nebeneinander von verschiedenen Kulturen als einen intrinsischen Wert zu begreifen. Taylor verweist auf Herders Vorstellung eines vielstimmigen Chors, die er in der christliche Tradition verwurzelt sieht (70).28 Ob das historisch haltbar ist, kann man angesichts der Geschichte des Christentums als erster Universalreligion mit exklusivem Wahrheitsanspruch bezweifeln. Eher scheint es ein Resultat der Erfahrung mit konfessionellen Konflikten in der frühen europäischen Neuzeit zu sein. Zu einer solchen Form der Anerkennung eines positiven kulturellen Pluralismus gehören aber weitere Voraussetzungen, darunter die Bestimmung des Kulturbegriffs und der Größe und Dauer einer Kultur, die Anspruch auf gesellschaftliche Anerkennung haben soll. Nach Taylor gehören zu solchen Kulturen nicht die „kulturellen Milieus innerhalb einer Gesellschaft oder auch kurze Phasen innerhalb der Entwicklung einer Kultur" (63). Aber welche Phasen sind relevant und wie viele Menschen müssen an der Wiederbelebung einer Kultur wie heute in einigen Ländern etwa die der altgriechischen Religion - interessiert sein, um ihr den Status einer öffentlich anzuerkennenden und in Maßen sogar positiv zu diskriminierenden Gruppe zuzugestehen? Hier wird man vermutlich auf Honneths „Kampf um Anerkennung" zurückgreifen müssen: Die Mitglieder einer kleinen kulturellen Gruppe müssen sich politisch den rechtlichen Status erkämpfen, der sie zu öffentlichen Leistungen und zu gesetzlichen Maßnahmen ihrer Erhaltung qualifiziert. Fraglich ist allerdings, ob dieser Prozess einen teleologischen Verlauf nimmt und zu einem vollendeten Abschluss kommen kann, wie Hegel das von dem Erfahrungsprozess behauptet, den die Phänomenologie rekonstruiert. Es könnte stattdessen Errungenschaften der kollektiven Erfahrung geben, fur deren Revision wir uns keine guten Gründe mehr denken können. Irreversible Erfahrungen dieser Art, auf denen ζ. B. der moderne Rechtsstaat oder das staatliche Gewaltmonopol beruhen, erlauben es aber nicht, die Geschichte als einen in sich notwendigen Prozess zu verstehen, in dem geschieht, was geschehen muss. Sie erlauben also nicht, sich mit der Geschichte in einer Weise zu versöhnen, wie das dem Stoiker, dem von der Heilsgeschichte überzeugten christlichen Gläubigen oder eben dem Hegeischen Philosophen möglich war. Außer diesen drei erwähnten Aspekten gegenwärtiger Anerkennungstheorie gibt es in der Gegenwartsphilosophie weitere bedeutende Ansätze, wie etwa das Werk von Paul Ricoeur, das 27
Der Eigenwert kultureller Mannigfaltigkeit muss nicht bedeuten, dass jede Kultur sich auf dem gleichen Niveau der künstlerischen Leistungen oder der moralischen und rechtlichen Angemessenheit befindet. Darauf weist Taylor in Kap. V seiner Überlegungen zum Multikulturalismus zu Recht hin (a. a. O. S. 5 6 71) - auch wenn man sich vor Eurozentrismus hüten sollte.
28
Vgl. dazu auch Ch. Taylor „Demokratie und Ausgrenzung", in: Ders., Wieviel Gemeinschaft Demokratie? Aufsätze zur politischen Philosophie, Frankfurt/M. 2001, S. 43.
braucht die
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aber über den Rahmen der praktischen Philosophie weit hinausgeht. 2 ' Statt darauf einzugehen, abschließend noch einige Bemerkungen zu meiner eigenen Beurteilung dieser Theorie, ihrer Aufgaben und ihrer Grenzen. In meinem Buch über Hegels Theorie der Anerkennung 30 hatte ich die Frage nach der systematischen Fruchtbarkeit des Prinzips Anerkennung für die praktische Philosophie auch bezogen auf den Aspekt von Kriterien für gerechtfertigte und notwendige soziale Institutionen. Axel Honneth hat dagegen in seinem „Kampf um Anerkennung" eingewandt, dass aus der Anerkennung kein normativer Maßstab zur Beurteilung von Institutionen abgeleitet werden könne, weil „wir prinzipiell kein vollständiges Wissen darüber haben können, welche institutionelle Form die Erfüllung von bestimmten notwendigen Anerkennungsleistungen annehmen kann" (109). Dem ist zuzustimmen. Allerdings war meine Absicht, das „Prinzip Anerkennung" auf die historisch entstandenen Institutionen in einer Weise anzuwenden, die Rawls „Reflexionsgleichgewicht" nahe kommt. 31 Das bedeutet, dass sich mit diesem Kriterium begründen lassen muss, weshalb wir Institutionen wie „familienähnliche Solidargemeinschaften", Grundrechte sichernde Rechtsordnungen, bestimmte Formen des Sozialstaates etc. zur Erfüllung der Bedingungen von Anerkennung brauchen - und darüber hinaus eine Extrapolation dessen, was in den gegenwärtigen Institutionen für diese Aufgabe noch fehlt. Honneth hat in einer größeren Distanz zu Hegel eine solche Theorie ebenfalls zu entwickeln versucht, nur dass er nicht von der normativen Beurteilung von Institutionen, sondern von „notwendigen Bedingungen der menschlichen Vergesellschaftung" spricht (ebd.).32 Das liest sich transzendentalphilosophisch wert- und normneutral, aber Honneth wertet Vergesellschaftungsprozesse und unterscheidet gelungene von „pathologischen". Er setzt also ebenfalls eine Norm der Beurteilung von Gesellschaft voraus. Um sie zu begründen, müsste man die Vollständigkeit der Bedingungen einer „nicht-pathologischen" menschlichen Vergesellschaftung nachweisen können. 33 Für die „Solidarität" im Sinne Honneths muss ferner begründet werden, dass und warum sich eine Gesellschaft, als gemeinsames Werk mit „objektiv" wertvollen Aufgaben und Zielen versteht, zu denen die Beiträge von Gruppen und Individuen Wertschätzung verdienen. Beides sind sicher schwer zu lösende Aufgaben. Heute scheint mir, dass die praktische Philosophie vor Aufgaben steht, von denen fraglich ist, ob sie sich noch im Rahmen des „Prinzips Anerkennung" lösen lassen. Davon möchte ich nur drei nennen: 1. Wenn man Vollständigkeit der Bedingungen der Identitätsbildung oder der Vergesellschaftung nicht mehr beanspruchen kann, benötigt man vor allem im Blick auf die angewand29
30 31
32
33
P. Ricoeur, Parcours de la reconnaissance, Paris 2004 (s. o. Anm. 1). Vgl. dazu L. Siep, „Der lange Weg der Anerkennung. (Paul Ricoeur, Wege der Anerkennung)", in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, H. 6, 2007, S. 981-986. L. Siep. Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie (o. Anm. 2). Vgl. J. Rawls, A Theory of Justice (o. Anm. 21), S. 20 ff., 48-51, und ders., Political Liberalism, New York 1993, S. 28, 95-97; vgl. auch S. Hahn, Überlegungsgleichgewicht(e), Freiburg, München 2000. Zur Auseinandersetzung mit Honneths Hegel-Rezeption vgl. auch A. Mesch, „Sittlichkeit und Anerkennung in Hegels Rechtsphilosophie. Kritische Überlegungen zu Theunissen und Honneth", in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Bd. 53 (2005), S. 349-364. Vgl. A. Honneth, „Eine soziale Pathologie der Vernunft. Zur intellektuellen Erbschaft der kritischen Theorie", in: Ch. Halbig, M. Quante (Hg.), Axel Honneth: Sozialphilosophie zwischen Kritik und Anerkennung, Münster 2004, S. 9-31.
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te Ethik statt Prinzipien Rahmenvorstellungen, die zu bestimmten Formen von Autonomie und Anerkennung in unterschiedlichen sozialen Kontexten konkretisiert werden können - vor allem was Einheit und Abstufung emotionaler, kognitiver und voluntativer Beziehungen angeht. Man muss dabei für die Erfahrung neuer Formen oder Bereicherungen von Anerkennung offen bleiben. Aber solche Formen müssen mit dem „Rahmen" und seiner Konkretisierung in den bisherigen sozialen Beziehungen kompatibel sein, auch wenn bestimmte Formen gesellschaftlicher Anerkennung überholt sein können. 34 Bei dieser Methode kann man sich an einem abgeschwächten, nicht-teleologischen Holismus in der Hegeischen Tradition orientieren - aber auch an anderen nicht-deduktiven Verfahren wie dem erwähnten Ralws'sehen Reflexionsgleichgewicht. 2. Eine analoge, aber umfassendere Rahmenvorstellung ist für die pluralistische Gesellschaft erforderlich. Die Anerkennung kulturgeschichtlich entstandener Lebensformen und die rechtlichen und politischen Maßnahmen ihrer Stabilisierung benötigen eine Begründung der Werte des Pluralismus, die nicht allein auf Individualrechte und Anerkennungsbeziehungen zurückgeführt werden kann. Nach welchen Maßstäben etwa soll der aktiven Religionsfreiheit heute Grenzen gesetzt werden - was die Zahl und Größe religiöser Gebäude, die Geräusche der Kirchenglocken oder des Gebetsrufes, die rituellen Weisen alltäglicher Handlungen wie des Schlachtens von Tieren oder des Tragens von Kleidung usw. angeht? Toleranz im Sinne des wechselseitigen Ertragens, Anerkennung der gleichen Ansprüche und wechselseitige Wertschätzung sind dafür Voraussetzung. Aber es gehört dazu auch die Vorstellung eines sozialen Kosmos, in dem überlieferte Mannigfaltigkeit von Lebensformen, gerechte Verteilung der Entfaltungsmöglichkeiten und das Gedeihen der Individuen in ihrer individuellen und kulturellen Identität gefördert werden. Welche Einschränkungen ihrer öffentlich wahrnehmbaren Lebensweise sind Gruppen welcher Größe zumutbar? Wie wichtig sind für alle die religiösen Riten einer Gruppe im Verhältnis zu gemeinsamen öffentlichen Gütern wie Stille, gemeinsame Tages- und Wochenrhythmen, gemeinsame Erziehung, öffentliche Symbole und Denkmäler usw.? Wie verhält sich überhaupt das Geschichtsbild einer Gruppe zum staatlichen oder - bei Staatenbünden - auch überstaatlichen Geschichtsverständnis? 35 Hier brauchen wir nach meiner Auffassung die Konzeption einer „well-ordered society", die über Rawls'sche Gerechtigkeitsprinzipien ebenso hinausgeht wie über Anerkennungsbeziehungen zwischen Individuen und Gruppen („Ich" und „Wir"). 36 Man kann dabei an eine holistische Zuordnung der Kultursphären im Sinne der Hegeischen Philosophie des Geistes denken - aber ohne deren starke systematische Voraussetzungen. Es geht um eine gesellschaftliche Verständigung über die Gewichtung von Werten, die bis zur Frage nach Vereinbarkeit unterschiedlicher Begriffe menschlichen Lebens reicht - man denke an den Streit über den Anfang und die erlaubten Weisen der Beendigung des menschlichen Lebens (Embryonen34
Wie schon bei Hegel der Kampf um Ehre oder heute traditionelle Formen berufsständischer Anerkennung.
35
Zur kulturellen Versöhnung, etwa zwischen griechischen und türkischen Zyprioten, vielleicht auch zwischen Basken und den übrigen Ethnien Spaniens, gehört wesentlich die selbstkritische Auseinandersetzung mit historischen Erinnerungen und „Gedächtniskulturen", die allein auf der Gegnerschaft zu der jeweils anderen Gruppe und ihrem Selbstbild beruhen.
36
Zur Idee der „well-ordered-society" vgl. J. Rawls, Political Liberalism (o. Anm.28), S. 35-40. Auch die hier vorgeschlagene Idee muß die „distributive dimension" enthalten, auf der N. Fraser besteht (s. o. Anm. 20).
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forschung und Sterbehilfe). Philosophen können die darüber geführten politischen Kämpfe nicht durch apriori-Entscheidungen erübrigen. Aber sie können Rahmenvorstellungen und Kriterien einer wohlgeordneten pluralistischen Gesellschaft und des möglichen bzw. erträglichen Umfanges von Konsens und Dissens entwickeln. Dazu werden auch Vorschläge über die Gewichtung öffentlicher Güter wie Gesundheit, Bildung, Sicherheit, Kunst etc. gehören, ohne die Freiheit von privaten und von Gruppenpräferenzen widerrechtlich einzuschränken. 37 Es fragt sich, ob dazu die Konzeption der Anerkennung ausreicht. 3. Die praktische Philosophie braucht solche Rahmenvorstellungen des wohlgeordneten Ganzen mit der Möglichkeit zur Konkretisierung in Wissenschaft und Gesellschaft heute auch fur die Natur. Denn wir stehen sowohl in Hinsicht auf den menschlichen Körper wie die außermenschliche Natur vor grundsätzlichen Optionen. Es geht um die Einstellung zu Natürlichkeit überhaupt und zum Naturerbe in der Natur- und Kulturgeschichte. Gentechnologie, Klonierung und die Techniken des „Human-Machine-Interface" (elektronische Implantate im Mikromaßstab) lassen die biotechnische „Neuerfindung" des Menschen und eine tief greifende Veränderung der Natur in Reichweite gelangen.38 Um für diese Optionen normative Kriterien zu entwickeln, genügen die interpersonalen Rechte und Anerkennungskriterien nicht - auch nicht in ihrer diskursethischen Transformation oder im Neopragmatismus (J. Habermas, R. Brandom 39 ). Das Verhältnis zur Natur kann kein symmetrisches sein. Es kann aber auch nicht, wie bei Hegel, 40 allein von der Aneignung des Natürlich-Unbewußten durch den bewussten Geist bestimmt sein, der seinen vernünftigen Willen durch die Verfugung über „Sachen" manifestiert. Auch wenn man, wie in manchen Formen der modernen Hegel-Aneignung, den „Geist" durch die allgemeine Sprachgemeinschaft oder konkrete Kommunikationsgemeinschaften ersetzt, verbleibt man in interpersonalen Beziehungen und reduziert zudem das Verhältnis zur inneren und äußeren Natur auf eine Frage sozialer Konventionen. Die heutigen Debatten über den Einsatz der Gentechnologie und des Klonierens in der Pflanzen- und Tierzucht sowie in den Techniken der menschlichen Fortpflanzung und der Verbesserung seiner Fähigkeiten - dem sog. Enhancement - können nicht allein mit Maßstäben der zwischenmenschlichen Pflichten und Rechte, auch nicht der Bedürfnisse nach Anerkennung, aufgeklärt oder gar orientiert werden. Es entwickeln sich aber bereits interkulturelle Konsense über Prinzipien des Umganges mit der außermenschlichen Natur - wie die Nachhaltigkeit, die Erhaltung der Biodiversität, Begriffe der tiergerechten Haltung usw. - , die von Vorstellungen des Wertvollen und Erhaltenswerten am „Naturerbe" geprägt sind. Sie müssten in der praktischen Philosophie expliziert, auf ihre Konsistenz, ihre Konsequenzen und ihre Gründe hin überprüft werden.
37
Vgl. dazu o. Anm. 22.
38
Vgl. dazu L. Siep, Die biotechnische Neuerfindung des Menschen, in: J. S. Ach, A. Pollmann (Hg.), No body is perfect. Baumaßnahmen am menschlichen Körper - Bioethische und ästhetische Aufrisse, Bielefeld 2006, S. 21-42.
39
Zu Brandoms Aneignung von Hegels Anerkennungslehre vgl. R. B. Brandom, „Selbstbewusstsein und Selbstkonstitution", übers, v. D. Schweickard, in: Ch. Halbig, M. Quante, L. Siep (Hg.), Hegels Erbe, Frankfurt/M 2004, S. 46-77.
40
Jedenfalls nach der „schellingianisierenden" Periode seiner Naturphilosophie 1801-1803.
A N E R K E N N U N G IN H E G E L S PHÄNOMENOLOGIE
UND DER HEUTIGEN PRAKTISCHEN P H I L O S O P H I E
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Auch in Bezug auf den biotechnischen Umgang mit dem Menschen gibt es ζ. T. interkulturelle Konsense, vor allem was die Ablehnung genetischer Veränderung oder des reproduktiven Klonens im Interesse privater oder gar öffentlicher „Züchter" angeht. Auf der anderen Seite stehen ungelöste Konflikte hinsichtlich der „liberalen Eugenik", die sich auf die Interessen der zukünftigen Kinder oder die reproduktive Freiheit der Eltern beruft. 41 Erst recht gilt das für Möglichkeiten somatischer Selbstveränderung bis hin zur Geschlechtswahl oder der Steigerung kognitiver und physischer Fähigkeiten. Um hier Grenzen und Maßstäbe zu etablieren, kommt der Konzeption der Anerkennung durchaus Bedeutung zu - etwa für die Fragen: Wie steht es mit der Chancengleichheit in einer Gesellschaft gesteigerter Unterschiede menschlicher Fähigkeiten, vor allem wenn der Zugang zu solchen Verbesserungen von privater Kaufkraft abhängt? Wie steht es mit den Möglichkeiten der Kommunikation und der „Berechenbarkeit" des Verhaltens, wenn die Emotionen und Leistungen eines „verbesserten" Menschen und ihr sprachlicher und körperlicher Ausdruck zunehmend schwerer zu verstehen und nachzuvollziehen werden? Auch hier scheint mir aber über die Anerkennung hinaus eine gemeinsame Vorstellung von den Werteigenschaften der (bisherigen) menschlichen und außermenschlichen Natur notwendig zu sein. Um dazu einen konkretisierbaren Rahmen zu entwickeln muss man die Beschränkung der neuzeitlichen Ethik auf interpersonale Beziehungen überwinden 42 und die Idee einer möglichen wohlgeordneten Natur als Maßstab des menschlichen Handelns entwikkeln. Eine solche Idee kann allerdings weder an einem notwendigen („ewigen") Kosmos orientiert sein, noch an einer stabilen Schöpfung oder einem zeitlosen „mundus intelligibilis". 43 Es muss sich um eine regulative Idee für einen „möglichen" Kosmos als gemeinsame Aufgabe handeln. Sie ist aber kein ideales Postulat, sondern „deskriptiv" konkretisierbar durch die „guten" Eigenschaften der in der Evolution entstandenen Natur (einschließlich des menschlichen Körpers). Allgemeine Grundzüge dieser Idee lassen sich einer Semantik der Moralsprache und einer Hermeneutik der evaluativen Weltbilder (Kosmos, Schöpfung etc.) entnehmen. Zu deren Grundstrukturen gehören Mannigfaltigkeit und gerechte Verteilung der Entwicklungschancen für Formen, Arten und Gruppen, sowie Gedeihen und Wohlergehen der Individuen auf verschiedenen Stufen der Scala naturae. Die weitere Konkretisierung ergibt sich aus einem Prozess kulturgeschichtlicher Erfahrung mit Weltbildern, Normen und Institutionen. An dieser Stelle kann man an eine nicht-teleologische „Erfahrungsgeschichte des Bewusstseins" in der Nachfolge Hegels denken. Was als Resultat dieses Prozesses am „Naturerbe", auch dem des menschlichen Körpers, erhaltenswert ist und was dagegen zum Zwecke der Leidensbekämpfung modifiziert werden kann, muss natur- und kulturgeschichtlichen Erfahrungen entnommen und in öffentlichen Diskursen konkretisiert und vereinbart werden. Dieses Erbe darf nicht durch eine Konzeption verleugnet werden, die „Realität" auf natur41 42
Vgl. dazu A. Buchanan, D. W. Brock, N. Daniels, D. Wikler, From Chance to Choice, Cambridge 2001. Allerdings nicht im Sinne einer postmodernen Überwindung der Subjektivität. Vielmehr muss die neuzeitliche Idee der Subjektivität als Grundlage der Freiheitsrechte und Anerkennungsbeziehungen im Hegelschen Sinne „aufgehoben" werden in ein umfassenderes Ganzes der „Stellung des Menschen im Kosmos". Vgl. L. Siep, „Die Aufhebung der Subjektivität in der Konkreten Ethik", in: zwischen
Universalismus
und Relativismus,
2005, S. 2 5 3 - 2 7 4 . 43
Vgl. zum Folgenden L. Siep, Konkrete
Ethikbegründungen
hg. v. K. Engelhard u. D. H. Heidemann, Berlin, N e w York
Ethik, Frankfurt/M. 2004.
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LUDWIG SIEP
wissenschaftlich Erfassbares reduziert und Werte allein als Projektionen privater Wünsche auf eine wertfreie Natur versteht. Als Folge davon könnte nämlich das für viele Werte unseres Selbstverständnisses und unserer Gesellschaftsordnungen konstitutive natürliche Erbe durch eine Technologie der radikal wunschangepassten Natur oder durch eine grenzenlos „verbessernde" Medizin abgeschafft werden. Diese hier umrissene Konzeption einer praktischen Philosophie als „Konkrete Ethik" habe ich in den letzten Jahren auszuarbeiten versucht. In ihr kommt der Anerkennungstheorie fur die sozialen Beziehungen weiter eine wichtige Funktion zu. Wenn aber die Beziehung des Menschen zur Natur in das Zentrum der praktischen Philosophie gehört, muss man bezweifeln, dass „Anerkennung" ihr umfassendes Prinzip sein kann.
TERRY PINKARD
Anerkennung, das Rechte und das Gute
I. D e r B e g r i f f der A n e r k e n n u n g ist der e u r o p ä i s c h e n P h i l o s o p h i e seit H e g e l s Zeiten z u e i n e m vertrauten T h e m a g e w o r d e n . Natürlich gibt e s D i s k u s s i o n e n darüber, w i e w e s e n t l i c h dieser B e g r i f f der H e g e i s c h e n P h i l o s o p h i e ist - o b e s sich nur u m ein Prinzip der praktischen Phil o s o p h i e H e g e l s o d e r gar das G r u n d k o n z e p t all s e i n e s D e n k e n s handelt 1 . A n h ä n g e r Fichtes w i e d e r u m sind n i e m ü d e g e w o r d e n , darauf z u v e r w e i s e n , d a s s e s nicht H e g e l sondern Fichte g e w e s e n war, der d e n A n e r k e n n u n g s b e g r i f f berühmt g e m a c h t hatte. 2 D a s A n e r k e n n u n g s p r i n z i p z u m Zentrum der P h i l o s o p h i e oder a u c h nur der praktischen P h i l o s o p h i e z u m a c h e n , verbindet sich allerdings mit einer n a h e l i e g e n d e n B e f ü r c h t u n g . S i e besteht darin, d a s s d i e s e s Prinzip e i n e j e d e s i n n v o l l e Wahrheitskonzeption zunichte macht. Legt m a n den B e g r i f f der A n e r k e n n u n g j e d e r Darstellung zugrunde, s o scheint m a n - a l l g e m e i n e r g e s a g t - a u f j e n e n mittlerweile ausgetretenen Pfad z u g e l a n g e n , der Objektivität durch Intersubjektivität ersetzt. M a n w ä r e dann mit all den w o h l b e k a n n t e n S c h w i e r i g k e i t e n konfrontiert, die sich einstellen, w e n n m a n „Wahrheit" m i t „Einverständnis" g l e i c h s e t z t - g a n z g l e i c h w i e scharfsinnig m a n das denkt, w a s unter „Einverständnis" verstanden w e r d e n soll. 3 Versteht m a n Ludwig Siep vertritt die Ansicht, es handele sich um das Prinzip seiner praktischen Philosophie. Siehe ders., Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes (Freiburg, München 1979). James Kreines fragt allerdings zurecht, warum Siep das Anerkennungsprinzip auf Hegels praktische Philosophie beschränkt und nicht erweiternd auf dessen gesamte Philosophie bezogen sieht. Siehe dessen Rezension von Sieps Der Weg der Phänomenologie des Geistes. Ein einfiihrender Kommentar zu Hegels „Differenzschrift" und „Phänomenologie des Geistes " (Frankfurt/M. 2000), die unter dem Titel „Finding Our Way in the Phenomenology of Spirit" im Internationalen Jahrbuch des deutschen Idealismus/International Yearbook of German Idealism. Bd. 2, 2004, S. 366-373 erschienen ist. In Teilen haben Alexandre Kojève und seine Anhänger die Auffassung vertreten, Anerkennung sei (unter verschiedenen anderen Bezeichnungen) in der Tat der Zentralbegriff des westlichen politischen Denkens gewesen. Siehe A. Kojève, Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens, hg. v. I. Fetscher, Frankfurt/M. 1988. Dies ist auch die Behauptung, die Francis Fukuyamas Bestseller The End of History and the Last Man zugrunde liegt, in dem er eine eher konservative Version von Kojèves Ansichten bietet. Siehe F. Fukuyama, Das Ende der Geschichte, München 1992. In Wahrheit und Rechtfertigung erhebt Jürgen Habermas diesen Vorwurf angesichts all der „rein intersubjektivistischen" Lesarten Hegels. Wie erbittert die Debatte zuweilen geführt wird, zeigen die Vielzahl der (m. E. zu weiten Teilen unfairen) Einsprüche gegen Richard Rortys Arbeiten, diese Unterscheidung verwischt zu haben. Viele Kommentatoren meinen, Rorty behaupte, es gebe keine Wahrheiten sondern
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Anerkennung im Sinne eines Grundsatzes, dann scheinen insbesondere all die verschiedenen Güter des Lebens davon abhängig zu sein, als Güter anerkannt zu werden. Möglicherweise gewinnt die Anerkennung eine solche Bedeutung, dass sie konstitutiv dafür ist, dass Güter Güter sind. Eine solche Ansicht scheint nicht besonders plausibel, manchen sogar unsinnig zu sein: als ob das bloße Einverständnis über irgendetwas Triviales dem letzteren - allein vermöge der Tatsache des Anerkannt- oder Einverstandenseins - die Qualität verschaffte, etwas Bedeutsamens oder irgendwie Allumfassendes zu sein.4 Statt Anerkennung als Bedingung dafür zu betrachten, dass Dinge uns wertvoll sind, oder gar als konstitutiv für verschiedene Güter, scheint es sinnvoller, Anerkennung selber als eines unter vielen Gütern zu betrachten, vielleicht sogar als das wichtigste von ihnen. Mithin würde die Verleugnung von Anerkennung den Akteur oder das Kollektiv von Akteuren schädigen, dem sie verwehrt wird.5 In diesem Falle wäre zu fragen, ob Anerkennung als ein Gut verstanden werden muss, das gerechter verteilt werden sollte, oder doch als Bedingung von so etwas wie individueller Selbstverwirklichung, womit es dann als gesellschaftstheoretischer „Grundbegriff" dienen könnte. 6 Anerkennung spielt tätigkeitsbezogen jedoch eine größere Rolle, als nur ein intersubjektives Einverständnis zu meinen oder ein Gut, das Menschen zu- oder aberkannt werden kann bzw. das eine Grundvoraussetzung für ein bestimmtes anders Bedürfnis wäre, wie etwa die Selbstverwirklichung. Insbesondere ist eine stärker dialektische Tätigkeitsauffassung, die Anerkennung einerseits als tätigkeitskonstitutiv und andererseits als welterschließend versteht, dahingehend hilfreich, dass sie uns begreifen lässt, worum es in den verschiedenen Debatten um die Rolle geht, welche Anerkennung tätigkeitstheoretisch - bezogen auf den Erkenntniswie auf den Praxisbegriff- spielen sollte. Auch rückt sie wiederum die Streitfrage in Erinnerung, die bis vor einiger Zeit für die praktische und Moralphilosophie von Wichtigkeit war, seitdem aber in den Hintergrund getreten ist und an Bedeutung verloren hat: Welchen Erklärungsvorteil bietet die Rede von der Beziehung zwischen dem „Rechten" und dem „Guten"? Die Unterscheidung selbst ergab sich aus der Verallgemeinerung von Kants Begriff des guten Willens (als eines unbedingten Guten) als eines Begriffs des (unbedingten) Rechten im Unterschied vom Guten. Diese Auffassung wurde in der jüngeren politischen Philosophie nur Einverständnisse (gerechterweise muss man hinzufugen, dass Rorty ihnen in unbedachten Momenten reichlich Munition für ihre Angriffe geliefert hat). Rorty möchte aber nicht den Wert der Wahrheit in Abrede stellen. Seine Einstellung zur Wahrheit ist statt dessen die eines Humeschen Skeptikers. Wie Hume danach fragte, welches Extra wir dadurch erzielen, dass wir das Wort „Kausalität" der permanenten Abfolge von Ereignissen (oder ihrer möglichen Verbindung) hinzufugen, so fragt auch Rorty nach dem zusätzlichen konzeptionellen Gewinn, den wir zu erzielen glauben, wenn wir einer Proposition das Wort „wahr" hinzufügen - einer Proposition, die verifiziert, gegengeprüft, kritischer Nachfragen ausgesetzt worden ist usw. - , und der etwas anderes wäre als die fallibilistische Mahnung, unsere Behauptung könnte letztlich doch falsch sein. Dies ist ein immer wiederkehrendes Thema der Arbeiten von Charles Taylor. Siehe dazu ders., The Ethics of Authenticity, Cambridge 1992. Siehe auch D. Regan, „The Value of Rational Nature", in: Ethics, 112 (2002), S. 267-91. Ch. Taylor, „The Politics of Recognition", in: ders., Amy Gutmann (Hg.), Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt/M. 1993; A. Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt/M. 2003; P. Markeil, Bound by Recognition, Princeton 2003. Diese Position wird von Nancy Fraser und Axel Honneth in dem von ihnen gemeinsam herausgegebenen Buch Umverteilung oder Anerkennung? diskutiert wird. Siehe N. Fraser, Α. Honneth (Hg.), Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse, Frankfurt/M. 2003.
ANERKENNUNG, DAS RECHTE UND DAS GUTE
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bekanntlich von Rawls und Habermas ausgearbeitet. Bemerkenswert ist, dass beide dennoch den orthodoxen Kantischen Anspruch ablehnten, allein die reine praktische Vernunft biete uns das, was wir fur eine theoretische Ethik - auf den Strukturen eines „Grundprinzips" und seinen Folgerungen gründend - benötigen. Beide sind sich dahingehend einig, dass die reine praktische Vernunft der Ergänzung durch verschiedene empirische Voraussetzungen bedarf, wenn sie unserem Handeln und seinen Verfahren eine wirkliche Leitlinie sein soll. Darüber hinaus sind Rawls und Habermas der Überzeugung, dass es wesentlich die Dürftigkeit einer völlig vom „Guten" getrennten Konzeption des „Rechten" ist, die jede darauf gegründete Darstellung vom Primat des „Rechten" in Fragen der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit hoffnungslos zur Abstraktion verurteilt - es sei denn, sie verknüpft sich mit einigen gut begründeten empirischen Thesen aus dem Feld der Soziologie, Geschichte oder Psychologie. Dies scheint in den Schriften von Rawls klar zu werden wie auch in Habermas' Faktizität und Geltung und seinen darauf folgenden Abhandlungen. Insbesondere Habermas behauptet, die Prinzipien des „Rechten" gründen in der Art und Weise, in welcher Akteure, die ohnehin zur gegenseitigen Rechtfertigung ihrer „Geltungsansprüche" verpflichtet sind, sich damit auch einigen ziemlich abstrakten Bindungen unterwerfen, die die Regeln einer solchen Rechtfertigung bilden. Er hat eine kontroverse Erklärung dafür gegeben, dass dieses Argument eines intersubjektiven statt eines transzendentalen Handlungsbegriffs bedarf.7 Habermas' eigene postkantianische Darstellung zielt darauf ab, einerseits die Kantianische Kluft zwischen dem Rechten (den Gesetzes- und Rechtsprinzipien) und dem Guten (der „Sittlichkeit") zu erhalten, andererseits jedoch beide in einer vereinigenden Darstellung zusammenzufuhren, z. B. in Gestalt einer regen „Öffentlichkeit". Eine solche Darstellung soll dem modernen säkularen Staat als einer konstitutionellen Rechtsordnung Legitimationswirksamkeit verleihen - einer Rechtsordnung, in welcher Grundrechte implementiert sind und die zugleich die Dynamik des freien Marktes und die Macht der Verwaltungsbürokratie mit den moralischen Ansprüchen des „Rechten" in einen bündigen Zusammenhang bringt. So gesehen soll die nichtempirische, normative Kraft des „Rechten" bewahrt werden, wodurch zwischen den verschiedenen kontigenten Vorstellungen des Guten entschieden werden kann. 8 Wie bereits bemerkt, scheint die Absicht, diesen Zusammenhang durch einen Rekurs auf den Begriff der Anerkennung zu erläutern, die Rawlssche und Habermassche Vorstellung auf etwas zurückzuführen, das Hegels eigener „Rechts"-philosophie gliche. Wie fìir Kant ist auch für Hegel dasjenige, was im tiefsten Grunde um seiner selbst Willen gesucht werden soll, der freie, auf sich selbst bezogene Wille als Zweck seiner selbst - oder, wie Hegel sagt: „... der freie Wille, der den freien Willen will". 9 Nehmen wir Hegel beim Wort, sind der „freie Wille" und die Bedingungen, unter denen er frei ist, dasjenige, welches als recht zählt - als J. Habermas, Zwischen Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie tischen Rechtsstaats, Frankfurt/M. 1992.
des Rechts und des
demokra-
Natürlich ist es eine ganz andere Frage, ob das „Rechte" dies in einer Weise zu tun vermag, die allen bestimmten Konzeptionen des Guten gegenüber neutral wäre. Christine Korsgaard bietet mit dem Begriff „praktischer Identitäten" eine inhaltliche Konkretisierung des andernfalls formalen Prinzips des Rechten, des kategorischen Imperativs. Siehe O. O'Neill, Ch. M. Korsgaard, The Sources of Normativity, Cambridge 1996. G. W. F. Hegel, Grundlinien Grundrisse, § 27.
der Philosophie
des Rechts oder Naturrecht
und Staatswissenschaft
im
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die Bedingung, die gegenüber allen übrigen, andere Güter betreffenden Erwägungen und ihrer gegenseitigen Gewichtung Priorität besitzt. Ist aber Anerkennung erst einmal in der Grundkonzeption verortet, welche das Rechte mit dem Guten verbindet, dann erhalten wir, wie ich hoffe, zeigen zu können, auch eine anders geartete Idee von den Aufgaben der politischen und Moraltheorie. Auch erlangen wir ein besseres Verständnis davon, wie die „kritische Theorie" zu einer mehr oder weniger Hegelianischen Vorstellung von Anerkennung passen könnte. Hegelianer wie Kantianer sind in grundsätzlicher Weise der Freiheit als dem Prinzip des „Rechten", d. h. dem normativen Vorbehalt verpflichtet, unter dem alle anderen Güter stehen. Obwohl Kant mit dem Gedanken spielt, die vermeintliche Pluralität von Gütern - wie etwa Gesundheit, Glück, Erfolg, Freundschaft und ähnliches - auf eine Reihe von Grundgütern zu reduzieren - jene nämlich, die das befriedigen, was er allgemein unsere Neigungen nennt - , so wäre es doch nicht schwer vorstellbar, dass selbst der orthodoxeste Kantianer ein Bild von menschlicher Psychologie mit guten Gründen erwägen könnte, das komplexer wäre als das, welches Kant tatsächlich hegte, und zugleich eine größere Gütervielfalt annehmen könnte, als Kant vermutlich zu akzeptieren bereit gewesen wäre.10 Für Hegelianer wie für Kantianer hat das „Rechte" mit den Bedingungen der Verwirklichung von Freiheit zu tun. Dasjenige, welches das Recht begründet, begründet folglich auch, was als ein legitimes Gut zählen kann. Somit gibt es womöglich viele verschiedene „Güter", die sich unter dem „Rechten" rubrizieren ließen." Begreift man die Angelegenheit in dieser Weise, so wird der Kernpunkt der Auseinandersetzung zwischen Kantianern und Hegelianern klar: Wie hat man sich die „Verwirklichung" der Freiheit vorzustellen? Eines der Modelle ist offenbar individualistischer Natur. Freiheit wäre in diesem Falle die Befähigung eines Individuums, sich einem Prinzip, einem Argument gegenüber zu verpflichten und angesichts dieses Prinzips zu handeln. Freiheit würde folglich dann verwirklicht, wenn ein einzelner Akteur fähig wäre, Absichten zu bilden und diesen folgend zu handeln, und dies angesichts der Tatsache, sich den Gründen für dieses Handeln gegenüber offen zu zeigen (einschließlich der diesen Gedanken begleitenden Sorge, hierfür sei so etwas wie die Kantische Lehre der Kausalität durch Freiheit erforderlich). So gesehen ist Anerkennung keine Bedingung für Freiheit, obwohl das Bedürfnis nach Anerkennung psychologisch gesehen als mit der Freiheit verbundenes Gut betrachtet werden könnte. Anerkennung wäre einfach etwas, das wir „zusätzlich" zu unserer Befähigung, auf Gründe zu antworten, für ein gedeihliches Leben benötigten. Ein anderes, spezifischer Hegelianisches Modell ist stärker gesellschaftsbezogen. Ihm zufolge ist die Befähigung, sich Gründen gegenüber offen zu zeigen, gesellschaftlich vermittelt - dies jedoch nicht in dem trivialen Sinne, dass wir nicht von Geburt an vernünftige Wesen sind und deshalb zu solchen erst erzogen werden müssen. Gemeint ist hingegen, dass das sich Gründen gegenüber Öffnen nicht etwas ist, was der Einzelne sich selbst gegenüber, außerhalb sozialer Praktiken explizit machen kann, außerhalb der sozialen Praktiken des sich durch 10
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Dass bereits in Kants Schriften ein komplexeres Bild menschlicher Psychologie am Werke ist, hat Nancy Sherman dargelegt. Siehe: Dies., Making a Necessity of Virtue, Cambridge 1997. Man sollte einschränkend „legitim" hinzusetzen - nur um die irreführende Frage zu umgehen, ob man sinnvoll sagen könnte, dass etwas für ein Individuum „gut" sein könnte, und zwar unter Absehung der Bedingungen des Rechten, d. h. wenn es mit dem Rechten im Widerspruch stände. Die Antwort ist: Natürlich kann man das. Unter Absehung von den Bedingungen des Rechten können für Akteure viele Dingen in vielen Hinsichten gut sein.
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Gründe Bindens wie jener des Erlernens der für gewöhnlich impliziten Wege, auf denen man erfahrt, dass von dieser, nicht aber von jener Art des Verhaltens legitimerweise gesagt werden kann, es zähle als Befolgen einer Regel oder als sich Binden gegenüber Gründen. Dieser stärkeren, Hegelianischen Lesart zufolge wird Handeln selbst als etwas verstanden, das einerseits innerhalb einer Art normativen, sozialen Raums steht, andererseits etwas ist, was verschiedene Fertigkeiten einschließt, um sich in diesem normativen Raum orientieren und frei bewegen zu können. 12 Worum geht es hier? Ich werde drei These aufstellen und versuchen, diese zu erläutern, so dass zumindest in Umrissen deutlich wird, wie ein eher Hegelianisches Modell von Anerkennung zu einer zeitgemäßen Gestalt kritischer Theorie beitragen könnte.
II. Die erste These lautet: Dialektik beschäftigt sich mit den Beziehungen zwischen Subjekten und Objekten, also mit dem Status von Subjektivität in einer natürlichen Welt. Dies ist Hegels Metaphysik des Handelns. Obwohl Anerkennung philosophisch erstmals im Denken Fichtes thematisch wird, so rückt sie mit Hegels dialektischem Zugang in den Vordergrund und taucht in einem Abschnitt auf, der bekanntermaßen einen „Kampf' um Anerkennung beinhaltet und in Hegels berühmter Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft hervortritt.13 Da vermutlich nichts strittiger ist als die Frage, was Hegel unter „Dialektik" verstanden hat oder hätte verstehen sollen, ist es wichtig, erst einmal darzulegen, worum es sich bei diesem „dialektischen" Zugang handelt (oder, um genauer zu sein, den eigenen Zugang zu der Frage darzulegen, wie Hegels Zugang zu verstehen wäre - wie verdichtet eine solche Darlegung hier auch immer auszufallen hat). In vielen Fällen schreibt Hegel sein eigenes Dialektikverständnis der Verwendung dieses Begriffs durch Kant zu. Dialektik entsteht Kant zufolge in dem Falle, in welchem der Verstand versucht, eine Darstellung des „Unbedingten" zu erlangen - wobei er sich mit Notwendigkeit in Antinomien wiederfindet, d. h. einander widersprechenden Behauptungen verstrickt, die unvermeidlich aus Prämissen folgen, die der „Verstand" erfahrungsunabhängig generiert. Die Lehre, die Hegel aus Kants Dialektik zieht, besteht nun nicht in der Annahme, der „Verstand" sei nicht in der Lage, die Dinge an sich zu erkennen. Sie besteht darin, dass jede einheitliche Darstellung von mit „Subjektivität" ausgestatteter Wesen innerhalb einer natürlichen Welt so lange selbstwidersprüchlich bleiben wird, wie jene Darstellung die Rolle von Subjektivität in dieser Welt nicht zu klären vermag. „Dialektik" entsteht dann, so ließe sich auch sagen, wenn wir zu verstehen suchen, was eine unbedingte Darstellung der natürlichen Welt gemeinsam mit unserem wahrheitsgemäßen Verständnis dieser Welt wäre. Dialektik ist somit ein VerEine ausführlichere Darlegung dessen, dass es sich hierbei zumindest um eine Interpretation eines Hegelschen Themas handelt, findet sich in: T. Pinkard, Hegel 's Phenomenology: The Sociality of Reason, Cambridge 1994. Statt sie als eine bloße Frage der Hegelinterpretation zu betrachten, diskutiert Robert Pippin die Idee des Handelns als einer Norm als die permanente Frage moderner Philosophie. Siehe ders., The Persistence of Subjectivity: On the Kantian Aftermath, Cambridge 2005. 13
Dass Hegels eigene Dialektikkonzeption aus der Entwicklung (und Bezeichnung) Fichtescher Grundideen heraus entstanden ist, wird hier nicht in Abrede gestellt. Dieses Merkmal der Beziehung zwischen den Vorgehensweisen von Hegel und Fichte ist in der Literatur oft genug diskutiert worden, so dass diesbezügliche Verweise kaum der Erwähnung wert sein dürften.
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such, das Absolute zu begreifen - ist die unbedingte Darstellung der Welt, die in sich eine Darstellung dessen einschließt, dass Akteure, die diese Darstellung liefern, wahrheitsgemäß diese Welt, sich selbst sowie den Akt des Darstellens zu begreifen in der Lage sind. (In diesem Zusammenhang glaubt Hegel, grob gesagt, dass eine durchgängig naturalistische Beschreibung der Welt an der Erklärung scheitern würde, warum Akteure mit dieser Beschreibung den normativen Anspruch erheben könnten, sie sei wahr.) Ein jeder Versuch einer unbedingten Darstellung der natürlichen Welt fuhrt zur Dialektik. Das wird vermöge der Tatsache deutlich, dass zu den Naturwissenschaften Subjekte gehören, welche diese Darstellungen geben und von diesen Darstellungen behaupten, wahrheitsgemäß zu sein. Dass Subjektivität so verstanden nicht nur Geschöpfe als Teil der Welt meint, sondern Geschöpfe, die zugleich einen Standpunkt gegenüber dieser Welt haben, hat mit den Arten von Selbsterkenntnis zu tun, durch welche sich diese Geschöpfe auszeichnen. Subjekte haben, so Hegel, nicht allein einen Standpunkt gegenüber der Welt, sie haben darüber hinaus in Gestalt von Selbsterkenntnis eine Selbstbeziehung, die sie von allen anderen Naturwesen unterscheidet. Sie sind, mit Charles Taylor gesagt, „sich selbst interpretierende Tiere", nämlich Wesen, für die es immer eine offene Frage ist, was es heißt, solche Wesen zu sein. Dialektik entsteht folglich aus der Widersprüchlichkeit einer beschränkten Weltsicht; und sie entsteht dann, wenn diese Weltsicht als unbedingte - absolute - Darstellung ausgegeben wird. Diese offenbar widersprechenden Resultate sind also der eigenen Beschränktheit geschuldet. Dialektik gründet somit in der Überlegung, dass es Subjekte (oder „Subjektivität") innerhalb einer andererseits natürlichen Welt von Objekten gibt, sowie in der Frage, wie diese Subjekte normative Beziehungen (paradigmatisch gesehen: Erkenntnisbeziehungen) mit dieser natürlichen Welt und mit sich selbst zu etablieren und zu unterhalten in der Lage sind. Wie Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes erläutert, kommt eine solche Dialektik zuerst von selbst überall dort zum Vorschein, wo zu demonstrieren versucht wird, dass unseren Wissensansprüchen hinreichend Geltung verschafft werden kann, indem man auf so etwas wie Einzeldinge als das Bezug nimmt, welches unsere sie betreffenden Aussagen (oder das spezifische Gewahrwerden dieser Dinge durch uns) wahr macht, oder auch durch den Bezug auf wahrgenommene Gegenstände, die angeblich unsere Wahrnehmungsurteile bestätigten. (Zum Beispiel erscheint in solchen beschränkten, jedoch fur absolut - also für unbedingt - gehaltenen Wahrnehmungsberichten der wahrgenommene Gegenstand einerseits als einzelnes, eigenschaftsloses „Eins", womit er nicht wirklich ein wahrnehmbarer Gegenstand sein kann, andererseits als eine Menge verschiedener Eigenschaften und somit nicht wirklich als ein einzelner Gegenstand.) Angesichts solcher in sich beschränkten Darstellungen des „Unbedingten" bringt uns deren interner Defekt zu der Ansicht, dass unser Bewusstsein dieser Dinge bereits mit Ansprüchen behaftet ist - die bereits verschiedene Arten von Verpflichtungen beinhalten, die wiederum Verantwortlichkeiten verschiedener Art zur Folge haben. Weil es bestimmte Verpflichtungen verkörpert - diese, wie Hegel sagt, an sich hat - , ist das Bewusstsein Selbstbewusstsein, macht es in bestimmter Weise Erfahrungen, statt letztere nur passiv aufzunehmen. Dialektik ist somit ein Ausdruck dafür, wie, um hier Kantsche Termini zu benutzen, die John McDowell so subtil genutzt hat, die Spontaneität unseres Begriffsvermögens in sich die Rezeptivität unserer Erfahrung einschließt - das ist die Idee, dass man, um Begriffe nutzen zu können, fähig sein muss, die Gegebenheiten der Wahrnehmung als Evidenz dessen zu beachten, wie es um die Dinge steht. Die wirkliche, wie Hegel sagt, „Unendlichkeit" des Begriffs
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- McDowell übersetzt „Grenzenlosigkeit des Begrifflichen" [„unboundedness of the conceptual"] - , meint, dass die normative Autorität des Begrifflichen ihm intern abverlangt, Autorität auf etwas zu übertragen, was es von sich selbst als etwas unterscheidet, das gegenüber dem Begrifflichen bestimmte Ansprüche hat. (Etwas prosaischer gesagt bedeutet dies, dass wir Wahrnehmungsgegenständen die Autorität verleihen, bestimmte Wahrnehmungsansprüche wahr zu machen.) Diese Art dialektischer Auffassung der Beziehung zwischen Spontaneität und Rezeptivität - dass Spontaneität Rezeptivität in sich beschlossen hat, der reine Begriff sich auf sich vermittels seiner Andersheit bezieht - hat Konsequenzen für unser Verständnis von Anerkennung. Wenn Spontaneität Rezeptivität beinhaltet, wird unsere gewöhnliche perzeptuelle Erfahrung durch unsere Begriffsvermögen angeregt werden, ohne dass es dabei notwendigerweise zur Ausübung dieser Fähigkeiten kommen muss. So hängen zum Beispiel unsere Fähigkeiten, Dinge wie etwa Rosen und Schmetterlinge zu identifizieren und wiederzufinden, davon ab, dass wir die entsprechenden Begriffsvermögen erlangt haben, obwohl wir sie beim Identifizieren nicht explizit ausüben. Wir sind in der Lage, Schmetterlinge zu sehen, diese als Schmetterlinge zu identifizieren, fällen dabei jedoch keine expliziten, dies betreffenden Urteile (und haben es auch nicht nötig, dies zu tun).14 Wie es eine dialektische Einheit von Spontaneität und Rezeptivität in der Erfahrung gibt, so gibt es eine solche auch im praktischen Leben. (Um es noch einmal zusagen: An dieser Stelle kann die Hegelianische Darstellung nur skizzenhaft umrissen werden.) Unsere praktische Spontaneität generiert sozusagen Handlungsnormen: Wir suchen zu erkunden, was in einer Vielzahl verschiedener Fälle vernünftigerweise zu tun wäre. Im allgemeinsten Sinne verstanden heißt dies wiederum, dem Ziel, welches wir erreichen oder realisieren möchten, eine rationale Form zu geben.15 Wenn man (mit Hegel aber gegen Kant gesagt) zugesteht, dass die reine praktische Vernunft, oder eine völlig dekontextualisierte Spontaneität, einfach nicht in der Lage ist, sich unabhängig von anderem solche Ziele zu setzen - möglicherweise eine kontroverse These, die aber hier nicht diskutiert werden kann - , dann hat man auch zuzugestehen, dass die praktische Spontaneität ebenfalls das „Andere" seiner selbst in sich enthalten muss, und zwar in Gestalt einer durch unsere Begriffsvermögen angeregten praktischen Wahrnehmung, ohne dass in jedem Fall die Ausübung dieser Vermögen nötig wäre (analog zu jener von theoretischer Spontaneität und Wahrnehmung). Wie uns unsere theoretische Rezeptivität (innerweltliche) Ge14
Wenn wir beginnen, derart explizite Urteile zu fallen, und dann bis zu dem Punkt darüber reflektieren, an w e l c h e m wir die Widersprüche (z. B. im Begriff des Wahmehmungsgegenstandes) bemerken, sind wir veranlaßt, eine unbedingte Darstellung dieser Angelegenheiten zu entwerfen. An diesem Punkt kommt die Dialektik der Wahrnehmung ins Spiel. Sinnliche Erfahrung ist für sich g e n o m m e n in dieser Hinsicht unproblematisch; sie wird nur unter Reflexionsdruck zum Problem. Eine mögliche Reaktion darauf ist der Wittgensteinsche „Quietismus", d. h. die Vorstellung, dass alles in Ordnung wäre, wenn wir einfach von einem solchen Reflexionsdruck auf unsere Sinneserfahrung Abstand
nähmen. Sich selbst interpretierende
Tiere sind dazu allerdings nicht in der Lage. Die per Reflexion entwickelte Dynamik drängt selber zu solchen unbedingten Darstellungen. 15
Eine solche Überlegung lässt sich am leichtesten als Mittel / Zweck-Überlegung verstehen (wobei die Rationalität der Norm mit deren Nutzen verbunden ist). Jedoch ist das nicht der einzige Weg, den die praktische Überlegung nehmen kann. Statt die für einen Z w e c k effektivsten Mittel zu finden, kann es auch darum gehen, die fraglichen Z w e c k e zu spezifizieren. Siehe H. Richardson, Practical Final Ends, Cambridge 1997; ders., Democratic London 2 0 0 3 .
Autonomy:
Public Reasoning
Reasoning
about
about the Ends of
Policy.
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genstände fur das Urteilen präsentiert, bietet uns unsere praktische Rezeptivität verschiedene Güter für das Handeln. Solche Güter können einen direkt zum Handeln antreiben, wenn man einfach sieht, was getan werden muss: der laufende Wasserhahn ist zuzudrehen, der Person, die ausgerutscht und hingefallen ist, muss aufgeholfen werden u. s. w. (Diese Art direkten Wissens besteht, wie Hegel sagt, „eben darin, solche Kenntnisse, Arten der Tätigkeit im vorkommenden Falle unmittelbar in seinem Bewußtsein, ja selbst in einer nach außen gehenden Tätigkeit und in seinen Gliedern zu haben", und zwar auf der Ebene des Handelns, d. h. wie bereits bemerkt, durch Begriffsvermögen angeregt, ohne aber die Ausübung dieser Vermögen zu umfassen. 16 ) Oder aber die Güter, die wir mittels unseres praktischen Empfindungsvermögens in den Blick genommenen haben, bilden die ersten Voraussetzungen weiterer Überlegungen: Sie verschaffen dem Einzelakteur eine Vorstellung davon, was sowohl für Menschen allgemein als auch fur die Art Individuen am Besten wäre, die sie sind. Diese Dialektikkonzeption liegt dem begrifflichen Mittel zugrunde, von welchem Hegel umfänglichen Gebrauch bei der Statuseinschätzung verschiedener, weithin als „philosophisch" betrachteter Problemtypen macht - nämlich der Unterscheidung zwischen „Verstand" und „Vernunft". „Verstand" ist der Typus gewöhnlichen rationalen Denkens, perfekt geeignet fur nahezu alle Anwendungsfalle, von der naturwissenschaftlichen Untersuchung bis hin zu praktischen Überlegungen. Der Kürze halber ließe sich sagen, der „Verstand" klassifiziert und sucht nach Kausalerklärungen fur (im mustergültigen Fall: natürliche) Gegenstände. Auf der anderen Seite ist die Vernunft dazu angehalten, das „Ganze" von Subjektivität und Objektivität zu bedenken, denn sie beschäftigt sich folgernd mit den Bedingungen, unter denen der „Verstand" seine Behauptungen aufstellt. Der „Verstand" aber kommt aus dem Gleichgewicht, wenn er versucht, über subjektive Angelegenheiten auf eine Weise Auskunft zu geben, die fur Objekte geeignet ist. Auf sich selbst gestellt wird er alles als Objekt irgendwelcher Art verstehen und ist somit vom eigenen Erfolg beim Erklären der objektiven, natürlichen Welt dazu getrieben, Subjektivität entweder als aus einer bestimmten Reihe von Objekten bestehend zu betrachten (so ζ. B. „innere", „mentale" Objekte) oder aber als irgendeinen Fall von tiefsitzender Illusion. So gesehen macht der ganz gewöhnliche Schauplatz menschlichen Handelns eine stärker dialektische Weltauffassung notwendig, denn menschliches Handeln ist in der Tat Subjektivität, die sich in der natürlichen Welt zur Geltung bringt. Der „Verstand" aber, also unsere höchst alltägliche Reflexionsbeziehung zur Welt wie zu uns selbst, neigt dazu, uns die Beziehung zwischen Angelegenheiten wie etwa Intentionen und dem Handeln in der Weise verstehen zu lassen, wie wir über alles übrige denken, nämlich als irgendeine, zwischen zwei Dingen bestehende Beziehung (ζ. B. zwischen einem „inneren" Ding, wie einer Intention, und einem „äußeren" Ding, der Handlung selbst). Im eher explikativen Diskurs hat der 16
G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Werke in zwanzig Bänden, hg. v. E. Moldenhauer und Κ. M. Michel, Frankfurt/M. 1971, Bd. 8, § 66, S. 156 (Hervorhebungen von mir, T. P.). Direktes Wissens dieser Art setzt Vermittlungen im Hintergrund voraus. Bestimmte vermittelnde Begriffe werden erlernt und darauf folgend in unmittelbarer Weise genutzt. Im Umkreis des hier zitierten Passus schreibt Hegel, ,,[d]ie Geläufigkeit, zu der wir es in irgendeiner Art von Wissen gebracht haben, besteht eben darin, solche Kenntnisse, Arten der Tätigkeit im vorkommenden Falle unmittelbar in seinem Bewusstsein, ja selbst in einer nach außen gehenden Tätigkeit und in seinen Gliedern zu haben. - In allen diesen Fällen schließt die Unmittelbarkeit des Wissens nicht nur die Vermittlung desselben nicht aus, sondern sie sind so verknüpft, daß das unmittelbare Wissen sogar Produkt und Resultat des vermittelten Wissens ist." Siehe ebd.
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„Verstand" die Tendenz, diese Beziehung als Kausalrelation zu deuten (also als Abbild der rationalsten Weise, die Beziehungen zu interpretieren, die zwischen Dingen der natürlichen Welt bestehen). Nimmt man diese Perspektive ein und versucht, Handeln in Begriffen zweier „Dinge" zu verstehen (inneren Intentionen und äußeren Absichten), so kommt man schnell dazu, die bloße Idee von freier Handlung mehr oder weniger unverständlich zu finden. Das naturgemäße Resultat dieser höchst alltäglichen Reflexion fuhrt uns zu einem wohlbekannten Ergebnis: Man ist genötigt, so muss es scheinen, das eine „Ding" (die innere Intention) als etwas von all den anderen „Dingen" völlig Verschiedenes zu verstehen, so dass es selber nicht die Kausalwirkung anderer „Dinge" sein kann (ein Gedanke, der Kant auf die Idee brachte, Freiheit sei nur dadurch zu retten, dass deren Kausalität im Unterschied zur Naturkausalität gedacht wird und die Unterscheidung, die die kritische Philosophie zwischen Erscheinungen und dem unerkennbaren Dingen an sich macht, dazu zu verwenden, dieser These Nachdruck zu verleihen). Demgegenüber schlägt Hegel vor, Intentionen und Handlungen als separate Bestandteile (oder „Momente") eines Ganzen zu verstehen: Eine Intention wäre somit eine Handlung unter ihrem „inneren" Aspekt betrachtet (eine Handlung, die dabei ist, verwirklicht zu werden). Die Handlung wiederum wäre die Intention unter ihrem „äußeren" Aspekt betrachtet (die verwirklichte Intention). Die Verwirklichung einer Intentionen kann natürlich auch scheitern - man kann von ihrer Umsetzung abgehalten werden, es sich anders überlegen etc. - , auch könnte sich die Absicht im Prozess ihrer Verwirklichung ändern (in der Weise, wie man öfters seine Absichten im Lichte ihrer handelnden Verwirklichung ändert). (Es gibt auch eine Unterscheidung zwischen Handlung und Tat, aber das ist eine andere Angelegenheit. 17 ) Somit birgt die Dialektik zwischen Intention und Handlung ein philosophisches Problem, unabhängig von den eher moralischen und rechtlichen Fragen der Zumessung individueller Verantwortlichkeit. An Hegels Darstellung ist bemerkenswert, das die letzteren Fragen von sich her keine Dialektik entfalten. So kann man, der gegenwärtigen US-amerikanischen Rechtsprechung folgend, Menschen unabhängig von ihren Absichten fiir die Folgen ihrer Handlungen verantwortlich machen (wie in den Feststellungen zur verschuldensunabhängigen Haftung im Deliktsrecht). Angelegenheiten dieser Art sind völlig unabhängig von der dialektischen Frage, wie sich Subjektivität in der natürlichen Welt zur Geltung bringt.
17
Dessen bündigste Diskussion findet sich in § 118 der Rechtsphilosophie. Hier (wie an verschiedenen anderen Stellen) unterscheidet Hegel zwischen Handlungen und Taten, d. h. zwischen den Konsequenzen der Handlung, die dieser intern zugehören, also Teil dessen sind, was man zu tun beabsichtigt (jemanden erschrecken, einen Artikel schreiben, das Licht anmachen u. s. w.) und den Konsequenzen jenseits des Komplexes von Absicht und Handlung, die auf ihn gleichwohl kausal bezogen sind (ein Sportler ζ. B. gewinnt einen Wettkampf, was Mr. X zu einem reichen Mann macht, denn der hatte auf diesen Sportler eine große Summe gewettet - der Reichtum von Mr. X war jedoch zu keinem Zeitpunkt Teil der Absichten des Sportlers gewesen). Es gibt also eine Unterscheidung zwischen der Handlung als dem „Intentions- und Handlungskomplex" und dem, „was letztlich rauskommt" (der „Tat"), was extensiver sein kann als der Intenions-Handlungs-Komplex selber. Hegel erkennt, dass hiermit schwierige Fragen persönlicher Verantwortlichkeit verbunden sind. Die jedoch müssen nicht tiefgreifend philosophisch sein - geht es hierbei doch eher um rechtliche, gesellschaftliche und politische Konsequenzen der Tatsache, dass Menschen eine über ihre Absichten hinausgehende Verantwortlichkeit haben, womit dann auch Einschätzungen dessen ins Spiel kommen, was eine zurechnungsfähige Person hätte vorausgesehen haben können.
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III. Die zweite These lautet: Gesellschaftliche Güter sind gesellschaftliche Tatsachen, die in Mustern gegenseitiger Anerkennung instituiert und aufrechterhalten werden. Die grundlegenden gesellschaftlichen Tatsachen bieten individuellen Akteuren Orientierungen im Lebenslauf. Zumindest widerspricht der gesellschaftliche, dialektische Handlungsbegriff der eher orthodox-kantianischen Idee, so etwas wie die reine praktische Vernunft könne aus sich selbst heraus den richtigen Inhalt oder die richtige Art motivationaler Wirksamkeit für das Handeln bereitstellen. Die dialektische Konzeption verlangt uns demgegenüber ab, die „objektiven Zwecke" freien Handelns als mit derfaktischen Ausstattung menschlicher Akteure verbunden zu verstehen. Falls es, anders gesagt, so etwas wie objektive Zwecke für Akteure gibt, dann müssen diese den Akteuren Güter bieten, die diese Akteure ansprechen, die ihrem Handeln „Anreize" geben und damit Teil der subjektiven motivationalen Ausstattung werden, die einem jeden - als Individuum - Handlungsgründe liefern, auch wenn diese im Widerspruch zu dessen eher unmittelbaren Begierden stehen sollten.18 Wie kann es im Rahmen dieser Interpretation unbedingte Zwecke geben? Bei der Gestaltung solcher Güter spielen offensichtlich natürliche Tatsachen eine Rolle. Menschen werden geboren, sie altern und sterben. Sie brauchen Nahrung, Wasser und Schlaf. Verschiedene Weisen der Zuwendung und Bindung an andere sind für ihre seelische Stabilisierung notwendig. (Die Aufzählung ließe sich fortsetzen.) Jedoch nicht alle menschlichen Güter sind natürliche Komplexionen grundlegender animalischer Bedürfnisse und Begierden. Einige befinden sich an verschiedenen Stellen des gesellschaftlichen Raumes und bilden die ge18
Hierbei steht aber noch mehr auf dem Spiel. Es geht nämlich dabei auch darum, ob dies eine Qualifikation ist, der alle Akteure unterliegen, oder doch nur solche, die sehr begrenzter geschichtlicher Gründe wegen zu der Überzeugung gelangt sind, ihr Denken und Wollen sei, wie Hegel sagt, „unendlich", das heißt als normativ für alle Zeiten zu verstehen, also als im Wesentlichen nicht an besondere Tatsachen oder Gegebenheiten gebunden. Für solche modernen, also geschichtlich bestimmten Akteure trennt sich das „Rechte" vom „Guten". Das muss näher bestimmt werden. Während es in der Tat merkwürdig wäre, das „Gute" unabhängig von den biologischen Gegebenheiten der Geburt, des Todes, der Natur und Dauer menschlichen Heranwachsens zu verstehen, unter Absehung von Fragen der Gesundheit und Krankheit, der Tatsache der an Sexualität gebundenen Gattungsreproduktion wie auch anderer gesellschaftlicher, kultureller und wirtschaftlicher Realitäten, hängt doch andererseits das, was als recht zählt, davon ab, wie diese verschiedenen Tatsachen sich einer Auffassung dessen zuordnen lassen, was der rechte und beste Weg der Lebensführung wäre, und wie diese Zuordnung Zugang zum eigenen Handeln und Gefühlsleben findet. Der Gedanke, dass die Grundlage für eine solche Bewertung in den zweckorientierten Strukturen des „Lebens" zu finden sei, ist fernerhin ein neoaristotelischer Gedanke, der in jüngerer Zeit seinen Niederschlag in den Arbeiten von Alasdair Maclntyre und Michael Thompson gefunden hat. Siehe insbesondere A. Maclntyre, Dependent Rational Animals: Why Human Beings Need the Virtues, Chicago und LaSallel999, insbesondere Kapitel 6, „Reasons for Action". Die Idee, ein unabhängig denkender, praktisch vernünftiger Mensch zu werden macht, so Maclntyre, nur dann Sinn, wenn wir uns bereits zu Beginn unseres Lebens an einigen Gütern orientieren. Auf S. 56 schreibt er: „Den ersten Schritt in diesem Wandel macht das Kind, wenn es befähig wird, den Hinweis zu bedenken, das Gut, auf welches es sich gegenwärtig seiner animalischen Natur wegen richtet, sei einem anderen, alternativen Gut gegenüber minderwertig, und dieses andere Gut liefere dem Handeln einen besseren Grund ... Möglich ist dies nur, wenn es tatsächlich ein Gut gibt, welches das Kind erstrebt." Siehe auch M. Thompson, „The Representation of Life", in: R. Hursthouse, G. Lawrence, W. Quinn, (Hg.), Virtues and Reasons: Philippa Foot and Moral Theory, Oxford, New York 1995.
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seilschaftlichen Tatsachen der Welt eines Individuums. Dennoch, gesellschaftliche Tatsachen sind genau das - Tatsachen. Um modernen Akteuren irgendeine Reihe normativer Zwecke bieten zu können, müssen, so Hegel, diese gesellschaftlichen Tatsachen als Verwirklichungen von Freiheit fungieren. Dies aber können sie nur dann, wenn sie den Akteuren Güter, Anreize für das Handeln (wie auch für die Wertschätzung, Hingabe u. ä.) verschaffen, was auch so verstanden werden kann, ihnen gute, alles übergreifende HandlungsgrwWe zu vermitteln, die zugleich als solche verstehbar sind, die zu den Bedingungen der Verwirklichung von Freiheit passen. Und für die Einbindung dieser Güter in eine Lebensform ist es erforderlich, eine praktische Sensibilität zu entwickeln. Nur so können sie „gesehen" werden und lassen sich die verschiedenen Arten gesellschaftlichen Handelns verstehen, die sie erfordern, die ihnen angemessen sind u. s. w. Die „Idee" einer Welt- und Gesellschaftsordnung, in der die grundlegenden gesellschaftlichen Tatsachen miteinander harmonierten (wobei man bedenken sollte, dass Harmonie nahezu immer mit einem bestimmten Maße an Missklang einher geht), wäre die „Idee" der Versöhnung von normativer und faktischer Ordnung, d. h. eine solche „Idee", in welcher die verschiedenen Weisen gegenseitigen Verpflichtetseins (in der Familie, bei der Karriere, durch die eigene Stellung in Gesellschaft wie Gemeinde, durch Ansprüche der Staatsbürgerschaft oder jenen eher allgemeinen, nämlich aus freien Stücken eine gute, eine moralische Person zu sein) miteinander im Einklang wären, obwohl das Festhalten an einigen dieser Verpflichtungen oder allen mit großer Wahrscheinlichkeit zu verschiedensten Einbußen fuhren würde. So könnten Wünschen und Träume unerfüllt bleiben, Karriereziele der Familie wegen geopfert, die persönliche Fortentwicklung durch staatsbürgerliche Pflichten vereitelt werden u. s. w.19 Um diesen Akteuren wirkliche Güter im modernen Wortsinn zu sein, müssten sie ihnen die Bedingungen für eine „sinnvolle" Lebensführung schaffen, und die wechselseitige Anerkennung wäre die Bedingung dafür, dass solche Güter auf deren praktisches Empfindungsvermögen treffen. So ist man ζ. B. Staatsbürger oder Ehegatte, weil man als solcher Anerkennung findet. Man kann kein Akteur sein, für den das Rechte Vorrang vor dem Guten hat, ohne durch das gesellschaftlich und geschichtlich geprägte Gute motiviert zu sein. Eine vollständige Erörterung eines solchen Guten hätte in Betracht zu ziehen, was ich andernorts Hegels „entzauberten aristotelischen Naturalismus" genannt hatte.20 Die Güter, die für uns als Organismen natürlich sind, sind dies auf eine Weise, die einerseits die Grundlage unserer geschichtlich dichten Prakti-
19
Dies gehört m. E. zum Wesentlichen der andererseits rätselhaften wahrheitstheoretischen Aussagen Hegels. Eine jede angemessene Deutung von Hegels Wahrheitsbegriff würde mehr Raum beanspruchen, in nuce heißt das aber folgendes: Da Natur dem „Geist" äußerlich, das andere seiner selbst ist, lassen sich wahre Aussagen im Zusammenhang natürlicher Tatsachen nur so verstehen, dass unsere Ideen, zumindest im Sinne von „Vorstellungen", den natürlichen Gegebenheiten folgend zu gestalten sind. Dies ist nur dann möglich, wenn sie auch im Sinne naturwissenschaftlicher Theorien begriffsgeleitet sind. Im Bereich gesellschaftlicher Tatsachen jedoch kann von einigen dieser Fakten gesagt werden, sie seien falsch, weil sie - obwohl wirklich existent - den praktischen Handlungsanforderungen nicht entsprechen. Eine wahre gesellschaftliche Tatsache ist, zumindest in der Moderne, eine Verwirklichung von Freiheit. Während, wie Hegel zu betonen nicht müde wird, für den Fall natürlicher Tatsachen das Korrespondenzkriterium der Anpassung der Idee an die Tatsache gilt, geht es im Falle gesellschaftlicher Tatsachen um die Korrespondenz der Tatsache an den hinlänglich herausgearbeiteten Begriff.
20
T. Pinkard, „Liberal Rights and Liberal Individualism Without Liberalism: Agency and Recognition", in: E. Hammer (Hg.), German Idealism: Contemporary Perspectives, London 2007, S. 206-224.
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ken bilden, die andererseits durch diese Praktiken aber auch wandelbar ist. Güter dieser Art sind wichtig für die kontinuierliche Lebensgestaltung, sie fungieren auf verschiedenen Wegen als integrale Komponenten - Hegel würde sie „Momente" nennen - der Selbstbestätigung durch die eigenen individuellen Lebensprojekte und damit der gedeihlichen Entwicklung von Individuen und Gemeinschaften. Sie bieten uns keine „Rollen", wie ζ. B. in der modernen Soziologie verschiedentlich behauptet wird (dies wäre zu theatralisch gedacht). Sie geben uns, mit Kant gesprochen, Orientierungen.21 Darüber hinaus ist dieses Gute plural - es kann kein bestimmtes Maß geben, anhand dessen sich die Güte ζ. B. des Familienlebens mit der einer erfolgreichen Karriere vergleichen ließe. Die Einheit der Güter lässt sich nicht durch deren Anordnung gemäß einer Begriffs- oder Prinzipienarchitektur finden (wie Kant dies in der Metaphysik der Sitten versucht hatte, ein Modell, das jüngst im englischsprachigen Raum in vielen formalistischen Konzeptionen politischer Philosophie aufgegriffen worden ist). Sie liegt statt dessen im Verständnis ihrer Funktion für eine Lebensform, der Freiheit die Bedingung dafür ist, diese mutmaßlichen Güter als wirkliche Güter begreifen zu können. Diese Güter finden nicht automatisch zueinander; ihre Eigenschaft, Güter zu sein, schließt nicht von vornherein aus, dass sie Akteure in den Lebensformen, in denen sie sich als Güter zeigen, konfligierenden Bindungen unterwerfen. Die Einheit dieser Güter muss statt dessen durch die Prüfung der institutionellen und praktischen Bedingungen gefunden werden, unter denen diese Güter - als Verwirklichung von Freiheit - tatsächlich Einzug ins Leben halten, sowie durch die Erkenntnis des wirklichen Zusammenspiels dieser verschiedenen Institutionen und Praktiken - auch wenn einige dieser Güter (etwa aus dem Bereich der „Moralität") einander oder andern Gütern aus einem anderen Bereich der gesellschaftlichen Tatsachen (ζ. B. etwa der bürgerlichen Gesellschaft) widersprechen sollten. Im Gegenzug müssten wir dann auch untersuchen, warum sich geschichtlich das „Rechte" zwangsläufig vom „Guten" trennen musste und wieso in unserer Zeit - „in Gedanken gefasst" - dem Rechten der Vorrang vor dem Guten gebührt, d. h. das Gut der Staatsbürgerschaft hinreichend Orientierung bietet, so dass es den Einzelnen von so großer Wichtigkeit ist. Als ein Beispiel für eine solche gesellschaftliche Tatsache, die in der Moderne ein Gut ist, kann der Status von „Karriere" gelten. Denn das Wort ist vergleichsweise jung, findet Eingang in den englischen Sprachraum im Jahre 1803 (vom Französischen her, das es nahezu gleichzeitig aufnimmt). Gesellschaftliche Tatsachen wie „Karrieren" bieten Möglichkeiten zur Lebensgestaltung, Zielsetzung und der Erkenntnis dessen, was als Erlangung des Ziels zählt. Jedoch kommen sie nur innerhalb einer Lebensform zum Vorschein und erlangen nur 21
Es ist eine wirkliche Versuchung, diese gesellschaftlichen Tatsachen als gesellschaftliche Rollen zu verstehen. Ich bin ihr früher selber erlegen. Unter Umständen kann das ziemlich irreführend sein. Denn es legt eine allzu theatralische Version des modernen Lebens nahe - als ob wir gegeneinander abgekapselte Monaden wären, die einander gleichsam als Maskenträger verschiedene Charaktere vorspiegelten. Statt diese Tatsachen als „Rollen" zu betrachten, sollte man in ihnen eine Reihe übergreifender Orientierungen sehen. Insbesondere im Kontext moderner, individualistischer Lebensformen ist man, wie Robert Pippin angemerkt hat, versucht, Gesellschaftlichkeit (wie etwa in der Spieltheorie) nach dem „Ich-Wir"-Modell zu interpretieren. Das wiederum bietet einen Anreiz dafür, sich zu „dramatisieren" oder gar mit dem „Wir" Kompromisse einzugehen (d. h. das Spiel gut zu spielen, ohne sich zugleich mit ihm zu identifizieren). Was wie die gegenläufige Versuchung aussieht, nämlich gegen das „Wir" zu revoltieren, ist nur die Kehrseite derselben Medaille. Siehe R. Pippin, „Authenticity in Painting: Remarks on Michael Fried's Art History", Critical Inquiry 31 (Spring 2005).
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dort eine bestimmte Gestalt - genauer gesagt nur im Zusammenhang von Institutionen und Praktiken, welche diese Lebensform aufrichten und reproduzieren. Ob diese Güter - denen wir ja durch unsere Teilnahme an diesen Strukturen gegenseitiger Anerkennung begegnen, d. h. durch Partizipation an einer Lebensform - aber einander entsprechen oder in sich konsistent sind, d. h. ob ein bestimmter Status wie der eines „Bürgers" nicht doch in sich verschiedene einander widersprechende Forderungen birgt, denen Akteure ausgesetzt werden und die ihnen dabei eine zu große motivationale Last aufbürden, oder ob der Bürgerstatus mit dem der Karriere im Widerspruch steht - all dies ist keine im voraus gegebene Sache.22
IV. Die dritte These lautet: Anerkennung, die sich nicht auf die Gründung und Aufrechterhaltung der ihr angemessenen Güter erstreckt, wird als Entfremdung erfahren. Um die bisher vorgestellten Thesen zu rekapitulieren: Hegel hat eine allgemeine Metaphysik des Handelns entwickelt, welche sich in einem dialektischen Handlungsbegriff verbirgt (eine Zusammenfassung dieser Position findet sich u. a. in der Einleitung zur Rechtsphilosophie). Eine solche allgemeine Metaphysik des Handelns ist jedoch, seiner eigenen dialektischen Grundannahmen wegen, unweigerlich abstrakt und unvollständig. Sie drängt auf ihre Verwirklichung in einer gesellschaftlichen Theorie des Rechten und Guten. Die Schritte, die Hegel hierbei vollzieht, sind kurz gefasst die folgenden: Erstens benötigen wir, um praktisch argumentieren zu können, erste Prinzipien. Diese aber lassen sich weder vom „Verstand" herleiten noch der „reinen praktischen Vernunft" entnehmen. Sie können zweitens letztlich nur in Gestalt gesellschaftlicher Tatsachen verwirklicht und gewusst werden (d. h. in ihnen gibt es ein Moment „Positivität"). Diese gesellschaftlichen Tatsachen werden drittens durch Akteure kollektiv instituiert, und zwar innerhalb einer Lebensform vermöge der Strukturen gegenseitiger Anerkennung; als gesellschaftliche Tatsachen jedoch sind sie jedem individuellen Akteur wie auch dessen Deliberationsakten gegenüber unabhängig. Hegel ist der Auffassung, dass eine solche Sichtweise aus sich heraus zumindest eine abstrakte Vorstellung von einer versöhnten gesellschaftlichen Ordnung ergibt. Sie wäre die des „wahren Geistes", in der (a) die gesellschaftlichen Tatsachen den individuellen Akteuren Orientierungen verschaffen und die Akteure diese Orientierungen als unbedingte Verpflich22
An dieser Stelle ist jedoch ein wichtiger Vorbehalt zu machen. Obwohl es sich bei diesen Status um gesellschaftliche Umgangsformen handelt, ist deren normativer Gehalt nicht wesentlich mehr „meine Sache" als die Bedeutung eines linguistischen Terminus die meinige ist. Soweit eine solche gesellschaftliche Umgangsform allein die meinige ist, zählt sie nur, w i e Hegel bemerkt, als Mangel (siehe
Rechtsphilosophie,
§ 8). Obwohl dies zu einer anderen Diskussion gehört, ist es doch wichtig zu betonen, dass die Emphase der Moderne auf Subjektivität und Individualität in Teilen eine natürliche Dynamik entfaltet, die uns suggeriert, all diese Umgangsformen als irgendwelche Angelegenheiten individueller Wahl zu betrachten, was dann wiederum der Auffassung v o m gesellschaftlichen Leben als Theatralisierung, als Rollenspiel Nachdruck verleiht - als ob uns diese Umgangsformen auferlegt würden und wir dann bestenfalls in der Lage wären, sie zu manipulieren,
statt in ihnen zu leben. Dies ist eine hauptsächliche Stoßrichtung jenes Kapitels von
Hegels Phänomenologie
aus dem Jahre 1807, das die Überschrift trägt: „Die Individualität, welche an und
für sich reell ist". Hier versucht Hegel zu zeigen, dass ohne eine tragfähige Konzeption der „Sache selbst" qua Umgangsformen dem gesellschaftlichen Leben nur die Gestalt arglistiger Theatralik bleibt. Siehe: T. Pinkard, „Shapes of Active Reason: The Law o f the Heart, Retrieved Virtue, and What Really Matters", in: K. Westphal (Hg.), The Blackwell 's Guide to Hegel's Phenomenology
of Spirit, London 2008.
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tungen verstehen, (b) Die Resultate, die sich ihnen in ihrer konkreten Lage aus der Befolgung der Forderungen - aus der Verwirklichung ihrer unbedingten Verpflichtungen - ergeben, sind selber immer harmonisch, (c) In einem solchen Leben ist jede individuelle Position aus sich selbst heraus zufrieden stellend, bietet den Akteuren also wertvolle, tatsächlich erreichbare Ziele. Eine solche Ordnung gibt den Individuen somit die Möglichkeit, im Alltagsleben völlig aufzugehen und zugleich eine hinreichend selbstbewusste Distanz zu ihren eigenen Aktivitäten aufrechtzuerhalten. Dieser Zustand wäre die vollständige Verwirklichung von Freiheit als Teil der dialektischen Handlungskonzeption: Er wäre der Zustand selbstbewusst kritischer Reflexion und völliger Einbindung in die Tätigkeiten des guten Lebens in einem. 23 In seiner 1807 erschienenen Phänomenologie des Geistes präsentiert Hegel seine eigene, etwas idiosynkratische Ansicht, warum das moderne Vertrauen in die Vernunft - verstanden als allein durch individuelle Akteure praktizierte Kapazität - , konfrontiert mit der Problemkonstellation der europäischen Gesellschaft des frühen 19. Jahrhunderts, eine grundlegendere Konzeption heraufbeschwört: die Gesellschaftlichkeit der Vernunft, des Geistes selbst. Es ist die Vorstellung von einer Lebensform als verwirklichter Freiheit - des „verwirklichten Geistes" - , die aus sich heraus die Konzeption entwickelt, was der „wahre Geist" in seiner Einheit von Selbstbewusstsein und völliger Einbindung wäre. In einem der eher provokanten Gedankengänge dieses Buches identifiziert Hegel den „wahren Geist" mit der Polis des antiken Griechenland (zumindest in ihrer idealisierten Form). Eine solch antike Form des „wirklichen Geistes" wird als quasi-Leibnizianische Harmonie vorgestellt, denn jeder Akteur spiegelt in sich das Ganze. Was nun aber die Harmonie des Ganzen sichert, ist nicht etwas dem Ganzen Äußerliches (wie etwa Gott in Leibniz' Vorstellung der Sache). Es sind statt dessen die Handlungen der Individuen dieser Lebensform, die beim Befolgen der sich aus ihrer konkreten Lage ergebenden Notwendigkeiten so unausweichlich wie spontan eine Art Harmonie der gesellschaftlichen Ordnung erzeugen (die deshalb selber so etwas wie das Kantische Schöne verkörpert). 24 Diese Harmonie wird aber dadurch getrübt, dass sie selber die Entwicklung einer Form von Individualität hervorruft, die sie zugleich unterdrücken muss. Hegel sieht dies 23
Siehe G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, hg. v. H. F. Wessels u. H. Clairmont, Hamburg 1988, S. 236. Über einen solchen „wahren Geist" schreibt Hegel an dieser Stelle: „Aus diesem Glücke aber, seine Bestimmung erreicht zu haben, und in ihr zu leben, ist das Selbstbewußtsein, welches zunächst nur unmittelbar und dem Begriffe nach Geist ist, herausgetreten, oder auch - es hat es noch nicht erreicht; denn beides kann auf gleiche Weise gesagt werden."
24
Das ist deutlich Hegels Art, die Kantische Idee der Freiheit als rationalem Zwang zu reformulieren und diese gesellschaftlich und geschichtlich zu situieren. Kant zufolge ist eine freie Handlung eine solche, in welcher die Maxime zwingend die Handlung produziert. Natürlich sei eine solche Handlung, so behauptet er, nur dann möglich, wenn die Vernunft die noumenale, nicht aber die phänomenale Ursache der Handlung ist und der Akteur die Vernunft als einen Beweggrund zu erkennen vermag (um sie kausal wirksam zu machen). (Zu Maximen als zwingend handlungserzeugend siehe: J. Timmermann, Kant's Groundwork of the Metaphysics of Morals: A Commentary, Cambridge 2007.) Hegel interpretiert die sozialen Status im antiken griechischen Leben als etwas, das den jeweiligen Akteuren mit einer Art „Maximen" ausstattet, die notwendigerweise die Handlungen erzeugen, die die Akteure übernehem. Dass das Resultat für harmonisch gehalten wird, zeigt die begriffliche Affinität des griechischen Lebens zu dem, was Kant „Reich der Zwecke" nennen würde, und in welchem jeder Akteur die Autorität des Ganzen widerspiegelt. Das griechische Leben zeigt, dass dort, wo die Struktur der gesellschaftlichen Rationalität mit sich selbst in Konflikt gerät, keine spontane Harmonie (wie im „Reich der Zwecke") entstehen kann. Das Ganze vermag sich unter diesem Selbstwiderspruch nicht zu erhalten.
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bekanntermaßen mustergültig veranschaulicht im tragischen Dilemma, mit dem sich Antigone in Sophokles' Stück konfrontiert sieht: Antigone muss sich Kreon fügen, d. h. ihrem Bruder die ihm zustehenden Bestattungsrituale verweigern; zugleich muss sie ihrem Bruder diese Rituale gewähren, d. h. sich Kreon widersetzen, und, dies ist das wichtigste, darf zwischen diesen beiden, einander widersprechenden Pflichten keine autonome Entscheidung treffen. Angesichts dessen, dass beide Pflichten, nämlich sich Kreon zu fügen und die Bestattungsrituale für ihren Bruder zu vollziehen, absolut sind und einander ausschließen, und angesichts der Tatsache, dass es ihr untersagt ist, eine autonome Entscheidung zwischen ihnen zu treffen, sie aber in der Tat eine solche Entscheidung zu treffen hat, muss, was immer sie tut, falsch sein. Diese Vorstellung vom „wahren Geist" und seinem selbstverursachten Ruin bilden fiir Hegel den Kontext für die Diskussion der, wie er glaubt, zwei hauptsächlichen Herausforderungen des europäischen Lebens nach der Selbstzerstörung der antiken Polis. Die erste hat mit dem Selbstbewusstsein der Konflikte zu tun, die das gesellschaftliche Leben unausweichlich durchdringen. In jeder Lebensform, in der es einander widersprechende Pflichten gibt - und in der die Pflichten eine bestimmte Gestalt rationalen Zwangs, also dessen, was man tun muss, annehmen - , sind Individuen in einem dialektischen Sinne genötigt, sich von diesen Pflichten zu distanzieren und diese anhand eines anderen Maßstabs zu bewerten. Worum es sich bei diesem anderen Maßstab handelt, bleibt notwendigerweise eher abstrakt und (da er selber notwendig ist) gleichfalls unweigerlich in jene Widersprüche verstrickt, die zum Vorschein kommen, wenn eine Lebensform eine umfassende und bedingungslose Selbstauskunft zu geben versucht. Die zweite Herausforderung für das Leben im Europa der Frühmoderne war, wie in der Zeit vor 1789 auf die „Ausdünnung" der Lebensform reagiert werden sollte. Dabei ging es darum, dass die in dieser Lebensform gemeinsam geteilten verbindlichen Güter abstrakt, entleert und verschlankt worden waren - was gesellschaftliche Tatsachen betraf, die mit Vorstellungen von Ehre, Adel und gemeinem Volke sowie den jeweiligen Wegen zu tun hatten, auf denen man im frühmodernen Leben Macht und wirtschaftlichen Einfluss als angemessen zugewiesen betrachtete. Dem mittelalterlichen und nachmittelalterlichen Verständnis einer idealen, letztlich in drei Stände geteilten Gesellschaft gemäß, denen wiederum drei Grundfunktionen gesellschaftlichen Lebens entsprachen - ich kämpfe für dich (Aristokratie), ich bete für dich (Priester und andere Kirchenpersonen), ich arbeite für dich (alle Gemeinen) - , konnte sich nur der Adel (und einige Kirchenpersonen), so wurde behauptet, fiir die Ausübung der Staatsmacht eignen. Nur die Aristokratie war, so glaubt man, zu jener dafür notwendigen Selbstdistanzierung und Selbstpreisgabe fähig. Reiche Bürger hingegen schienen viel zu eigeninteressiert und damit zu gemein, um den gleichen Anspruch zu erheben. Als jedoch mit dem Aufstieg der Marktwirtschaft im frühmodernen Europa die Unterscheidung zwischen Adel und Gemeinen (insbesondere wohlhabendem Bürgertum) schwand, begannen Monarchen aller führenden europäischen Staaten, einer Eigenlogik folgend, begüterte Bürger in den Adelsstand zu erheben, weil diesen einfach nicht länger der Zutritt zum Reich der Auserwählten verwehrt werden konnte. Sobald dieses neue gesellschaftliche Faktum im Leben verankert war, wurde nahezu jedem ernsthaft denkenden Menschen zunehmend klarer, dass die alte Ordnung nicht auf irgendeiner naturgegebenen Reihe gesellschaftlicher Funktionen, sondern allein auf Anerkennung und bloßer Macht gründete. Das fortwährende Festhalten der Aristokratie an den Hebeln der Macht wurde zunehmend als das ersichtlich, was er war: die Art und Weise, auf welche die Machthabenden gegeneinander und gegen die ihnen Untergebenen eine ritualisierte Kontoführung betrieben. Der Anspruch des Adels, von der eigenen „Natur" her seine Interessen mit den wirklichen Interessen des Staates
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identifizieren zu können, hatte seine Glaubwürdigkeit verloren. Bürger und Aristokrat trennte kein wesenhaft normativer Unterschied sondern, so wurde immer deutlicher, die Verschiedenheit von Anschauungsweisen. Im Ergebnis der Trennung von Aristokraten und Gemeinen kam es zu einer tiefgreifenden Entfremdung der einen von den anderen, von sich und dem „Geist" oder der Lebensform, die sie teilten. In der Tat bleibt in einer solch ausgedünnten geistigen Welt den „Individuen" nichts übrig, als sich mit so etwas wie dem Führen eines Punktekontos zu beschäftigen, wobei jeder Einzelne mit einem Satz aufgestellter Propositionen beginnt, um darauf folgend reziprok die Ansprüche anderer dahingehend zu beurteilen, ob sie der Liste der Ansprüche ent- oder wiedersprechen, die man selber anerkennt.25 Wo Anerkennung nur im Aushandeln solcher Normen besteht, ohne dass es eine substanziell gewichtige Lebensform gäbe, kann sie nur zu Leere und Entfremdung der Akteure voneinander und von der Lebensform fuhren, in welcher sie interagieren. Welche gesellschaftlichen Tatsachen als orientierende Güter zählen, hängt ja vom Kampf oder der Klasse ab, nicht aber von der Wahrheit. Das Zeichen der Autorität erhält jener, der das Spiel gewinnt, aber die Sieger in diesem Spiel müssen sich auf etwas jenseits ihres Erfolges berufen, um die Regeln zu erstellen, nach denen sich ihr Anspruch bemisst, den Standard zu setzen. Nun hatte Hegel sicherlich seine eigene und ganz offenkundig kontroverse geschichtliche These, wie ein solches individualistisches Modell praktischer Wirklichkeit wie das Kontofuhren zum Zusammenbruch dieser Lebensweise - als einer von Adel und Bürgertum gleichermaßen erfahrenen Entfremdung - geführt hat. Der Zusammenbruch meint sowohl, dass die Entleerung der gesellschaftlichen Ordnung offenbar wird, d. h. deren schwindendes Vermögen, lebensorientierende Güter bereitzustellen, als auch, dass das Praktizieren gegenseitiger Anerkennung als Kontofuhren die Künstlichkeit dieser gesellschaftlichen Güter zum Ausdruck bringt. Finden bestimmte Akteure erst einmal als unabhängig von einander agierende Individuen Anerkennung - kommt also dieser Art Individuen und den von ihnen individuell 25
Der Terminus „Kontofiihren" [„scorekeeping"] wird von Robert Brandom gebraucht, um einerseits zu erklären, wie Begriffsgehalte sowohl perspektivisch als auch gemeinsam geteilt sein können, andererseits um eine Objektivitätskonzeption zu entwickeln. Brandom zufolge ist Objektivität selber ein Strukturmerkmal diskursiver InterSubjektivität, welche er wiederum als eine koordinierte Reihe von „Ich-du"-Beziehungen darstellt (den Beziehungen zwischen den Verpflichtungen, die ein Kontoführer bei der Interpretation anderer eingeht, und jenen, welche dieser Kontofuhrer den anderen zuordnet). Siehe: R. Brandom, Making It Explicit: Reasoning, Representing, and Discursive Commitment, Cambridge 1994, S. 599; dtsch: Expressive Vernunft. Begründung, Repräsentation und diskursive Festlegung, übers, v. E. Gilmer u. H. Vetter, Frankfurt/M. 2000, S. 831. Brandom kontrastiert diese mit dem, was er „Ich-wir-Analysen" nennt, die fälschlicherweise eine privilegierte Perspektive annehmen - die der Gemeinschaft. In einer „Ich-du"-Beziehung ist jede Perspektive bestenfalls lokal privilegiert (Making It Explicit, S. 600; Expressive Vernunft, S. 832). Brandom zufolge sind „deontische Status" [„deontic statuses"] (wie etwa „wissen") Recheneinheiten der diskursiven Kontoführung und „deontische Einstellungen" [„deontic attitudes"] die Tätigkeit des Kontoführens, durch die jene Status instituiert werden (ebd., S. 593 resp. S. 823). Die individualistische Haltung des Kontoführens wäre die entfremdete Haltung, die Hegel in den genannten Abschnitten der Phänomenologie beschreibt. Sicherlich, Brandom stellt in Abrede, dass das Kontoführen nur eine Sache der Koordination ist. Eine solche Interpretation würde es zu einer Instanz des „Regularismus" machen, den er im ersten Teil der Expressiven Vernunft kritisiert. Allerdings bleibt schwer begreiflich, wie die spätere Darstellung des Kontofuhrens im gleichen Buch (zum Ende seiner Exposition) nicht genau zu der Position führt, die er im ersten Teil kritisiert hatte.
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aufbietbaren Ressourcen in praktischen Fragen das letzte Wort zu - , dann kann, der logischen Konsequenz jenes entleerten Individualismus folgend, die Struktur gegenseitiger Anerkennung zu nichts anderem fuhren als dem entfremdenden Kontofuhren. Diese Entfremdung führt zu einer Aufhebung genuiner Normen für eine solche Lebensform. Mit Habermas gesprochen ist dies die Substitution der „Lebenswelt" (d. h. der Bereich genuin orientierender Güter) durch das „System" (der Bereich nichtnormativer sozialer Koordination). In seiner Phänomenologie beschreibt Hegel dies in der Diskussion des Versagens des ancien régime als den Standpunkt, von dem die reflexive Rückwendung in das Selbst eine Reflexion über die „Eitelkeit aller Dinge" einschließlich seiner selbst provoziert - d. h. eine Reflexion auf das wesentliche Fehlen von Normen und den Kollaps in ein System gegenseitiger Koordination, ein Rousseauscher amour-propre statt einer genuin normativen Interaktion.26 Diese Ordnung beruht auf dem individuellem Kontofuhren als der nichtnormativen Lösung wechselseitiger Koordinationsprobleme. Die in ihr erfahrene Entfremdung ist die des erlebten Widerspruchs, der Verpflichtung gegenüber einer Sache, dergegenüber man rational nicht verpflichtet ist.27 So nutzt Hegel das Bild des höfischen Lebens zur Zeit des vorrevolutionären ancien régime, um generalisierend eine Lebensform darzustellen, die durch solche Beziehungen gegenseitiger Anerkennung gebildet wird, die auf eine umfassendere Konzeption von Gütern verzichtet, die über diese Lebensform orientieren (oder deren einzige Weise der Orientierung reflektierte Güter betrifft - Dinge, denen gegenüber man sich verpflichtet, weil andere sich ihnen gegenüber in gleicher Weise verpflichtet haben). Im Zustand der Entfremdung gebricht es gesellschaftlichen Tatsachen in jeder Hinsicht an der Wahrheit. Der wechselseitigen Anerkennung fehlt die genuin normative Unterstützung, ihr fehlen orientierende Güter, die durch eine solche Anerkennung zu instituieren und aufrechtzuerhalten wären. Für niemanden gibt es normativ gesehen so etwas wie ein „bestes" Leben, statt dessen nur die fortlaufende Neujustierung des Lebens im Lichte gegenseitigen Kontoführens. Entfremdung ist (im Zusammenhang modernen Lebens genommen) mithin die Bedingung moderner Freiheit, ohne dass sich deren Verwirklichung erfahren ließe, es sei denn in ihrem abstraktesten Sinn. Für die konkrete Verwirklichung von Freiheit wäre eine Anerkennungsstruktur vonnöten, die soziale Praktiken und Institutionen trägt, innerhalb deren Individuen ihre eigenen Vorstellungen erstrebenswerten Lebens zu entwickeln und zu verfolgen, in Hegels Terminologie: zu verwirklichen in der Lage sind. Es versteht sich nahezu von selbst, dass die Überlegungen des reifen Hegel zur Frage, wie das moderne Leben einer derart lähmenden Entfremdung entkommen kann, bei weitem zu optimistisch wie auch ganz und gar nicht im Einklang mit dem waren, was sich als die grundlegende Dynamik des sich entwickelnden europäischen Lebens erweisen sollte. Sicherlich hatte Hegel erkannt, dass die im Entstehen begriffene „bürgerliche Gesellschaft" des 19. Jahrhunderts auf marktförmiger gesellschaftlicher Koordination beruhte. In dieser „bürger„In jener Seite der Rückkehr in das Selbst ist die Eitelkeit
aller Dinge seine eigene Eitelkeit,
oder es ist
eitel. Es ist das fürsichseiende Selbst, das alles nicht nur zu beurteilen und zu beschwatzen, sondern geistreich die festen Wesen der Wirklichkeit w i e die festen Bestimmungen, die das Urteil setzt, in ihrem Widerspruche
zu sagen weiß, und dieser Widerspruch ist ihre Wahrheit." Phänomenologie
des
Geistes,
S. 247. 27
Das Entfremdungsphänomen hat, w i e Hegel es beschreibt, die gleiche rätselhafte Gestalt w i e das Phänomen der Willensschwäche und der Selbsttäuschung. Es ist äußerst schwierig, genau zu erklären, w i e ein jedes von ihnen überhaupt möglich ist.
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liehen Gesellschaft" sei „das Ganze der Boden der Vermittlung, wo alle Einzelheiten, alle Anlagen, alle Zufälligkeiten der Geburt und des Glücks sich frei machen, wo die Wellen aller Leidenschaften ausströmen, die nur durch die hineinscheinende Vernunft regiert werden. Die Besonderheit, beschränkt durch die Allgemeinheit, ist allein das Maß, wodurch jede Besonderheit ihr Wohl befördert." Sie ist ihm das „System", in welchem das wirklich Normative, die Sittlichkeit „in ihre Extreme verloren" sei. 28 Hegel glaubte jedoch, dass die grundlegenden, der bürgerlichen Gesellschaft entspringenden Koordinationsmechanismen (wie Gesetze, „Polizei" etc.) dafür hinlangten, diese Gesellschaft zu zähmen und für eine Art vollständiger Identifikation mit dem „Volk" oder der „Nation" geeignet zu machen, was dann wiederum die Konturen des politischen Staates mit Leben erfüllte. Schon die Möglichkeit einer Karriere in der bürgerlichen Gesellschaft und der Teilnahme an einer Reihe von Assoziationen - Hegels eigene Beispiele sind die der rapide verfallenden nachmittelalterlichen „Korporation" und der Stände - böten, so dachte er, eine Reihe konkret orientierender Güter, die mit der politischen Einheit des Ganzen verträglich wären. 29 Da eine solche Freiheit, so Hegel, die reflektierte Identifikation mit einem politischen Staat bedeutet, in welchem man sich ganz der Verfolgung seines eigenen Lebensweges respektive des eigenen Temperaments und der eigenen Fähigkeiten - hingeben konnte, war an diesem Staat keinerlei demokratische Teilnahme erforderlich. Solange dieser von gut ausgebildeten Staatsdienern gut verwaltet wird, genügt, so behauptet er, die bloße Anerkennung seiner Vernünftigkeit. An dieser Stelle ist es nicht nötig, im Einzelnen zu zeigen, warum diese Vorstellung vom administrativen Staat sich als sowohl gefährlich als auch unfähig erwies, das Ziel, das Hegel selbst als den Prüfstein seiner eigenen Theorie ausgegeben hat, zu errei28
Siehe Rechtsphilosophie,
29
Es gibt noch ein weiteres entscheidendes Element, das hier allerdings nur kursorisch behandelt werden kann. Dabei geht es um Hegels Aneignung der Idee der Würde der Menschheit, auf der Kant insistierte. Eindeutig akzeptiert Hegel zu weiten Teilen Kants Vorstellung von der Würde als „über allen Preis erhaben", d. h. (in Hegels Terminologie) als „unendlich". So bemerkt er in seinen Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte: „Die Religiosität, die Sittlichkeit eines beschränkten Lebens - eines Hirten, eines Bauern - in ihrer konzentrierten Innigkeit und ihrer Beschränktheit auf wenige und ganz einfache Verhältnisse des Lebens hat unendlichen Wert und denselben Wert als die Religiosität und Sittlichkeit einer ausgebildeten Erkenntnis und eines an Umfang der Beziehungen und Handlungen reichen Daseins. Dieser innere Mittelpunkt, diese einfache Region des Rechts der subjektiven Freiheit ... bleibt unangetastet und ist dem lautem Lärm der Weltgeschichte ... [entnommen]." Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte: Band I: Die Vernunft in der Geschichte, hg. v. Johannes Hoffmeister, Hamburg 1994, S. 109. Was Hegel jedoch an Kants Theorie kritisiert, ist der Schluss von dem Gedanken, dass ein Akteur einen unbedingten Wert für sich selbst hat, auf die Anerkennung, dass andere Akteure gleichfalls solch einen Wert besitzen. Kant hat nicht gesehen, dass es durchaus möglich ist, anderen einen unbedingten Wert aus deren Perspektive verstanden zuzuerkennen, ohne zugleich - als eine Angelegenheit der reinen praktischen Vernunft - diese Selbstwertschätzung der anderen sich zueigen machen zu müssen. Dass sie also die gleichen wesentlichen Eigenschaften besitzen, wie man selbst (Freiheit, Rationalität, die Fähigkeit, sich als etwas zu betrachten, das an sich selbst Zweck ist), verlangt nicht (als eine Angelegenheit der reinen praktischen Vernunft), rational genötigt zu sein, diese Eigenschaften zu respektieren. Für die Verwirklichung einer solchen genuin wechselseitigen Anerkennung, so Hegels entscheidendes Argument, muss die gegenseitige Anerkennung als würdevoller Geschöpfe durch einen Komplex geschichtlicher Prozesse vermittelt sein, zu denen die christliche Vorstellung der Gleichheit aller Menschen vor Gott gehört - die dann in den Institutionen und Praktiken einer nachchristlichen Lebensform obligatorisch, d. h. zu einem Gut werden, das solchen Akteuren abverlangt wird.
§ 182 und § 184.
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chen: nämlich, als Akteur in einer solchen Lebensform bei sich selbst, insbesondere „im-anderen-bei-sich-selbst" zu sein . Das Allerwichtigste aber ist, dass sie nicht in der Lage war, dasjenige, was Hegel als der grundlegende normative Status der Moderne galt, zu sichern - ein Individuum mit einem, wie er das nannte, „Recht der subjektiven Freiheit" zu sein. Der Hegelianischen Handlungstheorie zufolge kann das liberale Individuum - ausgestattet mit den traditionellen liberalen Rechten auf Leben, Freiheit und Eigentum sowie dem anderen großartigen modernen Recht der Gewissensfreiheit - nicht jenseits der Bedingungen sein, die anderen ebenfalls ermöglichen, solcherart Individuen zu sein. Die im konstitutionellen Staat (die Verkörperung des Rechten) verankerten Rechte lassen sich in den Mustern wechselseitiger Anerkennung nur dann am Leben erhalten, wenn die Individuen die Güter dieser übergreifenden Lebensform befriedigend statt entfremdend finden. Es wäre nicht schwer zu zeigen, wie eine an Adorno orientierte aussagekräftige Hegelkritik aussehen könnte (unabhängig von Adornos tatsächlicher Kritik an Hegel). Hegel hat gedacht, die Güter, welche das moderne Leben im Ganzen darbietet, seien letztlich miteinander verträglich. Die Spannungen zwischen ihnen hat er nie geleugnet sondern dagegengehalten, dass im Unterschied zum Leben im antiken Griechenland oder zum vorrevolutionären Frankreich die Spannungen nicht das Ganze gefährden könnten. Eine an Adorno orientierte Kritik kehrt Hegel um: Die in der Konsumgesellschaft erzeugte Entfremdung ist einfach eine neue Version der unter dem ancien régime erfahrenen Entfremdung. Das Ganze stellt - selbstwidersprüchlich - eine Form rationalen Zwangs dar. Die mögliche Antwort eines Hegelianers wäre Gegenstand einer anderen Abhandlung. Aus dem Amerikanischen von Veit Friemert
DANIEL BRUDNEY
Marx' neuer Mensch1
„Im Allgemeinen kann behauptet werden, daß sich im Menschengeist der Affekt der Nächstenliebe als solcher, abgesehen von persönlichen Eigenschaften, von Diensten, die uns geleistet wurden, oder von Beziehungen zu uns selber, nicht findet." David Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur „Nützlichkeit ist angenehm und ruft unsere Zustimmung hervor. Dies ist eine Tatsache, die durch die tägliche Beobachtung untermauert wird. Aber nützlich? Wofür? Sicherlich für jemandes Interesse. Doch wessen Interesse? Sicher nicht allein unsere eigenes Interesse, denn unsere Billigung reicht oft weiter. Es muß darum das Interesse derjenigen sein, denen durch den Charakter oder die gebilligte Handlung gedient ist; und wir können schließen, daß diese Menschen uns nicht vollkommen gleichgültig sind, wie entfernt auch immer sie von uns sein mögen." David Hume, Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral3 In dieser Abhandlung werde ich die Struktur und die Funktionsweise dessen ausfuhrlich analysieren, was ich die Aktivität gesellschaftlicher Anerkennung in der wahrhaft kommunistischen Gesellschaft (WKG) nenne. Es handelt sich dabei um jene Gesellschaft, die der junge Marx im Jahre 1844 kurz umrissen hatte, d. h. der Marx der Auszüge aus Mills Elémens d'économie politique und der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte aus dem Jahre 1844? Anschließend werde ich dahingehend argumentieren, dass diese Tätigkeit die gesellschaftliche Grundlage für das Selbstwertgefiihl der Kommunisten bietet. Seit der Publikation von A Theory of Justice gilt die Existenz einer solchen gesellschaftlichen Basis als Desiderat einer jeden annehmbaren Gesellschaft. Es ist wichtig aufzuzeigen, dass der junge Marx diesem Erfordernis entspricht. Mein außerordentlicher Dank geht an Christopher Zum und Hans-Christoph Schmidt am Busch für die äußerst hilfreichen Bemerkungen zu früheren Entwürfen dieser Abhandlung. D. Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur, Buch II und III Über die Affekte. Über Moral, übers, von Th. Lipps, Hamburg 1978, S. 223. Ders., Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral, übers, v. M. Kühn, Hamburg 2003, S. 54. Marx wird nach den Marx-Engels-Werken (MEW), Berlin 1956ff. zitiert. „E 1" bezeichnet den Ergänzungsband 1. Alle Hervorhebungen stammen von Marx. Für die Unterscheidung seiner Vorstellungen vom Kommunismus von denen des „rohen" Kommunismus siehe die Diskussion in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten aus dem Jahre 1844 in: MEW E 1, S. 533-538.
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Ein zentrales Anliegen der politischen Philosophie ist, so bemerkt Rawls, die Entwicklung und der Vergleich wohlgeordneter Gesellschaften: die Entwicklung und der Vergleich komplexer Ganzheiten, die sich aus Personenidealen, grundlegenden institutionellen Ordnungen und Bürger-Bürger-Beziehungen zusammensetzen. 5 Die vorliegende Abhandlung ist ein erster Schritt im Aufbau einer wohlgeordneten Gesellschaft im Sinne des jungen Marx. Die Untersuchung bietet eine Darstellung der gesellschaftlichen Beziehungen der WKG. Sie ist somit eine Art idealer Theorie. Im abschließenden Teil der Abhandlung finden sich einige Bemerkungen zur Unterscheidung verschiedener Typen der idealen Theorie - eine Unterscheidung, die fur den Vergleich der Marxschen idealen Gesellschaft mit einer idealen Marktgesellschaft bedeutsam ist, welche die Rechtsgleichheit aller Bürger betont.
I. 1. Für den Marx von 1844 verstehen die Akteure der WKG einander als Wesen, deren Selbstverwirklichung in der Umgestaltung der Natur besteht, wobei die Umgestaltung der Natur als ein Weg verstanden wird, (1) die je eigenen persönlichen Ziele zu verwirklichen (z. B. ein Jäger oder ein Fischer zu sein), (2) die Gegenstände zu beschaffen, die fur die fortlaufende Erhaltung und Entwicklung der Gattung benötigt werden, und (3) die Gegenstände zur Verfügung zu stellen, die andere zur Realisierung ihrer Ziele brauchen. Von zentraler Bedeutung fur den Marxschen Begriff der Selbstverwirklichung ist es, dass die unter (2) und insbesondere unter (3) gefassten Aktivitäten von den anderen bestätigt werden - dass andere also das eigene Engagement in den hier beschriebenen Tätigkeitsfeldern anerkennen und billigen. In der Tat kann man die eigene Natur nur dann realisieren, wenn andere die eigenen produktiven Aktivitäten wirklich anerkennen und billigen. Es ist mithin nicht nur erforderlich, dass Produzenten mit bestimmten Absichten produzieren (etwas für andere herstellen); darüber hinaus müssen Konsumenten mit einer bestimmten Reihe von Überzeugungen konsumieren (hinsichtlich der Absichten der Produzenten) und Produzenten bestimmte Überzeugungen über die Überzeugungen der Konsumenten (hinsichtlich der Absichten der Produzenten) hegen. Nur wenn diese Bedingungen erfüllt wären, hätte ich „den Genuß, [...] von dir selbst als eine Ergänzung deines eigenen Wesens und als ein notwendiger Teil deines selbst gewußt und empfunden zu werden, also sowohl in deinem Denken wie in deiner Liebe mich bestätigt zu wissen". 6 Im
J. Rawls, „The Independence of Moral Theory" (1975): ,,[W]ir untersuchen unter angemessen definierten Bedingungen die substanziellen Moralkonzeptionen, die Menschen sich zueigen machen oder zueigen machen würden [...] Man sucht nach der Konzeption oder der Vielzahl von Konzeptionen, die dem Prozess rationaler Abwägung aller praktikablen Konzeptionen und aller für sie sprechenden Argumente standhalten [...]. [D]ie verschiedenen Moraltheorien verkörpern verschiedene Konzeptionen und Ideale der Person [...] die Machbarkeit von Moralkonzeptionen ergibt sich zum größten Teil aus der Psychologie, der Sozialtheorie und der Theorie der korrespondierenden wohlgeordneten Gesellschaften. Unter Voraussetzung ihrer Machbarkeit wird die Annehmbarkeit dieser Konzeptionen anhand ihrer Inhalte geklärt: d. h. durch die Art von Gesellschaft, die ihre Prinzipien uns erstreben lassen sowie die Art von Person, die sie uns zu sein bestärken." Siehe ders., Collected Papers, Cambridge 1999, S. 288, 289, 296. Κ. Marx, „Auszüge aus Mills Élemens d'économie politique", in: MEW E 1, S. 462; im folgenden „Auszüge". Für eine weiterfuhrende Diskussion dieses Themas von Marx aus dem Jahre 1844 siehe meine Abhandlung „Justifying a Conception of the Good Life: The Problem of the 1844 Marx", in: Political Theory, Bd. 29, Nr. 3, Juni 2001, § 2 (deutsch: „Zur Rechtfertigung einer Konzeption des guten Lebens
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Produktions-Konsumtions-Prozess müssen Kommunisten einander beständig als bestimmte Arten von Wesen anerkennen, die in einer bestimmten Art von Tätigkeit engagiert sind. „Anerkennung" ist hierbei in einem anspruchsvollen Sinne zu verstehen. Dafür reicht es nicht hin, dass Β erkennt, dass A etwas herstellt, welches Β nutzen wird. Das wäre auch unter kapitalistischen Bedingungen möglich. Auch ist es nicht genug, dass Β erkennt, dass A etwas in der Absicht herstellt, dass Β es gebraucht, wobei Β's Gebrauch bei der Realisierung einer anderen, von A gehegten Zielvorstellung hilfreich wäre. So könnte A etwa wollen, dass Β sein Produkt gebraucht, weil dann nicht nur Β sondern auch C und D A's Produkt kaufen würden und A schließlich wohlhabend wäre. Es ist nicht einmal hinreichend, dass Β erkennt, dass sein eigener Gebrauch des Produkts von A für letzteren das Endziel der Produktherstellung war. Denn Β könnte diese Tatsache ja egal sein. Β muss sowohl um diese Tatsache wissen, als auch diese Tatsache, wie Marx sagt, „bestätigen". 7 Darüber hinaus muss beiden der Prozess von Produktion und Konsumtion als in sich selbst wesentlich gelten. Sie dürfen die Produktion für andere nicht als eine belanglose Aktivität betrachten, sondern haben sie als die grundlegende Art zu betrachten, wie Menschen ihr Wesen verwirklichen: Unter angemessenen Bedingungen wäre dies das gute Leben. Folglich müssen A und Β bestimmte normative Überzeugungen hegen und darum wechselseitig wissen. Nur wenn Β sowohl A's Aktivität erkennt als auch aus dem richtigen Grunde bestätigt, kann seine Konsumtion als „Ergänzung" dieser Aktivität gelten und damit als Beitrag zur Verwirklichung von A's Wesen zählen. 2. Zwei Dinge sollten hier festgehalten werden. Erstens ist kommunistische Selbstverwirklichung eine Form der Selbstverwirklichung-durch-andere. Nicht allein ist wichtig, dass meine Tätigkeit mit anderen (ζ. B. mit meinen Mitarbeitern) und für andere erfolgt. Darüber hinaus besteht eine Bedingung meines Handlungserfolgs darin, dass andere für meine Aktivität empfänglich sind. Rein als Individuum verstanden mag ich mein Tun für intrinsisch befriedigend halten und in diesem Sinne meine Selbstverwirklichung als nicht durch andere vermittelt ansehen. Als menschliches Wesen jedoch hängt meine Selbstverwirklichung Marx zufolge von anderen ab, von deren angemessener Reaktion. Die hier instanziierte Struktur lässt sich auch andernorts finden. (Zum Beispiel gilt sie in der wohlgeordneten Gesellschaft von Rawls' A Theory of Justice, in welcher Bürger einander nicht Produkte sondern Gerechtigkeit geben.) 8 Darüber hinaus ist sie, was nicht überraschen dürfte, ein Mittel, um soziale Bindungen zu schaffen. Marx hat das im Sinn, wenn er sagt, ein jeder von uns sei ein „Mittler" zwischen den anderen und der „Gattung" und ein jeder werde durch das jeweils auf den anderen bezogene Tätigsein das eigene „Gemeinwesen" verwirklichen/' Der zweite bemerkenswerte Punkt besteht darin, dass es sich beim Produktions-Konsumtions-Prozess der WKG um etwas handelt, was ich Aktivität gesellschaftlicher Anerkennung
beim frühen Marx", in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft. 3 , 2 0 0 2 , S. 402 ff ), sowie meine Monographie Marx 's Attempt to Leave Philosophy,
Cambridge 1998, Kapitel 5.
7
Marx, „Auszüge", S. 462.
8
Zu diesem Thema siehe meine Abhandlung „Community and Completion" in: A. Reath, B. Herman, Ch. M. Korsgaard (Hg.), Reclaiming the History of Ethics: Essays for John Rawls, Cambridge 1997, S. 3 8 8 ^ 1 5 .
9
Marx, „Auszüge", S. 462.
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nennen werde. 10 Die meisten Gesellschaften vermitteln Anerkennung - positiver oder negativer Art - auf verschiedene Weisen. Joel Feinberg bemerkt, dass das Strafrecht eine expressive Funktion besitzt. Es artikuliert die moralische Verurteilung des Kriminellen wie seiner Tat durch die Gemeinschaft." Wird eine Person eines Verbrechens wegen verurteilt, erwartet man, dass das Moralurteil der Gesellschaft durch die anderen Bürger Anerkennung erfährt (sowohl erkannt als auch bestätigen wird). Dieses negative Urteil wird im Großen wie im Kleinen vermittelt, am deutlichsten sichtbar im Strafvollzug - es findet seinen Ausdruck jedoch auch in der Reaktion gewöhnlicher Bürger angesichts des kriminellen Verhaltens des Akteurs. Sollten allerdings die Bürger nicht zu einer solchen Reaktion neigen, besteht vermutlich ein Defizit an Vertäuen in die Legitimität des Strafrechtssystems der Gesellschaft. Auf positive Art und Weise gesehen kann man sagen, dass das öffentliche Einverständnis hinsichtlich der Gesetzesgleichheit aller Bürger als bestätigender Ausdruck der grundlegenden Gleichheit dieser Bürger gilt. So lasse ich mich z. B. zur Wahl registrieren und werde nach Vorlage der dafür notwendigen Bescheinigungen als jemand behandelt, der selbstredend zur Stimmabgabe berechtigt ist. Dies zählt als Anerkennung meines gleichberechtigten Status in der Gemeinschaft. Wenn andernfalls diese Art Zusammenhang in Frage steht - wenn also eine Person der Rasse, der Religion oder des Geschlechts wegen Grund zur Befürchtung hat, nicht selbstredend anerkannt zu werden - , dann besteht auch in diesem Falle der Verdacht, dass die institutionelle Legitimität nicht gegeben ist. Es ist hinreichend deutlich, dass die Gleichheit von dem Gesetz die gesellschaftliche Bestätigung der Gleichheit aller Bürger zum Ausdruck bringt. Allerdings ließe sich ein calvinistisch-egalitäres und totalitäres Herrschaftssystem vorstellen, in welchem niemand in den Genuss individueller Rechte käme und dieser Verzicht aus dem völligen wie alle betreffenden Unwert der Menschenwesen heraus verstanden wie auch akzeptiert werden würde. 12 In den meisten liberalen Gesellschaften jedoch gilt, zumindest fur deren ideale Form, die Gesetzesgleichheit auch als Ausdruck der gesellschaftlichen Bestätigung des grundsätzlichen und großen Wertes eines jeden Bürgers: Eben aus diesem Grunde, weil jeder Bürger einen solchen Wert besitzt, ist er nicht nur gleich sondern auch gut zu behandeln. Dies ist ohne Frage ein Moment selbstredender Anerkennung z. B. meines Antrags, mich für die Wahl registrieren zu lassen. So vermittelt das Recht auf verschiedenen Wegen gesellschaftliche 10
"
12
Angesichts der Reichhaltigkeit und Vielgestaltigkeit, die den Produktions-Konsumtions-Prozess der WKG charakterisiert, könnte man versucht sein, hierin statt einer bloßen Aktivität eine „Praxis" zu sehen. Unglücklicherweise ist der Praxisbegriff mittlerweile in einem Maße wandelbar geworden, dass seine Nutzung an dieser Stelle eine Diskussion erforderte, deren Umfang und Komplexität den Vorteil m. E. weit überwiegen würden, den eine eingehende Analyse dieser Phänomene erbringen könnte. Siehe z. B. J. Feinberg, „The Expressive Function of Punishment", in: Ders., Doing and Deserving: Essays in the Theory of Responsibility, Princeton, Ν. J. 1970, S. 95-118. Eine allgemeine Darstellung der expressiven Funktion des Gesetzes bieten E. S. Anderson und R. H. Pildes, „Expressive Theories of Law: A General Restatement", University of Pennsylvania Law Review, Bd. 148, Nr. 5, 2000, S. 1503-1575. Michael Gill zitiert einen calvinistischen Katechismus aus dem England des 17. Jahrhunderts: „,Was denkst du über die Menschheit und dein eigenes Selbst?' D a r a u f h a t das Kind zu antworten: ,Alle Menschen sind durch Adams Sündenfall mit der Sünde geschlagen, werden zu Sklaven des Satans und mit ewiger Verdammnis gestraft.' [...] Verderbtheit und Sünde sind, so muss das Kind fortsetzen, ,in jedem Teil von Körper und Seele, wie ein Aussatz, der vom Scheitel bis zur Sohle reicht'." Siehe M. Gill, The British Moralists on Human Nature and the Birth of Secular Ethics, Cambridge 2006, S. 8. Im Prinzip ist eine solche Vorstellung vom Wert des Menschen mit der Gleichbehandlung unter dem Gesetz vereinbar.
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Botschaften. Das Leben der Bürger innerhalb dieses Rechtssystems wiederum beinhaltet, diese Botschaften zu übertragen und zu empfangen. Solcherart Überzeugungen werden nur selten bewusst und finden oft auch keine klare Artikulation. Sie sind in bestimmte gesellschaftliche Tätigkeitsformen eingelassen und die angemessene Beteiligung an diesen Tätigkeiten beinhaltet das stillschweigende Verständnis dieser Überzeugung sowie das Einverständnis mit ihnen. Überdies ist der Prozess gesellschaftlicher Anerkennung kein Einzelereignis sondern in der Tat ein fortlaufender Prozess. In der Belletristik ist Anerkennung oft ein entscheidendes Ereignis: Im Schlüsselmoment findet der arme Bursche seine Anerkennung als Prinz, das Mädchen die ihre als die eigene, verlorengeglaubte Tochter. Das Leben des Protagonisten dreht sich um einen solchen Moment, der die Zeit in ein „davor" und ein „danach" scheidet. (In Stolz und Vorurteil sagt Elizabeth, als sie Darcys Brief liest: „Bis zu diesem Augenblick kannte ich mich nicht.") Im Unterschied dazu ist die gesellschaftliche Anerkennung eine Abfolge zahlloser kleiner Ereignisse, die sich dem Bewusstsein des Akteurs schwerlich einschreiben. Für gewöhnlich treten individuelle Momente hervor, wenn die gesellschaftliche Anerkennung scheitert.13
II. 1. Marx scheint vorauszusetzen, dass Kommunisten wechselseitig für ihr Wohlergehen sorgen würden. Schließlich produzierten sie Gegenstände für einander und betrachteten die Bedürfnisse des je anderen als Gründe, so zu handeln. Dies sind gewiss Anzeichen gegenseitiger Fürsorge. Interessanterweise schreibt Marx ausdrücklich, dass Kommunisten in der WKG Gefühle mit- und füreinander hegen würden. Hier haben, so schreibt Marx, das „Bedürfnis oder der Genuß [...] ihre egoistische Natur [...] verloren". 14 Die Befriedigung meiner Bedürfnisse verschafft den anderen Freude und umgekehrt. ,,[D]ie Sinne und der Genuß der anderen Menschen [sind] meine eigene Aneignung geworden"; 15 und „insofern der Mensch menschlich, also auch seine Empfindung menschlich etc. ist, ist die Bejahung des Gegenstandes durch einen anderen, ebenfalls sein eigner Genuß [...]." 16 In der WKG würde ich den anderen nicht um sein Vergnügen an diesem oder jenen Objekt beneiden; ich würde dieses Vergnügen im Gegenteil mit ihm teilen.17 13
In gegenwärtigen Gesellschaften hat die Forderung nach Anerkennung zuweilen eine zur Belletristik analoge Struktur: Einer Gruppe war für lange Zeit die Anerkennung versagt worden. Sie wurde nicht genau genug verstanden. Die Forderung der Gruppe nach Anerkennung ist mithin die Forderung, sie letzten Endes dafür zu halten, was sie ist.
14
K. Marx, Ökonomisch-philosophische S. 540. Im folgenden Manuskripte.
Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: MEW E 1, Berlin 1968,
15
Ebd.
16
Marx, Manuskripte, S. 563.
17
Ein weiterer Aspekt der Bemerkungen über die geteilten Genüsse besteht darin, dass hierbei vermutlich eine Bezugnahme auf Hegels Herr-Knecht-Dialektik vorliegt. Der Knecht, so Hegel an dieser Stelle, „bearbeitet es nur [das Ding]", während dem „Herrn dagegen [...] durch diese Vermittlung die unmittelbare Beziehung als die reine Negation desselben oder der Genuß [wird]". G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, hg. v. J. Hoffmeister, Berlin 1975, S. 146. Alle Hervorhebungen im Original. Marx' Entgegnung wäre zweifaltig. In der WKG gibt es keine Unterteilung in Arbeitende und Nichtarbeitende. In der
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Dass Marx sich dadurch an dieser Stelle partiell mit der britischen Tradition des Sentimentalismus überschneidet, ist nahezu unbemerkt geblieben. Natürlich geht es Marx nicht um die Quellen moralischer Urteile, und die tatsächliche Rezeptionslinie läuft über Feuerbach. Dennoch legt der Marx von 1844 analog zu den Sentimentalisten Nachdruck auf unsere Befähigung, mit anderen und für andere zu fühlen. In Fragen der Einschätzung der Möglichkeiten des Mitgefühls findet sich Marx ferner auf Seiten der Optimisten. Philosophen wie Butler und Schopenhauer sind der Überzeugung, uns sei das Glück anderer (bestenfalls) egal, während wir deren Elend nachempfinden könnten. 18 Andere sind optimistischer. Hume stellt sich eine Treffen mit einer von Sorgen unbeschwerten Mittelstandsfamilie vor: „Seine [des Familienoberhaupts, D. B.] ganze Familie drückt ihre Zufriedenheit hinreichend durch die Freiheit, Leichtigkeit, Zuversicht und ruhige Freude aus, die sich in ihren Gesichtern spiegeln. Ich fühle ein angenehmes Mitgefühl angesichts aller Freuden, die sie versprechen, und ich kann ihre Quelle nie ohne die angenehmsten Gefühle wahrnehmen." 19 John Stuart Mill wiederum behauptet, die Befähigung zu positiver Sympathie sei Teil unserer Natur.20 Sonderbarerweise ist Oscar Wilde der Schriftsteller, der Marx in dieser Frage am nächsten steht. In The Soul of Man under Socialism preist Wilde zunächst, was er „Individualismus" nennt, und erklärt ihn folgendermaßen: „Unter dem Individualismus werden Menschen ganz natürlich und völlig uneigennützig sein [...] Wenn Menschen den Individualismus verwirklicht haben, werden sie auch ihr Mitgefühl verwirklichen und dies frei und spontan ausüben [...] Ein jeder kann angesichts der Leiden eines Freundes mit diesem fühlen. Jedoch erfordert es ein sehr kultiviertes Wesen - in der Tat das Wesen eines wirklichen Individualisten - , den Erfolg eines Freundes mitzuempfinden, f...] Das Mitgefühl des Menschen wird umfassend, gesund und spontan sein. Der Mensch wird angesichts des unbeschwerten Lebens der anderen selber Freude empfinden." 21
Der sinnfälligste Grund dafür, die Freude [enjoyment] eines anderen nicht zu teilen, ist der Neid. Es ist jenes Gefühl, von dem der Marx von 1844 und Wilde, der eingefleischte Zyniker, glauben, dass es eine neue Gesellschaft unterdrücken wird, womit dann unsere natürliche Freude am Wohlbefinden der anderen in den Vordergrund treten kann. Es ist eine Binsenweisheit, dass die Erfolge anderer mich entmutigen. Ein Maßstab dafür, wie optimistisch man
Deutschen Ideologie formuliert Marx deutlich, dass fur die Kommunisten der ,,ganze[] Gegensatz[] von Arbeit und Genuß wegfällt". Siehe Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, S. 199. Alle arbeiten und alle genießen. Die Beziehung auf das Objekt ist keine der Negation sondern eine der Affirmation. 18
19 20
21
J. Butler, Sermon V, in: Works, Oxford 1896, Bd. 2, S. 94-97: „Von beidem, der Freude am Wohlstand anderer und dem Mitgefühl angesichts ihrer Notlagen, wird letzteres in größerer Allgemeinheit empfunden als das erstere. Obwohl Menschen sich gemeinhin nicht mit all jenen freuen, die sie sich freuen sehen, so [...] fühlen sie dennoch in gewissem Maße mit denen, deren Notlage sie bemerken, falls sie jene Not irgendwie wirklich empfinden oder wahrnehmen. Sofern Worte letzterem Ausdruck verleihen, stellen sich Erbarmen, Mitleid schnell ein. Hingegen haben wir nahezu kein einziges, das ersterem bestimmten Ausdruck verleiht." Hume, Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral, S. 57. „Die Vorstellung des Schmerzes, den ein anderer empfindet, ist selber auf natürliche Weise schmerzvoll. Die Vorstellung der Freude, die ein anderer hat, stimmt selber auf natürliche Weise freudig." J. St. Mill, „Sedgwick's Discourse", in: Ders., Collected Works, Toronto 1963-1991, Bd. X, S. 60. Ο. Wilde, The Soul of Man under Socialism, London 2001, S. 133, 157.
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hinsichtlich der Menschheit ist, besteht darin, für wie fremd man diesen Charakterzug unserer Natur gegenüber hält.22 Nun möchte ich nicht zu großes Gewicht auf Marx' Äußerungen über Gefühle legen. Unabhängig von der Tatsache, dass sich diese Bemerkungen nur sporadisch finden, sind Gefühle, insbesondere okkurrente Gefühle nur ein Element einer bestimmten Art von sozialer Beziehung, und die entscheidende Frage wäre, wie man diese Beziehung charakterisieren sollte. Darauf werde ich gleich zurückkommen.
III. 1. Nun ist es an der Zeit, die Sache etwas komplizierter zu gestalten. Es wird behauptet, dass für die WKG folgendes gilt: i.
Jeder Akteur ist mit einer bestimmten naturumgestaltenden Tätigkeit als Form seiner individuellen Selbstverwirklichung beschäftigt.
ii. Jeder Akteur ist mit einer bestimmten naturumgestaltenden Tätigkeit als Teil der gattungsspezifischen Umgestaltung der Natur mit dem Ziel beschäftigt, das Überleben zu sichern wie auch ein zunehmendes Lebensniveau zu erreichen. iii. Jeder Akteur ist mit einer bestimmten naturumgestaltenden Tätigkeit beschäftigt, um andere Akteure mit den Mitteln ihrer individuellen Selbstverwirklichung auszustatten. iv. Die Akteure hegen eine bestimmte Vorstellung über den Inhalt der Aktivität der menschlichen Selbstverwirklichung. v. Die Akteure sind der Überzeugung, dass andere die gleiche Vorstellung hegen. vi. Die Akteure sorgen für das Wohl der anderen. vii. Die Akteure sind der Überzeugung, dass andere fur ihr Wohl sorgen. Diese Merkmale der WKG stützen einander. Indem ich mich an der gemeinsamen Umgestaltung der Natur beteilige, produziere ich für andere und glaube, dass die anderen für mich produzieren. Auch glaube ich, dass meine Tätigkeit meine Natur verwirklicht und die eines jeden anderen die seinige. Somit glaube ich, anderen bei der Verwirklichung ihrer Natur zu helfen, wie sie mir dabei helfen, die meinige zu verwirklichen. Auch bin ich der Überzeugung, dass andere für mein Wohl sorgen. All dies wird wahrscheinlich meine Hingabe an andere weiter vergrößern. Unter den gegebenen Voraussetzungen scheinen die Regelungen stabil zu sein und einander zu stärken. Man beachte übrigens, dass obwohl hier die Verwirklichung der eigenen Natur qua menschliches Wesen Thema ist, Marx doch nie an der Vereinbarkeit dessen mit der Verwirklichung der eigenen Natur qua Individuum zweifelt. In der Tat besteht hier eine direkte und grundlegende Verbindung. A verschafft Β jene Objekte, mittels welcher Β versucht, seine Natur als Individuum zu verwirklichen. Das ist das Entscheidende an der Produktion von A fur Β. Auch wird angenommen, dass diese Beziehung auf Gegenseitigkeit beruht.33 22
23
Hierzu die glänzende Bemerkung von Gore Vidal: „Wann immer ein Freund Erfolg hat, stirbt in mir ein kleines Etwas." Genau dieses Merkmal gegenwärtiger Freundschaft glauben Wilde und Marx durch eine neue Gesellschaft überwunden. Natürlich kann man bezweifeln, dass die Präferenzen eines Akteurs für diese oder jene spezifische Arbeit jemals wirklich zu einer derart perfekten Verteilung führen werden, dass es möglich sein wird, (i) jedem
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2. Nun zur Komplikation: Marx glaubt, Kommunisten würden sich zu einander unter neuen Prämissen verhalten. Als Partner an einem besonderen gesellschaftlichen Großprojekt wären wir kameradschaftlich mit der Umgestaltung der Natur fiireinander beschäftigt, zudem wären wir solcherart Personen, die kameradschaftlich das Wesen des je anderen verwirklichen. Nur ist die Rede, dass Α Β verwirklicht, möglicherweise irreführend. Marx' Kritik der Arbeitsteilung zum Trotz ist letztere in der modernen Industrie in bestimmtem (wohl eher in beträchtlichem) Maße erforderlich.24 Wie schon Locke vor langer Zeit in seiner „Liste von Dingen" bemerkt, die „bei jedem Laib Brot" zur Herstellung verwendet werden,25 schuldet jedes Produkt seine Existenz den Materialien, aus denen es verfertigt worden ist, sowie den zur Materialbearbeitung benutzten Werkzeugen. Diese wiederum erfordern viele verschiedene Arbeitstätigkeiten, die oft weit in die Vergangenheit zurückreichen. In Wirklichkeit ist das Produkt, dass Β in der WKG nutzt, nicht durch einen einzelnen A erzeugt worden, sondern durch viele Menschen. Und der unmittelbare Konsument der Arbeitsleistung, die A typischerweise erbringt, ist nahezu niemals Β sondern A*, die nächste Person im langen Produktions- und Distributionsprozess. A* schätzt möglicherweise die Arbeit von A, würde sie vielleicht als einen Beitrag für sich, A*, betrachten und sollte dies tatsächlich auch tun - auch dies könnte als eine Form der Verwirklichung von A gelten. Worum es hier jedoch geht, ist die Tatsache, dass A als Produzent sich weder allein noch unmittelbar auf den Endkonsumenten Β bezieht sondern auf A*, A** und so weiter in einer langen Kette. In der WKG verwirklichen Akteure einander (ihre Arbeit ist durch die anderen anerkannt und gebilligt) auf eine Weise, die teilweise real, teilweise aber auch in hohem Maße gedanklich ist. Diese Verwirklichung ist insofern real, als Produzenten tatsächlich etwas fur den Gebrauch durch andere herzustellen beabsichtigen, wobei „andere" sowohl die folgenden Glieder in der Produktionskette als auch den Endkonsumenten meint. Je weiter wir uns jedoch an dieser Kette entlang bewegen - insbesondere in Hinblick auf den Endkonsumenten - , desto gedanklicher ist die Rede, dass die Konsumtion durch eine bestimmte Person - bzw. durch deren Gebrauch des Produkts - dessen Produktion durch eine bestimmte andere Person komplettiert. Das Marxsche Modell funktioniert problemlos im Falle individueller Handwerksarbeit: A baut einen Tisch, verkauft oder veräußert ihn dann an B, der den Tisch in der Überzeugung nutzt, dass A ihn für den Gebrauch durch Β hergestellt hatte (oder jedenfalls für jemandes Gebrauch). Das Problem besteht nun darin, dieses Modell auf die Massenproduktion zu übertragen. Unter der Voraussetzung, dass es Arbeitsteilung in einem bestimmten Maße gibt, wird die Arbeit von A, die in irgendein von Β konsumiertes Gut eingeht, nur einen geringen Teil der für diesen Gegenstand aufgewendeten Arbeit ausmachen. (In welchem Sinne könnte der Endnutzer meinen Beitrag zur Schaffung eines bestimmten Automobils „nutzen"?). Darüber hinaus sind in der Welt der Massenproduktion Produzenten und Konsumenten einander völlig Akteur die Arbeit zu geben, die seiner Meinung nach seine Natur als Individuum verwirklicht, und (ii) die spezifische Objektmenge herzustellen, die Akteure im Allgemeinen benötigen, um all ihre individuellen Vorhaben umzusetzen. 24
An verschiedenen Stellen wendet sich Marx ausdrücklich gegen exzessive Arbeitsteilung. Siehe ζ. B. Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, S. 32-33,245^16, 378-79. In der WKG wird es wohl weniger davon geben. Dennoch bleibt ein bestimmtes Maß an Arbeitsteilung unerlässlich. Dieser Tatbestand ist bei jeder einleuchtenden Marxinterpretation zu berücksichtigen.
25
J. Locks, Zweite Abhandlung über die Regierung, § 43, in: Oers., Zwei Abhandlungen übers, v. H. J. Hoffmann, Frankfurt/M. 1995, S. 227.
über die
Regierung,
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unbekannt. Um seine Arbeit als Verwirklichung seiner Natur begreifen zu können, muss A ein spezielles Verständnis seiner Beziehung (i) zur Arbeit anderer und (ii) zu den Konsumenten in ihrer Gesamtheit besitzen. Obwohl ich nur einen kleinen Teil eines Automobils herstelle, muss ich den ganzen Gegenstand als „mein" Produkt ansehen. Bezogen auf ein gegebenes Auto mag das nicht allzu schwierig sein: So könnte man sagen, dass ich in der Tat nicht mit der Absicht an der Antriebswelle arbeite, eine Antriebswelle zu fertigen, sondern mit jener, das ganze Fahrzeug (gemeinsam mit anderen) herzustellen. So gesehen wäre es unproblematisch, diesen bestimmten Gegenstand - das ganze Automobil - als den meinigen anzusehen.26 Für Marx jedoch muss meine Verwirklichung enttäuschend sein. Denn sie hat nur sporadischen und kurzlebigen Charakter, weil ich mich allein durch jene verwirkliche, welche die relativ wenigen Fahrzeuge nutzen, an deren Herstellung ich wirklich beteiligt war. Würde es vielleicht genügen, wenn ich mich durch all jene verwirklicht sähe, die das Modell des Fahrzeugs nutzen, an dem ich mitgearbeitet habe? In gewissem Maße mögen Arbeiter unter kapitalistischen Bedingungen so denken und Stolz über die Automarke empfinden, auch wenn das aus der Werkhalle rollende Fahrzeug nicht spezifisch das ist, an dem sie gearbeitet haben. Marx stellt sich jedoch eine weit umfassendere psychische Entfaltung vor: Letztlich würde ich den gesamten Produktionsertrag als „meinen eignen" betrachten und dessen Konsumtion als „meine" Verwirklichung. Schließlich, so Marx, verbinde uns die Arbeit mit der Menschengattung. Dies legt nahe, dass Kommunisten eine starke Identifikation mit der Gattung empfinden, und vermutlich würde das auch die Identifikation mit dem Produktionsertrag der Gattung einschließen.27 In der WKG würde ich mich folglich auf den Produktionsertrag anderer Produzenten wie auf die Nutzung dieses Ertrages mit einem bestimmten Verständnis beziehen (als „meinen" Ertrag). Dieses Verständnis lässt sich nicht auf eine äußerlich wahrnehmbare Reihe von Erschienungen reduzieren, wie etwa auf die Art und Weise der Funktion von Maschinen in einer Fabrik oder des Erwerbs und der Verbrauchs von Gütern. Es wird leicht ignoriert, dass aus einer Perspektive, aus der man nur Produzenten, Maschinen und Konsumenten sieht, die WKG nahezu wie eine kapitalistische Gesellschaft erschienen könnte. Ein weiterer technologischer Fortschritt ist keine Vorbedingung kommunistischer Beziehungen. Was sich ändern sollte, und zwar im Ergebnis sozialen Wandels - besser: im Einklang mit ihm - ist sowohl die wirkliche Natur unserer Beziehungen wie unser Wissen um diese Beziehungen, d. h. das Verständnis, mit dem wir uns auf andere und die Gegenstände beziehen, die wir herstellen und konsumieren. 3. Dass sich in der WKG die Produzenten in umfassender und tiefer Weise miteinander identifizieren, ist von wesentlicher Bedeutung. Dies löst allerdings nur ein Problem, den Anspruch nämlich, dass B's Produktgebrauch A's Tätigkeit bestätigen soll: Vermöge der umfassenden und tiefen Identifikation versteht A das von (einem gedanklichen) Β konsumierte Produkt als das „seine". Eine weitere grundlegende Eigenschaft kommunistischer Produktion besteht jedoch darin, dass A die Bedürfnisse von Β befriedigen möchte - dies ist ein Wesensmerkmal 26
Ich danke Henry Pickford, der mich auf diesen Punkt aufmerksam gemacht hat.
27
Hier variiert Marx ein Thema Bruno Bauers, der darauf besteht, dass ich mich vermöge einer wirklichen Identifikation mit dem „allgemeinen Selbstbewußtsein" in dessen Objektivationen wiedererkennen werde, d. h. in allem unter Einschluss der Erzeugnisse der „Genien". Bauer zufolge weiß ich mich „als allgemein, aber damit auch die Genien und ihre Produktionen als Bestimmtheit meines, nämlich meines allgemeinen Selbstbewußtseins". Siehe Bruno Bauer, „Leiden und Freuden des theologischen Bewußtseins" ( 1843), in: H.-M. Sass (Hg.), Feldzüge der reinen Kritik, Frankfurt/M. 1968, S. 173.
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der produktiven Tätigkeit von A. Und auch dies ist im Zusammenhang letztlich globaler Massenproduktion und -konsumtion zu verstehen. Welche Einstellung soll A gegenüber Β nun aber genau haben? Soll A Zuneigung zu Β empfinden? Besteht darin das Wesensmerkmal der Produzenten / Konsumenten-Beziehung in der WKG? Marx spricht in der Tat davon, mich „in deiner Liebe [... ] bestätigt zu wissen". 28 Müssten damit in der WKG alle Produzenten Gefühle der Zuneigung gegenüber allen Konsumenten hegen - einschließlich der unbekannten und entfernten? Ist das nicht in hohem Maße unverständlich? Ich möchte mich dieser Frage mit einem kurzen Verweis auf John Stuart Mill zuwenden. Das Verlangen nach umfassender und tiefer Identifikation war in der Mitte des 19. Jahrhunderts keine Seltenheit. Insbesondere J. S. Mills utilitaristischer Akteur würde die Identifikation mit den Freuden und Leiden anderer Menschen motivieren. Ein solcher Akteur werde „seine Gefühle mehr und mehr mit dem Gut der anderen" verbinden. 29 Mill betont unseren Impuls, sich mit anderen zu identifizieren: Das „natürliche^..] Fundament fur die utilitaristische Moral", so Mill, liege im „Verlangen, mit unseren Mitmenschen einig zu sein".30 Auch glaubt er, dass unter entsprechenden gesellschaftlichen Bedingungen dieses Bedürfnis befriedigt werden kann. „Diese ehrbare Fähigkeit [sich mit anderen zu identifizieren] erfordert in der Tat eine bestimmte Kultivierung, die jedoch nicht höher als jene wäre und sicherlich sein wird, an der alle schicksalhaft teilhaben, sollte der menschliche Fortschritt anhalten." 31 Mill spricht sich sogar für eine „Religion der Humanität" aus (an deren Möglichkeit er glaubt).32 Denn bei ihren Anhängern, so schreibt Mill, könne „das Gefühl für die Einheit mit der Menschheit und ein tiefes Empfinden für das allgemeine Gute zu einer Geisteshaltung wie auch zu einem Prinzip gesteigert werden, die jede bedeutende Funktion von Religion erfüllen können und zurecht diesen Namen tragen." 33 Mill geht sogar so weit zu behaupten, dass die Identifikation mit der Menschheit als Ersatz für individuelle Unsterblichkeit gelten mag. 34 Von Feuerbach, Comte, George Eliot und vielen der weniger bedeutenden Autoren des Viktorianischen Zeitalters gibt es ähnliche Behauptungen. 35
28
Marx, „Auszüge", S. 462.
29
J. St. Mill, Utilitarismus, übers, v. M. Kühn, Hamburg 2006, S. 49, Hervorhebung im Original.
30
Ebd., S. 48 f.
31
Ders., „Utility of Religion", in: Ders., Collected Works, Bd. X, S. 420-421.
32
Vgl. ebd., S. 422. Mill billigt eine Religion der Humanität auch in Auguste Comte and Positivism (ders., Collected Works, Bd. X, S. 333)). Siehe auch die Passage gegen Ende des 3. Kapitels von Mills Utilitarismus, wo er über August Comtes Traité de politique positive sagt, er glaube, es zeigt „mit großer Klarheit die Möglichkeit auf [...], daß der Dienst an der Menschheit dieselbe psychische Kraft und soziale Wirkung haben kann wie eine Religion, auch wenn ihm die Hilfe des Glaubens an die Vorsehung fehlt. Ließe man diesen Dienst an der Menschheit das menschliche Leben bestimmen und alles Denken, alle Gefühle und alle Handlungen so beeinflussen, so wäre die höchste Erhebung der Religion letztlich nichts anderes als eine Art von Vorgeschmack auf diesen Dienst an der Menschheit." Mill, Utilitarismus.
33
Ders., Utility of Religion, Collected Works, Bd. X, S. 422.
34
Ebd. S. 426: „Sollte die Religion der Humanität mit solcher Unermüdlichkeit kultiviert werden wie die übersinnlichen Religionen es geworden sind [...], würden all jene, die das übliche Maß an moralischer Kultiviertheit erreicht haben, bis zur Stunde ihres Todes ideell im Leben ihrer Nachfolger existieren."
35
Zu diesem Thema siehe meine Abhandlung „Grand Ideals: Mill's Two Perfectionisms", in: History of Political Thought, Bd. 29, Nr. 3, Autumn 2008.
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Man beachte, dass es hier um die Nutznießer utilitaristischen Verhaltens geht. Es sind unsere Gefühle, die wir mit ihnen und für sie hegen, die uns motivieren sollten, anderen Gutes zu tun. Eigentlich wird von uns behauptet, wir seien imstande, in starkem Maße für das Wohl der gesamten Menschheit zu sorgen. Diese Bewegung Mitte des 19. Jahrhunderts erregte sofort Widerspruch. Drei Standardeinwände lassen sich ausmachen. Erstens ist da der weitverbreitete Vorwurf, die vorgebliche Liebe der Menschheit gegenüber neige dazu, die Gleichgültigkeit zum wirklich existierenden Einzelnen, dem Nachbarn nebenan, zu kaschieren. „Deine Liebe zur Ferne ist die Bosheit zu Haus", erklärt Emerson und Mrs. Jellyby aus Charles Dickens Bleak House ist die aufschlussreiche Karikatur einer solchen Person.36 Ich übergehe diesen Vorwurf hier, denn er nennt nur den Tribut, den das Laster der Tugend entrichtet. Wenn Gefühle für und mit unbekannten, entfernten anderen möglich sind, dann können wir uns darüber Gedanken machen, wie ein solches Ideal missbraucht werden könnte. Die zweite Befürchtung wurde schon erwähnt. Im 18. Jahrhundert hatte Butler gemeint, wir würden ohne Weiteres auf das Elend anderer ansprechen, jedoch nicht auf ihre Freuden; und er bemerkte, dass wir viele Worte für die ersteren Gefühle hätten (Erbarmen, Mitleid), aber „nahezu kein einziges, das [dem anderen Gefühl] bestimmten Ausdruck verleiht". 37 Im 19. Jahrhundert hat Schopenhauer ähnliches behauptet. 38 Die Sorge betrifft hier den Gehalt unserer Gefühle. Dies ist in der Tat ein interessanter Punkt, der Aufmerksamkeit verdient. Weil aber das folgende Problem drängender ist, muss die Behandlung dieser Frage vertagt werden. Die dritte und grundlegende Befürchtung betrifft natürlich die Reichweite unserer Gefühle. Lassen sie sich wirklich auf die Menschheit als ganze erstrecken? Mill, Comte und andere glaubten daran, aber das war vielleicht die Naivität des 19. Jahrhunderts. Spätere Autoren belehrte das grässliche 20. Jahrhundert. Stuart Hampshire bemerkt, das uns Mills Optimismus „abhanden gekommen ist - nicht so sehr philosophischer Argumente sondern vielleicht eher der Fratze politischer Ereignisse wegen". 39 Jedenfalls kann man fragen, ob unseren emotionalen Möglichkeiten nicht Grenzen gesetzt sind, wenn doch auch unsere physischen Möglichkeiten auf Grenzen treffen - ganz gleich wie ideal die sozialen Vorkehrungen auch immer sein mögen. Können wir uns wirklich um Milliarden unbekannte, entfernte andere sorgen? Leider bin ich nicht in der Lage, diese letzte und grundsätzliche Befürchtung aufzuklären. Ich werde jedoch zu erörtern versuchen, worin die Natur dieses Argwohns wirklich besteht.
36
R. W. Emerson, „Self-Reliance" (1841), in: The Collected Works of Ralph Waldo Emerson, Cambridge, MA, Bd. 2, S. 30.
37
Butler, Sermon V, S. 94-97.
38
Siehe A. Schopenhauer, Über die Grundlage der Moral, in: Ders., Die beiden Grundprobleme der Ethik, Berlin o. J., S. 309: ,,[D]ie Äußerungen jener reinen, uneigennützigen, objectiven Theilnahme am fremden Zustand und Schicksal, welche Wirkung der Menschenliebe sind, bleiben dem in irgend einem Betracht Leidenden aufbehalten. Denn an dem Glücklichen als solchem nehmen wir nicht Theil [...]."
39
St. Hampshire, „Morality and Pessimism: The Leslie Stephen Lecture" (1972), wiederabgedruckt in: Ders., Morality and Conflict, Cambridge 1972, S. 84.
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IV. 1. Ich versuche, die Produzent / Konsument-Beziehung in der WKG zu charakterisieren. In ihr gibt es zwei Wege, sich mit den anderen zu identifizieren. Ein jeder Produzent identifiziert sich mit anderen Produzenten (versteht deren Produktionsertrag als seinen eigenen); ein jeder identifiziert sich zugleich mit der Befriedigung, die der Konsument durch den Gebrauch des Produktes erlangt (sieht dessen Genuss des Produktes als seinen eigenen). In diesem Abschnitt liegt die Aufmerksamkeit auf der zweiten Form der Identifikation. Dank seiner Stellung gegenüber dem Konsumenten teilt der Produzent dessen Freuden. Noch bedeutsamer ist, dass er kraft dessen dazu motiviert wird,/wr den Konsumenten zu produzieren. Wie lässt sich diese Stellung gegenüber dem Konsumenten charakterisieren? Mills Interpretation setzt hauptsächlich auf die Gefühle von Liebe und Sympathie. Dies ist, so glaube ich, problematisch. Mills hartnäckiger Kritiker James Fitzjames Stephen hält das hauptsächlich aus dem Grunde für zweifelhaft, weil wie er glaubt Zuneigung zur gesamten Menschheit jenseits unseres emotionalen Horizonts liegt: Mill verlange uns einfach zuviel ab.40 Ich werde mich mit einem anderen Argument dagegen aussprechen, die Aufmerksamkeit auf diese Gefühle zu lenken. Meines Erachtens können letztere als ihre Adressaten einfach keine unbekannten anderen haben - und dies gilt sowohl fur Liebe als auch für Sympathie. Allerdings vermute ich, dass dies eher die Liebe betrifft. Weil diese nun zugleich das Gefühl ist, das Marx selbst ins Feld führt, werde ich allein in dieser Richtung argumentieren. Liebe kann, so meine These, für die Stellung, die Marx im Sinn hat, einfach nicht zentral sein. Etwas anderes hingegen - ich werde dies „Sorge" [concern] nennen - ist dazu in der Lage. Auch wird dies dem Gedanken, dass wir (pace Fitzjames Stephen) die erwünschte Stellung allen Menschenwesen gegenüber erreichen können, größere Glaubwürdigkeit verleihen. In Frage steht meine Beziehung zu Fremden - zu unbekannten, fern stehenden anderen. Nun kann ich mir die Beziehung zu solchen Menschen so vorstellen, dass ich die Zuneigung, die ich denen entgegenbringe, die ich kenne und die mir nahe stehen, auf die ersteren erstrekke. Ich sorge für andere: meine Familie, meine Freunde usw. Somit erweitere ich einfach den Kreis meiner Zuneigung - so dass er im Prinzip alle Menschen umfasst. Sollte dies unser Modell sein, so besteht Grund zur Beunruhigung. Letztlich geht es ja nicht darum, dass ich mit all den mir fern stehenden Menschen persönlich nicht bekannt bin, sondern dass ich überhaupt nichts über sie weiß: weder wie sie aussehen, noch ob sie männlich oder weiblich, alt oder jung sind. Ich weiß gar nichts. Für mich sind sie gänzlich unindividuiert. Würde ich etwas über sie wissen, wäre ich vielleicht in der Lage, inhaltlich bestimmte Gefühle für sie zu hegen. Im 19. Jahrhundert wird jedoch behauptet, ich könne andere, die mir in der Tat völlig unbekannt sind und fern stehen, lieben. Gemessen am Modell der Erweiterung meiner Zuneigung für meine Familie, Freunde usw. scheint das eher inhaltslos als unwahrscheinlich zu sein. Eine der Romanfiguren von Saul Bellow verweist auf „Kartoffelliebe" - eine leichte, leere Rührung, etwas Unbestimmtes und im Grunde Bedeutungsloses: „Gestaltlose, schwelende, hungrige, urteilslose Kartoffelliebe". 41 Die Liebe zu unbekannten, entfernten anderen scheint von dieser Art zu sein. 40
41
Siehe J. Fitzjames Stephen, Liberty, Equality, Fraternity, in: Ders., Liberty, Equality, Fraternity and Three Brief Essays, Chicago 1990, S. 241. S. Bellow, Herzog, Berlin 1975, S. 138.
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Stellen wir uns vor, ich sitze an meinem Schreibtisch und richte meine Aufmerksamkeit bewusst auf meinen Ehepartner und meine Kinder. Möglicherweise bin ich dadurch emotional stark bewegt. In ähnlicher Weise bewegt wäre ich vermutlich, würde ich an Freunde weit weg denken, ihre betrübliche Lage usw. Nun erweitere ich meine Gedanken und werde emotional vom Schicksal unbekannter, fern stehender anderer bewegt, den Opfern einer Katastrophe andernorts. Die Befürchtung ist, dass dieser letzte Schritt einen Kategorienfehler bedeutet, dass wirkliche Zuneigung ein individuelles und individuiertes Objekt hat. Wenn das Objekt dem nicht entspricht, es also kein individuelles und individuiertes Objekt ist, wird die Zuneigung leer - sie wird zur bloßen Kartoffelliebe. In Middlemarch besteht George Eliot darauf, dass wir der „tief in uns wurzelnden Gewohnheit unmittelbarer Sympathie für den einzelnen Mitmenschen" bedürfen.42 Wie aber kann ich ein Gefühl für mir unbekannte, fern stehende andere haben, das „unmittelbar" und auf den „Einzelnen" bezogen wäre? Dies scheint unmöglich zu sein. 2. Wenn Marx über „geteilte Genüsse" spricht, so hat er zumindest erst einmal nachbarschaftliche Gefühle im Sinn, die in der Tat unmittelbar und individuell sind. In der WKG würde ich Joes Genüsse teilen. In gewissem Sinne, sozusagen lokal würde die WKG Eliots Forderung entsprechen. In lokalen Zusammenhängen hätten Kommunisten so etwas wie Zuneigung füreinander. Dennoch sollten wir Marx hier nicht so einfach davonkommen lassen. Jeder Vorstellung von einer modernen WKG nach werden Kommunisten hauptsächlich für unbekannte, fern stehende andere produzieren. Was wir zu begreifen haben, ist die grundsätzliche Einstellung von Kommunisten zu diesen anderen. Nun ist es so, dass manche Gefühle ohne Objekt auskommen. Ich kann melancholisch sein, ohne über etwas melancholisch zu sein. Im Unterschied dazu ist es mir unmöglich, in gleicher Weise Mitleid zu empfinden. Mein Mitleid verlang nach einem Objekt. Zudem muss, und dies ist entscheidend, dieses Objekt individuiert sein.43 Ich glaube nicht, dass ich Mitleid mit „Katastrophenopfern" haben könnte - für Wesen, die auf so vage und allgemeine Weise beschrieben sind. Ich behaupte, dass auch Liebe ein individuiertes Objekt erfordert. Auch in diesem Sinne wären „Katastrophenopfer" nicht hinreichend. Gewiss kann ich meinen Nachbarn lieben. Wenn es jedoch um meine Beziehung zu Milliarden Unbekannter geht, scheint Liebe die falsche Kategorie zu sein. Fraglich ist dabei nicht, ob man tatsächlich mehr als ζ. B. zehn oder zwanzig Menschen zu lieben vermag. Das ist Fitzjames Stephens Befürchtung, und er mag sich irren. Auf jeden Fall ist das ein Frage der empirischen Grenzen menschlicher Psyche. Mir jedoch geht es um die Struktur einer bestimmten Emotionenkategorie. Liebe muss etwas ergreifen, das individuiert ist,44 andernfalls 42
G. Eliot, Middlemarch, Kapitel 61, Bd. 2, Leipzig 1979, S. 275. [Übersetzung geändert, Anm. d. Ubers.] Ich danke Uri Pasovsky, der mich auf diese Stelle aufmerksam gemacht hat.
43
Vielleicht ist dies die Pointe von Eliots „mitmenschlicher Sympathie": Sie muss auf den Einzelnen bezogen sein.
44
Das Gespött über die wichtigtuerischen Philanthropen im 19. Jahrhundert entstammt m. E. teilweise der Einsicht, dass diese sich als menschheitsliebend in Szene setzten, andererseits (a) diejenigen, ihnen bekannt waren und ihnen nahe standen, nicht zu lieben schienen und (b) nicht Spezifisches über jene wussten, die zu lieben sie den Anspruch erhoben. Somit konnte es hier wirklich nicht um Liebe gehen. Vielleicht deutet Fitzjames Stephen auf dieses Problem, wenn er behauptet, wir wären unter anderem des-
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haben wir nur KartofFelliebe. (Dies provoziert viele Fragen, denen nachzugehen hier leider der Platz fehlt. Das offenkundigste Problem besteht darin, dass Termini, die wie z. B. „Chicago Bulls" oder „Kanada" supraindividuelle Entitäten bezeichnen, von denen zu unterscheiden sind, die, wie etwa „Katastrophenopfer", eine ununterscheidbare Ansammlung von Individuen bezeichnen. Ersteres besitzt eine eigene Form von Individuation. So vermute ich, dass man in der Tat solche Dinge lieben kann.) 3. In keiner Weise möchte ich bestreiten, dass auch Gefühle [feelings] in Bezug auf weitgehend unidividuierte Objekte möglich sind. Im Gegenteil behaupte ich, dass diese Möglichkeit besteht, und habe in der Tat eine diesbezügliche Idee: um andere besorgt sein [being concerned for others]. Analog zur Zuneigung motiviert das Sich-um-andere-Sorgen dazu, den anderen etwas Gutes zu tun. Zweifellos wird es zuweilen okkurrente Gefühle (womöglich sogar starke) für die Objekte hervorrufen, um die man sich sorgt. Darüber hinaus wird es in spezifischen Zusammenhängen zu spezifischen emotionalen Reaktionen führen. So werden mich z. B. jene empören, die Hilfslieferungen für Katastrophenopfer behindern, und ich werde erfreut sein, wenn ich erfahre, dass die Transporte dann schließlich doch angekommen sind. Vielleicht lässt sich zusammengenommen sagen, dass Sorge ein geringeres Maß an okkurrenten Gefühlen beinhaltet als Liebe, aber das ist hier nicht das zentrale Thema. Meine These ist, dass Liebe zu einer Klasse von Gefühlen gehört, die individuierte Objekte erfordern, während Sorge zu einer solchen Klasse von Gefühlen zählt, die sich auch auf unindividuierte Objekte erstrecken können. So macht es durchaus Sinn, sich um das Wohl von Katastrophenopfern zu sorgen. Diese Unterscheidung zwischen verschiedenen Klassen von Gefühlen verdient eine tiefergehende Analyse. Allerdings führe ich sie hier nur in Reaktion auf die Befürchtungen ins Feld, Marx nehme an, die Produzenten in der WKG würden Milliarden von Konsumenten lieben. Diese Befürchtung erklärt sich - Teil seines Feuerbachschen Erbes - aus Marx' Affektionsterminologie. Angesichts einer Katastrophe jedoch, die sich am anderen Ende der Welt ereignet hat, klingt es befremdlich - nämlich nichtssagend - , wenn ich erkläre, dass ich mit den notleidenden, mir andererseits jedoch völlig unbekannten Opfern fühle: Welche Gefühle kann ich denn spezifisch für sie hegen? Weniger befremdlich wäre es m. E. zu sagen, ich sei um sie und ihr Wohl besorgt. Man rekonstruiert Marx' Gedanken hier besser im Sinne von Sorge statt dem von Liebe. 45 4. An dieser Stelle muss ich hinsichtlich meiner Rede von „Gefühlen" eine Einschränkung formulieren. „Gefühl" ist der für das 19. Jahrhundert typische Terminus. Heutzutage sollte man lieber über „Emotion" sprechen und würde betonen, dass eine Emotion E zu haben nicht notwendigerweise irgendein okkurrentes Gefühl einschließt. Ferner hätte man darüber zu diskutieren, ob, in welchem Maße und in welchem Sinne Emotionen kognitiv sind. Auch dies ist ein zu weiträumiger Gegenstandsbereich, als dass er hier thematisch werden könnte. Aus diesem Grund bleibe ich bei der aus dem 19. Jahrhundert stammenden Rede vom Gefühl. Allerdings sollte der Leser dabei bedenken, dass es sich hierbei tatsächlich nur um eine Ver-
45
halb nicht in der Lage, die Menschheit zu lieben, weil sie „kaum bekannt" sei. Siehe Fitzjames Stephen, Liberty, Equality, Fraternity, S. 91. Für eine Diskussion der in diesem Abschnitt behandelten Themen bin ich John Deigh zu besonderem Dank verpflichtet.
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meidungsstrategie handelt, eine Methode, den Umfang der hier zu diskutierenden Fragen in Grenzen zu halten. Gleichfalls betonen möchte ich, dass meine Liebe und Sorge betreffenden Behauptungen begrenzt sind. Weder Liebe noch (speziell) Sorge bedarf m. E. beständiger oder auch nur häufiger okkurrenter Gefühle. Ein jedes braucht hingegen ein Objekt. Beide unterscheiden sich, so behaupte ich, in Hinblick auf die Individuation ihrer Objekte. Ich sehe keine Notwendigkeit, hier weitere Fragen zu diskutieren. 46 In Wahrheit möchte ich noch einen Schritt weiter gehen. Letztendlich ist für die hier zu diskutierenden Fragen eine Terminologie optimal, zu der weder „Gefühl" noch „Emotion" gehört. Die bessere Kategorie an dieser Stelle wäre, so glaube ich, praktische Einstellung [practical attitude] - eine Kategorie, die Dinge wie Vertrauen [trust in] und Zuversicht [confidence in] einschließt. Ich verstehe das Sich-um-andere-Sorgen als eine bestimmte praktische Einstellung zu diesen anderen. Das beinhaltet eine Bereitschaft, sich zu anderen auf bestimmte Weisen zu verhalten (und dies ihretwegen zu tun), Überzeugungen zu hegen (ζ. B. über den Wert dieser anderen) und sicherlich auch zuweilen ihnen gegenüber Gefühle zu haben - jedoch ist es - wie im Falle des Vertrauens - nicht entscheidend, was ich fühle. 47 Wenn ich Peter vertraue, so lebe ich mein Leben in Hinblick auf Peter in einer bestimmten Weise. Es kann sein, dass ich positive Gefühle fur Peter hege. Diese sind jedoch kein Wesensmerkmal des Lebens, in dem ich ihm Vertrauen entgegenbringe. Wenn wir Kommunisten als jene Menschen begreifen, die Sorge fur das Wohl des jeweils anderen tragen, stellt sich gleichfalls eigentlich nicht die Frage, welche Gefühle sie zueinander haben, sondern wie sie miteinander leben. Das wiederum heißt nicht, dass sich das Sorgetragen auf das Handeln beschränkt. So kann ich handeln, als ob ich Peter traue, ohne ihm tatsächlich zu trauen, und ich kann handeln, als ob ich um Paul besorgt bin, ohne es zu sein. Eine praktische Einstellung ist keine bloße Summe unseres Verhaltens, sondern ein wirkliches Merkmal unserer Psychologie. Der springende Punkt ist, dass meine praktische Einstellung nicht auf meine Gefühle reduziert werden darf, die ich dem Objekt dieser Einstellung entgegenbringe. Zweifellos wäre weit mehr dazu zu sagen. Hier muss ich mich darauf beschränken, die Behauptungen zu reformulieren, die ich mit Nachdruck vertrete - nämlich erstens, dass Liebe (ob als praktische Einstellung verstanden oder nicht) ein individuiertes Objekt erfordert, und zweitens, dass in Hinblick auf Marx Sorge als praktische Einstellung verstanden werden sollte und diese Einstellung kein solches Objekt erfordert. 48 46
So sehe ich ζ. B. keine Notwendigkeit, hier inhaltliche Unterschiede hinsichtlich der Annahmen über die Objekte zu diskutieren, die Liebe und Sorge beinhalten. Instruktive Anthologien zu gegenwärtigen Debatten zum Thema Emotion sind A. Oksenberg Rorty (Hg.), Explaining Emotions, Berkeley 1980, und R. C. Solomon (Hg.), Thinking about Feeling, Oxford 2004.
47
Zur Klarstellung: Ich verstehe die praktische Einstellung des Sich-um-andere-Sorgens so, dass sie Handeln mit bestimmten Intentionen einschließt, nämlich den Objekten der Sorge zu helfen. Die Intentionen, die für die Akteure der WK.G charakteristisch wären - nämlich Gegenstände zum Zweck des Gebrauchs durch andere herzustellen - , sind nicht erforderlich. Natürlich besteht nicht die geringste Inkompatibilität zwischen diesen verschiedenen Intentionen. Entscheidend ist, dass man die praktische Einstellung des Sich-um-andere-Sorgens haben kann, ohne Kommunist zu sein, also auch ohne dessen spezifische Intentionen zu teilen.
48
Eine ausfuhrliche Diskussion an dieser Stelle hätte sich weit genauer damit zu befassen, worum es sich bei einer praktische Einstellung handelt (und ob Liebe eine solche Sache ist). Eine Diskussion dieser Fragen müsste auch unterscheiden zwischen Sorge auf der einen Seite und Agape sowie Wohlwollen [benevolence] auf der anderen. Agape ist generell gesehen ein christlich theologischer Begriff, wobei Gott üblicherweise das Wesen ist, dessen Liebe als Agape zum Thema wird. Weil Gott jedoch jedes Objekt seiner Zuneigung
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5. Es mag sinnvoll sein, den Begriff Jemand' als einen Ersatz für George Eliots ,Einzelnen' einzuführen. In der WKG würde ich mit der Absicht produzieren, dass , jemand" das von mir Produzierte nutzt, und der Konsument würde wissen, dass , jemand" das Objekt in dieser Absicht produziert hatte. Auch würde ich in der WKG für diesen „Jemand", der schließlich das von mir Produzierte nutzt, sorgen - mich für ihn engagieren - , ohne dass dies irgendwelche Gefühlsregungen meinerseits erforderte. Die grundsätzliche Grenze der Idee geteilter Genüsse [enjoyments] wird hier deutlich. In der WKG gäbe es geteilte Genüsse auf lokaler Ebene; die Freude [enjoyment] einer mir unbekannten, fern stehenden Person kann ich hingegen im buchstäblichen Sinne verstanden nicht teilen. Deren Inhalt vermag ich nicht zu erfassen. Das von Eliot gewünschte individuierte Nachbarschaftsgefühl ist hier nicht möglich. Zweifellos könnte ich mir eine Person imaginieren und auf deren Freude ansprechen. Jedoch wäre es grotesk, die Aufrichtigkeit meiner Sorge um andere davon abhängig zu machen, mit einer imaginierten Person imaginierte Freuden zu teilen. Das Fazit all dessen besteht darin, dass sich die Einschränkungen unserer Befähigung zu lieben nicht als Einschränkungen unserer Befähigung erweisen müssen, uns um andere zu sorgen. Die These, dass wir wirklich fähig sind, uns um Milliarden unbekannte und fern stehende andere zu sorgen, werde ich hier nicht begründen. Dass viele Menschen auf Desaster vom Umfang von Tsunamikatastrophen mit Geldspenden in bestimmtem Maße sowie offenkundiger Besorgnis reagieren, und zwar auch dann, wenn sich das Elend nicht durch Bilder bestimmter Opfer konkretisiert, deutet wirklich darauf hin, dass unsere Grenzen hier nicht trostlos eng gezogen sein müssen. Behaupten möchte ich nur, dass die Sorge fur unbekannte, fern stehende andere am besten jenseits der Annahme interpretiert wird, ein jeder könne für diese unbekannten Milliarden Menschen Gefühle der Liebe oder Sympathie empfinden. Ich verstehe das als eine generelle, für verschiedene Fragen der gegenwärtigen politischen Philosophie relevante Behauptung, z. B. für die Frage nach der Möglichkeit eines glaubwürdigen Kosmopolitismus. Die für die vorliegende Abhandlung spezifizierte Behauptung ist hingegen, dass für den Marx von 1844 Sorge anstatt Liebe die überzeugendere Kategorie - die über-
zu individuieren vermag, ist Agape in diesem Sinne verstanden für unsere Diskussion irrelevant. Es wäre interessant, der Frage nachzugehen, inwieweit Sorge und Agape einander überschneiden, falls menschliche Wesen zu letzterer befähigt sein sollten. Wohlwollen scheint wirklich jene Art von Einstellung zu sein, die der Sorge für andere gleicht. Insbesondere handelt es sich bei ihr um eine solche Einstellung, die ein individuiertes Objekt nicht erfordert. Eine Frage wäre, ob Wohlwollen an Formen der Empfänglichkeit in der Weise gebunden ist, wie ich dies für Sorge annehme. Würde Wohlwollen nicht nur Hilfsleistungen für Katastrophenopfer auslösen sondern auch Entrüstung über jene, die Hilfslieferungen blockieren? Die Intuitionen mögen hier voneinander abweichen. Allerdings glaube ich, dass Wohlwollen, obwohl es weitere Bemühungen zur Überwindung der Blockade provozieren würde, nicht Empörung herbeifuhren muss. Ein Mangel an Empörung wäre also nicht sogleich ein Mangel an Wohlwollen, aber es würde einen Mangel an Sorge anzeigen. Wohlwollen scheint an eine Vielzahl von Handlungen gebunden, allerdings im Unterschied zur Sorge nicht auch an eine Vielzahl von Reaktionen. Aber auch hier mögen die Intuitionen voneinander abweichen. Eine weiterer Punkt betrifft die Tatsache, dass Sorge umstandslos egalitär und reziprok sein kann (und so passt sie sicherlich zum Marx von 1844). Vom Prinzip her könnte Wohlwollen auch so funktionieren, allerdings hat es gemeinhin die Konnotation, dass ein Akteur in guten Lebensumständen einem anderen in schlechteren hilft, also unter Bedingungen nicht bestehender Reziprozität. Diese Bemerkungen haben natürlich nur vorläufigen Charakter. Das Verhältnis zwischen Sorge und Wohlwollen bedarf einer wirklichen Untersuchung.
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z e u g e n d e r e praktische E i n s t e l l u n g für A k t e u r e in der W K G - wäre. 4 9 M a r x w ü r d e f r a g l o s o p t i m i s t i s c h h i n s i c h t l i c h der M ö g l i c h k e i t e n u m f a s s e n d e r S o r g e g e w e s e n sein. 5 0
V. 1. K o m m e n t a t o r e n v o n J o h n Stuart M i l l vertreten z u w e i l e n d i e A n s i c h t , dass e s in einer w o h l f u n k t i o n i e r e n d e n utilitaristischen G e s e l l s c h a f t g e m e i n s a m e A k t i v i t ä t e n g e b e n w ü r d e , durch d i e s i c h S y m p a t h i e n der A k t e u r e erweitern (ζ. B . „Arbeiterkooperativen, K a m e r a d s c h a f t s e h e n und D e m o k r a t i e " 5 ' ) . M a r x glaubt s i c h e r l i c h auch, d a s s fur K o m m u n i s t e n der B e r e i c h der S o r g e u m f a s s e n d e r wäre; allerdings g e h t für ihn der W a n d e l v i e l weiter. U n s e r e E i n s t e l l u n g z u e i n a n d e r u n d zur Natur w ü r d e n s i c h ändern, in g e w i s s e m M a ß e s o g a r unsere W a h r n e h m u n g e n . D i e u m f a s s e n d e S o r g e u m andere w ä r e nur ein ( o b w o h l e i n zentraler) Teil e i n e s größeren Pakets. G r u n d s ä t z l i c h v e r s t a n d e n w ä r e ein K o m m u n i s t ein n e u e r M e n s c h . M a r x z u f o l g e w ü r d e e i n K o m m u n i s t d i e Welt v e r m ö g e einer n e u e n B e s c h r e i b u n g interpretieren und s o m i t g e w i s s e r m a ß e n in einer n e u e n Welt leben. S o w ä r e n die Produkte m e n s c h l i c h e r Arbeit e i n e m K o m m u n i s t e n k e i n e u n a b h ä n g i g e n D i n g e „da draußen", sondern eher m e n s c h l i c h e E r z e u g n i s s e für m e n s c h l i c h e Z w e c k e . U n d er fasst d i e s e Tatsache so, d a s s sie sich über die propositionale Z u s t i m m u n g hinaus auch a u f das alltägliche Weltverständnis erstreckt: , , [ D ] i e Wesenhaftigkeit
d e s M e n s c h e n und der Natur [ . . . ] [ist] praktisch, sinnlich anschaubar g e w o r -
d e n [...]." 5 2 Im S i n n e einer A n a l o g i e vergleicht Marx die W a h r n e h m u n g d e s G r i e c h e n mit der 49
Mein Nachdruck auf gegenseitiger Sorge [concern] führt zu der Frage, wie sich die so verstandene Sorge auf neuere Untersuchungen zur Fürsorgeethik [ethics of care] bezieht. Siehe u. a. E. Kittay, Love's Labor: Essays on Women, Equality, and Dependence, New York 1999; J. C. Tronto, Moral Boundaries: A Political Argument for an Ethic of Care, New York 1993 und V. Held, The Ethics of Care, Oxford 2006. Das Verhältnis zwischen Sorge und dem, was diese Autoren als „Fürsorge" [„care"] bezeichnen, bedarf eingehender Untersuchung. Es gibt jedoch einen grundlegenden Unterschied zwischen beiden Bereichen. Ich habe mich bemüht, darauf hinzuweisen, dass Kommunisten sich um das Wohl von Menschen sorgen, über die sie wenig oder gar nichts wissen. Die Literatur zur Fürsorge [care-giving] tendiert dazu, sich auf enge persönliche Beziehungen zu konzentrieren, z. B. Eltem-Kind-Beziehungen oder die des körperlich relativ gesunden Fürsorgenden zu behinderten Personen, für die er sorgt. Der politischen Philosophie geht es hauptsächlich um Beziehungen unter Fremden, von denen die meisten nicht einmal wissen, dass der andere existiert. Untersucht werden muss, in welchem Maße sich diese strukturelle Differenz verzweigt. Eine interessante Diskussion der philosophischen Folgerungen menschlicher Abhängigkeit bietet Alasdair Maclntrye, Anerkennung der Abhängigkeit. Über menschliche Tugenden, übers, v. Ch. Goldmann, Hamburg 2001. Eine exzellente Erörterung politischer Freundschaft unter Fremden findet sich bei Danielle S. Allen, Talking to Strangers: Anxieties of Citizenship since Brown v. Board of Education, Chicago 2004.
50
Der Eintausch von Sorge fur Liebe hat eher Konsequenzen fur die Frage nach unserem Verhältnis zum Glück der anderen als für die nach unserem Verhältnis zu ihrem Unglück. Wir neigen dazu, von Sorge im Zusammenhang mit dem Unglück des anderen zu sprechen. Es ist unklar, in welchen Worten wir über die eigene Stellung in Hinblick auf das Glück der unbekannten anderen reden sollten. Vielleicht ist „sich freuen für" die positive Spielart von „besorgt sein um".
51
E. Anderson, „John Stuart Mill: „Democracy as Sentimental Education", in: A. Oksenberg Rorty (Hg.), Philosophers on Education, New York 1998. Siehe auch M. H. Morales, Perfect Equality: John Stuart Mill on Well-Constituted Communities, New York 1996, Kapitel 3, sowie W. Donner, „John Stuart Mill on Education and Democracy", in: N. Urbinati und A. Zakaras (Hg.), J. S. Mill s Political Thought: A Bicentennial Reassessment, Cambridge 2007.
52
Marx, Manuskripte,
S. 546.
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des Fetischdieners. „Das sinnliche Bewußtsein des Fetischdieners ist ein anderes wie das des Griechen, weil sein sinnliches Dasein noch ein anderes ist."53 Betrachtet der Fetischdiener ein bestimmtes Stück Holz, so betrachtet er es als einen mit magischen Kräften behafteten Gegenstand, rubriziert ihn dementsprechend und versteht ihn als diese Art Gegenstand. Der Grieche hingegen sieht nur ein Stück Holz. Der Kommunist der WKG hätte ein neues und völlig anderes „sinnliches Dasein" und somit auch ein neues und völlig anderes „sinnliches Bewußtsein". Ihm wären hergestellte Gegenstände solche mit bestimmten Eigenschaften - nämlich Verkörperungen menschlicher Wesenski'áñe und von menschlichen Wesen für den Gebrauch durch Menschen produziert. Ferner wären sie ihm Manifestationen unserer Sorge für einander. Dass wir die Dinge in einem neuen Licht sähen, ist der entscheidende Punkt seiner Behauptung, in der WKG seien ,,[d]ie Sinne [...] unmittelbar in ihrer Praxis Theoretiker geworden". 54 Den Sinnen erscheint hier anderes als unter dem Kapitalismus. 2. Man muss berücksichtigen, dass es sich hierbei um einen Nachhall der christlichen Tradition handelt, sofern diese nämlich die gläubige Person als eine solche versteht, die in einer verwandelten Welt lebt. (Feuerbach gibt dieser Wandlung einen atheistischen Zug: Die Welt des Atheisten ist sinnerfüllt, jedoch ist der Sinn menschlicher statt göttlicher Natur.55 Der Marx von 1844 ist auch hier ein Anhänger Feuerbachs.) Marx ließe sich auch in einen anderen Traditionszusammenhang stellen. Utopisches Denken hat die Tendenz, Menschen vorstellig zu machen, deren Reaktionen sich grundsätzlich von den unsrigen unterscheiden. In Thomas Morus' Utopia dienen Gold und Edelsteine als Spielzeug für Kinder und als Fesseln für Sklaven. Dass bedeutende Gäste herausgeputzt nach Utopia kommen, ist den Einwohnern ein Zeichen ihrer Ungnade. „[Die Utopier] grüßten gerade die Niedrigsten an Stelle ihrer Herren mit Ehrerbietung, die Gesandten selbst aber hielten sie wegen ihrer goldenen Ketten für Sklaven und ließen sie vorübergehen, ohne ihnen überhaupt eine Ehrenbezeigung zu erweisen. Ja, auch die Knaben hättest du sehen sollen, die ihre Edelsteine und Perlen schon längst weggeworfen hatten. Beim Anblick der Edelsteine an den Filzkappen der Gesandten riefen und stießen sie ihre Mutter an und sagten: ,Sieh doch, Mutter, was für ein großer Schelm da noch die Perlen und Edelsteine trägt, als wenn er ein kleines Kind wäre!' Und die Mutter erwidert gleichfalls ganz ernsthaft: ,Sei still, mein Junge! Das wird einer von den Narren der Gesandten sein.'" 56
Nun ist es nicht einfach, sich selbst im Rahmen dieser neuen Vorstellungen zu platzieren. Das hat Aristoteles mit seiner sarkastischen Bemerkung über Piatons ideale Gesellschaft gezeigt, es sei besser, „der wirkliche Neffe zu sein als in jener Weise [in Piatons Politeia] ein Sohn". 57 Wären unsere Psychologie in der Kallipolis und in dieser Welt ohne Unterschied, wären also 53 54
55
56 57
Ebd., S 552. Ebd. S. 540. Somit liegt fur Marx die angemessene Rechtfertigung der Ansprüche über das menschliche Wesen in der Praxis, d. h. in einer bestimmten Lebensweise: ,,[D]ie Lösung der theoretischen Rätsel [ist] eine Aufgabe der Praxis und praktisch vermittelt [...]." Siehe ebd., S. 552 sowie mein Marx's Attempt to Leave Philosophy, Kapitel 6, und „Justifying the Good Life" (deutsch: „Zur Rechtfertigung einer Konzeption des guten Lebens"). Für eine Feuerbachdiskussion unter diesem Aspekt siehe mein Marx's Attempt to Leave Philosophy, Kapitel 1 und 2. Th. Morus, Utopia, hg. v. Jürgen Teller, übers, v. C. Woyte, Leipzig 1982, S. 47 f. Aristoteles, Politik, Buch II, 1262 a, in: Ders., Werke, Bd. 9/II, Politik, Buch II und III, hg. v. E. Schütrumpf, Berlin 1991, S. 14.
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ein Neffe und ein Sohn zu sein das Gleiche, so hätte Aristoteles recht - nur ist es genau diese Voraussetzung, die Piaton bestreitet. Den Marx von 1844 zu interpretieren verlangt, den Gedanken einer Verwandlung des Alltagslebens genauer zu fassen. 3. Wir sollten zur Idee einer Aktivität gesellschaftlicher Anerkennung zurückkehren, einer Aktivität, die als eine öffentlich verstandene Form gesellschaftlichen Ausdrucks fungiert. In der WKG wird diese Rolle vom Produktions-Konsumtions-Prozess übernommen. Und weil Menschen innerhalb einer produzierten Welt leben, einer materiellen Welt, die im Wesentlichen durch den Produktions-Konsumtions-Prozess entsteht, wäre das Alltagsleben nahezu zur Gänze mit einer bestimmten Anzahl gesellschaftlicher Ausdrücke gesättigt. Die Akteure würden die alltäglichen Gegenstände als solche interpretieren, die mit bestimmten Überzeugungen und Intentionen produziert worden sind sowie, und dies ist besonders wichtig, mit einer besonderen praktischen Einstellung. Sie würden sich im Rahmen dessen bewegen, was ihnen der physische Ausdruck der Sorge seitens ihrer Mit-Arbeiter wäre. Das alltägliche Leben wäre somit durch einen bestimmten Widerhall geprägt. Die eigene Sorge um andere und die Anerkennung ihrer Sorge würde das eigene Leben durchdringen, ohne dass dies ins Bewusstsein treten müsste. A's Sorge um einen ihm unbekannten, fern stehenden Β würde eine selbstredende Beziehung sein - etwas, das für beide Selbstverständlichkeit besäße. Großen Nachdruck legt Mill auf die Art und Weise, in welcher Rom und seine Bedürfnisse dem patriotischen Römer allgegenwärtig waren, und er behauptet eine ähnliche Hingabe an die Menschheit.58 Jedoch verlieh der Römer seinem patriotischen Engagement über eine Reihe von Aktivitäten Ausdruck, Dauer und öffentliche Darstellung. Das reichte vom Dienst in den Legionen bis hin zur Teilnahmen an Bürgerfesten. Im Unterschied zu Comte hat Mill nicht auf humanistischen Ritualen bestanden. Das aber macht die Millsche Hingabe an andere zu einer rein persönlichen, innerlichen Angelegenheit. Die Anerkennungsaktivität der Produktion / Konsumtion, wie Kommunisten sie verstehen - d. h. im praktische Vollzug bestimmter Überzeugungen, Absichten und Einstellungen - , füllt Marx zufolge diese Leerstelle. Sie sei es, die der eigenen alltäglichen Sorge um andere Ausdruck, Dauer und öffentliche Darstellung verleiht. 4. Wir können dem Gedanken, das Leben in der WKG wäre ein anderes, Nachdruck verleihen, indem wir zwei von Marx genutzte Metaphern betrachten. Die eine wie die andere sollte eigentlich unsere Vorstellung von der adäquaten Form der Produktions-Konsumtions-Beziehung erweitern und somit auch den Unterschied zur gegenwärtigen Form erweisen. Die erste Metapher ist die der Sprache. Mit ihrer Hilfe scheint Marx zwei miteinander verbundene Gedanken vorstellen zu wollen. Erstens: In der WKG glichen unsere Austauschbeziehungen, die reziproke Bereitstellung benötigter Gegenstände, einer Art Konversation.59 Unser Gegenstandsaustausch hätte dann die Struktur von Angebot und Akzeptanz. Zweitens gehörten zur Konversation untereinander gemeinsame gehegte Überzeugungen hinsichtlich der Bedeutung und des Zwecks der Aktivität wie auch eine gemeinsame Hingabe an die so 58
Siehe Mill, Utility of Religion, CW, X, S. 421.
59
Auf seine Weise formuliert Marx hiermit einen Gedanken, den ich oben vorgestellt hatte: dass es nämlich zur Teilnahme an den Aktivitäten gesellschaftlicher Anerkennung gehört, Botschaften zu übertragen und zu empfangen. Siehe oben, S. 147-148.
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verstandene Tätigkeit. Solcherart Überzeugungen und Bindungen wären Teil dessen, was beständig kommuniziert und bekräftigt würde. Unter kapitalistischen Bedingungen hat der Austausch gleichfalls die Struktur von Angebot und Akzeptanz, allerdings sind die Überzeugungen hinsichtlich seiner Bedeutung und seines Zwecks verschieden. Der Widerhall ist hier nicht der gegenseitiger Sorge sondern gegenseitiger Gleichgültigkeit. Die jeweiligen, die Austauschbeziehung durchdringenden Verständnisse sind gleichfalls gänzlich verschieden. Folgendermaßen schildert Marx die verzerrte Gegenwart: „Die einzig verständliche Sprache, die wir zueinander reden, sind unsere Gegenstände in ihrer Beziehung aufeinander. Eine menschliche Sprache verständen wir [im Kapitalismus] nicht, und sie bliebe effektlos; sie würde von der einen Seite als Bitte, als Flehen und darum als eine Demütigung gewusst, empfunden und daher mit Scham, mit dem Gefühl der Wegwerfung vorgebracht, von der anderen Seite als Unverschämtheit oder Wahnwitz aufgenommen und zurückgewiesen werden. So sehr sind wir wechselseitig dem menschlichen Wesen entfremdet, daß die unmittelbare Sprache dieses Wesens uns als eine Verletzung der menschlichen Würde, dagegen die entfremdete Sprache der sachlichen Werte als die gerechtfertigte, selbstvertraute und sichselbstanerkennende menschliche Würde erscheint."60
Vom Prinzip her besteht Marx zufolge der Gegenstandsaustausch darin, wie einander unbekannte und fern stehende andere miteinander kommunizieren und ihrer jeweiligen Sorge Ausdruck verleihen. Für den Kapitalismus gilt dies jedoch nicht. „Weil [im Kapitalismus] die austauschenden Menschen sich nicht als Menschen zueinander verhalten, so verliert die Sache die Bedeutung des menschlichen, des persönlichen Eigentums."61 Dass heißt, dass Sachen scheinbar nicht die Eigenschaft zukommt, Erzeugnisse zu sein, die von Menschen aus Sorge um andere Menschen, fur deren individuelle („persönliche") Vorhaben hergestellt worden sind - und dieser Schein besteht deshalb, weil sie diese Eigenschaft in der Tat nicht haben. Somit kommt in unseren Austauschbeziehungen das dem Gegenstand Wesentliche nicht zum Ausdruck: dass er eine Manifestation der menschlichen Wesenskräfte ist und A's Sorge um Β's Bedürftigkeit Ausdruck verleihen könnte. Unter kapitalistischen Bedingungen vermittelt der Austauschprozess nicht die Bedeutung wechselseitiger Hilfe. Falls der Austausch zustande käme, ohne den Partner in dieser Austauschbeziehung als bedürftiges Menschenwesen anerkennen zu müssen, so wäre das nicht von Nachteil. Im Unterschied dazu würden Austauschbeziehungen in der WKG nicht auf Geld sondern dem Bedürfnis beruhen. Unter kapitalistischen Bedingungen um einen Gegenstand zu bitten statt Geld anzubieten bedeutet, so meint Marx, sich schämen zu müssen. Man gesteht in diesem Fall ein, auf den Gegenstand kein Anrecht zu haben und allein nach Almosen zu suchen. Aus dem Blickwinkel des Besitzers des Gegenstands wiederum wäre diese Bitte absurd - es sei denn, sie wäre eine Bitte um Almosen (würde die Äußerung entsprechender Ansprüche doch „Unverschämtheit oder Wahnwitz" bedeuten). Zur „unmittelbarefn] Sprache [unseres] Wesens" gehört es für Marx, den Austausch zwecks wechselseitiger Hilfe zu praktizieren. Unser gegenwärtiges Leben hingegen lässt vermuten, dass die Sorge fehlt, und uns statt dessen auf das Recht setzen. Unter gegenwärtigen Bedingungen erfolgt ein Austausch unter der Be60 61
Marx, „Auszüge", S. 461. Ebd., S. 447.
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dingung, dass du etwas besitzt, das ich haben möchte und das hauptsächlich den Kaulpreis des Gegenstandes bildet, den ich besitze. Andernfalls ist „deine Nachfrage ein unbefriedigtes Streben deinerseits, ein nicht vorhandener Einfall für mich. Du als Mensch stehst also in keinem Verhältnis zu meinem Gegenstand [.. .]."62 Meine eigene Beziehung zu dem Gegenstand ist die eines Besitzers, nicht die einer Person, die sich auf den Gegenstand als ein Produkt menschlicher Arbeit bezöge und mit dem Gegenstand substanzielle Ziele verfolgte oder ihn jemand anderem zu diesem Zwecke überließe (folglich habe „ich selbst kein menschliches Verhältnis zu ihm"63). Die bloße Tatsache, dass du meinen Gegenstand benötigst, ist irrelevant. In der WKG, in welcher wir „als Menschen produziert" hätten, wäre das anders. So hätte ich ζ. B. ,,[i]n deinem Genuß oder Gebrauch meines Produkts [...] unmittelbar den Genuß, sowohl des Bewusstseins, in meiner Arbeit ein menschliches Bedürfnis befriedigt, also das menschliche Wesen vergegenständlicht und daher dem Bedürfnis eines anderen menschlichen Wesens seinen entsprechenden Gegenstand verschafft zu haben." Allgemeiner gesagt wären „[u]nsere Produktionen [...] ebenso viele Spiegel, woraus unser Wesen sich entgegenleuchtete". 64 Dies ist Marx' zweite Metapher. Sie ist alt und äußerst brillant von Aristoteles in der Magna Moralia genutzt, wo er schreibt, Freunde seien einander Spiegel und würden dadurch gegenseitig die Selbsterkenntnis befördern. 65 Marx scheint m. E. zu behaupten, dass die Produkte nicht die Besonderheiten eines jeden Akteurs widerspiegeln (also keine Selbsterkenntnis qua Brudney), sondern unser gemeinsames Wesen (Selbsterkenntnis als menschliche Wesen), und dass dies die Erweiterung von „Freundschaft" befördert. Nehmen wir einmal an, mein Freund und ich tauschten Geschenke, ζ. B. Kleidungsstücke. Wenn er das ihm von mir Geschenkte trägt und ich das mir von ihm Geschenkte, so fuhrt dies die Anerkennung unserer Beziehung herbei. Ist dann jedoch einige Zeit ins Land gegangen und sind wir mittlerweile daran gewöhnt, den jeweils anderen diese Dinge tragen zu sehen, mag die Anerkennung kaum noch bewusst sein. Dennoch bleibt sie vorhanden. Auf ähnliche Weise würden in der WKG Gegenstände für Menschen allgemein einen Widerhall bedeuten und eine beständige, wenn auch kaum bewusste Anerkennung ihrer Produktions-Konsumtions-Beziehung ermöglichen. 66 5. Die Marxsche Lösung des Problems der Kartoffelliebe besteht dann erstens darin, die Betonung auf die gegenseitige Sorge statt die Liebe zu legen, und zweitens eine so verstandene Sorge als Fundamentalbestandteil des Produktions-Konsumtions-Prozesses zu betrachten und somit der Lebensform der WKG. Akteure hegen (1) bestimmte Überzeugungen (hinsichtlich des menschlichen Wesens und des menschlichen Guten), handeln (2) mit einer bestimmten Intention und einer bestimmten praktischen Einstellung und glauben (3), dass die anderen die gleichen Überzeugungen hegen und aus der gleichen Intention und praktischen Einstel62
Ebd., S. 461.
63
Ebd.
64
Ebd., S. 462 f.
65
Aristoteles, Magna Moralia, in: Ders., Werke, Bd. 8, hg. v. F. Dirlmeier, Berlin 1958, S. 88 f., 1213 a, 13-26.
66
In der WKG wäre die gegenseitige Sorge ein selbstredendes Merkmal des Verständnisses, das Akteure von ihrer Beziehung zueinander haben. Die WKG würde somit Aristoteles' Bedingung entsprechen, Freunde seien sich des Wohlwollens des jeweils anderen bewusst. Siehe Aristoteles, Nikomachische Ethik, in: Ders., Werke, Bd. 6, hg. v. F. Dirlmeier, 1155 b-1156 a, S. 17 lf.
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lung heraus handeln. Dies fuhrt dazu, was ich andernorts „strukturelle Freundschaft" genannt habe.67 Diese passt durchaus zum Gedanken der Erweiterung des Gefuhlsumfangs der Akteure, soweit dies humanpsychologisch möglich ist; sie macht solche Gefühle aber nicht erforderlich.68 Um andere besorgt zu sein heißt, in einer bestimmten Weise zu leben.69 Bislang habe ich wenig zur „Gemeinschaft" gesagt. Ich habe behauptet, dass durch die soziale Anerkennungsaktivität, welche fur die WKG die wesentliche ist, gesellschaftliche Bindungen erzeugt und aufrechterhalten würden. Allerdings habe ich diese Bindungen weder im Sinne einer organischen Verfassung noch im Sinne geteilter Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft beschrieben, die sich an einem bestimmten gemeinsamen Gut orientiert. Und in der Tat würden die gesellschaftlichen Beziehungen der Kommunisten durch gemeinsame Mitgliedschaft in einer Körperschaft nicht funktionieren, die sie mit irgendeinem gemeinsam geteilten Ziel ausstattete - wie etwa ein Spartaner zu sein Menschen durch das gemeinsame Engagement bindet, zum Wohle Spartas zu handeln (um ein Beispiel Rousseaus zu nehmen). Die Beziehungen der Kommunisten untereinander wären eins-zu-eins-Beziehungen - sie wä-
67
Siehe das 5. Kapitel meines Buches Marx 's Attempt to Leave
68
In seinem faszinierenden Buch If You 're an Egalitarian, How Come You 're So Rich? fordert G. A. Cohen einer gerechten Gesellschaft ab, ein „Ethos" der Gerechtigkeit zu fördern: „eine in den Motiven liegende und das Alltagsleben informierende Struktur der Resonanz". Siehe G. A. Cohen, If You 're an Egalitarian, How Come You're So Rich?, Cambridge, M A 2 0 0 0 , S. 128. Wir könnten sagen, die WKG sei von einem Ethos gegenseitiger Sorge durchdrungen. Dass Cohens Hauptaugenmerk der Gerechtigkeit statt der Sorge gilt, verstehe ich zumindest partiell als Konzession an die übliche Vorstellung, man komme - worin die menschliche Natur auch immer bestehen möge - mit der Gerechtigkeit besser zurande als mit der Sorge. Diese Vorstellung erfordert m. E. eine eingehendere Untersuchung.
69
In einer kürzlich verfassten Abhandlung über Aristoteles' Politik schreibt John Cooper über die Bürger eines echten aristotelischen Gemeinwesens, „dass sie, während sie ihren Alltagsgeschäften nachgehen, die Grundüberzeugung von der polis als der allumfassenden koinonia hegen und auch hegen müssen [...]. Auch haben sie die grundlegende Vorstellung von ihrer polis als einer solchen gleicher Bürgerrechte zu teilen [...]. Diese praktischen Überzeugungen wirken in diesen wie auch in anderen, detailreicheren Weisen auf ihr moralisches Leben ein, wie letzteres auch für seine volle und gedeihliche Entwicklung von diesen Einwirkungen abhängt - soll dieses Leben als ein solches verstanden werden, dass sie gemeinsam mit ihren Mitbürgern praktizieren." Siehe J. Cooper, „Political Community and the Highest Good" (nachzulesen auf http://www.princeton.edu/~johncoop/Papers/PolCommHG-Rl_08.pdf/), dort S. 46-47. Diese Überlegungen gleichen der WKG insofern: a.
Philosophy.
als die aristotelischen Bürger (analog zur WKG) in einer gemeinsamen Unternehmung beschäftigt sind; b. es hier (analog zur WKG) eine mehr oder weniger beständige Achtsamkeit hinsichtlich der Bedeutung der gemeinsamen Unternehmung gibt. Beide unterscheidet: a. dass es hier keine spezifische Aktivität gesellschaftlicher Anerkennung gibt, deren ordnungsgemäßes Wirken den Akteuren bestimmte Überzeugungen, eine bestimmte Intention sowie eine bestimmte Einstellung abverlangt (wie auch nicht das Wissen, dass andere diese besitzen); b. dass die Selbstverwirklichung der Akteure keine Billigung oder Akzeptanz durch andere zu erfordern scheint. Coopers Vorstellungen scheinen nicht zum Modell der Selbstverwirklichung-durchandere zu gehören. Für eine in Hinblick auf die Frage gegenseitiger Sorge interessante Abhandlung über Aristoteles und die Bürgerfreundschaft siehe S. A. Schwarzenbach, „On Civic Friendship", Ethics, Bd. 107, Nr. 1, 1996, S. 97-128.
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ren vielleicht nur gedanklichen Charakters, aber nicht über ein größeres Ganzes vermittelt.70 Natürlich gehören Kommunisten der menschlichen Spezies an und diese Tatsache würde sie miteinander verbinden. Allerdings hat die menschliche Spezies für Marx kein vom Wohl individueller Menschen unterschiedenes Ziel. Das ist die Betrachtungsweise, die zu George Eliots Beharren darauf gehört, für Individuen zu sorgen, oder (in meiner Neuformulierung): für J e manden". In der WKG würde ich nicht fur die Menschheit sondern fur jemanden produzieren. Der Konsument wiederum würde der Überzeugung sein, jemand habe für ihn und nicht fur die Menschheit produziert. Marx glaubt offensichtlich, dass auf diese Weise etwas geschaffen werden kann, was man „soziale Bindung" nennen könnte. Das Wesen dieser Bindung wäre dennoch von jener der patriotischen Bürger Spartas erheblich unterschieden.71
VI. 1. In diesem und dem folgenden Abschnitt untersuche ich, wie dieser Marxschen Vorstellung entsprechend das Selbstwertgefuhl der Akteure durch institutionelle Arrangements gestützt wird. In diesen beiden Abschnitten halte ich mich an die ideale Version der WKG. Im Schlussabschnitt werde ich allerdings eine weniger idealisierte Betrachtungsweise einnehmen und kurz diskutieren, in welcher Weise dies das Thema betreffen könnte. Zuerst jedoch einige Bemerkungen zu Selbstwert [self-worth]. In A Theory of Justice schreibt Rawls, „Selbstachtung" [„self-respect"] sei „vielleicht das wichtigste Grundgut", und er schreibt weiter, dass die „Menschen im Urzustand fast um jeden Preis die sozialen Verhältnisse vermeiden, die die Selbstachtung untergraben".72 „Ohne sie", so Rawls, „scheint nichts der Mühe wert, oder wenn etwas als wertvoll erscheint, dann fehlt der Wille, sich dafür einzusetzen. Alles Streben und alle Tätigkeit wird schal und leer, man versinkt in Teilnahmslosigkeit und Zynismus."73 Rawls' Darstellung ist oft dafür kritisiert worden, nicht zwischen Selbstachtung und Selbstschätzung [self-esteem] unterschieden zu haben. Einer üblichen Auffassung nach kann man diese Unterscheidung folgendermaßen erläutern: Selbstachtung ist entweder eine wertvolle Identität, die ich besitze (zum Beispiel, ein menschliches Wesen zu sein), oder eine ideale Haltung, der ich beipflichte. Meine Selbstachtung wird in meinem Willen offenbar, die mit dieser wertvollen Identität verbundenen Rechte zu behaupten („Als menschliches Wesen habe ich ein Anrecht darauf, so nicht behandelt zu werden") oder mein Verhalten mit Bezug auf das betreffende Ideal zu beschränken („Als die Person, die ich bin, kann ich niemals so tief
70
Zu Gemeinschaftskonzeptionen, die keine Hingabe an das Gut eines größeren Ganzen beinhalten, siehe
71
Ich habe das Sich-Sorgen als die Einstellung des Produzenten gegenüber dem Konsumenten bezeichnet.
meine Abhandlung „Community and Completion". Was aber wäre die Einstellung des Konsumenten dem Produzenten gegenüber? Sie wäre, so glaube ich, eine Art der Dankbarkeit, einer Dankbarkeit allerdings, die in keiner Weise mit dem Gefühl der Erniedrigung, des dem anderen etwas Schuldens verbunden wäre. Auch an dieser Stelle ist die Idee struktureller Freundschaft nützlich. A l s Empfanger eines bestimmten Produkts wäre ich nicht einem bestimmten Individuum dankbar (siehe § 4) sondern J e m a n d e m " . Meine Dankbarkeit würde eine Art allgemeine Einstellung sein. 72
J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit,
73
Ebd.
übers, v. H. Vetter, Frankfurt/M. 1975, S. 479.
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sinken, etwas derartiges zu tun").74 Selbstschätzung hingegen hat mit Fähigkeit und Leistung zu tun, d. h. ich schätze mich dafür, dieses oder jenes erreicht zu haben, oder für die Fähigkeit, dies oder jenes erreichen zu können. Die Anerkennung, dass ich einen bestimmten Status besitze oder zu einem bestimmten Ideal stehe, stärkt meine Selbstachtung; die Anerkennung meiner Fähigkeiten und Leistungen (den Speer werfen oder in die Geheimnisse der Mathematik eindringen zu können) stärkt meine Selbstschätzung ,75 Diese Interpretation der Unterscheidung ist vermutlich anfechtbar. Für unsere Zwecke sollte sie jedoch genügen. Denn ich glaube, diese Unterscheidung bringt uns, obwohl sie genuin ist, von der psychologischen Lagebeschreibung ab, mit der wie ich glaube Rawls befasst war. In A Theory of Justice schreibt Rawls: „Ein sehr wichtiges Grundgut ist das Selbstwertgefühl [sense of one's own worth] [...]."76 Auch schreibt er, Selbstachtung [A sense of their own worth] sei notwendig, wenn die Akteure „ihre Vorstellung vom Guten mit Befriedigung verfolgen und an ihrer Verwirklichung Freude haben sollen."77 Hier werde ich Selbstwertgefühl [a sense of self worth] so verstehen, dass es eine unbestimmte Kombination von Selbstachtung und Selbstschätzung umfasst: der Vorstellung, die man von sich (und wozu man bezogen auf andere berechtigt ist) allein aufgrund des eigenen Status aber einschließlich des eigenen Handlungsideals hat (Selbstachtung), gemeinsam mit der Vorstellung, die man von sich (und wozu man bezogen auf andere berechtigt ist) vermöge der eignen Fähigkeiten und des eigenständig Erreichten hat (Selbstschätzung). Zu einer gesunden Psyche wird für nahezu jeden von uns eine allgemein nicht näher bestimmbare Kombination von Selbstachtung und Selbstschätzung gehören. Wie groß die eigenen Leistungen auch immer sein mögen, so bezweifle ich doch, dass man vom eigenen Wert überzeugt sein könnte, ohne an den Wert der eigenen grundlegenden gesellschaftlichen Identität und der Lebensideale zu glauben sowie daran, dass generell an diese geglaubt wird. Darüber hinaus ist zumindest in der Moderne gefordert, dass der Großteil der Menschen überzeugt sein muss, wertvolle Fähigkeiten zu besitzen und mit dem jeweiligen Leben etwas wertvolles angestellt zu haben oder anzustellen. Wenn Rawls davon spricht, jemand 74
Siehe Th. Hill, „Servility and Self-Respect", The Monist, Bd. 57, Nr. 1, 1973, 87-104.
75
Zur Diskussion der Unterscheidung zwischen Selbstachtung und Selbstschätzung [self-respect / selfesteem] siehe D. Sachs, „How to Distinguish Self-Respect from Self-Esteem", Philosophy and Public Affairs, Bd. 10, Nr. 4, 1981, S. 346-360, und M. Walzer, Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit, übers, v. H. Herkommer, Frankfurt/M. u. a. 2006.
76
Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit,
77
Ebd. S. 204. Der letzte Satz des Zitats wurde in der überarbeiteten Ausgabe (J. Rawls,/! Theory of Justice, revised edition, Cambridge/Mass. 1999) leicht geändert. „Das Selbstwertgefühl ist notwendig, wenn sie ihre Vorstellung vom Guten mit Befriedigung [hier „satisfaction" statt „zest"] an ihrer Verwirklichung Freude [hier „to take pleasure" statt „delight"] haben sollen." Oft nutzt Rawls „Selbstachtung" [„selfrespect"], „Selbstschätzung" [„self-esteem"] und „Selbstwert" [„self-worth"], als ob sie gegenseitig auswechselbar wären. So lautet die umfassendere Passage (hier zitiert nach der deutschen Übersetzung der ursprünglichen Ausgabe): „Es ist zweifellos vernünftig, wenn sich Menschen ihre Selbstachtung [self-respect] angelegen sein lassen. Diese [A sense of their own worth] ist notwendig, wenn sie ihre Vorstellung vom Guten mit Befriedigung verfolgen und an ihrer Verwirklichung Freude haben sollen. Die Selbstachtung gehört nicht so sehr zu einem vernünftigen Lebensplan, sondern besteht in dem Gefühl, daß der Plan es wert ist, verwirklicht zu werden."
S. 112.
(Die in eckige Klammern gesetzten Verweise auf die originalsprachlichen Formulierungen deuten darauf hin, dass die gerade bemerkten terminologischen Schwierigkeiten von Rawls sich auf die deutsche Übersetzung übertragen haben. Anm. d. Übers.)
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versinke in Teilnahmslosigkeit und Zynismus, dann fehlt es dieser Person, wie ich glaube, nicht an Selbstachtung oder Selbstschätzung; hingegen fehlt ihr ein Selbstwertgefühl.78 2. Nun möchte ich mich dem Mechanismus zuwenden, der in der WKG dem Selbstwert Unterstützung verleihen soll. Ich werde dies im Vergleich damit tun, wie Selbstwert in einer Gesellschaft gestützt wird, die - zumindest zu bedeutenden Teilen - Wert auf Rechte legt. Als ein Beispiel für diese letztere Ansicht mag Joel Feinbergs imaginäre Stadt Nowheresville dienen. Die Menschen in Nowheresville sind, so Feinberg, in hohem Maße wohlwollend. Analog zu den Akteuren der WKG sorgen sie für das Wohl des jeweils anderen. Zweifellos sind sie auch der Überzeugung, dass sie bestimmte Dinge für andere tun müssen, wie sie auch glauben, dass andere bestimmte Dinge für sie tun müssen. Und so trifft es sich, dass sie all diese Dinge aus Güte zu tun wünschen. Allerdings sind die Einwohner von Nowheresville nicht der Überzeugung, ein Recht darauf zu besitzen, dass andere diese Dingen fur sie tun, und sie glauben auch nicht, dass andere ein Recht haben, von ihnen zu verlangen, bestimmte Dinge zu tun. Der Stadt Nowheresville fehlt jede Rechtsvorstellung. Feinberg behauptet nun, dass in der Stadt in Abwesenheit der Rechtsidee etwas enorm Bedeutsames nicht vorhanden ist: die Fähigkeit ihrer Bürger nämlich, in bestimmter Weise für sich selbst einzustehen. „Der Besitz von Rechten ermöglicht uns, auf eigenen Füßen zu stehen", sagt Feinberg, „mit anderen auf gleicher Augenhöhe zu stehen und sich in einer grundsätzlichen Weise als Gleicher gegenüber allen anderen zu fühlen."79 Wie wir gesehen haben, ist Marx ausdrücklich der Überzeugung, dass eine bestimmte, für den Kapitalismus charakteristische Berufung auf das Recht - die der Feinbergschen Vorstellung sehr nahe kommt - in der WKG fehlen würde. „So sehr sind wir wechselseitig dem menschlichen Wesen entfremdet, daß die unmittelbare Sprache dieses Wesens uns als eine Verletzung der menschlichen Würde, dagegen die entfremdete Sprache der sachlichen Werte als die gerechtfertigte, selbstvertrauende und sichselbstanerkennende menschliche Würde erscheint." 80
Unter gegenwärtigen Bedingungen von mir einen Gegenstand einzufordern, würde als eine Verletzung meiner Würde als Eigentümer, als dem Inhaber bestimmter Rechte, erscheinen. Und weil ich solche Rechte besitze, kann ich die Forderung des anderen ablehnen, d. h. ich kann auf „selbstvertrauende" Weise meine Rechte einfordern. Als Eigentümer bin ich in der Lage, „auf eigenen Füßen zu stehen" und „anderen auf gleicher Augenhöhe entgegenzutreten". Für Marx jedoch ist das eine durch und durch entfremdete Lebensform, eine Weise, sich auf andere zu beziehen, die es in der WKG nicht gäbe. Heißt das nun aber, Kommunisten
78
Verschiedene Autoren haben auf unterschiedliche Weisen das diskutiert, was ich hier einen „Mangel an Selbstwertgefühl" nenne. Axel Honneth ζ. B. bindet das an psychische Deformationen, die von der Selbstpsychologie erforscht werden. Siehe A. Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt/M. 1992. Zu der Behauptung, Rousseau lege das Hauptaugenmerk auf den Selbstwert siehe Joshua Cohen, „The Natural Goodness of Humanity", in: Reath, Herman, Korsgaard (Hg.), Reclaiming the History of Ethics, S. 102-139.
79
Siehe J. Feinberg, „The Nature and Value of Rights", The Journal of Value Inquiry, Bd. 4, Nr. 4, 1970, S. 243, 244,252.
80
Marx, „Auszüge", S. 461.
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seien unfähig, „anderen auf gleicher Augenhöhe entgegenzutreten" und „sich in einer grundsätzlichen Weise als Gleiche gegenüber allen anderen zu fühlen"? Hier muss man verschiedene Arten unterscheiden, jemandem auf gleicher Augenhöhe entgegenzutreten, und verschiedene Zielen dafür, dies zu tun. (i)
X steht Y auf gleicher Augenhöhe gegenüber, um seine Gleichheit gegenüber Y zu behaupten.
(ii) X steht Y auf gleicher Augenhöhe gegenüber, um von Y eine Bestätigung (unter einer bestimmten Beschreibung) zu erhalten. (iii) X steht Y auf gleicher Augenhöhe gegenüber, um Y einzuschüchtern. (iii) können wir vernachlässigen. Weder Marx noch Feinberg halten diese Beziehung für wünschenswert. (i) und (ii) wiederum beinhalten jeweils verschiedene Ziele fur X und fordern verschiedene Reaktionen von Y. Wenn Χ Y im Sinne (i) auf gleicher Augenhöhe gegenübersteht, behauptet er, gegenüber Y gleich, ihm nicht untergeordnet zu sein. Nun ist das für mich nicht einfach, in der Tat nicht einmal primär, die Behauptung einer nur abstrakten Wertgleichheit. Mir scheint das vielmehr die Behauptung einer grundlegenden funktionalen Gleichheit zu sein, nämlich die Behauptung, dass X von Y nicht abhängig ist, Y in keiner irgendwie grundsätzlichen Weise braucht. Und während es schön wäre, wenn Y dies anerkennen würde, ist doch der wesentliche Punkt der, dass X von Y keine Anerkennung braucht. Anderen auf gleicher Augenhöhe entgegenzutreten scheint so verstanden das zu sein, was Feinberg hofft, uns mit Hilfe des Besitzes von Rechten zu ermöglichen. Auch ist das offensichtlich die Einstellung, die Philip Pettit damit verbindet, nicht „kriechen" oder „den Hut ziehen" zu müssen.81 Bei (ii) ist das Ziel ein anderes. Hier liegt die Betonung auf meinem Anspruch, geachtet zu werden, sowie dem Gedanken, andere zur Einlösung dieses Anspruchs zu benötigen, oder wie Marx sagen würde, zu seiner Bestätigung. („Einlösung" und „Bestätigung" verstehe ich hier synonym.)82 Wenn Χ Y im Sinne (ii) auf gleicher Augenhöhe gegenübersteht, so möchte er von Y Bestätigung erfahren. Hier ist X psychisch von Y abhängig. Die Bestätigung durch Y hilft X, seinen Selbstwert zu erhalten. Es gibt ein einleuchtendes Modell, demzufolge diese beiden Weisen, dem anderen auf gleicher Augenhöhe gegenüberzutreten, miteinander vereinbar wären: Soziale Arrangements könnten (ii) auf eine solche Weise instanziieren, dass der Akteur in der Tat die benötigte Bestätigung erfahrt und nunmehr anderen im Sinne von (i) auf gleicher Augenhöhe gegenübertreten kann. Nehmen wir z. B. an, eine Aktivität gesellschaftlicher Anerkennung bestätigt den Wert des Akteurs. (Wie bereits bemerkt, wird dies oft als Teil der expressiven Funktion der Gleichheit vor dem Gesetz verstanden.83 Rechtsgleichheit verleiht der gesellschaftlichen Überzeugung Ausdruck, gleichwertig zu sein; darin eingeschlossen ist normalerweise die Überzeugung, dass ein jeder von uns besonders wertvoll ist. Zudem, und dies ist entscheidend, kommt 81
Siehe Ph. Pettit, Republicanism,
82
Rawls schreibt, dass „unsere Selbstachtung [gewöhnlich] davon abhängt, daß wir von anderen geachtet werden". Siehe Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 204.
83
Frederick Neuhouser betont die expressive Funktion der Rechtsgleichheit in seiner Rousseau-Diskussion . Siehe F. Neuhouser, „Freedom, Dependence, and the General Will", in: The Philosophical Review, Bd. 102, Nr. 93, (1993), S. 363-395. Zu diesem Thema siehe auch: J. Cohen, „The Natural Goodness of Humanity".
Oxford 1997.
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diese Bestätigung vermöge vieler verschiedener Interaktionen mit verschiedensten Menschen zustande, beinhaltet also nicht X's Abhängigkeit von irgendeinem bestimmten Y.)84 Wenn die Aktivität gesellschaftlicher Anerkennung reibungslos funktioniert, dann bekommt X die Bestätigung, nach der er verlangt, und kann sich nun als Gleicher gegenüber allen anderen fühlen. Eine Gesellschaft mit effektivem Rechtsvollzug genügt einer Bedingung, anderen auf gleicher Augenhöhe im Sinne von (i) (also im Sinne Feinbergs) gegenüberzutreten, insofern man nämlich physisch geschützt ist, wenn man dies tut. Jemandem wirklich auf gleicher Augenhöhe gegenüberzutreten im Sinne von (ii) (etwa über eine reibungslos funktionierende Aktivität gesellschaftlicher Anerkennung, die den eigenen Selbstwert stützt), wäre - als humanpsychologische Angelegenheit verstanden - eine zweite Bedingung dafür, im Sinne von (i) anderen auf gleicher Augenhöhe begegnen zu können. Man beachte, dass in dem hier von mir umrissenen Modell der Sinn der Aktivität gesellschaftlicher Anerkennung - qua Aktivität gesellschaftlicher Anerkennung - in der Möglichkeit besteht, anderen auf gleicher Augenhöhe zu begegnen (im Sinne von (i)). Diesem Modell zufolge ist das die soziale Beziehung, die wir zu erzielen suchen. Der Erhalt des Selbstwerts steht hier im Dienst der Nichtabhängigkeit. 3. In diesem Zusammenhang sollten einige wesentliche Unterschiede zwischen der WKG und einer rechtsförmigen Gesellschaft festgehalten werden. Erstens schließt die WKG zwei Standardargumente für die Notwendigkeit, Rechte zu besitzen, aus. (1) Es gäbe im Kommunismus keinen materiellen Mangel. „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen" ist eine Beschreibung dessen, was Kommunisten tun und erhalten würden, nicht aber eine moralische Richtlinie für Produktion und Verteilung.85 (In diesem Sinne ist die WKG sogar noch idealer als Nowheresville) (2) In der WKG würde die gegenseitige Sorge den meisten Konflikten zuvor kommen (wie in Nowheresville). In der Tat wären zwei Quellen der Unterordnung - die unterschiedliche Fähigkeit, finanzielle oder physische Macht zur Anwendung zu bringen - entweder nicht vorhanden oder sie wären keine mögliche Quellen der Unterordnung. 86 Zwei Gründe, anderen nicht auf gleicher Augenhöhe entgegentreten zu können (im Sinne von (i)), würden fehlen. Zweitens, anderen in der WKG auf gleicher Augenhöhe entgegenzutreten, wäre wesentlich im Sinne von (ii) zu verstehen. Die Akteure würden sich hier in der Tat als Gleiche unter Gleichen verstehen, ohne dass dies erforderte, für sich selbst einzustehen. (Die Umstände dafür, dass es vernünftig wäre, für sich selbst einzustehen, wären nicht gegeben.) Der Grund, dass man anderen in der WKG auf gleicher Augenhöhe entgegentritt, wäre Bestätigung - und sie würde nicht als etwas verstanden, was anderen Zwecken zu dienen hätte. Die Beziehung, 84
Neuhouser behauptet, ftir Rousseau sei Abhängigkeit akzeptabel, so lange sie unpersönlich ist. Siehe Neuhouser, „Freedom, Dependence, and the General Will".
85
Siehe meine Schrift Marx's Attempt to Leave Philosophy, Kapitel 5. Das Argument findet sich auch bei G. A. Cohen. Siehe Cohen, „Marxism and Contemporary Political Philosophy, or: Why Nozick Exercises Some Marxists More than He does any Egalitarian Liberals", in: Canadian Journal of Philosophy, Ergänzungsband 1990, S. 381-382.
86
Faktisch wird von der WKG angenommen, dass sie außerhalb des Bedingungszusammenhangs von Gerechtigkeit steht. Die klassische Diskussion der Umstände, unter denen Gerechtigkeit notwendig wäre, findet sich bei David Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur, Buch III, Teil 2, und ders., Eine Untersuchung der Grundlagen der Moral, Teil 3, sowie Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, § 22.
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die im Sinne von (ii) erfordert wäre, würde um ihrer selbst Willen geschätzt. Diese Beziehung wäre das Ziel. Dieser Unterschied muss hervorgehoben werden. In vielen Vorstellungen von einer rechtsformigen Gesellschaft (etwa der Feinbergs) meint Selbstwert, dass Individuen auf ihren eigenen Füßen stehen. Die Bestätigung durch andere wäre rein instrumenteil. Könnten wir unsere Hirnprozesse so manipulieren, dass die Bestätigung durch andere zukünftig unnötig wäre, würde es uns weiterhin an nichts fehlen. Im Unterschied dazu würden in der WKG derartige Änderungen den Sinn von Bestätigung zunichte machen, nämlich die Einrichtung der richtigen Art Beziehung gegenseitiger Abhängigkeit. 4. In der WKG wäre ich von meinem Wert als menschliches Wesen - als jemand, der einen bestimmten Status hat - überzeugt. In diesem Sinne ließe sich über mich sagen, dass ich Selbstachtung habe. Es gäbe jedoch keinen Grund, dem dadurch Ausdruck zu verleihen, anderen (im Sinne von (i)) auf gleicher Augenhöhe entgegenzutreten. Man denke an Marx' Verweis auf die „menschliche Würde". Für gewöhnlich wird das so verstanden, dass man sich damit auf etwas bezieht, das einem vermöge des eigenen Menschseins zukommt. Marx hat diese Ansicht nicht in Frage gestellt. Er stellt hingegen in Frage, was als deren Ausdruck zählt. Im Kapitalismus werde, so behauptet er, meiner Würde dadurch Ausdruck verliehen, dass ich mich auf meine Rechte als Eigentümer stütze (Wie Ronald Reagan einmal über den Panamakanal sagte. „Wir haben ihn gekauft. Wir haben ihn gebaut. Wir haben für ihn bezahlt.") In der WKG würde sie hingegen durch die Geltendmachung meines Bedürfnisses ausgedrückt, d. h. durch die Geltendmachung eines Aspekts unserer gegenseitigen Abhängigkeit. Meine Selbstachtung wäre dadurch in der WKG in keiner Weise beeinträchtigt. Im Kapitalismus zeige ich meine Selbstachtung dadurch, dass ich meine Nichtabhängigkeit von anderen geltend mache, in der WKG durch die Geltendmachung meiner spezifischen Art von Abhängigkeit. Ein Standardargument linker Kritik am Kapitalismus besteht darin, dass dieser den John Wayne-Charakter preist, den isolierten Einzelnen, ungebunden durch andere. Mein Argument ist eine Variation dieses Gedankens - es ist aber wichtig, sich über diese Variation Klarheit zu verschaffen. In Feinbergs rechtsformiger Ordnung wie in der WKG sind, wie in jeder anderen Gesellschaft auch, die Akteure, und zwar unweigerlich, voneinander materiell abhängig. In beiden Gesellschaften besteht gleichfalls eine psychische Abhängigkeit. Auch diese ist unaufhebbar. Darüber hinaus vermeiden beide Gesellschaften die Abhängigkeit von spezifischen anderen Akteuren - beide vermeiden persönliche Abhängigkeit. Somit vermag in jeder der beiden Gesellschaften, der eine dem anderen auf gleicher Augenhöhe entgegenzutreten usw. Beide unterscheiden sich aber hinsichtlich der Frage, wie man versteht, was man selbst tut, wenn man anderen auf gleicher Augenhöhe entgegentritt. In einer rechtsfÖrmigen Gesellschaft behauptet man damit die Abwesenheit persönlicher Abhängigkeit. In der WKG macht man die Anwesenheit und Bedeutsamkeit reziproker (wenn auch nicht-persönlicher) Abhängigkeit geltend.87 Ich behaupte nun, dass Marx im Unterschied zu einer langen westlichen 87
Es sollte auch klar sein, dass in der WKG Rechte bestehen könnten. So kann man sich vorstellen, dass die Achtung anderer konzeptuell an einen Rechtsbegriff gebunden wäre, gleichfalls ließe sich denken, dass der Erweis von Achtung einfach bedeutete, ein Recht anzuerkennen. Man könnte des weitren annehmen, man habe ein bestimmtes Recht als Schutzschild, um etwas von besonderem Wert zu schützen. Dies vorausgesetzt könnten auch Kommunisten Rechte haben und einander Achtung bezeugen. Immerhin ist für den Marx von 1844 der Status „menschliches Wesen" von besonderem Wert, und in der WKG wäre dieser
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Tradition der Meinung ist, das Verletzlichkeit und Abhängigkeit gut sein könnten. Natürlich ist nicht jede Art gegenseitiger Abhängigkeit eine gute Sache. Zu ihr muss das gehören, was für Marx die richtigen Überzeugungen sind (über das menschliche Wesen und die wesentlichen menschlichen Tätigkeiten) sowie die Ausführung dieser Tätigkeiten (produzieren und konsumieren), und diese müssen mit der richtigen praktischen Einstellung (Sorge) praktiziert werden, wozu wiederum die richtigen Formen gegenseitigen Verstehens gehören (dass andere fur mich produzieren wie auch bestätigen, dass ich für sie produziert habe). Wenn jedoch diese Merkmale in adäquater Weise umgesetzt wären, hätten wir das, was für Marx das gute Leben ist. 5. In der WKG würde die Gleichheit vor dem Gesetz von ziemlich geringer Bedeutung sein. Was aber wäre dann die soziale Grundlage für das Selbstwertgefühl der Kommunisten? Wie würde man das praktizieren, den anderen im Sinne von (ii) auf gleicher Augenhöhe entgegenzutreten? Seit Hegel ist immer wieder behauptet worden, mein Selbstwertgefuhl bedürfe der Stützung durch die Sphären von Familie, Arbeit und Politik.88 Ich sei auf eine Bestätigung in meiner Rolle als Ehepartner, Elternteil etc. angewiesen, in meiner Rolle als in dieser oder jener Funktion Beschäftigter und in meiner Rolle als Bürger unter Gleichen. Allerdings ist es in einer Welt, in welcher der Staat verkümmert und die politische Herrschaft sich, mit Engels' Worten gesagt, auf die „Verwaltung von Sachen" beschränkt, unklar, welche Rolle mit dem Bürgerstatus verbunden sein könnte. 89 Zu dieser Unsicherheit gehört, wie kompliziert die ökonomische Entscheidungsfindung in der WKG sein würde (und ob wir alle kompetent genug wären, daran teilzunehmen). Darüber hinaus ist es unklar, wie weit sich ein solcher Entscheidungsfindungsprozess vom Tätigkeitsfeld der je eigenen Produzentenaktivitäten entfernen könnte. M. E. lässt sich so viel sagen, dass für Marx eine weit von der eigenen Arbeit entfernte Entscheidungsfindung von sehr beschränkter Bedeutung wäre. Der wichtigste Punkt ist, dass die WKG nicht das klassische Ideal vom Bürger betonen würde, der außerhalb der Arbeitssphäre und mit einem über die Verwaltung von Dingen weit hinausgehenden Mandat ausgestattet, über andere herrschte und im Gegenzug von ihnen beherrscht würde. Über die Familie wiederum sagt Marx nicht viel, obwohl er eindeutig der Meinung ist, ihre gegenwärtige kapitalistische Form sei hierarchisch und erniedrigend, während seine kommunistische Form eine Verbesserung darstellen würde. Die psychische Hauptarbeit sei, so glaubt Marx, vom Produktions-Konsumtions-Prozess zu leisten. Man beachte, dass der Arbeitssektor vom Prinzip her schon unter kapitalistischen Bedingungen ein Ort der Bestätigung sein könnte. Marx wäre natürlich skeptisch. Er würde mit Nachdruck Thesen wie diese vertreten, im Kapitalismus sei die Bestätigung am Arbeitsplatz leistungsabhängig und eine solche Bestätigung folglich kontingent. Es gebe Gewinner und
Wert allgemein geteilt. Kommunisten könnte übrigens auch zugestanden werden, bestimmte Arten von Rechten gegeneinander aufgrund dessen zu besitzen, dass man denen, die von besonderem Wert sind, bestimmte Dinge nicht zufügt. Vermutlich würden Kommunisten einander solcherart „Rechte" respektieren. Dies hervorzuheben wäre natürlich völlig irreführend. In der W K G gäbe es die Rechtsbeschwerde selten, v o m Prinzip her gar nicht. 88
Für eine entsprechende Interpretation neueren Datums siehe Honneth, Kampf
89
Siehe F. Engels, Anti-Dühring,
in: MEW, Bd. 20, S. 262.
um
Anerkennung.
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Verlierer und die Gewinner von heute seien vielleicht die Verlierer von morgen. Es sei nicht der Bereich verlässlicher sozialer Wertbemessung - kein Bereich selbstredender Bestätigung. Diese Behauptungen über den Kapitalismus mögen unrichtig oder nur zum Teil richtig sein. In jedem Falle fände die Bestätigung im Rahmen der WKG (als selbstredende Bestätigung) im Arbeitssektor statt. Dort würden Akteure einander ergänzen und bestätigen. (Ich hätte „den Genuß, [...] sowohl in deinem Denken wie in deiner Liebe mich bestätigt zu wissen [ . . D i e Akteure würden nicht nur Botschaften des Besorgtseins äußern und empfangen, sondern durch ihre Arbeit sich als solche erweisen, die eines Besorgtseins würdig und schon dadurch bestätigt wären. Weil die Konsumtion nicht an spezifische Zeiten und Orte gebunden wäre, würde die Teilnahme an der wesentlichen Aktivität gesellschaftlicher Anerkennung und somit das Gefühl der Selbstbestätigung durch diese - ein mehr oder weniger beständiger Subtext alltäglichen Lebens sein. Halten wir folgendes über die Arbeit in der WKG fest: 1.) Die Akteure in der WKG sind der Überzeugung, dass die Umwandlung der Natur zwecks Produkterzeugung fur andere die wesentliche menschliche Tätigkeit darstellt. D. h. ich bin dieser Überzeugung und die gleichgearteten Überzeugungen der anderen stützen die meinige. Ferner gilt, dass andere mein tatsächliches Engagement in dieser Aktivität bestätigen. Dass ich der Überzeugung bin, mit der besonders wertvollen menschlichen Aktivität beschäftigt zu sein, und andere diese Überzeugung stützen, sollte dem Erhalt meines Selbstwerts dienen. Mir kommt, anders gesagt, nicht allein der hochgeschätzte Status „menschliches Wesen", sondern der hochgeschätzten Status „Produzent" zu. Insofern Selbstwert den Status betrifft, bin ich in guter Verfassung. 2.) Ich bin der Überzeugung, erfolgreich mit der wesentlichen menschlichen Tätigkeit befasst zu sein. Die WKG bestätigt Absicht, praktische Einstellung wie auch die Leistung. Stellen wir uns vor, ich hätte etwas herzustellen versucht (oder einen entsprechenden Beitrag zur Herstellung dessen geliefert), was andere nutzen - etwa irgendwelche Geräte. Allerdings wären zu viele davon produziert worden, so dass manche ungenutzt blieben. Oder nehmen wir an, ich wäre in dem fraglichen Metier nicht besonders geschickt. Soweit es um die Bestätigung meiner Absicht und Einstellung geht, sind beide Annahmen irrelevant. Marx hofft sicherlich, dass wenn ich Aufgaben zuneige, die meinen Fähigkeiten angemessen sind, ich diese sicherlich ordentlich erledigen werde. Bestätigt werden könnten jedoch wirklich motivierte Leistungen auch dann, wenn sie keine herausragenden wären. Meine Bestätigung ergäbe sich aus der strukturellen Gegebenheit, mit der richtigen Absicht, Einstellung und den richtigen Überzeugungen am Produktions-Konsumtions-Prozess teilzunehmen. Insofern Selbstwert die Leistung betrifft, ist dies ausreichend. Kehren wir zurück zu Marx' Behauptung, die menschliche Sprache sei unter kapitalistischen Bedingungen entstellt (die an Feuerbachs These erinnert, man bedürfe des „menschlichen Verstand[s] und menschlichefr] Sprache", allerdings sei es erst „kommenden Geschlechtern vergönnt", ,,[r]ein und wahrhaft menschlich zu denken, zu reden und handeln")91. Wir haben 90
Marx, „Auszüge", S. 462.
91
L. Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft (1843), in: Gesammelte Werke, hg. v. W. Schuffenhauer, Berlin 1967, Bd. 9, S. 264.
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gesehen, dass sich Marx in den „Auszügen" auf die „Würde" speziell als etwas konzentriert, das gegenwärtig eine verfälschte Bedeutung habe. Unter dem Kapitalismus beinhaltet sie die Selbstversicherung, ein mit Rechten ausgestattetes Wesen zu sein. Diese Selbstzuschreibung gibt einem „Selbstvertrauen".92 In der WKG wäre Würde mit der Tatsache verbunden, (wirklich) mit der wesentlichen und wesentlich wechselseitigen menschlichen Aktivität befasst zu sein und als derartig Engagierter fortwährend Bestätigung zu erfahren. In der WKG würde die „gerechtfertigte, selbstvertrauende und sichselbstanerkennende menschliche Würde" vermöge der Beziehung gegenseitiger Abhängigkeit artikuliert, die zugleich eine Beziehung gegenseitigen Halts wäre.93
VII. 1. Bisher habe ich die Vorstellung nachgezeichnet, die der Marx von 1844 entwickelt hat: die Idee eines Produktions-Konsumtions-Prozesses als einer gesellschaftlichen Aktivität, durch die Akteure im Prinzip (a) ihr Wesen vermittels des jeweils anderen verwirklichen und (b) ihren Selbstwert erhalten. In diesem Abschnitt werde ich mich mit einigen Problemen dieser Vorstellung beschäftigen. Das augenscheinlichste Problem wird klar, wenn wir die Voraussetzung fallen lassen, alle Kommunisten seien körperlich gesunde Menschen. Marx' Vorstellung ist die einer „Würde der Arbeit". Kann aber eine solche Würde auch denen zukommen, die physisch unfähig sind zu arbeiten? Nehmen wir an, die WKG würde physisch Behinderten in dreifacher Hinsicht größtmögliche Unterstützung zukommen lassen: Sie würde allen angemessene materielle Hilfeleistungen zur Verfugung stellen (, jedem nach seinen Bedürfnissen"), sie würde einem jeden, der in irgendeiner Weise arbeitsfähig wäre, die produktive Arbeit erleichtern und sie würde davon Abstand nehmen, zwischen verschiedenen Typen von Arbeitsbeiträgen entwürdigende Unterscheidungen zu treffen (, jeder nach seinen Fähigkeiten"). Nehmen wir ferner an, der Arbeitsbegrifif würde ausgeweitet und Tätigkeiten wie elterliche Kindererziehung, Kinderbetreuung, Arbeit im Haushalt usw. umfassen. Immer noch gäbe es dann Menschen, die durch schwere physische Behinderungen oder allein durch fortgeschrittenes Alter produktive Arbeit nicht leisten könnten. Wie werden sie am Unternehmen gesellschaftlicher Ergänzung und Bestätigung teilhaben? Durch die Identifikation mit jenen, die produzieren? Möglicherweise, vielleicht aber auch nicht. Letztlich dient das wirkliche Befasstsein mit produktiven Aktivitäten in besonderem Maße zur Identifikation mit produktiver Aktivität im Allgemeinen. Die Sache ist einfach. Der üblichen Auffassung nach sind physische Fähigkeiten keine Bedingung des Bürgerstatus. Solange man kognitive Fähigkeiten besitzt, gilt man als vollwertiger Bürger: Man ist in der Lage, das Gesetz zu achten, seine Stimme abzugeben, Meinungen zu alltäglichen Fragen zu vertreten, mit anderen zu debattieren usw. So wäre eine Ansicht, nennen wir sie „Bürgerhumanismus", die dem Bürgerstatus Priorität bei der Identitätsbildung einräumt, womöglich besser geeignet, mit Problemen physischer Behinderung und des Alters umzugehen, als eine solche, die den Status des Arbeiters als vorrangig für die Identitätsbildung ansieht.94 92
Marx, „Auszüge", S. 461.
93
Ebd.
94
Hier habe ich nur die körperliche Behinderung erwähnt, nicht jedoch die geistige. Marx' Darstellung scheint mir nicht geeignet zu sein, geistig Behinderten einen akzeptablen Platz einzuräumen, insbesondere
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2. Ein weiteres Problem wird deutlich, wenn wir die Voraussetzung fallen lassen, der größte Teil der Arbeit sei notwendige Arbeit.95 Nehmen wir an, die Arbeitsproduktivität habe den Punkt erreicht, an dem die notwendige Arbeit nur noch einen geringen Teil des Tages erfordert. Ein großer Teil der Arbeit wäre dann der Herstellung von Dingen gewidmet, die schwerlich als Dinge „für" andere zählen könnten. Vielleicht wären sie „für andere" in der Art, in der Kunstwerke für andere wären, insbesondere solche von dem Qualitätsniveau, das die meisten von uns zu erreichen in der Lage sind. Diese Dinge wären dazu da, gesehen, gelesen zu werden etc. - j e d o c h ohne sie würde es den anderen besser gehen. Ein Großteil dessen, was ich in der WKG tun würde, wäre reinweg meiner Selbstentfaltung gewidmet. Altpersisch zu lernen oder etwa das Hammerwerfen sind sicherlich achtbare Weisen, meine Talente zu entwickeln, hätten aber schwerlich etwas mit dem Wohl anderer Menschen zu tun. Bei einer umfassenden Verringerung notwendiger Arbeit wäre kaum noch nachvollziehbar, worin die Ergänzung anderer bestehen könnte. Auch wenn ich allen notwendigen gesellschaftlichen Arbeitsertrag als den meinigen betrachten sollte, wäre ein großer Teil meines wirklichen Outputs nicht für andere (und ein großer Teil des Arbeitsertrags der anderen wäre nicht für mich). Ein Großteil meines Outputs erforderte eine andere und mit Sicherheit ungewissere Form der Bestätigung - so verlangte meine künstlerische Produktion vielleicht nach anderen, um ihre Qualität zu bestätigen. Wichtiger noch ist die Frage, ob notwendige Arbeit die wesentliche menschliche Aktivität darstellt oder nicht. Wenn ja, warum würde ich mich mit nichtnotwendiger Arbeit befassen? Nehmen wir jedoch an, die Arbeitsproduktivität steige. Wenn wir in diesem Falle nur mit notwendiger Arbeit befasst wären, würden wir für einander immer mehr Güter produzieren. Unsere Vorstellung von „notwendig" müsste sich ändern, d. h. unsere Konsumtionswünsche hätten zu steigen. Das aber wäre aus sich heraus problematisch und stände auch im Widerspruch zu Marx' Verurteilung kapitalistisch bedingter falscher und verzerrter Bedürfnisse. 96 Sollte andererseits die notwendige Arbeit keine wesentliche menschliche Aktivität darstellen, warum sollte ich dann den Gebrauch der Produkte solcher Arbeit durch andere als meine Ergänzung, als Weg meiner Selbstverwirklichung betrachten? An dieser Stelle hätte man vernünftigerweise einen klugen Mittelweg zu beschreiten: Notwendige Arbeit ist bedeutsam, jedoch nicht alles, was zum guten menschlichen Leben gehört. Vernünftig wäre diese Antwort, aber sie würde auch den Anwendungsbereich des Marxschen Modells der Selbstverwirklichung-durch-andere beschränken und damit vermutlich auch die Ermöglichung starker gesellschaftlicher Bindungen. Ironischerweise wird ein signifikanter Anstieg der Arbeitsproduktivität wahrscheinlich die von Marx erwünschten gesellschaftlichen Beziehungen untergraben.
geistig Schwerbehinderten nicht. Andererseits glaube ich, dass sich die politische Philosophie dieser Frage überhaupt noch nicht in angemessener Weise angenommen hat. Das Thema bleibt generell gesehen ein wichtiges aber völlig ungelöstes Problem. 95
Die Schriften von Marx bieten keine eindeutige Antwort auf die Frage, ob der Zentraltopos der Selbstverwirklichung tatsächlich die notwendige Arbeit ist. In den Arbeiten des Jahres 1844 tendiert Marx stark in diese Richtung, wenn auch nicht uneingeschränkt. In der Zeit seiner Arbeit am Kapital neigt er der entgegengesetzten Auffassung zu. Zu diesem Thema siehe meine Schrift Marx 's Attempt to Leave Philosophy, Kapitel 4.
96
Marx, Manuskripte, S. 546-552.
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3. Das interessanteste Problem wird offenbar, wenn wir in Hinblick auf die Überzeugungen und praktischen Einstellungen der Akteure die Idealisierung reduzieren. Damit Aktivitäten gesellschaftlicher Anerkennung reibungslos funktionieren, müssen bestimmte Überzeugungen und praktische Einstellungen weite Verbreitung genießen - sie müssen gewissermaßen selbstredend sein. Um zwei solcher Aktivitäten zu vergleichen, könnte man als Vergleichsbasis die Plausibilität der entsprechenden Überzeugungen sowie die Wahrscheinlichkeit der entsprechenden Einstellungen heranziehen. Auf diese Weise macht es Sinn, zwei völlig ideale Gesellschaften miteinander zu vergleichen, etwa die WKG und eine gutfunktionierende Marktgesellschaft, die Rechtsbesitz wie Rechtsgleichheit betont. Eine Marxsche (aber nicht nur Marxsche) Standardfrage hinsichtlich der letzteren wäre nun, ob im Marktsektor verursachte Verletzungen des Selbstwerts möglicherweise durch die gesellschaftliche Bestätigung von Rechtsgleichheit und Bürgerstatus geheilt werden können.97 Andererseits mag man die Wahrheit der Behauptung in Frage ziehen, dass die Umgestaltung der Natur zwecks Herstellung von Produkten für andere die wesentliche menschliche Aktivität darstellt, oder auch den Realitätsgehalt der Voraussetzung bezweifeln, Menschen könnten in einem signifikanten Sinne füreinander sorgen. Dieser Vergleich wäre sicherlich lehrreich. Vielleicht noch instruktiver wäre ein solcher zwischen nicht vollständig idealen sondern mehr oder weniger idealen Gesellschaften. Die Unterscheidung ist hier nicht die zwischen einer Gesellschaft engelsgleicher (d. h. grundsätzlich besser als menschlicher) Wesen und einer Gesellschaft, die von Wesen bewohnt würde, die erkennbar zu unserer Gattung gehörten.98 Eine vollständig ideale WKG wäre von menschlichen Wesen bewohnt, würde allerdings institutionelle und materielle Bedingungen beinhalten, welche in verlässlicher und vollständiger Weise die bessere Natur aus uns herausbrächten, obwohl wir durch sie nicht engelsgleich würden. Der Unterschied zwischen dieser und einer mehr oder weniger idealen Gesellschaft besteht darin, dass Akteure in der letzteren in bedeutendem, jedoch immer noch ziemlich unvollkommenem Maße derart geprägt wären. Eine mehr oder weniger ideale Gesellschaft stelle ich mir analog zu dem vor, was Rawls eine „realistische Utopie" nennt.99 Sicherlich könnte es eine Reihe derartiger Arrangements geben. Gemeinsam wäre ihnen ein Mangel an durchgängiger Prägung der Akteure in der gewünschten Weise. Und soweit die Institutionen in dieser Hinsicht versagen, könnte das auf einen Umkehrpunkt verweisen,
97
D i e damit verbundene Sorge lässt sich bis hin zu Marx' Aufsatz „Zur Judenfrage" zurückverfolgen. Siehe K. Marx, „Zur Judenfrage" (1843), MEW, Bd. 1, S. 3 4 7 - 3 7 7 . Thomas Nagel spricht das gleiche Problem an, wenn er auf die vorherrschende „Diskrepanz" zwischen dem „überpersönlichen Egalitarismus einer solchen Ordnung [des auf Gleichheit orientierten Liberalismus] und ihrer Begünstigung eines rein privaten Strebens nach persönlichen Zielen" verweist. Siehe Th. Nagel, Gleichheit andere Schriften
98
zur politischen
Philosophie,
und Parteilichkeit
und
übers, v. Michael Gebauer, Paderborn 1994, S. 85.
Diesen Unterschied betonen viele Autoren. Eine hilfreiche Diskussion zu ihr findet sich bei B. Laurence, „The Thesis o f Moderate Scarcity", unveröff. Manuskript.
99
Siehe J. Rawls, Das Recht der Völker, übers, v. W. Hinsch, Berlin, N e w York 2 0 0 2 , S. 15ff. Es ist unklar, ob die wohlgeordnete Gesellschaft von A Theory of Justice eine vollständig ideale oder nur eine mehr oder weniger ideale Gesellschaft ist. Rawls macht in der Tat „vollständige Konformität" zur Voraussetzung. Erstens setzt er jedoch nicht die völlige Abwesenheit des Strafrechts voraus (in der Tat muss „vollständige Konformität" nicht „ausnahmslose Konformität" bedeuten). Zweitens deutet sein Interesse für neidminimierende Arrangements auf eine Grenze institutioneller Leistungsfähigkeit, die Psychologie der Bürger in gewünschter Weise zu formen.
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ab dem entscheidende Merkmale der idealen Gesellschaft gefährdet wären. Dies wiederum bedeutet, dass der Vergleich idealer Gesellschaften verschiedene Resultate abhängig davon erbringen könnte, ob wir es dabei mit vollständig idealen oder nur mit mehr oder weniger idealen Gesellschaften zu tun haben. Mit verschiedenen idealen Gesellschaften werden verschiedene positive Merkmale hervorgehoben. Gegenseitige Achtung und gegenseitige Sorge - beides sind wünschenswerte Dinge. Allerdings sind es verschiedene ideale Arrangements, die der einen oder der anderen Priorität verleihen. Nun hängt das Gegebensein eines jeden dieser Güter von gemeinhin geteilten Überzeugungen ab (die z. B. individuelle Rechte betreffen oder die wesentliche menschliche Aktivität) und ein jedes dieser Güter kann dadurch untergraben werden, dass die mit ihm verbundenen Überzeugungen in nicht hinreichendem Maße geteilt werden. Was als nicht hinreichend geteilt zählt, mag bezogen auf die unterschiedlichen Überzeugungen und Güter hinweg differieren. Ferner sind unter den wesentlichen Überzeugungen jene, welche die Bürger hinsichtlich der praktischen Einstellung ihrer Mitbürger ihnen gegenüber hegen, d. h. dass es sich bei diesen in der Tat um Einstellungen der Achtung und der Sorge handelt. Solche Überzeugungen verlieren unter anderem wesentlich dann an Popularität, wenn das Verhalten von Mitbürgern sich scheinbar als widersprüchlich zur maßgeblichen praktischen Einstellung erweist. Aber auch hier gibt es wahrscheinlich Unterschiede zwischen verschiedenen idealen Gesellschaften. Das Ausmaß des Verhaltens V, das nötig ist, um meine Überzeugung Β zu untergraben (hinsichtlich der Einstellungen, die andere Bürger mir gegenüber hegen) mag von dem Ausmaß des Verhaltens V * abweichen, das nötig ist, um meine Überzeugung B * zu untergraben. Der Punkt in der mehr oder weniger idealen Gesellschaft Alpha, an welchem das Verhalten und die Überzeugungen dahingehend zu wirken beginnen, dass sie das Vorliegen des präferierten Gutes G unterminieren, wird wahrscheinlich von jenem in der mehr oder weniger idealen Gesellschaft Beta abweichen, an welchem das Verhalten und die Überzeugungen dahingehend zu wirken beginnen, dass sie das Vorliegen des präferierten Gutes G * unterminieren. Somit mag die Wahrscheinlichkeit, das Gut G in der mehr oder weniger idealen Gesellschaft Alpha erfolgreich zu erzielen, von der abweichen, das Gut G * in der mehr oder weniger idealen Gesellschaft Beta erfolgreich zu erzielen. Die Schlussfolgerung besteht darin, dass der Vergleich zwischen vollständig idealen Gesellschaften Alpha und Beta einerseits und mehr oder weniger idealen Gesellschaften Alpha und Beta andererseits zu verschiedenen Antworten auf die Frage führen könnte, welche der beiden Gesellschaften wir jeweils erstreben sollten. 4. Sich eine vollständig ideale Gesellschaft vorzustellen ist wichtig, denn es lohnt, das erkennbar Beste zu wissen. Es ist aber auch wichtig - möglicherweise noch wichtiger - , sich die zweitbeste Gesellschaft vorzustellen, um nämlich die Schlaglöcher und Fallgruben zu erkennen, die sich auf dem Weg ernsthaften gesellschaftlichen Fortschritts befinden. Hier geht es nicht um die dramatischen Gefahren der ersten Schritte, d. h. die Befürchtung, dass zutiefst fehlbare Individuen und Gruppen politische Macht in ihren Händen konzentrieren. Diese Gefahr besteht und sie ist nicht zu unterschätzen. An dieser Stelle ist jedoch ein anderes Problem thematisch: die Nachteile einer Gesellschaft, die in vielerlei Hinsichten besser als die unsrige wäre und dennoch nicht ideal - und somit einer anderen mehr oder weniger idealen Gesellschaft nicht überlegen. Um dieses Problem zu illustrieren, werde ich eher kurz einige Unterschiede zwischen gegenseitiger Achtung und gegenseitiger Sorge in mehr oder weniger idealen Gesellschaften betrachten.
M A R X ' NEUER M E N S C H
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In einer mehr oder weniger WKG wären die Normen diejenigen gegenseitiger Sorge. Meine Zuversicht, in einem Netz gegenseitiger Sorge verortet zu sein, wäre für die Aufrechterhaltung meines Selbstwertgefühls hilfreich. In einer mehr oder weniger idealen rechtsförmigen Gesellschaft bestände das Netz aus gegenseitiger Achtung. In beiden Fälle ist das Netz möglicherweise nicht tragfahig - es könnte reißen und zu einem Mangel an Selbstwert führen. Wäre das eine Netz weniger verlässlich als das andere? Ich werde hier zwei (sehr) spekulative Behauptungen hinsichtlich der Unterschiede zwischen Achtung und Sorge aufstellen. Erstens glaube ich, dass Achtung die überzeugungssensitivere Einstellung ist. Wenn Jack wirklich glaubt, dass Joe ein Eigentum E besitzt, das zur Achtung berechtigt, dann wird Jack höchstwahrscheinlich Joe achten. Die Achtung mag von Missgunst affiziert sein. Andererseits scheint sie so fest an die Überzeugung geknüpft, dass wir im Falle von Jacks offenkundiger Missachtung von Joe zu dem Schluss berechtigt wären, Jack glaube nicht wirklich, dass Joe Eigentum E besitzt (oder dass es sich bei seinem Eigentum um achtungsgewährendes Eigentum handelt). Mit der Sorge scheint es sich anders zu verhalten. Es gibt, und dies ist eine Binsenwahrheit, kein Eigentum derart, dass es unvermeidlich Beths Zuneigung erwecken könnte, wenn Ann es besäße. Gleiches gilt für die Sorge. Ann mag das Eigentum besitzen, von dem Beth zwar einräumt, dass es zur Sorge berechtigt. Dennoch bleibt Beth ungerührt und ist der Überzeugung, dass Ann sie nichts angeht. Obwohl sie sich in anderer Weise unterscheiden, gleicht Sorge der Zuneigung, insofern sie sich nicht nach Belieben aufbieten lässt oder automatisch durch Überzeugungen ausgelöst wird (als liebenswert anerkannt zu werden heißt nicht notwendigerweise, geliebt zu werden). Wir dürfen nicht vergessen, dass wir uns hier mehr oder weniger ideale Gesellschaften vorstellen, deren Bürger bestimmte positive Überzeugungen übereinander hegen. Achtung wird vermutlich mit größerer Wahrscheinlichkeit als Sorge durch solche Überzeugungen generiert. In dem Maße, dass der Selbstwert der Akteure von der praktischen Einstellung der anderen Akteure abhängt, scheint eine auf gegenseitige Achtung setzende Gesellschaft dem Selbstwert einen verlässlicheren Rückhalt zu bieten als eine auf gegenseitiger Sorge bauende. Zweitens, wenn ich von jemandem verlange, er solle mich achten, dann verlange ich mehr als dass diese Person sich so verhält, als ob sie mich achtet. Wenn ich von jemandem verlange, er solle Sorge für mich tragen, dann verlange ich mehr als dass diese Person sich so verhält, als ob sie Sorge für mich trägt. In beiden Fällen verlange ich nicht nur nach einem bestimmten Verhalten, sondern ich verlange auch eine bestimmte Einstellung. Und doch scheint es hier den folgenden Unterschied zu geben. Nehmen wir an, ich weiß, dass Gwen mich nicht achtet, sich jedoch in verlässlicher Weise genau so verhält, wie sie es täte, wenn sie mich achtete. Nehmen wir des Weiteren an, ich weiß, dass Sarah sich nicht um mich sorgt, sich jedoch in verlässlicher Weise genau so verhält, wie sie es täte, wenn sie sich um mich sorgte. Kurz gesagt, scheint Gwen meinen Selbstwert weniger stark als Sarah zu untergraben. Im Falle von Achtung scheint das Verhalten wichtiger zu sein, im Falle von Sorge die Einstellung. Die meisten von uns nehmen, so glaube ich, einen Mangel an Sorge persönlicher. Man mag einwenden, dass es in einer mehr oder weniger WKG um den Mangel an Sorge um mich seitens Fremder geht, diesen Mangel aber nur sehr wenige von uns ernst nehmen. Dies so zu sehen hieße aber zu vergessen, dass es in der WKG genau die Sorge seitens Fremder ist, die meinen Selbstwert stützen sollte. In der WKG würde eine solche Sorge oder ein Mangel an dieser sehr ernstgenommen.
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DANIEL BRUDNEY
Betrachten wir einen weitern möglichen Unterschied. Hume bemerkt, dass wenn „irgend ein tugendhaftes Motiv oder ein tugendhafter Trieb der menschlichen Natur im allgemeinen zu eigen ist, so kann ein Mensch, der den Mangel desselben in seinem Herzen spürt, sich deshalb hassen [.. .].".100 Stellen wir uns Bob in einer mehr oder weniger WKG vor. Er weiß, dass er sich nicht um unbekannte, fern stehende andere sorgt. Er weiß, dass ihm ein grundsätzliches, weitverbreitetes und gesellschaftlich gebilligtes Motiv fehlt. (Bob ähnelt in dieser Hinsicht einer Mutter, die bemerkt, dass sie ihr Kind nicht liebt; auch fur die Mutter ist dies schrecklich.) Über jene, denen der Gerechtigkeitssinn fehlt, bemerkt Rawls, „sie haben mit ihrer Natur Pech gehabt".101 Aber die Wahrscheinlichkeit, dass Bürger mit ihrer Natur Pech haben, ist möglicherweise eine Achse, entlang derer sich ideale Gesellschaften vergleichen lassen. Wenn Bob mit größerer Wahrscheinlichkeit in der WKG das grundsätzliche, weitverbreitete und gesellschaftlich gebilligte Motiv (Sorge um andere) fehlen wird als Bill in einer mehr oder weniger idealen rechtsformigen Gesellschaft (Achtung anderer) - dann könnte das ein Fingerzeig zugunsten der rechtsformigen Gesellschaft sein. Sowohl in der mehr oder weniger WKG als in der mehr oder weniger idealen rechtsformigen Gesellschaft gäbe es Aktivitäten gesellschaftlicher Anerkennung, die gebunden an Überzeugungen und Einstellungen den Wert der Akteure bestätigten. Wenn alles glatt ginge, würde der individuelle Selbstwert durch eine solche Bestätigung gestärkt. Allerdings würde es auch hier manche enttäuschte Erwartung geben und manche Bestätigung ausbleiben. Es ist schwer zu sagen, in welcher mehr oder weniger idealen Gesellschaft dieses Defizit größer wäre. Sollte ein Netz gegenseitiger Sorge in der Tat weniger tragfahig sein als eines gegenseitiger Achtung, dann würde ein Defizit an gegenseitiger Sorge möglicherweise umso stärker den Selbstwert untergraben, je weniger ideal die WKG wäre - verglichen mit einem gleichen Defizit gegenseitiger Achtung in einer rechtsformigen Gesellschaft. Wenn andererseits die rechtsförmige Gesellschaft auf einer Wirtschaft beruht, die ein hochkompetitives Ethos begünstigt - und damit für viele Menschen eine Art grundlegenden Mangel an Selbstwert offenbart - , dann ist der geteilte Status bürgerrechtlicher Gleichheit möglicherweise zu schwach, um den Selbstwert aufrechterhalten zu können. Zweifelsohne sind diese Bemerkungen völlig spekulativ. Sie verweisen nur auf ein Feld zukünftiger Arbeit. In dieser Abhandlung habe ich die Ansichten von Marx aus dem Jahre 1844 über die Arbeit als Aktivität gesellschaftlicher Anerkennung und den Produktions-Konsumtions-Prozess als eine Form der Selbstverwirklichung-durch-andere dargelegt. Ich habe zu zeigen versucht, wie im Marxschen Werk, anhand der Rekonstruktion, die am meisten zu überzeugen vermag, dem Begriff gegenseitiger Sorge Priorität zukommt und dieser am besten so verstanden werden kann, dass er zur Aufrechtherhaltung des Selbstwertgefühls der Akteure dient. Der Frage, ob die Marxsche Darstellung im Ganzen genommen plausibel ist, wurde hier nicht nachgegangen. Eine genauere Betrachtung verdient insbesondere das Problem, ob die Marx hier zugeschriebene Konzeption gegenseitiger Sorge nur Ausdruck einer mittlerweile verlorenen Zuversicht über die menschliche Natur ist oder - zumindest in gewissem Maße - auch zukünftig als nützliches Modell dienen kann. Aus dem Amerikanischen
von Veit Friemert
100
Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur, Buch II und III Über die Affekte. Über Moral, S. 221.
101
Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 635.
ANDREAS WILDT
„Anerkennung" in der Psychoanalyse*
Der Begriff „Anerkennung" gehört nicht zur psychoanalytischen Terminologie. Auch in neueren Lexika psychoanalytischer Begriffe und in Sachregistern analytischer Literatur sucht man ihn vergebens. Das gilt allerdings ebenso für eng verwandte Begriffe wie „Bejahung", „Annehmen", „Akzeptieren" und „Bestätigung". Anders ist das zum Teil bei „Achtung". In den letzten Jahrzehnten kommt aber gerade der Begriff der „Anerkennung" in der Literatur vor allem der kleinianischen Richtung immer häufiger vor, und in einigen neueren, intersubjektivistischen Ansätzen ist er zu einem Zentralbegriff geworden, insbesondere bei Jessica Benjamin und Martin Altmeyer.1 Bei Letzteren kommt zweifellos ein Einfluss philosophischer Strömungen auf die Psychoanalyse zum Ausdruck, nämlich der der neueren Rezeptionen des früheren Hegel seit Alexandre Kojèves legendären Vorlesungen im Paris der dreißiger Jahre, die etwa Merleau-Ponty, Sartre und Lacan2 beeinflusst haben. In Deutschland wurde Hegels Anerkennungslehre besonders von Habermas und von Idealismus-Forschern der folgenden Generation untersucht und aktualisiert.3 Daran knüpft Axel Honneth mit seiner Sozialphilosophie des Kampfes um Anerkennung an. Solche Diskurse der neueren Kritischen Theorie prägten dann auch jüngere Psychoanalytiker/innen. Diese Aufwertung des Begriffs „Anerkennung" passt aber auch zu internen Veränderungen der psychoanalytischen Theorie und Praxis. Entscheidend ist hier die säkular wachsende Bedeutung des Themas des „Narzissmus". Zwar kommt in der klassischen Theorie des Narzissmus der Begriff „Anerkennung" kaum vor. Die Vermutung ist aber nahe liegend, dass in der Genese narzisstischer Störungen eine mangelnde Anerkennung durch die primären BeDieser Text wurde in verkürzter Form bei der Tagung Anerkennung. Vom „Leben " eines hegelschen Begriffs im Oktober 2 0 0 4 in Basel vorgetragen. Er setzt Überlegungen fort, die ich in dem Aufsatz „Anerkennung" in der praktischen Philosophie der Gegenwart angestellt habe, der in dem Sammelband Selbstachtung oder Anerkennung? (Weimar 2005) erschienen ist. Ich habe mich dort vor allem mit den Thesen von Axel Honneth zur Moral- und Sozialphilosophie der Anerkennung auseinander gesetzt, die sich bereits ausfuhrlich auf psychoanalytische Texte, insbesondere von Winnicott und Benjamin, beziehen. Diesen Arbeiten von Honneth verdanke ich viel. Die vollständige Fassung dieses Textes wurde zuerst in Heft 3/2005 der Deutschen sophie, S. 4 6 1 - 4 7 8 , veröffentlicht.
Zeitschrift für
Philo-
1
Vgl. Benjamin (1988); Altmeyer (2000a), (2000b), (2003).
2
A u f Lacan und seine Schule gehe ich im Folgenden nicht ein, obwohl hier die Topoi des „Kampfes um Anerkennung" und der „Anerkennung des Begehrens" eine Rolle spielen.
3
Dazu gehören auch folgende Arbeiten von mir selbst: Wildt ( 1982), ( 1992), (2005)
182
ANDREAS WILDT
zugspersonen eine wichtige Rolle spielt. Und es ist fürs tiefenpsychologische Denken ebenso nahe liegend, narzisstische Symptome auch und gerade dann, wenn sie Unabhängigkeit demonstrieren, als Weisen eines „Kampfes um Anerkennung" zu verstehen. 4 Ein solches Verständnis des Narzissmus ist kaum mit Freuds Annahme eines primär weltablehnenden Subjekts vereinbar. Diese wurde zwar schon im Rahmen der objektbeziehungstheoretischen und selbstpsychologischen Zweige der Psychoanalyse revidiert. 5 Aber auch hier war der Begriff „Anerkennung" zur Bezeichnung intersubjektiver Beziehungen zunächst nicht wichtig. Das galt eher für die Begriffe „Achtung" und „Respekt". Von zentraler Bedeutung wurde der Begriff der „Anerkennung" erst in neueren Versuchen, ein prinzipiell intersubjektives Verständnis der Seele und des Unbewussten zu entwickeln. Vordenker dafür sind etwa in den USA Stephen Mitchell und in Deutschland Martin Domes. 6 Hier spielt auch die Rezeption der empirischen Säuglingsforschung eine wichtige Rolle. Der Begriff der „Anerkennung" ist jedoch bemerkenswerterweise - nach gewissen Vorläufen beim späteren Freud und einigen Freudianern - auch in einem eher orthodoxen Zweig der Psychoanalyse wichtig geworden, nämlich in der Schule von Melanie Klein. Hier meint „Anerkennung" allerdings zunächst nicht ohne weiteres eine intersubjektive Beziehung, sondern die Bejahung von Realität trotz entgegenstehender, ablehnender Strebungen. „Anerkennung" ist so der Gegenbegriff zu „Abwehr", „Verdrängung" und insbesondere zu „Verleugnung". Verleugnung ist nach heutigem Verständnis ein Abwehrmechanismus, der im Unterschied zu dem der Verdrängung, der für Neurosen charakteristisch ist, neben dem der Spaltung und Projektion fur schwerere und genetisch früher bedingte Formen von Psychopathologie grundlegend ist. Mit der Fokussierung auf „Anerkennung versus Verleugnung" wird das analytische Interesse also noch in einer grundsätzlicheren Weise als durch neuere Narzissmustheorien auf Frühstörungen hin verschoben. Zu diesen gehören im weiteren Sinne auch die narzisstischen Störungen, aber vor allem die psychosomatischen und Borderline-Störungen und die nichtorganischen Psychosen, die Freud noch als „narzisstische Neurosen" bezeichnete. Mit diesen terminologischen Befunden erhebt sich die Frage, ob es einen sachlichen Zusammenhang gibt zwischen den eher intersubjektivistischen und den eher orthodoxen Verwendungsweisen des Anerkennungsbegriffs. Dazu möchte ich im Folgenden hauptsächlich kritische, aber auch positive Überlegungen anstellen, die allerdings thesenartig bleiben. Meine Darstellung gliedert sich folgendermaßen. Im ersten Teil formuliere ich Thesen zur Wichtigkeit des Begriffs „Anerkennung" bei Freud, stelle kurz die Bedeutung des Begriffs bei einigen Kleinianern dar und versuche plausibel zu machen, dass er bereits hier zum Teil überlastet wird. Im zweiten Teil definiere ich die orthodoxe Verwendung des Anerkennungsbegriffs als „propositionale" Anerkennung, unterscheide diese von „personaler" Anerkennung, arbeite die Gemeinsamkeit dieser beiden Formen heraus und formuliere Fragen nach den sachlichen Zusammenhängen zwischen ihnen. Dieser Teil ist, im Unterschied zu den anderen, vorwiegend philosophisch-begrifflich orientiert. 7 Im dritten Teil erörtere ich 4
Vgl. Altmeyer (2000a), 161.
5
Vgl. Eagle ( 1984); Bacal/Newman ( 1990).
6
Mitchell (2000); Domes ( 1997).
7
Wie schon meine in Fußnote 3 genannten Arbeiten zeigen, komme ich von der akademischen Philosophie her. Im letzten Jahrzehnt habe ich tiefenpsychologisch orientierte, körperpsychotherapeutische Ausbildungen und psychoanalytische Fortbildungen gemacht, bin aber kein Psychoanalytiker.
„ A N E R K E N N U N G " IN DER PSYCHOANALYSE
183
die beiden Anerkennungsformen und ihre Vermischung in den Konzeptionen von Winnicott und Benjamin. Im vierten Teil diskutiere ich die Verwendung des Anerkennungsbegriffs in intersubjektivistischen Konzeptionen des Narzissmus und in einer umfassenderen psychoanalytischen Anthropologie. Dabei komme ich auch zu positiven, aber vorläufigen Hypothesen.
1 Anerkennung bei Freud und Kleinianern Das Wort „Anerkennung" kommt in Freuds Texten oft im umgangssprachlichen Sinne vor, also so, dass damit noch keine Ideen vorausgesetzt werden, die für die Psychoanalyse spezifisch sind. An solchen Stellen bezeichnet „Anerkennung" nur selten eine Einstellung oder Verhaltensweise speziell gegenüber Personen (in ähnlicher Weise wie „Lob"). Meistens bezieht sich dieses Wort bei Freud allgemeiner auf Tatsachen aller Art, natürlich besonders auf Tatsachen, deren Anerkennung für die Psychoanalyse charakteristisch ist, zum Beispiel die der infantilen Sexualität und der Aggression. Schon hier wird deutlich, dass das Wort „Anerkennung" bei Freud besonders dort erscheint, wo es um ein Bejahen und Akzeptieren geht, das sich gegen Unlust, Angst, Scham, Schmerz usw. erst durchsetzen muss. Freuds Verwendungsweise akzentuiert hier einen Zug, der bereits für die übliche Verwendung des Wortes „Anerkennung" charakteristisch ist. Man könnte ihn so umschreiben, dass für ein „Anerkennen" ein „Erkennen" noch nicht ausreicht, sondern ein voluntatives Annehmen oder Bejahen nötig ist, das sich gegen eine entgegengesetzte Tendenz zum Verneinen und Ablehnen durchsetzen muss. Verräterisch dafür ist die Rede davon, dass wir etwas anerkennen „müssen" oder „sollten". Anerkennen ist so mindestens oft „widerstrebend" 8 , ambivalent oder ambitendent. Dazu passt bei Freud die Affinität von „Anerkennen" zu „Ertragen", „Aushalten", „Sich-Anpassen", „Sich-Abfinden" und „Verzicht". Die Besonderheit des Wortes „Anerkennung", eine Ambitendenz in der Bejahung auszudrücken, lässt es als durchaus geeignet erscheinen, zu einem Grundbegriff der Psychoanalyse zu werden. Tatsächlich wird es beim späten Freud immer wichtiger und erlangt als Gegenbegriff zu „Verleugnung" einen semiterminologischen Status. In der Rezeption des Freudschen Werkes ist davon allerdings fast nur die Redewendung von der „Anerkennung der Realität" versus der „Verleugnung der Realität" übrig geblieben. Die „Anerkennung der Realität" ist nach Freud das, was das „Realitätsprinzip" leistet.9 Als seine Funktion hat Freud aber nur die der „Realitätsprüfung" näher untersucht. Damit ist vor allem die Prüfung von Wahrnehmungen, Erinnerungen und Überzeugungen daraufhin gemeint, ob sie durch Wünsche, Phantasien und Interpretationen verzerrt werden. Nach einer solchen Prüfung ist aber im Prinzip noch offen, ob das Resultat trotz der Unlust akzeptiert und zur Grundlage des Handelns gemacht oder aber unter dem Druck des „Lustprinzips" abgewehrt wird. Das ist natürlich hauptsächlich eine begriffliche Unterscheidung; in der Realität wird die Realitätsprüfung durch die Abwehr meistens behindert. Das volle Akzeptieren der
So in Freuds Vorlesungen: Stu, I, 425 = GW, XI, S. 459; und in Das Unbewusste·. Stu, III, S. 128 = GW, X, S. 268. Freud, Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens: Stu, III, 18, Anm. 3 = GW, VIII, 231, Anm. 1.
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Realität bezeichnet Freud manchmal als „Anerkennung".10 „Anerkennung" ist demnach allgemein die Alternative zur „Abwehr", insbesondere zu deren voluntativem (versus kognitivem) oder Einstellungs-Aspekt. Daraus könnte man leicht den Schluss ziehen, dass „Anerkennung der Realität" bei Freud - im Gegensatz zu „Abwehr" - immer einen bewussten und absichtlichen Akt meint und deshalb mit Recht nicht zur spezifisch analytischen Terminologie gehört. Dieser Schluss wäre aber voreilig. Denn Freud sieht zum Beispiel in der Abwehrform der „Verneinung" (zum Beispiel „Die Mutter ist es nicht!") „die Anerkennung des Unbewussten von Seiten des Ichs".11 Das ist aber offensichtlich keine bewusste Anerkennung. Denn sie ist nur eine partielle Aufhebung der Abwehr, und zwar hier der „Verdrängung".12 Seit dem Aufsatz über Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds hat Freud den Begriff der „Anerkennung" aber als Gegenbegriff zu „Verleugnung" verwandt.13 Diese Anerkennung versus Verleugnung bezieht sich hier inhaltlich auf die Tatsache der Penislosigkeit des Mädchens. Seit der Arbeit über „Fetischismus" bezeichnet „Anerkennung" dann nicht so sehr die Alternative zur (totalen) Verleugnung, sondern eine affirmative Ergänzung zur gleichzeitigen - und schon damit partiellen - Verleugnung. Eine Gleichzeitigkeit von Anerkennung und Verleugnung von Realität sieht Freud hier bereits im Fetisch als solchen, aber auch in besonderen Formen des Fetischismus und sogar der Zwangsneurose. In nachgelassenen Fragmenten deutet Freud diese und ähnliche Konstellationen dann als „Ichspaltung". Leider fehlt mir hier der Raum, um diese Ideen von Freud detaillierter darzustellen und zu diskutieren. Ich kann nur festhalten, dass der alte Freud zunehmend die Idee erprobte, psychische Prozesse und Störungen nach der Art und Weise und dem Ausmaß zu beschreiben und zu differenzieren, in denen sie nicht nur Abwehr und insbesondere Verleugnung, sondern auch Anerkennung von äußerer und innerer Realität leisten. Diese Ideen sind meines Wissens auch von den Freudianern kaum rezipiert und diskutiert worden. Das gilt ebenso von den anderen Richtungen der Psychoanalyse, aber insbesondere Kleinianer haben wichtige Aspekte der Anerkennung der Realität thematisiert, die bei Freud wenig Beachtung gefunden hatten. Heutige Kleinianer stellen es manchmal so dar, als spiele der Begriff der „Anerkennung" bereits bei Melanie Klein eine wichtige Rolle.14 Diese Sicht habe ich bei der Lektüre der angeführten Schriften von Klein nicht bestätigen können.15 Zutreffend ist sie aber für viele Kleinianer seit (der späteren) Hanna Segal.
10
Vgl. zum Beispiel in dem Brief an Romain Rolland vom Januar 1936 (Eine Erinnerungstäuschung auf der Akropolis): Stu, IV, 291 = GW, XVI, S. 255.
11
Freud, Die Verneinung: Stu, III, S. 377 = GW, XIV, S. 15.
12
Ebd., S. 373 = S. 12.
13
Vgl. Stu,V, S. 2 6 1 = GW, XIV, S. 24 f.
14
Zum Beispiel Albertini (2004).
15
In der längeren Abhandlung Theoretische Betrachtungen über das Geflihlsleben des Säuglings von 1952 spricht Klein zweimal von der Fähigkeit, „die zunehmend als schmerzhaft empfundene psychische Realität in höherem Maße anzuerkennen" (Klein 2000, S. 126). In dem Aufsatz Zur Entwicklung des psychischen Funktionierens von 1958 heißt es: „Dies ermöglicht es dem Ich, das Über-Ich in größerem oder geringerem Umfang zu integrieren und zu akzeptieren" (ebd., S. 379). Andere Übersetzungen haben statt „akzeptieren" hier „anerkennen".
. A N E R K E N N U N G " IN DER P S Y C H O A N A L Y S E
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Dazu wurde behauptet, Hanna Segal habe in ihrem Aufsatz Bemerkungen zur Symbolbildung von 1957 „mit ihrem Konzept der symbolischen Repräsentation die Notwendigkeit der Anerkennung der Eigenständigkeit des Objekts deutlich gemacht, nämlich dann, wenn es zu einer Verminderung der omnipotenten Identifizierungen des Säuglings kommt". 16 Tatsächlich benutzt Segal den Begriff „Anerkennung" hier nur zur Bezeichnung der spezifischen Einstellung gegenüber Symbolen, nicht gegenüber „Objekten" im psychoanalytischen Sinn.17 Anders in Segais Einfuhrung in das Werk von Klein von 1964. Hier ist im Kapitel „Wiedergutmachung" die „Anerkennung" der inneren Realität der Aggression, Schuld und Trauer und der äußeren Realität vor allem der Unabhängigkeit der Mutter, ihres Verlustes und ihrer Hilfe bei der Wiedergutmachung ein wichtiger Begriff. 18 In ihrem späteren Buch Traum, Phantasie und Kunst geht es Segal, mit Berufung auf Bion, um die „Anerkennung der triangulären Situation" 19 : „Es ist ein bedeutsamer Aspekt der depressiven Position, daß die Anerkennung der Mutter als getrennter Person zugleich die Anerkennung des Vaters als ihres Partners bedeutet, nicht als eines Teil-Objekts, das als ihr Besitz erlebt wird, oder als ein Objekt, das mit ihr verschmolzen ist, wie in der Phantasie der vereinigten Eltern." 20 Der Text aus der kleinianischen Richtung, in dem der Anerkennungsbegriff das größte Gewicht hat, ist meines Wissens Money-Kyrles kleiner Aufsatz The Aim of Psychoanalysis von 1971. Money-Kyrie bestimmt hier das Ziel einer Analyse so, „dem Patienten zu helfen, emotionale Hindernisse zu entdecken, was er angeborenerweise bereits weiß, zu verstehen, und dadurch zu überwinden". 21 Dabei beruft sich der Autor besonders auf Bions Annahme angeborener „Präkonzeptionen" und auf Piatons Theorie der Erkenntnis als Wiedererinnerung. Der Begriff „recognition" hat hier also zunächst den Sinn von „Wiedererkennen", den das deutsche Wort „Anerkennung" nicht hat. Im Sinne von „Wiedererkennen" hatte MoneyKyrie den Begriff „recognition" bereits in seinem früheren Aufsatz Cognitive Development verwandt und ihn entsprechend einmal als „re-recognition" erläutert.22 Hier war auch schon deutlich, dass sich recognition auf die „essential facts of life" 23 bezieht, die zunächst „unerträglich" sind.24 „Recognition" hat hier also auch die Bedeutung von „widerstrebendem Akzeptieren", die schon bei Freuds Verwendung des Begriffs „Anerkennung" entscheidend ist. In dem späteren Papier behandelt Money-Kyrie drei Formen der Anerkennung als zentral: „Die Anerkennung der Brust als höchst gutes Objekt, die Anerkennung des Geschlechtsverkehrs der Eltern als höchst schöpferische Handlung und die Anerkennung der Unausweich16 17 18 19 20 21
22 23 24
Alberini (2004), S. 79. Segal (1957), 211, S. 213. Dies. (1964), 127, S. 133 ff. Dies. (1991), S. 134. Ebd., 68; vgl. auch S. 82, 129. Money-Kyrie (1971), 103a; wiederabgedruckt in: The Collected Papers ofR. Money-Kyrie ( 1978), hg. v. Meltzer/O'Shaughnessy, S. 442. Ebd., S. 421. Ebd., S. 420. „The infant or some part of the infant, fails to recognize what is intolerable to him" (ebd., S. 421 ). Mit diesem Satz gibt hier Money-Kyrle eine Überlegung aus Freuds Aufsatz Formulierungen über zwei Prinzipien des psychischen Geschehens von 1911 wieder (GW, Vili, S. 229-238 = Stu, III, S. 17-24). Der Begriff der „Anerkennung" findet sich bei Freud hier aber nur in einer Anmerkung (vgl. Fußnote 9). Ebenso wie Money-Kyrle verfährt E. Krejci (2001), S. 354.
186
ANDREAS WILDT
lichkeit der Zeit und des schließlichen Todes."25 Mit der dritten Form der Anerkennung, die bei Klein selbst meines Wissens nicht vorkommt, meint Money-Kyrle die Anerkennung der Tatsache, „dass keine gute (oder schlechte) Erfahrung ewig andauern kann". 26 Er behandelt dann verschiedene Formen, in denen diese Formen von Anerkennung verhindert, gestört oder eingeschränkt sein können. Dabei ist fur ihn zentral, dass die Anerkennung der Brust als höchstes Gut - zusammen mit der Trauer über die Vergänglichkeit ihrer Präsenz - die Anerkennung des Geschlechtsverkehrs der Eltern als höchst schöpferischer Handlung ermöglicht oder jedenfalls erleichtert. 27 Alle diese Formen von Anerkennung sind entscheidend dafür, seelisches Wachstum zu ermöglichen. Bei Money-Kyrle lässt sich eine eigentümliche Akzentuierung in der Verwendung des Anerkennungs-Begriffs beobachten. Während sich in der Psychoanalyse bis dahin „Anerkennung" vor allem auf die Tatsachen bezog, die den Wünschen des anerkennenden Subjekts entgegenstehen, sind es jetzt Tatsachen, die positive Werte darstellen und auf die sich Wünsche des Anerkennenden gerade richten. Sicher ist es fur das kleinianische Kleinkind schon deshalb schwierig, die überragende Güte der Brust und die besondere Kreativität des Geschlechtsverkehrs der Eltern zu akzeptieren, weil es dem entgegenstehende Impulse wie archaischen Neid und Eifersucht hat. Aber diese aggressiven Impulse bekommen doch ihre überwältigende Macht erst durch die Erfahrung, dass die gute Brust zu oft gerade nicht präsent ist. Und bezüglich des elterlichen Geschlechtsverkehrs ist die Schwierigkeit nicht primär die, dessen Kreativität anzuerkennen, sondern die Tatsache, dass das Kind von dieser Beziehung ausgeschlossen ist. Bei Money-Kyrle wird der ambivalente Charakter der Anerkennung demgegenüber eher sekundär, der fur den psychoanalytischen Gebrauch bis dahin grundlegend war. Da es Money-Kyrle in der genannten Arbeit nicht um Probleme der frühkindlichen Entwicklung, sondern um das Ziel der Analyse geht, kann man sich fragen, ob hier nicht seine dritte Form der Anerkennung entscheidend ist, die der Sterblichkeit. Die bittere Tatsache besteht hier aber nicht nur darin, dass man überhaupt und irgendwann sterben muss, sondern darin, dass man einmal in kurzer oder absehbarer Zeit - also „bald" - sterben muss. 28 Mein Bald-Sterben-Müssen konfrontiert mich - anders als meine Sterblichkeit überhaupt - mit den Versäumnissen und Verfehlungen in meinem Leben und den engen Grenzen meiner Macht, daran noch etwas ändern zu können. Dieses Bewusstsein von Sinnmangel, Schuld und Ohnmacht löst eine humanspezifische Angst aus, während das Bewusstsein der Vergänglichkeit eher Schmerz und Trauer erzeugt. Am schwersten scheint es aber, Tatsachen anzunehmen, die bedrohlich sind. Deshalb geht es weniger beim Akzeptieren der Sterblichkeit überhaupt als beim Akzeptieren des Bald-Sterben-Müssens spezifisch um Anerkennung. Kleinianische bzw. freudianische Verwendungen des Anerkennungsbegriffs habe ich ferner bei Altmeyer, Bacal/Newman, Bollas, Bolognini, Britton, Eagle, Gattig, Küchenhoff, Loewald, Reiche, Rosenfeld, Scharff, Schneider, Steiner und Weiß gefunden. Schließlich ist der Begriff „Anerkennung" auch in nicht-analytischen Therapieformen programmatisch geworden, insbesondere in den „Familienaufstellungen" nach Bert Hellinger.29 25 26 27 28 29
Money-Kyrle (1971), 103b = (1978), S. 443. Ders. (1971), 104a = (1978), S. 444. Ders. (1971), 105a = (1978), S. 446. Vgl. Tugendhat (2003), 5. Kap. Vgl. Hellinger/ten Hövel (1997), S. 40, 59, 115.
„ A N E R K E N N U N G " IN DER PSYCHOANALYSE
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Besonders hier, aber auch bei Money-Kyrle, wird der Anerkennungs-Begriff therapeutisch meines Erachtens überstrapaziert und damit inadäquat. Schon Money-Kyrle benutzte ihn, um das therapeutische Ziel zu bezeichnen. Vom Erreichen dieses Ziels kann man aber meines Erachtens erst dann sprechen, wenn die harten und bitteren Tatsachen des (eigenen) Lebens nicht nur (ambivalent) anerkannt, sondern so vollständig angenommen worden sind, dass keine Gegentendenz mehr bleibt. Dadurch werden diese Tatsachen nicht in etwas Positives umgewandelt, sie bleiben negativ, traurig und schmerzhaft. Aber trotz des bleibenden Schmerzes sind sie dann der „Boden der Tatsachen", auf dem man steht, ohne zu schwanken und hin und her gerissen zu sein. Andererseits wäre es eine problematische Idealisierung, die Anerkennung der Realität der bitteren Tatsachen des Lebens als einen fixen Endzustand psychischer Reife anzusehen. Seit Bion wird im Kleinianismus betont, dass die depressive die paranoid-schizoide Position nie endgültig überwindet, sondern dass gerade für Kreativität ein flexibler Wechsel der Grundpositionen psychischen Funktionierens charakteristisch ist. Bion benutzt hier meines Wissens zwar nicht den Begriff der „Anerkennung". Aber die Bewegung zwischen den Kleinschen Positionen ist der Sache nach ein Pendeln zwischen Anerkennung und Nicht-Anerkennung (=Verleugnung) der Realität. Hier wird also das „Hin und Her von Verleugnung und Anerkennung", das für Freud jedenfalls einige psychische Störungen charakterisiert 30 , zu einem Merkmal von Reife. Es fragt sich dann, was diese Bewegung möglich macht. Wir werden sehen, dass hier „Anerkennung" in einem anderen, wesentlich personalen Sinne entscheidend ist.
2. „Propositionale" und „personale" Anerkennung Im Einflussbereich der Schule von Freud und Klein ist von „Anerkennung" fast immer im Sinne des widerstrebenden Akzeptierens von Tatsachen die Rede, bei denen es sich kontingenterweise natürlich oft um Tatsachen handelt, die von Personen gelten. Ein ehemals geläufiges Paradigma für diese Verwendungsweise von „Anerkennung" ist die Rede von der „Anerkennung der DDR". Hier ging es darum, die Tatsache zu akzeptieren und handlungswirksam werden zu lassen, dass die DDR, obwohl sie mit den Werten des Westens unvereinbar war, nicht nur ein Phantom der Propaganda und nicht nur ein „Phänomen" war, wie man damals oft hörte, sondern eine Realität, mit der man rechnen musste. Die Anerkennung von jeder Art von Tatsachen bezeichne ich im Folgenden kurz als „propositionale" Anerkennung. Bei dem vorgeschlagenen Terminus „propositionaler Anerkennung" soll die Tatsache keine Rolle spielen, dass der Begriff „Proposition" nicht nur Tatsachen, also reale Sachverhalte, sondern auch irreale Sachverhalte bezeichnet. Auch lasse ich hier die Bedeutung von „Proposition" im Sinne von „Satz" unberücksichtigt. Vor allem soll der Begriff „propositional" die Anerkennung keineswegs auf ihre kognitive Seite festlegen. Vielmehr ist die „propositionale Anerkennung" stets auch ein voluntativer und mindestens dann ein affektiver Akt, wenn sie an Ambivalenz geknüpft ist. Wenn solche propositionale Anerkennung sich auf Tatsachen bezieht, die werthaltig sind, hat sie trotz ihres ambivalenten Charakters die Eigenschaft der Billigung. In diesem Sinn spricht Money-Kyrle von der „Anerkennung der Brust als höchst gutem Objekt" oder des 30
Freud, Die Ichspaltung im Abwehrvorgang: Stu, III, 394 = GW, XVII, S. 62.
ANDREAS WILDT
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Geschlechtsverkehrs der Eltern als „höchst kreativem Akt". Oft bezieht sich Anerkennung im Sinne von Billigung auf den moralisch-rechtlichen Charakter und Wert von Tatsachen. Natürlich impliziert die Anerkennung von Tatsachen als rechtsverbindlichen immer auch die Anerkennung von Rechten von Personen und insofern auch die Anerkennung dieser Personen selbst, aber der Akzent liegt bei diesem Sprachgebrauch auf der Anerkennung der Tatsächlichkeit. Daneben gibt es den Sprachgebrauch, in dem sich die Rede von „Anerkennung" primär auf Personen richtet. Modell dafür sind Lob oder Würdigung. Lob bezieht sich auf Handlungen, die Bemühungen oder Leistungen sind, und Würdigung bezieht sich besonders auf Verdienste. Beide drücken eine Wertschätzung von Personen aus. Da sich in Leistungen Fähigkeiten manifestieren, spricht man auch von der Anerkennung und Wertschätzung von Fähigkeiten. Die Anerkennung von Personen hat oft einen besonderen, noch komplexeren Sinn, den der Anerkennung ihrer Rechte. Diese Bedeutung von „Anerkennung" ist meistens gemeint, wenn man von der „Achtung" von Personen spricht. Natürlich kann mit der Rede von der „Achtung von Personen" auch die Anerkennung oder Wertschätzung ihrer Leistungen und Fähigkeiten gemeint sein, aber meistens bezieht sie sich auf den normativen Status dieser Personen. Man muss zwar sagen, dass die Anerkennung von Personen immer die Anerkennung von bestimmten Tatsachen bezüglich dieser Personen impliziert. Wenn man eine Person in ihren Leistungen / Fähigkeiten und Rechten anerkennt, so erkennt man damit die Tatsache an, dass sie diese Leistungen / Fähigkeiten und Rechte hat. Die Anerkennung von Personen lässt sich auf die Anerkennung solcher Tatsachen aber nicht reduzieren. Vielmehr kann man sagen, dass wir, indem wir anerkennen, dass diese Tatsachen zutreffen, die Personen selbst dadurch anerkennen, dass wir sie positiv bewerten oder schätzen. Auf diesem Schätzen kann ein positiver Affekt aufbauen. Diese Anerkennung ist also in einer Weise intentional, wertend und gegebenenfalls affektiv auf Personen bezogen, die sich nicht auf Propositionalität reduzieren lässt. Wir sagen dann nicht nur: „Ich anerkenne, dass Ρ soundso ist", sondern auch: „Ich anerkenne P" oder sogar: „Ich bin voll Anerkennung fur Ρ". Diese Differenz möchte ich im Folgenden dadurch zum Ausdruck bringen, dass ich kurz „personale" von „propositionaler" Anerkennung unterscheide. 31 Dabei handelt es sich wohlgemerkt um eine terminologische Abkürzung. Ausfuhrlicher müsste man eine Form der Anerkennung, die sich auf Personen nicht nur prepositional bezieht, von einer solchen unterscheiden, die sich, auch wenn sie sich überhaupt auf Personen bezieht, dies in ausschließlich propositionaler Weise tut. Man könnte demnach „nur propositionale" von „nicht nur propositionaler" Anerkennung unterscheiden. Diese Terminologie wäre mir aber zu pedantisch und zu wenig griffig. Es ist eine weitere, nahe liegende Frage, ob es sich bei den soeben nebenbei unterschiedenen zwei Formen der Anerkennung von Personen letztlich um ein einheitliches Phänomen handelt, ob sich also Rechte als ein Spezialfall von Fähigkeiten oder Leistungen verstehen lassen. In meiner Arbeit über „Anerkennung" in der praktischen Philosophie der Gegenwart 32 habe ich
Meine Unterscheidung von „personaler" und „propositionaler Anerkennung" ist mit der Bedeutungsdifferenz der englischen Wörter „recognition" und „acknowledgement" verwandt. Während aber „acknowledgement" mit „propositionaler Anerkennung" zusammenfallt, umfasst „recognition" personale und propositionale Anerkennung. 32
Vgl. Fußnote 3.
„ANERKENNUNG" IN DER PSYCHOANALYSE
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darauf eine negative Antwort gegeben, kann die Frage hier aber offen lassen. Jedenfalls muss man die Anerkennung von Fähigkeiten von der Anerkennung der Rechte unterscheiden, diese Fähigkeiten zu erwerben, zu erhalten und zu realisieren. Wichtig ist hier jedoch die Frage, ob es eine Übereinstimmung zwischen „personaler" und „propositionaler" Anerkennung gibt, die darüber hinausgeht, dass bei beiden überhaupt etwas bejaht und akzeptiert wird. Eine solche Übereinstimmung besteht meines Erachtens in der impliziten Bezugnahme auf gegenstrebige Tendenzen, wenn auch nicht in jeweils gleicher Weise. Während es bei „propositionaler Anerkennung" zum Begriff zu gehören scheint, dass hier gegenläufige Interessen wirksam sind, kann man das bezüglich der Anerkennung von Leistungen / Fähigkeiten und Rechten sicher nicht sagen. Trotzdem gehört ein Hinblick daraufjedenfalls zum Begriff von (subjektiven) Rechten. Denn der Sinn von subjektiven Rechten besteht darin, die Interessen dieser Subjekte vor anderen Subjekten zu schützen. Jene können von diesen also nur mit Dispositionen zum Widerstreben akzeptiert werden. Weiterhin hat gerade die Psychoanalyse gezeigt, wie tief die Motive von Konkurrenz und Neid verwurzelt sind, die eine ambivalenzfreie Anerkennung von Leistungen und Fähigkeiten anderer mindestens erschweren. Trotzdem scheint das nicht notwendig der Fall. Gegen meine These, dass den beiden Grundformen von Anerkennung gemeinsam ist, an die Überwindung eines gegenläufigen Impulses gebunden zu sein, hat Axel Honneth brieflich eingewandt, dass dies im Fall der rechtlichen Anerkennung vielleicht noch einleuchte, bei der Wertschätzung von Leistungen einer Person sei dies aber „vollkommen kontraintuitiv, da sich hier doch die Anerkennung oder Bewunderung im Normalfall geradezu aufdrängt". Für Phänomene der bewundernden Wertschätzung scheint mir diese Beobachtung zutreffend, es wäre aber meines Erachtens unangemessen, Formen der Bewunderung - und Begeisterung - als Weisen von „Anerkennung" zu beschreiben. Zu jenen gehört nämlich ein Zug von aktiver Hingabe und Selbstentäußerung, der zu der Erfahrung einer Grenze zum Eigenen nicht passt, die in Formen der Anerkennung akzeptiert wird. Im Unterschied zur Bewunderung kann zwar Lob anerkennend sein, aber es enthält zu viel Überlegenheit, um Bewunderung authentisch ausdrücken zu können. „Wertschätzung", der Terminus, den Honneth zur Umschreibung personaler (und nicht-rechtlicher) Anerkennung meist verwendet, scheint mir in dieser Hinsicht neutral; sie kann anerkennend oder bewundernd sein, aber nicht beides zugleich. Die Bejahung einer Grenze, die Anerkennung von Bewunderung und Begeisterung unterscheidet, ist Anerkennung mit Phänomenen der Achtung gemeinsam. In „Achtung" wende ich mich dem Objekt zwar positiv zu, trete aber, anders als bei Bewunderung, gleichzeitig einen Schritt zurück (siehe auch den Ruf „Achtung!" und die Bedeutung der ersten Silbe von „Respekt").33 Achtung ist also auch dann, wenn sie nicht ambivalent ist, dennoch in sich gegenstrebig oder „ambitendent". Das gilt für die Achtung vor Personen, aber wohl auch für die Achtung auf bzw. die Beachtung von Tatsachen. Dasselbe gilt meines Erachtens für Anerkennung. Zwar handelt es sich bei Anerkennung, im Unterschied zur (personalen) Achtung, eher um ein voluntatives als um ein emotionales Phänomen. Aber auch bei Achtung betrifft die Gegenstrebigkeit eher ihre voluntative als ihre emotionale Struktur. Die Ambitendenz in der personalen Anerkennung bedeutet, dass es sich um eine in sich komplexe, nicht aber, wie bei der propositionalen Anerkennung, auch um eine ambivalente, sekundäre und quasi
33
Zur Analyse der Achtung vgl. Wildt ( 1992), 2. Teil.
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aufgenötigte Motivationsform handelt. Personale Anerkennung kann, ähnlich wie personale Achtung, spontan sein. Auch der Begriff „Anerkennung" im personalen Sinn spielt in Teilen der heutigen Psychoanalyse eine wichtige Rolle, etwa im Praxis-Band des Lehrbuchs der psychoanalytischen Therapie von Thomä/Kächele, vor allem aber in der intersubjektivistischen Theorie und in der neuesten Narzissmus-Debatte. Diese Art Anerkennung wird jedoch meines Wissens nirgends von der nur propositionalen Anerkennung unterschieden. Dadurch ist einige Konfusion entstanden. Sie erschwert es sehr, Fragen zu stellen, die sich auf die Wichtigkeit der beiden Formen von Anerkennung beziehen, insbesondere auf die Relationen zwischen diesen Formen. Eine zentrale Lehre der klassischen Psychoanalyse ist die, dass die schmerzhafte (propositionale) Anerkennung der Realität eine Bedingung fur seelisches Wachstum und Gesundheit ist. Das wird auch in neueren Richtungen für den Fall seelischer Störungen wohl nicht bestritten, aber durch die Annahme eines primär positiven Bezugs zur Realität relativiert. 34 Außerdem wird hier eine analoge Bedeutung personaler Anerkennung und die wechselseitige Bedingtheit beider Anerkennungsformen thematisiert. Es scheint mir aber wichtig, zunächst den internen Zusammenhang beider zu untersuchen. Es ergeben sich so zwei Fragestellungen: erstens die nach direkten, intentionalen Zusammenhängen der beiden Anerkennungsformen und zweitens die nach indirekten, kausalen Zusammenhängen. Bei Ersterer ginge es um die Fragen, ob zur (propositionalen) Anerkennung der Realität auch zentral die Anerkennung der Tatsache gehört, dass eine gesunde Selbstbeziehung auf personale Anerkennung angewiesen ist, und ob umgekehrt fur personale Anerkennung die Anerkennung der Fähigkeit von Personen zentral ist, die schwierigen Tatsachen des Lebens zu akzeptieren. Bei der zweiten Fragestellung ginge es darum, ob es Bedingungszusammenhänge zwischen den beiden Anerkennungsformen in dem Sinne gibt, dass einerseits die Fähigkeit zur Anerkennung der schwierigen Tatsachen des Lebens personales Anerkanntsein voraussetzt und dass andererseits personales Anerkennen ein Anerkennen schwieriger Lebenstatsachen voraussetzt. Im letzten Kapitel werde ich zur ersten Hälfte der ersten Fragestellung eine positive und zur ersten Hälfte der zweiten eine teilweise negative These formulieren. In den folgenden Kapiteln geht es aber hauptsächlich um die mangelnde Unterscheidung und Verwechslung beider Anerkennungsformen und um die interne Struktur der personalen Anerkennung.
3. Personale und propositionale Anerkennung bei Winnicott und Benjamin Ein theoriegeschichtlicher Bezugspunkt der neueren, psychoanalytischen Debatte zur personalen Anerkennung ist Winnicotts Aufsatz über Objektverwendung und Identifizierung von 1969. Tatsächlich geht es in diesem aber gar nicht um spezifisch personale, sondern um propositionale Anerkennung. Winnicott beschreibt den Weg, auf dem der Säugling in der aggressiven Auseinandersetzung mit dem mütterlichen Objekt zur „Anerkennung des Objekts als ein Wesen mit eigenem Recht" gelangt. 35 Ich kann hier den kleinianischen Hintergrund dieses
34
Vgl. Frommer/Tress (1998), S. 139-150.
35
Winnicott, Objektverwendung und Identifizierung, in: ders. (1992), S. 105.
.ANERKENNUNG" IN DER PSYCHOANALYSE
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Bildes vom Säugling nicht diskutieren. Mir kommt es hauptsächlich darauf an, dass es sich nicht um personale, sondern um propositionale Anerkennung handeln und dass die Rede von „Recht" nur einen metaphorischen Sinn haben kann. In unserem Zusammenhang kommt es nicht darauf an, dass Winnicott meint, der Säugling lerne erst auf diesem Wege, zwischen einer Außenwelt und seiner Innenwelt zu differenzieren. Entscheidend ist, dass das Resultat nicht nur ein kognitiver Fortschritt ist, sondern eine emotionale Leistung der Anerkennung der Tatsache, dass die Mutter ein von ihm unabhängiges Leben hat.36 Das ist nämlich dadurch tief bedrohlich, dass der Säugling zu realisieren beginnt, dass er von seiner Mutter fundamental abhängig ist. Und das macht es ihm unmöglich, sich weiterhin als omnipotent zu phantasieren, wie Winnicott es mit Freud und Klein zunächst unterstellt hatte. Die Anerkennung, die der Säugling hier zu leisten hat, ist also zwar keine Anerkennung eines Rechts, aber auch keine bloß kognitive Bejahung, sondern die emotionale Bejahung einer Tatsache, die deshalb so bedrohlich ist, weil sie mit einer tiefgreifenden eigenen Unfähigkeit, nämlich der eigenen Macht- und Hilflosigkeit, verbunden ist. Diese Anerkennung bleibt nach Winnicott - ähnlich wie nach Bion - immer partiell und ambivalent, weil „die Akzeptierung der Realität als Aufgabe nie ganz abgeschlossen wird". 37 Die Bewältigung dieser Ambivalenz ist so auch eine Funktion der Kultur, die wesentlich die Auseinandersetzung des Kindes mit seinen Übergangsobjekten fortsetzt. In ihrem Buch Die Fesseln der Liebe hat Jessica Benjamin versucht, den (überinterpretierten) Ansatz von Winnicott in eine umfassendere Theorie der Intersubjektivität als wechselseitiger Anerkennung zu integrieren. Dabei geht sie mit den philosophischen Anerkennungslehren des Deutschen Idealismus zu Recht davon aus, dass (personale) Anerkennung Wechselseitigkeit voraussetzt. Diese Annahme ist in diesen Theorien aber deshalb grundlegend, weil hier die interpersonelle Anerkennung zur Begründung von Rechten dient.38 Für die Anerkennung von Rechten ist die Wechselseitigkeit schon dadurch gegeben, dass ich Ansprüche anderer dann und nur dann als Rechte anerkennen kann, wenn ich mir selbst Rechte zuspreche, und zwar unter gleichen Bedingungen auch die gleichen Rechte. Auch genetisch leuchtet ein, dass wir die Anerkennung von Rechten anderer nur dann leinen können, wenn wir die Erfahrung machen bzw. gemacht haben, in unseren Rechten anerkannt zu werden. Dementsprechend könnte man Winnicott so verstehen, dass die Anerkennung der Mutter als „Wesen mit eigenem Recht" durch den Säugling eine entsprechende Anerkennung des Säuglings in seinen Rechten durch die Mutter voraussetzt. Eine analoge Wechselseitigkeit gilt fur die Anerkennung von Fähigkeiten. Ein Anerkanntwerden der Fähigkeit einer Person durch eine andere ist für Erstere nur dann von vollem Wert, wenn sie weiß und anerkennt, dass Letztere dieselbe Fähigkeit besitzt. Diese Wechselseitigkeit ist in Hegels Dialektik des Anerkennungskampfes vorausgesetzt, die Benjamin als Modell für die Rekonstruktion der Ontogenese benutzt. 39 Hegel geht aber nicht nur davon aus, dass das Selbstbewusstsein in seinen grundlegenden, personspezifischen Fähigkeiten, nämlich als 36
Vgl. Altmeyer (2000a), 163; ders. (2000b), S. 144.
37
Winnicott, Übergangsobjekte und Übergangsphänomene, in: ders. (1992), S. 23.
38
Zu den Anerkennungslehren von Fichte und Hegel vgl. Wildt (1982), (1992), (2005).
39
Benjamin (1990), S. 34 ff. Ebenso wie Benjamin beruft sich Ogden (1992) auf die Anerkennungslehre in Hegels Phänomenologie des Geistes. Dabei geht es Ogden aber nicht um den Kampf um Anerkennung,
192
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„selbständiges Fürsichsein" oder als „Wille", sondern auch als „Absolutes" anerkannt werden will und deshalb mit dem Selbstbewusstsein des anderen einen „Kampf auf Leben und Tod" suchen muss. 40 Benjamin sieht hier eine Parallele zu Freud und Winnicott, sofern deren Annahme eines primären Zustands von Allmachtsbewusstsein eine spontane und freiwillige Anerkennung des anderen ausschließt. Bei Hegel handelt es sich aber darüber hinaus um ein Dialektik generierendes Programm, weil die behauptete Absolutheit des Selbstbewusstseins und Willens mit dem Streben nach Anerkennung notwendig kollidiert. Für Benjamin ist Hegels Dialektik des Anerkennungskampfes demgegenüber kein allgemeingültiges anthropologisches Modell. Sie will vielmehr zeigen, dass das Hegeische „Paradox der Anerkennung" nur im Falle eines pathologischen Strebens nach absoluter Selbständigkeit zu einer Art Herrschaft-Knechtschaft-Verhältnis fuhrt, nämlich zur sadistischen Behauptung von Omnipotenz bzw. zur masochistischen Unterwerfung und zu einer sado-masochistischen Symbiose. Trotzdem spricht sie von einer „notwendigen Spannung" von Anerkennung und Selbständigkeit. Diese könne aber im Fall einer gesunden Entwicklung in einer wechselseitigen Anerkennung von relativer Selbständigkeit, von Eigenständigkeit und Individualität erhalten bleiben. Die Anerkennung von Individualität sei notwendig wechselseitig und deshalb oft konflikthaft, aber deshalb doch nicht „paradox". Benjamin beruft sich hier auf Winnicotts Modell der konflikthaften Anerkennung der Selbständigkeit der Mutter durch das Kleinkind. Das ist meines Erachtens in doppelter Weise irreführend. Erstens handelt es sich bei der Selbständigkeit der Mutter, die das Kleinkind anerkennen muss, nicht um die anspruchsvolle Form von Selbständigkeit, die mit der Autonomie und Individualität von Personen gemeint ist. Es geht hier zunächst nur um die fundamentale Tatsache, dass die Mutter weggeht oder ihre Aufmerksamkeit anderen zuwendet. Was hier vor allem anzuerkennen ist, ist nicht nur die Unabhängigkeit der Mutter und die Eigenständigkeit ihrer Interessen, sondern die umfassende Abhängigkeit des Kleinkinds von dieser unabhängigen Person. Zweitens handelt es sich nicht um eine gegenseitige Anerkennung. Wenn die Mutter sich nicht „rächt", sondern die kindlichen Angriffe als notwendige Reaktionen und Entwicklungsschritte versteht und akzeptiert, so ist dabei nicht zentral, dass sie darin Leistungen (der Abgrenzung und Verselbständigung) sieht - oder sogar die Inanspruchnahme von Rechten. Es geht zunächst einfach um das Verstehen und Annehmen der kindlichen Bedürfnisse und Affekte. Der Begriff der „Anerkennung" (im personalen Sinne) ist hier also in der Hauptsache unangemessen. Sicher kann man sagen, dass der erste Schritt dazu, das Kind anzunehmen, darin besteht, sein Recht auf Leben, Versorgt- und Geliebtwerden zu akzeptieren. Man muss auch sagen, dass das Kind nicht nur ein Recht daraufhat, von irgendjemand versorgt und geliebt zu werden, sondern gerade von seinen Eltern. Dieses Versorgen und Lieben impliziert die Anerkennung der Bedürftigkeit des Kindes, aber dabei handelt es sich nicht um eine personale Anerkennung des Kindes, sondern um die propositionale Anerkennung der Tatsache, dass das Kind bedürftig ist. Diese propositionale Anerkennung impliziert als solche auch noch nicht die tatkräftige Annahme und Befriedigung seiner Bedürfnisse. Und selbst diese ist noch keine „personale Anerkennung" im definierten Sinn, also noch keine Anerkennung von Fähigkeiten / Leistungen oder Rechten.
40
sondern um die wechselseitige Konstitution des Selbstbewusstseins. Er beruft sich deshalb zugleich auf den Dialogismus von Martin Buber. Ähnlich Modell (1993), Kap. 4. Hegel (1970, [1807]), S. 145 ff.; ders. (1967, [1805/6]), S. 211.
. A N E R K E N N U N G " IN DER P S Y C H O A N A L Y S E
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Axel Honneth hat versucht, die Rede von einer personalen Anerkennung der Bedürfnisse oder der Bedürftigkeit durch das Argument plausibel zu machen, dass hier deren Wert anerkennt werde. Mir scheint, dass damit das Phänomen der altruistischen Bejahung und Befriedigung fremder Bedürfnisse unnötig verkompliziert wird. Aber selbst wenn die Rede von „Werten" hier angemessen wäre, so damit noch nicht der Begriff „Anerkennung". Wenn ich etwa die Schönheit eines Babys (oder eines anderen Objekts) erfahre und bejahe, so lässt sich das nur dann und nur insofern als „Anerkennung" eines ästhetischen Wertes beschreiben, als die Bejahung dieses Wertes ambivalent ist. Das ist in unserem Fall aber nicht gegeben, sofern es sich um eine gelungene Bindung handelt. Dieses Fundament der mütterlichen Liebe, die im Übrigen ambivalent sein mag, ist die Bejahung der Existenz und Präsenz des Babys, die die Mutter mit dem Satz ausdrücken könnte: „Ich bin glücklich, dass du da bist". Das kann man meines Erachtens nicht angemessen als „Anerkennung" beschreiben. Hier könnte man einwenden, dass es auf den Begriff „Anerkennung" nicht ankommt. Es gehe vielmehr um den fundamentalen Zusammenhang zwischen Fremdbeziehung und Selbstbeziehung, dem zufolge ein positives Bezogensein auf andere notwendige Bedingung einer positiven Selbstbeziehung dieser sei. Die Einsicht in diesen anthropologisch fundamentalen Zusammenhang rechtfertigt jedoch noch nicht die Verwendung des Begriffs „Anerkennung". Und aus ihr lässt sich deshalb nicht die These einer notwendigen Wechselseitigkeit begründen, die auf eine strukturelle Konflikthaftigkeit verweisen könnte. Hier wären eher Erich Fromms Begriff der „Liebe" und vor allem Heinz Kohuts Begriff des „Selbstobjekts" einschlägig. Benjamin demgegenüber beschreibt schon die ersten Interaktionen von Mutter und Baby nach dessen Geburt als „the beginning of recognition".41 Diese Beschreibung hat ihre Plausibilität allein dadurch, dass es sich hier nicht nur um ein Erkennen und Bejahen handelt, sondern auch um eine Art Wiedererkennen. Um ein Anerkennen, also ein Bejahen von Fähigkeiten, Leistungen oder Rechten, handelt es sich von der Seite der Mutter her höchstens marginal und von der Seite des Säuglings aus überhaupt nicht.42 Letzteres will Benjamin allerdings wohl auch nicht sagen. Ihr geht es wesentlich darum, dass schon das Neugeborene, anders als bei Freud angenommen, aktiv die Mutter sucht und sie spontan und lustvoll erkundet. Aber zur Bezeichnung dessen ist der Begriff „recognition" bzw. „Anerkennung" ungeeignet, weil er gerade die Gegenstrebigkeit in der Bejahung ausdrückt. Analoges gilt fur die programmatische These von Martin Domes: „Der Mensch ist das (vielleicht) einzige Lebewesen, das nicht nur die Befriedigung seiner Bedürfhisse anstrebt, sondern außerdem noch deren Anerkennung."43 „Anerkennung" kann hier, im Abschnitt über „primäre Intersubjektivität", ebenso wie bei Benjamin, nur die unspezifische Bedeutung von Bejahung und Bestätigung haben. Das ändert nichts an der Wichtigkeit der These: Der Mensch scheint das einzige Lebewesen zu sein, das fundamental intersubjektive Bestätigung braucht, weil es eine Intentionalitäts- und Selbst-Struktur besitzt, die sich nur durch intersubjektive Bestätigung entwickeln und stabilisieren kann.44 41
Benjamin (1988), S. 13.
42
Die deutsche Übersetzung verschleift die Differenz dadurch, dass sie „the beginning of recognition" durch „erstes (An)erkennen" wiedergibt, vgl. Benjamin (1990), S. 16.
43
Domes (1997), S. 139.
44
Ähnlich geht Tzvetan Todorov in seinem Versuch einer allgemeinen Anthropologie von einem menschlichen Grundbedürfnis nach Beachtung aus. Diese These findet er historisch erstmalig bei Rousseau und
194
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Trotzdem sind die Thesen der anthropogenen Wichtigkeit des Strebens nach Anerkennung, ihrer notwendigen Wechselseitigkeit, Konflikthaftigkeit und des Anerkennungskampfes meines Erachtens überzeugend, allerdings hauptsächlich für spätere Stadien der Entwicklung. Benjamin hat das schon für die Krise der „Wiederannäherung" nach Margaret Mahler und für die präödipale Beziehung zum Vater zu zeigen versucht.45 Hier geht es - neben vielem anderen - darum, das Kind nicht nur in seiner Existenz anzunehmen, in seinen Bedürfnissen und Affekten zu verstehen, zu beachten, zu bestätigen und zu begleiten, sondern auch in seinen Leistungen eines eigensinnigen und widerständigen Wollens, Begehrens und Tuns. Vorbild für Letzteres ist auch und vor allem der idealisierte Vater. Er ist deshalb Objekt einer Liebe, das für die Identifikation grundlegend ist.46 Diese Identifikation beruht auf dem Wunsch, wie der Vater zu sein, und damit auf der Bewunderung seiner Fähigkeiten. Für das Kind ist hier Wechselseitigkeit konstitutiv: Das Anerkanntsein des Kindes durch die Eltern wird gerade dadurch wirksam, dass es einer leidenschaftlichen Bewunderung durch das Kind entspricht. Wie ich bereits oben begründet habe, scheint es mir aber unangemessen, solche Bewunderung als „Anerkennung" zu beschreiben. Benjamin verunklart die elterliche Anerkennung dadurch, dass sie sowohl die Einstimmung der Mutter auf das Kind als auch die eher väterliche Bestätigung des Begehrens, Wollens und Leistens unter den gemeinsamen Begriff der „Anerkennung" subsumiert. Auch wenn es unangemessen ist, die Liebe zwischen Eltern und Kleinkind als Anerkennung zu beschreiben, so könnte das doch für die Liebe zwischen Erwachsenen passend sein. Nun impliziert der positive Bezug auf die Interessen des anderen in der reifen Liebe natürlich auch die Anerkennung moralischer Verpflichtungen diesem gegenüber und dabei vor allem die Anerkennung von dessen persönlichen Rechten. Aber diese Art Anerkennung ist offensichtlich nicht an Liebe gebunden. Entsprechendes gilt für folgenden Definitionsversuch: „Liebe ist die Anerkennung der Andersheit des Anderen." 47 Die Anerkennung der Andersheit des Anderen ist auch für personale Achtung charakteristisch, keineswegs nur für Liebe (und Freundschaft). Hier ist allerdings das Interesse und die Bereitschaft spezifisch, den anderen auch in seiner Andersheit zu entdecken und diese auch dann anzuerkennen, wenn sie eigenen Wünschen widerspricht. Es gibt also eine Dimension von Anerkennung, die für reife Liebe (und Freundschaft) spezifisch ist. Aber deshalb lässt sich Liebe doch nicht als eine Form von Anerkennung definieren. Entscheidend scheint vielmehr das Interesse an der Individualität des anderen, und das ist nicht selbst ein Anerkennen.
4. Narzissmus, InterSubjektivität und Anerkennung Die Thematik der propositionalen Anerkennung im Kleinianismus hat einen konstitutiven Zusammenhang mit der des Narzissmus im Sinne unreifer oder pathologischer Selbstbezogenheit. Narzisstische Objektbeziehungen sind in diesem theoretischen Rahmen charakteristisch für die „paranoid-schizoide" Position, während die „depressive" Position durch Anerkennung der Unabhängigkeit des Objekts, der eigenen Abhängigkeit und der eigenen Aggressionen Adam Smith und sieht in Hegels Anerkennungslehre, die er ganz mit der Brille von Kojève liest, eine Verengung auf die Anerkennung von besonderen Fähigkeiten, vgl. Todorov (1998), S. 26 ff. 45
Benjamin (1990), S. 99 ff.
46
Benjamin spricht hier von „identifikatorischer Liebe", ebd., S. 104.
47
Küchenhoff ( 1999), S. 202.
.ANERKENNUNG" IN DER PSYCHOANALYSE
195
erreicht wird. Narzissmus bedeutet also wesentlich einen Mangel an proposionaler Anerkennung grundlegender Lebenstatsachen. Die Anerkennung der grundlegenden Tatsachen des Lebens bedeutet im Kern die Überwindung des Narzissmus. Schon fürs Alltagsverständnis offensichtlich ist darüber hinaus ein Zusammenhang des Mangels an personaler Anerkennung und des Narzissmus. Personen mit gestörter Selbstliebe sind von einem süchtigen Hunger nach Anerkennung durch andere getrieben, auch wenn sich dieser als Selbstgenügsamkeit oder Überheblichkeit maskiert. In diesem Sinne schreibt Altmeyer: „Die so unterschiedlichen Symptome der narzisstischen Störung lassen sich m. E. als vielfältige Varianten eines Kampfes um Anerkennung entschlüsseln, der verdeckt und in mehr oder weniger gekonnten Inszenierungen geführt wird."48 Der Kampf um Anerkennung ist deshalb wohl gerade heute ubiquitär: „Vermutlich rühren viele, wenn nicht die meisten neurotischen Probleme, die es heute gibt, nicht von frustrierten Triebwünschen, sondern von frustrierten Anerkennungsbedürfnissen her. Balint, Winnicott und Kohut haben das erkannt."49 Auch wenn das in der Sache überzeugen sollte, ist doch der Begriff der „Anerkennung" hier teilweise irreführend. Die Bedürfnisse, die hier frustriert sind, sind neben denen nach Anerkennung die nach Liebe, Beachtung, Bestätigung und Austausch. Natürlich ist für das Selbstbewusstsein schon des Kleinkindes sein Können wichtig. Das Kind will auch in seinen Leistungen beachtet und bestätigt werden, aber sein Bedürfnis nach Bestätigung und Beachtung bezieht sich noch elementarer auf seine eher passivischen Zustände und Erfahrungen. Zwar gibt es spätere Entwicklungsphasen, in denen der Wunsch nach der Anerkennung von Leistungen zentral wird. Aber nur wenn die basaleren Bedürfnisse nach Beachtung und Bestätigung frustriert werden, entwickelt sich - neben anderen Symptomen - die neurotische Sucht nach der Anerkennung von Leistungen und damit ein ewiger „Kampf um Anerkennung". Altmeyer hat seine intersubjektivistische Rekonstruktion des Narzissmus als eine Theorie der „Anerkennung" formuliert.50 Auch wenn eine Ablehnung des Verständnisses von Narzissmus als bloßer Selbstbezogenheit und der Freudschen These eines „primären" Narzissmus allen Zweigen der Objektbeziehungs-Theorie gemeinsam ist, ist der Begriff der „Anerkennung" hier doch zu eng. Altmeyer beruft sich im Übrigen auch auf Freuds verstreute Bemerkungen über den Narzissmus als dem Wunsch nach und dem Gefühl des „Geliebtwerdens".51 In diesem Sinne schreibt er zusammenfassend: „Der Narzissmus lässt sich nicht länger als objektlose Selbstbezogenheit konzipieren. Er hat etwas mit dem Wunsch nach und dem Gefühl von Versorgtwerden, Gesehenwerden, Geliebtwerden, Anerkanntwerden zu tun."52 Insgesamt aber neigt Altmeyer dazu, den Begriff der „Anerkennung" zu privilegieren. Dadurch erhält implizit und wohl gegen seine Absicht die Bestätigung von Leistungen ein Gewicht, das eher für neurotische Fehlentwicklungen charakteristisch ist. Hier erhebt sich wieder der Verdacht, dass meine Kritik auf einen bloßen Wortstreit hinausläuft. „Anerkennung" (im personalen Sinn) könnte einfach als Oberbegriff für alle Formen der positiven Beziehung, der intersubjektiven Bejahung und Bestätigung gemeint sein. Wäre 48
Altmeyer (2000a), 161 ; ders. (2000b), S. 157, 230.
49
Domes (1997), S. 141.
50
Altmeyer (2000a), S. 161 ff.; ders. (2000b), S. 192 ff.
51
Ders. (2000a), S. 149 ff.; ders. (2000b), S. 42 ff., 188 ff.
52
Ders. (2000b), S. 228.
196
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das der Fall, so entfiele jedoch die Möglichkeit, mithilfe des Begriffs „Anerkennung" einen notwendigen Zusammenhang zwischen personaler und propositionaler Anerkennung zu formulieren, ohne dadurch auch den Begriff der propositionalen Anerkennung seiner Spezifik einer ambitendenten Bejahung zu berauben. Dem hier kritisch beleuchteten Ansatz kommt es aber wesentlich auf die These an, dass die Anerkennung durch primäre Bezugspersonen notwendige Bedingung für die Fähigkeit des Kindes ist, die fundamentalen Tatsachen des Lebens anzuerkennen. 53 Reimut Reiche formuliert das so: „An den drei Anerkennungs-Forderungen Money-Kyrles fällt jedenfalls auf, dass sie einseitig aus- und gleichsam nach oben gerichtet sind. In Mutter, Eltern und Endlichkeit (die Differenz zur Unendlichkeit, also zu Gott) wird das Ertragenkönnen von Abhängigkeit und Ausgeschlossensein (Triangularität) zum Kriterium der Sittlichkeit erhoben. Dabei wird ein viertes fact of life verborgen: Anerkennen kann man nur als ein Anerkannter." 54 Reiche verwendet hier den Begriff der „Anerkennung" äquivok. Seine These müsste in meiner Terminologie lauten: Die „Tatsachen des Lebens" propositional anerkennen kann man nur als ein personal Anerkannter. Wenn das personale Anerkanntsein hier seinen originären Sinn eines Anerkanntseins der Person in ihren Fähigkeiten und Leistungen (oder Rechten) hat, ist diese These aber gerade für das Kleinkind irreführend und jedenfalls zu eng formuliert. Generell überzeugend ist sie höchstens in dem unspezifischen Sinn des Angenommenseins in den Bedürfnissen und Gefühlen. Hier droht im Übrigen eine weitere Verwirrung. In der These „Propositionale Anerkennung erfordert personale Anerkennung" hat Erstere einen aktivischen, Letztere aber zunächst einen passivischen Sinn. Man muss sich aber nicht nur fragen, wie die propositionale Anerkennung mit der personalen Anerkennung im passiven Sinn des Anerkanntwrnfews oder -seins, sondern auch mit dieser im aktiven Sinn des (eigenen) Anerkennens zusammenhängt. Die Frage ist dabei auch, ob dieses Anerkennen Ausdruck eines spontanen Bedürfnisses ist oder ob es quasi erzwungen ist als Bedingung fürs Anerkanntwerden oder für andere seelische Notwendigkeiten. Die intersubjektivistische Psychoanalyse neigt hier mit der Säuglingsforschung zu einer positiven Antwort, in der ein optimistisches Menschenbild 55 zum Ausdruck kommt. Eine spontane Tendenz zur Entdeckung, Erforschung und Bejahung des Anderen lässt sich aber nicht überzeugend als „Anerkennen" fassen, weil das gerade die Ambitendenz der Bejahung ausdrücken würde. Aus der spontanen Erkundung und Bejahung des Anderen kann erst dann ein „Anerkennen" werden, wenn es den Anderen als Grenze des Eigenen erfahrt. Die entwickelte propositionale Anerkennung ist mit der personalen schließlich nicht nur durch einen Bedingungszusammenhang, sondern auch direkt und intentional verbunden. Für ein gesundes Selbstverhältnis ist es zentral, eben die Tatsache anzuerkennen, auf personale Anerkennung angewiesen zu sein. Dabei hat „Anerkennung" wiederum sowohl einen passiven wie einen aktiven Sinn. Wir müssen nicht nur die Tatsache anerkennen, dass wir aufs Anerkanntwerden durch andere angewiesen sind, sondern auch die Tatsache, dass dies Anerkanntwerden für uns nur dann wertvoll sein kann, wenn wir uns selbst anerkennen. In diesem selbstbezüglichen Anerkennen liegt ein Verzicht auf die bloß passive, quasi süchtige Aner53
Vgl. Domes (1997), S. 153; Altmeyer (2000a), S. 163; Reiche (1999), S. 591.
54
Ebd., S. 590 f.
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Zur Konkurrenz zwischen einem pessimistischen und einem optimistischen Menschenbild in der Psychoanalyse vgl. Frommer/Tress (1998).
. A N E R K E N N U N G " IN DER PSYCHOANALYSE
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kennung durch andere. D i e Anerkennung der Realität, u m die e s in Freuds Idee seelischer G e sundheit ging, ist w e s e n t l i c h eine A n e r k e n n u n g der Selbstverantwortlichkeit in der Anerkennung. D i e Anerkennung der Selbstverantwortlichkeit für alle eigenen, auch die u n b e w u s s t e n Akte, ist die elementare Voraussetzung fur j e d e tiefergehende Therapie. D i e Anerkennung der Selbstverantwortlichkeit auch furs e i g e n e Anerkanntsein gehört, besonders bei narzisstischen Störungen, w e s e n t l i c h zu ihrem Ziel.
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ANDREAS WILDT
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Teil II
N A N C Y FRASER
Zur Neubestimmung von Anerkennung
In den 1970er und 1980er Jahren schienen die Kämpfe um die „Anerkennung von Verschiedenheit" voller emanzipatorischer Hoffnung zu sein. Viele, die im Namen ihrer Sexualität, ihrer Gender-Identität, ihrer Ethnizität oder „Rasse" mobilisierten, hatten nicht nur die Beanspruchung ihrer bis dato verweigerten Identitäten im Sinn, sondern auch die Bereicherung und thematische Ausbreitung der Kämpfe um Umverteilung von Wohlstand und Macht. Mit der Jahrhundertwende sind die Kämpfe um Anerkennung und Identität noch weiter in den Mittelpunkt gerückt, nun allerdings oft mit einer anderen Ausrichtung: Von Ruanda bis zum Balkan haben Identitätsfragen ethnische Säuberungen und sogar Völkermord angetrieben - wie auch die Mobilisierung und den Widerstand dagegen. Nicht nur der Charakter dieser Kämpfe hat sich verändert, sondern auch ihr Ausmaß. Vielen weltweiten sozialen Konflikten liegen Ansprüche auf die Anerkennung von Verschiedenheit zu Grunde: von Kampagnen fur nationale Souveränität und lokale Autonomie über Kämpfe des Multikulturalismus bis hin zu den neu erstarkten Bewegungen für internationale Menschenrechte, die sowohl Respekt fur gemeinsame Menschlichkeit als auch die Wertschätzung kultureller Verschiedenheit vertreten. Diese Ansprüche sind mittlerweile ebenso vorherrschend in sozialen Bewegungen, die vormals die Umverteilung von Ressourcen in den Vordergrund gestellt hatten, wie man am Beispiel des Feminismus beobachten kann. Die Kämpfe schließen eine breite Spanne von Zielen ein, von offenkundig emanzipatorischen bis hin zu geradezu verwerflichen (die meisten liegen womöglich irgendwo dazwischen). Nichtsdestotrotz ist ein genauer Blick auf die gemeinsame Sprache dieser Kämpfe von Bedeutung. Warum nehmen viele der aktuellen Konflikte nach dem Fall des Sowjetkommunismus und mit fortschreitender Globalisierung diese Form an? Warum formulieren so viele Bewegungen ihre Ansprüche in der Sprache der Anerkennung? Mit diesen Fragestellungen wird zugleich ein relativer Rückgang der Ansprüche fur egalitäre Umverteilung angezeigt. Hatte die Sprache der Umverteilung in der Vergangenheit noch eine hegemoniale Position in politischen Auseinandersetzungen, so ist sie nun mehr und mehr in den Hintergrund geraten. Zwar sind die Bewegungen, die in der Vergangenheit offenkundig fur gerechte Anteile an Ressourcen und Wohlstand eintraten, nicht vollständig verschwunden, doch aufgrund der anhaltenden neoliberalen Rhetorik gegen den Egalitarismus, des Mangels an glaubwürdigen Modellen eines „realisierbaren Sozialismus" sowie weitverbreiteter Zwei-
Der vorliegende Beitrag ist eine deutsche Fassung des englischen Aufsatzes „Rethinking Recognition", der in New Left Review 3, Mai/Juni 2000, S. 107-120 erschienen ist.
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fei über die Durchführbarkeit eines sozialdemokratischen Staatskeynesianismus in Zeiten der Globalisierung hat ihre Rolle deutlich an Relevanz eingebüßt. Wir begegnen demnach einer neuen Konstellation in der Grammatik politischer Ansprüche, einer Konstellation, die in zweierlei Hinsicht beunruhigend ist. Zum einen vollzieht sich dieser Wechsel von der Umverteilung zur Anerkennung trotz - oder wegen - der Beschleunigung ökonomischer Globalisierung, also in einer Zeit, in der ein aggressiv expandierender Kapitalismus ökonomische Ungleichheiten grundlegend verschlimmert. In diesem Kontext fungieren die Fragen der Anerkennung nicht als Ergänzung, Erweiterung und Bereicherung der Kämpfe um Umverteilung, sondern dienen vielmehr dazu, diese zu verdrängen, zu überschatten und zu verschieben. Ich nenne diesen Vorgang das Problem der Verdrängung. Zum anderen ereignen sich die Kämpfe um Anerkennung zu einem Zeitpunkt der raschen Ausweitung transkultureller Interaktion und Kommunikation, wobei zunehmende Migration und der wachsende Austausch von Informationen durch globale Medien zu einer Hybridisierung und Pluralisierung kultureller Formen fuhren. Die Kämpfe zeichnen sich dabei allerdings in den meisten Fällen nicht durch eine respektvolle Wechselbeziehung in einem zunehmend multikulturellen Kontext aus, sondern durch die drastische Vereinfachung und Verdinglichung von Gruppenidentitäten. Sie neigen so dazu, Separatismus, Intoleranz, Chauvinismus, Patriarchismus und Autoritarismus zu stärken. Diesen Vorgang nenne ich das Problem der Verdinglichung. Beide Probleme - Verdrängung und Verdinglichung - sind gravierend: Indem die Politik der Anerkennung die der Umverteilung verdrängt, droht sie ökonomische Ungleichheiten zu verschärfen; und indem sie Gruppenidentitäten verdinglicht, birgt sie die Gefahr, Menschenrechtsverletzungen zu sanktionieren und genau jene Antagonismen zu festigen, zwischen denen sie zu vermitteln beansprucht. Es ist daher keine Überraschung, dass viele das Etikett „Identitätspolitik" bereitwillig ablegen oder sogar die generelle Verwerfung von kulturellen Kämpfen anregen. Für manche mag dies bedeuten, den Klassenbegriff auf Kosten von Kategorien wie Gender, Sexualität, „Rasse" oder Ethnizität erneut in den Vordergrund zu rücken. Andere streben nach einer Wiederbelebung des Ökonomismus. Wieder andere kommen zu dem Schluss, Ansprüche von Minderheiten pauschal abzulehnen und im Namen des Säkularismus, Universalismus oder Republikanismus die Assimilation mit den Normen der Mehrheit einzufordern. Solche Reaktionen sind durchaus zu verstehen. Allerdings sind sie zutiefst fehlgeleitet. Nicht alle Formen der Politik der Anerkennung sind schädigend: Einige dieser Formen sind ernsthafte emanzipatorische Reaktionen auf erhebliche Ungerechtigkeiten, die nicht nur auf der Ebene der Umverteilung angegangen werden können. Das Terrain der Kultur birgt Ungerechtigkeiten und ist eng verknüpft mit ökonomischer Ungleichheit - es ist ein legitimer und sogar notwendiger Ort für politische Kämpfe. Sofern sie angemessen verstanden werden, können Anerkennungskämpfe Kämpfen der Umverteilung von Macht und Reichtum helfend zur Seite stehen und Interaktion und Zusammenarbeit fordern, um Klüfte der Verschiedenheit zu überbrücken. Alles hängt davon ab, wie man „Anerkennung" versteht. Ich möchte darlegen, dass wir ein neues Verständnis von „Anerkennungspolitik" benötigen, das uns helfen kann, die Probleme der Verdrängung und der Verdinglichung zu lösen oder zumindest abzuschwächen. Dies bedeutet, dass wir Kämpfe um Anerkennung begrifflich so denken müssen, dass sie in Umverteilungskämpfe integriert werden können und nicht mit ihnen in Konflikt stehen oder sie gar
ZUR NEUBESTIMMUNG VON ANERKENNUNG
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verdrängen. Des Weiteren benötigen wir eine Theorie der Anerkennung, die es uns erlaubt, die volle Komplexität von sozialen Identitäten einzubeziehen und Separatismus und Verdinglichung zu vermeiden. Im Folgenden werde ich diese Gedanken näher entwickeln.
Das Identitätsmodell Der übliche Ansatz der Politik der Anerkennung, den ich das „Identitätsmodell" nenne, beginnt mit der Hegeischen Idee von Identität als dialogische Konstruktion in einem Prozess der gegenseitigen Anerkennung. Nach Hegel beschreibt der Begriff der Anerkennung eine ideale wechselseitige Beziehung zwischen Subjekten, in der jeder den Anderen sowohl als seinesgleichen als auch als von ihm verschieden sieht. Diese Beziehung konstituiert Subjektivität: Man wird nur ein individuelles Subjekt, indem man ein anderes Subjekt anerkennt und von einem anderen Subjekt anerkannt wird. Anerkennung von anderen ist demzufolge grundlegend fur die Entwicklung einer bewussten Selbstbeziehung. Die Verweigerung von Anerkennung - oder die Diskriminierung 1 - hat nicht nur eine Verzerrung der Beziehung zum eigenen Selbst, sondern auch die Beschädigung der eigenen Identität zur Folge. Verfechter des Identitätsmodells übertragen das Hegeische Schema der Anerkennung auf das kulturelle und das politische Terrain. In diesem Ansatz wird die Mitgliedschaft in einer Gruppe, die von der dominanten Kultur abgewertet wird, als Diskriminierung angesehen, die folglich eine Verzerrung der Beziehung zum eigenen Selbst bewirkt. Wiederholte Begegnungen mit dem stigmatisierenden Blick des dominanten Anderen führen zu einem negativen Selbstbild der Mitglieder der missachteten Gruppe, denen so die Möglichkeit genommen wird, eine eigene, positive kulturelle Identität zu entwickeln. Unter dieser Perspektive besteht das Ziel einer Politik der Anerkennung darin, die innerliche Verschiebung des Selbst zu beheben, indem das erniedrigende Bild der Gruppe bekämpft wird, das die dominante Kultur verbreitet. Mitglieder der diskriminierten Gruppe sollten diesem Ansatz zufolge die verbreiteten Bilder zurückweisen und stattdessen neue und vor allem eigene Repräsentationen der Gruppe einbringen und durch kollektives Handeln eine eigene Kultur bekräftigen, die ihnen hilft, verinnerlichte negative Identitäten abzuwerfen. Wenn diese Kultur öffentlich geltend gemacht wird, gewinnt die Gruppe den Respekt und die Wertschätzung der gesamten Gesellschaft. Das Ergebnis, im Erfolgsfall, ist „Anerkennung": die unverzerrte Beziehung zum Selbst. Zweifelsohne enthält dieses Identitätsmodell produktive Einsichten in Bezug auf die psychischen Folgen von Rassismus, Sexismus, Kolonialisierung und kulturellem Imperialismus. Doch gleichzeitig birgt es theoretische und politische Probleme. Durch die Gleichsetzung der Politik der Anerkennung mit Identitätspolitik ermutigt dieses Modell sowohl die Verdinglichung von Gruppenidentitäten als auch die Verdrängung von Umverteilung.
Anmerkung des Übersetzers: Im englischen Original wird in diesem Kontext der Begriff „misrecognition" verwendet. „Diskriminierung" legt im Deutschen keinen zwangsläufigen B e z u g auf die Frage der „Anerkennung" nahe, w i e es der Begriff „misrecognition" im Englischen tut. In diesem Text ist der Begriff jedoch spezifisch als Diskriminierung auf dem Gebiet der Anerkennung zu verstehen, nämlich als mangelnde oder „falsche" Anerkennung.
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Die Verdrängung der Umverteilung Ich werde zunächst genauer betrachten, auf welche Weise die Identitätspolitik die Kämpfe um Umverteilung verdrängt. Das Identitätsmodell vernachlässigt das Thema ökonomischer Ungleichheit und behandelt fehlende Anerkennung oder Diskriminierung als ein freistehendes kulturelles Übel: Viele Befürworter der Identitätspolitik ignorieren die Verteilungsungerechtigkeit komplett und konzentrieren sich stattdessen ausschließlich auf die Bemühungen, Veränderungen auf der kulturellen Ebene voranzutreiben. Andere dagegen bestätigen die Bedeutung von Maldistribuierung2 und sind ernsthaft daran interessiert, auf diesem Gebiet Abhilfe zu schaffen. Trotz der Unterschiede haben beide Ansätze die Verdrängung von Ansprüchen auf Umverteilung zur Folge. Der erste Ansatz versteht fehlende Anerkennung oder Diskriminierung als ein Problem kultureller Geringschätzung. Die Wurzeln der Ungerechtigkeit sind demnach in erniedrigenden Repräsentationen zu suchen, wobei diese allerdings nicht als sozial verankert gelten oder in institutionalisierten Bedeutungen oder Normen ihren Ausdruck finden, sondern viel mehr in frei schwebenden Diskursen zu finden sind. Durch diese Hypostasierung der Kultur wird das Problem der fehlenden Anerkennung und der Diskriminierung von seiner institutionellen Struktur begrifflich gelöst und seine Verflechtung mit der Verteilungsungerechtigkeit verschleiert. Dieser Ansatz läuft so zum Beispiel Gefahr, die (in Arbeitsmärkten institutionalisierten) Verknüpfungen zwischen androzentrischen Normen, die die als „feminin" kodierten Aktivitäten abwerten, auf der einen Seite und den niedrigen Löhnen der Arbeiterinnen auf der anderen Seite zu übersehen. Zugleich werden die Verknüpfungen zwischen den heterosexistischen Normen des Wohlfahrtsstaates, die beispielsweise Homosexualität delegitimieren, auf der einen Seite und die Verweigerung von Ressourcen für Schwule und Lesben auf der anderen Seite übersehen. Die Verschleierung dieser Verbindungen entledigt das Konzept der Diskriminierung seiner sozial-strukturellen Grundlagen und setzt es stattdessen mit der Verzerrung von Identität gleich. Mit dieser Reduzierung der Politik der Anerkennung auf Identitätspolitik wird der Verdrängung der Umverteilungskämpfe der Weg geebnet. Ein zweiter Ansatz der Identitätspolitik vermeidet eine solche Missachtung von Maldistribuierung. Dieser Ansatz erkennt, dass kulturelle Ungerechtigkeiten oft in Verbindung zu ökonomischen Ungerechtigkeiten stehen, missversteht allerdings die Beschaffenheit dieser Verbindung. Tatsächlich folgt dieser Ansatz einer „kulturalistischen" Theorie der gegenwärtigen Gesellschaft: Verfechter dieser Perspektive glauben, dass Maldistribuierung lediglich ein Nebeneffekt von Diskriminierung oder fehlender Anerkennung ist. Ökonomische Ungleichheiten sind somit einfache Manifestationen kultureller Hierarchien; Klassenunterdrückung ist folglich eine Konsequenz der kulturellen Entwertung proletarischer Identität im Überbau (oder, wie man in den USA sagen würde, eine Konsequenz des „classism"). Maldistribuierung kann demzufolge indirekt durch die Politik der Anerkennung beseitigt werden. Eine Neubewertung von vormals abgewerteten Identitäten greift gleichzeitig die tiefen Strukturen ökonomischer Ungleichheit an - explizite Umverteilungskämpfe werden nicht benötigt.
Anmerkung des Übersetzers: Im englischen Original wird in diesem Kontext „maldistribution" benutzt. Dieser Begriff ist ein Neologismus. Er bezieht sich nicht auf jede Art von ungleicher Verteilung, sondern auf solche Arten ungleicher Verteilung, die gleiche Partizipationsmöglichkeiten im sozialen Leben verhindern und somit ungerecht sind.
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Auf diese Weise kehren kulturalistische Verfechter der Identitätspolitik lediglich die Standpunkte einer frühen Form des vulgär-marxistischen Ökonomismus um: Sie billigen, dass die Politik der Anerkennung die Umverteilungskämpfe verdrängt, ebenso wie der vulgäre Marxismus die Verdrängung der Politik der Anerkennung durch Umverteilungskämpfe gebilligt hat. In Wirklichkeit ist vulgärer Kulturalismus ebenso unzureichend für ein Verständnis der gegenwärtigen Gesellschaft wie es der vulgäre Marxismus war. Zugegebenermaßen hätte der kulturalistische Ansatz seine Berechtigung in einer Gesellschaft ohne relativ autonome Märkte, in der kulturelle Werte nicht nur die Beziehungen der Anerkennung, sondern auch jene der Verteilung regulieren würden. In einer solchen Gesellschaft wären ökonomische Ungleichheit und kulturelle Hierarchien nahtlos verbunden; Geringschätzung bestimmter Identitäten würde sich direkt in ökonomische Ungerechtigkeit übertragen; Diskriminierung auf dem Gebiet der Anerkennung würde unmittelbar zu Maldistribuierung fuhren. Folglich wäre beiden Formen der Ungerechtigkeit in einem einzigen Ansatz beizukommen und eine erfolgreiche Politik der Anerkennung würde gleichzeitig dem Problem der Maldistribuierung entgegenwirken. Doch diese Idee einer rein „kulturellen" Gesellschaft ohne ökonomische Beziehungen, die so viele Generationen von Anthropologen fasziniert hat, hat keinen Bezug zur aktuellen Realität, in der die Marktorientierung alle Gesellschaften zunehmend durchdringt und in der ökonomische Mechanismen zumindest teilweise von kulturellen Wertesystemen entkoppelt sind. Märkte sind in weiten Teilen unabhängig von diesen Wertesystemen und folgen ihrer eigenen Logik, die niemals vollständig durch kulturelle Systeme eingeschränkt oder ihnen untergeordnet ist. Somit erzeugen Märkte ökonomische Ungleichheiten, die nicht nur als Ausdruck hierarchisch angeordneter Identitäten verstanden werden können. Unter diesen Umständen ist die Idee des Heilmittels der Politik der Anerkennung gegen alle Formen der Maldistribuierung irreführend. Das Ergebnis dieses Ansatzes ist stattdessen die Verdrängung der Kämpfe für ökonomische Gerechtigkeit.
Verdinglichung von Identitäten Verdrängung ist jedoch nicht das einzige Problem des Modells der Identitätspolitik; dieses Modell neigt zudem zu einer Verdinglichung von Identitäten. Durch das Hervorheben der Notwendigkeit, eine authentische, selbstaffirmative und selbst erzeugte kollektive Identität zu entfalten, werden individuelle Mitglieder moralisch unter Druck gesetzt, sich der vorherrschenden Kultur ihrer Gruppe anzupassen. Kultureller Dissens und Experimentierfreude werden dementsprechend selten ermutigt oder sogar als Abtrünnigkeit ausgelegt. Gleiches gilt fur Kritik an der vorherrschenden Kultur oder Versuche, die Trennlinien innerhalb einer Gruppe zu verstehen, wie ζ. B. jene, die sich entlang der Kategorien von Gender, Sexualität und Klasse ergeben. So wird beispielsweise eine genaue Überprüfung patriarchalischer Strukturen innerhalb einer untergeordneten Kulturgruppe abgelehnt und durch das Identitätsmodell tendenziell als „unauthentisch" abgetan. Der Gesamteffekt dieser Tendenzen ist die Aufdrängung einer einzelnen, drastisch vereinfachten Gruppenidentität, die die Komplexität von Lebensweisen, die Vielfalt an Identifikationen und die Spannungen zwischen den verschiedenen Zugehörigkeiten verleugnet. Ironischerweise fördert das Identitätsmodell auf diese Art und Weise Diskriminierung: Durch die Verdinglichung von Identitäten werden die politischen Aspekte der kulturellen Identifikation und die Kämpfe um die Autorität und Macht der Repräsentationshoheit innerhalb der Gruppe verdeckt. Durch die Verschleierung dieser Kämpfe
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bleibt die Machtposition der dominanten Teile der Gruppe nicht nur verborgen, sondern wird weiter verfestigt. Das Identitätsmodell endet dadurch recht schnell in Formen des repressiven Kommunitarismus und treibt Konformismus, Intoleranz und Patriarchismus voran. Darüber hinaus ist sich das Identitätsmodell in vielen Fällen paradoxerweise nicht einmal seiner Hegeischen Vorraussetzungen bewusst. Ausgehend von der Annahme, dass Identität dialogisch in der Wechselwirkung mir einem anderen Subjekt konstruiert wird, verfallt das Modell dennoch in einen Monologismus, in dem diskriminierte Subjekte und Gruppen ihre Identität für sich allein konstruieren können - und sollten. Weiterhin wird angenommen, dass Gruppen ein Recht darauf haben, ausschließlich in Übereinstimmung mit ihrem Selbstbild wahrgenommen zu werden. Externe Perspektiven eines anderen Subjektes oder Abweichungen von diesem Selbstbild können nicht gerechtfertigt werden. Diese Sicht kultureller Identität als Funktion einer Selbstbeschreibung, die dem anderen als obiter dictum präsentiert wird, steht jedoch im direkten Gegensatz zum dialogischen Modell. Der Versuch, „authentische" kollektive Selbstdarstellungen von öffentlicher Kritik freizustellen, ist der sozialen Interaktion, die es vermag, Verschiedenheit zu überbrücken, alles andere als forderlich: Im Gegenteil, er ermutigt Separatismus und die Isolation von Gruppen. Das Identitätsmodell der Anerkennung ist somit in weiten Teilen mangelhaft. Aus theoretischer Sicht unzulänglich, aus politischer Sicht problematisch, setzt dieses Modell „Anerkennung" mit „Identitätspolitik" gleich und ermutigt so die Verdinglichung von Gruppenidentitäten und die Verdrängung der Politik der Umverteilung.
Diskriminierung als Statusunterordnung Ich werde folglich einen alternativen Ansatz vorschlagen, in dem Anerkennung als Frage des sozialen Status behandelt wird. In diesem Ansatz ist es nicht eine gruppenspezifische Identität, die Anerkennung erfordert, sondern der Status individueller Gruppenmitglieder als vollwertige Partner in sozialer Interaktion. Diskriminierung bedeutet dementsprechend nicht Abwertung und Deformierung von Gruppenidentitäten, sondern soziale Unterordnung - die Verhinderung gleichrangiger Teilnahme am sozialen Leben. Diese Ungerechtigkeit ist durchaus weiterhin durch eine Politik der Anerkennung zu bekämpfen, allerdings ist diese Politik im „Statusmodell" nicht mehr auf die Identitätsfrage beschränkt. Vielmehr zielt eine solche Politik auf die Bekämpfung der Unterordnung ab, indem sie die diskriminierte Partei als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft etabliert und somit die ebenbürtige Teilnahme am sozialen Leben gewährleistet. Dieser Ansatz benötigt weitere Erläuterungen. Anerkennung als Frage des Status zu verstehen bedeutet, institutionalisierte Muster kultureller Werte und ihre Effekte auf relative Positionen sozialer Akteure zu hinterfragen. Wenn solche Konstellationen gleichrangige Akteure konstituieren, die auf gleicher Augenhöhe am sozialen Leben teilnehmen können, können wir von gegenseitiger Anerkennung und Statusgleichheit sprechen. Sollten dagegen einige Akteure aus diesen Konstellationen als untergeordnet, ausgeschlossen, „fremd" oder schlicht unsichtbar hervorgehen - mit anderen Worten, als nicht vollwertige Partner in sozialer Interaktion - , dann können wir dies als Diskriminierung oder soziale Unterordnung bezeichnen. In dieser Perspektive ist Diskriminierung weder als psychische Deformation noch als freistehendes kulturelles Übel zu verstehen, sondern als ein institutionalisiertes Verhältnis sozialer Unterordnung. Diskriminiert zu werden bedeutet demnach nicht einfach, von anderen anma-
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ßend bewertet zu werden oder in deren Einstellungen, Überzeugungen oder Repräsentationen abgewertet zu werden, sondern vielmehr die Aberkennung des Status als ein vollwertiger Partner in sozialer Interaktion als Folge institutionalisierter Muster kultureller Werte, die bestimmte Teilnehmer des sozialen Lebens als des Respekts und der Wertschätzung unwürdig konstituieren. Im Statusmodell wird Diskriminierung darüber hinaus nicht durch frei schwebende kulturelle Repräsentationen oder Diskurse weitergeleitet, sondern wird, wie wir gesehen haben, durch institutionalisierte Muster ausgeübt. Das heißt in anderen Worten, Diskriminierung entsteht durch die Effekte jener sozialen Institutionen, die soziale Interaktion gemäß kultureller Normen gestalten, die die Gleichstellung sozialer Akteure verhindern. Beispiele sind unter anderem im Eherecht zu finden, welches gleichgeschlechtliche Partnerschaften ausschließt und als unrechtmäßig und pervers konstituiert; oder in einer Sozialpolitik, die alleinerziehende Mütter als sexuell verantwortungslose Schnorrer stigmatisiert; und in Polizeipraktiken wie der Risikobewertung nach ethnischer Zugehörigkeit, in der Personen rassistisch konstruiert und mit Kriminalität in Verbindung gebracht werden. In jedem dieser Fälle wird soziale Interaktion durch institutionalisierte Muster kultureller Werte reguliert, die bestimmte Kategorien sozialer Akteure als Norm und andere als unzureichend oder minderwertig konstituieren: „heterosexuell" ist normal, „schwul" ist pervers; Haushalte mit männlichem Hauptverdiener sind ordnungsgemäß, jene mit weiblichem Hauptverdiener sind es nicht; „Weiße" sind gesetzestreu, „Schwarze" sind gefährlich. In jedem dieser Fälle wird einigen Mitgliedern der Gesellschaft der Status als vollwertiger Partner in sozialer Interaktion versagt und somit die Möglichkeit der ebenbürtigen Teilnahme am sozialen Leben verbaut. Diese Beispiele zeigen, dass Diskriminierung eine Fülle von Formen annehmen kann. In heutigen komplexen, differenzierten Gesellschaften werden jene kulturellen Werte, die die Gleichstellung sozialer Akteure verhindern, in einer Vielzahl institutioneller Schauplätze und in qualitativ unterschiedlichen Modalitäten institutionalisiert. In manchen Fällen ist Diskriminierung verrechtlicht und ausdrücklich in formalem Recht kodifiziert; in anderen Fällen wird Diskriminierung durch Regierungspolitik, Verwaltungsregeln oder Berufspraktiken institutionalisiert. Darüber hinaus findet eine informelle Institutionalisierung durch freiwillige Zusammenschlüsse im öffentlichen Raum, anhaltende soziale Konventionen und sedimentierte soziale Praktiken der Zivilgesellschaft statt. Trotz dieser unterschiedlichen Formen bleibt der Kern der Ungerechtigkeit jedoch der gleiche: Institutionalisierte Muster kultureller Werte konstituieren einige soziale Akteure als nicht vollwertige Mitglieder der Gesellschaft und verhindern so ihre gleichwertige Teilnahme am sozialen Leben. Im Statusmodell ist Diskriminierung demnach eine Form institutionalisierter Unterordnung und somit eine schwerwiegende Verletzung des Gerechtigkeitsprinzips. Wo auch immer diese Diskriminierung erfolgt, ganz gleich auf welche Art und Weise, sind Ansprüche auf Anerkennung ohne Frage angebracht. Allerdings muss dieser Anspruch genau bestimmt werden: In dem hier präsentierten Ansatz wird nicht die Aufwertung bestimmter Gruppenidentitäten vorangetrieben, sondern die Überwindung von sozialer Unterordnung. Ansprüche auf Anerkennung streben somit danach, untergeordnete Parteien als vollwertige Partner im sozialen Leben zu etablieren und Interaktion mit anderen auf gleicher Höhe zu gewährleisten. Sie streben mit anderen Worten danach, jene Muster kultureller Werte zu „deinstitutionalisieren", die eine gleichgestellte Teilnahme aller sozialen Akteure verhindern, und durch Konstellationen zu ersetzen, die eine solche Gleichstellung unterstützen. Diskriminierung beseitigen bedeutet
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also, soziale Institutionen zu verändern - oder, genauer gesagt, eine Veränderung derjenigen Werte, die Interaktionen regulieren und der Gleichstellung der Teilnehmer im Wege stehen, und zwar auf allen relevanten institutionellen Schauplätzen. Wie genau ein solches Bestreben auszusehen hat, hängt vom jeweiligen Fall und seiner Modalität der institutionalisierten Diskriminierung ab. Verrechtlichte Formen erfordern rechtliche Veränderungen, Formen, die in der Regierungspolitik verankert sind, fordern regierungspolitische Veränderungen, zivilgesellschaftliche Formen erfordern zivilgesellschaftliche Veränderungen, usw. Die Modalitäten und Akteure sowie ihre Wirkung variieren ebenso wie die institutionellen Schauplätze. In jedem dieser Fälle ist das Ziel jedoch das gleiche: Die Beseitigung von Diskriminierung bedeutet, institutionalisierte Wertmuster, die eine gleichgestellte Teilnahme verhindern, mit solchen, die Gleichstellung ibrdern, auszutauschen. Wenn wir nun noch einmal auf das Beispiel des Eherechts zurückkommen, das Schwulen und Lesben gleichgestellte Teilnahme versagt, so haben wir gesehen, dass der Ursprung der Ungerechtigkeit in der verrechtlichten Institutionalisierung eines heterosexuellen kulturellen Wertmusters liegt, welches Heterosexualität als Normalität konstituiert und Homosexualität als Perversion. Die Beseitigung der Ungerechtigkeit erfordert in diesem Fall eine „Deinstitutionalisierung" dieses Wertmusters und dessen Austausch durch eine Alternative, die Gleichstellung begünstigt. Dies kann auf verschiedene Arten geschehen: Ein möglicher Weg wäre, Partnerschaften von Schwulen und Lesben durch Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe die gleiche Anerkennung zuzusprechen wie heterosexuellen Partnerschaften. Ein anderer Weg wäre, die heterosexuelle Ehe zu deinstitutionalisieren und Ansprüche (wie ζ. B. den Anspruch auf Gesundheitsversorgung) vom Familienstand zu entkoppeln und stattdessen einer anderen Basis, ζ. B. der Staatsbürgerschaft, zuzuordnen. Wenngleich es gute Gründe geben mag, einen dieser Ansätze dem anderen vorzuziehen, würden beide Ansätze grundsätzlich sexuelle Gleichheit fordern und diese spezifische Ausprägung von Diskriminierung beseitigen. Das Statusmodell verschreibt sich somit nicht a priori einem bestimmten Mittel gegen Diskriminierung, sondern erlaubt eine Reihe von Möglichkeiten, abhängig von den notwendigen Schritten auf dem Weg zu einer gleichgestellten Position in der Teilnahme am sozialen Leben. In manchen Fällen kann dies die Entlastung einer bestimmten Gruppe von übermäßiger - zugeschriebener und konstruierter - „Besonderheit" bedeuten. In anderen Fällen kann es bedeuten, einer bis dato nicht anerkannten Verschiedenheit neue Anerkennung zukommen zu lassen. In wieder anderen Fällen muss der Blick möglicherweise auf dominante und begünstigte Gruppen gerichtet werden, um ihren angeblichen Universalismus als privilegierte Besonderheit zu demaskieren. Darüber hinaus ist in anderen Fällen die Dekonstruktion eben jener Sprache nötig, in der die Konstruktion von Verschiedenheit gegenwärtig ihren Ausdruck findet. In jedem dieser Fälle passt das Statusmodell das Mittel den konkreten gleichheitshemmenden Gegebenheiten an. Im Gegensatz zum Identitätsmodell gewährt dieses Modell jenen Ansätzen, die Gruppenspezifizität wertschätzen, somit keine Vormachtstellung. Der entscheidende Punkt des Statusmodells ist die Überzeugung, dass sich die Anerkennungspolitik nicht nur auf die Anerkennung von Identitäten bezieht, sondern nach institutionellen Mitteln gegen institutionalisierte Benachteiligungen suchen muss. Diese Politik versucht Statusunterordnungen zu überwinden, indem sie die Werte verändert, die soziale Interaktionen regulieren, und neue Wertmuster einfuhrt, die die Gleichstellung bei der Teilnahme am sozialen Leben gewährleisten. Dabei liegt der Schwerpunkt auf Kultur in ihren sozial verankerten Formen (im Gegensatz zu frei schwebenden Formen).
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Maldistribuierung E s gibt e i n e n w e i t e r e n w i c h t i g e n U n t e r s c h i e d z w i s c h e n d e m Status- und d e m Identitätsmodell. Institutionalisierte M u s t e r kultureller Werte sind nicht d i e e i n z i g e n H i n d e r n i s s e a u f d e m W e g z u g l e i c h w e r t i g e r T e i l n a h m e . G l e i c h s t e l l u n g a u f d e m G e b i e t der T e i l n a h m e a m s o z i a l e n L e b e n ist darüber hinaus a u c h e i n e Frage d e s Z u g a n g s z u d e n b e n ö t i g t e n R e s s o u r c e n . In dies e n Fällen b e d e u t e t Maldistribuierung
g l e i c h z e i t i g d i e B e h i n d e r u n g v o n G l e i c h s t e l l u n g in der
T e i l n a h m e a m s o z i a l e n L e b e n und ist d a m i t e i n e F o r m v o n s o z i a l e r U n t e r o r d n u n g and U n g e rechtigkeit. A n d e r s als das Identitätsmodell b e g r e i f t das S t a t u s m o d e l l s o z i a l e G e r e c h t i g k e i t als z w e i d i m e n s i o n a l , mit z w e i analytisch z u u n t e r s c h e i d e n d e n D i m e n s i o n e n : e i n e D i m e n s i o n der A n e r k e n n u n g , d i e die E f f e k t e institutionalisierter B e d e u t u n g e n u n d N o r m e n hinsichtlich der relativen P o s i t i o n i e r u n g sozialer A k t e u r e betrifft; und e i n e D i m e n s i o n der Verteilung, die d i e A l l o k a t i o n verfugbarer R e s s o u r c e n an s o z i a l e A k t e u r e beinhaltet. 3 B e i d e D i m e n s i o n e n sind f o l g l i c h mit e i n e m analytisch e i g e n s t ä n d i g e n A s p e k t der s o z i a l e n O r d n u n g z u a s s o z i i e r e n . D i e D i m e n s i o n der A n e r k e n n u n g entspricht der Statusordnung der G e s e l l s c h a f t u n d s o m i t der Konstitution kulturell definierter K a t e g o r i e n sozialer A k t e u r e Statusgruppen - durch sozial verankerte M u s t e r kultureller Werte. J e d e dieser Statusgruppen unterscheidet s i c h anhand v o n Ehre, Prestige u n d A c h t u n g in der Interaktion mit anderen. D i e D i m e n s i o n der Verteilung h i n g e g e n entspricht der ö k o n o m i s c h e n Struktur der G e s e l l s c h a f t u n d s o m i t der Konstitution ö k o n o m i s c h definierter K a t e g o r i e n v o n A k t e u r e n , o d e r K l a s s e n , durch B e s i t z r e g i m e und Arbeitsmärkte. D i e s e A k t e u r e w e r d e n durch ihren u n t e r s c h i e d l i c h e n Z u g a n g z u R e s s o u r c e n differenziert. 4
Anmerkung der Autorin (2009): An anderer Stelle habe ich später eine dritte, „politische" Dimension der Gerechtigkeit begrifflich erfasst. Diese Dimension beinhaltet eine weitere Kategorie von Hindernissen für gleichwertige Teilnahme, die ihre Wurzeln in der politischen Struktur einer Gesellschaft hat und nicht in der politischen Ökonomie oder Statusordnung. Diese politischen Ungerechtigkeiten, die ich als Misrepräsentalion (Anmerkung des Übersetzers: Im englischen Original wird hier misrepresentation benutzt) bezeichne, beinhalten u. a. Entscheidungsfindungsprozesse, die selbst in Abwesenheit von Maldistribuierung und Diskriminierung bestimmte Menschen marginalisieren, so ζ. B. durch Wahlsysteme mit einfacher Mehrheitswahl, die quasi-permanenten Minderheiten eine eigene Stimme versagen; oder durch eine Einteilung des politischen Raumes, die grenzüberschreitende Gerechtigkeitsansprüche verhindert. Diese dritte Kategorie von Hindernissen für gleichwertige Teilnahme zeigt deutlich meinen Bezug auf Max Weber, im Besonderen auf seinen Aufsatz: „Klassen, Stände und Parteien" (in: M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Köln, Berlin 1994, S. 678-689). Im vorliegenden Aufsatz benutze ich eine Version von Webers Unterscheidung zwischen Klasse und Status in Form der Unterscheidung zwischen Verteilung und Anerkennung. Doch Webers eigene Unterscheidung ist dreigeteilt: „Klassen, Stände und Parteien". Er hat so den Weg für ein theoretisches Verständnis der Ungerechtigkeiten auf dem Gebiet der Misrepräsentalion geebnet. Für eine detaillierte Darstellung der politischen Dimension von Gerechtigkeit siehe Nancy Fraser, „Reframing Justice in a Globalizing World", New Left Review 36 (November/Dezember 2005), S. 69-88 (ebenfalls erschienen in Nancy Fraser, Scales of Justice: Reimagining Political Space in a Globalizing World, New York 2008). Im vorliegenden Artikel beschränke ich mich allerdings auf Maldistribuierung und Diskriminierung. In diesem Artikel benutze ich bewusst keine Marasche Auffassung des Klassenbegriffs, sondern eine Webersche. Das bedeutet, dass ich die Klassenposition eines Akteurs als seine / ihre Beziehung zum Markt verstehe und nicht als seine / ihre Beziehung zu den Produktionsmitteln. Diese Webersche Auffassung des Klassenbegriffs als ökonomische Kategorie stimmt besser mit meinem Interesse an der Verteilung als normative Dimension der Gerechtigkeit überein als die Marasche Auffassung des Klassenbegriffs als
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Jede Dimension ist darüber hinaus mit einer analytisch eigenständigen Form von Ungerechtigkeit verknüpft. Für die Dimension der Anerkennung ist dies, wie wir gesehen haben, die Form der Diskriminierung. Für die Dimension der Verteilung ist die entsprechende Form die Maldistribuierung: ökonomische Strukturen, Besitzregimes und Arbeitsmärkte entziehen Akteuren die Ressourcen, die zur vollen Teilnahme am sozialen Leben benötigt werden. Und schließlich entspricht jede Dimension einer analytisch eigenständigen Form von Unterordnung: Die Dimension der Anerkennung korrespondiert, wie gesehen, mit der Statusunterordnung, die ihre Wurzeln in institutionalisierten Mustern kultureller Werte hat; die Dimension der Verteilung korrespondiert mit ökonomischer Unterordnung, hervorgerufen durch strukturelle Eigenschaften des ökonomischen Systems. Es lässt sich folglich zusammenfassend sagen, dass das Statusmodell das Problem der Anerkennung in einem größeren sozialen Rahmen verortet. Aus dieser Perspektive erscheinen Gesellschaften als komplexe Felder, die sowohl kulturelle als auch ökonomische Formen sozialer Ordnung umfassen. Unter kapitalistischen Bedingungen ist jedoch keine Form auf die jeweils andere zu reduzieren. Im Gegenteil: Die ökonomische Dimension ist von der kulturellen Dimension relativ losgelöst, da marktorientierte Bereiche, in denen strategische Interaktion vorherrscht, sich von nicht-marktorientierten Bereichen und deren werteregulierter Interaktion unterscheiden. Das Ergebnis ist eine teilweise Loslösung ökonomischer Verteilung von Strukturen des sozialen Ansehens. In kapitalistischen Gesellschaften bestimmen kulturelle Wertmuster daher nicht automatisch die ökonomische Verteilung (wie es die kulturalistische Gesellschaftstheorie behauptet), und ökonomische Klassenunterschiede spiegeln nicht einfach die Statushierarchien einer Gesellschaft wider. Vielmehr entkoppelt sich Maldistribuierung von Diskriminierung. Nach dem Statusmodell kann Verteilungsungerechtigkeit somit nicht nur durch Anerkennung allein überwunden werden. Es bedarf zusätzlich einer Politik der Umverteilung. 5 Andererseits können die Dimensionen der Verteilung und Anerkennung in kapitalistischen Gesellschaften nicht sauber voneinander getrennt werden. Im Statusmodell sind beide Dimensionen eng miteinander verknüpft und stehen in einer kausalen Beziehung zueinander. Ökonomische Fragen wie die der Einkommensverteilung beinhalten gleichzeitig implizit die Dimension der Anerkennung: Im Arbeitsmarkt institutionalisierte Wertmuster können ζ. B. Aktivitäten begünstigen, die als „maskulin" oder „weiß" kodiert sind, und somit zur Benachteiligung jener Aktivitäten fuhren, die als „feminin" oder „schwarz" angesehen werden. Umgekehrt haben Anerkennungsfragen - etwa ästhetische Beurteilungen - einen Bezug zur Ebene soziale Kategorie. Dennoch bedeutet dies nicht, dass ich das Marxsche Verständnis der „kapitalistischen Produktionsweise" als soziale Gesamtheit ablehne. Im Gegenteil: Ich finde die Idee hat eine wertvolle Funktion als Rahmenwerk in dem man die Weberschen Konzepte des Status und der Klasse unterbringen kann. Ich lehne somit die gebräuchliche Sicht ab, nach der Marx und Weber als gegensätzliche und unvereinbare Denker angesehen werden. Siehe fur die Webersche Definition des Klassenbegriffs: Max Weber, „Klassen, Stände und Parteien". Für vollständigere Diskussionen der Unmöglichkeit, Maldistribuierung und Diskriminierung sowie Klasse und Status in gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaften aufeinander zu reduzieren, siehe: N. Fraser, „Heterosexism, Misrecognition, and Capitalism: A Response to Judith Butler", New Left Review, 1/228, März/April 1998, S. 140-149 sowie „Social Justice in the Age of Identity Politics: Redistribution, Recognition and Participation", in: The Tanner Lectures on Human Values, Volume 19, hg. v. G. B. Peterson, Salt Lake City 1998, S. 1-67.
Z U R N E U B E S T I M M U N G VON
ANERKENNUNG
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der Verteilung: Reduzierter Zugang zu ökonomischen Ressourcen kann so ζ. B. gleichgestellte Teilnahme an der Herstellung von Kunst verhindern. 6 Das Ergebnis ist oft ein Teufelskreis der Unterordnung, in dem die Statusordnung und die ökonomische Struktur sich gegenseitig durchdringen und einander stärken. Im Gegensatz zum Identitätsmodell betrachtet das Statusmodell Diskriminierung demnach im Kontext eines breiteren Verständnisses der gegenwärtigen Gesellschaft. Aus diesem Blickwinkel kann Statusunterordnung nicht isoliert von ökonomischen Bedingungen verstanden werden und Anerkennung nicht vollständig von der Dimension der Verteilung getrennt werden. Nur durch die gleichzeitige Berücksichtigung beider Dimensionen kann untersucht werden, was in einem bestimmten Fall als Hindernis für gleichwertige Teilnahme fungiert. Nur durch das genaue Verständnis der komplexen Verflechtungen zwischen Status und ökonomischer Klasse können die besten Wege der Bekämpfung von Ungerechtigkeit herausgearbeitet werden. Das Statutsmodell versucht somit den Verdrängungstendenzen gegenüber Verteilungskämpfen entgegenzuwirken. Es lehnt eine Definition von „Anerkennung" als frei schwebendes kulturelles Übel ab und versteht, dass die Statusunterordnung oft eng mit Verteilungsungerechtigkeit verbunden ist. Anders als die kulturalistische Gesellschaftstheorie vermeidet das Statusmodell allerdings eine vereinfachende Annahme über diese komplexe Verbindung. Stattdessen nimmt dieses Modell wahr, dass nicht alle Formen ökonomischer Ungerechtigkeit durch Anerkennung allein überwunden werden können, und plädiert folglich für einen Ansatz, der Anerkennungsansprüche mit Umverteilungsansprüchen integriert und so das Problem der Verdrängung entschärft. Darüber hinaus vermeidet das Statusmodell die Verdinglichung von Gruppenidentitäten: Wie wir gesehen haben, sind es in diesem Ansatz nicht gruppenspezifische Identitäten, die der Anerkennung bedürfen, sondern der Status von Individuen als vollwertige Partner in sozialer Interaktion. Diese Ausrichtung bietet mehrere Vorteile. Durch seinen Fokus auf die Effekte institutionalisierter Normen auf die Interaktionskapazitäten von Individuen vermeidet dieses Modell eine Hypostasierung der Kultur und bannt die Gefahr, lediglich für bestimmte Identitätskonstruktionen anstelle von wirklichem sozialen Wandel einzutreten. Und indem es das Problem der Diskriminierung nicht durch eine Aufwertung bestehender Identitäten zu lösen versucht, vermeidet das Statusmodell die Essentialisierung gegenwärtiger Konstellationen und eröffnet Möglichkeiten historischen Wandels. Des Weiteren sorgt die normative Vorgabe der gleichwertigen Teilnahme dafür, dass das Statusmodell Anerkennungsansprüche demokratischen Prozessen öffentlicher Rechtfertigung unterwirft und somit den autoritären Monologismus einer Politik der Authentizität vermeidet und stattdessen für transkulturellen Austausch und gegen Separatismus und die Isolation von Gruppen eintritt. Das Statusmodell spricht sich damit deutlich gegen einen repressiven Kommunitarismus aus. Halten wir fest: Heutige Kämpfe um Anerkennung nehmen häufig die Gestalt einer Identitätspolitik an. Während sie sich gegen erniedrigende kulturelle Repräsentationen untergeordneter Gruppen richten, betreiben sie oft eine begriffliche Loslösung des Problems der Diskriminierung von dessen institutionellem Kontext und dem Kontext der politischen Ökonomie. Und insofern sie „authentische" kollektive Identitäten stärken, behindern sie eine Interaktion, die es vermag, Verschiedenheit zu überbrücken, und verstärken stattdessen Separatismus, Für eine umfassende, wenngleich reduzierende Darstellung dieses Themas, siehe: P. Bourdieu, Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/M. 1987.
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Konformismus und Intoleranz. Das Ergebnis ist in zweifacher Hinsicht bedauernswert: Anerkennungskämpfe verdrängen in vielen Fällen Kämpfe für ökonomische Gerechtigkeit und fördern repressive Formen von Kommunitarismus. Die Lösung kann jedoch nicht einfach eine Ablehnung der Anerkennungspolitik sein. Das würde bedeuten, Millionen von Menschen schwerwiegenden Ungerechtigkeiten zu unterwerfen, denen nur durch eine Form der Anerkennungspolitik beizukommen ist. Was benötigt wird, ist vielmehr eine alternative Anerkennungspolitik: eine nicht-identitäre Politik, die Diskriminierung bekämpft, ohne zu Verdrängung und zu Verdinglichung zu führen. Ich habe dargelegt, warum das Statusmodell eine Grundlage für eine solche Politik bietet: Die Verdrängung der Kämpfe um Umverteilung kann abgeschwächt oder sogar komplett verhindert werden, indem Anerkennung als eine Frage des Status verstanden wird und das Verhältnis von „Anerkennung" und „ökonomischer Klasse" untersucht wird; und das Umgehen des Identitätsmodells schwächt oder bannt die Gefahr der Verdinglichung von kollektiven Identitäten. Aus dem Amerikanischen von B. Nienass
A X E L HONNETH
Arbeit und Anerkennung Versuch einer Neubestimmung
Noch nie in den letzten zweihundert Jahren hat es um Bemühungen, einen emanzipatorischen, humanen Begriff der Arbeit zu verteidigen, so schlecht gestanden wie heute. Die faktische Entwicklung in der Organisation von Industrie- und Dienstleistungsarbeit scheint allen Versuchen, die Qualität der Arbeit zu verbessern, den Boden entzogen zu haben: Ein wachsender Teil der Bevölkerung kämpft überhaupt nur noch um den Zugang zu Chancen subsistenzsichernder Beschäftigung, ein anderer Teil vollzieht Tätigkeiten unter rechtlich kaum mehr geschützten, stark deregulierten Verhältnissen, ein dritter Teil schließlich erfahrt im Augenblick die rapide Entberuftichung und Entbetrieblichung ihrer vormals noch statusmäßig gesicherten Arbeitsplätze. Kaum jemand wird daher wohl der Diagnose von Robert Castel widersprechen, nach der wir im Augenblick kurz davorstehen, das Ende der kurzen Phase eines sozialstaatlich gesicherten Status der Lohnarbeit zu erleben. 1 Was sich in der faktischen Organisation der Arbeit vollzieht, die Tendenz zur Rückkehr einer sozial ungeschützten Leih-, Teil- und Heimarbeit, spiegelt sich in verquerer Weise auch in der Verschiebung von intellektuellen Aufmerksamkeiten und gesellschaftstheoretischen Interessen: Enttäuscht haben diejenigen, die noch vor vierzig Jahren alle Hoffnung auf die Humanisierung oder Emanzipierung der Arbeit setzten, der Arbeitswelt den Rücken gekehrt, um sich ganz anderen, produktionsfernen Themen zuzuwenden. Die kritische Gesellschaftstheorie scheint sich unter den gewandelten Bedingungen vorzüglich mit Fragen der politischen Integration und der staatsbürgerlichen Rechte zu beschäftigen, ohne auf die gefährdeten Errungenschaften in der Produktionssphäre noch einen Blick zu werfen; und selbst die Soziologie, das wissenschaftliche Kind der kapitalistischen Industrialisierung, hat sich weitgehend von ihrem einstigen Kerngebiet abgewandt und macht verstärkt kulturelle Transformationsprozesse zu ihrem Gegenstand. Den Tendenzen eines intellektuellen Rückzugs aus der Arbeitswelt entspricht freilich in keiner Weise die Stimmung in der Bevölkerung. Trotz aller gegenteiligen Prognosen, in denen von einem Ende der Arbeitsgesellschaft gesprochen wurde, ist es nicht zu einem Relevanzverlust der Arbeit in der gesellschaftlichen Lebenswelt gekommen: Nach wie vor macht die Mehrheit der Bevölkerung die eigene soziale Identität primär von der Rolle im organisierten Arbeitsprozess abhängig, ja, dieser Anteil dürfte sogar noch erheblich zugenommen haben, nachdem sich der Arbeitsmarkt in einem bislang nicht gekannten Maße fur Frauen geöffnet R. Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage, Konstanz 2000; vgl. meine Besprechung in: Literaturen, 02/01, S. 58 f.; zu dieser Thematik auch: E. Senghaas-Knobloch, Wohin driftet die Arbeitswelt?, Wiesbaden 2008, Teil I.
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AXEL HONNETH
hat. Von einem Bedeutungsverlust der Arbeit kann aber nicht nur in einem lebensweltlichen Sinn, sondern auch in einem normativen Sinn nicht die Rede sein: Arbeitslosigkeit wird weiterhin als ein soziales Stigma und ein individueller Makel erfahren, prekäre Beschäftigungsverhältnisse werden als belastend empfunden, die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes stößt in weiten Kreisen der Bevölkerung auf Reserve und Unbehagen. 2 Die Sehnsucht nach einem nicht nur subsistenzsichernden, sondern auch individuell befriedigenden Arbeitsplatz ist keinesfalls verschwunden, nur bestimmt sie nicht mehr die öffentlichen Diskussionen und die Arenen der politischen Auseinandersetzung; aber aus der eigentümlichen, beklemmenden Sprachlosigkeit zu schließen, dass Forderungen nach einer Umgestaltung der Arbeitsverhältnisse endgültig der Geschichte angehören, wäre empirisch falsch und nahezu zynisch. Wahrscheinlich war der Abstand zwischen den Erfahrungen der sozialen Lebenswelt und den Themen der gesellschaftstheoretischen Dauerreflexion noch nie so groß wie heute: Während hier der Begriff der gesellschaftlichen Arbeit kaum mehr von allgemeiner Bedeutung ist, kreisen dort um ihn stärker als je zuvor die Nöte, Ängste und Hoffnungen der Betroffenen. Die Abkehr der Gesellschaftstheorie vom Problemfeld der Arbeit hat freilich mehr als nur opportunistische Gründe. Es wäre überaus kurzsichtig, im Schweigen der Intellektuellen und soziologischen Theoretiker nur den Ausdruck eines Unwillens zu vermuten, sich mit den realen Nöten der Bevölkerung noch weiter zu beschäftigen. In der Entproblematisierung der Arbeitssphäre kommt vielmehr auch die Einsicht zum Tragen, dass angesichts der faktisch gegebenen Produktionsverhältnisse alle Vorschläge zur durchgreifenden Verbesserung der Arbeitsgestaltung schnell den Charakter bloßer Sollensforderungen erhalten: Die Kluft zwischen dem gesellschaftlichen Sein und den arbeitsutopischen Erwartungen ist inzwischen so tief, der Abstand zwischen den realen Arbeitsverhältnissen und den Emanzipationsbestrebungen so groß geworden, dass die Gesellschaftstheorie sich die vorläufige Vergeblichkeit all ihrer theoretischen Bemühungen eingestehen musste. 3 Nicht opportunistisch oder gar triumphalistisch, sondern zähneknirschend und verbittert haben sich die intellektuellen Repräsentanten der Sozialbewegungen von der Sphäre der gesellschaftlichen Arbeit abgewendet: Weil sich die Idee einer Befreiung der Arbeit von Fremdbestimmung und Entfremdung an der Wirklichkeit blamiert hat, soll die Gestaltung der Arbeitsverhältnisse von nun an den sich globalisierenden Kräften des kapitalistischen Arbeitsmarktes überlassen werden. Mit dieser Weichenstellung, grundbegrifflich wohl am deutlichsten markiert durch die Habermassche Rede von der „normfreien" Selbstregulation des Wirtschaftssystems 4 , ist jener Situation der Weg bereitet worden, vor der wir heute ernüchtert stehen: dass die Nöte all derjenigen, die nicht nur um ihren Arbeitsplatz, sondern auch um die Qualität ihrer Arbeit fürchten, im Vokabularium einer kritischen Gesellschaftstheorie keine Resonanz mehr findet. Ich will im Folgenden prüfen, ob die damit umrissene Entwicklung begrifflich noch einmal umzukehren ist. Wie müsste die Kategorie der gesellschaftlichen Arbeit in den Rahmen 2
Ich verweise hier nur exemplarisch auf: Ch. Morgenroth, „Arbeitsidentität und Arbeitslosigkeit - ein depressiver Zirkel", in: Das Parlament. Aus Politik und Zeitgeschichte, Bd. 6-7, 2003, S. 17-24; W. J. Wilson, When Work Disappears: The World of the New Urban Poor, New York 1996.
3
Vgl. J. Habermas, „Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien", in: ders., Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt/M. 1985, S. 141-163.
4
J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M. 1981, Bd. 2, S. 455 ff. Bedenken gegen diese Entnormativierung der Wirtschaftssphäre habe ich schon angemeldet in: A. Honneth, Kritik der Macht, Frankfurt/M. 1986, Kap. 9.
A R B E I T UND ANERKENNUNG
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einer Gesellschaftstheorie einbezogen werden, so soll gefragt werden, damit er in ihr eine nicht bloß utopische Perspektive auf qualitative Verbesserungen eröffnet? Um dieses komplexe Problem angehen zu können, will ich in einem ersten, eher methodologischen Schritt vorschlagen, die Unterscheidung von externer und immanenter Kritik auch auf die Absicht einer Kritik der existierenden Arbeitsverhältnisse anzuwenden: Von einer immanenten Kritik, in der die normativen Forderungen keinen bloßen Sollenscharakter mehr besitzen, können wir hier nur dann sprechen, wenn die Idee einer sinnvollen, gesicherten Arbeit als Vernunftanspruch in die Strukturen der gesellschaftlichen Reproduktion selbst eingebaut ist (I). In einem zweiten Schritt soll anschließend gezeigt werden, dass die gesellschaftliche Arbeit nur dann diese Rolle einer immanenten Norm übernehmen kann, wenn sie an die Anerkennungsbedingungen im modernen Leistungsaustausch gebunden wird: Für jede Arbeit, die die Schwelle des bloß privaten, autonomen Tätigseins überschritten hat, muss gelten, dass sie in einer bestimmten Weise organisiert und strukturiert sein muss, um die gesellschaftlich in Aussicht gestellte Anerkennungswürdigkeit zu besitzen (II). Schließlich möchte ich im letzten Schritt entwickeln, welche immanenten Forderungen mit dieser strukturellen Verkoppelung von Arbeit und Anerkennung in Hinblick auf die Gestaltung der modernen Arbeitswelt verknüpft sind; hier soll deutlich werden, dass die letztlich auf Durkheim zurückgehende Idee einer gerechten Organisation der Arbeitsteilung mehr an normativer Stoßkraft enthält, als es auf den ersten Blick erscheinen mag (III).
I. Seit dem Beginn der industriellen Revolution hat es an utopischen Entwürfen einer Neugestaltung der gesellschaftlichen Arbeit nicht gemangelt. Weil die Form der von nun an kapitalistisch verwerteten, betriebsförmig organisierten Erwerbsarbeit eine derart prägende, alle Lebensbereiche durchdringende Kraft entfaltet hatte, machten sich die normativen Erwartungen des Zeitgeistes zunächst und vor allem an der Sphäre der Produktion fest. Als Triebkraft dieser emanzipatorischen Vorstellungen wirkte zu Beginn maßgeblich die Wahrnehmung der noch immer anschaulich gegebenen Tätigkeitsweisen im Handwerk: Während hier der Vollzug der Arbeit vollständig in den Händen der arbeitenden Person lag, die die gesamte Ausführung im Vertrautsein mit dem Material schöpferisch gestalten und im fertigen Produkt schließlich wie in einem Spiegel eine Objektivation der eigenen Fertigkeiten erblicken konnte, waren dem Arbeiter in der Fabrik solche ganzheitlichen Erfahrungen restlos verschlossen, weil seine Tätigkeit fremdbestimmt, zerrissen und initiativlos war. Je nach weltanschaulicher Orientierung wurden an dem Modell der Handwerkstätigkeit entweder die Züge einer freiwilligen, selbstgesteuerten Kooperation oder die Elemente einer individuellen Selbstobjektivation stark gemacht: Im ersten Fall erschien die neue, kapitalistische Form der Erwerbsarbeit deswegen als verdammenswert, weil sie das schöpferische Zusammenwirken der Arbeitssubjekte außer Kraft setzte, im zweiten Fall hingegen, weil sie den organischen Prozess der Vergegenständlichung eigener Fähigkeiten zerstückelte und in einzelne, für sich bedeutungslose Segmente aufteilte. Zusätzlichen Zündstoff erhielt diese Kritik an der kapitalistischen Organisationsform der Arbeit, sobald auch ästhetische Modelle der Produktion in die Vision einer unentfremdeten, eigeninitiativen Tätigkeit einbezogen wurden: Vor allem bei den sozialistisch orientierten Erben der deutschen Frühromantik machte sich die Vorstellung
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breit, dass alle menschliche Arbeit Züge jener selbstzweckhaften Kreativität besitzen sollte, die exemplarisch in der Verfertigung eines Kunstwerks zum Tragen kommen. 5 So anschaulich und packend all diese Ideen einer Befreiung der Arbeit aber auch waren, so folgenlos sind sie am Ende doch für die tatsächliche Geschichte der Organisationsform gesellschaftlicher Arbeit geblieben. Das romantisch verklärte Modell der Handwerkstätigkeit und das ästhetische Ideal der künstlerischen Produktion enthielten zwar genügend Schubkraft, um unsere Vorstellungen eines guten, gelingenden Lebens nachhaltig zu verändern; aber auf die Kämpfe der Arbeiterbewegung, auf die sozialistischen Bestrebungen, die Arbeitsbedingungen zu verbessern und nach Möglichkeit den Interessen der Produzenten zu überantworten, haben sie so gut wie keinen Einfluss nehmen können. Die zwiespältige Wirkung, die von den Arbeitsutopien des 19. Jahrhunderts ausging, erklärt sich aus dem Umstand, dass sie mit den Anforderungen der wirtschaftlich organisierten Arbeit zu wenig vermittelt waren: Die Tätigkeitsweisen, die sie auszeichneten und zum paradigmatischen Vorbild erkoren, waren gewissermaßen zu extravagant, als dass sie als Gestaltungsmodell fur all die Vorrichtungen dienen konnten, die für die Reproduktion der Gesellschaft erforderlich waren. Dieser gravierende Nachteil wurde freilich in jenen klassischen Arbeitsutopien dadurch aufgewogen, dass sie am Beispiel des Handwerks oder der Kunst Strukturen einer Tätigkeitsweise hervorkehrten, die auf Grund ihres durchsichtigen Vergegenständlichungscharakters bald schon als notwendiger Bestandteil eines guten Lebens gedacht werden konnten: Weil wir als menschliche Wesen der Erfahrung bedürfen, unsere erlernten Fähigkeiten am Material zu erproben und gewissermaßen zu vergegenständlichen, wird bis heute eine solche vollbringende Tätigkeit als Element eines gelingenden Lebensvollzugs begriffen. 6 Aber der Umstand, dass Arbeiten vom Typ des handwerklichen Tuns oder der künstlerischen Produktion zum guten Leben gehören, besagt eben noch nichts in Hinblick auf die Frage, welche normativen Standards die gesellschaftlich organisierte Arbeit erfüllen können muss; denn hier, im Bereich der ökonomischen Sphäre, unterliegen die individuell vollzogenen Tätigkeiten besonderen Anforderungen, die sich aus der Notwendigkeit ihres Einbringens in den gesellschaftlichen Leistungsaustausch ergeben. Ich will daher alle Versuche, die gegebenen, kapitalistischen Arbeitsverhältnisse im Lichte von Modellen des organischen, allein selbstgesteuerten Produzierens zu kritisieren, als Formen einer externen Kritik bezeichnen: Sie berufen sich normativ auf Tätigkeits weisen, die dem kritisierten Gegenstand insofern bloß äußerlich bleiben, als sie Vollzugsstrukturen aufweisen, die nicht fur alle in der Wirtschaftssphäre erforderlichen Arbeiten gleichermaßen konstitutiv sein können. Was für das gute Leben des Einzelnen an Arbeitserfahrungen notwendig sein mag, so ließe sich auch sagen, darf nicht zugleich als Maßstab an die Beurteilung der gesellschaftlich organisierten Produktionssphäre herangetragen werden; denn hier herrschen Zwänge und Bedingungen, die es auch bei einer denkbar weiten Auslegung erforderlich machen, Tätigkeiten von einem ganz anderen Charakter als dem des Handwerks oder der Kunst auszufuhren.
5
Einen guten Überblick über diese handwerklichen oder ästhetischen Arbeitsutopien verschafft das Kapitel 36 aus Blochs Prinzip Hoffnung: E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt/M. 1959, 3 Bde., Bd. 2, S. 547-728; zu den romantischen Unterströmungen des Sozialismus vgl. auch G. Lichtheim, Ursprünge des Sozialismus, Gütersloh 1969.
6
Vgl. M. Seel, Versuch über die Form des Glücks, Frankfurt/M. 1995, S. 142-150.
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Gewiss, die Arbeitsutopien des 19. Jahrhunderts haben unsere soziale Phantasie beflügelt und der Moderne ganz neue Vorstellungsräume eröffnet; ihnen verdanken wir Bilder der individuellen Erfüllung und der gelingenden Kooperation, ohne die das Archiv unserer Träume eines besseren Lebens wesentlich ärmer wäre. Die Ethik hat von solchen Utopien des handwerklichen oder künstlerischen Vollbringens den Anstoß erhalten, den herkömmlichen Begriff des „Guten" um Tätigkeiten des Arbeitens zu erweitern; seither können wir uns das Gelingen unseres Lebens kaum mehr ohne das Element vergegenständlichenden Tuns vorstellen. Aber keine dieser Errungenschaften hat etwas daran ändern können, dass eine im Namen des Handwerksideals durchgeführte Kritik der kapitalistischen Arbeitsorganisation stets mit dem Makel des bloß äußerlichen Standpunkts behaftet bleibt7: Was sich innerhalb dieser ökonomischen Sphäre an sozialen Kämpfen um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen abgespielt hat, musste sich auf ganz andere Normen berufen, als sie im Bild einer ganzheitlichen Tätigkeit utopisch festgehalten worden waren. Die Schwelle zu einer immanenten Kritik der existierenden Organisation von gesellschaftlicher Arbeit wird erst in dem Augenblick überschritten, in dem moralische Normen herangezogen werden, die dem gesellschaftlichen Leistungstausch selbst als Vernunftanspruch innewohnen; mit der institutionalisierten Idee, die eigene Arbeit als Beitrag zur sozialen Arbeitsteilung zu verstehen, sind nämlich normative Ansprüche verknüpft, die bis auf die Ebene der Gestaltung der Arbeitsplätze durchschlagen. 8 Bevor ich aber zu den Bedingungen einer solchen immanenten Kritik übergehe, will ich kurz einen Versuch überprüfen, dem Ideal der ganzheitlichen, handwerklichen Tätigkeit selbst noch einen immanenten Sinn zu unterschieben. Als die Schwäche einer Kritik im Namen des Handwerkerideals hatte sich erwiesen, dass sie eine Form der Tätigkeit normativ auszeichnet, die sich nicht als ein irgendwie verbürgter Anspruch in den Strukturen der gesellschaftlichen Reproduktion auffinden lässt; selbst, wenn sich einige Segmente der gesellschaftlich notwendigen Arbeiten diesem Ideal annähern ließen, würde sich daraus noch kein Argument ergeben, warum alle erforderlichen Tätigkeiten dieselbe ideale Gestalt annehmen müssten. Es könnte nun allerdings so scheinen, dass sich an dieser Argumentationslage etwas nachhaltig ändern würde, wenn sich zeigen ließe, dass jedem Vollzug einer gesellschaftlichen Arbeit von sich aus eine gewisse Tendenz zur organischen Abschließung, zur autonomen Selbstkontrolle und damit zur quasi-handwerklichen Gestaltung innewohnen würde; egal, um welche Art von Tätigkeit es sich handelt, ihr bloßer Charakter als eine individuell zweckgerichtete Handlung würde es verlangen, dass sie in der möglichst weitgehenden Kontrolle des ausführenden Subjekts bleibt. Ein Argument solchen Typs habe ich selbst einmal entwickeln wollen, als ich unter Verwendung industriesoziologischer Untersuchungen zu zeigen versucht habe, dass die Arbeiter durch ihre alltäglichen Widerstandspraktiken den Wunsch nach einer autonomen Gestaltung ihrer Tätigkeit zu erkennen geben: Allein die Tatsache, so war ich damals überzeugt, dass die Beschäftigten ständig subversive Vorstöße unternehmen, um die Kontrolle über ihre Arbeitsvollzüge an sich zu reißen, liefert
Das gilt natürlich umso stärker für Versuche, heute noch einmal das Ideal der handwerklichen, ganzheitlichen Tätigkeit zu beschwören: vgl. etwa R. Sennett, Handwerk,
Berlin 2008.
Den ersten Anstoß, mich statt auf die normative Dimension der Arbeit auf diejenige des gesellschaftlichen Leistungsaustauschs zu beziehen, habe ich durch einen Aufsatz von Friedrich Kambartel erhalten: ders., „Arbeit und Praxis", in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 41 (1993) 2, S. 239 ff.; vgl. auch Fr. Kambartel, Philosophie und Politische Ökonomie, Göttingen 1998.
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Axel Honneth
schon genügend Beweismaterial, um Forderungen nach einer Selbstkontrolle am Arbeitsplatz zu rechtfertigen. 9 Zurückbezogen auf die Unterscheidungen, mit denen ich bislang operiert habe, sollte es das Ziel dieser Argumentation sein, das Handwerksideal nicht als externen, sondern als immanenten Maßstab an die kapitalistische Organisation der Arbeit heranzutragen: Wenn die beschäftigten Subjekte auf Grund der Struktur ihrer Tätigkeit selbst den Wunsch haben, die Kontrolle über ihre Arbeit zu besitzen, dann handelt es sich dabei um einen moralischen Anspruch, der in historisch gegebenen Arbeitsverhältnissen immanent eingelassen ist und ihnen nicht von außen als ein Ideal entgegengehalten werden muss. Nur kurze Zeit später wurde mir von Jürgen Habermas dann entgegengehalten, dass ich mit einem solchen Beweisgang einem „genetischen Fehlschluss" erläge, weil ich aus der puren Tatsache bestimmter Wünsche und Forderungen auf deren moralische Rechtfertigbarkeit schließe: Nicht die präsumtiven Ansprüche der Betroffenen, sondern nur praktische Diskurse könnten Entscheidungen darüber moralisch begründen, welche Normen in einer gegebenen Arbeitsorganisation herrschen sollten.10 Es hat Jahre gedauert, bis ich mir habe klar machen können, dass dieser Einwand in der richtigen und angemessenen Kritik zugleich den Schlüssel fur eine weitaus bessere Lösung des hier behandelten Problems enthält. Zweifellos ist es richtig, dass der Sinn einer immanenten Kritik nicht darin bestehen darf, bloß Ansprüche und Forderungen geltend zu machen, die in der jeweiligen Gegenwart von bestimmten Gruppen angesichts ihrer sozialen Lage oder Arbeitssituation erhoben werden; zwar besitzen derartige Klagen tatsächlich einen immanenten Charakter, weil sie aus dem Inneren der Gesellschaft heraus gegen existierende Regelungen vorgebracht werden, aber zugleich fehlt ihnen doch jedes Element an nachweisbarer Vernünftigkeit, das sie erst zu gerechtfertigten Maßstäben einer immanenten Kritik machen würde. Damals habe ich diesen rationalen Zusatz dadurch beibringen wollen, dass ich von den subversiven Forderungen der Beschäftigten zeigen zu können glaubte, sie entsprächen jener autonomen Struktur, die im Vollzug allen Arbeitshandelns „anthropologisch" eingebaut ist; aber ganz abgesehen davon, ob sich tatsächlich solche Widerstandspraktiken bei allen Arbeitenden empirisch nachweisen lassen, scheint es mir inzwischen doch sehr weit hergeholt, der Zwecktätigkeit als solcher eine handwerkliche Verfasstheit zu unterstellen. Von den meisten Tätigkeiten, die heute etwa im Dienstleistungsbereich erbracht werden, wüssten wir noch nicht einmal, was es heißen soll, dass sie von sich aus nach einer autonomen, rein sachbezogenen und vergegenständlichenden Ausführung verlangen: Es wird kein Produkt erstellt, in dem sich erworbene Fertigkeiten spiegeln könnten, sondern nur möglichst initiativreich auf die persönlichen oder anonymen Anforderungen derer reagiert, in deren Dienst die entsprechende Leistung ausgeführt wird. Mit anderen Worten, es ist äußerst abwegig, von allen gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten behaupten zu wollen, dass sie aus sich heraus auf eine vollbringende, organische Gestalt nach Art des handwerklichen Tuns angelegt sind. Etwas anderes wäre es hingegen, wenn wir mit Habermas unseren Blick weg von der Struktur der Arbeitstätigkeit auf die Normen der Arbeitsorganisation wandern lassen. Es ist ja nicht nur überraschend, dass der Autor der Theorie des kommunikativen Handelns hier plötzlich von „Normen" spricht, die die Organisation der gesellschaftlichen Arbeit durchziehen sollen, wäh9
10
A. Honneth, Arbeit und instrumentales Handeln, in: ders. u. U. Jaeggi (Hg.), Arbeit, Handlung, vität, Frankfurt/M. 1980.
Normati-
J. Habermas, „Replik auf Einwände" [1980], in: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M. 1984, S. 475-570, hier: S. 485, Fn. 14.
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rend doch ansonsten bei ihm nur von einem „normfreien System" des Funktionsbereichs der Wirtschaft die Rede ist; an der Habermasschen Formulierung ist vielmehr von ebenso großer Bedeutung, dass sie mit der Perspektivverschiebung die Frage entstehen lässt, ob nicht der modernen, kapitalistischen Organisation von Arbeit moralische Normen zu Grunde liegen, die für deren Funktionsfähigkeit genauso unverzichtbar sind wie die Normen der Verständigung fiir das Funktionieren einer modernen Lebenswelt. Nicht, dass das etwa der Blickwinkel sein soll, unter dem Habermas solche Normen der Arbeitsorganisation ins Spiel bringen würde; fiir ihn scheint vielmehr außer Frage zu stehen, dass diese Normen relativ beliebig sind und nur dem Ausgang des Konflikts zwischen Kapital und Arbeit unterstehen. Der Unterschied zwischen dem „System" und der „Lebenswelt" besteht doch für Habermas gerade darin, dass die Handlungskoordinierung dort nur über die Vermittlung von zweckrationalen, strategischen Einstellungen erfolgt, während sie hier an die Voraussetzung von moralischen Einstellungen gebunden ist; und daher kann Habermas der kapitalistischen Wirtschaftssphäre selbst dann nicht irgendeine moralische Infrastruktur unterstellen, wenn er gelegentlich einräumt, dass die moderne Arbeitsorganisation von gewissen Normen geprägt ist.11 Ganz anders stünde es um diese Verhältnisse freilich, wenn sich zeigen ließe, dass auch die Funktionsfahigkeit des kapitalistischen Arbeitsmarktes an die Voraussetzung eines ganzen Kranzes von moralischen Normen gebunden ist; dann nämlich entfiele nicht nur die kategoriale Entgegensetzung von „System" und „Lebenswelt", sondern es würde zugleich auch möglich, gegenüber den faktischen Arbeitsverhältnissen eine Perspektive der immanenten Kritik einzunehmen. Im Unterschied zur externen Kritik setzt eine immanente Form der Kritik voraus, so hatte ich gesagt, dass sich ein Maßstab finden lässt, der den kritisierten Verhältnissen selbst als ein gerechtfertigter, vernünftiger Anspruch innewohnt. Die Alternativen, die ich bislang geprüft habe, um ein solches Kriterium für die existierende Verfassung der Arbeitswelt zu gewinnen, haben sich in der ein oder anderen Hinsicht als untauglich erwiesen: Den stummen Protesten der Beschäftigten, die gegen die Fremdbestimmung ihrer Tätigkeit aufbegehren, fehlt als solchen jener Zusatz an nachweisbarer Verallgemeinerbarkeit, der sie erst zu gerechtfertigten Maßstäben einer immanenten Kritik machen würde; und von der Arbeitstätigkeit selbst behaupten zu wollen, dass sie auf Grund ihrer autochthonen, internen Struktur nach einer bestimmten Organisationsform verlange, scheint angesichts der Vielfalt gesellschaftlich notwendiger Verrichtungen ein unmögliches und abwegiges Unterfangen. Wenn diese theoretischen Wege aber versperrt sind, weil es ihnen daran mangelt, einen zugleich notwendigen und vernünftigen Anspruch zu begründen, dann bleibt aus meiner Sicht nur die Alternative, in der bestehenden Organisationsform der Arbeit selbst nach den Wurzeln eines solchen Vernunftanspruchs zu suchen. Allerdings macht es die damit angedeutete Argumentation erforderlich, den kapitalistischen Arbeitsmarkt nicht nur unter der funktionalistischen Perspektive der Steigerung von ökonomischer Effizienz zu betrachten; wenn wir uns auf diesen einen Blickwinkel beschränken, tritt an den Strukturen der modernen Arbeitsorganisation nämlich tatsächlich nur jene dünne Schicht von strategischen Regelungen zu Tage, auf die Habermas in seiner systemtheoretischen Konstruktion abgehoben hatte. Wird hingegen in die Betrachtung darüber hinaus die Perspektive einbezogen, dass der kapitalistische Arbeitsmarkt auch die Funktion der sozialen Integration zu erbringen hat, so ändert sich das Bild vollständig: Wir Vgl. dazu R. Münch, „Zahlung und Achtung. Die Interpénétration von Ökonomie und Moral", in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 23/1995, Heft 5, S. 388-411.
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stoßen auf eine Reihe von moralischen Normen, die der modernen Arbeitswelt in derselben Weise zu Grunde liegen wie die Normen des verständigungsorientierten Handelns der sozialen Lebenswelt. Ich will im Folgenden im Rückgriff auf eine heute weitgehend verschüttete Tradition versuchen, diese normative Basis der modernen Arbeitsorganisation freizulegen; auf dem damit beschrittenen Weg hoffe ich, die Möglichkeit einer immanenten Kritik der existierenden Arbeitsverhältnisse zurückzugewinnen.
II. Schon Hegel hat in seiner Rechtsphilosophie den Versuch unternommen, in den sich vor seinen Augen herausbildenden Strukturen der kapitalistischen Wirtschaftsorganisation die Elemente einer neuen Form der Sozialintegration zu entdecken. Für ihn stand es von Beginn an außer Frage, dass sich die Leistungen des nunmehr marktvermittelten Systems der Bedarfsdeckung nicht allein in Kategorien der ökonomischen Effizienz messen lassen dürfen; zwar steigert auch aus seiner Sicht die neue Institution des Marktes die Produktivität des wirtschaftlichen Handelns beträchtlich, aber ihre Funktion darf sich nicht auf diese eine, bloß äußerliche Leistung beschränken, weil sie ansonsten ohne jede sittliche Verankerung in der Gesellschaft, also ohne die erforderliche moralische Legitimation bleiben würde. Daher versucht Hegel zu zeigen, dass das ganze System eines marktvermittelten Austausche von eigener Arbeit gegen Mittel der Bedürfnisbefriedigung nur dann auf Zustimmung stoßen kann, wenn es bestimmte normative Bedingungen erfüllt. Die erste integrative Leistung der neuen Wirtschaftsform besteht für ihn darin, dass sie die „subjektive Selbstsucht" des Einzelnen in die individuelle Bereitschaft verwandelt, „zur Befriedigung der Bedürfnisse aller anderen" tätig zu sein 12 ; in dem Augenblick, in dem der ökonomische Bedarf der Bevölkerung durch Transaktionen auf einem anonymen Markt gedeckt werden soll, muss jedes (männliche) Gesellschaftsmitglied dazu bereit sein, persönliche Neigungen des Müßiggangs abzustreifen und durch eigene Arbeit zum allgemeinen Wohl beizutragen. Diese generalisierte Verpflichtung zur Leistungserbringung beinhaltet für Hegel, die eigenen Fähigkeiten und Begabungen nach Möglichkeit so zu entwickeln, dass sie der Vermehrung des „allgemeinen, bleibenden Vermögens" 13 zu Gute kommen können. Allerdings ist die Bereitschaft, auf solche Weise zum gesellschaftlichen Wohl beizutragen, nun umgekehrt an die Voraussetzung einer entsprechenden Gegenleistung geknüpft: Jeder Teilnehmer an dem marktvermittelten Leistungsaustausch hat „das Recht", „sein Brot zu verdienen" 14 , also sich und seine Familie auf dem kulturell gegebenen Niveau zu ernähren. Insofern erblickt Hegel die zweite normative Errungenschaft der neuen Wirtschaftsform darin, ein System der wechselseitigen Abhängigkeit zu schaffen, das die ökonomische Subsistenz aller seiner Mitglieder sichern muss; in der Sprache, die wir heute verwenden, ist die Erwartung der Leistungserbringung an die Bedingung der Gewährung eines Mindestlohns geknüpft, der 12
G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt/M. 1970, Theorie-Werkausgabe, § 199.
13
Ebd.
14
Ebd., § 236, Zusatz.
Bd. 7,
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die finanziellen Mittel zur ökonomischen Selbstständigkeit enthalten muss.15 Um den moralischen Stellenwert dieser internen Voraussetzungen zu betonen, bedient sich Hegel der von ihm geprägten Terminologie der Anerkennung: Im System des marktvermittelten Austauschsverhältnisses erkennen sich die Subjekte wechselseitig als privatautonome Wesen an, die füreinander tätig sind und auf diese Weise durch ihre sozialen Arbeitsbeiträge ihr Leben erhalten.' 6 Nun ist Hegel freilich schon hellsichtig genug, um auch die Entwicklungen der kapitalistischen Marktwirtschaft voraussehen zu können, die mit deren normativen Anerkennungsbedingungen in einen Widerspruch zu geraten drohen. Solange sich die gewinnorientierte Güterproduktion „in ungehinderter Wirksamkeit befindet", erzeugt sie über kurz oder lang das Problem, dass sich auf der einen Seite die „Reichtümer" in den Händen Weniger zu konzentrieren beginnen, während auf der anderen Seite bei der „großen Masse" „die Vereinzelung und Beschränktheit der besonderen Arbeit" zunimmt und damit „Abhängigkeit und Not" entsteht.17 Im „Pöbel" findet sich ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung vereinigt, der bar jeder Chance der marktvermittelten Anerkennung von Arbeitsleistungen ist und daher unter dem Mangel an „bürgerlicher Ehre" leidet. Hegel hält es aus Gründen, die mit seiner Einsicht in die normativen Bedingungen der neuen Wirtschaftsform zusammenhängen, für falsch, diese verarmten Schichten durch wohltätige Aufwendungen der Reichen „auf dem Stande" „einer ordentlichen Lebensweise zu erhalten": Solche sozialstaatlichen Transferleistungen hätten nämlich zur Folge, dass „die Subsistenz der Bedürftigen gesichert" würde, „ohne durch die Arbeit vermittelt zu sein, was gegen das Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft und des Gefühls ihrer Individuen von ihrer Selbstständigkeit und Ehre wäre". 18 Stattdessen schlägt Hegel bekanntlich vor, der kapitalistischen Marktwirtschaft zwei Organisationen zur Seite zu stellen, deren Aufgabe es ist, die normativen Bestandsvoraussetzungen der wechselseitigen Anerkennung und der „bürgerlichen Ehre" zu schützen: Während die „Polizey" die Funktion wahrnimmt, in den Wirtschaftsprozess einzugreifen, um zum Schutz der Betroffenen für ein ausgeglichenes Verhältnis von Angebot und Nachfrage zu sorgen, sollen sich die „Korporationen'" wie „berufsständische Genossenschaften" (Schmidt am Busch) dauerhaft dafür einsetzen, dass die Geschicklichkeiten und Fähigkeiten ihrer Mitglieder in „Ehre" gehalten werden und deren ökonomische Grundversorgung gesichert bleibt. Es sind aber nicht diese institutionellen Lösungen im Einzelnen, die an der Hegeischen Darstellung der kapitalistischen Arbeitsorganisation für uns von Interesse sein können; sowohl das, was er „Polizey" nennt, als auch die „Korporationen" sind organisatorische Gebilde, die in ihrem Zuschnitt und in ihrer Aufgabenstellung viel zu sehr der frühen Phase der kapitalistischen Industrialisierung angehören, als dass sie heute noch eine Vorbildfunktion übernehmen könnten. Für das hier verfolgte Ziel ist vielmehr von Bedeutung, dass Hegel die Anweisungen und das Design für diese korrektiven Institutionen nicht aus einem irgendwie äußerlichen Gesichtspunkt gewinnt, sondern den normativen Prinzipien des zu korrigierenden 15
Vgl. H.-Ch. Schmidt am Busch, Hegels Begriff der Arbeit,
Berlin 2002, S. 151. Dieser vorzüglichen Mo-
nographie verdanke ich eine Reihe von Anregungen für die folgende Argumentation. 16 17
Ebd., S. 5 9 - 6 5 . Die zitierten Formulieren dieses Satzes stammen aus: G. W. F. Hegel, Grundlinien
der Philosophie
Rechts, a. a. O., § 243 u. § 244. 18
Ebd., § 245; vgl. dazu auch H.-Ch. Schmidt am Busch, Hegels Begriff der Arbeit, a. a. O., S. 146.
des
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Wirtschaftssystems selbst entnimmt. Nach der Überzeugung Hegels gehört es zu den moralischen Bedingungen der kapitalistischen Arbeitsorganisation, dass die Arbeitsleistungen der Einzelnen nicht nur durch ein subsistenzsicherades Einkommen entlohnt werden, sondern auch ihrer Gestalt nach eine Form bewahren, die sie als in Geschicklichkeiten begründete Beiträge zum allgemeinen Wohl erkennbar sein lässt; die ganze Idee des wechselseitigen Austausche von Leistungen verlangt es, dass die einzelnen Tätigkeiten eine hinreichend komplexe, Fertigkeiten demonstrierende Struktur behalten, um sich der allgemeinen Anerkennung als würdig zu erweisen, die mit der „bürgerlichen Ehre" verknüpft ist. Daher müssen nach Hegel die „Korporationen" in den Augenblicken, in denen die Arbeitsvollzüge auf Grund von wirtschaftlichen Entwicklungen unter ein gewisses Niveau der erforderlichen Geschicklichkeiten und Selbstständigkeit sinken, eine Funktion wahrnehmen, die doch eigentlich die kapitalistische Marktwirtschaft von sich aus erfüllen müsste: Diese berufsständischen Organisationen haben nach innen und nach außen hin sicherzustellen, dass die Tüchtigkeiten ihrer Mitglieder genügend Pflege und öffentliche Aufmerksamkeit erhalten, um sich auch zukünftig allgemeiner Wertschätzung erfreuen zu können. Hegel lässt die Korporationen mithin eine Aufgabe übernehmen, die in den Bestandsvoraussetzungen der neuen Organisationsform gesellschaftlicher Arbeit selbst als ein normativer Anspruch verankert ist. Mit einer solchen normativen Aufladung der kapitalistischen Arbeitsorganisation setzt sich Hegel freilich einer Auffassung entgegen, die in der Entwicklung der neuen Wirtschaftsform genau den umgekehrten Prozess am Werk sieht: Statt zu einer Transformation der moralischen Verhältnisse soll nach dieser alternativen Deutung die Entwicklung der kapitalistischen Ökonomie zu einer Loslösung von aller lebensweltlichen Sittlichkeit fuhren. Schon zu Lebzeiten Hegels vertraten viele Theoretiker eine derartige These, aber erst von Karl Polanyi wird sie mehr als einhundert Jahre später auf den Begriff gebracht: Nach seiner Auffassung stellt die Entwicklung der kapitalistischen Marktwirtschaft einen Prozess dar, in dem der Bereich des wirtschaftlichen Handelns in dem Sinn „entbettet" wird, dass er von allen traditionalen Bräuchen und Moralvorschriften abgetrennt und damit vollkommen verselbstständigt wird." Im Gegensatz zu Hegel ist Polanyi der Überzeugung, dass mit der Durchsetzung eines allgemeinen Marktes für Arbeit und Güter ein „selbstregulativer Mechanismus" geschaffen wird, der überhaupt keine Form der moralischen Beschränkung duldet; hier herrscht aus seiner Sicht allein das Gesetz von Angebot und Nachfrage, sodass auch die gesellschaftliche Arbeit stets nur in der Weise organisiert und in dem Maße entlohnt wird, wie es fur die momentan profitable Absetzung von Gütern gerade erforderlich ist. Es bedarf keiner großen gedanklichen Anstrengung, um sich klar zu machen, dass mit der Richtigkeit einer solchen These die hier verfolgte Strategie hinfällig würde: Wenn es nämlich so wäre, wie Polanyi behauptet, dass mit der Herausbildung der kapitalistischen Wirtschaft auch die Organisation der Arbeit vollständig den Marktgesetzen unterworfen würde, dann ließe sich von einer irgendwie gearteten Normativität dieses neuen Vergesellschaftungsmodus der Arbeit nicht mehr reden - und damit wäre natürlich auch keine Chance mehr gegeben, eine Kritik der existierenden Arbeitsverhältnisse in den moralischen Prinzipien der kapitalistischen Arbeitsorganisation selbst zu verankern. Nun ist allerdings in den letzten Jahren die Entbettungsthese von Polanyi, die zunächst mit großer Selbstverständlichkeit akzeptiert worden war, zunehmend wieder in Zweifel gezogen worden. Die Kritik nimmt ihren Ausgang von der wirtschaftssoziologischen Beobachtung, 19
K. Polanyi, The Great Transformation, Frankfurt/M. 1978, vor allem zweiter Teil, Kap. 5.
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dass die Koordinierung sozialen Handelns durch Märkte mit einer Reihe von Problemen konfrontiert ist, die sich letztlich nur durch die Vorschaltung institutioneller und normativer Regelungen lösen lassen: Die Marktakteure wüssten gar nicht, an welche Parameter sie sich bei ihren angeblich rein zweckrationalen Erwägungen halten sollten, wenn es nicht vorweg zwischen den Beteiligten ein gewisses Einverständnis in Hinblick auf den Wert bestimmter Güter, die Regeln eines fairen Austausche und die Zuverlässigkeit der Erwartungserfüllung gäbe.20 Diese „soziale Ordnung" von Märkten, wie es in der neueren Terminologie heißt, umfasst mithin nicht nur positiv-rechtliche Vorschriften und Grundsätze, die die Bedingungen der Vertragsfreiheit und des wirtschaftlichen Austausche festlegen; vielmehr gehören dazu auch eine Reihe von ungeschriebenen, nicht ausdrücklich formulierten Normen und Regeln, die vor jeder marktvermittelten Transaktion implizit bestimmen, wie der Wert bestimmter Güter einzuschätzen und worauf bei deren Austausch legitimerweise zu achten ist. Wahrscheinlich ist es am sinnvollsten, diese wechselseitigen Unterstellungen als normative Handlungsgewissheiten zu verstehen, die die Akteure überhaupt erst dazu motivieren, ein bestimmtes Tauschgeschäft in Angriff zu nehmen; nicht immer müssen solche Erwartungen dann faktisch auch erfüllt werden, nicht immer werden sie sich im Vollzug der Transaktion als enttäuschungsfest erweisen, gleichwohl bilden sie zusammengenommen den kulturellen und normativen Interpretationsrahmen, in dem das Marktgeschehen zwangsläufig eingebettet ist. Im Lichte einer solchen These, die der Auffassung von Karl Polanyi beinah diametral entgegengesetzt ist 2 ', lässt sich die Hegeische Bestimmung der kapitalistischen Arbeitsorganisation nun in einer etwas genaueren, wirtschaftssoziologisch geläuterten Form wiedergeben: Die Strukturen eines kapitalistischen Arbeitsmarktes haben sich zunächst nur unter der höchst anspruchsvollen, moralischen Voraussetzung herausbilden können, dass die von ihnen erfassten Schichten die legitime Erwartung einer subsistenzsichernden Entlohnung und einer anerkennungswürdigen Arbeit hegen konnten. Das neue System des Marktes, so möchte Hegel sagen, kann nur unter den zwei Bedingungen normative Zustimmung von den Betroffenen beanspruchen, dass es erstens die erwerbsmäßig erbrachte Arbeit mit einem Mindestlohn ausstattet und zweitens den vollzogenen Tätigkeiten eine Gestalt gibt, die sie als Beiträge zum allgemeinen Wohl erkennbar sein lässt. Die größte Schwierigkeit beim Verständnis des Status dieser normativen Präsuppositionen bereitet wohl der Umstand, dass sie einerseits auf die faktische Wirtschaftsentwicklung nur geringen Einfluss genommen haben und andererseits in ihr doch von allgemeiner Geltung sein sollen. Was soll es heißen, dass die kapitalistische Arbeitsorganisation in einen Horizont von legitimitätssichernden moralischen Normen eingebettet ist, wenn diese doch auch aus der 20
21
Vgl. exemplarisch J. Beckert, „Die soziale Ordnung von Märkten", in: ders. u. a. (Hg.), Märkte als soziale Strukturen, Frankfurt/M. 2007, S. 43-62. Einen guten Überblick über diese Debatte verschafft: Ch. Deutschmann, „Unsicherheit und soziale Einbettung: konzeptuelle Probleme der Wirtschaftssoziologie", in: J. Beckert (Hg.), Märkte als soziale Strukturen, a. a. O., S. 79-93. In Zusammenhang mit dieser Debatte ist natürlich auch Talcott Parsons zu nennen, der ebenfalls von einer Reihe normativer Voraussetzungen des Marktgeschehens ausgeht: ders., Die „Motivierung des wirtschaftlichen Handelns", in: ders., Soziologische Theorie, Neuwied am Rhein 1964, S. 136-159. Im Übrigen verwendet Parsons hier schon an zentraler Stelle den Begriff der „Anerkennung" (ebd., S. 146 f.), weil jene normativen Bedingungen aus seiner Sicht sicherstellen müssen, dass die Erwerbstätigen sich wechselseitig in der Erfüllung ihrer Arbeitsrollen anerkennen und damit zur notwendigen „Selbstachtung" gelangen.
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Hegeischen Sicht eine Verselbstständigung der bloß gewinnorientierten Produktion kaum haben verhindern können? Eine Auflösung des damit umrissenen Widerspruchs kann nach dem bislang Gesagten nur darin bestehen, die besagten Normen als eine kontrafaktische Geltungsgrundlage der kapitalistischen Organisation der Arbeit zu verstehen: Weil alle Beteiligten nur dann eine Chance haben, den Sinn der neuen Wirtschaftsform zu verstehen und als im „allgemeinen Wohl" zu betrachten, wenn sie dabei gedanklich die beiden von Hegel freigelegten Normen voraussetzen, ruht die marktvermittelte Organisation der Arbeit auf normativen Bedingungen auf, die auch bei faktischer Außerkraftsetzung ihre Geltung nicht verlieren. Hier von einer „Einbettung" zu reden, bedeutet also, das Funktionieren des kapitalistischen Arbeitsmarktes von normativen Bedingungen abhängig zu machen, die er selbst nicht zwangsläufig erfüllen können muss: Das Geschehen auf dem weitgehend undurchsichtigen Markt des Austausche von Arbeit vollzieht sich unter der Voraussetzung von moralischen Normen, die auch dann in Geltung bleiben, wenn die historische Entwicklung gegen sie verstößt. Zugleich bilden diese normativen Hintergrundgewissheiten aber auch die moralische Ressource, auf die die Akteure zurückgreifen können, wenn sie die existierenden Regelungen der kapitalistischen Arbeitsorganisation in Frage stellen wollen: Es bedarf dann nicht der Berufung auf ein Reich jenseitiger Werte oder universalistischer Prinzipien, sondern nur einer Mobilisierung jener impliziten Normen, die als Verstehens- und Akzeptanzbedingung in die Verfassung des modernen Arbeitsmarktes eingelassen sind. Alle sozialen Bewegungen, die in der Vergangenheit gegen unzumutbare Lohnbedingungen oder die Dequalifizierung der Arbeit aufbegehrt haben, müssten zu diesem Zweck im Prinzip nur das moralische Vokabular benutzen, das in der Hegeischen Analyse schon rudimentär angelegt war: Es ging um Ziele wie die Verteidigung von hinreichend komplexen, nicht vollkommen fremdbestimmten Arbeitsplätzen oder die Erkämpfung subsistenzsichernder Einkommen, also durchweg normativen Ansprüchen, die Hegel im Begriff der „bürgerlichen Ehre" zusammengefasst hatte. Allerdings reichen die von ihm entwickelten Bestimmungen nun sicherlich noch nicht aus, um tatsächlich alle historisch umkämpften Missstände an der kapitalistischen Arbeitswelt normativ zu erfassen; sein Blick ist zwar auf die neuen Formen der Anerkennung gerichtet, die der kapitalistische Markt allen männlichen Erwachsenen bieten soll, aber der Rückgriff auf das kompensatorische Heilmittel der „Korporationen" lässt ihn doch schnell aus den Augen verlieren, dass für die Masse der Beschäftigen die zentrale Erfahrung bald schon die Entleerung der Erwerbsarbeit von allen qualitativen Inhalten sein sollte. Einen energischen Versuch, auch Forderungen nach einer qualitativ sinnvollen Arbeit als immanente Ansprüche der neuen Wirtschaftsform zu begreifen, unternimmt erst achtzig Jahre später Emile Durkheim.22 Wie Hegel untersucht auch Durkheim die Strukturen der kapitalistischen Arbeitsorganisation primär unter dem Gesichtspunkt, welchen Beitrag sie zur sozialen Integration moderner Gesellschaften leisten können; und nicht anders als sein Vorgänger stößt er dabei auf eine Reihe von normativen Bedingungen, die den marktvermittelten Austauschbeziehungen in der eigentümlichen Form von kontrafaktischen Unterstellungen und Idealen zu Grunde liegen sollen.23 Durkheim lässt sich in seiner Studie Über die Teilung der sozialen Arbeit von der Frage leiten, ob die Gesellschaften der Moderne mit ihrer stetig wachsenden, 22
E. Durkheim, Über die Teilung der sozialen Arbeit, Frankfurt/M. 1977.
23
Ich gehe hier auf die verschiedenen Schwierigkeiten, die Dürkheims Analyse aufweist, nicht näher ein. Hilfreiche Überblicke geben: St. Lukes, Emile Durkheim, London 1973, Kap.7; H.-P. Müller, „Die Moral-
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zunehmend marktförmig organisierten Arbeitsteilung noch dazu in der Lage sind, unter ihren Mitgliedern ein Gefühl der Solidarität, der sozialen Zusammengehörigkeit zu schaffen; wie der Autor der Rechtsphilosophie ist er nämlich der Überzeugung, dass die bloße Aussicht auf ökonomisches Wachstum und wirtschaftliche Effizienz nicht ausreicht, um die neue Wirtschaftsform mit der Art von moralischer Legitimation auszustatten, die fur die soziale Integration erforderlich ist. In seiner Argumentation verfolgt Durkheim nun nicht etwa die Strategie, nach Quellen der Solidarität außerhalb jener sozialen Wirtschaftsorganisation zu suchen, die den Bezugspunkt seiner Analyse bildet; nichts liegt ihm ferner, als eine moderne Form der Zivilreligion oder des Kollektivethos zu umreißen, um damit den drohenden Mangel an sozialen Bindungskräften zu beheben. Stattdessen macht Durkheim sich an den Versuch, in den Strukturen der neuen, kapitalistischen Arbeitsorganisation selbst die Bedingungen zu identifizieren, die zu einem veränderten Bewusstsein sozialer Zusammengehörigkeit fuhren könnten: Die Solidarität, die nötig ist, um auch moderne Gesellschaften sozial zu integrieren, soll nicht aus Quellen der moralischen oder religiösen Tradition, sondern der ökonomischen Wirklichkeit fließen. Nun verlangt aber ein solches Vorgehen dieselbe Art von methodischer Operation, zu der schon Hegel sich veranlasst gesehen hat, als er die ökonomischen Strukturen der „bürgerlichen Gesellschaft" analysierten wollte: Die kapitalistische Organisation der Arbeit darf nicht in ihrer zufalligen, empirisch gegebenen Gestalt präsentiert, sondern muss in den normativen Zügen zur Darstellung gebracht werden, die ihre öffentliche Rechtfertigkeit ausmachen; würde es nämlich nur beim Ersten bleiben, also der bloß empirischen Wiedergabe, so ließe sich nicht einsichtig machen, warum die neue Wirtschaftsform eine Quelle der sittlichen Integration oder der Solidarität sein sollte. Aus diesem Grund unternimmt Durkheim in seiner stilisierten Analyse der modernen Arbeitsteilung über weite Strecken nichts anderes, als was auch Hegel in seiner dialektischen Darstellung der wirtschaftsliberalen Verhältnisse des sich durchsetzenden Kapitalismus geleistet hatte24: Es wird vorgeführt, dass unter den neuen ökonomischen Bedingungen jedes erwachsene Mitglied der Gesellschaft einen Anspruch darauf hat, einen arbeitsteiligen Beitrag zum allgemeinen Wohlstand zu leisten, für den ihm im Gegenzug ein angemessenes, mindestens subsistenzsicherndes Einkommen zusteht. Zwar verwendet Durkheim nicht die Sprache der Anerkennung, aber der Kern seines Arguments lässt sich ohne weiteres mit ihrer Hilfe wiedergeben: Mit der marktvermittelten Arbeitsteilung entstehen soziale Verhältnisse, in denen die Gesellschaftsmitglieder deswegen eine besondere, „organisch" genannte Form der Solidarität ausbilden können, weil sie sich in der wechselseitigen Anerkennung ihrer jeweiligen Beiträge zum gemeinsamen Wohlstand aufeinander bezogen wissen. Während Hegel in seiner Analyse freilich vor allem auf die ökonomische Selbstständigkeit der Marktteilnehmer abgehoben hatte, die er durch subsistenzsichernde Einkommen gewahrt sehen wollte, legt Durkheim besonderes Gewicht auf die Fairness und Transparenz der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Nach seiner Überzeugung kann die neue Wirtschaftsform die Funktion der sozialen Integration nur dann übernehmen, wenn sie zwei
Ökonomie moderner Gesellschaften", in: E. Durkheim, Physik der Sitten und des Rechts, Frankfurt/M. 1999, S. 307-341. 24
Auf die Nähe zu Hegel macht Steven Lukes indirekt aufmerksam, indem er verschiedentlich auf die Parallele zwischen Dürkheims Analyse und derjenigen des britischen Neohegelianers T. H. Green verweist: St. Lukes, Emile Durkheim, a. a. 0 . , S. 265, S. 271, 300.
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moralische Bedingungen erfüllt, die als kontrafaktische Unterstellungen in allen Austauschbeziehungen des Arbeitsmarktes wirksam sind; damit die Beschäftigten den Arbeitsverträgen tatsächlich aus freien Stücken zustimmen können, muss erstens ständig dafür gesorgt sein, dass gleiche Ausgangsbedingungen bei dem Erwerb der notwendigen Qualifikationen herrschen und alle sozialen Beiträge gemäß ihres realen Werts fur die Gemeinschaft entlohnt werden. 25 Gerechtigkeit und Fairness sind somit fur Durkheim keine normativen Ideale, die von außen an die kapitalistische Arbeitsorganisation herangetragen würden, sondern bilden innerhalb ihres Rahmens funktional notwendige Unterstellungen, ohne deren Inkraftsetzung ein Bewusstsein sozialer Zusammengehörigkeit nicht entstehen könnte. Genauso bestellt ist es um die zweite normative Bestimmung, die Durkheim bei seinem Versuch ins Spiel bringt, einen Überblick über die moralischen Bestandsvoraussetzungen der neuen Wirtschaftsform zu gewinnen: Die marktvermittelten Arbeitsverhältnisse müssen, um die Funktion der sozialen Integration erfüllen zu können, nicht nur gerecht und fair organisiert sein, sondern auch der Forderung genügen, die einzelnen Tätigkeiten möglichst transparent und übersichtlich aufeinander zu beziehen. Es ist diese Stelle, an der Durkheim einen entscheidenden Schritt über Hegel hinausgeht, indem er in seiner Analyse zugleich ein Kriterium für die erforderliche Gestaltung der individuellen Tätigkeiten liefert. Der Gedankengang, mit dem Durkheim seine These begründet, setzt wieder bei dem Befund an, dass die neuen Arbeitsverhältnisse nur dann „organische" Formen der Solidarität erzeugen können, wenn sie von allen Beschäftigten als eine gemeinsame, kooperative Anstrengung zum allgemeinen Wohl erfahren werden: Um diesem Umstand Genüge leisten zu können, so argumentiert Durkheim nun weiter, ist es aber erforderlich, dass von jedem einzelnen Arbeitsplatz aus überblickt werden kann, in welchem kooperativen Zusammenhang die eigene Tätigkeit mit der aller anderen Beschäftigen steht; das jedoch ist nach Durkheim wiederum nur möglich, wenn die verschiedenen Arbeitsvollzüge so komplex und anspruchsvoll sind, dass sie der Einzelne aus seiner Perspektive mit dem Rest der gesellschaftlich notwendigen Arbeiten in einen halbwegs sinnvollen Zusammenhang bringen kann. Insofern zögert Durkheim nicht, die Forderung nach einer qualitätsreichen, sinnvollen Arbeit als einen Anspruch zu begreifen, der in den normativen Bedingungen des kapitalistischen Wirtschaftssystems selbst verankert ist: „Die Arbeitsteilung setzt voraus, daß der Arbeiter, statt über seine Aufgabe gebeugt zu bleiben, seine Mitarbeiter nicht aus den Augen verliert, auf sie einwirkt und von ihnen beeinflußt wird. Er ist also keine Maschine, die Bewegungen ausfuhrt, deren Richtung er nicht kennt, sondern er weiß, daß sie irgendwohin tendieren, auf ein Ziel, das er mehr oder weniger deutlich begreift. Er fühlt, daß er zu etwas dient." 26 Es mag sein, dass auch Hegel solche Vorstellungen vor Augen hatte, als er von der „bürgerlichen Ehre" als der Form von Anerkennung sprach, die jedem Mitglied der marktvermittelten Arbeitsgesellschaft zusteht; aber erst Durkheim ist konsequent genug, die normativen Implikationen der neuen Vergesellschaftungsform soweit auszubuchstabieren, dass auch Ansprüche auf eine als sinnvoll erlebbare Arbeit darunter fallen. 27
25
E. Durkheim, Über die Teilung der sozialen Arbeit, a. a. O., S. 422-429.
26
Ebd., S. 415.
27
Dass Durkheim sich all dieser normativen Implikationen seiner soziologischen Analyse durchaus bewusst war, macht ein kurzer Text aus dem Jahr 1898 deutlich: E. Durkheim, L'individualisme et les intellectuels,
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III. Die heute existierenden, zunehmend deregulierten Arbeitsverhältnisse scheinen den Ausführungen, die sich bei Hegel und Durkheim über die moralische Infrastruktur der kapitalistischen Wirtschaftsform finden lassen, Hohn zu sprechen: Die faktische Situation der gesellschaftlichen Arbeit, sei es in den postfordistischen Produktionsregimen des demokratischen Westens oder in den Billiglohnländern der Zweiten und Dritten Welt, ist von derartig unzumutbaren, belastenden Bedingungen geprägt, dass jede Forderung nach einer nachhaltigen Verbesserung wie die Berufung auf ein „abstraktes Sollen" klingen muss. Von einer wirksamen, praktisch folgenreichen Kritik dieser Arbeitsverhältnisse sind wir heute, so hatte ich schon gleich zu Beginn gesagt, weiter entfernt als jemals zuvor in der Geschichte kapitalistischer Gesellschaften. Gleichwohl haben die Analysen von Hegel und Durkheim nicht etwa jede Bedeutung verloren; wenn wir die neueren Entwicklungen in der Wirtschaftssoziologie oder im ökonomischen Institutionalismus hinnehmen, so wird im Augenblick theoretisch sogar immer deutlicher, dass der kapitalistische Arbeitsmarkt von normativen Bedingungen abhängig ist, die nur hinter einem Schleier von Beschwörungen der „selbstregulativen Kräfte des Marktes" verborgen sind. Allerdings ist nicht alles, was sich in der veränderten Perspektive dieser neueren Disziplinen an vorökonomischen Voraussetzungen des Marktes zeigt, zugleich auch von moralischer Natur; die Mehrzahl der Regelungen, die hier analysiert werden, um die Abhängigkeit des Marktes von ihm fremden Bedingungen zu beweisen, besitzt eher den Charakter von institutionellen Konventionen und sozialen Netzwerken. 28 Auf die im engeren Sinn moralischen Normen stoßen wir hingegen erst, wenn wir mit Hegel und Durkheim die Überzeugung teilen, dass der kapitalistische Arbeitsmarkt nicht nur ein Mittel der ökonomischen Effizienzsteigerung, sondern auch ein Medium der Sozialintegration zu bilden hat; denn nur unter dieser einen, keinesfalls selbstverständlichen Prämisse tritt zu Tage, dass das Funktionieren jenes Marktes von der Erfüllung moralischer Versprechen abhängig ist, die mit Begriffen wie „bürgerliche Ehre", „Leistungsgerechtigkeit" und „sinnvolle Arbeit" beschrieben werden müssen. Insofern hängt bei der Beantwortung der Frage, ob wir über immanente Kriterien der Kritik existierender Arbeitsverhältnisse verfügen, alles von der Entscheidung darüber ab, den kapitalistischen Markt entweder unter dem Blickwinkel der Systemintegration oder dem der Sozialintegration zu analysieren: Beschränken wir uns auf die erste Perspektive, so zeigen sich am Markt zwar vorökonomische Bedingungen und Regelungen, aber keine moralischen Prinzipien; lassen wir uns hingegen von der zweiten Perspektive leiten, so treten an demselben Markt all die moralischen Implikationen hervor, die nach Hegel und Durkheim seine normative Einbettung in die soziale Lebenswelt garantierten. Hier, an dieser einen Stelle, an der es um die Wahl zwischen zwei Perspektiven geht, kommen die Stimmen der Betroffenen vielleicht doch noch einmal in legitimer Weise zum Tragen. Zwar hatte sich im Verlauf meiner Argumentation gezeigt, dass wir uns nicht einfach auf die Urteile der Beschäftigten stützen können, um eine Kritik der gegebenen Arbeitsverhältnisse zu rechtfertigen; einer solchen Form der Begründung würde es an jedem Argument dafür dt. Übersetzung in: H. Bertram (Hg.), Gesellschaftlicher 1986, S. 5 4 - 7 0 . 28
Zwang und moralische
Autonomie,
Frankfurt/M.
M. Granovetter, „Economic Action and Social Structure: The Problem of Embeddedness", in: Journal of Sociology,
91 (3), 1985, S. 4 8 1 - 5 1 0 .
American
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fehlen, warum den öffentlich vorgetragenen Klagen und Beschwerden überhaupt irgendeine Art der moralischen Geltung zukommen sollte. Aber vielleicht lässt sich das Unbehagen der Betroffenen auf einer höheren Stufe doch wieder ins Spiel bringen, dort nämlich, wo es nicht als normative Quelle der Kritik, sondern als Entscheidungshilfe bei der Wahl zwischen den beiden genannten Perspektiven genommen wird. Die Entscheidung darüber, ob angesichts des kapitalistischen Arbeitsmarktes eher der Blickwinkel der Systemintegration oder der der Sozialintegration vorzuziehen sei, kann ja nicht einfach der Willkür des einzelnen Theoretikers überlassen sein; er muss seine Wahl vielmehr mit Blick darauf rechtfertigen, welche der beiden Perspektiven zur Erklärung des betreffenden Gegenstandsbereichs besser geeignet ist. Solange aber die Beschäftigten gegen unzumutbare Arbeitsbedingungen aufbegehren, solange die Mehrzahl der Bevölkerung unter den existierenden Arbeitsverhältnissen leidet29, spricht wenig dafür, den kapitalistischen Arbeitsmarkt nur unter dem Gesichtspunkt der Effizienzsteigerung zu analysieren; zumindest die „Söhne (und Töchter) der bürgerlichen Gesellschaft" scheinen, um einen Satz Hegels abzuwandeln, der Überzeugung zu sein, dass der Markt „ebensosehr Ansprüche an [sie] hat, wie [sie] Rechte auf [ihn] haben". 30 Auf jeden Fall sind die Reaktionen derer, die die Arbeitsmärkte des gegenwärtigen Kapitalismus bevölkern, nur angemessen zu erklären, wenn anstatt der Perspektive der Systemintegration diejenige der Sozialintegration eingenommen wird; denn dass unter den existierenden Umständen gelitten wird und nicht vielmehr bloß Indifferenz herrscht, dass gekämpft und aufbegehrt und nicht bloß mit strategischer Apathie reagiert wird, lässt sich überhaupt nur dann verstehen, wenn der Markt weiterhin als Teil der sozialen Lebenswelt analysiert wird. Machen wir uns eine derartige Perspektive aber zu Eigen, so treten am kapitalistischen Arbeitsmarkt all die moralischen Bedingungen zu Tage, die ich hier mit Hegel und Durkheim rekonstruiert habe; und es gibt wenig Gründe, heute unter dem Druck der Verhältnisse dieses Reservoir an moralischen Prinzipien der Arbeitswelt preiszugeben.
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P. Bourdieu u. a., Das Elend der Welt, Konstanz 1997. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a. a. O., § 238. Ein Auszug aus diesem Aufsatz ist bereits erschienen in: polar, Heft 4/2008, S. 13-20; der vollständige Text wurde zuerst veröffentlicht in: Deutsche Zeitschriftßr Philosophie, 56 (2008) 3, S. 327-341. - Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlages.
EMMANUEL RENAULT
Das Erbe der Kritischen Theorie: Lässt Marx sich über die Anerkennungstheorie retten?
Axel Honneth sieht in der Konzeption seiner Anerkennungstheorie einen Weg, der Habermas'schen Wendung zum Kommunikativen eine andere Richtung zu geben, indem er an den ursprünglichen Entwurf der Kritischen Theorie anknüpft, wie Horkheimer ihn vornehmlich in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelt hatte1. Von daher verwundert es nicht, wenn die strittige Frage, in welchem Verhältnis die Anerkennungstheorie zum ursprünglichen Entwurf der Kritischen Theorie steht, oft zu dem Problem überleitet, welchen Bezug sie zu Marx hat. Der Begriff der Kritischen Theorie umfasst heute gegensätzliche theoretische Ansätze selbst bei denen, die eine Frankfurter Tradition für sich in Anspruch nehmen. Gleichzeitig ist dieser Begriff Zielscheibe zahlreicher Konflikte, in die theoretische und politische Divergenzen, aber auch Strategien der Erbschleicherei Eingang finden. Unter denen, die sich auf eine Frankfurter Tradition berufen, finden sich Anhänger der Anerkennungstheorie, aber auch Unparteiische und Gegner, wobei für letztere oft entscheidend ist, wie diese Theorie sich zu Marx verhält. Die aus diesem Blickwinkel an Honneth gerichteten Vorwürfe sind verschiedener Natur. Sie gelten der von ihm propagierten Form der Marx-Rezeption: Hier beklagt man mitunter dieselbe Schieflage wie die in den Interpretationen der Gründungsväter Horkheimer und Adorno sowie die bei Habermas, von dem er inspiriert wurde 2 . Die Vorwürfe gegen Honneth richten sich ebenso darauf, was er vom Marxschen Vorhaben beibehält bzw. fallen lässt. Man wendet ein, dass die normative Philosophie die Gesellschaftstheorie zu verdrängen scheint3, doch lasten manche der Gesellschaftstheorie auch an, dass sie nach einem allzu engen interaktionistischen Modell verfasst sei4, und wieder andere machen geltend, dass die Analyse der sozialen Konflikte die Wirksamkeit von Strukturkomponenten unterschätze, die üblicherweise unter Begriffen wie Ideologie, soziale Klassen und Kapitalismus erfasst werden 5 . Sehr oft sind diese Kritiken 1
2
Siehe insbesondere A. Honneth, „Die soziale Dynamik von Missachtung. Zur Ortsbestimmung einer kritischen Gesellschaftstheorie", in: Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Philosophie, Frankfurt/M. 2000, S. 8 8 - 1 0 9 . Siehe z. B. H. Müller, „Praxisphilosophie oder Intersubjektivitätstheorie? Replik zur Erhellung eines philosophischen Grundlagenproblems", www.praxisphilosophie.de/honneth.pdf
3
Dies war namentlich die Position von Jean-Marie Vincent, siehe z. B. „Nouveaux regards sur l'héritage critique d'Adorno", in: L'humanité,
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10/06/2003.
J.-Ph. Deranty, „Les horizons marxistes de la théorie de la reconnaissance", Actuel Marx, Nr. 38, 2005, S. 159-178. R. Forster, „Recognition and Resistance. Axel Honneth's critical social theory", in: Radical Nr. 94, 1999, S. 6 - 1 8 .
Philosophy,
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von der Überzeugung getragen, man solle streng unterscheiden zwischen der wirklichen Kritischen Theorie der Gründungsväter, die stets eine Verbindung mit den Marxschen Intentionen beibehalten habe, und der angeblichen kritischen Theorie derer, die im Gefolge von Habermas die Wende zum Kommunikativen mitvollzogen hätten 6 . Der Verschiedenartigkeit dieser Kritiken entsprechen dann auch Unterschiede in den Konsequenzen: Während die einen daraus herleiten, man müsse das Paradigma der Anerkennung aufgeben, schließen die anderen auf die Notwendigkeit, es neu zu formulieren oder in einen umfassenderen theoretischen Rahmen einzubinden. In seinen ersten Publikationen hat Honneth sein eigenes Vorhaben als Form einer „rettenden Kritik" des Marxismus vorgestellt 7 . Nach Formulierung seiner Anerkennungstheorie hat er sich dann auf eine breitere Tradition als die der Kritischen Theorie berufen, in der Marx stets ein zentrales Element darstellte: Der Kampf um Anerkennung ist von einer Tradition getragen, welche die Entwicklung der Gesellschaften unter dem Aspekt von Konflikten nachvollziehen will, die normative Komponenten beinhalten. Und diese Tradition verbindet sich für Honneth in erster Linie mit den Namen Marx, Sorel und Sartre. In späteren Artikeln geht es dann um die linkshegelianische Tradition, wie sie von den Junghegelianern ins Leben gerufen wurde und die es heute in Form eines Neuhegelianismus zu aktualisieren gelte8. In mehreren neueren Schriften scheint er außerdem den Versuch zu unternehmen, einigen von Marx inspirierten Kritiken zu entgegnen. So verfolgt er in der Einleitung zur Diskussion mit Nancy Fraser ausdrücklich das Ziel, eine der grundsätzlichen Schwächen der Kritischen Theorie zu beheben, nämlich ihre mangelnde Berücksichtigung der Politischen Ökonomie 9 . In zwei kürzlich erschienenen Schriften, dem Artikel „Anerkennung als Ideologie" 10 und in der Abhandlung Verdinglichung11 ist Honneth bemüht, die Marxschen Themen von Ideologie und Verdinglichung in den Rahmen seiner Theorie einzubinden, war es doch die Ausblendung dieser Themen, in der manch einer einen Hinweis auf eine allgemeine Unzulänglichkeit gesehen hatte. Und in einem jüngst gemeinsam mit Martin Hartmann unter der Überschrift „Paradoxien des Kapitalismus" 12 verfassten Artikel lässt Honneth sich schließlich auf das Projekt einer historischen Diagnostik ein, die bei einer Theorie der Wandlungsprozesse des
6
Die Frage des Verhältnisses zu Habermas spaltet auch weiterhin die Kritische Theorie. Unter diesem Gesichtspunkt hat sich nichts geändert seit der Situation, die Helmut Dubiel in „Der Streit um die Erbschaft der kritischen Theorie", analysiert hat; siehe: Ungewissheit und Politik, Frankfurt/M. 1994, S. 230-247.
7
A. Honneth, Die zerrissene Welt des Sozialen: Sozialphilosophische Aufsätze, Frankfurt/M. 1990. Hinsichtlich weiterer Texte, welche die zu diesem Zeitpunkt vertretene Position zum Ausdruck bringen, siehe „Domination and Moral Struggle: The Philosophical Heritage of Marxism Reviewed", und „Work and Instrumental Action: On the Normative Basis of Critical Theory", in: The Fragmented World of the Social, New York, S. 3-14, 15-50, sowie „Eine Welt der Zerrissenheit. Zur untergründigen Aktualität von Lukacs' Frühwerk", in: Die zerrissene Welt des Sozialen: Sozialphilosophische Aufsätze, a. a. O., S. 9 - 2 4 und „Moralbewusstsein und soziale Klassenherrschaft. Einige Schwierigkeiten in der Analyse normativer Handlungspotentiale", in: Das Andere der Gerechtigkeit, a. a. O., S. 110-129.
8
Vgl. die Beiträge in: A. Honneth, Pathologien der Vernunft. Geschichte und Gegenwart der Kritischen Theorie, Frankfurt/M. 2007. Siehe auch ders., Leiden an Unbestimmtheit, Stuttgart, Leipzig 2001.
9
N. Fraser, Α. Honneth, Umverteilung oder Anerkennung,
Frankfurt/M. 2004, S, 7-11.
10
A. Honneth, „Anerkennung als Ideologie", in: WestEnd, Nr. 1, 2004, S. 51-70.
11
Ders., Verdinglichung, Frankfurt/M. 2006.
12
A. Honneth, M. Hartmann, „Paradoxes of Capitalism", Constellations,
Bd. 13, Nr. 1, 2006, S. 41-58.
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Kapitalismus ansetzt. Wenn sich in den beschriebenen Fortentwicklungen eine unleugbare Kontinuität mit bestimmten Zielen aus den Ursprüngen der Kritischen Theorie spiegelt, so fuhren sie uns doch auch vor Augen, dass der Anerkennungstheorie heute einige Alternativen offen stehen, bei denen der Bezug zu Marx erhellend sein kann. Im Folgenden betrachten wir Alternativen zum a) Verhältnis von normativer Philosophie und Gesellschaftstheorie, b) Verhältnis von Gesellschaftstheorie und Theorie sozialer Bewegungen, c) Verhältnis von Interaktion und Sozialstrukturen, d) zur gegenwartsbezogenen historischen Diagnostik.
Normative Philosophie oder Gesellschaftstheorie? Einer der am häufigsten gegen die Anerkennungstheorie erhobenen Vorwürfe lautet, dass sie die Kritische Theorie auf eine Reflexion über die Normen der Kritik reduziere und damit eine von Habermas geerbte Tendenz weiterführe. An Adorno wie auch an Foucault hat Habermas beanstandet, dass sie die normativen Präsuppositionen ihrer kritischen Modelle nicht explizieren und sogar normative Prinzipien voraussetzen, die manch einer ihrer fundamentalen Thesen widersprechen. Das Bemühen, normative Reflexion und Gesellschaftstheorie miteinander zu verknüpfen - ein Anliegen, das in der Theorie des kommunikativen Handelns noch einen zentralen Stellenwert hatte - sei später dem Grunde nach zugunsten von Überlegungen aufgegeben worden, die ausschließlich den Bereichen der Moralphilosophie und Rechtstheorie zuzuordnen sind. Wenn die einen Honneth ein Lob dafür aussprechen, dass er den Blickwinkel der Theorie des kommunikativen Handelns aufrechtzuerhalten versuche, um sich gleichwohl manch einer ihrer Unzulänglichkeiten zu widersetzen 13 , so beklagen die anderen, dass er sich zu weit von Habermas entferne 14 , womit er namentlich einen Riss in dem wesentlichen Band zwischen Kritik und Vernunft herbeiführe. Und wieder andere erkennen, ganz im Gegenteil, eine zu enge Verwandtschaft. Honneth musste sich den Vorwurf gefallen lassen, eine kritische Theorie erneut auf den Boden einer normativ geprägten Sozialphilosophie zu stellen und dabei seine Überlegungen einzig auf die ethisch-moralischen Prinzipien sozialkritischer Modelle zu richten, womit er zugleich das Bemühen um die Entwicklung einer konkreten Sozialkritik aufgebe. In marxistischer Terminologie heißt dies, dass Honneth sich ebenso wie Habermas schuldig mache, Elemente der Kritischen Theorie in politische Philosophie zu verwandeln - und diesen Auswüchsen müsse man den Anspruch einer Kritik der Philosophie wie gleichermaßen den einer Theorie der sozialen Bestrebungen mit potentiell emanzipatorischer Tragweite entgegensetzen. Aber auch wenn Honneths Ausführungen sich bisher vorwiegend auf die normative Seite der Kritischen Theorie erstreckten, zielen sie doch schon seit einigen Jahren auf die Vertiefung der Anerkennungstheorie im Sinne einer Gesellschaftstheorie15. Überdies verspricht die von Honneth vertretene Anerkennungstheorie, in eigener Begrifflichkeit eine Kritik der politischen Philosophie vorzulegen und eine Analyse emanzipatorischer sozialer Virtualitäten zu entwickeln. 13
Siehe z. B. Y. Cusset, „Lutte sociale et éthique de la discussion", Actuel Marx, Nr. 25, 1999, S. 123-145.
14
Siehe ζ. Β. Ν. Kompridis, „From Reason to Self-Realisation? Axel Honneth and the Ethical Tum in Critical Theory", in: Critical Horizons, Bd. 5, 2004, S. 323-360.
'5
Siehe die Diskussion mit Nancy Fraser und die Untersuchungen, die sich im Rahmen von Forschungsprogrammen des Instituts für Sozialforschung auf die „Paradoxien kapitalistischer Modernisierung" und den „Strukturwandel der Anerkennung im 21. Jahrhundert" richten.
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Im Übrigen stellt die Anerkennungstheorie tatsächlich eine der fundamentalen Orientierungen der gegenwärtigen politischen Philosophie in Frage, nämlich den Vorrang, den sie der Definition von Gerechtigkeit und der Bestimmung ihrer Kriterien zubilligt. Honneth zufolge neigen die Gerechtigkeitstheorien dazu, zentrale Merkmale der Erfahrung von Ungerechtigkeit stillschweigend zu übergehen, und diese sind Teil dessen, was er „das Andere der Gerechtigkeit" nennt, d. h. der sozialen Pathologien 16 . So kann er, wenn er sich in den Bereich der normativen politischen Philosophie einschaltet, die Marxsche Terminologie wählen, indem er nämlich in einem Schritt Kritische Theorie und Moralkritik miteinander verbindet. So im Artikel „Moralbewusstsein und soziale Klassenherrschaft" 17 , in dem er betont, dass die Menschen nur unter sozial privilegierten Bedingungen die Möglichkeit haben, sich ausdrücklich auf bewusst formulierte moralische Prinzipien zu berufen, um hiermit ihr Leben zu gestalten, während sich umgekehrt die große Mehrzahl der von den Unterdrückten getragenen Widerstandsbewegungen in Erfahrungen begründet, die als unerträglich erlebt werden, noch bevor sie in normative Begriffe gefasst sind. In Kritik der Macht entwickelt Honneth darüber hinaus eine Kritik der Habermas'sehen Gesellschaftstheorie, die genau in dem Vorwurf mündet, dass hier die Rolle der sozialen Kämpfe in der geschichtlichen Entwicklung bagatellisiert werde 18 . Wenn er sich im Folgenden auf die Formulierung einer Ethik der Anerkennung konzentriert, so gibt er damit nicht den Gedanken auf, normative Prinzipien und historische Dynamik miteinander zu verknüpfen19. Vielmehr will diese Ethik im Gegenteil die normativen Komponenten sozialer Kämpfe deutlich machen, da hinter diesen eben nicht nur materielle Interessen stehen (von daher erklärt sich der Untertitel des Kampfes um Anerkennung: „Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte"). Von hier aus lässt sich die Anerkennungstheorie sehr wohl aus ihrem Vorhaben begreifen, die Kritische Theorie in einer Form wiederzubeleben, die - über Habermas hinausgehend - an Marxsche Intentionen und Grundsätze anknüpft. Angesichts der Bedeutung, die Honneth der den sozialen Kämpfen eigenen Dynamik beimisst, stellen sich jedoch zwei Probleme: Das erste betrifft die Funktion, die den normativen Komponenten in den sozialen Kämpfen zukommt, das zweite die Funktion der sozialen Kämpfe in der historischen Entwicklung.
Welches Verständnis der sozialen Kämpfe? Drei Vorwürfe lassen sich gegen Honneths Theorie der sozialen Konflikte erheben. Der erste besteht darin, dass sie die Rolle der normativen Komponenten im Verhältnis zu den materiellen Interessen überschätze. Dieser Einwand ist allerdings nicht gerechtfertigt, heißt es im Kampf um Anerkennung doch eindeutig, dass es stets eine Frage der Empirie sei, welche Rolle den materiellen Interessen und welche den Hoffnungen auf Anerkennung zukomme. Eine zweite Kritik wendet sich gegen die Abfolge: Normative Erwartungen werden enttäuscht, dies führt zu 16
A. Honneth, „Über die Möglichkeiten einer erschließenden Kritik. Die ,Dialektik der Aufklärung' im Horizont gegenwärtiger Debatten über Sozialkritik", in: Das Andere der Gerechtigkeit, a. a. O., S. 70-87.
17
Ders., „Moralbewusstsein und soziale Klassenherrschaft. Einige Schwierigkeiten in der Analyse normativer Handlungspotentiale", in: Das Andere der Gerechtigkeit, a. a. O.
18
Ders., Kritik der Macht. Reflexionsstufen
19
Ders., Der Kampf um Anerkennung.
einer kritischen Gesellschaftstheorie,
Zur moralischen
Frankfurt/M. 1989.
Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt/M. 2003.
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moralischen Verletzungen, die ihrerseits Scham erzeugen - oder aber Kampf um Anerkennung. Doch ist Honneth weit entfernt davon zu behaupten, dass die Verweigerung von Anerkennung zwangsläufig in einen Kampf um Anerkennung münde; vielmehr betont er, dass zunächst einmal verschiedene soziale und kulturelle Bedingungen erfüllt sein müssen, damit die Menschen sich darauf einlassen, individuellen oder kollektiven Widerstand zu leisten. Auch hier wiederum verweist der Kampf um Anerkennung auf die empirische Forschung, mittels derer die Voraussetzungen darzulegen seien, unter denen Widerstandsdynamiken sich entwickeln. Gleichwohl musste Honneth sich vorwerfen lassen, weder die Entwicklungsbedingungen solcher Dynamiken ausreichend erläutert zu haben noch die Gründe, aus denen sie einmal zum emanzipatorischen Wandel der Gesellschaftsordnung führen, das andere Mal dagegen zu Forderungen nach Anerkennung, welche die Herrschaftsverhältnisse letztendlich nur reproduzieren, wenn nicht verschärfen. Diese Vorwürfe entstammen verschieden gearteten Lehrmeinungen. Innerhalb der Tradition Foucault/Deleuze lastet man den Kämpfen um Anerkennung an, sich zu guter Letzt auf Kämpfe um die Anerkennung individueller Identität zu reduzieren, was dem Effekt nach immer in Unterwerfung münde 20 . Wird die Kritik im Horizont der Marxschen Theorie entwickelt, beargwöhnt sie eher die ideologische Dimension des Anerkennungsbegriffs. Demzufolge wirft man Honneth vor, die symbolischen Zwänge und die Machtverhältnisse zu ignorieren, durch die Individuen dazu gebracht werden, eine Form von Anerkennung zu verlangen, welche die von ihnen erlittene Unterdrückung und Ungerechtigkeit nur verlagert 21 . Um diesen Einwänden zu begegnen, hat Honneth versucht, zwischen ideologischer und nicht-ideologischer Anerkennung zu unterscheiden. Im Wesentlichen stützt er sich dabei auf das Argument, dass ein institutionelles Anerkennungsversprechen ideologischer Natur sei, wenn es von der betreffenden Institution nicht wirklich eingelöst werden kann22. Es lässt sich unschwer nachvollziehen, wie gut eine solche Definition der Anerkennung als Ideologie sich auf die Verheißungen von Managern bezüglich der Anerkennung von Kreativität und Autonomie der flexiblen Arbeit anwenden lässt, und dies speziell unter Verhältnissen, in denen die Arbeitsteams geschwächt oder sogar aufgelöst werden und die Handlungsspielräume überdies oft mehr als eng sind. Was man in einem umfassenderen Verständnis von dieser Ideologiedefinition auch halten mag23, man wird einräumen müssen, dass das Moment einer ideologischen Dimension im Begriff der Anerkennung nicht zwangsläufig dazu führen muss, die Ziele der 20
Judith Butler, La vie psychique du pouvoir, Paris 2002; Patchen Markell, Bound by Recognition, Princeton, 2003. Siehe ebenso die Diskussion über das Verhältnis von Macht und Anerkennung in: B. van den Brink, D. Owen (Hg.), Recognition and Power. Honneth and the Tradition of Critical Theory, Cambridge, 2007.
21
Siehe Forster, „Recognition and Resistance", Radical Philosophy, Nr. 94, a. a. O.
22
Honneth, „Anerkennung als Ideologie", a. a. O.
23
Traditionsgemäß bezeichnet dieser Begriffnicht allein die zum sozialen Leben gehörenden mystifizierenden Rechtfertigungen, sondern auch die Legitimierung von Herrschaft und Ungleichheit. Dann nämlich scheint die Instrumentalisierung der Anerkennung durch das neue Management nicht nur deshalb ideologisch, weil hiermit keine wirkliche Anerkennung gespendet wird, sondern auch, weil sie Formen der Herrschaft und der Legitimation von Herrschaft und Ungleichheit vorantreibt (zu diesem Punkt siehe Emmanuel Renault, „Reconnaissance et travail", in: Travailler, Nr. 18, 2007, S. 119-135). Überdies ist das, was man gemeinhin unter Ideologie versteht, nicht nur ein Rechtfertigungsmodus, der an einzelnen Institutionen haftet, vielmehr geht es dabei auch um Formen von Rechtfertigung, die das gesellschaftliche
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Anerkennungstheorie zu verwerfen. Viel eher ist damit eine Herausforderung umrissen, der sie sich zu stellen versucht, um das Niveau ihrer kritischen Ansprüche zu wahren. Ein dritter Vorwurf richtet sich gegen die Art und Weise, in der das Konzept des Kampfes um Anerkennung sich sowohl auf den Konflikt bezieht als auch im selben Augenblick schon auf dessen Versöhnung. So mache Honneth sich angreifbar darin, dass er die sozialen Kämpfe stets aus der Hegeischen Perspektive ihrer Versöhnung betrachte 24 und damit die spezifischen Merkmale jenes Typus von Konflikten übersehe, die dem Begriff des Klassenkampfs bei Marx seinen Sinn verliehen hätten. Denn dieser Begriff beinhalte beides gleichzeitig: dass nämlich keinerlei wirkliche Versöhnung zwischen den miteinander kämpfenden Parteien möglich ist und allein Strukturwandlungen in den gesellschaftlichen Voraussetzungen des Kampfes eine vollauf befriedigende Lösung offerieren können 25 . Dieser Einwand wirft zwei Probleme auf, zwischen denen es zu unterscheiden gilt. Zum einen geht es um die Frage, ob die Kämpfe um Anerkennung angemessen zu begreifen sind, wenn nicht die gesellschaftlichen Voraussetzungen sorgfaltig analysiert werden, unter denen Anerkennung verweigert wird. Hierauf werden wir im nächsten Abschnitt zurückkommen. Das zweite Problem betrifft den Zusammenhang zwischen der Verweigerung von Anerkennung und dem Willen, von anderen anerkannt zu werden. Wenn man Honneth eine allzu hegelianische Auslegung der Kämpfe um Anerkennung anlastet, indem er sie teleologisch unter dem Blickwinkel ihrer Aufhebung interpretiere, missversteht man Hegel selber und verwechselt zudem die verschiedenen analytischen Ebenen in der Anerkennungstheorie. Bei Honneth ergibt sich das Bedürfnis nach Anerkennung aus der intersubjektiven Beschaffenheit der Individualität, weshalb die Kämpfe gegen die Verweigerung von Anerkennung ihren Sinn stets aus der Perspektive der Wiederherstellung eines positiven, intersubjektiv begründeten Verhältnisses zu sich selbst beziehen. Offenkundig aber gibt es zwei verschiedene Weisen, auf die Verweigerung von Anerkennung zu reagieren: Entweder bemüht man sich um die positive Anerkennung, die zunächst abgelehnt worden war, oder aber man verändert bzw. beseitigt die Voraussetzungen bzw. die Vermittler der Verweigerung von Anerkennung. Bei diesen beiden Reaktionsweisen geht es um verschiedenartige Forderungen. Manche sozialen Kämpfe zielen darauf ab, von Seiten einer ökonomisch oder kulturell widerstreitenden Gruppe eine positive Anerkennung zu erhalten, und zwar gemäß einer beiden Gruppen gemeinsamen oder, wenn man den Ausdruck vorzieht, versöhnenden Logik. Auf dem Gegenpol stehen soziale Kämpfe, die sich unter rein agonistischen Vorzeichen entwickeln. Sie richten sich gegen die Vertreter, die Komplizen oder die Mittelsmänner der Verweigerung von Anerkennung, sei es um sie zu vernichten, sei es um sie zu verändern, sei es um sie fur die Ungerechtigkeit büßen zu lassen - aber nicht, um auf direktem Wege eine positive Anerkennung zu erlangen.
Makrosystem betreffen. Die Frage der ideologischen Dimension des Anerkennungsbegriffs ließe sich sicherlich auch auf dieser Ebene stellen. 24
Hinsichtlich dieses Typus von Kritik siehe z. B. R. Celikates, „Nicht versöhnt. Wo bleibt der Kampf im ,Kampf um Anerkennung'"?, in: G. W. Bertram, Ch. Laudou und David Lauer, Socialite ei reconnaissance. Grammaires de l'humain, Paris 2006, S. 214-228.
25
J.-Ph. Deranty, „Mésentente et lutte pour la reconnaissance. Honneth face à Rancière", in: E. Renault, Y. Sintomer (Hg.), Où en est la Théorie critique, Paris 2003, S. 185-199.
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Die Kämpfe der Krankenschwestern im Frankreich der 1990er Jahre stehen für den ersten Typ von Forderungen. Diese Krankenschwestern wollten, dass der Wert ihrer Arbeit sowohl von den Ärzten, d. h. der im Innern der Institution Krankenhaus dominierenden sozialen Gruppierung, als auch, allgemeiner, von der Gesellschaft als ganzer anerkannt werde. Durchwegs ging es ihnen um eine positive Anerkennung seitens der Gesamtheit der gesellschaftlichen Handlungsträger. Was dagegen die Aufstände in den Banlieues vom Herbst 2005 anbelangt, veranschaulichen sie den zweiten Typus von Kampf. Auch wenn vielerorts betont wurde, dass dabei explizite Forderungen fehlten, und selbst wenn es immer gewagt ist, hinsichtlich der Ansprüche ausgegrenzter Bevölkerungsgruppen zu verallgemeinern26, wird man doch die Hypothese äußern dürfen, dass dieser Kampf darauf zielte, sich dem zu widersetzen, was als allgemeine soziale Missachtung erlebt und formuliert wurde - ob diese Missachtung sich nun in offiziellen Beleidigungen seitens eines Ministers ausdrückte oder diffuser in Diskriminierungen und sozialer Disqualifizierung. Auch scheint es legitim, hinzuzufügen, dass hier aus jener Verweigerung von Anerkennung das Recht abgeleitet wurde, alles zu zerstören, was diese Verweigerung von Anerkennung symbolisiert, und dass dieses Protesthandeln sich unter einem prinzipiell agonistischen Horizont entwickelte - dem von Zerstörung und Widersetzung27. Um diese beiden sehr voneinander unterschiedenen Formen auseinander zu halten, die auf die Verweigerung von Anerkennung reagieren, schlagen wir vor, innerhalb der Anerkennungskämpfe zu differenzieren zwischen solchen mit versöhnendem Charakter einerseits (es sind dies die Kämpfe um Anerkennung) und agonistischen andererseits. Bei einer solchen terminologischen Regelung können wir uns auf Hegel berufen, der häufiger den Begriff „Kampf des Anerkennens" verwendet als den des „Kampfes um Anerkennung"28. Für die Verweigerung von Anerkennung ist nämlich kennzeichnend, dass sie zu dem Versuch verleiten kann, die Auslöser dieser Verweigerung mit allen möglichen Methoden zu vernichten: den Kampf auf Leben und Tod eingeschlossen, wie Hegel in der Phänomenologie des Geistes betonte.
Interaktionen, Institutionen, soziale Strukturen? Aber worin genau besteht der Bezug dieser Theorie der sozialen Kämpfe zur eigentlichen Gesellschaftstheorie? Allgemeiner gefasst fuhrt dieses Problem zu folgender Frage: Wie lässt sich eine Theorie der Anerkennung mit einer Gesellschaftstheorie verknüpfen? Die grundlegenden Thesen seiner Gesellschaftstheorie hat Honneth in Kritik der Macht entwickelt. Und gegen 26
Zu dieser Problematik siehe G. Ch. Spivak, „Can the Subaltern Speak?", in: C. Nelson, L. Grossberg (Hg.), Marxism and the Interpretation o f Culture, Urbana, 111., 1988, S. 2 7 1 - 3 1 3 . Siehe hierzu weiterhin: E. Renault, „Le discours du respect", in: A. Caillé (Hg.), La quête de reconnaissance.
Regards
sociologi-
ques, Paris 2007, S. 1 6 1 - 1 8 1 und „Subalternità, prise de parole et reconnaissance" in: A. Giovannoni, J. Guilhaumou (Hg.), Histoire 27
et subjectivation,
Paris 2008, S. 1 7 5 - 1 9 0 .
Hinsichtlich des Versuchs einer Anwendung der Anerkennungsproblematik auf den Urbanen Vandalismus und der Beschreibung des Kontinuums von Protesthandlungen, das hier implizit vorausgesetzt wird, siehe E. Renault, L'expérience
28
In der Enzyklopädie
de l'injustice,
der philosophischen
Paris 2004, S. 1 0 8 - 1 1 7 . Wissenschaften
findet
sich an drei Stellen der „Kampf des An-
erkennens" und nur an einer der „Kampf um Anerkennung"; in der Phänomenologie
des Geistes
fehlen
beide Ausdrücke. Hinsichtlich einer genaueren Analyse dieser Unterscheidung siehe E. Renault, „Riconoscimento, lotta, dominio. Il modello hegeliano", in: Post Filosofie,
4, 2007, S. 29^45.
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ebendiese Thesen richtet sich manch eine Kritik. Hier werden Zweideutigkeiten entdeckt, doch richtet der Blick sich meist nur auf isolierte Aspekte dieser Gesellschaftstheorie; dabei bleibt unberücksichtigt, dass mit diesen Thesen ein Forschungsvorhaben umrissen wird, das sich in verschiedene Richtungen lenken lässt, und dass einige dieser Richtungen genau dem entsprechen, was von jenen Kritikern selbst gefordert wird oder gefordert werden könnte. a) Eine erste der hier entdeckten Zweideutigkeiten betrifft die Habermas'sehe Unterscheidung von System und Lebenswelt. In Kritik der Macht erläutert Honneth, dass kein einziger gesellschaftlicher Bereich sich vollständig von der Last normativer Erwartungen befreien kann und die „Verwaltung" ebenso wie der „Markt" den moralischen Zwängen der Lebenswelt unterworfen sind. Doch lässt dieser Einwand sich auf zweierlei Weise interpretieren. In einem ersten Verständnis kann er bedeuten, dass innerhalb der Anerkennungstheorie, als eine Analyse der normativen Voraussetzungen von Interaktion begriffen, sämtliche sozialen Verhältnisse darstellbar seien. Denn diese bestünden doch immer aus Interaktionen und Formen von Handlungskoordination, die von den sozialen Handlungsträgern als legitim anerkannt werden müssen 29 . Demnach also könnte man den Begriff der systemischen Zwänge als solchen verwerfen (wenn man „systemisch" im weiten Sinn versteht, d. h. als funktionelle oder strukturale Zwänge im Allgemeinen). Doch lässt diese Kritik sich auch dahingehend abschwächen, dass sie lediglich die Vorstellung ablehnt, wonach systemische Beziehungen unter voneinander getrennten und autonomen gesellschaftlichen Bereichen bestehen. Es würde dann also nicht mehr darum gehen, den Begriff sozialer Zwänge (ob funktionell oder struktural) als solchen zu beanstanden, sondern allein eine bestimmte Interpretation dieses Begriffs in Frage zu stellen. Die Anerkennungstheorie hätte mithin zu erläutern, wie die normativen und die systemischen Zwänge sich in der sozialen Interaktion miteinander verknüpfen und wie diejenigen gesellschaftlichen Situationen, in denen es zu solchen Verknüpfungen kommt, Kämpfe mit emanzipatorischem Potential hervorbringen können. Die hier beschriebene Unklarheit wurde von Honneth nie beseitigt; zu einem Teil erklärt sich aus ihr die Kritik, die Fraser gegen ihn gerichtet hat30. Der ersten Hypothese zufolge ist die Anerkennungstheorie als eine allgemeine Gesellschaftstheorie zu betrachten. Wenn wir uns jedoch an die Themen halten, die der Kampf um Anerkennung ausdrücklich erörtert, so erscheint die Erfahrung von Ungerechtigkeit als Hauptthema der Anerkennungstheorie; und diese liefert per se keine Theorie der gesellschaftlichen Ursachen von Ungerechtigkeit. Von daher verfehlen diejenigen Kritiker teilweise ihr Thema, die ihr vorwerfen, keine Theorie der Macht oder keine Kapitalismustheorie zu präsentieren. Denn ob man eine Theorie der Erfahrung von Ungerechtigkeit entwickelt oder aber die ihrer Ursachen: Es handelt sich hier um komplementäre Zielsetzungen, die sich nicht gegeneinander austauschen lassen31.
29
Zur Frage, wie der der Anerkennungstheorie innewohnende Interaktionismus zu interpretieren sei und wie der Bezug zu Marx von der einen oder der anderen Kritik hergestellt wird, siehe J.-Ph. Deranty, „Les horizons marxistes de la théorie de la reconnaissance", a. a. O.
30
Ch. F. Zum, „Recognition, redistribution, democracy. Dilemma in Honneth's Theory of Recognition", European Journal of Philosophy, Bd. 13, 1, 2005, S. 89-126.
3
Zu diesem Punkt siehe E. Renault, „What is the use of the notion of the struggle of recognition?" in: Revista de ciencapolitica, Bd. 27, N° 2, 2007, S. 195-205.
'
DAS ERBE DER KRITISCHEN THEORIE
237
Interpretieren wir die Anerkennungstheorie als eine Theorie der Erfahrung von Ungerechtigkeit, so soll dies nicht heißen, dass wir sie hinsichtlich gesellschaftstheoretischer Fragen für blind halten. Honneth bescheidet sich nicht dabei, die Formen zu beschreiben, in denen Anerkennung verweigert wird und wie eine solche Absage sich in der individuellen Erfahrung niederschlägt. Vielmehr lässt er sich ebenso darauf ein, die Formen kollektiven Widerstands gegen die Missachtung zu analysieren und die gesellschaftlichen Auswirkungen zu reflektieren, die dabei eintreten können. In diesem Sinne siedelt er seinen Beitrag sehr wohl im Bereich der Gesellschaftstheorie an, wobei seine Betrachtungen allerdings in einen breiter gefassten theoretischen Rahmen einzubinden wären, um die Ursachen der Ungerechtigkeit, die spezifischen Zwänge in ihrem Einfluss auf das Protesthandeln und die gesellschaftlichen Effekte des Widerstands erfassen zu können. Vielleicht sollte man hier daran erinnern, dass sich die Aufgabe, eine Theorie der Erfahrung von Ungerechtigkeit mit einer Theorie der systemischen Zwänge zu verknüpfen, nicht nur den Anhängern der Anerkennungstheorie stellt, sondern all denen, die den Bezug zu Marx lebendig halten wollen. Im Zuge der neoliberalen Globalisierung wurden nämlich Tendenzen beschleunigt, die eine der fur den Post-Marxismus besonders typischen Bestandsaufnahmen begründen: Die sozialen und politischen Kämpfe sind zu heterogen, als dass man sie noch länger auf die Einheitlichkeit ein und desselben materiellen Interesses - wie das des Proletariats - reduzieren könnte gemäß dem Schema, das ehemals der Idee des proletarischen Internationalismus zugrunde lag32. Ebenso wenig ist es noch möglich, die sozialen und politischen Kämpfe als unmittelbaren Ausdruck der kapitalistischen Produktionsweise im Allgemeinen oder auch als den des gegenwärtigen Akkumulationssystems zu betrachten. Wenn sich die Frage nach der Einheit der sozialen Kämpfe von daher relativ verselbständigt hat, ist der Versuch nicht abwegig, ihr von einer Analyse des spezifisch normativen Gehalts der in ihnen geltend gemachten Ansprüche aus näher zu kommen. Unter dieser Zielsetzung lässt die Anerkennungstheorie sich verwenden. b) Eine zweite Unklarheit besteht hinsichtlich der Rolle der sozialen Kämpfe in der gesellschaftlichen Entwicklung. In Kritik der Macht hat Honneth die Habermas'sche Interpretation der gesellschaftlichen Entwicklung nach dem Muster eines Lernprozesses kritisiert, der in den immanenten Dynamiken von Lebenswelt und System begründet sei. Speziell wendet er sich dagegen, dass Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns mit einem solchen Modell gesellschaftlicher Rationalisierung ein anderes ersetzt habe, nämlich das von Erkenntnis und Interesse, in dem die sozialen Konflikte noch eine entscheidende Rolle spielten. Eines der Ziele der Anerkennungstheorie, so viel ist deutlich, besteht darin, den Beitrag sozialer Kämpfe zur gesellschaftlichen Entwicklung aufzuzeigen. Doch lässt dieses Ziel sich auf zweierlei Weise verfolgen. Nach einem ersten Verständnis wäre die Anerkennungstheorie als Modell gesellschaftlicher Entwicklung zu verstehen, das sich schlicht und einfach an die Stelle des von Habermas entwickelten zu setzen vermag. Danach würde man die These verteidigen, dass Institutionen nur dann überdauern können, wenn sie die normativen Erwartungen der Individuen erfüllen, und hier würde man ergänzen, dass Wandlungsprozesse in diesen Institutionen immer auf Kämpfe zurückweisen, die auf die Anerkennung der Legitimität nicht-institutionalisierter normativer Erwartungen zielen. Aber die Kritik an Habermas lässt sich wiederum auch in einem abgeschwächten Sinne verstehen, nämlich so, dass sie ein zu 32
E. Laclau, Ch. Mouffe, Hegemony and Socialist Strategy, London, 1985.
238
EMMANUEL RENAULT
Habermas komplementäres Modell liefert. Dieses würde dann keine umfassende Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung anbieten, sondern lediglich den realen, wenn auch begrenzten Beitrag darlegen wollen, den die sozialen Kämpfe hierbei leisten. Im Gefüge einer Sozialphilosophie, welche die gesamte gesellschaftliche Realität auf die Waagschale von Interaktionen legt, werden im Rahmen des ersten Modells die Institutionen der Tendenz nach auf den Effekt von Kämpfen um Anerkennung reduziert. Innerhalb des zweiten Modells lässt sich dagegen vertreten, dass die Anerkennungsbedingungen immer in einen institutionellen Rahmen eingebettet sind, der als solcher nicht als das simple, aus den Anerkennungskämpfen sich herleitende Ergebnis zu begreifen ist. Wenn damit die Institutionen nicht auf das Produkt sozialen Konflikthandelns reduzierbar sind, dann, so ließe sich hier ergänzen, aufgrund des Umstands, dass sie unter sich funktionelle oder strukturale Beziehungen unterhalten. Hiermit stoßen wir auf die erste Alternative hinsichtlich der Bezüge zwischen Interaktion und systemischen Zwängen 33 . Wenn Honneth in seinen letzten Schriften eine Theorie der Paradoxien kapitalistischer Modernisierung entwickeln will, so ist für ihn ein makro-sozialer und systemischer Begriff wie der des Kapitalismus offenbar unerlässlich. Demnach scheint er zu versuchen, seine auf die normativen Bedingungen von Interaktion zentrierte Konzeption der Anerkennung damit zu verknüpfen, dass er das Eigengewicht ihrer institutionellen und strukturellen Voraussetzungen in Rechnung stellt. Gleichwohl hat er noch keine ausdrückliche Gesellschaftstheorie formuliert, mittels derer soziale Entwicklungen erfasst werden könnten, die sich nicht unmittelbar aus den Kämpfen um Anerkennung erklären. Hierzu müsste er zum einen den Bezug der Forderungen nach Anerkennung zu den institutionellen Gegebenheiten herausarbeiten, zum anderen eine Analyse der Beziehungen zwischen Institutionen vorlegen und schließlich präzisieren, wie Institutionen und soziale Strukturen sich zueinander verhalten (insofern als der Begriff des Kapitalismus offenbar eine soziale Struktur bezeichnet). Diese Fragestellungen decken sich auch hier wiederum mit den Zielsetzungen gegenwärtiger marxistischer Forschungsprogramme. Seit der Regulierungsschule macht man nämlich einen der Schwachpunkte der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie oft an ihrer Theorie der Institutionen fest, während eine solche Theorie doch erforderlich sei, wenn die Besonderheit des jeweiligen Akkumulationssystems durchschaubar werden soll. Dieser Schule zufolge muss eine adäquate Konzeption der Institutionen ihr Augenmerk nicht nur auf die funktionellen Beziehungen richten, in die jene involviert sind, sondern auch auf die Arten von Rechtfertigung und die Kompromisse, die sie institutionalisieren 34 . Damit verweist die Regulierungsschule auf eine Leerstelle, die von der Anerkennungstheorie im Rahmen einer neomarxistischen Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung ausgefüllt werden könnte. Allerdings erklärt sich innerhalb des Versuchs einer Aktualisierung des Marxismus, wie die Regulierungsschule ihn vornimmt, die gesellschaftliche Entwicklung weit eher aus einer Krise funktioneller Regulierungen denn aus sozialen Kämpfen. Andere Auslegungen des Marxismus hingegen rücken die Rolle der Klassenkämpfe in den Mittelpunkt der historischen 33
Hinsichtlich einer Analyse der im Honnethschen Institutionenbegriff gelegenen Spannungen siehe Emmanuel Renault, „Theory of recognition and critique of institutions", D. Peterbridge (Hg.), Honneth's critical theory of recognition, Leiden, im Erscheinen; Emmanuel Renault, L'expérience de l'injustice, a. a. O.
34
Siehe ζ. Β. R. Boyer, Y. Sallard, Théorie de la régulation. L'état des savoirs, Paris 1995.
239
D A S E R B E DER K R I T I S C H E N T H E O R I E
Entwicklung, und entsprechend ist es ein solcher Typus von Gesellschaftstheorie, in dessen Rahmen sich diese Versionen formulieren lassen. Was die gesellschaftliche Entwicklung betrifft, so bietet bekanntlich Marx selber zwei Erklärungsschemata an: das des Klassenkampfes und das des Widerspruchs zwischen Produktionsverhältnissen und Produktivkräften. Gleichzeitig hat er eine Verknüpfung dieser beiden Schemata gefordert, doch gehen hier die Meinungen auseinander, wie diese beiden Modelle unter heutigen Bedingungen anwendbar sind. Diese Frage ist gleichermaßen eine theoretische wie eine politische, denn immerhin steht dabei auf dem Spiel, von welchem Typus historischer Diagnostik die Gesellschaftskritik sich leiten lassen soll.
Welche historische Diagnose für welche Kritik? Versuchen wir zum Schluss zu bestimmen, wie die Anerkennungstheorie in diese Diskussionen eingreifen kann, indem wir das Problem des politischen Gehalts von Honneths Gesellschaftskritik aufwerfen. Um einen geeigneten Modus von Kritik zu entwickeln, geht er von einer globalen Diagnose des Post-Fordismus aus, wobei dies in der gegenwärtigen Auseinandersetzung auf breiter Ebene von all denen geteilt wird, die sich weiterhin an Marx orientieren. Von hier aus aber sind divergierende Positionen möglich. So erscheinen die einen, wenn sie die Verdienste der auf dem Lohnprinzip basierenden Gesellschaft mit den sozialen Effekten des Post-Fordismus vergleichen, als Befürworter des Fordismus 35 . Die anderen unterstreichen im Gegenteil, dass der Post-Fordismus auf die Kritik an den Entfremdungsprozessen reagiert habe, wie sie für den Fordismus kennzeichnend sind, und von hier aus begrüßen sie es, wenn der eine oder andere aktuelle Wandlungsprozess politisch beschleunigt wird36. Hinsichtlich der Thematisierung der Paradoxien kapitalistischer Modernisierung nimmt Honneth hier eine Zwischenposition ein: Von emanzipatorischen Kräften angetrieben, bringe die kapitalistische Modernisierung gleichwohl das Gegenteil der Effekte hervor, die von den sozialen Akteuren in ihrem Widerstand gegen den Fordismus erstrebt wurden. Von daher sei der Post-Fordismus durch paradoxe Wandlungsprozesse gekennzeichnet, die eine radikale Kritik seiner elementarsten Züge verlangen; doch verkörpere er gleichzeitig normative Ansprüche, welche die fordistischen Prinzipien definitiv hinfallig werden lassen37. Auch wenn sich die kritischen Modelle hier von den sozio-historisch analysierten Spezifika der Gegenwart ableiten, scheinen diese Ansätze vom Typus einer eigentlich marxistischen Positionierung auf den ersten Blick doch recht weit entfernt. Offenbar nämlich werden hier Fordismus und Post-Fordismus miteinander verglichen, ohne dass die Dynamik kapitalistischer Akkumulationsprozesse Berücksichtigung fände, die den spezifischen Kennzeichen dieser beiden gesellschaftlichen Formationen doch erst ihre je eigene Bedeutung verleihen soll. Gleichwohl kann sich jede dieser Optionen auf ihre Weise in der Diskussion auf Marx berufen: a) Wird die Ablösung des Fordismus als Fortschritt interpretiert, so stützt sich dies auf eine Diagnostik, derzufolge die Entwicklung der Produktivkräfte die beengten gesellschaftlichen R. Castel, Les métamorphoses 36 37
de la question sociale,
M. Hardt, A. Negri, Empire. Die neue Weltordnung,
Paris 1995. Frankfurt/M. 2002.
A. Honneth (Hg.), Befreiung aus der Mündigkeit. Paradoxien 2002.
des gegenwärtigen
Kapitalismus,
Frankfurt/M.
240
EMMANUEL RENAULT
Produktionsverhältnisse sprengte und zugleich eine Freisetzung der Kreativität gesellschaftlicher Arbeit ermöglichte. Vor diesem Hintergrund erscheint die Rechtfertigung des Fordismus als zutiefst rückwärtsgewandt und als Opfer von Illusionen der Politik (im vorliegenden Fall als abstrakte Verteidigung normativer, von den gesellschaftlichen Entwicklungen abgehobener Prinzipien)38. b) Doch lässt sich die Ablösung des Fordismus auch in einem wesentlich ungünstigeren Licht darstellen. So kann man im Neoliberalismus ein Akkumulationssystem sehen, das aus einem Sieg in dem gesellschaftlichen Kampf hervorging, den die Finanzbourgeoisie (Eigentum) zwecks Wiederherstellung der Profitrate entfesselt hatte - einem Kampf gegen die „Leitenden und Kompetenten" (Einkommensbourgeoisie, die durch ihre mit Leitungsfunktionen verbundene Kompetenz definiert ist, intellektuelle Berufe eingeschlossen) sowie gegen die einfachen Angestellten und die Arbeiter. Unter diesem Blickwinkel erscheinen die Anhänger des Post-Fordismus als Fetischisten kapitalistischer Entwicklungsprozesse und als blind gegenüber dem Kampf, der die Fraktionen der herrschenden Klasse und, allgemeiner, die Gesamtheit der sozialen Klassen durchzieht39. c) Die dritte Position schließlich versucht, das Thema der fur eine Phase des Kapitalismus spezifischen Widersprüche umzuwandeln, indem sie diese in den Spannungen zwischen gesellschaftlicher Basis und normativen Rechtfertigungen verortet (von daher setzt man hier die Problematik der „Paradoxien" an die Stelle derjenigen der „Widersprüche"). Jenen Rechtfertigungen werde von Seiten einer gesellschaftlichen Realität widersprochen, die ihnen gänzlich ihren Sinn raube, so dass auch diese Rechtfertigungen selber den sozialen Wandels als Erfordernis in sich trügen40. Vom Standpunkt einer an Marx orientierten Analyse lässt sich der Vergleich zwischen Fordismus und Post-Fordismus nicht zufrieden stellend vollziehen, wenn nicht die sozio-historischen Prozesse erhellt werden, die den Übergang vom einen zum anderen Akkumulationssystem erzwingen. Doch ist es hier einmal mehr schwierig, die wirklich marxistische Position auszumachen. So ist nämlich die Frage nach der Entstehungsweise des neuen Akkumulationssystems in besonderem Maße umstritten. Bei den einen, so in der Regulierungsschule, werden die institutionellen Dysfunktionen und die spezifischen Widersprüche eines kapitalistischen Akkumulationssystems in den Vordergrund gerückt. Andere hingegen neigen eher zur Annahme einer politischen Entstehungsweise des Post-Fordismus. So sehen Duménil und Lévy hier einen neuen Abschnitt in der Entwicklung des Klassenkampfs, in diesem Fall nämlich den eines Kampfes der Finanzbourgeoisie, in dem es dieser darum ging, ihre Hegemonie wiederherzustellen, die sie unter dem Fordismus hatte aufgeben müssen, während sie den gesellschaftlichen Einfluss der leitenden Angestellten zurückzuschrauben trachtete (womit sie sich auch deren Anspruch entgegensetzte, die Wirtschaft über die Verwaltung zu lenken und das Unternehmen eher wie einen Verband als nach dem Modell des Marktes zu
38
Hardt, Negri, a. a. O.
39
G. Duménil, D. Lévy, Crise et sortie de crise. Ordres et désordres néolibéraux, Actuel Marx, Nr. 40, 2006: Fin du néolibéralisme?
40
Es handelt sich hier gewissermaßen um ein Schema, das sich in ähnlicher Form bei Bidet und Duménil findet, wenn sie ihre Kapitalismuskritik auf einen Widerspruch gründen, der zwischen den normativen Prinzipien der Moderne (Metastruktur) und den kapitalistischen Klassenverhältnissen (Struktur) gelegen sei (siehe J. Bidet, G. Duménil), Altermarxisme, Paris 2007.
Paris 2000; siehe auch
241
D A S E R B E DER K R I T I S C H E N T H E O R I E
strukturieren). In operaistischer Tradition schließlich legen Negri und Hardt hier den Akzent auf die Bedeutung der Kämpfe um die Befreiung der gesellschaftlichen Arbeit vom Joch des Kapitalismus. Und das von Honneth bevorzugte Modell ist von der letztgenannten Interpretationsweise nicht allzu weit entfernt, wenn es den Stellenwert von Kämpfen gegen Anerkennungsmodelle betont, die an disziplinierende Unterwerfungsmechanismen gekoppelt sind, wie sie für die auf dem Lohnprinzip basierende Gesellschaft kennzeichnend sind (Nationalstaat, taylorianischer Arbeiter, patriarchalische Familie). Gewiss, Honneth begreift diese sozialen Kämpfe weder als Klassenkämpfe, noch sind sie aus seiner Sicht in der Entwicklung der Produktivkräfte begründet. Und wenn es darum ginge, diesen Kämpfen eine vollständige Autonomie gegenüber der Dynamik kapitalistischer Akkumulationssysteme einzuräumen, um in ihnen den einzigen Erklärungsfaktor für die gesellschaftliche Entwicklung zu sehen, wäre der Zusammenhang mit einem marxistischen Forschungsprogramm allenfalls hauchdünn. Wie wir weiter oben gezeigt haben, sind wir jedoch in keiner Weise genötigt, die Anerkennungstheorie als umfassende Gesellschaftstheorie und als vollständige Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung zu interpretieren. Betrachtet man sie in ihrer Gesamtentwicklung, so kennzeichnen sich Honneths theoretische Arbeiten durch eine bemerkenswerte Kontinuität. Die ursprüngliche Zielsetzung einer „heilsamen Kritik" an Marx führte ihn zum Entwurf einer Gesellschaftstheorie, die beides zu erfassen gestattet: die Möglichkeiten von Emanzipation im sozialen Handeln wie andererseits auch die Prozesse, die dieses Handeln auf die Schiene der Entfremdung umleiten. Mit seiner Kritik der Habermas'sehen Unterscheidung von System und Lebenswelt und mit der Entwicklung einer Theorie des Kampfes um Anerkennung beschreitet Honneth die erste der beiden Sektionen dieses Forschungsprogramms. In kürzlich erschienenen Arbeiten zu den Pathologien des Sozialen wie auch zu Verdinglichung und Ideologie hat er dann die zweite Sektion jenes Programms in Angriff genommen. Noch heute wirken die dem Marxschen Gedankengut entlehnten Intentionen bei ihm fort, und auch die dabei gewählte Begrifflichkeit räumt den für die marxistische Tradition typischen Konzepten - Verdinglichung, Ideologie - ihren Platz ein. In der Landschaft der zeitgenössischen politischen Philosophie verkörpert Honneth insbesondere in diesem Punkt eine sehr beachtliche Ausnahme4'. Wesentlicher noch verdankt sich seine Originalität der Verteidigung des Horkheimerschen Entwurfs einer Sozialphilosophie, liefert dieses Projekt doch den Rahmen, in dem die Bezüge zu Marx und zum Marxismus entfaltet werden. Unter „Sozialphilosophie" verstanden die Gründungsväter der Frankfurter Schule ein interdisziplinäres Forschungsprogramm, in dem das materialistische Geschichtsverständnis namentlich dazu dienen sollte, die Fragestellungen der politischen Philosophie in das Gebiet der Gesellschaftstheorie zu verlagern. Dieses Projekt greift Honneth auf seine Weise auf, wobei die Gesellschaftstheorie für ihn das wesentliche Desiderat bleibt42. Sicherlich liegt hier eine Ambivalenz: Das Ziel einer vollständigen, in sich stimmigen und überzeugenden Gesellschaftstheorie bleibt eine Herausforderung, der die Anerkennungstheorie sich wird stellen müssen; in dem Maße aber, wie sie dies tut, wird Zu all diesen Fragen siehe J.-Ph. Deranty, Beyond Communication. 42
A Critical Study of Honneth s Social
Philosophy, Leiden, im Erscheinen. A. Honneth, „Pathologien des Sozialen. Tradition und Aktualität der Sozialphilosophie", in: Das der Gerechtigkeit,
a. a. O., S. 11- 69.
Andere
242
EMMANUEL RENAULT
sie zweifellos nur Teil einer breiter angelegten Gesellschaftstheorie sein können. Die Verknüpfung von politischer Philosophie und Gesellschaftstheorie stellt heute allerdings eine Herausforderung für jedwede kritische Theorie dar. Die Stärke der ersten Kritischen Theorie ergab sich zum Teil daraus, dass der Marxismus eine Gesellschaftstheorie bereithielt. Der Einfluss, den die Wendung der Kritischen Theorie zum Kommunikativen ausübte, erklärt sich nicht zuletzt daraus, dass Habermas in der Lage war, eine Gesellschaftstheorie zu formulieren, die jene ersetzte. Sie behauptete, die Einseitigkeiten zu überwinden, die - ob zu Recht oder nicht - als Marxscher Funktionalismus ausgemacht worden waren, und formulierte Hypothesen zum wechselseitigen Verhältnis zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Bereichen und zu den verschiedenen sozialen Kämpfen, die sich in ihnen entfalteten. Das Unterfangen, einen Bezug zwischen Kritischer Theorie und Marxismus herzustellen, bleibt unter heutigen Bedingungen an die Herausforderung gebunden, Kritik und Gesellschaftstheorie miteinander zu verknüpfen. Mit Marxschen Grundsätzen lässt sich manch eine Schwäche in der Theorie des kommunikativen Handelns aufdecken; die Frage, wie eine sie ersetzende Gesellschaftstheorie auszusehen hätte, bleibt hingegen unentschieden. Aus diesem Grund können die marxistischen Kritiken der Anerkennungstheorie oft wenig überzeugen. Sofern sie am Ende nicht schlicht und einfach auf Missverständnissen beruhen, stellen sie lediglich fest, was es an Problemen noch zu lösen gilt, und dies ebenso für die einzelnen Vorhaben von kritischer Theorie wie auch fur die verschiedenen Versionen des Marxismus selber. Aus dem Französischen von Annette Foegen
HANS-CHRISTOPH SCHMIDT AM B U S C H
Lassen sich die Ziele der Frankfurter Schule anerkennungstheoretisch erreichen? Überlegungen im Ausgang von Nancy Fräsers und Axel Honneths politisch-philosophischer Kontroverse
1. Zum Strukturwandel der Arbeitswelt Nach der Veröffentlichung seines Hauptwerks, Theorie des kommunikativen Handelns, wurde Jürgen Habermas vorgeworfen, er habe die Bedeutung der gesellschaftlichen Arbeit hinsichtlich der Möglichkeit eines gelingenden menschlichen Lebens unterschätzt. Habermas begegnete diesem Vorwurf mit der Einschätzung, dass „die historische Entwicklung der Industriearbeit", insbesondere „die Trends zur Verkürzung der Arbeitszeit und zu einer entsprechenden Abwertung der lebensweltlichen Relevanz der Arbeit" der Position seiner Kritiker den Boden entziehen würden. 1 Angesichts der Entwicklung, welche die meisten westlichen Gesellschaften in den zurückliegenden 30 Jahren genommen haben, mutet Habermas' Äußerung an wie ein Satz aus einer vergangenen Welt. Es ist offenkundig, dass das Gegenteil dessen eingetreten ist, was Habermas prophezeit hat: In den meisten westlichen Gesellschaften ist sowohl die wöchentliche als auch die Lebensarbeitszeit gestiegen, ein Trend, der sich möglicherweise fortsetzen wird.2 Da zudem die Erwerbstätigkeit von Frauen in diesen Gesellschaften größer ist als je zuvor, lässt sich ferner feststellen, dass der Umfang der gesamtgesellschaftlich geleisteten Arbeit deutlich zugenommen hat. Und schließlich gibt es gute Gründe für die Annahme, dass zumindest in westlichen Gesellschaften die Teilnahme an gesellschaftlicher Arbeit hinsichtlich der Möglichkeit eines gelingenden Lebens von großer Bedeutung ist: Wie soziologische Untersuchungen zeigen, ist das Ausüben von Erwerbsarbeit fur eine große Mehrheit der Bürger nicht nur unter Einkommensaspekten etwas sehr Wichtiges, 3 und klarerweise ergibt sich der gesellschaftliche Status des Einzelnen nach wie vor primär aus seiner Zugehörigkeit zur und Rolle innerhalb der Arbeitswelt. Als Habermas die oben wiedergegebene Prognose äußerte, war die Krise des Keynesianismus (der in Nordamerika und Westeuropa in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg dominanten wirtschaftspolitischen Auffassung) bereits offenkundig geworden. 4 Es ist im vorliegenden Zusammenhang nicht möglich, eine eingehende Analyse derjenigen Maßnahmen vorzunehmen, mit denen versucht worden ist, dieser Krise zu begegnen; 5 gleichwohl lassen 1
Habermas (1995), S. 485.
2
Das zeigt beispielsweise die zur Zeit in Deutschland geführte Diskussion über die Anhebung des Renteneintrittsalters.
3
Vgl. z. B. Bourdieu et al. (1997), S. 370 u. 4 4 6 - 4 5 6 sowie Sennen (1998), S. 91.
4
Die Bildung und Verwendung des Terminus „Stagflation" ist hierfür ein Beleg
5
In diesem Zusammenhang wären selbstverständlich nationale Eigentümlichkeiten zu berücksichtigen.
244
H A N S - C H R I S T O P H SCHMIDT AM B U S C H
sich wesentliche Aspekte derjenigen Wirtschaftspolitik, die in den zurückliegenden 30 Jahren zunächst in Großbritannien, den USA und Neuseeland und dann auch in Kontinentaleuropa praktiziert worden ist, anhand von vier Tendenzen beschreiben: denen (i) der Deregulierung bestehender Märkte, (ii) der Bildung neuer Märkte, (iii) der Flexibilisierung von Betriebsstrukturen sowie (iv) der Verringerung sozialstaatlicher Ansprüche und Leistungen. 6 Es soll nicht ausgeschlossen werden, dass die oben skizzierte wirtschaftspolitische Neuausrichtung positive Auswirkungen gehabt hat (etwa hinsichtlich der Individualisierung von Lebensstilen); folgt man einschlägigen sozialwissenschaftlichen Studien, dann hat sie aber Beschäftigungsstrukturen entstehen lassen, die von immer mehr Menschen als problematisch oder bedrohlich erfahren werden. 7 Hierfür scheinen vor allem die mit der Flexibilisierung von Betriebsstrukturen gewachsenen Mobilitätsanforderungen an Berufstätige sowie eine starke Zunahme von instabilen und schlecht entlohnten Beschäftigungen (z. B. Leih- und Teilzeitarbeiten) verantwortlich zu sein. Nach Einschätzung führender Soziologen ist dieser Strukturwandel der Arbeitswelt für sehr viele Menschen nicht nur in materieller, sondern auch in normativer Hinsicht problematisch: Er belastet nicht nur die Bestreitung des eigenen Lebensunterhalts, sondern behindert auch die Ausbildung von Selbstachtung und Selbstwertschätzung auf Seiten vieler Bürger. Angesichts dieser Umstände ist es nicht überraschend, dass Aspekte der Arbeitswelt nicht nur unter Sozialwissenschaftlern, sondern auch unter Philosophen erörtert werden. Fragen, welche die Qualität und die Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit betreffen, werden mittlerweile von vielen Wirtschaftsethikern und Politischen Philosophen behandelt. 8 Für die Kritische Theorie in der Tradition der Frankfurter Schule ist die Auseinandersetzung mit der modernen Arbeitswelt traditionell ein zentrales Thema. Das Eigentümliche ihres Ansatzes besteht nach der Überzeugung von zwei ihrer prominentesten Vertreter darin,, jene herkömmlich getrennten Ebenen mit der Moralphilosophie, der Gesellschaftstheorie und der politischen Analyse in einer kritischen Theorie des Kapitalismus zusammenzufuhren". 9 Was damit in Aussicht gestellt wird, ist eine moralphilosophisch fundierte Analyse des und Kritik am zeitgenössischen Kapitalismus. Wie versucht die aktuelle Kritische Theorie dieses Ziel zu erreichen? Und ist dieser Versuch erfolgreich? Diese Fragen werde ich im Folgenden erörtern. Ich werde zunächst die Grundzüge der von Axel Honneth ausgearbeiteten sozialen Anerkennungstheorie skizzieren (2) und darlegen, welche Kritik sie auf Seiten von Nancy Fraser und anderen Kritischen Theoretikern hervorgerufen hat (3). Im verbleibenden Teil meines Aufsatzes werde ich dann zeigen, wie diese Kritik im Rahmen einer Anerkennungstheorie Honnethscher Prägung entkräftet werden kann (4) und warum ein solcher Ansatz fur die Kritische Theorie attraktiv ist (5).
Vgl. zur Begründung dieser Position Schmidt am Busch (2009a) sowie die dort genannte Literatur. 7
Vgl. z. B. Bourdieu et al. (1997), Castel (2000) und (2005) sowie Sennett (1998) und (2005).
8
Das philosophische Interesse an den Fragen, ob es so etwas wie ein Recht auf Arbeit und / oder einen normativen Anspruch auf ein unbedingtes, existenzsicherndes Grundeinkommen gebe, fallt in diesen Zusammenhang.
9
Fraser, Honneth (2003), S. 10.
L A S S E N SICH DIE Z I E L E DER F R A N K F U R T E R S C H U L E A N E R K E N N U N G S T H E O R E T I S C H E R R E I C H E N ?
245
2. Die Kritische Theorie als Anerkennungstheorie Rekonstruiert man die Grundzüge der aktuellen Kritischen Theorie anhand der Schriften Axel Honneths, dann lässt sich Folgendes feststellen: In gesellschaftstheoretischer Hinsicht ist die Annahme grundlegend, dass die Kernbereiche von Gesellschaften „Institutionalisierungen"10 spezifischer Formen von Anerkennung sind. Nach dieser Auffassung wird jede Gesellschaft durch Interaktionsbeziehungen konstituiert, die „in unterschiedlichen Prinzipien der reziproken Anerkennung verankert sind"11. Eine so verstandene soziale Wirklichkeit ist durch eine „normativ gehaltvolle Gesellschaftstheorie"12 zu analysieren, deren Grundbegriffe auf eben diese Erwartungen zugeschnitten sind. Aus diesem Grunde sieht Honneth in der Kategorie der Annerkennung einen sozialontologischen „Schlüsselbegriff"3. Vom Standpunkt der aktuellen Kritischen Theorie sind im Fall von bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften die folgenden drei Anerkennungsrelationen konstitutiv: Liebe, Respekt und soziale Wertschätzung. Sie versteht Honneth wie folgt: Individuen, die in einer Liebesbeziehung stehen, bejahen einander als leiblich-bedürftige Wesen, Individuen, die sich respektieren, behandeln einander als Subjekte, denen „dieselbe Autonomie" sowie ,,gleiche[] Rechte und Pflichten" zukommen, und Individuen, die sich wertschätzen, begegnen einander als Inhaber von „Fähigkeiten und Talenten [...], die von Wert für die Gesellschaft sind".'4 Gemäß der oben genannten gesellschaftstheoretischen Grundannahme der Kritischen Theorie ist nun zu zeigen, dass sich die Kernbereiche bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften als Institutionalisierungen von Liebe, Respekt und sozialer Wertschätzung verstehen lassen. Genau diesen Nachweis beansprucht Honneth zu führen. Das ist daran zu ersehen, dass er seine gesellschaftstheoretische Analyse explizit auf das bezieht, was er als die „Kerninstitutionen der kapitalistischen Gesellschaftsform"15 ansieht: die sozialen Sphären der modernen Familie, des demokratischen Rechtsstaats und der modernen Arbeitswelt. Nach Honneths Auffassung sind Familien- und partnerschaftliche Beziehungen in der Moderne durch eine „liebevolle Sorge um das Wohlergehen des anderen im Hinblick auf seine individuelle Bedürfnislage"16 charakterisiert; ferner lasse sich der demokratische Rechtsstaat als eine „Institutionalisierung der Idee der rechtlichen Gleichheit"17 aller Bürger verstehen; und schließlich sei die „kulturelle Leitidee der individuellen Leistung'", welche der Legitimierung der Ressourcenverteilung in modernen Arbeitswelten diene, eine Ausgestaltung der Anerkennungsform der sozialen Wertschätzung. Aus diesen Gründen lässt sich Honneth zufolge „die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsform als eine institutionalisierte Anerkennungsordnung [...] interpretieren"18.
10
Honneth (2003), 165. Vgl. auch Honneth (2003), S. 161.
11
Ebd., S. 173.
12
Ebd., S. 160.
13
Ebd., S. 7.
14
Ebd., S. 168. - Im Rahmen der hier gegebenen Theorieskizze ist eine nähere Bestimmung dieser Anerkennungsformen nicht erforderlich. Auf Honneths Konzeption sozialer Wertschätzung werde ich weiter unten näher eingehen. Vgl. Kapitel 4.
15
Honneth (2003), S. 164.
16
Ebd., S. 164.
17
Ebd., S. 165.
18
Ebd., S. 162.
246
H A N S - C H R I S T O P H SCHMIDT AM B U S C H
In moralphilosophischer Hinsicht ist für die aktuelle Kritische Theorie die Annahme zentral, dass Menschen nur durch die Teilnahme an „Sozialbeziehungen, die Einstellungen wechselseitiger Anerkennung verlangen" 19 , ein positives evaluatives Selbstverhältnis ausbilden können. Allerdings ist diese These in dem Sinne formal, dass sie keine (näheren) Informationen bezüglich der Ausgestaltung jener sozialen Beziehungen enthält. In der Tat vertritt Honneth die Auffassung, dass die Teilnahme an den jeweils gesellschaftlich ausgebildeten Anerkennungsverhältnissen eine „notwendige Voraussetzung" 20 für die Ausbildung von Selbstachtung sei, dass der Inhalt dieser Verhältnisse bzw. die Art der gesellschaftlich ausgebildeten Anerkennungsrelationen aber geschichtlichen Veränderungen unterliege. Offenbar sind seines Erachtens qualitativ verschiedene Anerkennungskonstellationen, die sich im Verlauf der (menschlichen) Geschichte ausgebildet haben, gleichermaßen geeignet gewesen, zur Ausbildung von positiven individuellen Selbstverhältnissen beizutragen. 21 In gesellschaftspolitischer Hinsicht besteht das Ziel der aktuellen Kritischen Theorie in der Ausarbeitung einer Kritik am zeitgenössischen „Neoliberalismus" 22 . Zentral sind in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen zwei Arten von Kapitalismus, einem „sozialdemokratischen" und einem „neoliberalen", sowie die Annahme, dass neoliberale, nicht aber sozialdemokratisch verfasste gesellschaftliche Ordnungen vom Standpunkt der Anerkennungstheorie problematisch seien. 23 Während sozialdemokratische Kapitalismusvarianten durch weitgehend regulierte Märkte, signifikante sozialstaatliche Leistungen und die Bereitschaft zu einer staatlichen Investitionspolitik gekennzeichnet seien, hätten neoliberale Ordnungen die folgenden Merkmale: weitgehend deregulierte Märkte, ein vergleichsweise niedriges sozialstaatliches Niveau sowie eine Unternehmenskultur, durch die die Interessen von Kapitaleigentümern stark begünstigt werden. 24 In der nordamerikanischen und westeuropäischen Geschichte seien sozialdemokratische Kapitalismusmodelle zwischen 1945 und 1980 dominant gewesen, während seitdem eine „neoliberale Revolution" 25 zu beobachten sei.
19
Ebd., S. 169.
20
Ebd., S. 209.
21
Honneth hat jüngst Überlegungen zu einer „robusten Fortschrittskonzeption" angestellt, die es rechtfertigen würde, „in den kulturellen Wandlungen der menschlichen Werteigenschaften eine gerichtete Entwicklung zu vermuten, die begründete Urteile über die transhistorische Geltung der jeweiligen Anerkennungskultur erlauben würde". (In: Honneth (2003a), S. 324 f.) Wie Honneth selbst einräumt, handelt es sich bei diesen Überlegungen allerdings lediglich um eine Theorieskizze.
22
Vgl. Honneth (2002), Honneth (2009) und Hartmann, Honneth (2006).
23
Das ist zumindest die in Hartmann, Honneth (2006) vertretene Position. Vgl. zu Honneths Verständnis und Bewertung des sozialdemokratischen Kapitalismus auch Renault (2009).
24
Die Frage, was unter einer neoliberalen Ordnung zu verstehen ist, wird unter Wissenschaftlern und in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. Angesichts dieses Umstands habe ich weiter oben darauf verzichtet, den Begriff „neoliberal" zu verwenden. (Siehe Kapitel 1.) Wie sein Gebrauch des Ausdrucks „neoliberale Revolution" deutlich macht, bezeichnet Honneth hiermit diejenige Wirtschaftspolitik, die als Reaktion auf die Krise des Keynesianismus eingeleitet worden ist; und aus seiner Bestimmung von „neoliberal" geht hervor, dass Honneth diese Wirtschaftspolitik in ihren Grundzügen so charakterisiert, wie ich dies in Kapitel 1 getan habe.
25
Hartmann, Honneth (2006), S. 44.
L A S S E N SICH DIE Z I E L E DER F R A N K F U R T E R S C H U L E A N E R K E N N U N G S T H E O R E T I S C H E R R E I C H E N ?
247
In methodologischer Hinsicht stellt die aktuelle Kritische Theorie eine Kritik am Neoliberalismus in Aussicht, die in dem Sinne „internalistisch" 26 ist, dass sie ihren Maßstab in genau jenen Anerkennungsrelationen hat, welche fur bürgerlich-kapitalistische Gesellschaften konstitutiv seien. Honneth illustriert dieses Kritikmodell anhand von Verteilungskonflikten. Nach seiner Auffassung sind derartige gesellschaftliche Auseinandersetzungen wesentlich Kämpfe um Anerkennung, die in bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften unter Geltendmachung der Prinzipien des Respekts und/oder der sozialen Wertschätzung ausgetragen werden (können). Forderungen nach Umverteilung von wirtschaftlichen Gütern werden hier mit gesellschaftlicher Zustimmung rechnen können, wenn sie sich auf den Nachweis stützen, dass auf diesem Wege eine Verletzung von Ansprüchen aufgehoben wird, die sich aus jenen Anerkennungsprinzipien ergibt. Die Aufgabe des Kritischen Theoretikers besteht im vorliegenden Zusammenhang darin, die fraglichen Nachweise zu führen und die genannten Zusammenhänge explizit zu machen. Da er sich hierbei argumentativ auf Prinzipien stützen müsse, die für bürgerlich-kapitalistische Gesellschaften konstitutiv seien, betreibe er eine „internalistische" Kritik in dem oben genannten Sinn.
3. Nancy Fräsers Kritik Der Versuch, kapitalistische Arbeitswelten anerkennungstheoretisch zu analysieren, hat vehemente Kritik hervorgerufen. 27 Eine Reihe von Kritischen Theoretikern hat die Befürchtung geäußert, dass ein Festhalten an Honneths sozialtheoretischer Grundannahme - dass bürgerlich-kapitalistische Gesellschaften institutionalisierte Annerkennungsordnungen seien - eine Analyse von kapitalistischen Märkten unmöglich mache. Aus ihrer Sicht ist das Vorhaben einer anerkennungstheoretischen Analyse der „Kerninstitutionen" bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften deshalb zum Scheitern verurteilt. Trifft diese Einschätzung zu, dann ist femer nicht ersichtlich, wie eine (in dem oben explizierten Sinne) „internalistische" anerkennungstheoretische Kritik am gegenwärtigen, neoliberalen Kapitalismus aussehen könnte. Folglich liefe die aktuelle Kritische Theorie Gefahr, sowohl ihre sozialtheoretischen als auch ihre sozialkritischen Ziele zu verfehlen. Auf welche Argumente stützt sich die in Rede stehende Kritik an der Anerkennungstheorie? Und ist sie zutreffend? Diese Fragen werde ich nun im Ausgang von Nancy Fräsers detaillierter - und einflussreicher - Kritik an Honneths Anerkennungstheorie untersuchen. Nach Fräsers Auffassung ist die Frage, „wie die Kritische Theorie die Gesellschaftsstruktur des heutigen Kapitalismus verstehen soll"28, von Honneth nur unzureichend beantwortet worden. Gemäß der von ihm vertretenen Anerkennungstheorie werde „die Sphäre der Arbeit vom Leistungsprinzip dominiert, das die Lohnhöhe danach bestimmt, wie wertvoll der jeweilige Sozialbeitrag einzuschätzen ist. Deshalb sind Auseinandersetzungen in Sachen Verteilung letztlich nur Auseinandersetzungen in puncto Anerkennung, die die kulturelle Interpretation von Leistung zu verändern suchen. [...] Daraus müssen wir schließen, dass marktvermittelte gesellschaftliche Interaktionen keinen besonderen Status haben, weil sie wie alle anderen 26
Honneth (2003a), S. 334.
27
Vgl. z. B. Fraser (2003), Renault (2004) und Zum (2005). Vgl. auch die kritische Diskussion dieser Positionen in Deranty (2009).
28
Fraser (2003), S. 242.
248
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Interaktionen durch kulturelle Bewertungsschemata reguliert werden. Deshalb gibt es keinen Ansatzpunkt und sonst auch keinerlei Möglichkeit dafür, spezifische ökonomische Mechanismen der kapitalistischen Gesellschaft begrifflich zu erfassen." 29 Diese Kritik präzisiert Fraser wie folgt: „Diese Überlegungen gelten erst recht für die Arbeitsmärkte von kapitalistischen Gesellschaften. Hier wird die Vergütung von Arbeit eben nicht durch das Leistungsprinzip geregelt. [...] [Bedeutsam sind [hier] politisch-ökonomische Faktoren wie das Angebot von und die Nachfrage nach unterschiedlichen Arbeitsleistungen; die Machtbalance zwischen Arbeit und Kapital; die Dichte und Konsequenz der Sozialgesetzgebung (einschließlich des Mindestlohns); die Verfügbarkeit und die Kosten produktionssteigernder Technologien; die Leichtigkeit, mit der die Konzerne ihre Tätigkeiten in Regionen verlegen können, in denen das Lohnniveau niedriger ist; die Kreditzinsen, die Außenhandelspolitik und schließlich die Wechselkurse zwischen den Ländern. In dieser heterogenen Mischung verschiedener Faktoren nehmen Ideologien von angemessenen Leistungen keineswegs einen herausragenden Platz ein. Vielmehr werden ihre Effekte durch das Wirken von unpersönlichen Systemmechanismen vermittelt, die die Maximierung von Unternehmerprofiten an die erste Stelle setzen." 30 Fräsers Schlussfolgerung lautet: Honneths oben skizzierte Anerkennungstheorie sei „von Natur aus blind für solche Systemmechanismen, die nicht auf kulturelle Bewertungsschemata reduziert werden können". 31 Mit der Annahme, „das Marktgeschehen sei gänzlich der Dynamik der Anerkennung unterworfen", 32 habe Honneth eine Theorie vorgelegt, die als „beschränkte[r] Kulturalismus"3i zu kritisieren sei. Fräsers Argumentation lässt sich wie folgt zusammenfassen: Honneth behauptet, dass kapitalistische Arbeitswelten Institutionalisierungen des Anerkennungsprinzips der individuellen Leistung sind; wenn diese Behauptung richtig ist, ist die Höhe von Arbeitseinkommen eine Funktion von kulturellen Annahmen bezüglich des Werts der entlohnten Tätigkeiten; diese Schlussfolgerung ist jedoch falsch. Nach Fräsers Auffassung ist es nämlich nicht möglich, die hinsichtlich der Höhe von Arbeitseinkommen relevanten Faktoren auf „kulturelle Bewertungsschemata" bezüglich des gesellschaftlichen Werts der fraglichen Tätigkeiten zurückzuführen. Mit dieser Überlegung beansprucht Fraser zu zeigen, dass sich kapitalistische Arbeitswelten anerkennungstheoretisch nicht analysieren lassen. Demnach bezieht sich ihre Kritik nicht nur auf die von Honneth vorgelegte Theorie, sondern grundsätzlich auf eine bestimmte Art von Sozialtheorie. Dass Fraser diesen Anspruch erhebt, ist daran zu ersehen, dass sie glaubt, mit jener Überlegung eine stringente Begründung dafür gegeben zu haben, dass sich kapitalistische Arbeitsmärkte nur systemtheoretisch angemessen analysieren lassen.34 Sollten sich Fräsers Überlegungen als berechtigt erweisen, wäre ferner das Vorhaben einer anerkennungstheoretischen Kritik am Neoliberalismus, die in dem oben explizierten Sinne
29 30 31 32 33 34
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. S. S. S.
244 (meine Hervorhebung). 246 (meine Hervorhebung). 246. 248.
Ebd., S. 248 (meine Hervorhebung). Ebd., S. 245.
L A S S E N SICH DIE Z I E L E DER F R A N K F U R T E R S C H U L E A N E R K E N N U N G S T H E O R E T I S C H E R R E I C H E N ?
249
„internalistisch" ist,35 preiszugeben. Falls die Distribution von Gütern und Einkommen in der Tat sehr stark durch „politisch-ökonomische Faktoren" beeinflusst wird, die von den gesellschaftlich ausgebildeten Formen von Anerkennung unabhängig sind, müssten ungerechte Verteilungsstrukturen unter Bezugnahme auf jene Faktoren erklärt und durch eine (politische) Steuerung derselben modifiziert werden. Demgegenüber würde eine anerkennungstheoretische Kritik an wirtschaftlichen Ungerechtigkeiten keine adäquaten Maßnahmen zur Beseitigung derselben spezifizieren können. Sie wäre deshalb theoretisch irreführend und politisch kontraproduktiv. Ist Fräsers Kritik berechtigt? In diesem Zusammenhang ist zweierlei zu bemerken: Einerseits - so ist zu beachten - gibt es innerhalb der Ökonomie ein wachsendes Bewusstsein für die Relevanz von Normen hinsichtlich des Verhaltens von wirtschaftlichen Akteuren.36 Dieser Zusammenhang ist für die Vertreter der sogenannten Neuen Institutionenökonomik von grundlegender Bedeutung. Nach ihrer Auffassung bedarf es einer Berücksichtigung von „Normen, Sitten, Traditionen und Gebräuchen", 37 um das Verhalten von wirtschaftlichen Akteuren angemessen beschreiben und zuverlässig prognostizieren zu können: „Prognosen über menschliches Verhalten, die mit Hilfe des einfachen Modells des homo oeconomicus erstellt wurden, haben sich häufig als falsch erwiesen. Wenn man an dem allgemeinen Verhaltensmodell, in dem von konstanten Präferenzen auf der einen Seite ausgegangen wird, und Restriktionen, deren Änderung allein Verhaltensänderungen induzieren kann, jedoch festhalten will, dann ist man gut beraten, sich die relevanten Restriktionen etwas genauer anzuschauen, als das bisher häufig der Fall gewesen ist. Institutionenökonomen gehen davon aus, dass die Exaktheit von Prognosen, die auf Basis des einfachen ökonomischen Verhaltensmodells generiert werden, substanziell verbessert werden kann, wenn Restriktionen, die auf internen Institutionen beruhen - wie etwa Gewohnheiten, Traditionen, ethischen Regeln usf. - vollständiger als bisher in Rechnung gestellt werden." 38 Aus institutionenökonomischer Sicht ist die Berücksichtigung von „Normen, Sitten, Traditionen und Gebräuchen" also ein sozialtheoretisches Erfordernis. Wenn nun, wie Honneth glaubt, die für „bürgerlich-kapitalistische Gesellschaften" konstitutiven Normen Anerkennungsnormen sind, dann wäre die Anerkennungstheorie vom Standpunkt der Institutionenökonomik ein unverzichtbares - und zentrales - Element der Analyse wirtschaftlichen Verhaltens. Folglich gibt es innerhalb der zeitgenössischen Ökonomik Überlegungen, die dafür sprechen, Honneths Anerkennungstheorie in sozialtheoretischer Hinsicht ernst zu nehmen. 39 Andererseits hat es die Kritische Theorie bisher versäumt, die Relevanz der Anerkennungstheorie hinsichtlich wirtschaftlicher Gegebenheiten ausreichend zu erhellen. Angesichts von Honneths sozialtheoretischem Anspruch wäre zu zeigen, dass und in welchem Sinne „die Kerninstitutionen der kapitalistischen Gesellschaftsform" Institutionalisierungen von spezifischen Anerkennungsformen sind. In diesem Zusammenhang müsste deutlich werden, warum neoliberale Märkte anerkennungstheoretisch analysiert und kritisiert werden können. Wie ich 35 36
Vgl. Kapitel 2. In dieselbe Richtung weisen aktuelle soziologische Untersuchungen. Vgl. z. B. Beckert (2007) und Stehr (2007).
37
Voigt (2002), S. 19.
38
Ebd., S. 41.
39
Vgl. zum Verhältnis von Anerkennungstheorie und Institutionenökonomik auch Deranty (2009).
250
H A N S - C H R I S T O P H SCHMIDT AM B U S C H
an anderer Stelle gezeigt habe,40 hat Honneth bisher nicht dargelegt, wie sich die oben genannten Untersuchungsziele auf der Grundlage der von ihm eingeführten Kategorien des rechtlichen Respekts und der sozialen Wertschätzung erreichen lassen. Allerdings folgt hieraus nicht - wie von Fraser unterstellt - , dass es unmöglich ist, neoliberale Märkte anerkennungstheoretisch zu verstehen. Welche Erfolgsaussichten ein solcher Versuch hat, ist also eine offene Frage.
4. Soziale Wertschätzung Eine Diskussion von Honneths Konzeption sozialer Wertschätzung ist hinsichtlich der Klärung der Frage, ob sich die sozialtheoretischen und -kritischen Ziele der aktuellen Kritischen Theorie im Rahmen einer gesellschaftlichen Anerkennungstheorie erreichen lassen, äußerst aufschlussreich. Aus diesem Grunde werde ich im Folgenden einige Fragen und Probleme erörtern, welche jene Wertschätzungskonzeption aufwirft. Ich werde mich in diesem Zusammenhang auf drei Punkte konzentrieren, die ich jeweils in einem eigenen Kapitel behandeln werde. Die Relevanz meiner Überlegungen hinsichtlich der von Nancy Fraser und Anderen geäußerten Kritik an der Anerkennungstheorie werde ich separat kenntlich machen. 41
4.1 Zwei Arten von Wertschätzung Worauf bezieht sich soziale Wertschätzung? Welche moralphilosophische Relevanz hat diese Form von Anerkennung? Und welche institutionelle Gestalt hat soziale Wertschätzung in bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften? Diese Fragen werden von Honneth (in der Regel)42 wie folgt beantwortet: Soziale Wertschätzung bezieht sich auf „Fähigkeiten und Talente", deren Anwendung „von Wert für die Gesellschaft" 43 ist. Dementsprechend wird ein Mensch, der sozial wertgeschätzt wird, „als Person anerkannt, deren Fähigkeiten von konstitutivem Wert für eine konkrete Gemeinschaft sind" 44 . Die moralphilosophische Relevanz von sozialer Wertschätzung besteht nach Honneth darin, dass diese Form von Anerkennung eine notwendige Bedingung für die Ausbildung der Überzeugung ist, „gute oder wertvolle Fähigkeiten zu besitzen", 45 und dass diese Überzeugung ein notwendiges Element von „Selbstschätzung" 46 bzw. eines stabilen positiven „Selbstwertgefühls" 47 ist. Menschen, die keinerlei soziale Wertschätzung erhalten, können also sich selbst nicht als wertvoll erachten. Hinsichtlich der institutionellen Gestalt von sozialer Wertschätzung in bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften stellt Honneth Folgendes fest: „Schon ein kurzer Blick in Untersuchungen, die die psychischen Folgen der Arbeitslosigkeit behandeln, führt unmissverständlich vor Augen, dass der Erfahrung der Arbeit in dem 40
Vgl. Schmidt am Busch (2008).
41
Siehe unten, Kapitel 5.1.
42
In Honneth (2003) werden diese Fragen zum Teil anders beantwortet. Siehe unten, Kapitel 4.2.
43
Honneth (2003), S. 168.
44
Honneth (2000a), S. 187. - Den von Honneth behaupteten „konstitutiven" Aspekt (des Werts) der fraglichen Fähigkeiten lasse ich im Folgenden außer acht.
45
Honneth (2000a), S. 183.
46
Ebd., S. 209.
47
Ebd., S. 183.
L A S S E N SICH DIE Z I E L E DER F R A N K F U R T E R S C H U L E A N E R K E N N U N G S T H E O R E T I S C H E R R E I C H E N ?
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sich abzeichnenden Konzept [von sozialer Wertschätzung - SaB] eine zentrale Stellung zukommen muß; denn mit der Chance, einer ökonomisch entlohnten und somit sozial geregelten Arbeit nachzugehen, ist auch heute noch der Erwerb jener Form von Anerkennung verknüpft, die ich soziale Wertschätzung genannt habe." 48 Demnach vertritt Honneth die These, dass in bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften das Haben oder Ausüben von Erwerbsarbeit eine hinreichende Bedingung für den Erhalt von sozialer Wertschätzung ist. Wie sein Hinweis auf die „psychischen Folgen der Arbeitslosigkeit" nahelegt, scheint er zudem der Auffassung zu sein, dass die Teilnahme am System der Erwerbsarbeit für die Mitglieder solcher Gesellschaften eine notwendige Bedingung für den Erhalt von sozialer Wertschätzung ist. Angesichts der obigen Bestimmung der Hinsicht von sozialer Wertschätzung folgt hieraus, dass Menschen, die erwerbstätig sind, als Inhaber von spezifischen Fähigkeiten sozial wertgeschätzt werden und dass Menschen, die nicht erwerbstätig sind, in dieser Hinsicht nicht sozial wertgeschätzt werden. Folglich können jene, nicht aber diese Personen die Überzeugung haben, „gute oder wertvolle Fähigkeiten zu besitzen", und mithin ein positives „Selbstwertgefühl" oder eine Haltung der „Selbstschätzung" ausbilden. Tabellarisch lässt sich dieser Zusammenhang wie folgt darstellen: Selbstverhältnis
Anerkennungsverhältnis
institutionelle Gestalt
Wertschätzung als Inhaber spezifischer Fähigkeiten
Wertschätzung als Inhaber gesellschaftlich wertvoller Fähigkeiten
Ausüben von Erwerbsarbeit
(Tabelle 1)
Meines Erachtens ist es im vorliegenden Zusammenhang wichtig, zwischen den folgenden beiden Hinsichten von Wertschätzung zu unterscheiden: 1. Wertschätzung als Inhaber von spezifischen Fähigkeiten; und 2. Wertschätzung als Erbringer von gesellschaftlich nützlichen Leistungen. Diese Unterscheidung ist deshalb wichtig, weil es in bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften Formen von Erwerbsarbeit gibt, die als gesellschaftlich nützlich angesehen werden, aber nach allgemeiner Auffassung nicht die Aktualisierung von etwas beinhalten, was als eine nicht-triviale Fähigkeit 49 oder als Talent gilt. Beispiele von solchen Arbeiten sind sogenannte Hilfsarbeiten oder Tätigkeiten in nach tayloristischen Prinzipien 50 organisierten Betrieben. Es ist meines Erachtens nicht ersichtlich, wie die Ausübung von Arbeiten dieser Art auf Seiten des Berufstätigen zur Ausbildung der Überzeugung beitragen könnte, „gute oder wertvolle
48
Honneth (2000), S. 104.
49
Dass Honneth nicht beliebige Tätigkeiten als Aktualisierungen von Fähigkeiten ansieht, folgt aus seiner Behauptung, dass „soziale Wertschätzung [...] nur solchen Eigenschaften und Fähigkeiten gelten kann, in denen die Gesellschaftsmitglieder sich voneinander unterscheiden: als .wertvoll' vermag eine Person sich nur zu empfinden, wenn sie sich in Leistungen anerkannt weiß, die sie gerade nicht mit anderen unterschiedslos teilt". (Honneth (2003a), S. 203) Diese Äußerung scheint mir sachlich richtig zu sein.
50
Vgl. Taylor (1977).
HANS-CHRISTOPH SCHMIDT AM BUSCH
252
Fähigkeiten zu besitzen". Demgegenüber scheint mir die Behauptung richtig zu sein, dass sich Menschen aufgrund der Verrichtung solcher Arbeiten als gesellschaftlich nützliche Subjekte verstehen und schätzen können. Allerdings - so ist zu ergänzen - ist die moderne Arbeitswelt auch in puncto Wertschätzung als Inhaber spezifischer Fähigkeit von größter Wichtigkeit. Zwar ist es selbstverständlich möglich, dass Menschen aufgrund von Fähigkeiten, die keine Anwendung in der Arbeitswelt finden, soziale Wertschätzung erfahren, und es ist auch möglich, dass sie diese Fähigkeiten außerhalb der Arbeitswelt erworben haben; faktisch erfordert jedoch der Erwerb vieler Qualifikationen, die in Gesellschaften wie den unsrigen soziale Wertschätzung begründen, eine (lange) Ausbildung in einem spezialisierten und technisierten beruflichen Umfeld. Allein aufgrund der zeitlichen Inanspruchnahme durch ihren B e r u f wäre es für sehr viele Menschen schwierig, außerhalb der Arbeitswelt so etwas wie nicht-triviale Fähigkeiten auszubilden und als Inhaber derselben Wertschätzung zu finden.
4.2 Meritokratische Wertschätzung In seiner Kontroverse mit Nancy Fraser bestimmt Honneth die Hinsicht und die institutionelle Gestalt von sozialer Wertschätzung anders als in denjenigen Schriften, auf die ich mich bei meiner obigen Rekonstruktion gestützt habe.52 In „Umverteilung als Anerkennung. Eine Erwiderung auf Nancy Fraser" (im Folgenden: UA) behauptet er, dass sich soziale Wertschätzungen auf Arbeitleistungen „mit einem bestimmten quantifizierbaren Nutzen für die Gesellschaft" bezieht, und er vertritt die These, dass „die persönliche erbrachte Leistung" in bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften festlegt, „wieviel Ressourcen die einzelnen Gesellschaftsmitglieder legitimerweise jeweils individuell zur Verfügung haben".53 Der Sache nach wird damit behauptet, dass die Mitglieder moderner Gesellschaften sich als Erbringer mehr oder weniger gesellschaftlich nützlicher Leistungen mehr oder weniger Wertschätzung entgegenbringen; soziale Wertschätzung bezieht sich hier also auf die zweite der oben von mir unterschiedenen Arten von Wertschätzung.54 Zwar ist die Arbeitswelt auch nach UA der Ort der Distribution von sozialer Wertschätzung; hinsichtlich des Mehr oder Weniger an sozialer Wertschätzung, auf das ein Einzelner Anspruch hat, ist nun aber die gesellschaftliche Nützlichkeit der von ihm ausgeübten Berufsarbeit entscheidend. Auf der Grundlage dieser graduellen Konzeption sozialer Wertschätzung behauptet Honneth nun, dass das Einkommen, welches dem gesellschaftlichen Nutzen der mit ihm entlohnten Tätigkeit angemessen ist, diejenige Institution sei, in der sich die Wertschätzung des Einzelnen durch die Gesellschaft „legitimerweise" manifestiert.55 Und er ergänzt: Mit der Etablierung dieser Form von sozialer
51
Siehe oben, Kapitel 1.
52
Siehe Kapitel 4.1.
53
Honneth (2003), S. 166 f.
54
Siehe Kapitel 4.1.
55
Die Bewertung von Arbeitsleistungen gemäß dem Prinzip der individuellen Leistungen „stellt [...] den institutionellen Rahmen dar, innerhalb dessen diejenigen Kriterien oder Prinzipien auf normative Zustimmung stoßen können, nach denen sich die Verteilung von Ressourcen in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft vollziehen soll" (Honneth (2003), S. 167).
LASSEN SICH DIE ZIELE DER FRANKFURTER SCHULE ANERKENNUNGSTHEORETISCH ERREICHEN?
253
Wertschätzung hätten bürgerlich-kapitalistische Gesellschaften die vormoderne, feudale Konzeption von Ehre „gewissermaßen ,meritokratisiert"'56. Die in UA vertretene Konzeption sozialer Wertschätzung hat demnach die folgenden Komponenten: Selbstverhältnis
Anerkennungsverhältnis
institutionelle Gestalt
Wertschätzung als Inhaber
Wertschätzung als Erbringer mehr oder
(Höhe des) Arbeits-
spezifischer Fähigkeiten
weniger gesellschaftlich nützlicher
einkommen^)
Leistungen (Tabelle 2)
Meines Erachtens ist diese Konzeption sozialer Wertschätzung intern problematisch, und sie steht in einem Spannungsverhältnis zum Anerkennungsprinzip des rechtlichen Respekts (in Honneths Verständnis) sowie zu einer Befürwortung von sozialstaatlichen Maßnahmen und Institutionen. Diese beiden Thesen werde ich im Folgenden jeweils in einem eigenen Kapitel erörtern. 4.2.1 Zum Verhältnis von Anerkennungs-
und
Selbstverhältnis
Die in UA vorgelegte Konzeption sozialer Wertschätzung ist hinsichtlich der Relation von Annerkennungs- und Selbstverhältnis problematisch. Wir sahen oben, dass das moralphilosophische Interesse von Honneths Konzeption sozialer Wertschätzung auf der Annahme beruht, dass das Vorliegen einer bestimmten Art von Annerkennung (nämlich: Wertschätzung als Inhaber spezifischer Fähigkeiten) eine notwendige Bedingung für die Ausbildung einer bestimmten Art von individuellem Selbstverhältnis (nämlich: Selbstwertschätzung als Inhaber spezifischer Fähigkeiten) ist. Wie plausibel aber ist diese Annahme im vorliegenden Fall? In diesem Zusammenhang ist dreierlei zu bemerken: 1. Wie bereits geäußert, ist es möglich, gesellschaftlich nützliche Leistungen zu erbringen, ohne etwas zu aktualisieren, was nach allgemeiner Auffassung eine (nicht-triviale) Fähigkeit oder ein Talent wäre. Bezeichnungen wie „unqualifizierte Arbeit" oder „Hilfsarbeit" bringen diesen Zusammenhang zum Ausdruck. Selbst wenn solche Arbeiten einen sehr großen gesellschaftlichen Nutzen haben (was beispielsweise bei Naturkatastrophen oder in Kriegssituationen der Fall sein kann), also relativ große Wertschätzung durch die Gesellschaft begründen, ist meines Erachtens nicht ersichtlich, weshalb sie dem Arbeitenden das Bewusstsein vermitteln könnten, wertvolle Fähigkeiten zu haben. (Denkbar ist es natürlich, dass die Bereitschaft, derartige Arbeiten etwa in Situationen der oben genannten Art auszuüben, soziale Wertschätzung begründet; allerdings bezieht sich diese Form von Anerkennung wiederum auf das Nützlich-Sein fur Andere bzw. die Gesellschaft, nicht aber auf die Art der ausgeübten Arbeit.) 2. Die in Rede stehende Relation von Anerkennungs- und Selbstverhältnis ist in quantitativer Hinsicht problematisch. (Das folgt aus 1.) Auch im Fall von Arbeiten, die nach allge56
Honneth (2003), S. 166.
254
H A N S - C H R I S T O P H SCHMIDT AM B U S C H
meiner Auffassung eine Aktualisierung nicht-trivialer Fähigkeiten beinhalten, kann eine Steigerung (Verringerung) des gesellschaftlichen Nutzens durch Faktoren bedingt sein, welche die arbeitsrelevanten Fähigkeiten nicht betreffen, etwa durch eine Änderung der Arbeitsintensität, den Einsatz von anderen Werkzeugen und Maschinen oder eine Änderung der Bedürfnisse der Konsumenten. Umgekehrt führt nicht jede Maßnahme der beruflichen Weiterbildung zu einer Steigerung des gesellschaftlichen Nutzens von Arbeitsleistungen; technologische Neuerungen oder Änderungen der gesamtgesellschaftlichen Nachfrage können Wissensbestände in dieser Hinsicht sogar überflüssig machen. Weil also eine Änderung der eigenen beruflichen Fähigkeiten weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für eine Änderung des gesellschaftlichen Nutzens der eigenen Arbeit ist, erlaubt ein Mehr an sozialer Wertschätzung keinen Rückschluss auf ein Mehr an angewandten Fähigkeiten. 3. Angenommen, wir würden in einer Welt leben, in der jede Steigerung des gesellschaftlichen Nutzens einer Arbeitseinheit auf eine quantitativ entsprechende Verbesserung der beruflichen Fähigkeiten des Arbeitenden zurückzuführen wäre und in der jeder gemäß dem gesellschaftlichen Nutzen seine Arbeit entlohnt werden würde. Müssten die in dieser Welt Lebenden aufgrund der von ihnen bezogenen Einkommen nicht die Überzeugung ausbilden, mehr oder weniger wertvolle Fähigkeiten besitzen? Anders gefragt: Würde der meritokratische Aspekt der in Rede stehenden Form von sozialer Wertschätzung nicht auch ihr Selbstverhältnis prägen? Und ist bezüglich einer solchen Welt die Annahme plausibel, dass die Empfänger (sehr) niedriger Einkommen aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit die Überzeugung ausbilden werden, „gute oder wertvolle Fähigkeiten" zu haben? Oder müsste man nicht vielmehr vermuten, dass sie sich als Inhaber nahezu wertloser Fähigkeiten verstehen, also tendenziell ein schwaches oder negatives „Selbstwertgefühl" ausbilden?57 Angesichts dieser Überlegungen ist die in UA vorgelegte Konzeption sozialer Wertschätzung hinsichtlich der Relation von Annerkennungs- und Selbstverhältnis als problematisch anzusehen. Es ist in der Tat nicht ersichtlich, warum soziale Wertschätzung, die auf den gesellschaftlichen Nutzen der eigenen Arbeit bezogen ist, hinsichtlich der Ausbildung des Bewusstseins, nicht-triviale Fähigkeiten zu besitzen, wichtig ist, und welche Relevanz ein Mehr an sozialer Wertschätzung in diesem Zusammenhang haben kann. Um das von mir analysierte Problem zu beseitigen, kann man beispielsweise die Hinsicht des Selbstverhältnisses an die des Anerkennungsverhältnisses ,anpassen'. In diesem Fall wird man behaupten, dass diejenigen Akteure, die an der in UA beschriebenen Praxis meritokatrischer Wertschätzung partizipieren, sich nach Maßgabe der ihnen zuteil werdenden sozialen Wertschätzung als mehr oder weniger gesellschaftlich nützliche Individuen verstehen und schätzen. Unter dieser Annahme ergibt sich die folgende Darstellung:
57
Vgl. in diesem Zusammenhang auch meine Überlegungen in Schmidt am Busch (2004) sowie Honneths Auseinandersetzung mit ihnen (in: Honneth (2004), S. 118).
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Selbstverhältnis
Anerkennungsverhältnis
institutionelle Gestalt
Wertschätzung als mehr oder
Wertschätzung als Erbringer
(Höhe des) Arbeits-
weniger gesellschaftlich
mehr oder weniger
einkommen^)
nützliches Individuum
gesellschaftlich nützlicher
255
Leistungen
(Tabelle 3)
Wie wir weiter unten sehen werden, 58 ist es allerdings zweifelhaft, ob die mit dieser Tabelle skizzierte Anerkennungskonzeption für die aktuelle Kritische Theorie ein attraktives Element sein kann.
4.2.2 Zum Verhältnis von meritokratischer Wertschätzung und rechtlichem Respekt Die in UA verteidigte Konzeption sozialer Wertschätzung steht in einem Spannungsverhältnis zum Anerkennungsprinzip des rechtlichen Respekts (in Honneths Verständnis) sowie zu einer Befürwortung von sozialstaatlichen Maßnahmen und Institutionen. Um dieses Spannungsverhältnis analysieren zu können, ist es erforderlich, zunächst eine Reihe von Vorüberlegungen anzustellen. Es ist selbstverständlich möglich, soziale Wertschätzung graduell aufzufassen und das Mehr oder Weniger dieser Form von Anerkennung, auf das der Einzelne Anspruch hat, an den gesellschaftlichen Nutzen von dessen Arbeit zu binden; und unter dieser Annahme ist es naheliegend, das jenem Nutzen gemäße Einkommen als diejenige Institution zu verstehen, in der die Wertschätzung des Einzelnen durch die Gesellschaft zum Ausdruck kommt. Allerdings stellt sich dann die Frage, wie der gesellschaftliche Nutzen verschiedener Arbeiten sowie die Höhe der ihnen entsprechenden Einkommen zu bestimmen sind. Unter der - in UA vertretenen - Annahme, dass meritokratische Wertschätzung ein Charakteristikum bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften ist, liegt es nahe, hinsichtlich der Beantwortung dieser Frage grundsätzlich zwischen den folgenden beiden Optionen zu unterscheiden: 1. Der Kritische Theoretiker, der an dem Konzept meritokratischer Wertschätzung festhalten möchte, kann die Position vertreten, dass Märkte grundsätzlich geeignet sind, den relativen Nutzen von Arbeitsleistung zu bestimmen. In dem Fall müsste er (i) spezifizieren, unter welchen Bedingungen Märkte diese Funktion erfüllen, und (ii) begründen, warum er dieser Auffassung ist. 2. Der Kritische Theoretiker, der an dem Konzept meritokratischer Wertschätzung festhalten möchte, kann die Position vertreten, dass Märkte nicht geeignet sind, den relativen Nutzen von Arbeitsleistungen zu bestimmen. In diesem Fall müsste er (iii) explizieren, wie der gesellschaftliche Nutzen verschiedener Arbeiten sowie die Höhe der ihnen entsprechenden Einkommen zu bestimmen sind, und (iv) begründen, warum er dieser Auffassung ist. Welche dieser beiden Optionen befürwortet Axel Honneth? Meines Erachtens gibt es sehr gute Gründe für die Annahme, dass er ein Befürworter von Option 1 ist. Zwei von ihnen seien im Folgenden genannt: 58
Vgl. Kapitel 4.3.
256
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1. Weder in UA noch in einer anderen Schrift entwickelt Honneth eine marktalternative Konzeption der Bestimmung des gesellschaftlichen Nutzens von Arbeitsleistungen und der Höhe der ihnen gemäßen Einkommen. Mehr noch: An keiner Stelle von Honneths Werk wird die Auffassung geäußert, dass eine solche Konzeption im Rahmen einer kritischen Gesellschaftstheorie zu entwickeln wäre. 2. In gesellschaftspolitischer Hinsicht besteht das Ziel der aktuellen Kritischen Theorie nicht in einer Kritik am Kapitalismus als solchen, sondern an dessen neoliberaler Spielart.59 Wie bereits geäußert, ist Honneth grundsätzlich der Auffassung, dass neoliberale, nicht aber sozialdemokratisch verfasste gesellschaftliche Ordnungen vom Standpunkt der Anerkennungstheorie problematisch sind. Da regulierte Märkte Bestandteile der zuletzt genannten Ordnungen sind, wäre es überraschend, wenn Honneth Märkte generell für ungeeignet hielte, den gesellschaftlichen Nutzen von Arbeitsleistungen zu bestimmen. Demnach ist die Annahme gerechtfertigt, dass Honneth ein Befürworter von Option 1 ist. Es stellt sich also die - unter (i) genannte - Frage, unter welchen Bedingungen Märkte geeignet sind, den gesellschaftlichen Nutzen von Arbeitsleistungen zu bestimmen. Honneths Antwort auf diese Frage lässt sich wie folgt zusammenfassen: Um diese Funktion angemessen zu erfüllen, müssen Märkte „sozialstaatlich eingehegt" 60 und frei von ideologischen „Verzerrungen"61 sein. Sozialstaatliche Maßnahmen und Institutionen werden in UA mit dem Anerkennungsprinzip des rechtlichen Respekts erklärt: „Aber gerade dieses Prinzip der rechtlichen Gleichbehandlung ist es dann auch, welches in einer Vielzahl von sozialen Kämpfen und Auseinandersetzungen vor allem von der Arbeiterklasse soweit mobilisiert werden konnte, dass es zur [...] Etablierung sozialer Rechte kommt; damit wird die Anerkennungssphäre des Leistungsprinzips gewissermaßen sozialstaatlich eingehegt." Und Honneth präzisiert: ,,[D]as normative Argument, mit dem die Durchsetzung sozialstaatlicher Absicherungen gewissermaßen ,rational' erzwungen wird, läuft im Kern auf die schwer zu bestreitende Behauptung hinaus, dass die Gesellschaftsmitglieder nur dann von ihrer rechtlichen garantierten Autonomie auch faktisch Gebrauch machen können, wenn ihnen gewerbsunabhängig ein Minimum an ökonomischen Ressourcen gesichert zur Verfügung steht."62 Demnach gilt: Mitglieder einer Gesellschaft, welche einander als autonome Subjekte respektieren, räumen einander soziale Rechte bzw. einklagbare erwerbsunabhängige Ansprüche auf gesellschaftliche Güter ein. Ideologische Verzerrungen liegen nach UA genau dann vor, wenn „reproduktionsnotwendige" 63 Tätigkeiten nicht als gesellschaftliche Arbeiten anerkannt werden und /oder gesellschaftliche Arbeiten nicht unter alleiniger „Bezugnahme auf die tatsächlichen Arbeitsinhalte" 64 bewertet werden. Da ich mich weiter unten mit Honneths Ideologietheorie und -kritik eingehend befasse werde, werde ich diese beiden Punkte hier nicht näher erläutern. Ich begnüge mich an dieser Stelle mit der Feststellung, dass Honneths ideologietheoretische Uber59
Siehe oben, Kapitel 2.
60
Honneth (2003), S. 176.
61
Ebd., S. 183.
62
Ebd., S. 176 f.
63
Ebd., S. 166.
64
Ebd., S. 182.
L A S S E N SICH DIE Z I E L E DER FRANKFURTER S C H U L E ANERKENNUNGSTHEORETISCH ERREICHEN?
257
legungen kein marktalternatives Kriterium oder Verfahren der Bestimmung des gesellschaftlichen Nutzens von Gütern und Leistungen spezifizieren. Wenngleich er unsere obige Frage (ii) nicht explizit behandelt, ist ersichtlich, dass Honneth die unter (i) angeführten Argumente moralphilosophisch begründet. Märkte müssen deshalb „sozialstaatlich eingehegt" sein, weil die Mitglieder der fraglichen Gesellschaft einander andernfalls nicht in vollem Umfang rechtlich respektieren würden; und wenn sie einander nicht auf diese Weise anerkennen würden, könnten sie nicht das Bewusstsein ausbilden, in vollem Umfang autonome Subjekte zu sein. Analog gilt: Märkte müssen deshalb frei von ideologischen Verzerrungen sein, weil die Mitglieder der fraglichen Gesellschaft einander andernfalls nicht gemäß dem gesellschaftlichen Nutzen ihrer Arbeitsleistungen wertschätzen würden; und wenn sie einander nicht auf diese Weise wertschätzen würden, könnten sie das Bewusstsein, wertvolle Fähigkeiten zu haben, nicht adäquat ausbilden. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen lässt sich angeben, warum das Verhältnis zwischen meritokratischer Wertschätzung einerseits sowie rechtlichem Respekt (in Honneths Verständnis) und einer Befürwortung von sozialstaatlichen Maßnahmen und Institutionen andererseits gespannt ist. Nach Maßgabe jener Anerkennungskonzeption sind die Mitglieder einer Gesellschaft gemäß dem gesellschaftlichen Nutzen ihrer Arbeitsleistungen sozial wertzuschätzen; je größer der Nutzen meiner Arbeit ist, umso mehr Wertschätzung durch die Gesellschaft steht mir zu. Nun sind Märkte Institutionen, die den gesellschaftlichen Nutzen von Gütern und Leistungen ermitteln, nicht aber zum Ausdruck bringen. In der Tat sind Marktpreise Aggregatsgrößen, die durch die Koordinierung einer sehr großen Zahl an (im Prinzip) unabhängig voneinander getroffener Entscheidungen zustande kommen. Weil das so ist, bringen Marktpreise keine unabhängig von ihnen vorgenommenen gesellschaftlichen Nutzenbewertungen zum Ausdruck. Hieraus folgt nun, dass individuelle Akteure in einem marktwirtschaftlichen Kontext anerkennungsbedingt einen Grund haben, nach einem möglichst hohen Einkommen zu streben. Denn der Grad ihrer sozialen Wertschätzung wird ja durch die marktwirtschaftlich ermittelte Höhe ihres Einkommens festgelegt. (Gäbe es hingegen marktunabhängige gesellschaftliche Nutzenbewertungen, nach Maßgabe welcher die Angemessenheit der Höhe von Arbeitseinkommen beurteilt werden könnte, könnten individuelle Akteure zumindest nicht aus Anerkennungs- bzw. Wertschätzungsgründen nach einem möglichst hohen Einkommen streben.) Dieser Gedanke lässt sich auch anders entwickeln, nämlich im Ausgang von einer Beobachtung des englischen Ökonomen William Stanley Jevons. Jevons schreibt: „Der Preis eines Gutes ist der einzige Zeuge, welchen wir über den Nutzen eines Gutes für den Käufer besitzen." 65 Wenn Preise tatsächlich die einzigen gesellschaftlichen Zeugen des gesellschaftlichen Nutzens von Gütern und Arbeitsleistungen sind und wenn die Menschen danach streben, als Erbringer möglichst nützlicher gesellschaftlicher Arbeitsleistungen sozial wertgeschätzt zu werden, dann werden sie nach einem möglichst hohen Einkommen streben. Nun sind jene beiden Bedingungen im vorliegenden Fall erfüllt. In der Tat bringen Marktpreise nichts zum Ausdruck, was unabhängig von ihnen für die Mitglieder der Gesellschaft (oder der staatlichen Administration) feststellbar wäre; und aufgrund ihrer Teilnahme an einer gesellschaftlichen Praxis meritokratischer Wertschätzung sind die Menschen bestrebt, Arbeitsleistungen zu er-
65
Zitiert nach: R e i ß ( 1 9 9 8 ) , S. 2 0 4 .
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bringen, die einen möglichst großen gesellschaftlichen Nutzen haben. Folglich sind diese Menschen bestrebt, ein möglichst hohes Einkommen zu erzielen. Unter welchem Aspekt aber sind Arbeitseinkommen für die Verteilung von sozialer Wertschätzung maßgebend? Wie mir scheint, ist hinsichtlich des Mehr oder Weniger an sozialer Wertschätzung, das zwei Personen A und Β erhalten, der relative gesellschaftliche Nutzen ihrer jeweiligen Arbeitsleistungen entscheidend; je größer also der gesellschaftliche Nutzen von A's Arbeit im Vergleich zu dem von Β's Arbeit ist, umso mehr soziale Wertschätzung wird A im Vergleich zu Β erhalten. (Diese Einschätzung wird von Honneths Überlegungen nahegelegt,66 und sie ist meines Erachtens in sozialtheoretischer Hinsicht sinnvoll und ernstzunehmen.67) Unter der obigen Annahme, dass Märkte den gesellschaftlichen Nutzen von Gütern und Arbeitsleistungen ermitteln, folgt aus dem in diesem Absatz genannten Argument, dass das Mehr oder Weniger an sozialer Wertschätzung, das A und Β erhalten, durch die Differenz zwischen ihren Einkommen festgelegt wird. Damit lässt sich im vorliegenden Zusammenhang Folgendes feststellen: In einer Gesellschaft, in der die Menschen sich gemäß dem Nutzen ihrer Arbeitsleistung wertschätzen und in der dieser Nutzen marktwirtschaftlich ermittelt wird, ist ein Akteur in anerkennungstheoretischer Hinsicht besser gestellt, wenn sein Einkommen steigt und /oder das Einkommen von Anderen sinkt. Folglich hat ein solcher Akteur anerkennungsbedingt einen Grund, nach einer Verbesserung seines Einkommens zu streben und zu einer Verringerung des Einkommens der Anderen beizutragen. Mehr noch: Da im vorliegenden Zusammenhang keine Einkommensdifferenz als maximale ausgewiesen werden kann,68 hat jener Akteur kraft der gesellschaftlichen Praxis sozialer Wertschätzung einen Grund, stets erneut nach einer Verbesserung des eigenen Einkommens zu streben und zu einer immer weiteren Verringerung des Einkommens der Anderen beizutragen. Nehmen wir einmal an, dass die Mitglieder von Gesellschaften der oben beschriebenen Art keine anderen praktischen Gründe haben. Unter dieser Annahme werden sie aus Gründen der sozialen Wertschätzung einen egoistischen, nicht abschließend befriedigbaren Bereicherungswillen ausbilden, und sie werden ferner aus eben diesen Gründen das Bedürfnis haben, gegebenenfalls zu dokumentieren, wie nützlich die von ihnen erbrachten Leistungen für die Gesellschaft (gewesen) sind. In einem solchen sozialen Kontext werden sich das Streben nach beruflichem Erfolg sowie nach persönlichen Eigenschaften, welche diesen bedingen, aber auch Phänomene wie ein ostentativer Konsum69 unter Bezugnahme auf die etablierte Praxis sozialer Wertschätzung erklären lassen. In Gesellschaften, in denen die Menschen sich gemäß dem Nutzen ihrer Arbeiten wertschätzen und in denen dieser Nutzen marktwirtschaftlich bestimmt wird, besteht ein Spannungsverhältnis zwischen den Anerkennungsformen der sozialen Wertschätzung und des rechtlichen Respekts (in Honneths Verständnis). Einerseits hat jeder Akteur hier kraft der gesellschaftlich etablierten Form sozialer Wertschätzung einen Grund, zu einer immer weitergehenden Verringerung des Einkommens der anderen Gesellschaftsmitglieder beizutragen; 66
Vgl. Honneth (2003), S. 168, wo Honneth von der „Konkurrenz um beruflichen Status" spricht.
67
Siehe unten, Kapitel 5.1.
68
Das folgt aus der Annahme, dass es keinen marktunabhängigen Maßstabs der Beurteilung des relativen gesellschaftlichen Nutzens verschiedenartiger Arbeiten gibt. Siehe oben.
69
Vgl. hierzu Veblen (2006) und (2007).
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andererseits gibt ihm sein Respekt eben dieser Anderen einen Grund, sich für ihre sozialen Rechte einzusetzen. Unter der Annahme, dass diese Rechte Ansprüche auf materielle Güter im Fall des Bezugs von Arbeitseinkommen unterhalb einer bestimmten Schwelle beinhalten, hätte jener Akteur also anerkennungsbedingt einen Grund, sich dafür einzusetzen, dass möglichst viele seiner Mitbürger ein solches (unzureichendes) Einkommen beziehen, und anerkennungsbedingt einen Grund, die oben genannte sozialstaatliche Subventionierung der Empfanger solcher Einkommen zu befürworten. Weil das so ist, lässt sich bezüglich Gesellschaften der oben beschriebenen Art ein Spannungsverhältnis zwischen den Anerkennungsformen der sozialen Wertschätzung und des rechtlichen Respekts (in Honneths Verständnis) konstatieren. An dieser Stelle ist nun mit folgendem Einwurf zu rechnen: Das oben beschriebene Spannungsverhältnis ist weder in (intra)psychischer noch in gesellschaftlicher Hinsicht problematisch. Wenn nämlich die Mitglieder einer Gesellschaft kraft des Respekts, den sie füreinander als autonome Subjekte haben, einander ein bestimmtes Set an sozialen Rechten einräumen, werden sie es befürworten, dass die entsprechenden Ansprüche auf gesellschaftliche Güter befriedigt werden; unter dieser Annahme werden sie ferner der Auffassung sein, dass genau derjenige Teil des Bruttoinlandsprodukts, der dann noch verbleibt, gemäß dem Prinzip der sozialen Wertschätzung verteilt werden soll; folglich ist die .Koexistenz' von rechtlichem Respekt und sozialer Wertschätzung weder in (intra)psychischer noch in gesellschaftlicher Hinsicht problematisch. Gewiss, es ist nicht logisch ausgeschlossen, dass die mit „rechtlicher Respekt" und „sozialer Wertschätzung" bezeichneten Anerkennungsformen in einer Gesellschaft ,koexistieren'. Denkbar ist es, dass die Mitglieder einer solchen Gesellschaft als Wirtschaftsbürger nach einem möglichst hohen relativen Einkommen streben, während sie sich als Staatsbürger für die Wahrung ihrer sozialen Rechte einsetzen. Erfahrungsgemäß ist es jedoch fraglich, ob sich das von mir herausgestellte Spannungsverhältnis auf diese Weise dauerhaft entschärfen lässt. Das mag damit zusammenhängen, dass die gesellschaftliche Wirklichkeit sich nicht in zwei verschiedene Bereiche ,departementalisieren' lässt, von denen der eine dem Prinzip der sozialen Wertschätzung und der andere dem des rechtlichen Respekts entspräche. Ein Unternehmer, der nach Maßgabe sozialer Wertschätzung besser gestellt wäre, wenn er sich finanziell nicht an der Aufrechterhaltung eines öffentlichen Rentensystems beteiligen würde, wird einen Grund haben, seine Befürwortung dieser Institution (sowie der entsprechenden sozialen Ansprüche und Rechte) in Frage stellen; und ein Angestellter, der durch einen individuell ausgehandelten Arbeitsvertrag ein höheres Einkommen erzielen kann als durch einen tariflich vereinbarten, wird einen Grund haben, an der Berechtigung tariflicher Vereinbarungen zu zweifeln. Wie diese Beispiele zeigen, ist es fraglich, ob eine auf den markwirtschaftlich ermittelten gesellschaftlichen Nutzen von Arbeitsleistungen abstellende Praxis sozialer Wertschätzung tatsächlich keine negativen Auswirkungen auf die gesellschaftliche Anerkennung von sozialen Rechten hat. Halten wir fest: Die in UA beschriebene Konzeption sozialer Wertschätzung steht in einem Spannungsverhältnis zu Honneths Konzeption des rechtlichen Respekts. In Gesellschaften, in denen die Menschen sich gemäß dem Nutzen ihrer Arbeitsleistungen wertschätzen und in der dieser Nutzen marktwirtschaftlich ermittelt wird, ist die Praxis der sozialen Wertschätzung hinsichtlich der Wahrung von sozialen Rechten tendenziell problematisch.
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4.3 Wertschätzung und Ideologie Honneth verbindet seine Analyse „der kulturellen Leitidee der individuellen Leistung'" mit ideologietheoretischen und -kritischen Überlegungen. Weiter oben habe ich behauptet, dass seine ideologietheoretischen Überlegungen kein marktalternatives Kriterium oder Verfahren der Bestimmung des gesellschaftlichen Nutzens von Gütern und Leistungen spezifizieren. 70 Im vorliegenden Zusammenhang ist diese Behauptung zu überprüfen. Ferner wird zu untersuchen sein, ob die von Honneth vorgeschlagene Art von Ideologiekritik vom Standpunkt der aktuellen Kritischen Theorie attraktiv ist. In UA lesen wir: „Natürlich ist diese letzte Art von sozialer Beziehung, die neben der Liebe und dem neuen Rechtsprinzip eine dritte Anerkennungssphäre in der sich entwickelten Gesellschaft des Kapitalismus darstellt, von Anfang an in einer Weise hierarchisch organisiert, die unzweideutig ideologischen Charakter trägt; denn was in welchem Maße als ,Leistung', als Kooperationsbeitrag zählt, wird vor dem Hintergrund eines Wertmaßstabes definiert, dessen normativer Bezugspunkt die wirtschaftliche Tätigkeit des ökonomisch unabhängigen, männlichen Bürgertums bildet. Das, was von nun an als , Arbeit' mit einem bestimmten quantifizierbaren Nutzen für die Gesellschaft ausgezeichnet wird, ist mithin das Resultat einer bloß gruppenspezifischen Wertsetzung, der dementsprechend ganze Sektoren von anderen, ebenso reproduktionsnotwendigen Tätigkeiten (wie etwa die Hausarbeit) zum Opfer fallen." 71 Demnach ist der hinsichtlich der Verteilung von sozialer Wertschätzung und materiellen Ressourcen zentrale Begriff der individuellen Leistung nur von einer gesellschaftlichen Gruppe bestimmt worden: dem „ökonomisch unabhängigen, männlichen Bürgertum". Mehr noch: Der Übergang vom Feudalismus zur „bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsform" ist geschichtlich nur durch diese „bloß gruppenspezifische Wertsetzung" zustande gekommen. Aus diesem Grunde habe die Praxis der sozialen Wertschätzung „in der sich entwikkelnden Gesellschaft des Kapitalismus" einen „unzweideutig ideologischen Charakter" gehabt. Treffen diese Argumente zu, dann stellt sich die Frage, ob ein so verstandener Begriff sozialer Wertschätzung - sowie eine ihm gemäß strukturierte gesellschaftliche Praxis - überhaupt etwas sein können, worauf sich ein Kritischer Theoretiker affirmativ bezieht. Müssten sie nicht vielmehr als (zentrale) Elemente einer gewaltsamen Aneignung gesellschaftlicher Güter durch das Bürgertum kritisiert und verworfen werden? Auf diese Fragen gibt Honneth eine differenzierte Antwort: „Machen wir uns diese vielfältigen Überlagerungen und Verzerrungen klar, die dem kapitalistischen Leistungsprinzip von Anfang an innewohnen, so fallt es schwer, darin überhaupt ein normatives Prinzip der wechselseitigen Anerkennung auszumachen; gleichwohl verlangt die soziale Praktizierung der neuen Idee, [...] dass zumindest normativ der Anspruch aufrechterhalten wird, die tätigen Beiträge aller Gesellschaftsmitglieder gemäß ihrer Leistung angemessen wertzuschätzen [und] damit eine gerechte Verteilung von Ressourcen [zu] garantieren." 72 Demnach stellen sich die folgenden Fragen: Was ist als ideologische „Überlagerung" und „Verzerrung" des Leistungsprinzips anzusehen? Welche Elemente der gesellschaftlich prak70
Vgl. Kapitel 4.2.2.
71
Honneth (2003), S. 166.
72
Ebd., S. 174 f.
LASSEN SICH DIE ZIELE DER FRANKFURTER SCHULE ANERKENNUNGSTHEORETISCH ERREICHEN?
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tizierten Form von sozialer Wertschätzung haben also „ideologischen Charakter"? Und warum? Hinsichtlich der Beantwortung dieser Fragen stellt UA die folgenden Argumente zur Verfugung. Ideologische Verzerrungen liegen genau dann vor, wenn (1) „reproduktionsnotwendige" 73 Tätigkeiten nicht als gesellschaftliche Arbeiten anerkannt werden und / oder (2) gesellschaftliche Arbeiten nicht unter alleiniger „Bezugnahme auf die tatsächlichen Arbeitsinhalte" 74 bewertet werden. Honneth illustriert diese beiden Punkte (1) anhand der Nichtanerkennung von im Haushalt geleisteter Pflege- und Erziehungstätigkeiten als gesellschaftliche Arbeiten sowie (2) anhand des Umstandes, „dass jede verberuflichte Tätigkeit in der sozialen Statushierarchie automatisch an Wert verliert, sobald sie mehrheitlich von Frauen ausgeübt wird, während es umgekehrt zu einem Statusgewinn des entsprechenden Tätigkeitsbereichs führt, wenn der entsprechende Geschlechterwechsel in die umgekehrte Richtung verläuft". 75 Demnach wird in UA eine hinreichende Bedingung dafür genannt, dass eine Tätigkeit Arbeit im gesellschaftlichen Sinne ist. Das entsprechende Argument lautet: Ist eine Tätigkeit hinsichtlich der Reproduktion der Gesellschaft notwendig, dann ist sie Arbeit im gesellschaftlichen Sinne. Das gesellschaftspolitische Interesse, welches der Formulierung jener Bedingung zugrunde liegt, besteht offenkundig darin, nicht-marktfÖrmige Tätigkeiten als gesellschaftliche Arbeiten auszuweisen. Bedarf es zur Identifizierung von ideologischen „Verzerrungen" der unter (1) genannten Art also einer Beantwortung der Frage, ob bestimmte Tätigkeiten Arbeiten im gesellschaftlichen Sinne sind oder nicht, so bezieht sich Honneths zweiter Punkt auf die Höhe von Arbeitseinkommen. Sein diesbezügliches Argument lautet: Wenn die Verteilung von sozialer Wertschätzung - und mithin von materiellen Gütern - durch arbeitsirrelevante Faktoren (wie das Geschlecht der Arbeitenden) bestimmt oder beeinflusst wird, wird das Leistungsprinzip bestenfalls verzerrt angewandt. Diese Kritik bezieht sich auf Tätigkeiten, die bereits als Arbeiten im gesellschaftlichen Sinne anerkannt sind und die im privatwirtschaftlichen oder öffentlichen Bereich angesiedelt sein können. Honneths Überlegungen - so ist zu beachten - beziehen sich nicht auf die Frage, wieviel gesellschaftliche Wertschätzung eine bestimmte Arbeit (im Vergleich zu anderen Arbeiten) begründen sollte. Wie bereits bemerkt, gilt das unter (1) genannte Kriterium allein der Frage, ob eine Tätigkeit gesellschaftliche Arbeit ist (und mithin soziale Wertschätzung begründet/begründen sollte), und das unter (2) angeführte Argument ist in dem Sinne formal, dass es lediglich eine ungleiche Wertschätzung (Entlohnung) gleicher Arbeiten als kritikwürdig ausw eist, nicht aber Informationen zur Verfügung stellt, die hinsichtlich der Bestimmung der Höhe von spezifischen Arbeiten relevant wären. Folglich wird im Rahmen von Honneths ideologietheoretischen Überlegungen kein marktalternativer Maßstab der Bewertung des gesellschaftlichen Nutzens von Arbeitsleistungen spezifiziert. Deshalb enthalten diese Überlegungen kein Argument, das meiner obigen Behauptung - dass Honneth ein Befürworter von Option 1 sei - zuwiderläuft; meine Überlegungen aus Kapitel 4.2 lassen sich mit Honneths Ideologietheorie und -kritik also nicht in Frage stellen.
73
Ebd., S. 166.
74
Ebd., S. 182.
75
Ebd., S. 182.
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An dieser Stelle ist zu erwägen, ob Honneths grundsätzliches Festhalten am Leistungsprinzip vom Standpunkt der aktuellen Kritischen Theorie gut begründet ist. Ist es im Rahmen einer normativen Anerkennungstheorie, mit welcher der zeitgenössische Neoliberalismus kritisiert werden soll,76 sinnvoll, im Begriff der meritokratischen Wertschätzung ein (zentrales) „normatives Prinzip der wechselseitigen Anerkennung" 77 zu sehen? In diesem Zusammenhang ist an die oben herausgestellten beiden Probleme 78 zu erinnern, welche die in UA vorlegte nutzenbezogene Konzeption sozialer Wertschätzung aufwirft: 1. Die moralphilosophische Relevanz von sozialer Wertschätzung beruht auf der Annahme, dass diese Form von Anerkennung eine notwendige Bedingung von Selbstwertschätzung aufgrund von spezifischen Fähigkeiten ist.79 Wenn nun aber soziale Wertschätzung auf den gesellschaftlichen Nutzen von Arbeitsleistungen bezogen wird, ist die entsprechende Relation von Anerkennungs- und Selbstverhältnis problematisch. Zum einen nämlich ist die begriffliche Beziehung zwischen gesellschaftlich nützlicher Arbeit und Fähigkeiten-basierter Arbeit kontingent, 80 und zum anderen würden in einer Welt, in welcher der gesellschaftliche Nutzen einer Arbeit in einem proportionalen Verhältnis zum Fähigkeitenniveau des Arbeitenden steht, diejenigen Menschen, deren Arbeiten nur von sehr geringem Nutzen fur die Gesellschaft sind, die Überzeugung ausbilden müssen, nahezu wertlose Fähigkeiten zu haben. Hinsichtlich der Ermöglichung von Selbstwertschätzung aufgrund von spezifischen Fähigkeiten ist meritokratische Wertschätzung (in dem in UA spezifizierten Sinne) also bestenfalls von geringem Interesse; um ihre moralphilosophischen Ziele zu erreichen, ist es nicht erforderlich, dass die Kritische Theorie sich auf dieses Anerkennungskonzept stützt. 2. Ein Festhalten am Begriff der meritokratischen Wertschätzung (so wie er in UA spezifiziert wird) wäre angesichts der gesellschaftspolitischen Ziele der aktuellen Kritischen Theorie ohne Weiteres nicht verständlich. Wie gesehen, ist es eines von Honneths Anliegen, mit anerkennungstheoretischen Argumenten so etwas wie einen „sozialdemokratischen" Typ von Kapitalismus gegen die als Reaktion auf die Krise des Keynesianismus praktizierte Wirtschaftspolitik der Vermarktlichung einerseits und der Schwächung kollektiver beruflicher Repräsentationsorgane und sozialstaatlicher Sicherungssysteme andererseits zu verteidigen. 81 Nun steht eine soziale Praxis meritokratischer Wertschätzung aber gerade in einem Spannungsverhältnis zur gesellschaftlichen Anerkennung sozialer Rechte. Aus diesem Grunde ist es überraschend, dass Honneth den Begriff der meritokratischen Wertschätzung als ein zentrales „normatives Prinzip der wechselseitigen Anerkennung" ansieht und die Aufgabe der Gesellschaftskritik im vorliegenden Zusammenhang auf die Identifizierung von „Überlagerungen und Verzerrungen" des Leistungsprinzips beschränkt.
76
Siehe oben, Kapitel 2.
77
Honneth (2003), S. 175.
78
Siehe Kapitel 4.2.1 und 4.2.2.
79
Siehe oben, Kapitel 4.2.1.
80
Siehe oben, Kapitel 4.2.1.
81
Siehe oben, Kapitel 2.
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5. Ergebnis und Ausblick Welches Interesse haben meine bisherigen Überlegungen hinsichtlich der Perspektiven einer gesellschaftlichen Anerkennungstheorie in der Tradition der Kritischen Theorie? Ich werde im Folgenden zunächst die sozialtheoretische Relevanz meiner Erörterung von Honneths Konzeption sozialer Wertschätzung deutlich machen (5.1) und dann zwei Fragen identifizieren, die sich aus diesen Überlegungen ergeben (5.2). Im Anschluss hieran werde ich erwägen, wie die sozialkritischen Ziele der Kritischen Theorie erreicht werden können (5.3).
5.1 Sozialtheoretische Befunde Meine obigen Überlegungen zum Begriff der meritokratischen Wertschätzung sind in sozialtheoretischer Hinsicht von größter Wichtigkeit. Wie gesehen, wird die Frage, „wie die Kritische Theorie die Gesellschaftsstruktur des heutigen Kapitalismus verstehen soll",82 gegenwärtig kontrovers diskutiert. In Übereinstimmung mit der sozialontologischen Grundannahme seiner Theorie verfolgt Axel Honneth das Ziel, „die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsform als eine institutionalisierte Anerkennungsordnung zu interpretieren". 83 Demgegenüber vertritt Nancy Fraser die These, dass eine solche Interpretation eine Analyse von kapitalistischen Märkten unmöglich mache; sie sei deshalb theoretisch haltlos und politisch naiv. Wie auch Jürgen Habermas ist Fraser der Auffassung, dass kapitalistische Märkte nur systemtheoretisch angemessen analysiert werden können. 84 Nach meinen obigen Überlegungen ist es möglich, mit Hilfe des Begriffs der meritokratischen Wertschätzung Phänomene wie die im Folgenden genannten zu erklären: das Streben nach beruflichen Erfolg sowie nach persönlichen Eigenschaften, welche diesen bedingen (Disziplin, Arbeitseifer usw.); das Streben nach einem möglichst hohen relativen Einkommen; das Bedürfnis, berufliche Erfolge gesellschaftlich zu dokumentieren (etwa durch ein spezifisches konsumtives Verhalten); sowie die Neigung, sozialstaatliche Maßnahmen und Einrichtungen in Frage zu stellen. Treffen diese Überlegungen zu, dann ist es möglich, Dispositionen und Verhaltensweisen, welche nach Ansicht vieler Sozialwissenschaftler zentrale Elemente des „neuen Geistes des Kapitalismus" 85 sind, auf eine spezifische Anerkennungspraxis zurückzufuhren: die der meritokratischen Wertschätzung in einem marktwirtschaftlichen Kontext. 86 Das lässt sich auch anhand der von Fraser angeführten Phänomene zeigen: So kann das Bestreben der „Maximierung von Unternehmerprofiten" grundsätzlich unter Bezugnahme auf die von mir analysierten Praxis meritokratischer Wertschätzung analysiert werden, und klarerweise würde eine solche Praxis „politisch-ökonomisch Faktoren wie das Angebot von und die Nachfrage nach unterschiedlichen Arbeitsleistungen, die Machtbalance zwischen Arbeit und Kapital [sowie] die Dichte und Konsequenz der Sozialgesetzgebung" erheblich beeinflussen. Folglich ist es nicht richtig, aus der (unbestrittenen) gesellschaftlichen Relevanz dieser 82
Fraser (2003), S. 242.
83
Honneth (2003), S. 162.
84
Allerdings ist Fraser - anders als Habermas - nicht der Auffassung, dass die moderne Ökonomie eine „normfreie" (Habermas (1988), Bd. 2, S. 275) soziale Sphäre sei. Vgl. Fraser (2003), S. 243 f.
85
Diesen Ausdruck übernehme ich von L. Boltanski und È. Chiapello. Vgl. Boltanski, Chiapello (2003).
86
Auf die mit „in einem marktwirtschaftlichen Kontext" bezeichnete Voraussetzung werde ich weiter unten zu sprechen kommen. Siehe Kapitel 5.2.
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Faktoren im Rahmen zeitgenössischer kapitalistischer Arbeitswelten auf die Unmöglichkeit einer anerkennungstheoretischen Analyse derselben zu schließen. Wie meine Überlegungen zeigen, muss das, was mit „Gesellschaftsstruktur des heutigen Kapitalismus" bezeichnet wird, nicht das Andere der Anerkennung sein. Näher ist dieser Befund aus den folgenden Gründen von Interesse: Erstens lässt sich auf der Grundlage meiner Überlegungen erklären, warum Menschen nicht von Natur aus so etwas wie Gewinn- oder Profitmaximierer sind. Wenngleich diese Auffassung von kaum einem Theoretiker ausdrücklich vertreten wird, wird sie doch von vielen (volkswirtschaftlichen) Lehrbüchern und Theorien nahegelegt 87 - und offenbar von sehr vielen Menschen für wahr gehalten. Wenn das Streben nach Gewinn und Profit jedoch als ein Element einer spezifischen sozialen Praxis ausgewiesen werden kann, ist es theoretisch in den Bereich des geschichtlich Wandelbaren (und politisch Beeinflussbaren) eingeordnet. Zweitens lässt sich mit meinen Überlegungen erklären, warum es keine prinzipielle Differenz zwischen anerkennendem und egoistischem Verhalten gibt. Wenngleich dies von Honneth nicht behauptet wird, legen viele seiner Ausführungen diese Annahme doch nahe.88 (Möglicherweise ist dies auf den Einfluss von Habermas' strikter Unterscheidung zwischen kommunikativem und strategischem Handeln zurückzufuhren.) 89 Wenn meine Überlegungen zutreffen, dann lassen sich Formen von wirtschaftlichem Egoismus mit der sozialen Praxis meritokratischer Wertschätzung erklären. Mit diesen Überlegungen lässt sich drittens erklären, warum die Wirtschaft keine soziale Sphäre bildet, die sich (vollständig) von anerkennungsbasierten gesellschaftlichen Praktiken „entkoppelt" und in einem nicht-normativen Vokabular zu analysieren wäre. 90 Selbstverständlich ist es denkbar, dass eine soziale Praxis meritokratischer Wertschätzung (strukturelle) Effekte zeitigt, die mit volkswirtschaftlichen oder soziologischen Modellen beschrieben werden können. 91 Wenn das Streben nach beruflichem Erfolg, einem möglichst hohen Einkommen usw. jedoch letztlich auf eine spezifische Wertschätzungspraxis zurückzuführen ist, dann kann es adäquat nicht als rein „strategisches" Verhalten aufgefasst werden. Demnach eröffnen meine Überlegungen eine ernstzunehmende Perspektive fur eine anerkennungstheoretische Analyse der „Gesellschaftsstruktur des heutigen Kapitalismus". Ob die eingangs skizzierten wirtschaftspolitischen Veränderungen sich auf dieser Grundlage analysieren lassen, muss allerdings empirisch untersucht werden. Die tatsächliche Relevanz von meritokratischer Wertschätzung im Kontext dessen, was mit „neoliberale Revolution" bezeichnet worden ist, lässt sich nur sozialwissenschaftlich ermitteln.
87
Vgl. etwa die im Studiengang Wirtschaftswissenschaft verwendeten Lehrbücher zur MikroÖkonomie. Eine erhellende Ausnahme bildet Reiß (1998).
88
Vgl. beispielsweise Honneths Überlegungen in Honneth (2004a).
89
Vgl. Habermas (1988), Bd. 1, S. 384-397.
90
Siehe oben, Kapitel 4.2.
91
Aus diesem Grunde ist es nicht zutreffend, dass eine gesellschaftliche Anerkennungstheorie „von Natur aus blind" ist für ökonomische Prozesse, „die nicht auf kulturelle Bewertungsschemata reduziert werden können" (Fraser (2003), S. 246). Siehe oben, Kapitel 3.
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5.2 Zwei Anschlussfragen Wie gesehen, ist es möglich, einige Dispositionen und Verhaltensweisen, welche nach Ansicht vieler Sozialwissenschaftler zentrale Elemente des „neuen Geistes des Kapitalismus" sind, auf eine spezifische Anerkennungspraxis zurückzuführen: die der meritokratischen Wertschätzung in einem marktwirtschaftlichen Kontext. Das Streben nach beruflichem Erfolg und einem möglichst hohen Einkommen sowie das Bedürfnis, entsprechende Erfolge gesellschaftlich zu dokumentieren, können auf diese Weise erklärt werden. Demnach ist meritokratische Wertschätzung unter der Annahme, dass es einen marktwirtschaftlichen Kontext gibt, geeignet, das Vorkommnis der oben genannten Disposition und Verhaltensweisen zu erklären. Angesichts dieser Voraussetzung stellen sich die folgenden beiden Fragen: 1. Können Märkte anerkennungstheoretisch analysiert werden? 2. Kann die Existenz von Märkten anerkennungstheoretisch legitimiert werden? Wie bereits angedeutet, werden diese Fragen unter Kritischen Theoretikern kontrovers diskutiert. Jürgen Habermas ist der Auffassung, dass Märkte nicht anerkennungstheoretisch analysiert werden können, und er hält die Existenz von Märkten allein unter funktionalistischen Gesichtspunkten fur legitimierbar.92 Demgegenüber hat Axel Honneth eine Theorie ausgearbeitet, nach der die oben genannten beiden Fragen positiv zu beantworten sind. Wenn - wie Honneth behauptet - bürgerlich-kapitalistische Gesellschaften „institutionalisierte Anerkennungsordnungen" 93 sind, dann müssen sich Märkte - als „Kerninstitutionen"94 von Gesellschaften dieser Art - anerkennungstheoretisch analysieren lassen; und wenn „die moralischen Ordnungsmächte des Gleichheitsgrundsatzes oder des Leistungsprinzips" tatsächlich „der neu entstandenen Marktgesellschaft erst den legitimationswirksamen Rahmen verschaffet] haben",95 dann kann die Existenz von Märkten anerkennungstheoretisch legitimiert werden. Allerdings wird dieser Standpunkt von Honneth nicht zufriedenstellend begründet.96 Nach meiner Auffassung lässt sich im Rückgriff auf Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts erklären, in welchem Sinne marktwirtschaftliche Kontexte anerkennungstheoretisch verstanden werden können und warum sie anerkennungstheoretisch legitimiert sind. In Hegels Urteil ist eine privatrechtlich verankerte Marktwirtschaft eine Institutionalisierung des wechselseitigen Respekts der Bürger als Personen. Da personaler Respekt ein Element der normativen Infrastruktur (freiheitlich verfasster) moderner Gemeinwesen sei, lassen sich Märkte nach Hegels Auffassung zudem anerkennungstheoretisch legitimieren. Da ich an anderer Stelle zeige, warum Hegels Überlegungen eine fundierte Beantwortung der oben genannten beiden Fragen im Sinne der Anerkennungstheorie ermöglichen,97 werde ich mich hier mit ihnen nicht näher befassen.
92
Vgl. ζ. B. Habermas (1988), Bd. 2, S. 476.
93
Honneth (2003), S. 162.
94
Ebd., S. 164.
95
Ebd., S. 178.
96
Siehe oben, Kapitel 3.
97
Vgl. Schmidt am Busch (2008) und (2009a).
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5.3 Sozialkritische Perspektiven Welches Interesse haben meine bisherigen Überlegungen hinsichtlich der sozialkritischen Ambitionen einer normativen Gesellschaftstheorie in der Tradition der Frankfurter Schule? Welche Perspektiven eröffnen sie für eine Kritik an denjenigen wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die als Reaktion auf die Krise des Keynesianismus ergriffen worden sind? Falls sich herausstellt, dass meritokratische Wertschätzung - oder eine Steigerung der gesellschaftlichen Relevanz derselben - ein kausal relevanter Faktor mit Bezug auf die eingangs beschriebenen Prozesse der Vermarktlichung und der Schwächung der sozialstaatlicher Sicherungssysteme ist,98 wird zu überlegen sein, wie sich diese Wertschätzungspraxis sozialphilosophisch kritisieren lässt. In diesem Zusammenhang sollte meines Erachtens untersucht werden, 1. ob eine (entfesselte) Praxis meritokratischer Wertschätzung (strukturelle) Auswirkungen hat, welche die Möglichkeiten der Realisierung anderer Formen von Anerkennung, die für die Mitglieder der fraglichen Gesellschaft wichtig sind, beeinträchtigen oder aufheben;99 2. ob eine (entfesselte) Praxis meritokratischer Wertschätzung (strukturelle) Auswirkungen hat, welche diese Praxis selbst delegitimieren und destabilisieren;100 und 3. ob eine (entfesselte) Praxis meritokratischer Wertschätzung einen notwendigen Bestandteil der Anerkennungsordnung einer modernen Gesellschaft bildet, oder ob sie nicht vielmehr als ein kompensatorisches Phänomen kritisiert werden kann.10' Die Bearbeitung eines jeden der hiermit lediglich skizzierten - nicht aber präzise bezeichneten - Untersuchungsfelder erfordert umfangreiche begriffliche, normative und sozialwissenschaftliche Studien und liegt deshalb außerhalb der Grenzen meines Aufsatzes. Wie ich an anderer Stelle zeige,102 lässt sich durch sie aber eine Kritik am zeitgenössischen Kapitalismus formulieren, die den methodischen Anforderungen der Kritischen Theorie genügt. Trifft diese Einschätzung zu, dann gibt es gute Gründe für die Vermutung, dass sich sowohl die sozialtheoretische als auch die sozialkritischen Ziele der Kritischen Theorie in einem anerkennungstheoretischen framework erreichen lassen.*
98
Wie bemerkt, kann diese Annahme nur empirisch gerechtfertigt werden. Siehe oben, Kapitel 5.1.
99
In diesem Zusammenhang ist nicht nur die Beziehung von meritokratischer Wertschätzung und rechtlichem Respekt, sondern auch die von meritokratischer und Fähigkeiten-basierter Wertschätzung zu thematisieren
100
Die Verwendung des Ausdrucks „Kasinokapitalismus" zur Bezeichnung von Verteilungsstrukturen auf globalen Finanzmärkten ist ein Indiz dafür, dass eine Praxis meritokratischer Wertschätzung derartige Effekte haben kann.
101
Eine solche Sichtweise wird meines Erachtens von Hegel vertreten. Vgl. Schmidt am Busch (2009).
102
Vgl. Schmidt am Busch (2009) und (2009a). Ich habe Teile meines Aufsatzes an folgenden Einrichtungen vorgetragen: Department of Philosophy, University of North Florida, Jacksonville (2. 3. 2007); Institut fur Sozialforschung, Frankfurt/M. (30. 6.
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267
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Paris.
Renault, E. (2009): „Das Erbe der Kritischen Theorie: Lässt Marx sich über die Anerkennungstheorie retten?" Im vorliegenden Band, S. 229-242.
2007); Department of Philosophy, Queens College, City University of New York (29. 2. 2008); Philosophisches Seminar der Universität zu Köln (12. 4. 2008); Department of Philosophy, The Chinese University of Hong Kong (19. 4. 2008). Bei jeder dieser Gelegenheiten erhielt ich wertvolle Hinweise und Anregungen zu meinem Vortrag. Michael Quante und Christopher F. Zum danke ich für wertvolle Kommentare zu einer früheren Fassung meines Aufsatzes.
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H A N S - C H R I S T O P H SCHMIDT AM B U S C H
Schmidt am Busch, H.-C. (2004): „Markwirtschaft und Anerkennung. Zu Axel Honneths Theorie sozialer Wertschätzung", in: Halbig, C., Quante, M. (Hg.) (2004), S. 93-98. Schmidt am Busch, H.-C. (2008): „Personal Respect, Private Property, and Market Economy: What Critical Theory Can Learn From Hegel", in: Ethical Theory and Moral Practice, 11, 2008, S. 573-586. Schmidt am Busch, H.-C. (2009): „The Legacy of Hegelian Philosophy and the Future of Critical Theory", in: J.-P. Deranty, N. Smith (Hg.), New Philosophies of Labour, Leiden (im Erscheinen). Schmidt am Busch (2009a) : „ Anerkennung " als Prinzip der Kritischen Theorie, unveröffentlichtes Buchmanuskript. Sennett, R. (1998): Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin. Sennett, R. (2005): Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin. Stehr, N. (2007): Die Moralisierung der Märkte. Eine Gesellschaftstheorie, Frankfurt/M. Taylor, F. W. (1977): Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsfuhrung, Weinheim, Basel. Vehlen T. (2006): Conspicuous Consumption, New York. Vehlen (2007): Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen, Frankfurt/M. Voigt, S. (2002): Institutionenökonomik, München. Zum, C. F. (2005): „Anerkennung, Umverteilung und Demokratie. Dilemmata in Honneths Kritischer Theorie der Gesellschaft", in: Deutsche Zeitschrift fur Philosophie, 2005, Heft 3, S. 435^160.
JEAN-PHILIPPE D E R A N T Y
Kritik der politischen Ökonomie und die gegenwärtige Kritische Theorie Eine Verteidigung von Honneths Anerkennungstheorie
Seit ihrer ersten Vorstellung als eigenständiges sozialtheoretisches Modell - in der Publikation Kampf um Anerkennung aus dem Jahre 1992 - ist Axel Honneths Anerkennungsethik Gegenstand häufiger Kritik. Insbesondere eines der von den Kritikern herausgestellten Merkmale der Anerkennungstheorie ist problematisch. Betrifft es doch eine Fragestellung, die historisch gesehen für die Kritische Theorie von entscheidender Bedeutung war: die Kritik der politischen Ökonomie. Ausgehend von dem Vorsatz, eine jede gesellschaftliche Erscheinung kulturell oder moralisch als Ausdruck von Anerkennungsbeziehungen zu interpretieren, fragen diese Kritiker, wie Honneths Modell das Spezifikum wirtschaftlicher Ungerechtigkeit angemessen zu erklären vermag. Wie kann ein moralisches, psychologisches Konzept den Sachverhalt wirtschaftlicher Ungerechtigkeit analysieren, wenn dieser Sachverhalt doch, so scheint es, zu seiner Erklärung funktionaler statt moralischer Begriffe bedarf? Die namhafteste Ablehnung von Honneths „monistischer" Herangehensweise an alle Formen von Ungerechtigkeit einschließlich der wirtschaftlichen ist in hervorragender Weise von Nancy Fraser zur Sprache gebracht worden. In einer Reihe einflussreicher Artikel, die im Jahre 1998 in den Tanner Lectures ihren Höhepunkt fanden und einen grundlegenden Meinungsaustausch mit Honneth zu Wege brachten, der in Umverteilung oder Anerkennung? publiziert worden ist, hat Fraser schrittweise ein umfassendes dualistisches Modell der Gesellschaftsanalyse entwickelt. Mit diese Modell möchte sie insbesondere der Eigenlogik ökonomischer Prozesse in modernen Gesellschaften gerecht werden - und zwar sowohl auf deskriptivem als auch auf kritisch-normativem Niveau.1 Gegenstand meiner direkten Auseinandersetzung in diesem Aufsatz sind jedoch nicht die Arbeiten von Fraser, obwohl sie die eigentliche Grundlage dafür bilden. In der Hauptsache werde ich mich vielmehr mit einem umfangreichen Text beschäftigen, den Christopher Zum der Honnethschen Darstellung wirtschaftlicher UngeDie wichtigsten, vor dieser Publikation aus dem Jahre 2003 verfassten Aufsätze finden sich in: N. Fraser, Justice interruptus. Critical Reflections on the „Postsocialist" Condition, New York 1997; dtsch.: Die halbierte Gerechtigkeit. Schlüsselbegriffe des postindustriellen Sozialstaats, Frankfurt/M. 2001. Siehe hier insbesondere die Einleitung „Kritische Überlegungen zur ,postsozialistischen' Situation" sowie den Aufsatz „Von der Umverteilung zur Anerkennung? Dilemmata der Gerechtigkeit in ,postsozialistischer' Zeit", in: Die halbierte Gerechtigkeit. Schlüsselbegriffe des postindustriellen Sozialstaats: 9-20 und 23-66. Gleichfalls bedeutsam sind „Rethinking Recognition", in: New Left Review, 3,2000, S. 107-120 und „Recognition without Ethics", in: Theory, Culture and Society, 18 (2-3), S. 21—42. Die Diskussionen mit Honneth finden sich wie gesagt in Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse, hg. v. A. Honneth, N. Fraser, Frankfurt/M. 2003.
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JEAN-PHILIPPE D E R A N T Y
rechtigkeit gewidmet hat.2 Einer Reihe strategischer Gründe wegen bildet dieser Artikel das Zentrum meiner Überlegungen: Erstens bietet er eine erstaunlich präzise wie erschöpfende Zusammenfassung der Umverteilungsdebatte. 3 Zweitens beruht der Aufsatz auf einer intimen Kenntnis von Honneths Werk, insbesondere seiner Schriften vor dem Kampf um Anerkennung. Zum kann deshalb einige der Fehler vermeiden, die Fraser bei ihren Entgegnungen auf Honneth unterlaufen sind - was zugleich Zurns Kritik eine größere Schlagkraft verleiht. So vermag er insbesondere einigen der scharfsinnigsten Erwiderungen Rechnung zu tragen, die Honneth gegenüber Fräsers kritischen Einwänden geäußert hat. Zurns skeptische Argumente gegen die Anerkennungstheorie stützen sich, anders gesagt, nicht nur auf die explizite Inanspruchnahme eines substanziellen Gegenmodells - auf Fräsers dualistische Gesellschaftsanalyse und ihr sozialkritisches Modell „partizipatorischer Parität". Zu ihnen gehört auch der Stachel der immanenten Kritik. Setzt man hierzu noch die scharfsinnige Virtuosität wie auch die wissenschaftliche Seriosität des skeptischen Lesers, so ist Zurns Angriff auf Honneths Theorie wirtschaftlicher Ungerechtigkeit in einem Maße effizient, dass sie die Anerkennungstheorie zu zerpflücken scheint. Zurns anfangliche kritische Besprechung des Kampfs um Anerkennung war von allen gegen das Buch gerichteten Kritiken die scharfsinnigste. Sie hat Honneth zu einer größeren konzeptionellen Wendung bewogen. 4 Man könnte nun glauben, dass mit dieser skeptischen Antwort auf Honneths Theorie wirtschaftlicher Ungerechtigkeit die Anerkennungstheorie im Ganzen der coup de grâce ereilt. Dieser Aufsatz ist ein Verteidigungsversuch der Anerkennungstheorie. Er soll genau an dieser ihrer schwächsten Stelle ansetzen: der Theorie wirtschaftlicher Ungerechtigkeit. Ich möchte die theoretische Fruchtbarkeit einer „anerkennungstheoretischen" Perspektive für eine zeitgemäßen Kritik der politischen Ökonomie erweisen. Zurns grundlegender Einwand gegen Honneths Interpretation wirtschaftlicher Ungerechtigkeit ist, dass sie auf reduktionistischen ökonomischen Vorstellungen beruht und somit nur solche praktischen Maßnahmen zur Beseitigung des Unrechts befürworten kann, die nicht hilfreich oder sogar kontraproduktiv sind. Honneth wird dafür kritisiert, „Ungerechtigkeiten der Verteilung ... auf solche der Anerkennung ... zu reduzieren". 5 Noch schwerwiegender ist die Behauptung, diese Reduktion sei Honneths offenkundiger Absicht zu schulden,
Ch. F. Zum, „Recognition, Redistribution, and Democracy: Dilemmas of Honneth's Critical Social Theory", in: European Journal of Philosophy, 13 (1), 2005, S. 89-126. Eine erheblich gekürzte Version dieses Textes ist im gleichen Jahr in deutscher Übersetzung erschienen. Siehe: ders., „Anerkennung, Umverteilung und Demokratie. Dilemmata in Honneths Kritischer Theorie der Gesellschaft", in: Deutsche Zeitschriftför Philosophie, 2005, Heft 3, S. 435^160. Siehe auch die exzellenten Diskussionsbeiträge von S. Thompson, „Is Redistribution a Form of Recognition? Comments on the Fraser-Honneth Debate" , Critical Review of International Social and Political Philosophy, 8 (1), S. 85-102; sowie L. Feldman, „Redistribution, Recognition, and the State: the irreducibly Political Dimension of Injustice", Political Theory, 30 (3), S. 410-440. „Anthropology and Normativity: A Critique of Axel Honneth's ,Formal Conception of Ethical Life'", in: Philosophy and Social Criticism, 26 (1), 2000, S. 115-124. In Reaktion auf Zurns Kritik verzichtet Honneth dem Anschein nach auf seine früheren Anleihen an die philosophische Anthropologie und akzeptiert die Lösung, die Zum in seiner Buchkritik als die für die Fundierung der kritischen Theorie angemessenste (oder besser gesagt die am wenigsten fragwürdige) charakterisiert hatte: die Idee einer die normative Differenzierung begleitenden gesellschaftlichen Ausdifferenzierung. Zum, „Anerkennung, Umverteilung und Demokratie", a. a. O., S. 445.
K R I T I K DER POLITISCHEN Ö K O N O M I E UND DIE G E G E N W Ä R T I G E K R I T I S C H E T H E O R I E
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wirtschaftliche Ursachen von Ungerechtigkeit aus tieferliegenden Kulturmustern zu erklären und von daher einen theoretischen Zugang zur Ökonomie - als separates System gesellschaftlicher Integration wie auch als spezifische Quelle gesellschaftlichen Unrechts - zu eröffnen. Im Grunde genommnen wird Honneth vorgeworfen, eine reduktionistische, kulturalistische Wirtschaftskonzeption zu vertreten. Ohne selbst marxistische Positionen zu beziehen, hat Zum, Fraser folgend, dem Gefühl von Skepsis und Verdrossenheit den bisher theoretisch solidesten Ausdruck verliehen, das im kritischen Lager von vielen angesichts der Depotenzierung geteilt wird, welche die Kritik der politischen Ökonomie durch ihre in der Sprache der Moralpsychologie verfasste Umdeutung zu erfahren scheint. Im ersten Abschnitt dieses Aufsatzes folge ich den verschiedenen Schritten von Christopher Zurns Kritik, welche - falls sie sich erhärten sollte - die Anerkennungstheorie zertrümmern würde. Zurns Honnethinterpretation ist völlig korrekt. Auch verdient seine Kenntnis der verschiedenen Stufen von Honneths Denken Beachtung. In diesem Abschnitt möchte ich jedoch eine Dimension der Honnethschen Ansichten hervorheben, die von Zum etwas unterschätzt wird: die grundlegende gesellschaftliche Abhängigkeit individueller Subjektbildung. Um die Relevanz der Anerkennungstheorie für eine zeitgemäße Kritik der politischen Ökonomie einschätzen zu können, ist die von mir gemeinte Akzentverlagerung äußerst bedeutsam, auch wenn diese kaum ins Auge fällt. Die Abschnitte 2 und 3 dienen dem Nachweis dieser Relevanz. Im zweiten Abschnitt wird die Verteidigung der Anerkennungstheorie durch einen direkteren Bezug auf das Werk von Emmanuel Renault in Angriff genommen. In L'Expérience de I 'Injustice zeigt Renault die Wirksamkeit einer anerkennungstheoretischen Sichtweise im Zusammenhang einer Kritik gegenwärtiger ökonomischer Erscheinungen, indem er für eine „an den Auswirkungen" ansetzende Kritik plädiert. Ich werde diese Position verteidigen und nicht nur zeigen, dass sie auf die Vorwürfe antwortet, die Zum und Fraser Honneth gemacht haben - nämlich soziologisch unpräzise oder sogar naiv zu sein. In der Tat zeigt sich durch Renaults Methode, dass die soziologischen Einsprüche die Kritiken selber treffen, betont sie doch den Umfang der Sozialpathologien, die anerkennungstheoretisch weit besser nachweisbar sind als mittels des Konzepts „partizipatorischer Parität". Die Hauptaufgabe dieses Abschnitts besteht folglich in der Verbindung der gesellschaftlichen Kritik mit der gesellschaftlichen Erfahrung. Was ich daher in Frage stelle, ist die Frasersche Trennung der beiden Dimensionen im Rahmen der konzeptionellen Zielvorstellung der Kritischen Theorie. Im dritten Abschnitt wird gefragt, ob es plausibel ist, das Anerkennungskonzept nicht nur in klinischer und normativer Hinsicht zu nutzen, sondern auch als gesellschaftstheoretischen Begriff mit explanatorischem Potential. Ich werde zeigen, dass die Verbindung zwischen klinischen, normativ-kritischen und gesellschaftstheoretischen Gebrauchsweisen von „Anerkennung" - vor allem hinsichtlich ökonomischer Realitäten - Honneths Projekt von Beginn an, insbesondere seit seiner frühen Habermaskritik, zugrunde liegt. Dies verweist auf Wege, auf welchen die Anerkennungstheorie, jenseits ihrer Funktion, Pathologien zu analysieren, für eine alternative Wirtschaftstheorie unmittelbar von konstruktiver Bedeutung sein könnte. So gesehen eröffneten sich Möglichkeiten eines ertragreichen Dialogs zwischen der Anerkennungstheorie und heterodoxen ökonomischen Konzepten, insbesondere verschiedenen Spielarten des ökonomischen Institutionalismus.
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JEAN-PHILIPPE DERANTY
1. Zurns Kritik an Honneths Theorie wirtschaftlicher Ungerechtigkeit 1.1 Demokratietheorie und Arbeitsteilung: der Aufsatz über Dewey aus dem Jahre 1993 Zum beginnt seine Kritik des Reduktionismus der Anerkennungstheorie in ökonomischen Fragen mit der Lektüre eines wichtigen Aufsatzes von Honneth aus dem Jahre 1993, der 1998 auf Englisch publiziert worden ist.6 Auf den ersten Blick mag es überraschen, eine Kritik an der Honnethschen Position zur wirtschaftlichen Ungerechtigkeit mit Bezug auf diesen Text einzuleiten, der sich doch hauptsächlich mit Fragen der politischen Philosophie beschäftigt. Deweys demokratietheoretische Schriften bieten, so argumentiert Honneth hier, einen fruchtbaren Neuzugang zum Problem der normativen Grundlagen der Demokratie - im Vergleich mit den wesentlichen gegenwärtigen Herausforderern: dem Liberalismus, dem Prozeduralismus und dem Republikanismus. Warum Zum speziell in seinem Bestreben, ein neues Licht auf die „Umverteilung versus Anerkennungs"-Debatte zu werfen, ausgerechnet diesen Aufsatz wählt, erschließt sich aus der Besonderheit von Deweys Lösung des politischen Problems. Dewey, der hier absichtlich der alten hegelmarxistischen Intuition mit neuen, pragmatisti sehen Mitteln folgt, behauptet, eine dynamische Demokratie beruhe auf einer „fairen und gerechten Arbeitsteilung". Honneths ausdrückliche und uneingeschränkte Aneignung des Deweyschen Modells liefert somit Hinweise von unschätzbarer Bedeutung auf seinen eigenen Zugang zum Problem der Arbeitsteilung und damit auch erste Einsichten in seine Herangehensweise an das Verhältnis zwischen Anerkennungsbeziehungen und ökonomischen Beziehungen. Honneths Neuaneignung von Deweys Demokratietheorie wird anfanglich von einem Problem motiviert, dem sich insbesondere die zeitgenössische politische Philosophie gegenübersieht: nämlich der Frage der gesellschaftlichen Grundlegung politischer Partizipation. Obwohl Demokratien die individuelle Teilnahme am Prozess der Willensbildung zur Voraussetzung haben, bieten viele zeitgenössische Demokratiemodelle nur unzureichende konzeptuelle Analysen fur die Erläuterung und normative Klärung der Frage, wie und von welcher Perspektive aus Individuen motiviert werden, sich an den ihre Gemeinschaft betreffenden Diskussionen zu beteiligen - in manchen Fällen fehlt die Analyse völlig. Insbesondere gelte dies, wie Honneth in Übereinstimmung mit Habermas denkt, für den Liberalismus.7 So war die anfängliche, in den frühen 1980er Jahre praktizierte Kritik mit ihrem Vorwurf, der Liberalismus beruhe auf einer nicht hinreichenden Subjektontologie, schnell überwunden. Der zweite Diskussionsabschnitt kam dann schnell auf das Problem der konzeptuellen und normativen Klärung der Verbindung zwischen Gesellschaft und Politik. Dieses Problem liegt wiederum dem Aufsatz von 1993 zu Grunde. Deweys von Hegel inspirierte Vision einer in gesellschaftlicher Koope-
A. Honneth, „Demokratie als reflexive Kooperation. John Dewey und die Demokratietheorie der Gegenwart", in: ders., Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktische Philosophie, Frankfurt/M. 2000, S. 282-309; engl.: „Democracy as Reflexive Cooperation: John Dewey and the Theory of Democracy Today", Political Theory, 26 (6), 1998, S. 763-783, wiederabgedruckt in ders., Disrespect. The Normative Foundations of Critical Theory, Cambridge 2007, S. 218-239. Siehe A. Honneth, „Die Grenzen des Liberalismus. Zur politisch-ethischen Diskussion um den Kommunitarismus", in: Philosophische Rundschau, 38. Jg. 1991, H. 1-2, S. 83-102.
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ration gründenden Politik wurde von Honneth als die ertragreichste Antwort auf das zentrale Dilemma gegenwärtiger Demokratietheorie begriffen und genutzt. Deweys Lösung des politischtheoretischen Problems individueller Teilnahme an der Willensbildung der Gemeinschaft ist, wenn man Honneths Rekonstruktion hier folgt, radikal und stimmt mit „linkshegelianischen" Ansätzen überein: Für Dewey ist es nicht nur so, dass Demokratie in gesellschaftlicher Kooperation gründet - sie ist sogar mit ihr identisch. Sofern Individuen durch ihre Interaktionen im Tätigkeitszusammenhang des gesellschaftlichen Lebens immer schon zusammenarbeiten und somit genötigt sind, gemeinsam Überlegungen darüber anzustellen, sind sie bereits implizit in einem Prozess engagiert, den das Moment des Politischen dann einfach nur noch expliziert und reflektiert. Letztlich bezeichnet Demokratie - als das normative Ideal moderner Politik - einen bestimmten Gesellschaftszustand entfalteter Kooperation statt einer Reihe von Institutionen oder deliberative Verfahren. Dies ist die Lösung des Problems individueller Partizipation, denn hiermit ist bereits die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben eine Teilnahme an der gesellschaftlichen Reflexionsbewegung politischer Willensbildung in nuce. Deutlich ist jedoch auch, dass das durch den Nachdruck auf gesellschaftliche Kooperation gelöste spezifische Problem in der Hauptsache der Absicht allein zeitgenössischer politischer Theoretiker folgt, Alternativen zum Liberalismus aufzuzeigen. Dewey hingegen hat eine umfassendere Vision demokratischer Gesellschaft (im Unterschied zu demokratischer Politik stricto sensu). Sie meint eine komplexe Vorstellung von Gesellschaft als Ganzer, anders gesagt, die Möglichkeit individuellen Gedeihens auf Grundlage gesunder gesellschaftlicher Beziehungen, wobei die Teilnahme am demokratischen Leben nur eine Dimension gesellschaftlicher Kooperation wäre. Das Hauptargument für die Ausarbeitung und Rechtfertigung dieser Übereinstimmung zwischen gesellschaftlicher Kooperation und demokratischer Politik - ein Argument, das sich als entscheidend für die Beurteilung von Honneths Behandlung ökonomischer Probleme erweisen wird - erschließt sich aus dem pragmatistischen Sinn von „Reflexivität". In seinen Frühschriften allerdings 8 hat Dewey, wie Honneth zeigt, den der Politik inhärenten Typus von Reflexivität nicht bestimmt. Er setzt hier statt dessen demokratische Politik mit der kooperativen Gesellschaft gleich und wiederholt damit nur Marx' verkürzten Politikbegriff. Beim frühen Dewey wie bei Marx fehlt eine eigenständige Analyse des Moments des Politischen in seiner spezifischen Funktion und Struktur. Unter direkter Anregung von Hegels Begriff der Sittlichkeit, jedoch unter Missachtung der von Hegel praktizierten Sorgfalt bei der Beschreibung des Staates in seinen verschiedenartigen Beziehungen zur Gesellschaft, verknüpft Dewey individuelle Autonomie und politische Souveränität, ohne beide hinlänglich zu vermitteln. Was beides hier verbindet, ist die Teilnahme des Einzelnen an der Arbeitsteilung. „Weil ein jedes Gesellschaftsmitglied durch seine eigenen Aktivitäten auf Grundlage der Arbeitsteilung zur Erhaltung der Gesellschaft beiträgt, stellt es eine ,lebendige Verkörperung' des Zwecks der Gesellschaft dar. Aus diesem Grunde genießt es nicht einfach nur ein anteiliges Recht der gesellschaftlich ermöglichten Freiheit. Es besitzt statt dessen als Individuum bereits die gesamte Souveränität, durch welche alle gemeinsam als ein Volk zum souveränen Inhaber der Macht werden." 9 Insbesondere in „The Ethics of Democracy" aus dem Jahre 1888, siehe: J. A. Boydston (Hg.), The Early Works of John Dewey, Bd. I, Carbondale, S. 227-249. Dewey, „The Ethics of Democracy", a. a. O., S. 237.
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Trotz des ernsthaften Problems einer fehlenden Vermittlung zwischen Gesellschaft und Politik - die entscheidende Rolle von „Arbeitsteilung" ist bereits in diesen frühen Schriften deutlich. Wie bei Hegel sind die funktionalistischen Aspekte der Wirtschaftsorganisation wie die aus individuellem Blickwinkel erfahrbare korrespondierende Zweckdienlichkeit des Wirtschaftshandelns nur oberflächlich gesehen vom sittlichen Leben getrennt. Tatsächlich nämlich ist sowohl für Hegel als auch für Dewey die Arbeitsteilung selber ein wesentliches Moment der Sittlichkeit; und zwar nicht nur indirekt, insofern sie der Gemeinschaft die materielle Reproduktion ermöglicht. Sie ist dies darüber hinaus in einem direkteren und bedeutsameren Sinn, denn der gesamten Organisation des gesellschaftlichen Lebens ist die individuelle Aktivität eingeschrieben, und dies ist genau genommen die sittliche Qualifikation der Teilnahme des Individuums am politischen Leben. In späteren Schriften 10 anerkennt Dewey das eigenständige Moment von Deliberation, welches den Eigensinn des Politischen gegenüber der gesellschaftlichen Kooperation markiert. Diese Anerkenntnis mindert jedoch in keiner Weise die grundsätzliche Intuition, dass Demokratie letztlich ein „gesellschaftliches Ideal" bezeichnet, nicht jedoch ein spezifisch politisches. Wie bereits bemerkt, ist es das pragmatistische Verständnis von Reflexivität, das Dewey in den Stand setzt, an seiner Schlüsselintuition festzuhalten, ohne die reduktionistische Position in Fragen der Politik erneut beziehen zu müssen. Die intersubjektive und reflexive Wahrheitsdefinition der Tradition des Pragmatismus ist wohlbekannt. Verfahren der Wahrheitssuche, insbesondere in den Wissenschaften, werden als Fortfuhrungen jener alltäglichen Routinen verstanden, auf die wir dann rekurrieren, wenn einige implizite Annahmen durch Unterbrechungen des Erfahrungszusammenhangs oder dadurch konterkariert werden, dass sie sich als unzutreffend erweisen. Verfahren dieser Art sind somit Reflexionsprozesse der Untersuchung und Korrektur jener impliziten Annahmen, die sich als falsch erwiesen haben. Pragmatisten zufolge funktioniert dieses Prozedere bekanntermaßen dann am Besten, wenn es von einer Forschungsgemeinschaft verfolgt wird. Anders gesagt ist es der wissenschaftlichen Forschung wesentlich, „reflexive Kooperation" zu sein. In seinen späteren Schriften vollendet Dewey einfach den Kreislauf, der ihn von der Gesellschaft zur Wissenschaft gebracht hat und ihn nun wieder zum gesellschaftlichen Leben kommen lässt. Honneth rekonstruiert Deweys Argument folgendermaßen: ,,[I]n der gesellschaftlichen Kooperation [...] erhöht sich die Intelligenz der Lösung auftauchender Probleme in dem Maße, in dem alle Beteiligten ungezwungen und gleichberechtigt Informationen austauschen und Überlegungen vorbringen konnten." 11 Dies fuhrt dann zu einer Idee demokratischer Deliberation, die als reflexive nunmehr vom Binnenraum gesellschaftlichen Lebens relativ unabhängig ist: Im Falle der demokratischen Deliberation wie bei der wissenschaftlichen Debatte handelt es sich um einen Reflexionsprozess, durch welchen eine „Forscher"gemeinschaft den Versuch unternimmt, qua Gemeinschaft ein Problem zu lösen, das in einem Zusammenhang entstanden ist, der einen jeden betrifft. Dies ist jedoch noch nicht hinreichend, um die Verbindung zu rechtfertigen, die zwischen der relativ autonom vom gesellschaftlichen Leben bestehenden demokratischen Deliberation und dem starken, von Hegel und Marx inspirierten gesellschaftlichen Ideal aufrechterhalten 10
Insbesondere in dem 1927 erschienenen Buch The Public and Its Problems (dtsch. : Die Öffentlichkeit und ihre Probleme, hg. v. H.-P. Krüger, Bodenheim 1996).
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Honneth, „Demokratie als reflexive Kooperation", a. a. O., S. 298.
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werden soll. Das Problem der Verbindung von Politik und gesellschaftlichem Leben läuft aus pragmatistischer Perspektive auf folgende Frage hinaus: Obwohl die Gemeinschaft der „Einbezogenen" auf dem Feld wissenschaftlicher Forschung problemlos ist, wird sie auf dem Feld der Sozialphilosophie zum Kernproblem. Problemlos lassen sich demokratische Verfahren als reflexive Deliberationen über Schwierigkeiten definieren, die dem gesellschaftlichen Leben entstammen. Die eigentliche Frage ist: Wer ist hinsichtlich dieser Probleme involviert und in welcher Funktion ist er das? Warum sollten diese, im gesellschaftlichen Leben entstandenen Probleme alle Gesellschaftsmitglieder einbeziehen - genauer gefragt, warum diese Mitglieder in ihrem Einbezogensein in die Arbeitsteilung? Die Antwort auf diese Frage ist entscheidend, wenn Arbeitsteilung und das in Deweys frühen Schriften aufgewiesene starke Gesellschaftsideal ihre Bedeutung behalten sollen. Es wäre zum Beispiel problemlos vorstellbar, eine ähnliche reflexive Version von Demokratie zu hegen (etwa im Sinne von Habermas), ohne jedoch das Politische so stark auf die Arbeitsteilung zu stützen. Es ist kurz gesagt klar, wie Demokratie als Reflexivität beschrieben werden kann. Die ganze Schwierigkeit und Originalität Deweys besteht in der Aufgabe, Demokratie als eine solche reflexive Kooperation begreifbar zu machen, die nicht einfach Kooperation auf politischem Niveau ist, sondern politische Kooperation, die auf gesellschaftlicher Kooperation beruht. Um es noch einmal zu sagen: das fehlende Bindeglied besteht in einem pragmatistischen Begriffsschema. Und dieses wird bei den folgenden Erörterungen von Honneths Zugang zur Ökonomie entscheidend sein: ,,[S]oziales Handeln vollzieht sich in Formen von Interaktionen, von deren Konsequenzen im einfachsten Fall überhaupt nur die unmittelbar Beteiligten betroffen sind; sobald sich aber von den Konsequenzen solcher Interaktionen auch Unbeteiligte in Mitleidenschaft gezogen sehen, entsteht aus deren Sicht der Bedarf an einer gemeinsamen Kontrolle der entsprechenden Handlungen entweder im Sinne ihrer Unterbindung oder ihrer Förderung [.,.]." 1 2
Diesem Modell zufolge wird nach politischen Verfahren verlangt, um die Konsequenzen des Handelns zu koordinieren und zu regulieren, die zuerst in speziellen Bereichen der Gesellschaft entstehen, von denen aber erwartbar ist, dass sie tatsächlich alle Gesellschaftsmitglieder betreffen werden. Politik ist in diesem Falle wirklich eine reflexive Bewegung, in welcher die Gesellschaft ihre eigenen internen Probleme zu lösen sucht. Die Arbeitsteilung kommt diesem Schema zufolge dann ins Spiel, wenn die Problematik einen normativen Impuls erhält und nach einer spezifisch demokratischen Version von Politik gesucht wird: Um alle Individuen am Reflexionsprozess politischer Deliberation beteiligen zu können, müssen diese schon verstanden haben, in welcher Weise sie das Handeln, an dem sie nicht direkt beteiligt sind, indirekt betrifft. Dies gewährleistet die Arbeitsteilung, denn sie zeigt, wie individuelle Tätigkeit wesentlich auf ihre Stellung im gesamtgesellschaftlichen Organismus bezogen, durch diese in der Tat definiert ist. Negativ formuliert ist eine Gesellschaft nicht wirklich demokratisch, selbst wenn ihre politischen Verfahren dies im formalen Sinne wären, wenn ihre Akteure nicht sehen können, wie die Handlungen anderer auf sie bezogen sind und ihre eigenen Handlungen sich auf diese anderen beziehen. Um es noch einmal zu betonen: Die demokratische Politik gründet in der demokratischen Gesellschaft. In der Tat fungiert das Argument, wie Zum sehr gut herausstellt, auf zwei Ebenen: Eine faire Arbeitsteilung ist nicht nur als die (gesellschaft12
Ebd., S. 300.
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liehe) Bedingung einer wirklich demokratischen Politik erforderlich; sie ist auch notwendig, damit Subjekte ihre Selbstschätzung entwickeln können. Honneths dritte Sphäre der Anerkennung ist gleichbedeutend mit der sich hieraus ergebenden Idee einer gerechten und fairen Arbeitsteilung. Folglich kann „nur eine faire und gerechte Form der Arbeitsteilung jedem einzelnen Gesellschaftsmitglied ein Bewußtsein davon geben [...], kooperativ mit allen anderen zur Verwirklichung gemeinsamer Ziele beizutragen. Allein die Erfahrung, durch einen individuellen Beitrag an den besonderen Aufgaben einer Gruppe mitzuwirken, die wiederum arbeitsteilig mit all den anderen Gruppen eines Gemeinwesens kooperiert, kann das einzelne Individuum von der Notwendigkeit einer demokratischen Öffentlichkeit überzeugen." 13
Wir konstatieren, dass das unmittelbare Problem, das Honneth in dem Aufsatz aus dem Jahre 1993 angeht, tatsächlich das der „moralischen Grundlagen der Gesellschaft" ist, dass es jedoch eigentlich auf eine weit umfassendere Konzeption von Gesellschaft in ihrer Gesamtheit zielt, auf ein ausgreifendes „gesellschaftliches Ideal". Im Grunde genommen macht es fur Dewey wie natürlich auch für Honneth keinen Sinn, von demokratischer Politik unter Absehung von einer demokratischen Gesellschaft zu sprechen. Demokratie lässt sich, anders gesagt, nur über eine gesellschaftliche Transformation realisieren. Zum gleichen Schluss war Honneth schon ein Jahr früher im Kampf um Anerkennung gekommen. In der Zwischenzeit hat sich ein normativ aufgeladener Begriff von Arbeitsteilung als notwendig erwiesen: Politische Freiheit erfordert gerechte Arbeitsteilung; durch die Teilung der Arbeit wird jede individuelle Aktivität in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung bestimmt. Zurns Kritik an Honneths Reduktionismus in Fragen der Wirtschaft basiert auf dessen Doppelargument, demzufolge eine faire und gerechte Arbeitsteilung die Bedingung sowohl einer wirklichen Demokratie als auch einer adäquaten Individualentwicklung sei. Einerseits anerkennt Zum die tiefen Einsichten, die Honneth durch seinen Rekurs auf Dewey möglich sind: Indem er Politik auf dem Ideal eines vielgestaltigen und reichhaltigen gesellschaftlichen Lebens gründet, vermeidet er monolithische Lösungen, die andere wert- und identitätsorientierte politische Konzepte auszeichnen. Er unterstreicht die Verbindung zwischen der Pluralität des gesellschaftlichen Lebens und der Dynamik der Demokratie. Schließlich vermag er in der Tat „die Bedeutung größerer wirtschaftlicher Gleichheit für eine gesunde Demokratie derart [hervorzuheben], wie dies konkurrierende Theorien nicht tun".14 Zugleich wird Honneth durch die Deweysche Lösung jedoch zu einer verhängnisvoll verkürzten Vorstellung wirtschaftlichen Handelns gefuhrt - und zwar wegen der von nun an hergestellten engen Verbindung zwischen ökonomischer Verteilung und Anerkennung. Das Bewusstsein davon, „kooperativ [...] zur Verwirklichung gemeinsamer Ziele beizutragen",15 schafft nicht allein die Grundlage für die Beteiligung der Individuen an der demokratischen Deliberation. Es verschafft den individuellen Beiträgen zu Gesellschaft Anerkennung und den
13
Ebd., S. 303. „[...] die wiederum arbeitsteilig mit all den anderen Gruppen eines Gemeinwesens kooperiert" - dieser wesentliche Passus fehlt in der englischsprachigen Übersetzung. Vgl. „Democracy as Reflexive Cooperation: John Dewey and the Theory of Democracy Today", S. 231.
14
Zum, „Anerkennung, Umverteilung und Demokratie", a. a. O., S. 443, vgl. ders., „Recognition, Redistribution, and Democracy", S. 96-99.
15
Honneth, „Demokratie als reflexive Kooperation", a. a. O., S. 303.
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Einzelnen ihren gesellschaftlichen Wert. Mithin findet Honneth nach Mead in Dewey eine direkte Bestätigung seiner dritten Sphäre der Anerkennung. 16 Das Problem dabei ist jedoch, dass Honneth von nun an die Wirtschaft von der falschen Seite her angeht. Weil das Ideal einer fairen und gerechten Arbeitsteilung ein derart schlagkräftiges Modell für eine alternative, umfassendere und im Grunde radikalere Vorstellung von Politik bereitstellt, wird die Wirtschaft von Honneth ab jetzt nur noch auf diese Weise analysiert. Vor dem berühmten Gedankenaustausch mit Fraser stößt man in einem Aufsatz aus dem Jahre 2000 auf die ausdrückliche Wendung hin zu dieser Position: ,,[D]ie Regeln, nach denen die Verteilung materieller Güter organisiert ist, bemessen sich an dem Maß an sozialer Wertschätzung, das soziale Gruppen in einer Gesellschaft gemäss institutionalisierten Werthierarchien oder Wertordnungen genießen. [...] Verteilungskonflikte sind [...] stets symbolische Kämpfe um die Legitimität des gesellschaftlich-kulturellen Dispositivs, das den Wert von sozialen Tätigkeiten, Eigenschaften und Beiträgen festlegt. Insofern ist der Verteilungskampf [...] ein Kampf um die kulturelle Definition dessen, was eine soziale Tätigkeit zu einer gesellschaftlich notwendigen und wertvollen macht."17
In dieser Abhandlung scheint die kulturalistische Reduktion der Wirtschaft vollendet. Zurns nachfolgende kritische Einwände bauen alle auf der Identifikation dieser Wendung sowie den daraus resultierenden Gedanken, die Wirtschaft werde im Grunde genommen durch Kultur erklärt. Im übrigen Teil seines Textes verzeichnet Zum systematisch all jene Probleme, die dann entstehen, wenn die ökonomische Verteilung mittels des „soziokulturellen Dispositivs" analysiert wird und man von wirtschaftlicher Ungerechtigkeit behauptet, sie könne durch Kämpfe abgeschafft werden, die darauf zielen, dem Wert von Beiträgen zur gesellschaftlicher Kooperation Anerkennung zu verschaffen.
1.2 Honneths reduktionistische Theorie gesellschaftlicher Ungerechtigkeit Nachdem er auf die verhängnisvolle Wendung in Honneths Zugang zur Ökonomie verwiesen hat, betont Zum als ersten kritischen Punkt die problematischen Konsequenzen der Verbindung zwischen Verteilung und Anerkennung in Hinblick auf Erscheinungen wirtschaftlicher Ungerechtigkeit. Unter Rückgriff auf Fräsers idealtypisches Beispiel einer allein aufgrund ihrer wirtschaftlichen Stellung leidenden Person (der wegen eines zu Spekulationszwecken erfolgten Firmenzusammenschlusses entlassene „weiße, männliche Industriefacharbeiter") oder mittels Beispielen wie desjenigen vom ungleichen Lohnzuwachs oder der Verarmung weiter Teile der Bevölkerung, jeweils bedingt durch Schwankungen auf dem globalisierten Kapitalmarkt, beginnt Zum mit der vom gesunden Menschenverstand diktierten Bemerkung, diese Ungerechtigkeiten „resultieren allein aus den ökonomischen Imperativen kapitalisti16
Siehe dazu Deweys Überlegung, die Meads thematisch ähnlichgelagerten Gedanken sehr nahe kommt: Indem Staatsorgane „alle Gesellschaftsmitglieder in den Stand versetzen, ,sich mit vernünftiger Gewißheit auf das verlassen zu können, was andere tun'", „schaffen [sie] .Achtung vor anderen und vor sich selbst". Dewey, Die Öffentlichkeit und ihre Probleme, a. a. O., S. 29, hier im Zitat von Honneth, „Demokratie als reflexive Kooperation", a. a. O., S. 301.
17
A. Honneth, „Anerkennung oder Umverteilung? Veränderte Perspektiven einer Gesellschaftsmoral", in: Peter Ulrich/Thomas Maak, Die Wirtschaft in der Gesellschaft. Perspektiven an der Schwelle zum 3. Jahrtausend,, Bern, Stuttgart, Wien 2000, S. 149-150, hier S. 149.
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scher Märkte" und sollten deshalb unter rein ökonomischen Gesichtspunkten analysiert werden. Folglich sei es unangemessen, solche „Verteilungsungerechtigkeiten auf Ungerechtigkeiten darunterliegender Bewertungsmuster zu reduzieren".18 Eine zweite Reihe kritischer Bemerkungen ist mit den ersten eng verbunden, zielen aber direkter auf die gesellschaftstheoretische Ebene. Honneths Darstellung scheint insbesondere in Blick auf jene grundlegenden Voraussetzungen der gegenwärtigen Gesellschaftstheorie unzulänglich, welche den Aufstieg und die Struktur des kapitalistischen Systems betreffen. Honneth kann wirtschaftliche Ungerechtigkeit nur dann auf ein Anerkennungsproblem reduzieren, wenn er die von Fraser behaupteten Tatsache missachtet,, dass sich die „kapitalistische Gesellschaft ... vor allem dadurch auszeichnet], daß sie eine gleichsam objektive, anonyme und unpersönliche Marktordnung ins Leben ruft, die ihrer eigenen Logik folgt".19 Zunächst scheint Honneth damit einen Grundsatz der Gesellschaftstheorie zu ignorieren: den der allmählichen Emanzipation der Sphäre materiell-ökonomischer Reproduktion von der kulturell-symbolischen. Zweitens scheint er gleichfalls die daraus resultierende Logik kapitalistischer Märkte zu übersehen, ihr systemartiges Operieren - „ein seit Adam Smith und Hegel geläufiger Gedanke"20 - , dass Märkte funktionieren, als ob eine „unsichtbare Hand" aus dem Hintergrund heraus dirigieren würde. Honneth scheint, anders gesagt, die grundlegende Tatsache zu missachten, dass die Erklärung spezifisch ökonomischer Phänomene in Begriffen instrumenteller und kausaler, nicht jedoch kommunikativer oder normativer Rationalität zu erfolgen hat. Drittens setzt sich Honneth mit seiner Reduktion wirtschaftlicher Erscheinungen auf die kulturelle Ordnung vermutlich über ein weiteres Merkmal gegenwärtiger Märkte hinweg - ein Merkmal, das direkt an deren systemartiges Operieren gebunden ist und in der Tatsache besteht, dass die strukturelle Differenzierung von Gesellschaften zu einer enormen Komplexitätssteigerung fuhrt. Nimmt man all dies zusammen, so kommt man zu einem dritten, gleichermaßen schwerwiegenden Kritikpunkt: Wenn die theoretische Analyse Phänomene, die zu verschiedenen Bereichen gehören, miteinander verbindet, wird die praktische Relevanz dieser Analyse zur ernstlichen Frage. Riskiert sie doch damit, praktische Lösungen zu verfechten, die an den wirklichen Unrechtsursachen vorbeigehen oder, schlimmer noch, solche Lösungen zu befürworten, welche zu einer Verschärfung der Ungerechtigkeit fuhren, weil die Analyse negative Rückkopplungseffekte nicht in Betracht zu ziehen vermag.21 Wie bereits einleitend betont, liegt die große Stärke von Zurns Angriff in seiner intimen Kenntnis der Schriften Honneths in ihrem ganzen Umfang. Er kritisiert Honneths Anerkennungstheorie nicht einfach nur durch die Darlegung einer alternativen, konkurrierenden Theorie. Er stellt die Grundlagen von dessen Theorie auch immanent in Frage. Dies gilt insbesondere für den letzten Teil seines Aufsatzes. Dort berücksichtigt er Honneths Replik auf Fräsers Kritiken und rekonstruiert mit großer Präzision den Gehalt seines Einwands. Im Wesentlichen geht es dabei darum,
18
Zum, „Recognition, Redistribution, and Democracy", S. 101.
19
Fraser, Umverteilung oder Anerkennung?, Democracy", S. 102.
S. 245, von Zum zitiert in: „Recognition, Redistribution, and
20
Zum, „Recognition, Redistribution, and Democracy", S. 102.
21
Zum, „Recognition, Redistribution, and Democracy", S. 102-103.
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„die in einer jeden Gesellschaft bestehenden Regeln materieller Verteilung als durch die vergleichende gesellschaftliche Bewertung sowohl der verschiedenen Wege determiniert zu verstehen [...], auf denen zur gesellschaftlichen Reproduktion beigetragen wird, als auch der dafiir notwendigen Eigenschaften." 22
Vor dem Hintergrund der gerade genannten drei kritischen Argumentationsreihen vermag, so Zum, die Lösung nur dann zu funktionieren, wenn ein viertes Problem in Kauf genommen wird, das den Vorwurf der Unhaltbarkeit nur noch erhärtet. Honneth könne das Problem ökonomischer Verteilung reduktionistisch nur auf einem solchen Abstraktionsniveau als Ausdruck von Anerkennungsbeziehungen verstehen, das seine Analyse empirisch und praktisch irrelevant macht. Zum nennt dies das „Generalisierungs-Konkretions-Dilemma". Der vierte Angriff auf die anerkennungstheoretische Darstellung wirtschaftlicher Ungerechtigkeit erfolgt in verschiedenen Wellen, wobei einige der schon erhobenen Vorwürfe wiederholt werden. Wir brauchen hier nur die ersten beiden Wellen zu erwähnen, denn die dritte basiert auf der gleichen Argumentation wie die oben genannte einleitende Kritik. Erstens könne Honneth auf der Ebene der politischphilosophischen Implikationen seines Modells die Demokratietheorie nur deshalb so eng an den Begriff einer fairen und gerechten Arbeitsteilung binden, weil er eine weitere soziologische Reduktion in Kauf nehme: In diesem Falle sehe er von der Tatsache ab, dass die Arbeitswelt nicht mehr die alleinige Grundlage fur eine gesellschaftlichen Kooperation darstellt, auf die sich demokratische Deliberationen und die individuelle Selbstschätzung stützen könnten. Deshalb sei Honneth nur dann in der Lage, an dem Modell reflexiver Kooperation aus dem Jahre 1993 festzuhalten, wenn er einen sehr abstrakten Arbeitsbegriff konzipiere - einen solchen, der jede gesellschaftlich bedeutsame individuelle Tätigkeit meint. Damit allerdings beraube sich Honneth der Fähigkeit, zwischen verschiedenen Typen kooperativer Vereinigungen (von Kegelklubs bis hin zu Fabrikabteilungen) zu unterscheiden, und deren jeweiliger Fähigkeit, Individuen an „reflexiver Kooperation" teilnehmen zu lassen. Dann aber werde die Theorie so abstrakt, dass sie, bezogen auf die Analyse wirklicher Formen von Ungerechtigkeit, empirisch und praktisch unbrauchbar wird - insbesondere die für die Abänderung der Verteilungsmuster notwendigen Umgestaltungen betreffend (Kegelklubs und Fabrikabteilungen zum Beispiel wären ja auf äußerst verschiedene Weisen bedeutsam). Der zweite Punkt betrifft die Analyse gesellschaftlicher Ungerechtigkeit. Letztere könne Honneth nur dann unter Rückgriff auf solche Begriffe erläutern, die ihrem wirklichen ökonomischen Aspekt angemessen sind (ζ. B. die politisch-ökonomischen Faktoren, die die Tatsache niedriger Löhne erklären), wenn seine Arbeitsdefinition - welche die Strukturen von Anerkennung honorieren soll - so abstrakt werde, dass sie ihren empirischen und strategischen Nutzen verliert. Honneth müsste ζ. B. akzeptieren, dass die Beweglichkeit des Kapitals, also der politisch-ökonomische Hauptgrund für die Erklärung niedriger Löhne (wenn man annimmt, dass Kapitalmobilität mit der Drohung der Jobverlagerung als permanentes Druckmittel gegen Lohnzuwächse fungiert), selber die Folge einer Anerkennungsordnung sei, etwa der zwischen Arbeit und Kapital. Dies jedoch würde zu einer solch abstrakten und grob vereinfachenden und deshalb letztlich analytisch völlig wertlosen Beschreibung der komplexen Wirklichkeit gegenwärtigen kapitalistischen Wirtschaftens fuhren, womit dann wiederum untaugliche oder gar kontraproduktive praktische Vorschläge zustande kämen. Die Aufforderung, die ungerechte Anerkennungsbeziehung zwischen Arbeit und 22
Zum, „Recognition, Redistribution, and Democracy", S. 104, vgl. ders., „Anerkennung, Umverteilung und Demokratie", a. a. O., S. 446.
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Kapital umzugestalten, gäbe uns in einer bestimmten Situation, ζ. B. in Hinblick auf den „Industriearbeiter", keine substanziellen und präzisen Informationen an die Hand. Wieder einmal, so schlussfolgert Zum, muss sich die Anerkennungstheorie zwischen theoretischer Präzision zum Preis praktischer Bedeutungslosigkeit entscheiden und der Aufrechterhaltung empirischer und praktischer Signifikanz, aber zum Preis dessen, auf den Anerkennungsbegriff als einen Begriff mit paradigmatischem Gehalt zu verzichten.
2. Erste Verteidigung von Honneths Theorie: Anerkennung und die Erfahrung wirtschaftlicher Ungerechtigkeit Angesichts dieser vernichtenden Kritik besteht der erste Verteidigungsschritt in dem Eingeständnis, dass die Anerkennungstheorie - qua Sozialtheorie - nicht dafür hinreicht, das Wirtschaftshandeln in seiner Besonderheit zu und im Vergleich mit anderen Typen gesellschaftlichen Handelns darzustellen; dass sie allerdings äußerst nützlich, vielleicht unersetzbar, dafür ist, die Erfahrung wirtschaftlicher Ungerechtigkeit - qua Erfahrung - aufzuweisen. Das ist der Kurs, den Emmanuel Renault in jenem Kapitel seines Buches L'Expérience de I 'Injustice (wie auch in anderen kürzlich erschienenen Schriften) einschlägt, das sich mit den Institutionen ökonomischer Ungerechtigkeit beschäftigt. 23 „Es ist klar", so schreibt Renault, „dass eine Theorie der Anerkennung allein eine Theorie des Kapitalismus nicht liefern kann. Das war aber auch nie die Absicht. Auf arbeitssoziologische und wirtschaftswissenschaftliche Konzepte gestützt ist sie jedoch in der Lage, sich an der Analyse der Anerkennungseffekte zu beteiligen, welche die Institutionen der Lohnarbeit und des kapitalistischen Marktes produzieren." 24 Anstatt ursachenbezogen zu argumentieren und damit die Kritik der Ungerechtigkeit methodisch abhängig von der Analyse der Ursachen der Ungerechtigkeit zu machen, schlägt Renault vor, die Kritik mit Blick auf die Auswirkungen gegenwärtigen Wirtschaftens zu betreiben. Warum, so fragt Renault, sollte eine wirkungsbezogene Kritik - qua Kritik - weniger effektiv sein, als eine solche, die an den Ursachen ansetzt? 25 Eine Entscheidung zwischen beiden sei nicht notwendig. Die Kritik an den Auswirkungen, die die Wirtschaftsprozesse auf Geister, Körper und Seelen haben, erweise sich als Ergänzung zu einer Strukturkritik der politischen Ökonomie, statt eine Alternative zu dieser sein zu müssen. Hier wäre der Nutzen aufzuweisen, den eine zusätzliche, aus der Erfahrungsperspektive erfolgende Pathologiekritik der Strukturanalyse erbringen würde. Das haben Renault wie auch Honneth in ihren letzten Abhandlungen zu unternehmen versucht. Umreißen wir kurz die Argumente, die Renault in Anschlag bringt, um die Relevanz der Anerkennungstheorie für eine Kritik der Erfahrung wirtschaftlicher Ungerechtigkeit zu de23
E. Renault, L'Expérience de l'Injustice, Paris 2004; siehe dort insbes. Kapitel 3: „The Institutions of Injustice", S. 179-246. Siehe auch die folgenden jüngst erschienenen Abhandlungen von Renault, die alle für die gegenwärtige Diskussion bedeutsam sind: „Radical Democracy and an Abolitionist Concept of Justice. A Critique of Habermas' Theory of Justice", Critical Horizons, 6, 2005, S. 137-152; „Biopolitics and Social Pathologies", Critical Horizons, 2005, S. 159-177; „Du Fordisme au Postfordisme. Dépassement ou retour de l'Aliénation? ", Actuel Marx, 39, 2006, S. 89-106. Siehe auch Deranty und Renault, „Politicising Honneth's Ethics of Recognition", Thesis Eleven, 88(1), 2007, S. 92-111.
24
Renault, L'Expérience
25
Ebd.
de I 'Injustice, S. 212.
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monstrieren. Diese Argumente werden vor allen Dingen die Sachdienlichkeit der Anerkennungstheorie bei der Analyse gegenwärtiger Sozialpathologien demonstrieren und im Vergleich dazu die Schwächen des dualistischen Zugangs zu Ungerechtigkeiten soziokultureller und wirtschaftlicher Art. Renaults Vorschlag einer erneuerten Kritik der politischen Ökonomie von der Perspektive ihrer Auswirkungen auf die Individuen aus baut direkt auf zwei fundamentalen Prämissen Honneths auf. Diese wesentliche Akzeptanz Honnethscher Grundsätze ermöglicht uns auch, Renault für die Verteidigung von Honneth zu nutzen - trotz ihrer unterschiedlichen Positionen hinsichtlich einiger wichtiger anerkennungstheoretischer Aspekte. 26 Zunächst einmal akzeptiert Renault Honneths intersubjektivitätstheoretische Prämisse, d. h. den Gedanken, dass eine positive Selbstbeziehung - die ihrerseits die Minimalbedingung einer funktionsfähigen Subjektivität ist - vollständig auf der Anerkennung des gesellschaftlichen Werts der eigenen Existenz beruht. Auch stimmt er mit Honneth darin überein, dass Arbeit eine der hauptsächlichen Handlungstypen ist, welche Individuen befähigt, eine solche gesellschaftliche Anerkennung ihrer individuellen Existenz zu erzielen. Diese zweite Prämisse ist nun genau jene, mit der Zum Honneth anlastet, soziologisch naiv zu sein. Renault erkennt ausdrücklich an, dass ein Kritikansatz ökonomischer Ungerechtigkeit in der Folge von Honneth die bittere Pille der zeitgenössischen Sozialtheorie schlucken und gegen die von ihr zu wesentlichen Teilen vertretene Tendenz argumentieren muss, der Arbeitsbegriff sei als Zentralbegriff zu verabschieden. Wie werden auf dieses Schlüsselproblem der Interpretation der These von der Zentralbedeutung der Arbeit noch zurückkommen. Hat man diese zwei Grundprämissen (der intersubjektiven Verletzbarkeit von Individuen sowie der Bedeutsamkeit von Arbeit für die gesellschaftliche Anerkennung) erst einmal gebilligt, dann muss man, wenn man Renault hier folgt, die verschiedenen in den Wirtschaftsprozess involvierten Institutionen je fur sich dahingehend untersuchen, wie in ihnen die Arbeit nicht beachtet oder ihr die Anerkennung verwehrt wird. Diese Aufgabe lässt sich durch eine arbeitsweltbezogene Untersuchung von Pathologien moderner Gesellschaften lösen. Hierbei ist die kritische Theorie zu weiten Teilen auf empirische Forschungen aus dem Feld der Arbeitspsychologie und -Soziologie verwiesen. Die erste wesentliche Wirtschaftsinstitution ist der Markt. Arbeitende Individuen sind in ihn auf zwei verschiedene Weisen eingebunden: durch die Strukturen des Arbeitsmarktes wie auch durch die Anerkennungseffekte des Waren- und des Dienstleistungsmarktes. Für den Arbeitsmarkt ist die Relevanz der Anerkennungstheorie offensichtlich. Das ist es, worum es schließlich in der dritten „Sphäre der Anerkennung" ausdrücklich geht. ,,[D]ie Regeln, nach denen die Verteilung materieller Güter organisiert ist [insbesondere Löhne, J. P. D], bemessen sich an dem Maß an sozialer Wertschätzung, das soziale Gruppen in einer Gesellschaft gemäss institutionalisierten Werthierarchien oder Wertordnungen genießen." 27 Der Arbeitsmarkt schafft spezifische Ungerechtigkeiten, wobei einige Formen von Arbeit, einige bestimmten 26
Die beiden wesentlichen Differenzpunkte zwischen Honneth und Renault in ihrem Gebrauch des Anerkennungsbegriffs für die Gesellschaftskritik betreffen erstens das Identitätskonzept, das Renault als ein grundlegendes gesellschaftskritisches Konzept verteidigt, und zweitens das Verhältnis zwischen Anerkennung und Institutionen. Der zweite Punkt ist von wesentlicher Bedeutung ftir den Zugang der kritischen Theorie zu wirtschaftlichen Phänomenen, wie in Abschnitt 3 gezeigt wird.
27
So Honneth in der dem Anerkennungsproblem gewidmeten Sonderausgabe von Theory, Culture and Society aus dem Jahre 2001. Hier zitiert nach der oben genannten deutschen Übersetzung: „Anerkennung
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Erwerbszweigen zugemessene Status keine hinreichende Anerkennung genießen oder nicht fur ihren wirklichen gesellschaftlichen Wert anerkannt werden. Diese Ungerechtigkeit findet ihren Niederschlag in den Löhnen. Eine ungerechte Lohnhöhe kann unmittelbar als anerkennungsbezogenes Unrecht analysiert werden. Jedenfalls wird es genau so durch jene erfahren, die den Eindruck haben, ihr Lohn verkörpere eine Form gesellschaftlicher Ungerechtigkeit. 28 Renault legt jedoch überzeugend dar, dass auch Waren- und Dienstleistungsmärkte anerkennungsbezogene Auswirkungen haben (obwohl diese hier, wie gesagt, nicht durch Anerkennung „erklärt" werden dürfen). Der Preis, den Märkte Produkten verleihen, ist eine Widerspiegelung des Wertes, der ihnen von der Gesellschaft (als ganzer oder eben nur aggregativ) zugewiesen wird. Eine der Strukturbedingungen des Tauschwerts für Marx ist ζ. B. die „gesellschaftliche Bestätigung" des Gebrauchswerts. 29 Sieht man einem Produkt seinen gesellschaftlichen Nutzen nicht an, so wird es nicht tauschbar sein. Dies steht jedoch in unmittelbarer Verbindung zur Arbeit: Damit die Arbeit eines Individuums Teil der gesellschaftlichen Arbeit werden und ihren Platz innerhalb der Arbeitsteilung finden kann, muss sie als gesellschaftlich nützliche Arbeit Anerkennung erlangen, als eine solche gelten, die gesellschaftlich anerkannte Erzeugnisse produziert. Im kapitalistischen System geschieht dies durch den Austausch der Arbeitsprodukte. Der Produktpreis ist deshalb eine direkte Anerkennung des Wertes der Tätigkeit dieses Individuums, statt eine nur indirekte zu sein. Unabhängig von der Frage der ursächlichen Klärung der Preisbildung bleibt es bei der Tatsache, dass sich in den Preisen der Arbeitsprodukte eine Anerkennungsordnung spiegelt. Damit ist das Anerkennungsmodell besonders gut geeignet, eine umfassende und präzise Darstellung wirklicher Erfahrungen wirtschaftlichen Unrechts auf gegenwärtigen Märkten zu liefern. Diesen elementaren, jedoch ziemlich bedeutsamen Punkt gilt es zur Verteidigung der Anerkennungstheorie zu betonen. So ist es einfach eine Tatsache, dass in vielen Kämpfen in Entwicklungs- und entwickelten Ländern die Lohnfrage das unmittelbare Thema ist und in diesen Kämpfen die Anerkennungstheorie eine starke empirische Bestätigung ihrer konzeptionellen Ansprüche aufweisen könnte. Ehe wir über den wegen eines „Firmenzusammenschlusses entlassenen weißen, männlichen Industriearbeiter" und andere, von Gegnern der Anerkennungstheorie vorgebrachten Fälle sprechen, lässt sich schwerlich die solide soziologische Wahrheit verleugnen, dass bei vielen gegenwärtigen gesellschaftlichen Kämpfen die Lohnfrage im Zentrum steht. Einfacher gesagt: Eine der wesentlichen individuellen Unrechtserfahrungen in zeitgenössischen Gesellschaften besteht in dem Gefühl, dass der eigene Lohn keine faire Vergütung des eigenen Beitrags zur Gesellschaft darstellt. Diese Bemerkung lässt zwei verschiedene Deutungen zu: Erstens kann man sie einfach als einen Hinweis an Honneths Kritiker verstehen, dass hier keine marginale Form gesellschaftlicher Erfahrung in der Moderne vorliegt, dass sie im Gegenteil von großer Bedeutung ist, zumindest „quantitativ" gesehen. Dies wäre eine einfache Verteidigung der Anerkennungstheorie: Es ist eben eine Tatsache, dass gegenwärtiges Unrecht zu großen Teilen mit direkten
oder Umverteilung?", in: P. Ulrich, Th. Maak, Die Wirtschaft in der Gesellschaft. Schwelle zum 3. Jahrtausend, a. a. O., S. 149.
Perspektiven
an der
28
Zum akzeptiert diese Analyse und sieht in ihr in der Tat einen der starken Aspekte von Honneths anerkennungsbezogenem Zugang zur Ökonomie. Allerdings ist es zugleich genau die eben zitierte Passage, die Zum die nachfolgende Kritik ermöglicht.
29
Renault, L'Expérience
de l'Injustice,
S. 215.
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Formen fehlender Anerkennung der Beiträge der Menschen zur Gesellschaft zu tun hat, mit Unrecht und Ungleichheit im System materieller und symbolischer Vergütungen. Auf theoretischerem Niveau lässt sich aber bereits eine allgemeine These formulieren: Von entscheidender Bedeutung für ein kritisches Theorieprogramm ist diese substanzielle Verbindung zwischen der gesellschaftlichen Wirklichkeit und den Normen der Gesellschaftskritik. Für Honneth war sie von Anbeginn erkenntnisleitend. Sie lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Frage, mit der er funktionalistische und systemtheoretische Erklärungen wirtschaftlicher Ungerechtigkeit beständig konfrontiert hat: In welcher Weise sind die Normen der Kritik der kritisierten Gesellschaft immanent?30 Um Honneths Frage so einfach wie möglich zu formulieren: Was genau ist an wirtschaftlicher Ungerechtigkeit ungerecht? Nehmen wir ζ. B. den mittlerweile berühmten „weißen, männlichen Industriefacharbeiter, der wegen der Schließung eines Firmenstandortes entlassenen worden ist, die wiederum aufgrund eines Filmenzusammenschlusses zu Spekulationszwecken erfolgte". Was genau ist an seiner Zwangslage ungerecht? Um den normativen Aspekt dieser ökonomischen Tatsache auszumachen, hat man ihn, so argumentiert Honneth, aus der Perspektive der Erfahrungen des Arbeiters selbst zu betrachten. Die Ungerechtigkeit wäre dann in Worten ähnlich den folgenden zu beschreiben: „seine Arbeit durch eine Finanzspekulation zu verlieren". Fragt man dann noch, was aus dieser Perspektive das Unrecht ausmacht, wird die Antwort vermutlich etwa folgendermaßen ausfallen: dass der Beitrag, den der Arbeiter durch sein berufliches Engagement während seiner gesamten Arbeitszeit geliefert hat, aus der Perspektive der in den Händen finanzieller Interessen liegenden Macht einfach missachtet, für wertlos betrachtet, nicht anerkannt worden ist. Seine subjektive Investition, seine Person bedeutete aus finanzgeschäftlicher Sicht im Grunde gar nichts. Um nicht missverstanden zu werden: Hier geht es nicht um die Verbindung zwischen der normativen Beschreibung von Ungerechtigkeit und der Erklärung der Ursachen der Ungerechtigkeit. Dies wird Gegenstand des nächsten Teils dieser Abhandlung sein. Thema ist hier einfach und genau der Rückgriff auf gesellschaftliche Erfahrung zum Zweck der Beweiskraft der normativen Beschreibung. Von da aus gesehen hat Fräsers methodologischer Dualismus (der strikten Unterscheidung zwischen normativer Beschreibung und Kausalerklärung) die Eigenschaft, dass in ihrem Modell die der normativen Beschreibung qua Beschreibung unterliegenden Normen derjenigen Erfahrung äußerlich sind, die diese Individuen machen oder gemacht haben. Für den entlassenen Arbeiter besteht das Unrecht nicht darin, an der Gesellschaft nicht im vollen Maße teilnehmen zu können, sondern in der Tatsache, dass er für wertlos erachtet worden ist. Von der Perspektive eines kritischen Theorieprogramms aus gesehen ist eine solche Verbindung wesentlich. Sie hat auch eine außerordentliche politische Bedeutung, wie wir gleich sehen werden. Auch von der zweiten großen Institution der Ökonomie, dem kapitalistischen Betrieb, kann gezeigt werden, dass sie Ungerechtigkeiten erzeugt, die sich am besten als anerkennungsspezifische Ungerechtigkeiten untersuchen lassen. Überdies haben wir hier ein sehr bedeutsames Feld, wenn man sich für gegenwärtige Sozialpathologien interessiert. Renault meint hierbei die Art von Leiden, die aus der Wende zu postfordistischen Methoden der Arbeitsorganisa-
30
Dies ist die leitende Frage seiner kritischen Wiederaneignung von Marx. Siehe dazu insbesondere den entscheidenden Aufsatz, in welchem die Hinwendung zur Anerkennung innerhalb eines marxistischen Paradigmas umrissen wird: „Zur Logik der Emanzipation. Zum Philosophischen Erbe des Marxismus", in: H.-L. Krämer, C. Leggewie (Hg.), Wege ins Reich der Freiheit. André Gorz zum 65. Geburtstag, Berlin, 1989, S. 89-106.
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tion resultieren. In der Tat ist das empirische Material, auf das er sich bezieht, auch fur zwei kürzlich erschienene Abhandlungen von Honneth von zentraler Bedeutung, die sich mit den „Paradoxien des Kapitalismus" beschäftigen. 31 Die soziologische und psychologische Forschung hat zweifelsfrei die Schwere der Pathologien belegt, die direkt mit den neuen Weisen der Produktion und Arbeitsorganisation verbunden sind. Dieser Trend verknüpft sich, so zeigt Honneth, mit anderen gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen, die vermöge ihrer Eigenlogik dazu beitragen, dass Individualisierung zu einer neuen, erzwungenen Norm wird. In einigen Fällen kann das zur Zunahme subjektiver Verletzbarkeit fuhren. Wiederum liefert die Thematisierung der Wirklichkeit gegenwärtiger Gesellschaften, dieses mal unter dem Aspekt der aktuellen Arbeitswirklichkeit, eine überzeugende Verteidigung der Anerkennungstheorie. Diese empirische Rechtfertigung ist gleichfalls wiederum eine theoretische. Denn genau genommen ist es ein Charakteristikum ernsthafter Kritischer Theorie, dass sie nicht nur zwischen gesellschaftlicher Erfahrung und Kritik, sondern genauer besehen zwischen ihrem normativen Apparat und Sozialpathologien eine solide Verbindung herstellt. Indem sie das Augenmerk auf die Relevanz richtet, welche die Arbeit für zeitgenössische Individuen hat, darauf, dass Arbeit eine der Hauptachsen ist, entlang deren Menschen ihre Subjektivität gestalten bzw. anhand deren sie in pathologischen Fällen ihr subjektives Leben beschädigt sehen, erweist sich die Anerkennungstheorie als besonders geeignet fur die Beschäftigung mit einem der wesentlichen Bereiche sozialbedingten Leidens in gegenwärtigen Gesellschaften. Sie erweist dies, indem sie erstens anhand ihres konzeptionellen Apparates normativ die Wichtigkeit von Arbeit für die moderne Subjektivität demonstriert. Und sie zeigt dies zweitens, indem sie eine theoretische Grammatik bereitstellt, in der zeitgenössische Sozialpathologien der Arbeit angemessen beschreibbar sind. Dieser kritische Nexus zwischen Pathologien der Arbeit als spezifisch gesellschaftlichen Pathologien und der zentralen Bedeutung dieser Pathologien für die moderne Gesellschaft ist für Honneth von Anbeginn wichtig gewesen. 32 Mit der Entwicklung des Anerkennungsparadigmas, insbesondere den verschiedenen Wandlungen in der Interpretation der „dritten Sphäre", könnte es allerdings scheinen, als ob das Thema Arbeit allmählich in den Hintergrund getreten ist. Es hat den Anschein, dass die dritte Sphäre der Anerkennung nur einen partiellen Zugang zu gegenwärtigen Arbeitspathologien zu eröffnen vermag, weil sie allein sozialpsychologisch orientiert auf die Anerkennung des eigenen Beitrags zur Arbeitsteilung in ihrer Gesamtheit abhebt. Renaults Beschäftigung mit den Arbeitspathologien ist jedoch insbesondere in ihrem Bezug auf das bahnbrechende Werk von Christophe Dejours in der Lage, einen umfassenderen Teil des Spektrums in Betracht zu ziehen, in welchem das Unrecht in der Arbeitswelt erscheint. Renault kann insbesondere verschiedene der Pathologietypen berücksichtigen, die theoretisch schwer fassbar, in Anbetracht moderner Arbeitserfahrung jedoch von 31
A. Honneth, „Organisierte Selbstverwirklichung. Paradoxien der Individualisierung", in: Ders. (Hg.), Befreiung aus der Mündigkeit. Paradoxien des gegenwärtigen Kapitalismus, Frankfurt/M. 2002, S. 141158; M. Hartmann, A. Honneth, „Paradoxien des Kapitalismus", in: Berliner Debatte Initial, 15. Jg. (1), 2004, S. 4-17.
32
Siehe H. Joas, „Arbeit und instrumentales Handeln. Kategoriale Probleme einer kritischen Gesellschaftstheorie", in: ders., Urs Jaeggi, Theorien des historischen Materialismus 2: Arbeit, Handlung Normativität, Frankfurt/M. 1980, S. 185-233. Zu den Wandlungen von Honneths sozialkritischen Arbeitsbegriff siehe N. Smith, „Work and the Struggle for Recognition", in: European Journal of Political Theory, 8(1), 2009, S. 46-60.
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wesentlicher Bedeutung sind: verschiedene Arten des Leidens, das durch fehlende Anerkennung des psychosomatischen Engagements des Individuums in der Arbeitswelt bedingt ist.33 Allerdings hat Honneth in seinen jüngsten Untersuchungen, wenn auch in gewandelter Weise, den Anschluss an sein anfanglichen Konzept eines „kritischen Arbeitsbegriffs" gefunden. Die Diagnose der Pathologien der neoliberalen Wirtschaft hat einiges vom diagnostischen Vermögen seiner früheren arbeitstheoretischen Schriften zurückgewonnen. Im Unterschied zu Renaults und Honneths anerkennungstheoretischer Interpretation postfordistischer Pathologien läuft eine dualistische Herangehensweise in ihrer Betonung des ökonomischen Aspekts ökonomischer Ungerechtigkeit Gefahr, die sozialwissenschaftliche Analyse von den wirklichen Sozialpathologien abzutrennen und somit auch für deren Realität unempfänglich zu werden oder sie zumindest für weniger schwerwiegend zu halten. Diese Gefahr erstreckt sich auch auf die eigenen theoretischen Grundannahmen. Zweifelsohne gibt es andere gesellschaftliche Orte jenseits der Arbeit, an denen sich „ein partizipationsmotivierendes Gefühl von Selbstschätzung durch Kooperation" entwickeln lässt.34 Hier führt die Betonung der politisch-philosophischen Dimension - wie im Beitrag aus dem Jahre 1993 zu Deweys Demokratietheorie - auf Abwege. Zum hat, wie wir sahen, Recht, wenn er eine direkte Verbindung zwischen diesem Artikel und Honneths umfassenderer Interpretation der Arbeitsteilung herstellt, insbesondere was deren Wirkung in Fragen wirtschaftlichen Unrechts betrifft. Aber indem er sich auf die politisch-theoretische Seite des Arguments versteift (dass Demokratie eine faire Arbeitsteilung erfordere), scheint er das zu unterschätzen, was die Anerkennungstheorie in Hinblick auf die kritische Analyse der anerkennungsbezogenen Wirkungen so wertvoll macht, die das zeitgenössische Wirtschaftssystem mit sich bringt. Zum erinnert Honneth an die großen Namen der Sozial- und Politiktheorie des 20. Jahrhunderts, die angeblich den Nachweis erbracht haben, dass Arbeitserfahrung für unsere Zeitgenossen an Bedeutung verliere. Mit der Behauptung, der Bedeutungsverlust betreffe sowohl die Selbstverwirklichung als auch die Teilnahme am demokratischen Leben, riskiert man aber, die Relevanz zu unterschätzen, die der Arbeit gegenwärtig zukommt, und zwar in Gestalt des Leidens, das die postfordistische Arbeitsorganisation so vielen Individuen auferlegt. Für diese Unterbelichtung von Arbeit zahlt man womöglich einen hohen politischen Preis: In vielen gegenwärtig geführten politischen Kämpfen geht es in der Tat um Arbeit, um den Arbeitslohn, aber auch um die Arbeitsbedingungen sowie den Widerstand gegen die unablässigen Angriffe des Neokapitalismus und seiner politischen Repräsentanten auf alle Formen von Arbeiterorganisationen und -Vereinigungen. Wiederum ist das Argument zunächst wesentlich empirischer Natur: Zum und Fraser würdigen nicht hinreichend die enorme Sensibilität der Anerkennungstheorie für die real existierenden Sozialpathologien unserer Zeit wie deren politische Brechungen. 33
Siehe Ch. Dejours, Souffrance en France. La Banalité de l'Injustice Sociale, Paris 1998. Siehe auch die englischsprachige Publikation des Autors „Subjectivity, Work and Action", in: Critical Horizons, 2006, S. 45-62; J.-P. Deranty et al (Hg.), Recognition, Work, Politics: New Directions In French Critical Theory, Leiden, Boston 2007, S. 71-88. Die mangelnde Berücksichtigung der materiellen, somatischen Aspekte in Honneths Zugang zum Thema Anerkennung und Anerkennungspathologien habe ich kritisiert in: „Repressed Materiality. Retrieving the Materialism in Axel Honneth's Theory of Recognition", Critical Horizons, 2006, S. 113-140.
34
Zurn, „Recognition, Redistribution, and Democracy", S. 106, vgl. ders., „Anerkennung, Umverteilung und Demokratie", a. a. O., S. 447.
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Zum könnte erwidern, diese Kritik sei extrem schwach, weil sie auf den Vorwurf hinauslaufe, er habe die empirische Triftigkeit des Konzepts von Honneth noch nicht hinreichend gewürdigt. Und Zum könnte darauf verweisen, dass dies seinen hauptsächlichen arbeitstheoretischen Kritikpunkt gar nicht tangiert: Honneth ignoriere die Tatsache, dass andere gegenwärtige gesellschaftliche Interaktionsformen genauso gut das Maß an Selbstschätzung durch Kooperation möglich machen, das für die Grundlegung wirklicher Demokratie unerlässlich ist. Jedoch sind die oben geltend gemachten empirischen Ansprüche gleichfalls sozialtheoretisch bedeutsam: Ausmaß wie Schwere des durch Arbeit verursachten Leidens zeigen ex negativo, dass Arbeit ein wesentliches Medium subjektiver Identität und in der Tat eine grundlegende Vorbedingung wirklich demokratischen Lebens bleibt - ungeachtet der Habermasschen und nach-Habermasschen Sozialtheorie. 35 Eine der Stärken des Anerkennungskonzepts besteht einfach gesagt darin, dass es besser als jedes andere aufzuzeigen vermag, wie sehr zeitgenössische Gesellschaften „an Arbeit erkrankt" sind oder dass deren Krankheit eine „Krankheit der Arbeit" ist. Wenn Demokratie ein gesellschaftliches Ideal bezeichnet, statt einfach eine Reihe sozialer Verfahren zu meinen, dann ist es die Demokratie selber, die von dieser Krankheit befallen ist. An verschiedenen Stellen seines Aufsatzes konzediert Zum, Honneth sei sicherlich „darin zuzustimmen, wie die meisten Verteilungsschädigungen von den Individuen erfahren werden"36. Dieses Eingeständnis macht aber die Sache nicht besser, weil es in keiner Weise die durchgehende Kritik an Honneths sozialtheoretischem Konzeptionsrahmen mildert. Das wiederum offenbart die tiefe methodologische Kluft, die in Fräsers Modell kritischer Theorie zwischen sozialer Erfahrung und Sozialtheorie besteht. Gefühle von Ungerechtigkeit sind nur Epiphänomene im Vergleich zu den „sozialtheoretischen" Wahrheiten, die sich allein dem kritischen Theoretiker erschließen: den für die Kritik maßgeblichen Normen und den maßgeblichen Erklärungen des Unrechts. Schon vordem wir uns mit den Ursachen von Ungerechtigkeit beschäftigen, erweist sich die tiefe Kluft zwischen Erfahrung und Kritik aus der Perspektive „Kritischer Theorie" gesehen sehr schnell als Hindernis. Es ist nicht einfach ein verkürzter Blick auf gegenwärtige Sozialpathologien, wenn man diese - insbesondere jene, die aus der Arbeitsorganisation resultieren - lediglich als Hürden für eine vollwertige gesellschaftliche Partizipation versteht. Obendrein läuft das darauf hinaus, die Frontalangriffe auf das individuelle Empfinden von Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstschätzung zu intellektualisieren. Genauer besehen, bedeutet die Trennung der Kritik von der Erfahrung das Desinteresse der Gesellschaftstheorie qua Theorie an den subjektiven Auswirkungen gesellschaftlicher Prozesse. Entgegen einer derartigen Tendenz zu einer objektivistischen Einstellung hinsichtlich der sozialen Wirklichkeit scheint es im zeitgenössischen Kontext bedeutsam, auf die subjektive Erfahrung zu setzen - insbesondere dann, wenn sie darüber Rechenschaft gibt, in welchem Maße die Intensivierung von Arbeit, sowohl als Tätigkeit als auch als psychische Anforderung, zu vielfaltigen Formen physischen und psychischen Leidens führt. Was große Denker auch immer über die Pluralisierung modemer Identitäten gesagt haben mögen,
35
Siehe dazu meinen Aufsatz „Work and the Precarisation of Existence", European Journal of Social Theory, 11(4), 2008, S. 443-463, welcher das Werk von Christophe Dejours, insbesondere seine in Souffrance en France (Paris 1998) präsentierten Thesen, in den Kontext der zeitgenössischen Sozialtheorie stellt.
36
Zum, „Recognition, Redistribution, and Democracy", S. 116, vgl. ders., „Anerkennung, Umverteilung und Demokratie", a. a. O., S. 458.
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die umfängliche empirische Literatur zur Soziologie und Psychologie der Arbeit sollte gleichfalls ernstgenommen werden. 37 Jedenfalls hat Honneth die Trennung der kritischen Gesellschaftstheorie von der gesellschaftlichen Erfahrung immer abgelehnt. Dies zum Beispiel ist einer seiner zentralen Streitpunkte mit Habermas. 38 Das hat unmittelbar politische Konsequenzen. Ihrer klassischen Definition zufolge gründet die Kritische Theorie zweifach in vortheoretischen Tatsachen: erstens hinsichtlich der Normen der Kritik, die dem gesellschaftlichen Leben selber zuzugehören haben; zweitens (und gewissermaßen am anderen Ende der Kreisbewegung) hinsichtlich der praktischen (politischen) Bedeutung der Theorie - muss sie doch in der Lage sein, sich praktisch und produktiv auf die wirklichen gesellschaftlichen Kämpfe zu beziehen. Ein wichtiger Aspekt dieser Kritik abstraktiven soziologischen Denkens betrifft die politische Tragweite kritischer Theorie. Bereits 1980 in dem gemeinsam mit Joas verfassten Buch wie auch in einer Reihe später erschienener Aufsätze hat Honneth die Trennung der Gesellschaftstheorie von der gesellschaftlichen Praxis an die Unterbrechung der Kreisbewegung zwischen Theorie und Praxis geknüpft. Habermas' Konzept der Analyse der gesellschaftlichen Reproduktion in Begriffen idealer Kommunikation und die zu Zwecken der Beschreibung gesellschaftlicher Rationalisierung von ihm geborgten systemtheoretischen Argumente machen es der Gesellschaftstheorie unmöglich, sich praktischen Versuchen der Gesellschaftstransformation in produktiver Weise zuzuwenden. Die objektiven Beschreibungen der Sozialtheorie beziehen sich auf Vorgänge, die hinter dem Rücken der Beteiligten ablaufen und aus diesem Grunde deren Kämpfe nicht direkt instruieren können. Die Anerkennungstheorie verdankt sich zu weiten Stücken der Absicht, diesen Mangel zu beseitigen. Sie beabsichtigt eine kommunikative Gesellschaftstheorie zu sein, die hinsichtlich ihrer normativem Sprache und folglich in Hinblick auf ihre Befähigung, soziale Kämpfe zu instruieren, die Trennung von der sozialen Erfahrung vermeidet. Im Unterschied dazu scheint Fräsers Konzept Habermas' Objektivismus bezüglich des Problems wirtschaftlicher Ungerechtigkeit zu wiederholen - mit den gleichen widrigen politischen Konsequenzen. Hat man erst einmal die Vorstellung unkritisch akzeptiert, dass Güter- wie Arbeitsmarkt sich qua soziale Systeme entsprechend ihrer jeweiligen Eigenimperative verhalten, dann wird die Kritik an diesen Märkten äußerlich und beliebig erscheinen. Welche politische Empfehlung lässt sich in diesem Falle dem Prinzip „partizipatorischer Parität" entnehmen? Unter der Voraussetzung der Externalität der Märkte scheint sie auf die leere Forderung hinauszulaufen, die
37
Man kann die These anerkennen, dass moderne Identitätsbildung entlang sich vervielfältigender Achsen verläuft, und zugleich auf der relativen Zentralbedeutung von Arbeit beharren. Auf grundlegender, empirischer Ebene bleibt Arbeit ein entscheidender Faktor der Identitätsbildung für viele (die meisten?) Individuen. Auch auf konzeptioneller Ebene lässt sich die Zentralität von Arbeit nachweisen - allerdings nicht im Sinne der Behauptung einer ausschließlichen Achse der Identitätsbildung, wohl aber insofern, als Arbeitserfahrung ein privilegierter Ort für die Prüfung ist, ob die verschiedenen Identitäten erfolgreich integrierbar sind oder auseinanderfallen, etwa dann, wenn konfligierende Anforderungen nicht mehr miteinander vereint werden können (ζ. B. zwischen Familie und Arbeit). Der letztere Fall ist eine der Hauptquellen gegenwärtiger Arbeitspathologien. Siehe dazu Y. Clot, La Fonction Psychologique du Travail, Paris 2004 (4. Aufl.).
38
Siehe insbesondere „Moralbewußtsein und soziale Klassenherrschaft. Einig Schwierigkeiten in der Analyse normativer Handlungspotentiale", in: A. Honneth, Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktische Philosophie, Frankfurt/M. 2000, S. 110-129, sowie „Die soziale Dynamik von Missachtung. Zur Ortsbestimmung einer kritischen Gesellschaftstheorie", in: ebd., S. 88-109
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gegenwärtigen Produktions- und Tauschverhältnisse zu „ändern". Inwiefern sich mittels des Modells „partizipatorischer Parität" im Vergleich zu dem Anerkennungsmodell präzisiere, praktischere Vorschläge befürworten lassen, ist schwer zu entscheiden. Da es die Verankerung seiner theoretischen Ansprüche in der gesellschaftlichen Erfahrung meidet, bietet dieses Modell nicht die Option, die Honneth hat: nämlich Vorzeichen innerhalb der sozialen Bewegungen selber ausfindig zu machen. Aber es gibt ein noch ernsthafteres Problem. Wie glaubwürdig ist die Forderung nach Änderung der Produktions- und Tauschverhältnisse, wenn man Märkte als funktionale Subsysteme betrachtet, die einer streng instrumentalistischen, nichtnormativen Eigenlogik folgen? Oder wenn man, schlimmer noch, diese Märkte als geschichtliche Produkte systemischer Ausdifferenzierung versteht? Beide Aspekte scheinen zu dem Schluss zu fuhren, dass die gegenwärtigen Märkte sich der Logik ökonomischer Nutzenmaximierung verdanken, Resultate von Rationalisierungsprozessen sind. Von dieser Behauptung ausgehend hatte Habermas den korrekten Schluss gezogen, seine Kritik der politischen Ökonomie auf die These von der Kolonisierung der Lebenswelt zu beschränken, ohne die Märkte selbst zu kritisieren. Sobald man einer systemtheoretischen Vorstellung von Märkten kritiklos folgt, scheint es, kurz gesagt, schwer einsehbar, wie das Abgleiten von funktionaler Effizienz zu gesellschaftlicher Normativität verhindert werden kann. Wenn sich Märkte ihrer Eigenlogik folgend entwickelt haben, bedeutet das dann im Grunde genommen nicht gesteigerte ökonomische Effizienz? Dies ist das schwergewichtige Argument all jener, welche die Forderung nach Änderung der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung ablehnen: Woher wissen Sie denn, könnten sie ihre Gegner fragen, dass Ihre von außen herangetragenen Normen, sollten sie praktiziert werden, die Lage wirklich verbessern würden? Wenn Märkte invisible hands sind, welche den Nutzen hinter dem Rücken der Akteure maximieren, warum wollen Sie dann mit ihnen Ihre Spiele treiben? Würden Sie damit nicht alles schlimmer machen? Worin bestünde, im Lichte der mutmaßlichen funktionalen Überlegenheit der Märkte, die normative Geltung subjektiver Effekte? Der methodologische Dualismus möchte, so scheint es, alles auf einmal: Angesichts des ökonomischen Rationalismus betont er die unausgewogene Verteilung und sieht sie als ungerechte Auswirkungen der Märkte. Allerdings hat er sich selbst der Möglichkeit beraubt, in dieser Richtung zu argumentieren, nimmt er doch bei der Diskussion von Wirtschaftsfragen systemtheoretische Argumente in Anspruch, von denen her gesehen subjektive Auswirkungen bedeutungslos sind. Wir sehen, dass uns die Diskussion um die Begründung der Normen der Kritik ökonomischen Unrechts zwangsläufig zu dem Problem fuhrt, die Ursachen dieses Unrechts erklären zu müssen. Diesem Problem wenden wir uns jetzt zu: Wir beschäftigen uns mit dem Verhältnis zwischen kritischer Theorie und dem ihr inhärenten Begriff wirtschaftlicher Realität.
3. Anerkennungstheorie und Wirtschaftsbegriff Ob die Trennung der Kritik ökonomischen Unrechts von der Unrechtserfahrung ein Problem darstellt oder nicht, hängt davon ab, welche Vorstellung von kritischer Gesellschaftstheorie man selbst hat. Der Hauptkritikpunkt von Zum bleibt, so scheint es, jedoch bestehen. Bisher ist nämlich nichts vorgebracht worden, was Zurns Grundthese widerspricht: Eine Anerkennungstheorie liefere, so behauptet er, mit ihrer Betonung der moralischen Dimensionen von Arbeitsteilung eine solche Vorstellung moderner Ökonomie, die deskriptiv falsch und prak-
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tisch nutzlos, möglicherweise sogar kontraproduktiv ist. Die bisherigen Erwiderungen auf die Einwände von Zum und Fraser laufen auf eine Gegenkritik hinaus, die von dem Gedanken einer verkürzten soziologischen Denkansatzes in Fragen gegenwärtigen Unrechts getragen wird. Der Hauptpunkt der Auseinandersetzung - der Zusammenhang zwischen normativer Kritik und der Klärung der Ursachen der Ungerechtigkeit - bleibt dabei aber bisher unangetastet. In diesem letzten Abschnitt möchte ich über das von Honneth und Renault zu diesem Thema Vorgeschlagene hinausgehen. Ich werde probeweise einige Schritte in eine neue Richtung wagen, um zu ermitteln, in welchem Maße die Anerkennungstheorie nicht nur das Begriffsraster für die Analyse der Auswirkungen von ökonomischen Prozessen zu liefern vermag, sondern auch für die Erklärung dieser Prozesse selbst. Wir werden sehen, dass sich in der Tat bei Honneth einige Andeutungen finden, die bereits vielversprechend in diese Richtung weisen. Renault ist, wie bereits bemerkt, in dieser Frage zurückhaltend und besteht allein auf der analytischen Kraft der Anerkennungstheorie für die Diagnose moderner Pathologien. Honneth wiederum ist, wie Zum sehr schön gezeigt hat, eher unentschieden. An manchen Stellen lässt er durchblicken, dass der anerkennungstheoretische Rahmen mehr als eine Grammatik von Erfahrungen zu liefern vermag. Andernorts lenkt er ein und erkennt an, dass sein Anerkennungsbegriff „natürlich nicht ausreicht], um die Dynamik von Entwicklungsprozessen im gegenwärtigen Kapitalismus zu erklären." 39 Einen Zugang zu diesem neuen Feld finde ich wiederum, und seinen ausdrücklichen Vorbehalten zum Trotz, bei Renault. Nachdem er eingeräumt hat, es sei klar, „dass eine Theorie der Anerkennung allein eine Theorie des Kapitalismus nicht liefern" könne, dies „aber auch nie die Absicht" gewesen sei, macht er eine Reihe von Gründen dafür vorstellig, an dieser Theorie in Fragen einer Kritik der politischen Ökonomie festzuhalten. Nicht allein, dass die „Kritik per Auswirkungen" eine gute Beschreibung der Pathologien liefert. Sie deutet auch, gewissermaßen retroaktiv, auf die Strukturen zurück, denen dieses Unrecht zu schulden ist.40 Schon dies läuft, so können wir festhalten, ansatzweise einem Aspekt von Zurns Kritik zuwider. Während letzterer behauptet, eine nichtdualistische Sozialtheorie, die ökonomisches Unrecht nicht in ökonomischen Begriffen untersucht, hintertreibe die Ursachenforschung (mit den bereits bemerkten praktischen Schwächen), erwidert Renault, die genaue Betrachtung ökonomischer Unrechtserfahrung als anerkennungsrelevantes Unrecht helfe in der Tat bereits, die kausalen, strukturellen Kräfte zu identifizieren, die dieses Unrecht bewirkten. Dieser Wechsel vom Phänomenologischen und Normativen zur kausal-explanatorischen Ebene erfolgt auf zwei voneinander getrennten Wegen. Auf den ersten Blick scheint es keinen Grund dafür zu geben, auf direktem Wege vom Phänomenologischen und Normativen zum Explanatorischen zurückzugehen. Die Art und Weise, wie Menschen fühlen, dass ihnen Anerkennung verweigert ist, sagt überhaupt nichts über die Gründe ihrer Zwangslage. Gleiches gilt für die Kritik einer ungerechten Ordnung, ob sie nun in diesen Unrechtsgefühlen wurzelt oder nicht. Man muss jedoch in Betracht ziehen, dass die Anerkennungstheorie unter anderem eine Konzeption gerade dieses Übergangs vom Normativen zum Explanatorischen darstellt, insofern sie nämlich eine Theorie sozialer 39
Honneth, Umverteilung
oder Anerkennung?,
zitiert die Stelle auf S. 114. 40
Renault, L'Expérience
de l'Injustice,
S. 212.
S. 287: Zum, „Recognition, Redistribution, and Democracy",
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Bewegungen ist.4' Dieser Aspekt ist besonders gut bei Renault durchgeführt, der sich auf die Soziologie sozialer Bewegungen stützt, um die verschiedenen Triebkräfte darzustellen, die bei der Transformation von Gefühlen individuellen Leidens hin zu kollektiven Erfahrungen im Spiele sind, die wiederum letztendlich zu bewussten und artikulierten politischen Ansprüchen führen. Die normative und praktische Dynamik, durch die sich gesellschaftliche Bewegungen ζ. B. ausbilden, ihre Ansprüche formulieren, ihre strategischen und taktischen Bündnispartner wie Gegner identifizieren, hat eine unverzichtbar kognitive Dimension. Eine soziale Bewegung kann sich, was die Festlegung und Klärung ihrer normativen Ziele und Mittel betrifft, nicht organisieren, ohne die Ursachen des Unrechts erfasst und analysiert zu haben, gegen das es sich richtet - was jedoch nicht heißt, die Analyse sei notwendigerweise korrekt. Aber die Untersuchung der Ursachen des Unrechts ist ein unverzichtbares Moment des Bildungsprozesses sozialer Bewegungen. Für die an ihr beteiligten Individuen bedeutet dies, dass die Erkenntnis, dass man durch gesellschaftlich verursachtes Unrecht leidet (statt durch individuelles Fehlverhalten, für das man je selbst Verantwortung trägt), mit der Erkenntnis, wie dieses Unrecht zustande kam, verbunden ist, oder anders gesagt mit dem Wissen um deren Ursachen. In der Tat besagt Honneths Aneignung eines pragmatistischen Emotionsbegriffs in Fragen der Entstehung sozialer Bewegungen genau dies: Negative Emotionen sind nicht nur Stimuli dafür, Dinge zu ändern, sondern vor allem Anreize, um zu verstehen, wie und warum die gewöhnliche Weise des In-der-Welt-Seins eine Herausforderung erfahrt. Der große Unterschied zu Fräsers Konzept besteht abermals darin, dass dieser kognitive Prozess direkt in gesellschaftlicher Erfahrung verankert ist. Auf dieser Ebene hat das Anerkennungskonzept jedoch kein explanatorisches Potential, es ist hier für die klinische Phänomenologie von Ungerechtigkeit erfordert, wie auch für die normative Anklage. Aber die Idee der praktischen, normativen und kognitiven Dynamik impliziert exakt einen Übergang auf ein anderes, ein kausal explanatorisches Begriffsfeld. Nichts von dem Geschilderten besagt, dass auch auf diesem neuen Begriffsfeld (kausaler Erklärungen) das Anerkennungskonzept von Belang ist. Und Renault würde es am liebsten hierbei belassen und gleichfalls davon Abstand nehmen, aus dem Anerkennungsbegriff ein explanatorisches Konzept zu machen. 42 Ungeachtet dieser Vorsicht stimmt er Honneth aber auch zu, wenn dieser analog zu ihm aufzeigt, dass Anerkennung den Mittelpunkt der neuen Operationen bildet, die gegenwärtige Modi wirtschaftlicher Produktion und Arbeitsorganisation charakterisieren. Folglich sprechen sowohl Renault als auch Honneth von Anerkennung als einem „Produktionsfaktor" der neuen, postfordistischen Ökonomie. In verschiedenen Hinsichten wird Anerkennung zu einem Schlüsselfaktor der Produktion: erstens, als zentrales Element neuer Formen von Konsumtion, Werbung und Marketing. Dies wiederum ist Honneth zufolge mit einer modernetypischen Kultur von Authentizität und zunehmender Individualisierung verbunden, welche aber in den letzten Jahren auch eine neue Form angenommen hat: durch die Ausbeutung, die „Organisation" subjektiver Identitätszüge und Befähigungen. Diese wirtschaftliche Ausbeutung von Sub41
Kapitel 8 von Kampf um Anerkennung widmet sich diesem Problem.
42
Demgegenüber legt Renault bezogen auf Institutionen eine „konstitutive" Anerkennungstheorie vor: Institutionen seien nicht einfach Ausdrücke vorsozialer Anerkennungsbeziehungen, sondern bildeten auch eigenständig neue aus. Spezifische Institutionen produzieren, so Renault, spezifische Formen des Unrechts. Wenn er damit recht haben sollte, dann würde es schwierig sein, den ontologischen Status dieser Anerkennungsformen auf den von Effekten zu beschränken: Er würde, so scheint es, auch das Funktionieren dieser Institutionen betreffen und wäre somit für letztere „kokonstitutiv".
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jektivität, im Sinne ihrer Vermarktung, stimmt mit der Ausbeutung subjektiver Befähigungen der Arbeiter überein, die zunehmend genötigt sind, ihre subjektive Identität den Forderungen des Teams, des Unternehmens, der Handelsmarke bzw. - allgemeiner verstanden - einer neuen „Anerkennungsordnung" zu unterwerfen. Diese zwingt sie, ihr Leben als einen fortlaufenden Pfad symbolischer Anerkennung zu präsentieren. Bei der Beschreibung des Übergangs zur postfordistischen Produktionsweise rekurrieren Renault und Honneth auf eine Vielzahl französischer und deutscher Soziologen, die unabhängig von Honneths Anerkennungstheorie die neue Wirtschaftsordnung in diesen Begriffen erklärt haben. 43 Anerkennung ist, mit anderen Worten, ein Element funktionaler Erklärung von Wirtschaft. Mit diesen Überlegungen bewegen wir uns noch entschiedener in Richtung der Idee, dass Anerkennung nicht allein ein phänomenologischer und normativer Begriff ist, sondern ein solcher mit explanatorischem Wert. Wir können sehen, worauf diese These hinausläuft. Anerkennung ist nicht hinreichend für eine erschöpfende Erklärung wirtschaftlicher Vorgänge - ist allerdings ein für letztere konstitutives Element. Zum hat sowohl die Schwierigkeiten sehr gut herausgestellt, die mit dieser These verbunden sind, als auch jene, die Honneth hat, wenn er mit ihr arbeitet. Eine Extremversion dieser Idee wäre vollständig „expressivistisch". 44 Ihr zufolge wären alle gesellschaftlichen Institutionen, einschließlich der ökonomischen, Äußerungen von Anerkennungsbeziehungen. Zweifellos kokettiert Honneth in einigen seiner Texten mit dieser Position. 45 Diesem Modell zufolge sind alle gesellschaftlichen Institutionen, also auch ökonomische, an eine normative Ordnung gebunden, die ihr vorhergeht und sie transzendiert. Eher trifft zu, dass ökonomische (wie auch andere) Institutionen Anerkennungseffekte erzeugen, und diese Anerkennungsbeziehungen wiederum Elemente darstellen, die auf eigenständige Weise in bestimmtem Maße (aber eben auch nicht mehr) zum Funktionieren dieser Institutionen beitragen. Das scheint in der Tat die Position zu sein, die Honneth in seiner abschließenden Erwiderung auf Fraser vertritt. „Ich g e h e weiterhin davon aus, daß auch Strukturwandlungen in der ö k o n o m i s c h e n Sphäre nicht v o n den normativen Erwartungen der Betroffenen unabhängig geworden, sondern auf deren zumindest stillschweigende Z u s t i m m u n g a n g e w i e s e n sind." 4 6
Tatsächlich war dies schon Honneths Position vor der Entwicklung seiner Grammatik der Anerkennung. Es war die Lösung, die er sich als Alternative zu Habermas' dualistischer Analyse 43
Siehe insbesondere H. Kocyba, „Die falsche Aufhebung der Entfremdung. Über die normative Subjektivierung der Arbeit im Postfordismus", in M. Hirsch (Hg.), Psychoanalyse und Arbeit, Göttingen 2000; Stephan Voswinkel, „Bewunderung ohne Würdigung? Paradoxien der Anerkennung doppelt subjekti vierter Arbeit", in A. Honneth (Hg.), Befreiung aus der Mündigkeit, Paradoxien des gegenwärtigen Kapitalismus, Frankfurt/M., N e w York 2002, S. 6 5 - 9 2 ; sowie St. Voswinkel/H. Kocyba, „Entgrenzung der Arbeit. Von der Entpersönlichung zum permanenten Selbstmanagement", in: WestEnd. Neue Zeitschrift fur Sozialforschun, 2. Jg., 2/2005, S. 7 3 - 8 3 . Gleiche Einsichten lassen sich den Schriften von Luc Boltanski entnehmen, insbesondere dem Buch Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003, das er zusammen mit Eve Chiapello verfasst hat.
44
Siehe den dafür wesentlichen Abschnitt aus L'Expérience de l'Injustice, S. 196-200. Eine ähnliche Argumentation findet sich in „Politicising the Ethics of Recognition", S. 9 9 - 1 0 2 .
45
Siehe Thompson, „Is Redistribution a Form of Recognition?", S. 93.
46
Honneth, in: Umverteilung Democracy", S. 114.
oder Anerkennung?,
S. 288. Siehe Zurn, „Recognition, Redistribution, and
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von Gesellschaft und Ökonomie zueigen gemacht hatte. Offensichtlich ist dies ein zentraler Aspekt der Diskussion, wenn auch nur, weil die soziologischen Einsprüche, die Zum Honneth gegenüber erhebt, wie auch Fräsers eigene dualistische Sozialtheorie deutlich von Habermas inspiriert sind: nämlich von dessen partieller Übernahme einer systemtheoretischen Beschreibung gesellschaftlicher Ausdifferenzierung in den ökonomischen und administrativen Bereichen der Gesellschaft. Schon in seiner Dissertation hatte Honneth einen alternativen Ansatz für die Beschreibung des modernen Kapitalismus signalisiert, einen solchen, der das Risiko vermeidet, die Wirtschaft als normfreies Subsystem der Gesellschaft vorstellig zu machen. Für die Aussichten der Kritik wäre dies von enormer Bedeutung. „[S]owohl im Falle der symbolischen wie im Falle der materiellen Reproduktion vollzieht sich dann die Integration der Handlungs verrichtungen auf dem Weg der Herausbildung von normativ verfassten Institutionen, die das Ergebnis eines sich in Form der Verständigung oder des Kampfes vollziehenden Kommunikationsprozesses unter den sozialen Gruppen ist."47
Mit anderen Worten: Wie systemisch sich die Integration individueller Handlungen auch immer zu vollziehen scheint, diese Integration wird, so argumentierte Honneth bereits damals, immer die Intervention von Institutionen einschließen, die selbst Konkretionen von Anerkennungsbeziehungen darstellen - ganz gleich, ob diese Integration in den Bereichen der symbolischen oder der materiellen Reproduktion erfolgt. Das Argument, um welches es hier wesentlich geht, das Honneth gezwungen ist zu bewältigen und das insbesondere eine expressivistische Anerkennungstheorie der Ökonomie der Unzulänglichkeit überfuhrt (d. h. die Untersuchung der Wirtschaft in einem rein anerkennungstheoretischen Rahmen), ist das der Komplexität der Handlungsintegration in Folge der Unvorhersehbarkeit und Undurchdringlichkeit der Verknüpfung nichtintendierter Konsequenzen. Grundsätzlich kann man von Märkten nicht erwarten, durch absichtsvolles sozialen Handeln, welcher Art auch immer, organisiert zu werden. Diese Anerkenntnis des unabhängigen, systemartigen Verhaltens von Wirtschaftsprozessen ist der tiefere Grund für Habermas' Hypothese von der Entkopplung der Subsysteme von der Lebenswelt. „Die Überlebensimperative verlangen eine funktionale Integration der Lebenswelt, die durch die symbolischen Strukturen der Lebenswelt hindurchgreift und deshalb nicht ohne weiteres aus der Perspektive von Teilnehmern erfaßt werden kann."48
Die „unsichtbare Hand" der Marktmechanismen agiert zu sehr im Verborgenen, als dass sie von den Teilnehmern einsehbar wäre. Darüber hinaus ermöglicht sie wirklich eine andernfalls unerreichbare Integration individueller Handlungen. Somit hat man in Hinblick auf moderne 47
A. Honneth, Kritik der Macht, Frankfurt/M. 1989, S. 323.
48
Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M. 1981, Bd. 2, S. 348 f., zitiert von Honneth in Kritik der Macht, S. 322. Siehe auch diese spätere Zusammenfassung von Habermas: „Moderne Gesellschaften werden nicht nur sozial, über Werte, Normen und Verständigungsprozesse, sondern auch systemisch, über Märkte und administrativ verwendete Macht, integriert. Geld und administrative Macht sind systembildende Mechanismen der gesellschaftlichen Integration, die Handlungen nicht notwendig intentional, also mit kommunikativem Aufwand über das Bewußtsein der Kommunikationsteilnehmer, sondern objektiv, gleichsam hinter deren Rücken koordinieren. Die ,unsichtbare Hand' des Marktes ist seit Adam Smith das klassische Beispiel für diesen Reglungstypus." Zwischen Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt/M. 1992, S. 58 f.
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Gesellschaften mit zwei Typen der Handlungsintegration zu rechnen - einer symbolischen und einer materiellen, einer vermittels Kommunikation und einer anderen durch nichtsprachliche Steuerungsmedien. Honneths grundlegende sozialtheoretische Intuition teilt er mit Hans Joas. Sie ist jene, die beginnend mit den frühesten Texten sein kritisches und kreatives Werk zu wesentlichen Teilen inspiriert: eine gründliche, selbstbewusste handlungstheoretische Einstellung, die alle funktionalistischen, systemtheoretischen Argumente zurückweist. Wie kommt eine solche Einstellung mit dem Problem der Komplexität moderner Gesellschaften klar, die einen kommunikationstheoretischen Zugang zu Fragen der Komplexität und der offenkundig funktionalen Selbständigkeit von Wirtschaftssystemen hinfallig macht? Ist eine handlungstheoretische Haltung in den Sozialwissenschaften unweigerlich dazu verdammt, einen grundsätzlichen sozialtheoretischen Fehlschluss zu begehen, indem sie blamable „empirische Verzerrungen" liefert? Joas hat gezeigt, dass dieser Einwand auf einem Missverständnis beruht, das Umfang wie Bedeutung der handlungstheoretischen Einstellung betrifft: Mit letzterer wird die Existenz unintendierter, unerwarteter Handlungskonsequenzen nicht in Abrede gestellt, wohl aber die These, daraus den verallgemeinernden Schluss ziehen zu können, sie seien auf die Untersuchung der Gesellschaft als ganzer anwendbar. Statt dessen wird behauptet, soziales Handeln bleibe qua Handeln sowohl theoretisch relevant als auch wirklich unerlässlich, um einen angemessenen Zugang zu gesellschaftlichen Bewegungen und zur Demokratietheorie zu gewinnen. 49 Eine handlungstheoretische Einstellung in der Gesellschaftstheorie verleugnet nicht die Tatsache unintendierter Handlungskonsequenzen, sie bestreitet jedoch, dass gesellschaftliches Handeln ihnen gegenüber fremd und absolut ohnmächtig bleiben muss. Charles Taylor zitierend behauptet Joas:,,,Aus dem Handeln erklären' bedeutet deshalb nichts anders, als den Versuch zu machen, alle ungeplante Systematizität in einer durchschaubaren Weise auf die Handlungen von Akteuren zu beziehen. ,Es ist sicherlich nicht so, daß alle Strukturen aus bewußtem Handeln entspringen, aber alle Strukturen müssen in Bezug auf bewußtes Handeln verstehbar gemacht werden.'" 50 Um seiner Behauptung Nachdruck zu verleihen, bemerkt Joas, Honneth folgend, dass Deweys Theorie der Arbeitsteilung paradigmatisch jenen Typus anspruchsvoller Sozialtheorie vertrete, welche die Vorstellung unintendierter Folgen einbezieht, ohne die Möglichkeit spezifisch gesellschaftlichen Handelns zu leugnen.51 Analog argumentiert Honneth in seiner die Kritik der Macht abschließenden HabermasDiskussion, wobei er die handlungstheoretische Methode bereits im Sinne eines „Kampfes um Anerkennung" interpretiert. Die Argumentation beginnt kritisch gegen Habermas gewendet: Was dieser in Hinblick auf die materielle Reproduktion sage, gelte tatsächlich auch für das kommunikative Handeln: ,,[A]uch die kulturelle Integration sozialer Gruppen ... vollzieht sich über ein ganzes Netz von kommunikativen Handlungen, das von den Gruppenmitgliedern als solches gar nicht überblickt zu werden vermag." 52
49
H. Joas, Die Kreativität des Handelns, Frankfurt/M. 1992, S. 326-357.
50
Ebd., S. 338 f.
51
Ebd.,Anm. 73.
52
Honneth, Kritik der Macht, S. 321 f.
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Wenn die Unmöglichkeit, individuelle Handlungen aktiv zu koordinieren, der Grund für einen systemtheoretischen Zugang zur Wirtschaft wäre, so müsste gleiches auch für die Kultur wie die gesellschaftliche Integration gelten. Denn auch diese sind nichtintendierte Resultate kommunikativer Prozesse. Unter Rückgriff auf die bereits angedeuteten und von Joas explizit gemachten Unterscheidungen ist es jedoch nicht nötig, den Preis der Systemtheorie zu zahlen: Es ist eine Sache, die Unmöglichkeit einer in all ihren Absichten transparenten funktionalen Handlungskoordination anzuerkennen, eine andere jedoch, aus dem Mechanismus der Handlungskoordination alle normativen Dimensionen auszuschließen. Statt dessen lässt sich mit Honneth eine alternative Vorstellung von Gesellschaft entwerfen - eine solche, welche unter dem Aspekt der Komplexität deren systemartige Erscheinung anerkennt, einer radikalen Scheidung zwischen Handlungsbereichen aber widerspricht und somit einer jeden von ihnen normative Komponenten zuerkennt. Mithin gäbe es einer solchen Alternativvorstellung zufolge in der Tat funktionale Dimensionen der Handlungskoordination, zugleich jedoch spielten hier Anerkennungsbeziehungen und insbesondere Machtbeziehungen eine entscheidende, eine „konstitutive" Rolle. Wir können verstehen, warum der Dewey-Artikel, wie von Zum korrekt erfasst, einen solch exzellenten Ausgangspunkt für die Einschätzung von Honneths Wirtschaftskonzept bildet. Mit Deweys sozialdemokratischer Lösung des Problems der „nichtintendierten Folgen" (durch das Ideal einer auf Solidarität gegründeten Arbeitsteilung, wobei jeder zu erfassen vermag, wie seine Handlungen andere betreffen und er selbst von deren Handlungen betroffen wird) hatte Honneth in der Tat eine vorläufige handlungstheoretische und intersubjektivistische Antwort auf funktionalistische Vorbehalte gegeben und nicht einfach eine Antwort auf eine strikte Fragestellung der politischen Theorie. Was diese Lösung vermöge einer „dichten" Interpretation von Arbeitsteilung genau beinhaltet, hatte Honneth bereits 1986 in der Kritik der Macht klar gesehen. Schon dort finden sich bedeutsame Hinweise auf die Beziehung zwischen der systemanalogen und der kommunikativ-normativen (später: anerkennungsbezogenen) Dimension der Handlungskoordination: ,,[B]eide Reproduktionssphären [verlangen] Mechanismen, die die einzelnen Kommunikationsund Kooperationsvorgänge so zu einem Netz zusammenschließen, daß sie insgesamt die entsprechenden Funktionen der symbolischen Reproduktion oder der materiellen Produktion zu erfüllen vermögen. Mechanismen solcher Art stellen in beiden Fällen aber Institutionen dar, in denen die jeweiligen Handlungsverrichtungen normativ, also unter Bindung an die lebensweltlich gespeicherten Handlungsorientierungen der Subjekte, auf Dauer gestellt sind, indem ihr Vollzug je nach dem Autonomiesierungsgrad einer Gesellschaft in demokratischer Absprache oder unter herrschaftsgebundener Anweisung sanktioniert wird."53
Das institutionelle Moment, auf das Honneth in dieser Passage Bezug nimmt, ist ein solches, durch welches Anerkennung konstitutiv im Wirtschaftshandeln interveniert. „Anerkennung" meint hier normativ gesteuerte Sozialbeziehungen. Diese werden in der Tat, soweit es sich dabei um Beziehungen zwischen Gruppen und Klassen handelt, immer asymmetrisch sein, denn sie stützen sich auf je spezifische Machtbeziehungen. Wie das obige Schlüsselzitat andeutet, differenziert Honneth zwischen zwei eigenständigen Momenten. Erstens kann eine Koordination ökonomischer Handlungen (der „Handlungsverrichtungen") allein unter der Beschränkung institutionalisierter „Mechanismen" erfolgen, die den 53
Ebd., S 323.
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Zustand der zwischen Gruppen und Klassen stattfindenden Interaktionen reflektieren - d. h. eigentlich den Status des Kampfes zwischen ihnen, denn Macht ist ungleich verteilt. Folglich stellt rein strategisches, atomistisches Einzelhandeln, dessen Aggregierung dem neoklassischen Modell zufolge das Wirtschaftssystem konstituiert, eine bloße Abstraktion dar. Statt dessen verbindet sich mit der durch die intersubjektivistische Prämisse und das kommunikationstheoretische Gesellschaftsmodell genährten sozialphilosophischen Einsicht das Beharren auf der Tatsache von der irreduzibel „kulturellen" Dimension des Wirtschaftshandelns - wobei damit, der Kritik der Macht folgend, das klassen- und gruppenspezifische Filtern des Gesellschaftshandelns gemeint ist.54 Um es klar und deutlich zu sagen: Als gesellschaftliche Wirklichkeiten verstanden sind ökonomische Prozesse immer auch durch die Interaktionen der gegenwärtig präsenten Gruppen „konstituiert", denn derartige ökonomische Prozesse erfordern Institutionen, die in einem bestimmten Maße die zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen bestehenden Machtbeziehungen widerspiegeln. Die institutionelle Dimension, welche zwangsläufig dem Wirtschaftshandeln qua Handeln Gestalt verleiht, gibt ihm immer eine normative Dimension, indem sie die asymmetrischen Beziehungen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zu einer bestimmten Zeit konkretisiert. Zweitens ist der „Vollzug" - anders gesagt das Endresultat der Handlungskoordination, die wirtschaftliche Gesamthandlung, wie sie sich wirklich auf der Ebene der Gesellschaft vollzieht - Gegenstand einer zweiten normativen „Kontrolle": auf politischem Reflexionsniveau, auf welchem im Falle von demokratischer Politik der Kampf der Gruppen einen zweiten, reflektierteren institutionalisierten Ausdruck findet. In Klartext gesagt ist es deskriptiv (sozialtheoretisch) eine Abstraktion und praktisch ein Fehler, bei der Analyse des Wirtschaftshandelns von den zwischen den Gruppen bestehenden asymmetrischen Machtbeziehungen abzusehen. Die Anerkennungstheorie reformuliert diese im Sinne eines Kampfs um Anerkennung. Diese Lösung, derzufolge Anerkennung für wirtschaftliches Handeln kokonstitutiv ist, bringt Honneth in der Auseinandersetzung mit Fraser nochmals in Anschlag. In diesem Sinne behauptet er, dass „auch Strukturwandlungen in der ökonomischen Sphäre nicht von den normativen Erwartungen der Betroffenen unabhängig geworden, sondern auf deren zumindest stillschweigende Zustimmung angewiesen sind".55 Selbst im Falle von Wirtschaftsprozessen sind, so Honneth, einige grundlegende Anerkennungsbeziehungen dafür erforderlich, dass das System - sogar qua System - überhaupt funktioniert. Zum stellt diese Lösung nicht zufrieden. Seiner Meinung nach ist auch sie von dem Generalisierungs-Konkretions-Dilemma betroffen. Auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau behalte sie, Zum zufolge, fraglos ihre Richtigkeit. So seien eine Art elementaren Vertrauens, bestimmte Sozialisationsprozesse und ein Rechtsrahmen nötig, um Wirtschaftshandeln überhaupt möglich zu machen. Zum ist dieser Umstand aber so abstrakt, dass er nichts erklärt. 54
Honneth findet dieses Konzept „kulturellen Handelns", der klassenspezifischen Erfahrung allumfassender Arbeitsteilung bei Horkheimer, und zwar in den Zwischenschichten seiner frühen Schriften: „Der ,Kitt' einer Gesellschaft [...] setzt sich dann aus den kulturell erzeugten und ständig erneuerten Handlungsorientierungen zusammen, in denen soziale Gruppen die ihnen unter Bedingung klassenspezifischer Arbeitsteilung zugemuteten Aufgaben und die je individuellen Bedürfnispotentiale interpretatorisch zur Deckung gebracht haben." Kritik der Macht, S. 36. Honneth bezieht sich hier speziell auf Horkheimers Text „Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung" ( 1931 ).
55
Vgl. Anm. 46.
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Wenn andererseits die Gesellschaftstheorie die Art explanatorischer ökonomischer Analyse betreiben möchte, die Fraser mit ihrer Auflistung politökonomischer Faktoren fur niedrige Löhne umrissen hat, müsse man die anerkennungsbezogene Einstellung preisgeben. Man sei dann stattdessen gezwungen, sich auf eine funktionalistische Analyse nach Art der „Marktimperative" zu stützen. Zum und Fraser liefern m. E. eine unzutreffende Darstellung dessen, was die ökonomische Untersuchung erreichen kann. Sie scheinen zu unterstellen, dass fur alle wirtschaftlichen Phänomene homogene und unstrittige Analysen verfugbar sind. Dies scheint mir eine naive Vorstellung davon zu sein, was die Ökonomie als Wissenschaft zu bieten vermag. Die Wirtschaftswissenschaft ist, als Theorie und als empirische Beschreibung, alles andere als eine einheitliche Wissenschaft. Unter keinem ihrer Aspekte ist sie einheitlich: weder hinsichtlich ihrer Beschreibung früherer Ereignisse (man nehme nur die vielen einander widersprechenden Deutungen früherer Wirtschaftskrisen), nicht in ihren Erläuterungen gegenwärtiger wirtschaftlicher Erscheinungen, nicht bezogen auf ihre Voraussagen, nicht einmal in Hinblick auf die Erhebung grundlegender Daten (man denke ζ. B. an die große Unsicherheit hinsichtlich des wirklichen Umfangs der Arbeitslosigkeit) und garantiert nicht in Bezug auf ihre wesentlichen methodologischen Voraussetzungen (es sei denn, man halte irrtümlicherweise die institutionelle Hegemonie des neoklassischen Modells für einen Ausweis wissenschaftlicher Gültigkeit). Die Annahme ist schlichtweg falsch, man könne einfach auf die Ökonomie verweisen und darauf vertrauen, sie werde schon in der Lage sein, unstrittige Beschreibungen, Erklärungen und Voraussagen wirtschaftlicher Erscheinungen zu liefern. Die Art jedoch, wie Fraser und Zürn auf die Notwendigkeit einer über die „Ursachen des Unrechts" vermittelten Erklärung wirtschaftlicher Ungerechtigkeit verweisen, scheint auf solch eine wertfreie Wirtschaftsanalyse hinzudeuten. Zweitens - und positiver gesehen - finden sich in der nicht-neoklassischen Wirtschaftstheorie einige überzeugende Modelle, die von der Wirtschaftswissenschaft her die grundlegenden Vorschläge nachdrücklich unterstützen, die Honneth auf der Basis seiner eigenen sozialwissenschaftlichen Arbeit unterbreitet hat. Dies ist ein faszinierender Aspekt seiner abschließenden Replik auf Fraser in dieser Frage.56 Zunächst wendet er die Perspektive immanenter Kritik gegen Fraser. Er macht deutlich, dass die von ihr gegen ihn gerichteten empirischen Beispiele Gefahr laufen, Habermas' Grundeinstellung zu wiederholen: Aus einer scheinbar rein analytischen Unterscheidung - dem dualen „Perspektivismus" von Anerkennung und Umverteilung - wird schließlich eine ontologische Reifikation von Gesellschaft entlang zweier Integrationsbereiche. Damit riskiert Fraser den Widerspruch zu ihrer eigenen Methode, indem sie die Wirtschaft als gesonderten Gesellschaftsbereich ontologisiert. Fräsers und Zurns positivistische Einstellung zur Ökonomie scheint der unkritischen Billigung von Habermas' systemtheoretischem Zugang zu ökonomischen Fragen zu entspringen. In diesem Fall würden ihre jeweiligen Herangehensweisen in einer sozialontologischen Reifikation ökonomischer Prozesse gründen, die von sozialer Interaktion getrennt wären. Im Kontrast zu dieser Haltung bietet Honneth in einer faszinierenden Schlusspassage einige wenige Gedanken, die nochmals auf eine alternative Untersuchung von Wirtschaftsprozessen hindeuten. Es sei wenig sinnvoll, so schließt Honneth,
56
Honneth, in: Umverteilung oder Anerkennung?,
S. 290-295.
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K R I T I K DER POLITISCHEN Ö K O N O M I E UND DIE GEGENWÄRTIGE K R I T I S C H E T H E O R I E
„sich bloß auf die Bedeutung kapitalistischer Verwertungsimperative zu berufen, w e n n dabei unberücksichtigt bleibt, inwiefern Wandlungen in den normativen Erwartungen und den Handlungsroutinen die Voraussetzungen der sozialen Aushandlung über den Spielraum solcher Verwertungsgesichtspunkte verändert haben". 5 7
Honneth hätte hinzusetzen können, dass es tatsächlich herausragende Wirtschaftstheorien gibt, von denen sich zeigen ließe, dass sie sich die grundlegenden kritischen Intuitionen zueigen gemacht haben, die oben hervorgehoben worden sind.58 Diese Theorien entkräften unmittelbar die Behauptung, Honneth könne ökonomische Analyse und Anerkennungslogik nur zu dem Preis miteinander vereinigen, dass er dem Generalisierungs-Konkretions-Dilemma erliegt. So sind ζ. B. einige der Grundprämissen des amerikanischen Jnstitutionalism" (Institutionenökonomik) denen sehr ähnlich, die Honneth als Zugang zur Wirtschaft nutzt: dass es unmöglich sei, ein Wirtschaftssystem ohne Bezug auf die umfassendere Kultur zu studieren; dass individuelles Wirtschaftshandeln immer in hohem Maße durch seinen sozialen Kontext instruiert ist und working rules folgt, die wesentlich normativ sind; dass ökonomische Gesetze keine Naturgesetze sondern institutionelle Arrangements sind, welche raumzeitlich konkret das Kräfteverhältnis wie den Zustand des Gruppenantagonismus widerspiegeln; dass somit Konflikt und Asymmetrie von Machtbeziehungen von entscheidender Bedeutung fur die Analyse einer gegebenen empirischen Situation sind (der Gesamtwirtschaft oder eines spezifischen Arbeitsmarkts). 59 Ich würde sogar behaupten wollen, dass sich Honneths Kritik positivistischer ökonomischer Ansätze mit einigen grundlegenden sozialtheoretischen Annahmen der Regulationstheorie zu weiten Teilen überschneidet. Allerdings gilt diese These nur unter Vorbehalt, denn die Regulationstheorie kann auch fiinktionalistisch verstanden werden. Hier mag der Hinweis genügen, dass in einigen Spielarten der Regulationstheorie die rational-individualistische Prämisse auf methodologischer Ebene abgelehnt wird: Die theoretische Grundhaltung besteht im Beharren darauf, dass individuelles Handeln sozial eingebettet ist (wobei die Wirtschaftsziele selber als vom gesellschaftlichen Kontext abhängig erwiesen werden). Das Hauptaugenmerk der Untersuchung liegt auf der Rolle vermittelnder Kräfte, die in Gestalt von Institutionen den Wechsel von der mikro- zur makroökonomischen Ebene zu erklären helfen. Im Grunde ist es das, worauf der Regulationsbegriff zielt: Mikroökonomische Relationen sind allein nicht in der Lage, Zusammenhalt und Stimmigkeit des makroökonomischen Systems der Gesamtwirtschaft zu erklären. Vielmehr sind vermittelnde, wie Honneth sagt, „Mechanismen" erforderlich, durch welche individuelle Handlungen koordiniert werden, und die selber eine normative Dimension besitzen. Erforderlich sind sie bereits auf der Primärebene der Beschreibung und Analyse, vor jedem Versuch einer Kritik. Die Regulationstheorie geht auch von der Annahme
57
Ebd., S. 294.
58
Mittlerweile hat Honneth selber die Kongruenz seiner Auffassung mit institutionenökonomischen Wirtschaftstheorien betont, siehe „Arbeit und Anerkennung. Versuch einer Neubestimmung", in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 2008, Heft 3, S. 3 2 7 - 3 4 1 , im vorliegenden Band S. 2 0 9 - 2 2 4 . Einen lehrreichen Vergleich zwischen Anerkennungstheorie und Institutionenökonomik bietet Craig MacMillan in „Recognition Theory and Institutional Labour Economics", in J. P. Deranty, N. Smith (Hg.), New Philosophies of Labour: Work and the Social Bond, Leiden, Boston 2009.
59
Für eine klar verständliche Zusammenfassung der Argumente des „alten" und „neuen" Institutionalismus siehe M. Rutherford, Institutions
in Economics:
the Old and the New Institutionalism,
Cambridge 1994.
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JEAN-PHILIPPE D E R A N T Y
asymmetrischer Machtbeziehungen aus, entgegen der neoklassischen Fiktion eines zwischen den Akteuren bestehenden transparenten Beziehungsgeñiges. 60 Die entscheidende Schlussfolgerung, die sich in dieser Diskussion aus dem Vergleich der Anerkennungstheorie mit „heterodoxen" Wirtschaftstheorien ziehen lässt, besteht in Folgendem: Mit Hilfe dieses Vergleichs erkennt man, dass es tatsächlich letzten Endes gar nicht so vernünftig ist, was auf den ersten Blick eine vernünftige Kritik durch Fraser und Zum zu sein scheint - dass man nämlich ökonomisches Unrecht in ökonomischen Begriffen zu untersuchen habe, wobei „ökonomische Untersuchung" rein funktionale Analyse meint. Im Unterschied zu den von der Institutionenökonomik und der Regulationstheorie gebotenen Gegenmodellen sind Fraser und Zum in ihrer ökonomischen Analyse offensichtlich so stark funktionalistischen Ansätzen verpflichtet, dass sie dem neoklassischen Verständnis von Wirtschaftswissenschaft und wirtschaftlicher Realität zu viel preisgeben. Auf der anderen Seite scheinen Honneths kritische Einsichten durch jene beiden alternativen Wirtschaftstheorien gut gestützt zu werden. Der Unterschied zwischen diesen beiden, ökonomische Fragen betreffenden Positionen wird besonders klar, wenn wir uns noch einmal dem Beispiel zuwenden, das Zum herangezogen hatte, um die Unbrauchbarkeit der Anerkennungstheorie in Fragen der Ungerechtigkeit zu belegen: das Beispiel niedriger Löhne. Von all jenen Elementen, die Zum als Belege der „in evaluativer Hinsicht unabhängigen" Logik der Bemessung von Vergütung vorstellig macht, kann aus einer institutionenökonomistischen Perspektive gezeigt werden, dass sie sowohl Momente des Klassenkampfes enthalten als auch Vermittlungsmechanismen, in welchen die zwischen Unternehmern und Beschäftigten, Kapitalisten und Arbeitern bestehende Balance zugunsten der letzteren verschoben ist, was den exakten Preis von Arbeit in diesem besonderen Kontext deutlich macht. 61 In der Tat spricht selbst Fraser vom „Machtverhältnis zwischen Arbeit und Kapitel" oder von der „Stringenz sozialer Regulationen" als solchen „politökonomischen Faktoren". Das scheint mit der Vorstellung, Märkte arbeiten „allein aufgrund ökonomischer Imperative", in deutlichem Widerspruch zu stehen. Diese Kritik an Fräsers Modell ist in gewissem Sinne nicht gerechtfertigt. Denn die gerade zitierten Elemente meinen ja nur, Anerkennungsstrukturen seien nicht robust genug, um solche ökonomischen Faktoren erklären zu können. Das wiederum ist aber, wie wir gesehen haben, nur deshalb so, weil Honneth, was ökonomische Fragen betrifft, von Fraser reduktionistisch verstanden wird. Sieht man aber erst einmal, in welcher Tiefe Honneth die Anerkennungstheorie verortet - als Primärquelle gesellschaftlicher Integration, als ein Äquivalent z. B. zu Deweys sozialtheoretischer Interpretation von Arbeitsteilung - , dann offenbart Fräsers Lesart ihre Grenzen. Umgekehrt lässt sich Zurns Einschätzung, Wirtschaftsprozesse erforderten in der Tat solche der Anerkennung, Honneth müsse in dieser Frage jedoch zu unbestimmt bleiben, am Beispiel der beiden zitierten Wirtschaftstheorien entkräften. Wenn man die Überschneidungen zwischen Honneths Sozialtheorie und den institutionenökonomistischen 60
Entgegen der Annahme, sie sei mittlerweile wissenschaftlich endgültig veraltet, liefert die Regulationstheorie sogar eine überarbeitete Version der Arbeitswerttheorie. Eine klar verständliche Einführung in die Regulationstheorie bietet M. Aglietta, „Capitalism at the Turn of the Century: Regulation Theory and the Challenge of Social Change", New Left Review, 232 (1). Dieser Aufsatz macht insbesondere die sozialtheoretischen und politischen Implikationen dieses Konzepts ziemlich deutlich.
61
Eine genaue Untersuchung der neoliberalen Wirtschaftswelt aus der Perspektive der strukturellen Rolle des Klassenkampfes bietet die maßgebliche Studie von Gérard Duménil und Dominique Lévy, Capital Resurgent: Roots of the Neoliberal Revolution, übers, v. D. Jeffers, Cambridge 2004.
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Wirtschaftstheorien auch nur ansatzweise akzeptiert, so können die Beispiele dessen, was Theorien dieser Schule geleistet haben (d. h. detaillierte, mathematisch formulierte, konkrete Wirtschaftsanalysen im Rahmen ihrer jeweiligen Themenfelder), als hinreichende Erwiderung auf die Kritik gelten, Honneth könne Wirtschaft mit Anerkennung nur zum Preis des Generalisierungs-Konkretions-Dilemmas in Beziehung setzen. Somit mag der Anerkennungsbegriff auch im Bereich der Ökonomie die konzeptionelle Tiefe besitzen, die Honneth ihm einräumt. Anerkennung ist erst einmal nur ein deskriptiver Terminus, der einen konzeptionellen Sprachrahmen zum Zwecke einer deskriptiven Phänomenologie gegenwärtiger Sozialpathologien ermöglicht. Jenseits der Phänomenologie des Unrechts aber nutzt Honneth den Terminus auch als einen Themenstrang fur seine alternative Gerechtigkeitstheorie, als eine normative Richtlinie. In diesem Aufsatz wurde versucht, die These stark zu machen, dass genau genommen in dieser engen Verbindung zwischen sozialer Erfahrung und Sozialtheorie die Stärke von Honneths Position besteht. Natürlich ist diese Verbindung zwischen vortheoretischer Erfahrung und Gesellschaftstheorie das Kennzeichen für Honneths standhafte Treue gegenüber einem strikt verstandenen Programm Kritischer Theorie. Allerdings sind mit einer solchen Treue auch enorme Herausforderungen verbunden, die Kritiker nicht versäumt haben herauszustellen. Die Verankerung sozialtheoretischer Geltungsansprüche in Unrechtserfahrungen könne, wie insbesondere Fraser und Zum eingewendet haben, theoretisch zu reduktionistischen Positionen führen. Dies sei insbesondere in Hinblick auf ökonomische Ungerechtigkeit offensichtlich. Selbst wenn sich (einige) Erfahrungen ökonomischen Unrechts anerkennungsbezogen beschreiben ließen, so könne man die Ursachen dieses Unrechts wie auch die praktischen Gegenmaßnahmen gewiss nicht auf diese Weise verstehen. In diesem Aufsatz habe ich versucht, Honneth gegen solcherart kritische Einwände zu verteidigen. So habe ich insbesondere die deskriptive und normative Stichhaltigkeit seiner Position im gegenwärtigen Zusammenhang herausgestellt. Und Emmanuel Renault hat klar gezeigt, dass das anerkennungstheoretische Vokabular die Kapitalismuskritik zu aktualisieren vermag, indem es eine „wirkungsbezogene Kritik" ermöglicht. Aus diesem Blickwinkel kommt auch eine überzeugende Replik auf Versuche, die Kritische Sozialtheorie ohne Verweis auf gesellschaftliche Erfahrungen zu praktizieren. Eine objektivistische Haltung gegenüber dem Gesellschaftlichen riskiert, die wirklichen Pathologien der gegenwärtigen Welt herunterzuspielen und zu missdeuten. Aus diesem Grunde ist es nicht verständlich, wie eine solche Haltung die Grundlage einer politischen Theorie bilden könnte, die in irgendeiner Hinsicht konkreter oder zwingender wäre als eine auf Anerkennung gegründete Konzeption. Weil eine Anerkennungstheorie allein schon von ihrer Begrifflichkeit her der Wirklichkeit gesellschaftlicher Erfahrung verpflichtet ist, kann sie, durch die letztere belehrt, Vorschläge zur Korrektur universell akzeptierter Lehrsätze der gegenwärtigen Sozialtheorie vorschlagen, insbesondere in Hinblick auf die Stellung der Arbeit in der gegenwärtigen Gesellschaft und deren Bedeutung für gegenwärtige Subjekte. Anerkennung scheint somit ein Konzept nicht allein mit deskritpivem, normativem und kritischem, sondern auch mit explanatorischem Wert zu sein - ein Schlüsselkonzept der Sozialtheorie. Indem sie auf die grundlegende, kapitalistische Ordnungen stützende normative Ebene verweist, kennzeichnet Anerkennung nicht einfach nur den normativen Kern, der Leiderfahrungen als Unrechtserfahrungen ausweist. Sie designiert damit auch einen symbolischen Rahmen jenseits dessen kapitalistische Ordnungen nicht länger funktionieren könnten. Indem er auf diese Weise an den irreduzibel normativen, soziokulturellen Dimensionen fest-
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JEAN-PHILIPPE DERANTY
hält, die dem Funktionieren der Wirtschaftsordnung zugrunde liegt, erhebt Honneth vielleicht den wichtigsten Einspruch auf dem Feld gegenwärtiger Sozialtheorie - indem er nämlich damit die kritiklos gebilligte Vorstellung von Märkten als autopoietischen, einer autonomen Logik folgenden Subsystemen in Frage stellt. Honneths Beharren darauf, dass Wirtschaftsvorgänge selber auf die gesellschaftlichen Institutionen als deren Regulierungsinstanzen verwiesen sind, bildet damit ein wirkungsvolles sozialtheoretisches Pendant zu den wirtschaftstheoretischen Versuchen, die neoklassische Hegemonie herauszufordern.
Aus dem Englischen von Veit Friemert
A R T O LAITINEN
Zum Bedeutungsspektrum des Begriffs „Anerkennung": die Rolle von adäquater Würdigung und Gegenseitigkeit
Unterschiedliche Denker gebrauchen oft unterschiedliche Begriffe, um über denselben Gegenstand zu sprechen, und denselben Begriff, um über unterschiedliche Gegenstände zu sprechen. Terminologische Verwirrungen gehören zu unseren ständigen Begleitern, und im besten Fall können wir Eindeutigkeit innerhalb der unterschiedlichen Verwendungsweisen eines Begriffs erreichen. Doch manchmal existieren sogar in ein und demselben Kopf widerstreitende Vorstellungen darüber, wie das Bedeutungsspektrum eines Begriffs einzugrenzen ist, welche Ausdehnung das ,Feld' eines Wortes oder Begriffs hat - und damit letztlich darüber, welches Spektrum von Phänomenen von einer erfolgreichen Theorie beschrieben wird. Dieser Aufsatz ist aus einem derartigen Konflikt in Bezug auf die Verwendung des Begriffs „Anerkennung" in Schlagworten wie „Kampf um Anerkennung", „Bedürfnis nach Anerkennung", „wechselseitige Anerkennung", „interpersonelle Anerkennung", „öffentliche Anerkennung", „Anerkennung von Differenz", „institutionelle Anerkennung" oder „emotionale Anerkennung" entstanden. Der Konflikt entspringt aus zwei grundlegenden Gedanken, die bei dem Versuch, „Anerkennung" zu definieren oder zu umreißen, eine Rolle spielen. Ich werde sie den GegenseitigkeitsGedanken und den Gedanken der adäquaten Würdigung [adequate regard insight] nennen. Der Gegenseitigkeits-Gedanke besagt, dass Gegenseitigkeit der Anerkennung inhärent oder quasi eingebaut ist: Ich muss den Anderen als Annerkennungsgeber anerkennen, damit die Sicht des Anderen fur mich als Anerkennung gilt. Anerkennung in eine Richtung setzt stets Anerkennung in beide Richtungen voraus. Der Gedanke der adäquaten Würdigung hingegen beruht auf der Idee, dass wir nicht nur als Anerkennungsgeber klassifiziert, sondern adäquat, das heißt, unter Berücksichtigung all unserer normativ relevanten Merkmale, behandelt werden wollen. Beide Gedanken basieren auf einer dritten zentralen Idee, nämlich dass Anerkennung durch Andere für uns deshalb wichtig ist, weil sie Bedeutung fur unsere praktischen Selbstbeziehungen hat: Von anderen geachtet zu werden ist relevant für unsere Selbstachtung. Jedoch, und das wird in diesem Aufsatz eine entscheidende Rolle spielen, weisen beide Gedanken in verschiedene Richtungen. Sie stehen, insofern es um das Bedeutungsspektrum des Begriffs „Anerkennung" geht, in Spannung zueinander. Auf den folgenden Seiten werde ich den Versuch unternehmen, diese Spannung zu vermitteln, indem ich verschiedene mehr oder weniger eng umgrenzte Sichtweisen auf den Begriff „Anerkennung" vergleiche und kritisch würdige. Ich werde vier Kernpunkte erörtern, auf die Definitionen von „Anerkennung" mehr oder weniger begrenzt werden können. Die erste Frage betrifft das Spektrum möglicher Empfänger von Anerkennung, während die zweite Frage sich auf mögliche vom Empfänger abhängige begriffliche Einschränkungen in Bezug darauf, ob überhaupt Anerkennung stattgefunden hat, richtet. Bei der Behandlung dieser Fragen werde ich versuchen, den beiden widerstreitenden
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Gedanken gerecht zu werden. Der Gegenseitigkeits-Gedanke fuhrt zwangsläufig zu einem engen Begriff von Anerkennung (nur Anerkennungsgeber können Anerkennung erfahren; Anerkennung findet nur dann statt, wenn gegenseitige Anerkennung stattfindet). Der Gedanke der adäquaten Würdigung legt hingegen eine uneingeschränkte Sichtweise nahe (auch Wesenheiten, die keine Anerkennungsgeber sind, können angemessen behandelt werden; einseitige adäquate Würdigung ist begrifflich möglich). Ich werde zeigen, dass die Spannung zwischen diesen beiden Auffassungen am besten durch eine zweiteilige Darstellung vermittelt werden kann. In dieser zweiteiligen Darstellung werde ich begrifflich zwischen anerkennen (und anerkannt werden) und Anerkennung geben und erhalten unterscheiden. Es scheint zunächst etwas unglücklich, solche technisch-begrifflichen Unterscheidungen einfuhren zu müssen, doch sind sie hilfreich, um präzise Antworten auf die Fragen zu geben, die vom Gegenseitigkeits-Gedanken und dem Gedanken der adäquaten Würdigung aufgeworfen werden - das zumindest werde ich zu zeigen versuchen. Die beiden anderen Fragen lauten: Welche Arten von Reaktionen auf welche Arten von Eigenschaften können als Anerkennung gelten? Auch hier fuhrt der Gedanke der adäquaten Würdigung zu einer uneingeschränkten normativistischen Sichtweise: jede Art von Reaktion, die von einer beliebigen normativ relevanten Eigenschaft (normativ) gefordert wird, kann einen Fall von Anerkennung darstellen. Der Gegenseitigkeits-Gedanke hingegen wird eine eingeschränktere Auswahl nahe legen, die von der Auffassung bestimmt ist, dass nur Anerkennungsgeber (oder Personen) auch Empfanger von Anerkennung sein können: 1 nur Eigenschaften, die ausschließlich Anerkennungsgeber (oder Personen) besitzen können, sind mögliche Grundlagen von Anerkennung, und nur solche Reaktionen, in denen der andere auf irgendeine Art als Anerkennungsgeber (oder als Person) wahrgenommen wird, zählen als Fälle von Anerkennen. 2 Ich werde den Standpunkt vertreten, dass, obwohl solche (spezifischen) Reaktionen auf solche (spezifischen) Eigenschaften eine wichtige Unterklasse von Anerkennungsverhältnissen darstellen, eine uneingeschränkte normativistische Sichtweise das volle Bedeutungsspektrum von Anerkennung besser erfasst. Es scheint nicht sinnvoll, sich im Voraus eine eingeschränkte Definition von Anerkennung zu Eigen zu machen, die von Anfang an bestimmte Fälle ausschließt (wenn auch der Gegenseitigkeits-Gedanke bestimmte Einschränkungen zu begründen scheint). Mit unserer zweiteiligen Darstellung können wir das Gewicht des Gegenseitigkeits-Gedankens vollständig bewahren, ohne das Spektrum der '
2
Im Folgenden werde ich davon ausgehen, dass alle Entitäten mögliche Anerkennungsgeber sind, die ihr Verhalten und ihre Einstellungen gemäß normativen Anforderungen gestalten können, die durch normativ relevante Merkmale anderer gestellt werden. Unter diese Definition fallen Einzelpersonen, Gruppen und Institutionen bis hin zu Staaten. Einen Grenzfall stellen Tiere dar, die vielleicht verlässlich auf normativ relevante Eigenschaften reagieren, (indem sie Gefahren vermeiden, bekömmliche Nahrung zu sich nehmen, Hilfe gewähren, Gesellschaft suchen), jedoch nicht in der Lage sind, zwischen Eigenschaften im deskriptiven Sinne und normativ relevanten Eigenschaften zu unterscheiden und denen darüber hinaus die Vorstellung des Sollens fehlt. Man könnte vielleicht argumentieren, dass Tiere implizit die normative Relevanz von Eigenschaften erkennen und dass ihre Reaktionen insofern als Anerkennung aufgefasst werden können. Sie nehmen ihre Welt stets unter dem Aspekt von Bedeutungen oder Handlungsaufforderungen wahr und niemals rein deskriptiv. In diesem Aufsatz werde ich jedoch von anderen Lebewesen absehen und mich auf menschliche Individuen, Gruppen und Institutionen beschränken. Diese Vorschläge stehen in enger Beziehung zu der in Ikäheimo (2002a) und (2002b) erörterten Idee, dass Anerkennung als „den anderen als eine Person wahrnehmen" klassifiziert werden kann. Ich habe sie hier mit den Begriffen „Eigenschaften" und „Reaktionen" reformuliert.
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Eigenschaften und Reaktionen, die Anerkennung hervorrufen beziehungsweise als Anerkennung gelten können, einzuschränken.
1. Selbstbeziehungen und warum Anerkennung von Bedeutung ist Ein Ausgangspunkt ist der Gedanke, dass es für die praktischen Selbstbeziehungen deijenigen, die anerkannt werden, von Bedeutung ist, Anerkennung zu erhalten. Achtung, die andere einem entgegenbringen, hat Auswirkungen auf die Selbstachtung, Wertschätzung durch andere beeinflusst das Selbstwertgefühl, herabsetzende Kritik an den Fähigkeiten einer Person kann bei ihr ein internalisiertes Gefühl von Unfähigkeit hervorrufen, erlebte Erniedrigungen stehen in Beziehung zu Gefühlen von Minderwertigkeit und so weiter.3 Der sowohl interpretative wie auch kausale Zusammenhang zwischen Anerkennung durch andere und unseren Selbstbeziehungen ist unmittelbar verständlich. Allerdings können auch andere Umstände unterschiedlichster Art Einfluss auf unsere Selbstbeziehungen haben. So kann der Verzehr von Pillen, die bestimmte Chemikalien enthalten, Veränderungen meiner Stimmung oder meiner Gehimfünktionen hervorrufen, die wiederum kausal zu Veränderungen in meinem Selbstwertgefühl beitragen. Wirkungen dieser Art unterscheiden sich völlig von der Art, in der beispielsweise die Achtung, die mir andere entgegenbringen, mit meiner Selbstachtung in einer verständlichen Beziehung steht. Es besteht zwischen ihnen nicht die rationale Beziehung, die zwischen „A denkt so und so über B" und „B denkt so und so über B" besteht. Es scheint, dass Anerkennung durch andere sich in einer spezifischen, „unmittelbar verständlichen" Weise auf unsere Selbstbeziehungen auswirkt - einer Weise, die wir verstehen, wenn wir verstehen, was Anerkennung ist. Die Frage, ob eine Reaktion Bedeutung für die Selbstbeziehungen hat, spielt vielleicht eine zentrale Rolle bei dem Versuch, zu umreißen, was Anerkennung ist: Möglicherweise kann jede Reaktion anderer, die in der beschriebenen unmittelbar verständlichen Weise relevant für die eigenen Selbstbeziehungen ist, als Anerkennung gelten. Im nächsten Abschnitt werde ich diesen Gedanken in zwei unterschiedliche Richtungen entwickeln, die in Spannung zueinander stehen (einmal steht dabei die Gegenseitigkeit im Vordergrund, einmal die adäquate Würdigung). Neben ihrer Bedeutung für die Selbstbeziehungen gibt es fünf weitere (miteinander in Beziehung stehende) Aspekte, unter denen Anerkennung für ihren Empfänger wichtig ist. Bevor wir weitergehen, ist es sinnvoll, diese Aspekte zu erwähnen, um den Eindruck zu vermeiden, dass Relevanz für die Selbstbeziehungen der einzige Grund ist, warum Anerkennung für uns wichtig ist. Eine plausible Definition von „Anerkennung" sollte so gefasst sein, dass sie begrifflichen Raum für alle Aspekte, unter denen Anerkennung wichtig ist, lässt, und eine hinreichend vollständige Analyse der Anerkennung müsste allen diesen Aspekten Rechnung tragen oder erklären, warum einige von ihnen falsch sind. Zunächst ist Anerkennung unmittelbar wünschenswert an sich. Der Wunsch nach Anerkennung in ihren verschiedenen Formen ist eine sinnvolle, unabhängige motivationale Kraft. Der Wunsch nach Anerkennung kann zwar von anderen missbraucht werden - wenn beispielsweise unterbezahlten Arbeitern eine bloß symbolische Anerkennung gewährt wird. Doch kann seine Existenz auch falschlich außer Acht gelassen werden - wie im Fall der neoliberalen An3
Vgl. Taylor ( 1992), Honneth ( 1992), Walker (2006).
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nähme, dass Menschen ausschließlich vom Streben nach Geld und wirtschaftlichem Vorteil motiviert sind. Zum Zweiten sind Anerkennen und das Erhalten von Anerkennung konstitutiv fur verschiedene Arten von nicht-entfremdeten horizontalen Einheitsverhältnissen (z. B. fur gegenseitige Achtung, gegenseitige Fürsorge), die an sich wünschenswert sind und dazu beitragen, dass man in der sozialen Welt bei sich ist. Anerkennen und das Erfahren von Anerkennung sind ebenso konstitutiv fur nicht-entfremdete vertikale Einheitsverhältnisse (z. B. von gerechten, legitimen und selbstverwalteten Institutionen regiert zu werden beziehungsweise von Institutionen, mit deren Zielen und Grundsätzen man sich identifizieren kann), die unmittelbar wünschenswert sind und die dazu beitragen, dass man in der institutionellen Welt bei sich ist. Nehmen wir zum Beispiel Anerkennung durch den Staat. Genauso, wie die Anerkennung durch andere Individuen relevant für die Selbstbeziehungen des Individuums ist, ist es die Anerkennung durch politische Institutionen. Und genauso wie die Anerkennung durch andere konstitutiv ist fur den Ausgleich und die Einheit mit anderen oder das Empfinden, „bei sich im anderen zu sein", ist es die Anerkennung durch den Staat. In negativer Hinsicht kann fehlende Anerkennung von Seiten des Staates zu Entfremdung und Frustration fuhren. Gewisse Arten der Missachtung seitens des Staates lassen diesen wie einen „Feind" erscheinen, andere Arten der Politik oder bestimmte Ziele machen ihn zu einem „Fremden" und manche seiner strukturellen Eigenschaften können einen Staat in entscheidenden Fragen „ohnmächtig" erscheinen lassen. Derartige Erfahrungen können dazu fuhren, dass Individuen sich in der institutionellen Welt kaum noch „zu Hause" fühlen. Zum Dritten ist das Erfahren von Anerkennung, vermittels seiner Wirkung auf die Selbstbeziehungen der relevanten Parteien, eine der Voraussetzungen für Aktorschaft. Wie Honneth und Anderson zusammenfassen: „Kurz gefasst, ist der zentrale Gedanke, dass die aktorialen Kompetenzen, zu denen Autonomie gehört, die Fähigkeit voraussetzen, gewisse Einstellungen sich selbst gegenüber einzunehmen (insbesondere Selbstvertrauen, Selbstachtung und ein Gefühl des eigenen Werts), und dass diese affektiv aufgeladenen Vorstellungen von sich selbst - oder um es mit Hegeischen Begriffen auszudrücken, ,Formen der praktischen Selbstbeziehung' - ihrerseits von den unterstützenden Einstellungen anderer abhängig sind."4
Viertens kann man die Auffassung vertreten, dass Anerkennen und das Erfahren von Anerkennung auf verschiedene Weisen Voraussetzungen von Identitätsbildung, Selbstverwirklichung, gutem Leben und positiver Freiheit sind. So kann man die Definition seiner praktischen Identität und seiner grundlegenden Lebensziele als einen dialogischen Vorgang betrachten, und Selbstverwirklichung, die sich vermittels solcher identitätsdefinierender Schritte vollzieht, profitiert von Ermutigung und „personalisierter Wertschätzung" durch andere. Weiterhin besteht das gute Leben auch darin, in einer subjektiv befriedigenden Form objektiv wertvolle Aktivitäten und Beziehungen zu entfalten, wozu auch Anerkennungsbeziehungen gehören. Auch konstituiert sich unsere Freiheit nicht zuletzt dadurch, dass uns Garantien der Abwesenheit von Herrschaft gegeben werden, die Formen der Anerkennung und der Achtung für unsere Stellung sind.5 4 5
Honneth und Anderson (2005), S. 131 (Hervorhebung von A. L.); vgl. auch Honneth (1992). Dieser Punkt wird ausfuhrlicher in Laitinen (2003) behandelt.
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Fünftens lässt sich anfuhren, dass Anerkennung eine ontologische Relevanz fur die Existenz von Gruppen, Institutionen, Staaten, ja selbst von Personen haben kann. Unabhängige Staaten existieren nur, wenn sie von anderen Staaten anerkannt werden. Die Begrifflichkeit der Anerkennung ist möglicherweise am besten geeignet, um die Art und Weise zu beschreiben, in der Gruppen und Institutionen von subjektiver Akzeptanz abhängen. 6 Es scheint zunächst unklar, welche Rolle Anerkennung in der Ontologie von Personen spielen kann. Doch wenn wir annehmen, dass Menschen bei ihrer Geburt potentielle Personen sind und die Ausbildung der relevanten Eigenschaften von ihrer Anerkennung durch andere abhängt, beziehungsweise dass die Erfahrung von Anerkennung ein konstitutiver Aspekt dessen ist, eine Person zu sein, dann wird klar, was gemeint ist.7 Anerkennung ist also in unterschiedlichen Weisen von Bedeutung, und eine hinreichend vollständige Theorie der Anerkennung muss diese erklären können. Die unmittelbar verständliche Art und Weise, auf die Anerkennung durch andere für die praktischen Selbstbeziehungen relevant ist, kann uns in besonderem Maße bei der Beantwortung der Frage behilflich sein, was Anerkennung ist beziehungsweise, was alle Unterarten von Anerkennung gemeinsam haben. Sie kann jedoch in unterschiedliche Richtungen fuhren, je nachdem, ob sie mit der Idee der adäquaten Würdigung oder der Idee der Gegenseitigkeit kombiniert wird.
2. Adäquate Würdigung Die Art, wie man von anderen behandelt oder gewürdigt wird, ist in der oben beschriebenen unmittelbar verständlichen Weise relevant fur die eigenen Selbstbeziehungen. So könnte man die These aufstellen, dass jede Art der Würdigung, die wir durch andere erfahren, als Anerkennung oder Missachtung zählt - wobei adäquate Anerkennung einfach eine adäquate Würdigung wäre, inadäquate Anerkennung eine inadäquate Würdigung. Bevor wir uns mit einer solchen begrifflichen Verbindung zwischen der Würdigung durch andere und der Anerkennung befassen, werfen wir einen genaueren Blick auf die adäquate Würdigung. Wie sollte Α Β behandeln und würdigen? Welche Kriterien gibt es fiir adäquate Behandlung oder Würdigung? Bei der Beantwortung dieser Frage können wir von A's früheren Festlegungen, von Β's normativen Erwartungen, von der adäquaten oder inadäquaten Behandlung, die Β in der Vergangenheit tatsächlich erlebt hat oder von den normativen Ergebnissen von Auseinandersetzungen oder bestehenden Vereinbarungen zwischen A und Β ausgehen. Diese Faktoren spielen zweifellos eine Rolle bei der Erklärung, wie eine aktuelle Praxis oder ein aktuelles Geschehen von normativen Überzeugungen strukturiert wird. Doch sind aktuelle Überzeugungen nicht zwangsläufig richtig - denken wir an Fälle von skrupellosen Sklavenhaltern, die dauerhaft jede Festlegung auf das Wohlergehen ihrer Sklaven ablehnen, oder an Sklaven mit einem intemalisierten Minderwertigkeitsgefühl und in sich konsistenten niedrigen normativen Erwartungen. Man möchte meinen, dass es an ihren aktuellen Positionen oder Erwartungen durchaus etwas zu kritisieren oder zu verbessern gibt, wie konsistent sie auch sein mögen. Wir müssen also annehmen, dass es sich bei Veränderungen an aktuellen Überzeugungen um Vgl. Ikäheimo und Laitinen (in Vorbereitung). Vgl. Laitinen (2002), sowie die entsprechenden Aufsätze in Ikäheimo und Laitinen (2007).
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Fälle von Verbesserung oder um Lernvorgänge handeln kann. Von einem Lernvorgang kann man allerdings nur dann sprechen, wenn der später eingenommene Standpunkt besser ist als der vorherige. Der spätere Standpunkt aber ist besser aufgrund seines Gehalts und nicht aufgrund der Tatsache, dass er zu einem späteren Zeitpunkt eingenommen wird - rein zeitliche Veränderungen sagen uns nichts darüber, ob es sich um Veränderungen zum Guten oder zum Schlechten handelt. Es wäre besser gewesen, wenn man den besseren Standpunkt bereits zu einem früheren Zeitpunkt eingenommen hätte. Die Gehalte mancher Überzeugungen sind mithin (zu jeder gegebenen Zeit) besser als andere, egal, ob tatsächlich jemand zu diesem Zeitpunkt diese Überzeugungen hat. Wir können demnach sagen, dass das Kriterium fur eine adäquate (im Gegensatz zu einer inadäquaten) Würdigung die Gehalte der bestmöglichen Standpunkte und Überzeugungen sind, die den beteiligten Parteien zu einem gegebenen Zeitpunkt zur Verfugung stehen. (Bestimmte Ansichten, die unter anderen Umständen vielleicht sogar besser gewesen wären, scheiden aufgrund der Tatsache aus, dass sie nicht verfugbar sind). Diese Gehalte der adäquaten Würdigung wiederum lehren uns am besten, welche Unterschiede und Übereinstimmungen zwischen Individuen von wesentlicher Bedeutung dafür sind, wie sie behandelt und betrachtet werden sollten. Ich habe an anderer Stelle die Ansicht vertreten, dass neben der grundlegenden Gleichheit von Personen zumindest unterschiedliche Verdienste und verschiedene Positionen innerhalb spezifischer Beziehungen (wie z. B. Eltern-Kind Beziehungen) normative Bedeutung haben können.8 Etwas kann dann als adäquate Würdigung einer Person gelten, wenn es sich um eine angemessene Reaktion auf die normativ oder evaluativ bedeutungsvollen Eigenschaften E dieser Person handelt. Diese Eigenschaften erzeugen Gründe dafür, auf bestimmte Arten zu reagieren - die Eigenschaften fordern zu bestimmten Reaktionen auf oder bedingen diese. Die vernunftgeleiteten „Reaktionen", um die es hier geht, können von verschiedenster Art sein: Es gibt eine Pluralität der Arten von Reaktionen, die normativ verlangt werden. Gemäß Raz kann es sich bei solchen relevanten Reaktionen erstens um „angemessene psychische Bestätigungen eines Werts" handeln oder darum, „Objekte in Gedanken auf Arten und Weisen zu betrachten, die ihrem Wert entsprechen, worunter im weitesten Sinne Vorstellungen, Gefühle, Wünsche, Absichten usw. zu verstehen sind".9 Zweitens darum, solche Kognitionen sprachlich oder mit anderen symbolischen Mitteln auszudrücken. Drittens bestehen relevante Reaktionen darin, etwas von Wert zu beschützen, zu bewahren und nicht zu zerstören. Viertens kann man sich auf Objekte mit evaluativ relevanten Eigenschaften auf verschiedene Arten einlassen, die Raz auf folgende Weise beschreibt: „Wir tun dies, wenn wir aufmerksam und differenziert Musik hören, einen Roman mit Einfühlungsvermögen lesen, Felswände erklimmen und dabei unsere körperliche Geschicklichkeit einsetzen, Zeit mit Freunden so verbringen, wie es unserer Beziehung zu ihnen entspricht und vieles mehr. An wertvolle Objekte bloß auf angemessene Weise zu denken und für ihren Erhalt zu sorgen, sind bloße Voraussetzungen dafür, sich auf ihren Wert einzulassen."10 Eine fünfte Art der Reaktion besteht in verschiedenen Arten äußerlicher Förderung, die über bloßen Schutz hinausgehen, jedoch kein Sich-Einlassen auf die wertvollen Objekte bedeutet. 8 9 10
Vgl. Laitinen (2002) und (2006). Raz (2001), S. 61. Ebd., S. 162 f.
ADÄQUATE W Ü R D I G U N G UND GEGENSEITIGKEIT
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Es gibt also eine Vielzahl von Arten adäquater Reaktionen. Es gibt entsprechend eine Vielzahl von normativ relevanten Eigenschaften, die zu solchen Reaktionen auffordern. Der Träger der normativ relevanten Eigenschaften kann ein Wesen sein, das Schmerz und Lust empfindet, ein sterbliches Wesen, ein Aktor, ein moralisch zurechnungsfähiger Aktor, jemand, der denkt, jemand, der Werturteile fallt, ein Wesen, das seiner selbst bewusst ist, ein Wesen, das Gegenstand von Gefühlen ist, eine Person; Inhaber eines institutionellen Status; er kann sich in irgendeiner bestimmten Hinsicht auszeichnen - er kann Verdienste oder Errungenschaften haben; er kann instrumenten wertvolle Eigenschaften haben; er kann intrinsisch wertvolle Eigenschaften haben; es kann sich um einen Freund, um einen geliebten Menschen usw. handeln. Diese Eigenschaften verlangen unterschiedliche Arten von Reaktionen. Ich werde davon ausgehen, dass es eine irreduzible Vielfalt von relevanten Prinzipien gibt, entsprechend der Vielfalt der Eigenschaften, um die es geht. (Solche Prinzipien können sein: Vermeidung von Schmerz und Tod, Respektieren der Handlungsfreiheit, Besetzung von institutionellen Positionen nach fairen Kriterien usw.). Ich möchte eine Bemerkung über das Reagieren hinzufugen. Ich werde davon ausgehen, dass es die normativen Eigenschaften des anderen sind, die unmittelbar zu einer Reaktion auffordern oder eine Reaktion bedingen. Der andere muss nicht zwangsläufig einen Vorschlag, eine Anfrage, eine Einladung, eine Frage, eine Erkundigung, eine Forderung, einen Aufruf oder einen Hilferuf geäußert haben. Natürlich kann er das getan haben. In der Tat verlangen solche Initiativen auf eine explizitere Weise nach einer Reaktion und typischerweise wird die Tatsache, dass es eine Initiative gab, normative Bedeutung haben. (Manche Initiativen können natürlich normativ ohne Bedeutung sein und ohne Einfluss auf die normative Lage des Gegenübers bleiben). Wenn wir von Reaktion sprechen, könnte dies so verstanden werden, als ob wir „reagieren" in dem engen Sinn meinen, in dem eine Reaktion stets der zweite Schritt in einer interaktiven Sequenz ist, deren erster Schritt in einer Initiative besteht. Doch kann die Initiative (der erste Schritt einer interaktiven Sequenz) ihrerseits als Reaktion auf eine (gegebene) Situation oder auf normative Anforderungen verstanden werden. Eine Initiative wird stets in einer bestimmten normativen Lage erfolgen - manchmal fordert die Lage zu einer „Initiative" in diesem engen Sinne auf. Denken wir zum Beispiel an jemanden, der in einer Gruppe von Wartenden ein Gespräch anfängt. Natürlich können manche Initiativen auch beleidigend sein oder die Rechte von anderen verletzen. Initiativen können also insofern sowohl Reaktionen auf eine Situation als auch Fälle von unangemessener Behandlung eines anderen sein. Somit werden sowohl der erste als auch der zweite Schritt solcher Mini-Sequenzen, sowohl die Initiative als auch die Reaktion von den normativen Merkmalen der Situation bestimmt, auf die sie in einem weiteren Verständnis reagieren. Es ist dieses weitere Verständnis des Reagierens auf normativ relevante Eigenschaften, das bei der adäquaten Würdigung des anderen zum Tragen kommt. Rekapitulieren wir: Wir können die adäquate Würdigung als ein Reagieren auf die tatsächliche normative Relevanz der Eigenschaften des anderen begreifen. Im Folgenden werden wir die Frage stellen, ob jede Art von Reaktion als Anerkennen gewertet werden kann oder ob wir „Anerkennung" enger definieren sollten. Eine mögliche Antwort ist, dass jede Art von adäquater Würdigung (in der unmittelbar verständlichen Weise) für die praktischen Selbstbeziehungen relevant und damit ein Fall von Anerkennung ist; es kann sich bei dieser Würdigung um jede normativ geforderte Reaktion auf jede beliebige normative Eigenschaft handeln. Doch vielleicht gibt es Gründe, sich für engere Sichtweisen zu entscheiden. Solche engeren Sichtweisen betrachten nur gewisse Spielarten des Reagierens oder der Würdigung als Anerkennung.
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A R T O LAITINEN
Unabhängig davon werde ich in diesem Aufsatz annehmen, dass, wie eng auch immer der Begriff von Anerkennung ist, den wir uns zu Eigen machen, das Kriterium für adäquate Anerkennung identisch mit dem Kriterium fur adäquate Würdigung ist. Adäquate Anerkennung ist eine Sache des Reagierens auf die tatsächliche normative Relevanz der Eigenschaften des anderen. Ich nenne dies das „Reaktions-Modell" der adäquaten Anerkennung. Wenn es also auch eine offene Frage bleibt, ob alle Fälle adäquater Würdigung zugleich auch Fälle von Anerkennung sind, so ist doch jeder Fall von adäquater Anerkennung (im Gegensatz zu Missachtung oder Nicht-Anerkennung) immer auch ein Fall von adäquater Würdigung in den je relevanten Hinsichten. Unabhängig davon, ob wir den Bereich dessen, was wir als Anerkennung verstehen, eng oder weit definieren: ob die Anerkennung adäquat ist, darüber entscheiden die Eigenschaften des anderen.
3. Adäquate Würdigung und die uneingeschränkte normativistische Sicht Ich wende mich nun den beiden grundlegenden Gedanken über das, was Anerkennung ist, zu. Die eine dieser grundlegenden Ideen ist die der Gegenseitigkeit: Voraussetzung dafür, dass ich in einer Weise „Anerkennung erhalte", die Auswirkungen auf meine praktischen Selbstbeziehungen hat, ist, dass ich den Anerkennungsgeber als Anerkennungsgeber anerkenne. Ich werde diese Idee in Abschnitt 4 behandeln. Der andere Gedanke ist, dass Kämpfe um Anerkennung nicht bloß ein Ringen darum sind, als „Anerkennungsgeber" zu gelten (was die Mindestforderung des Gegenseitigkeits-Gedankens ist), sondern darum, von anderen adäquat behandelt zu werden, in Hinsicht auf alle normativ und evaluativ relevanten Eigenschaften, die man besitzt. (Denn jemanden als Person oder im weiteren Sinne als Anerkennungsgeber zu betrachten, schließt entsetzliche Arten der Behandlung nicht aus). Wir können diesen Gedanken den Gedanken der „adäquaten Würdigung" nennen. Bei Kämpfen um Anerkennung geht es ihm zufolge um das Streben nach adäquater Würdigung durch andere unter dem Aspekt der normativ relevanten Eigenschaften, die man besitzt. Die einzige Einschränkung, die der Gedanke der adäquaten Würdigung in Bezug darauf, was als Anerkennung im relevanten Sinne gelten kann, nahe legt, ist, das es sich um ein Reagieren auf normativ relevante Eigenschaften handeln muss. Damit führt er zu der „uneingeschränkten normativistischen" Sichtweise, dass es sich bei beliebigen normativ geforderten oder bedingten Reaktion auf beliebige normativ relevante Eigenschaft jeder beliebigen Wesenheit um Anerkennung handeln kann. In diesem Sinne kann eine erfolgreiche Anerkennung stattfinden, ohne dass die Rückbeziehung von Β zu A dafür irgendeine Rolle spielt - es ist nicht notwendig, dass Β seinerseits A anerkannt hat oder A's Reaktion zur Kenntnis nimmt usw. Es ist möglich, dass Α Β anerkennt, ohne dass Β dies zur Kenntnis nimmt. Die beschriebene Sichtweise ist mithin uneingeschränkt im Hinblick auf unsere vier Kernfragen: Welche Arten von Wesenheiten können anerkannt werden? - Alle! Welche Eigenschaften können Reaktionen fordern? - Alle! Welche Arten von Reaktionen können gefordert werden? - Jede beliebige! Sind irgendwelche Tatsachen in Bezug auf den Empfanger der Anerkennung von Bedeutung dafür, ob man von Anerkennung sprechen kann? - Nein!
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Doch präzisieren wir: Die fraglichen Eigenschaften müssen normativ relevante Eigenschaften sein (wobei es sich um jede beliebige normative Eigenschaft handeln kann - es muss nicht notwendigerweise eine normative Eigenschaft sein, die zum Beispiel nur Anerkennungsgeber haben), und, um als Gegenstand von Anerkennung in Frage kommen, muss jemand oder etwas Träger von normativ relevanten Eigenschaften sein (wobei es sich um jede Art von Wesenheit handeln kann, es müssen nicht notwendigerweise Anerkennungsgeber sein). Darüber hinaus muss es sich bei den Reaktionen um normativ geforderte oder bedingte Reaktionen handeln (wobei jede Art von Reaktion - sei sie emotional, kognitiv, institutionell oder eine Änderung der Haltung, des Verhaltens oder des Ausdrucks usw. als Spielart von Anerkennung gelten kann). Gemäß dieser Sichtweise können prinzipiell alle Wesenheiten normativ relevante Eigenschaften besitzen, die bestimmte Arten von Reaktionen erfordern, und diese Reaktionen gelten als Anerkennung der betreffenden Entität, gleichgültig, ob es sich um eine Person, ein Tier, eine Institution, ein Kunstwerk oder eine Landschaft handelt. Offensichtlich nehmen nur einige dieser Gegenstände von Anerkennung zur Kenntnis, ob und auf welche Weise sie anerkannt werden, doch das bedeutet nicht, dass andere Gegenstände nicht in diesem weiten oder uneingeschränkten Sinne anerkannt werden können - dass sie angemessen gewürdigt werden können."
4. Der Gegenseitigkeits-Gedanke und zwei Arten von Einschränkungen Der zweite Gedanke (der erst nach einiger Überlegung einsichtig wird) besagt, dass Anerkennung in jedem Verständnis, das fur die praktischen Selbstbeziehungen eines Individuums von Belang sein kann, immer zweiseitig ist. Man kann Anerkennung nur von Aktoren „erhalten", die man im Gegenzug als wenigstens minimal kompetente Anerkennungsgeber anerkennt. Daraus folgt, dass Anerkennung - selbst als Möglichkeit - nur Anerkennungsgeber betrifft. Diesen Gedanken, der so folgenreich von Hegel untersucht worden ist, nenne ich den Gegenseitigkeits-Gedanken. Die Gegenseitigkeit, um die es im Falle der wechselseitigen Anerkennung geht, ist nicht einfach extrinsische Reziprozität, derart, dass zunächst A irgendetwas für Β tut und später Β irgendetwas fur A tut. Es handelt sich mehr um eine Art von Doppelsinn, der jedem einzelnen Fall von Anerkennung intrinsisch ist. In jedem einzelnen Fall, in dem Β Anerkennung von A erhält, '1
Wenn Anerkennung tatsächlich nicht auf Personen beschränkt ist, muss die Unterscheidung zwischen dem Anerkennen normativer Entitäten [acknowledging normative entities] und dem Anerkennen von Personen [recognizing persons], wie sie in Ikäheimo und Laitinen (2007) vorgeschlagen wird, entsprechend erweitert werden. Begrifflich können wir zwischen dem Anerkennen oder Bestätigen [acknowledging] der Gültigkeit allgemeiner Prinzipien (ζ. B. „Ehrlichkeit ist eine wertvolle Eigenschaft" oder „Ehrlichkeit fordert eine Bandbreite positiver Reaktionen von Achtung bis Unterstützung") oder spezifischer normativ relevanter Eigenschaften beziehungsweise Instantiierungen von Eigenschaften („B's Ehrlichkeit fordert eine Bandbreite positiver Reaktionen von Achtung bis Unterstützung") und der entsprechenden Reaktion auf den Träger dieser Eigenschaften (B als einen ehrlichen Menschen zu schätzen) unterscheiden. Nur bei Letzterem handelt es sich hier relevanten Verständnis darum, Β „anzuerkennen". Aus der Unterscheidung zwischen „Anerkennen" und „Anerkennung gewähren", die ich in diesem Aufsatz mache, ergibt sich der bedeutungsvolle Unterschied zwischen zwei Arten von Trägern normativer Eigenschaften: solchen, die in einem erweiterten, unbeschränkten Sinne anerkannt werden können und solchen (Anerkennungsgebern), denen im strengen Sinne Anerkennung gewährt werden kann.
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muss Β seinerseits A als Anerkennungsgeber anerkannt haben.12 In Fällen des Misserfolgs der Anerkennung können die für die Anerkennung relevanten Einstellungen oder Haltungen bei A durchaus vorhanden sein, doch wenn Β A die Stellung eines (wenigstens minimal kompetenten oder relevanten) Urteilenden abspricht, dann gelten mutmaßliche „Urteile", „Überzeugungen" oder „Würdigungen" A's im Hinblick auf Β nicht als Anerkennung Β's durch A. Nehmen wir zum Beispiel den Fall eines Geigers, der Anerkennung durch einen Musikkritiker erfahrt. Der Geiger muss den Kritiker zunächst als jemanden anerkannt haben, der in der Lage ist, ein relevantes Urteil zu fallen, der also fähig ist, sich über sein Geigenspiel eine Meinung zu bilden und dessen Meinung Gewicht hat. Zufallige Reaktionen, die von einem Computer oder mithilfe eines Würfels ermittelt werden, fassen wir nicht als Anerkennung auf, wie positiv sie auch sein mögen. Oder, um ein anderes Beispiel zu nehmen, wenn Β denkt, dass A ihm Unrecht getan hat, dann muss Β in A zunächst einen moralisch zurechnungsfähigen Aktor sehen, der fähig ist, Unrecht zu tun, und nicht bloß (wie eine Naturkatastrophe) Schaden anzurichten. Und indem er A im Lichte dieser Unterscheidung betrachtet, muss er sich selbst zumindest implizit als fähig ansehen, die Unterscheidung zu treffen und sie mehr oder weniger kompetent auf A anzuwenden - womit sich Β implizit selbst als einen Anerkennungsgeber betrachtet.13 Diese Art von Wechselbeziehung beschreibt Hegel in seiner dichten Analyse in der Phänomenologie des Geistes.'4 Dieser Gedanke fuhrt zu der eingeschränkten Sichtweise, dass Anerkennung im relevanten Sinne nur bei einer ziemlich komplexen Art von Wesen stattfindet: nämlich solchen, die fähig sind, sich gegenseitig (und sich selbst) als Anerkennungsgeber zu betrachten. Oder anders gesagt, als Empfanger von Anerkennung, die fähig zu normativen Erwartungen in Bezug auf die Würdigung und Behandlung, die sie durch andere erfahren, sind. Solche Anerkennungsempfänger können zueinander in Beziehungen wechselseitiger Anerkennung stehen und Anerkennung oder die Verweigerung von Anerkennung in jenem Verständnis erfahren, das voraussetzt, dass der Empfänger seinerseits den Anerkennungsgeber als eines relevanten Urteils fähig anerkennt. „Das Tun ist also nicht nur insofern doppelsinnig, als es ein Tun ebensowohl gegen sich als gegen das Andere, sondern auch insofern, als es ungetrennt ebensowohl das Tun des Einen als des Anderen ist", wie Hegel (1979a, S. 147) es beschreibt. 13
Der Grad der Gewissheit einer Überzeugung zeigt den Grad der Kompetenz an, den man sich selbst als Autor dieser Überzeugung zuschreibt. Der Grad der Gewissheit von Ansichten über einen anderen zeigt den Grad von Kompetenz an, den man sich selbst in Bezug auf Ansichten über den anderen zuschreibt. Einige dieser Ansichten gelten als „Anerkennung" des anderen.
14
Für Hegel müssen in jedem einzelnen Fall von Anerkennung beide Parteien sowohl sich selbst als auch die andere Partei als Anerkennungsgeber ansehen. Wenn also „R" für „Anerkennungsgeber" steht, dann muss Α Β als R ansehen, A A als R ansehen, Β A als R ansehen und Β Β als R ansehen, damit überhaupt ein Fall von Anerkennung eintreten kann. Oder, wie Ludwig Siep es ausdrückt: „Anerkennung als doppelsinniges Tun zweier Selbstbewusstseine ist eine Relation, in der die Relata sich durch die Beziehung auf den Anderen auf sich selbst, und durch die Beziehung auf sich selbst sich auf den Anderen beziehen. Und diese Beziehung auf sich selbst bzw. auf den Anderen ist ermöglicht durch die entsprechende Beziehung des anderen." (Siep, 1979, S. 137 f.). Die im Folgenden unternommene Analyse wird nahe legen, dass dieses Modell in einigen Fällen vielleicht zu streng ist, zumindest was einzelne Reaktionen betrifft - insbesondere den möglichen Fall, dass Α Β als Träger von normativ relevanten Eigenschaften betrachtet, jedoch kein Urteil darüber fallt, ob es sich bei Β um einen Anerkennungsgeber handelt, Β jedoch A als Anerkennungsgeber ansieht.
ADÄQUATE WÜRDIGUNG UND GEGENSEITIGKEIT
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Nur Wesen, die ein Interesse daran haben, anerkannt zu werden, und die an die Würdigung durch andere normative Erwartungen richten, können Anerkennung in einem relevanten Sinn erfahren, der Auswirkungen auf ihre praktischen Selbstbeziehungen hat. Es scheint tatsächlich so, dass die Fähigkeit, relevante praktische Selbstbeziehungen zu entwickeln, sowohl mit der Fähigkeit, normative Erwartungen an das Verhalten anderer zu stellen, als auch mit der Fähigkeit, anderen Anerkennung zu geben, in einer Wechselbeziehung steht und sich gemeinsam mit ihnen entwickelt. Nur Wesen, die solche Fähigkeiten besitzen, können im relevanten Sinne „Anerkennung erhalten", wenn Anerkennung davon abhängt, den Allerkennungsgeber anzuerkennen, und man die unmittelbar verständliche Verbindung zwischen Anerkennung und praktischen Selbstbeziehungen voraussetzt. Der Gegenseitigkeits-Gedanke fuhrt also zu einer eingeschränkten Bestimmung des Bereichs der Wesen, die Anerkennung erhalten können - nur potentielle Anerkennungsgeber zählen dazu. Dies ist der erste Unterschied zur unbeschränkten Sichtweise. Der Gegenseitigkeits-Gedanke impliziert weiterhin, dass es begriffliche Einschränkungen hinsichtlich der Art und Weise gibt, in der Β sich auf A rückbezieht, die Einfluss daraufhaben, ob A tatsächlich Β Anerkennung gewährt hat. Β kann, wie wir gesehen hatten, nur dann Anerkennung von A erhalten, wenn Β seinerseits A als Anerkennungsgeber anerkennt. Darüber hinaus muss Β zunächst von A's Reaktion Kenntnis nehmen, bevor diese Reaktion eine Wirkung auf Β's praktische Selbstbeziehungen entfalten kann. Je wichtiger der Punkt ist, um den es geht, desto größer wird diese Wirkung im Übrigen sein. Vielleicht gibt es aber auch eine Grenze, von der ab Β dem Punkt, um den es geht, keinerlei Bedeutung zumisst: dann wird Β keine Anerkennung erhalten. Dies ist der zweite Unterschied zu der uneingeschränkten Sichtweise, zu der uns der Gedanke der adäquaten Würdigung geführt hatte. Ferner gilt: Der Gegenseitigkeits-Gedanke kann (muss jedoch nicht) zu der Sichtweise fuhren, dass Anerkennung stets eine Frage spezifischer Reaktionen ist, nämlich anerkennender Einstellungen, die den anderen als eine Person oder als einen Anerkennungsgeber im weiteren Sinne betrachten. Dann aber ist Anerkennung eine Frage des Reagierens auf Eigenschaften, die nur Personen oder Anerkennungsgeber besitzen.15 Ich werde in Abschnitt 6 versuchen, solche Einschränkungen in Bezug auf die relevanten Eigenschaften und Reaktionen in Frage zu stellen.
5. Die Spannung und wie sich mit ihr umgehen lässt: die zweiteilige Darstellung Beide Gedanken führen uns also in unterschiedliche Richtungen. Sie stehen in Bezug auf wenigstens zwei Fragen in Spannung zueinander: Wer kann anerkannt werden oder Anerkennung erfahren? - Jede Wesenheit mit normativen Eigenschaften oder nur solche, die fähig sind, Anerkennung wahrzunehmen und ihrerseits den Anerkennungsgeber anzuerkennen? Und, ist die Art und Weise, in der sich Β auf A rückbezieht, von Bedeutung dafür, ob A tatsächlich Β anerkannt oder Anerkennung gewährt hat? Mögliche Empfänger von Anerkennung sind entweder ( 1 ) jeder Träger von normativ relevanten Eigenschaften, einschließlich Tiere, Kunstwerke, unberührte Natur usw. Der Gedanke der adäquaten Würdigung legt nahe, dass jeder Träger von relevanten Eigenschaften im relevanten Sinne anerkannt werden kann. Möglicherweise kann jedwede individuelle Entität, 15
Vgl. Ikäheimo (2002a), Ikäheimo und Laitinen (2007), Ikäheimo und Laitinen (in Vorbereitung).
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deren Existenz Anfang und Ende hat, in der Zwischenzeit normativ relevante Eigenschaften annehmen und wieder verlieren. Diese Sichtweise kann „uneingeschränkt" (oder „monologisch", „Anerkennungsempfänger-unabhängig" oder „weit") genannt werden. Oder mögliche Empfänger von Anerkennung sind (2) ausschließlich Anerkennungsgeber, also Wesen, die in der Lage sind, Anerkennung zu „erhalten", was voraussetzt, dass sie den anderen als relevanten Anerkennungsgeber wahrnehmen. Diese Sichtweise kann man „eingeschränkt" (oder „dialogisch", „Anerkennungsempfänger-abhängig" oder „eng") nennen. 16
Mögliche Empfänger
Tatsachen, betreffend B's Perspektive, die Einfluss darauf haben, ob A bei der Anerkennung B's Erfolg hat
Korrekte Theorie
Gedanke der adäquaten Würdigung
Gegenseitigkeits-Gedanke
Alle Träger normativer Eigenschaften
Nur Anerkennungsgeber
Keine
Die uneingeschränkte normativistische Sichtweise
Β muss A als Anerkennungsgeber anerkennen, A's Reaktion zur Kenntnis nehmen und dieser Reaktion gegenüber nicht vollständig indifferent sein Die eingeschränkte Sichtweise
Tabelle 1 : Die Spannung
Zwischen den beiden Sichtweisen besteht also eine Spannung in Bezug auf wenigstens zwei Fragen: Wer kann Empfänger von Anerkennung sein und unter welchen Bedingungen? Ich werde den Standpunkt vertreten, dass beide Sichtweisen jeweils bestimmte Tatsachen richtig beschreiben. Mit Hilfe einer zweiteiligen Darstellung werde ich dem Rechnung tragen. Wir können die Spannung zwischen beiden Sichtweisen vermitteln, indem wir uns klar machen, dass „Anerkennung" zwei Dinge bezeichnen kann, die sich in zweifacher Hinsicht unterscheiden. Ich werde für den einen Fall die Begriffe „anerkennen und anerkannt werden" und für den anderen die Begriffe „Anerkennung geben und Anerkennung erhalten" verwenden. Der erste Fall ist identisch mit adäquater Würdigung, der zweite nicht. Im ersten Fall erkennt Α Β immer dann an, wenn A (mehr oder weniger adäquat) auf Β reagiert, auf Arten und Weisen, die von Β's normativ relevanten Eigenschaften gefordert werden, unabhängig davon, ob Β A als einen Anerkennungsgeber anerkennt oder seine Reaktion zur Kenntnis nimmt oder ihr irgendeine Bedeutung beimisst, und unabhängig davon, ob Β überhaupt zu all dem fähig ist. Wir können hinzufügen, dass logisch Β von A immer dann anerkannt wird, wenn Α Β anerkennt. Die uneingeschränkte normativistische Sichtweise erfasst diesen Fall vollkommen richtig. „Anerkennungsempfänger-abhängig/unabhängig" wird verwendet in Ikäheimo (2002b), „monologisch/dialogisch" in Ikäheimo und Laitinen (2007) und „ e n g / w e i t " in Laitinen (2002). Die Begriffe „Anerkennungsempfänger-unabhängig" und „monologisch" sollten nicht so gelesen werden, als ob der Anerkennungsgeber unabhängig oder monologisch wäre. Es geht vielmehr darum, ob der „Empfanger" der Anerkennung bei der Bestimmung dessen, was der „Sender" als Anerkennung versteht, berücksichtigt wird oder nicht.
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Im z w e i t e n Fall erhält
Β v o n A nur dann Anerkennung,
w e n n Β nicht nur fähig ist, A an-
zuerkennen, sondern A tatsächlich als einen A n e r k e n n u n g s g e b e r anerkennt, A's Reaktion zur Kenntnis n i m m t und ihr e i n e B e d e u t u n g beimisst. U n d A gibt nur dann erfolgreich Anerkennung, w e n n Β tatsächlich A n e r k e n n u n g erhält.
D i e eingeschränkte S i c h t w e i s e erfasst diesen
Fall v o l l k o m m e n richtig. 1 7 D i e s ist m e i n e s Erachtens der beste Weg, die Spannung z w i s c h e n d e m G e d a n k e n der adäquaten Würdigung und d e m G e g e n s e i t i g k e i t s - G e d a n k e n z u verhandeln. Ersterer fuhrt zu einer uneingeschränkt normativistischen Darstellung, der G e g e n s e i t i g k e i t s - G e d a n k e hingeg e n z u einer eingeschränkten A u f f a s s u n g . D i e s betrifft w e n i g s t e n s z w e i Fragen: die Frage nach m ö g l i c h e n E m p f a n g e r n v o n A n e r k e n n u n g und die Frage nach zusätzlichen begrifflichen B e d i n g u n g e n für das Stattfinden v o n Anerkennung. M e i n e T h e s e ist, dass wir uns daher eine z w e i t e i l i g e Darstellung z u E i g e n m a c h e n sollten: e i n e uneingeschränkte normativistische Sicht in Hinsicht a u f anerkennen b u n g in Hinsicht a u f das Geben
Mögliche Empfanger Tatsachen, betreffend B's Perspektive, die Einfluss darauf haben, ob A bei der Anerkennung B's Erfolg hat
und anerkannt und Erhalten
werden von
und eine eingeschränktere Beschrei-
Anerkennung,18
Anerkennen und anerkannt werden
Erfolgreich Anerkennung geben und erhalten
Jeder Träger normativer Eigenschaften
Ausschließlich geber
Keine
Anerkennungs-
Β muss A als Anerkennungsgeber anerkennen, A's Reaktion zur Kenntnis nehmen und ihr eine wenigstens minimale Bedeutung zumessen
Korrekte Theorie
Die uneingeschränkte normativistische Sichtweise
Die eingeschränkte Sichtweise
(Grundlegender Gedanke)
(Gedanke der adäquaten Würdigung)
(Gegenseitigkeits-Gedanke)
Tabelle 2: Die zweiteilige Darstellung, die eine uneingeschränkte normativistische Sichtweise im Hinblick auf das Anerkennen mit einer eingeschränkten Sichtweise im Hinblick auf das Geben von Anerkennung verbindet. Dieser Vorschlag begreift „Anerkennung" als einen B e g r i f f mit einer engeren und einer w e i teren Bedeutung, ähnlich w i e „Burg": „In m a n c h e n Fällen wird der B e g r i f f ,Burg' verwendet,
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Wenn A und Β Personen sind, dann kann man von „interpersonaler" Anerkennung sprechen, bei Staaten ließe sich von „zwischenstaatlicher" Anerkennung sprechen. Für die meisten Kombinationen lassen sich jedoch keine vergleichbar kurzen Bezeichnungen finden. Man könnte ζ. B. von Gruppe - Gruppe oder Staat - Gruppe Anerkennung sprechen. Wenn A und Β für unterschiedliche Entitäten stehen, ergibt sich eine Vielzahl von Varianten von Anerkennung (berücksichtigt man Personen, Gruppen und Institutionen, so ergeben sich neun Kombinationsmöglichkeiten).
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Diese Begriffswahl ist nicht willkürlich, sondern folgt der Grammatik des „Gebens" in einem allgemeinen Verständnis. Man „gibt" beispielsweise einer anderen Person Geld, in einen Automaten hingegen „steckt" man Geld oder „wirft es ein". Analog verhält es sich damit, Anerkennung zu geben oder zu gewähren - es wäre seltsam, zu sagen, dass wir der Bedeutung eines Stücks unberührter Natur „Anerkennung gewähren", hingegen klingt es akzeptabel, wenn wir sagen, dass wir den Wert eines Stücks Natur anerkennen. (Vgl. Saarinen 2005).
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um die Burg selbst zu bezeichnen, in anderen, um das Ensemble von Burg, Gebäuden und Freiflächen zu bezeichnen, das innerhalb der äußeren Burgmauern gelegen ist. [...] Die eigentliche Burg ist nicht dasselbe wie die Burg im weiteren Sinne, doch ist sie ein integraler Teil der Burg im weiteren Sinne."19 Um ein anderes Beispiel zu nehmen: Der Begriff „Loch" kann sich beim Golf auf ein Loch selbst, also eine Vertiefung im Boden beziehen, er kann in einem weiteren Sinne aber auch eine gesamte Bahn vom Abschlag bis zum eigentlichen Loch bezeichnen. Genauso kann „Anerkennung" das durch Wechselseitigkeit bestimmte Phänomen des erfolgreichen Gebens und Empfangens von Anerkennung (und verwandte Phänomene wie Kämpfe um Anerkennung) bezeichnen oder aber das umfassendere benachbarte Phänomen, von dem ich hier als „anerkennen" und „anerkannt werden" spreche (und verwandte Phänomene, wie zum Beispiel Kämpfe für die gesellschaftliche Anerkennung des Werts unberührter Natur).
6. Einige engere Auffassungen der relevanten Eigenschaften und Reaktionen Wir müssen noch zwei Fragen erörtern, bei deren Beantwortung es nahe liegen könnte, mehr oder weniger eingeschränkte Sichtweisen einzunehmen: Welche Arten von Reaktionen auf welche Arten von Eigenschaften sind beim Geben und Empfangen von Anerkennung im Spiel? Vielleicht kommen nur Reaktionen in Frage, die bestätigen, dass der andere ein Anerkennungsgeber (beispielsweise eine Person) ist, und nur Eigenschaften, die ausschließlich Anerkennungsgeber (beispielsweise Personen) aufweisen? Oder gibt es irgendwelche anderen Einschränkungen? Ich werde versuchen zu zeigen, dass die einzige Möglichkeit, den Gedanken der adäquaten Würdigung nicht aufzugeben, darin besteht, eine uneingeschränkte normativistische Sichtweise in Bezug auf die möglichen Eigenschaften und die Bandbreite der Reaktionen einzunehmen. Erinnern wir uns, dass jede Reaktion anderer, die von jeder beliebigen unserer normativen Eigenschaften gefordert oder bedingt wird, wenn sie adäquat ist, unsere positiven Selbstbeziehungen stärken kann oder, wenn sie inadäquat ist, von uns als Missachtung oder inadäquate Anerkennung erfahren werden kann. Diese Darstellung bleibt im Übrigen dem Gegenseitigkeits-Gedanken treu, insofern den wesentlichen Bedingungen der Gegenseitigkeit in der strengeren Definition des Gebens und Empfangens von Anerkennung Rechnung getragen wurde. Es gilt also zu zeigen, dass, obwohl ein Unterschied zwischen anerkennen / anerkannt werden und dem Geben / Empfangen von Anerkennung besteht, beide Sichtweisen die uneingeschränkte normativistische Perspektive in Bezug auf die fraglichen Eigenschaften und Reaktionen einnehmen sollten. In diesem Abschnitt werde ich einige engere Auffassungen aufgreifen und zeigen, dass sie am besten als Unterklassen von Anerkennung verstanden werden. 1. Beginnen wir mit „anerkennen" in dem Sinne, dass man den anderen als jemanden akzeptiert, der in der Lage ist, ein relevantes Urteil zu fallen. Diese Akzeptanz ist entscheidend für die Gegenseitigkeit von Anerkennung. Es ist diese Art von Anerkennung, die Β A 19
Strawson (1999), S. 131. Strawson vertritt dort die Auffassung, dass ,Ich' sowohl eine mentale Entität als auch ein menschliches Wesen bezeichnen kann und vergleicht entsprechend den Gebrauch des Begriffs ,Ich' mit dem Gebrauch des Begriffs ,Burg'.
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gewähren muss, damit Β von A Anerkennung erhalten kann. Insofern dieser Fall zentral für die gegenseitige Anerkennung ist, muss es sich hier in der Tat um einen exemplarischen Fall des Gebens und Erhaltens von Anerkennung handeln. Doch ist dieser Fall zugleich sehr eng umgrenzt. Stellen wir uns einen Klub vor, dessen einzige Aktivität darin besteht, Mitglieder aufzunehmen oder abzulehnen. In diesem Klub Mitglied zu sein, bedeutet einzig, dass man an der Entscheidung über die Aufnahme oder Ablehnung neuer Mitglieder beteiligt wird. Das ist nicht nichts, schließt aber kaum all das ein, was bei Kämpfen um Anerkennung auf dem Spiel stehen kann. Wenn Β A als jemanden anerkennt, der ein relevantes Urteil fallen kann, dann können die verschiedensten Urteile, die A fallt, fur Β von Bedeutung sein, und nicht bloß, ob A seinerseits Β für jemanden hält, dessen Urteile relevant sind. Anerkennung wäre ein Phänomen von geringer Reichweite, wenn das tatsächlich alles wäre. Eine Möglichkeit, diese Auffassung plausibel zu machen, wäre (wie es z.B Brennan und Pettit tun), Anerkennung tatsächlich nur als jenen kleinen inkludierenden Schritt zu definieren, mit dem der andere als jemand betrachtet wird, der überhaupt eine Rolle spielt, der gewissermaßen Teilnehmer des Spiels ist.20 Die adäquaten oder inadäquaten Spielzüge, die er ausführt, haben weder positiven noch negativen Einfluss auf diese Anerkennung im Sinne von Inklusion, obwohl sie natürlich dennoch für sich genommen eine Rolle spielen. Verallgemeinert würde diese Sichtweise darauf hinauslaufen, dass es Sache anderer normativer Theorien (der Ethik, der politischen Philosophie oder von Theorien der Achtung oder der Wertschätzung) ist, die Dimensionen des Gedankens der adäquaten Würdigung zu erfassen. Der „Anerkennung" würde der Stellenwert einer reinen Vorbedingung zugewiesen, sie würde nur die Aufnahme in den Klub oder unter die Spieler bezeichnen. Gemäß dieser Sichtweise sind beispielsweise Abstufungen von Achtung oder Wertschätzung keine Formen der Anerkennung, sondern weitere Formen der Würdigung, die von Anerkennung als Inklusion unterschieden werden müssen. In gewissem Sinne ist dies nur ein Streit um Begriffe. Doch um unsere wesentlichen Aussagen darüber, warum Würdigung durch andere fur uns wichtig ist, aufrechtzuerhalten, ist es für uns hilfreich, wenn wir Einstellungen wie Achtung und Wertschätzung als Formen der Anerkennung verstehen. Die Würdigung durch andere gehört offensichtlich zu den „Spielzügen", die in einer verständlichen Beziehung zu unseren Selbstbeziehungen stehen, und kann aus adäquaten oder inadäquaten Reaktionen auf unsere normativ relevanten Eigenschaften bestehen. Ebenso kann sie jene „Einheitsbeziehungen" beeinflussen, die man als gegenseitige Anerkennung bezeichnen kann. Warum sollten wir also nicht an der Verwendung des Begriffs im umfassenderen Sinne festhalten, die es uns erlaubt, über diese Vorgänge in der Sprache der „Anerkennung" zu sprechen? 2. Eine weitere Möglichkeit wäre, dass Anerkennung in kognitiven Urteilen über deskriptive Eigenschaften des anderen besteht. Es scheint, als ob deskriptive Urteile von A über Β für Β wichtig sind: Was für Behauptungen stellt A über Β auf? Erkennt Α Β in dem Sinne, dass 20
„Nehmen wir an, dass ich jemandem in einem gegebenen Umfang Wertschätzung oder Geringschätzung entgegenbringe. Ich erkenne diese Person an - bezeuge ihr Achtung - insofern ich sie als jemanden behandle, der zum Bereich derjenigen gehört, die Gegenstand positiver oder negativer Bewertung werden können. Diese Person zählt für mich. Die Wertschätzung, die ich einer Person in solchen Fällen entgegenbringe, wird graduell sein, und ihr Grad wird von Vergleichen mit anderen relevanten Personen beeinflusst sein. Doch die Anerkennung, die ich gebe, ist nicht graduell und unterliegt nicht dem genannten Einfluss." Brennan u. Pettit (2004), S. 20
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er ihn (wieder) als die Person identifiziert, die er ist? Hat A richtige oder falsche Ansichten über Β's deskriptive Eigenschaften? Kann man A überhaupt als eine Person oder einen Anerkennungsgeber klassifizieren? Was solche Urteile, Charakterisierungen und Identifizierungen betrifft, haben wir ein einfaches Kriterium für ihre Adäquatheit: Derartige Urteile über die Eigenschaften des anderen sind adäquat, wenn sie wahr sind. Es besteht allerdings ein Unterschied, ob wir solche Eigenschaften „bloß identifizieren" oder ihnen auf eine motivational wirksame Weise normative Relevanz zuschreiben. Durch diese Unterscheidung wird deutlich, dass erfolgreiche Identifikation allein nicht ausreicht, damit adäquate Anerkennung zu Stande kommt, solange die motivational wirksame Zuschreibung normativer Bedeutung fehlt.21 Manche deskriptiven Eigenschaften haben (in bestimmten Situationen) keinerlei normative oder evaluative Bedeutung. Diese Fälle können wir vernachlässigen. Ob Eigenschaften in solchen Fällen deskriptiv falsch erfasst werden oder nicht, hat keine Bedeutung. Wenn beispielsweise jemand behauptet, ich hätte exakt 3762 Haare auf meinem Kopf, dann ist das wahrscheinlich vollkommen irrelevant. Sobald deskriptive Eigenschaften j edoch evaluativ oder normativ relevant sind, ist ihre falsche Identifizierung oder Charakterisierung bedeutungsvoll und kann zum Gegenstand von Kämpfen um Anerkennung werden. Wenn beispielsweise jemand behauptet, dass mir die geistigen Fähigkeiten fehlen, um mich auf komplizierte Gegenstände zu konzentrieren (und ich deshalb aus den Institutionen der kollektiven Selbstregierung ausgeschlossen werde), dann hat das eine große Bedeutung fur mich. Richtige Identifizierung und deskriptive Charakterisierung sind also ein Aspekt der adäquaten Würdigung, die wir von anderen fordern. Fehler können hier folgenreich sein. Wir können also „bloße Identifizierung" als eine Art relevanter Reaktion auf normativ und evaluativ bedeutsame Merkmale auffassen - sie ist notwendig, aber nicht hinreichend fur adäquate Würdigung. Anerkennung im relevanten Sinne geht über bloße Identifizierung hinaus - man kann Β als ein X identifizieren, ihm aber die entsprechende Anerkennung vorenthalten (man kann ζ. B. feststellen, dass jemand über die notwendigen geistigen Fähigkeiten verfugt, ihm aber trotzdem den Zugang zu den Institutionen kollektiver Selbstregierung verwehren). Es bedarf also anscheinend eines Elements motivational engagierter Bestätigung der normativen Bedeutung der Tatsachen und Eigenschaften, die Β zu einem X machen, und es bedarf der Reaktionen, die diese Eigenschaften fordern oder bedingen. Ein konkretes Wesen als ein X anzuerkennen, bedeutet mehr, als es als ein X zu identifizieren - es bedeutet, es auf eine motivational wirksame Weise zugleich als Träger eines normativen Status zu würdigen und entsprechend zu reagieren. (Das zumindest wäre die uneingeschränkte normativistische Sichtweise). 3. Handelt es sich bei diesen weitergehenden Reaktionen vielleicht um emotionale Reaktionen? Die emotionale Würdigung, die bei der Anerkennung im Spiel ist, könnte eine Art von Fürsorge für den anderen sein, eine emotionale Sensibilität für die Bedürfnisse des anderen oder für dessen relevante Eigenschaften im Allgemeinen. Solche emotionalen Reaktionen sind adäquat, wenn sie passend oder angemessen (und beispielsweise nicht übertrieben) sind.22 Doch wiederum scheint es, dass emotionale Reaktionen nur einen Teilbereich der Vielzahl relevanter Reaktionen ausmachen. Auch kognitive Reaktionen, Willens- oder Verhaltensre21
Zu Identifikation, Zuschreibung und interpersoneller Anerkennung vgl. Ikäheimo und Laitinen (2007).
22
Axel Honneth (1992) behandelt diese „emotionale Anerkennung" im Kontext der Persönlichkeitsentwicklung.
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aktionen oder auch die Gewährung eines institutionellen Status usw. können relevante Reaktionen sein. Es zeigt sich also, dass Anerkennung nicht unbedingt eine Frage emotionaler Reaktionen ist - eine solche Sichtweise wäre zu eng. 4. In jener Debatte, für die Taylors Essay „Politics of Recognition" als Beispiel steht, wird Anerkennung oft als eine Angelegenheit gesellschaftlicher oder symbolischer Bestätigung des Werts oder der Position von kulturellen Minderheiten aufgefasst. Diese Bestätigung kann eine Angelegenheit von expliziten symbolischen Handlungen sein oder eine Angelegenheit von impliziten Botschaften, die durch bestimmte Arten der Politik übermittelt werden.23 Es ist einigermaßen umstritten, wann solche Bestätigung als adäquat betrachtet werden kann. Die wichtigsten Ansatzpunkte sind vielleicht: Würdigung des Wertes der betreffenden Minderheitenkulturen (obwohl es vielleicht zu schwierig ist, hierüber ein Urteil zu fallen, als das dieses von praktischer Relevanz sein könnte) und Achtung gegenüber den Individuen, die sich zu diesen Kulturen zählen, in Verbindung mit der Bestätigung der Bedeutung der Kulturen dieser Individuen.24 Auch hier handelt es sich um eine wichtige Klasse oder Unterklasse von Anerkennung, die jedoch am besten als ein Spezialfall betrachtet wird. Gilt nicht gegenseitige universelle grundlegende Achtung als eine Form der Anerkennung, obwohl sie nicht auf kulturellen Unterschieden beruht? Zumindest scheint dies zentral für die Tradition der Anerkennung seit Fichte und Hegel und wird auch in Taylors „universalistischer" Form der Anerkennung aufgegriffen. Ist darüber hinaus die Anerkennung anderer Minderheiten nicht ebenso bedeutsam, wie die Anerkennung kultureller Minderheiten? Und, wenn eine Minderheit zur Mehrheit wird, dann wird sie wohl kaum ihren Anspruch auf adäquate Würdigung verlieren? 5. Eine Situation, in der der Anerkennungsgeber eine Institution oder Organisation wie beispielsweise ein Komitee, ein Klub, ein Parlament oder ein Staat ist, lässt sich als „institutionelle Anerkennung" beschreiben. (Es wäre unmissverständlicher, in diesem Fall von der Anerkennung eines Individuums durch eine Institution zu sprechen). Im besonderen Fall kann auch die Art der Anerkennung, um die es geht, gemeint sein: Wenn Α Β als X anerkennt, dann kann es sich bei „X" um eine institutionelle Funktion oder einen institutionellen Status handeln. Betrachten wir die Auffassung, dass Anerkennen stets bedeutet, jemandem einen institutionellen Status zuzusprechen. Wenn Α Β als ein X anerkennt, dann wird Β dadurch ein X, Träger einer bestimmten institutionellen Rolle oder eines bestimmten institutionellen Status (wenn ihm beispielsweise ein Staat die Bürgerrechte gewährt) - vorausgesetzt, dass A tatsächlich die normative Macht hat, den Status X zu verleihen. Die uneingeschränkte normativistische Sichtweise würde dem nicht nur entgegenhalten, dass es offensichtlich auch vielfaltige Formen nicht-institutioneller Anerkennung gibt, sondern auch eine weiter gefasste Darstellung der institutionellen Anerkennung bevorzugen. Anerkennung muss nicht notwendig bedeuten, dass Β durch einen performativen Akt einen Status erstmalig erwirbt. Β's Status X kann auch (von A oder von anderen) bestätigt werden. Diese Bestätigung kann übrigens auch durch andere Individuen, Gruppen oder Institutionen erfolgen als durch diejenigen, die den Status verliehen haben. Sie können Β (mehr oder weniger adäquat) als Bürger behandeln. 23
Zur Übermittlung von „Botschaften" durch Politik vgl. ζ. B. Mason (2007), S. 59, oder Hampton ( 1992).
24
Vgl. ζ. B. Taylor ( 1992) und Jones (2006).
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A R T O LAITINEN
Die Bürgerrechte verliehen zu bekommen, kann also eine Form von direkter institutioneller Anerkennung sein. Von Seiten des Staates besteht die Anerkennung in diesem Fall nicht in einer „grundlegenden Einstellung" gegenüber dem Anerkennungsempfänger, sondern in dem performativen Akt selbst, durch dessen Vollzug jemand vom Nicht-Bürger zum Bürger gemacht wird - in der Verleihung des Status. Ist diese vollzogen, gibt es eine eng verknüpfte Art der Anerkennung, die in der Reaktion auf die normative Relevanz der Tatsache besteht, dass jemand die Bürgerrechte besitzt. Doch gemäß der normativistischen Sichtweise ist noch eine dritte Art von Anerkennung durch eine Institution möglich, nämlich ein Reagieren auf die Eigenschaften, die es für die Institution entweder zwingend oder möglich machen, den Status zu verleihen. Wenn jemandem der Status aus falschen Gründen vorenthalten wird, dann handelt es sich um einen Fall von Missachtung. Im Gegensatz dazu kann beispielsweise ein respekt- und rücksichtsvoller Absagebrief eine andere Art von adäquater Anerkennung darstellen. Nehmen wir an, jemand hat sich um die Mitgliedschaft in einem Klub beworben und erhält eine offizielle schriftliche Absage. Die Absage wird vielleicht anerkennen, dass der Bewerber alle relevanten Kriterien für die Aufnahme erfüllt hat, jedoch auf die Statuten des Vereins verweisen, die nur eine begrenzte Zahl von jährlichen Neuaufnahmen zulassen, und damit die Ablehnung begründen. Gleichzeitig könnte der Bewerber in dem Absagebrief ermutigt werden, sich im nächsten Jahr erneut zu bewerben. Dies könnte eine vollkommen adäquate Reaktion auf die (in der gegebenen Situation) normativ relevanten Merkmale des Bewerbers und damit eine Form adäquater Anerkennung sein: Der Bewerber erhält die Bestätigung, dass er bestimmte signifikante Eigenschaften besitzt, dass er jedoch eine weitere signifikante Eigenschaft, nämlich die Mitgliedschaft und die damit verbundenen normativen Befugnisse und Status, nicht erworben hat. Verallgemeinert lässt sich sagen, dass die Institution oder der Klub Individuen anerkennt, indem er sie ihrer normativen Position entsprechend behandelt, unabhängig davon, ob die normativ relevanten Merkmale institutioneller Art sind. Das zeigt, dass zwar einige, aber nicht alle Formen von Anerkennung performative Akte sind, durch die jemand einen neuen institutionellen Status oder eine neue institutionelle Rolle erwirbt. 6. Eine weitere Sichtweise, die ich an dieser Stelle erörtern möchte, ist die „personifizierende Sicht", wie sie Heikki Ikäheimo detailliert ausgearbeitet hat.25 Es stellt einen paradigmatischen Fall wechselseitiger Anerkennung dar, so wird argumentiert, wenn zwei Personen sich gegenseitig als Personen betrachten und adäquat auf die normative Bedeutung beziehungsweise den normativen Status reagieren, die / den der andere allein in seiner Eigenschaft als Person hat. Entsprechend stellt es einen besonders schwerwiegenden Fall von Missachtung dar, wenn jemand zwar als Person identifiziert wird (als Träger aller deskriptiver Eigenschaften, die eine Person ausmachen), zugleich jedoch explizit geleugnet wird, dass diese Person den normativen Status einer Person hat - dass der andere über den moralischen Status einer Person verfugt. Es könnte also nahe liegen, zu meinen, dass jede Art von Anerkennung letztlich Einstellungen beinhaltet, mit denen der andere als Person und als Träger des normativen Status einer Person angesehen wird - vielleicht besteht Anerkennung nur darin, eine solche „personifizierende" Einstellung gegenüber jemandem einzunehmen und nichts weiter. 26 Anerkennende 25
Vgl. Ikäheimo (2002a), (2002b), (2007).
26
Vgl. Ikäheimo (2002a); diese Sichtweise wird in Ikäheimo und Laitinen (2007) diskutiert und weiterentwickelt. Vgl. auch Ikäheimo und Laitinen (in Vorbereitung), wo ausgeführt wird, wie eine uneinge-
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Einstellungen hätten dann eine große Ähnlichkeit mit „reaktiven Einstellungen" im Sinne Peter Strawsons, der darunter Einstellungen wie Tadel, Dankbarkeit, Groll oder Schuld versteht, welche die Implikation mit sich fuhren, dass der Gegenstand der Einstellung ein freier und zurechnungsfähiger Aktor ist.27 In jener berühmten Passage, in der er „die bösen Jungen" anfuhrt, die „in der Ohrfeige, die sie erhalten, sich selbst genießen, nämlich als Ursache derselben" 28 , weist Hegel darauf hin, dass bestraft zu werden nicht zuletzt bedeutet, als zurechnungsfähiger Aktor anerkannt zu werden. Wenn jemand, im Gegensatz dazu, über einen Stein stolpert und daraufhin dem Stein aus Ärger einen Tritt versetzt, dann bedeutet dieser Tritt keine derartige Anerkennung. Gegen einen Stein zu treten nennen wir nicht den Stein „bestrafen" (selbst wenn wir den Stein als Ursache für unser Stolpern betrachten). 29 Was Peter Strawson als „reaktive Einstellungen" (Schuld, Groll, Dankbarkeit usw.) bezeichnet, sind typischerweise Einstellungen, die implizieren, dass ihr Gegenstand (man selbst oder jemand anders) als zurechnungsfähiger Aktor betrachtet wird. So stellt es beispielsweise keine personifizierende Einstellung dar, von jemandem anzunehmen, dass er über wertvolle Eigenschaften verfügt. Es ist jedoch eine personifizierende Einstellung, ihn als die zurechnungsfähige Quelle dieser wertvollen Eigenschaften anzusehen. Es gibt also offensichtlich einen wichtigen Bereich von Einstellungen, die implizieren, dass man den anderen als Person ansieht. Die Bedeutung dieses Bereichs von Einstellungen herauszuarbeiten ist ein eindeutiger Vorzug der „personifizierenden" Bestimmung von Anerkennung. Es spricht also einiges fur die Auffassung, dass Anerkennen im relevanten Sinne bedeutet, eine solche personifizierende Einstellung einzunehmen und nichts weiter.30 Doch von einem uneingeschränkten normativistischen Standpunkt lassen sich verschiedene Einwände gegen den Vorschlag vorbringen, „anerkennen" bedeute, den anderen auf angemessene Art und Weise als Person zu würdigen und nichts weiter.31 Zunächst kann die Anerkennung, die man Personen gewährt, mehr beinhalten, als sie einfach als eine Person anzusehen. Es kann sich dabei zum Beispiel darum handeln, den anderen als eine bestimmte Art von Person (beispielsweise als jemanden, der gewisse Vorzüge hat) oder als ein bestimmtes Individuum (einen geliebten Menschen zum Beispiel) anzusehen. Wenn Α Β als X ansieht, dann kann „X" unter Umständen informativer sein als bloß „eine Person": X kann für „eine Person mit bestimmten Vorzügen"
schränkte normativistische Sichtweise und eine personifizierende Sichtweise Wertschätzung infolge von Beiträgen zum Gemeinwohl auffassen. 27
Vgl. Strawson (1982).
28
Hegel (1979a), S. 306.
29
In anderen Situationen können natürlich auch Personen auf diese Art behandelt werden: Vielleicht erhalten die Jungen die Ohrfeige von jemandem, der darin eigentlich keine angemessene Form der Bestrafung sieht, sondern nur für einen Augenblick die Selbstkontrolle verloren hat. In diesem Falle würde nicht ausgedrückt, dass die Jungen als zurechnungsfähig anerkannt werden, sondern die Ohrfeige wäre nur ein (ungerechtfertigter) Ausdruck von Zorn. Die Intention oder Einstellung, mit der eine Handlung ausgeführt wurde, ist im Hinblick auf ihre Wertung als Anerkennung von Bedeutung.
30
Dies geht übrigens weit über das Modell des Klubs hinaus, dessen einzige Aktivität es ist, neue Mitglieder aufzunehmen oder abzuweisen. Die personifizierende Sichtweise besagt, dass eine Mitgliedschaft Hand in Hand mit verschiedenartigen Bedeutungen und Status geht, die in hohem Maße Einfluss darauf haben, wie man den anderen in unterschiedlichen Situationen würdigen sollte.
31
Anspruchsvollere Versionen der personifizierenden Betrachtungsweise, wie die von Ikäheimo, sind von diesen Einwänden vielleicht nicht betroffen.
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oder „Mitglied einer relevanten Gruppe" oder „ein geliebter Mensch" stehen.32 Es scheint also falsch zu sein, dass Anerkennung bedeutet, jemanden als Person anzusehen und nichts weiter. Ein zweiter Einwand ist, dass auch Gruppen, Institutionen oder Staaten im relevanten Sinne Empfänger von Anerkennung sein können (da sie selbst Anerkennungsgeber sind und den anderen als Anerkennungsgeber anerkennen können). Dies bedeutet jedoch nicht, dass wir sie deshalb als Personen irgendeiner Art betrachten müssen. Damit gegenseitige Anerkennung stattfinden kann, reicht es aus, dass sie Anerkennungsgeber sind. In dem Schema ,A sieht Β als X an' kann X also für „einen Anerkennungsgeber", „eine Gruppe", „eine Institution", „einen unabhängigen Staat" usw. stehen.33 Drittens muss Anerkennung nicht ausschließlich Sache von Einstellungen sein, wie die Analyse der personifizierenden Einstellung es nahe legen könnte. Anerkennung kann sich in Handlungen oder Gefühlen manifestieren, sie kann sich zeigen, indem Haltungen oder Gefühlen Ausdruck verliehen wird, sie kann eine Frage von Status, Beziehungen usw. sein.34 Räumt man beispielsweise ein, dass Staaten Anerkennungsgeber sein können, liegt der Gedanke nahe, dass eine der hauptsächlichen Arten und Weisen, in denen Staaten Individuen anerkennen, das Gewähren von Status wie der Staatsbürgerschaft ist. Viertens können wir uns eine Gemeinschaft vorstellen, die keinen Begriff von „Person" hat, die jedoch hochgradig sensibel in Bezug auf normative Eigenschaften ist, die wir als konstitutiv für Personalität ansehen (wie zum Beispiel Selbstbewusstsein, Rationalität, moralische Zurechnungsfähigkeit usw.). Nun scheint jede dieser Eigenschaften für sich normativ relevant zu sein, so dass nicht einmal klar ist, ob Personalität als solche überhaupt irgendwelche eigenständigen normativen Funktionen hat. Vielleicht gibt es solche Funktionen, vielleicht lässt sich beispielsweise die Gleichheit von Personen nicht vollständig mit den begrifflichen Mitteln der „Personen-konstitutiven Eigenschaften" erfassen. Wie dem auch sei, wir können jedenfalls sagen, dass in einer Gemeinschaft, in der „Personalität" als solcher keine Beachtung geschenkt wird, jedoch die normative Relevanz von Selbstbewusstsein, moralischer Verantwortung und Rationalität berücksichtigt wird, Individuen „anerkannt" werden. In unserem Schema ,A sieht Β als X an', steht das X in diesem Fall für „ein seiner selbst bewusstes Wesen", „ein moralisch zurechnungsfähiger Aktor", „ein vernünftiges Lebewesen" statt für „eine Person".35 Somit sagt man vielleicht am besten, dass „anerkennen" im relevanten Sinne nicht notwendigerweise bedeutet, jemanden „als eine Person anzusehen", sondern vielmehr ihn als jemanden anzusehen, der eine Bedeutung hat, als den Träger bestimmter normativ relevanter Eigenschaften, als „X", wobei X für eine Vielzahl unterschiedlicher, normativ relevanter Charakteristika stehen kann. Fünftens kann man sich menschlichen Wesen tief verbunden fühlen, die, je nach dem Begriff, den man von „Person" hat, nicht buchstäblich Personen sein müssen, Neugeborenen zum Beispiel oder geistig zurückgebliebenen Menschen. Man kann sie offensichtlich als konkrete 32
Vgl. Laitinen (2002). Auch die „reaktiven Einstellungen" Strawsons implizieren, dass der andere als eine bestimmte Art von Person betrachtet wird (eine zurechnungsfähige Person, die eine bestimmte Art von Handlung vollbracht hat).
33
Vgl. Laitinen (2003).
34
Eine Analyse von Anerkennung unter den Aspekten von Einstellungen, Handlungen, Äußerungen und Status findet sich in Ikäheimo und Laitinen (2007).
35
Vgl. Laitinen (2007).
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321
Wesen ansehen, die eine Bedeutung haben, eine sehr große Bedeutung möglicherweise, ohne sie als „Personen" anzusehen. Die personifizierende Sicht müsste zu dem Schluss kommen, dass solche Wesen nicht im relevanten Sinne anerkannt werden. Gemäß der normativistischen Sichtweise, die hier vertreten wird, sind sie möglicherweise unfähig, Anerkennung zu erhalten, doch können sie nichtsdestotrotz anerkannt werden (und die Art von Zuwendung, die dabei im Spiel ist, kann einen sehr hohen Stellenwert fur den Anerkennungsgeber haben). Sechstens kann Anerkennung anderer Personen bedeuten, sie als Träger bestimmter evaluativer Eigenschaften zu betrachten, beispielsweise ihre Fähigkeit zu schätzen, hochwertige Schuhe herzustellen, die wertvoll für die Gemeinschaft sind. Diese Fähigkeit kann allerdings auch Nicht-Personen zukommen, beispielsweise Maschinen, die Schuhe produzieren. Jemandem oder etwas die betreffende Fähigkeit zuzuschreiben bedeutet also nicht, dass wir ihn oder es als eine Person betrachten. Handelt es sich hier um „Anerkennung"? Gemäß der „personifizierenden" Sichtweise, die oben beschrieben wurde, nicht. Doch kann man die Frage auch bejahen: Ein Schuhmacher ist möglicherweise stolz auf seine Fähigkeit, bessere Schuhe herzustellen als eine Maschine, und fühlt sich anerkannt, wenn andere ihm seine Überlegenheit bestätigen. Dasselbe gilt, wenn Β als empfindungsfähiges Wesen anerkannt wird, dessen Leiden und Freuden eine Bedeutung haben. Allerdings sind nicht alle empfindungsfahigen Wesen Personen. Jemandes Empfindungsfahigkeit zu berücksichtigen bedeutet also nicht zwangsläufig, ihn als eine Person zu betrachten. Und so fort. Mit diesen sechs Punkten habe ich versucht zu zeigen, dass als Träger normativ relevanter Eigenschaften angesehen zu werden nicht dasselbe ist, wie als eine Person angesehen zu werden. Nichtsdestotrotz kann beides an sich erstrebenswert sein, Kämpfe um adäquate „Würdigung" motivieren, sich positiv auf die Selbstbeziehungen eines Individuums auswirken oder auf verschiedene Weisen institutionalisiert werden. Beides kann mithin in fruchtbarer Weise als „Anerkennung" verstanden werden. Selbst Personen müssen nicht ausschließlich unter „personifizierenden" Aspekten gewürdigt werden, bestimmte Aspekte der Würdigung können im Hinblick auf Personalität neutral sein. Wir fordern mit Recht adäquate Würdigung für Aspekte unseres Seins, die wir mit Nicht-Personen teilen. Damit ist mein unvollständiger Überblick über engere Sichtweisen in Bezug auf normative Eigenschaften und die von diesen Eigenschaften geforderten oder bedingten Reaktionen, die in Anerkennungsverhältnissen eine Rolle spielen, abgeschlossen. 36 Es zeigt sich, dass nur die uneingeschränkte normativistische Sichtweise in der Lage ist, der ganzen Tragweite des Gedankens der adäquaten Würdigung Rechnung zu tragen.
7. Schluss In diesem Aufsatz habe ich versucht, die Spannung zwischen zwei Gedanken zur Anerkennung, dem Gegenseitigkeits-Gedanken und dem Gedanken der adäquaten Behandlung, zu vermitteln. Ich habe eine begriffliche Unterscheidung vorgeschlagen, mit der eine wesentliche Feststellung über Anerkennungsverhältnisse gemacht werden kann. Die Feststellung ist, dass Α Β erfolgreich „anerkennen" kann, selbst wenn die weiteren Bedingungen, damit Β 36
Eine weitere Sichtweise, die auf Scanion's Theorie beruht, erörtere ich in „Recognition, Needs and Wrongness - Two Approaches" (Laitinen 2009).
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A R T O LAITINEN
„Anerkennung erhält", nicht erfüllt sind. Wenn Α Β (als Träger von normativ signifikanten Eigenschaften) anerkennt, dann wird Β dadurch von A anerkannt. Es müssen keine weiteren Bedingungen erfüllt sein, um „anerkannt zu werden". Es gibt jedoch weitere Bedingungen im Hinblick darauf, „Anerkennung zu erhalten": Β muss A als einen Anerkennungsgeber anerkennen, Β muss A's Reaktion zur Kenntnis nehmen und ihr eine Bedeutung beimessen. Darüber hinaus gibt A nur dann erfolgreich Anerkennung, wenn Β Anerkennung erhält. Anerkennen ist eine Angelegenheit des (mehr oder weniger) adäquaten Reagierens auf den anderen als Träger normativ und evaluativ bedeutungsvoller Eigenschaften. Jemanden anerkennen bedeutet, (mehr oder weniger) adäquat auf ihn als Träger normativ und evaluativ signifikanter Eigenschaften zu reagieren, das heißt, auf ihn in einer Weise zu reagieren, die seine normative Position berücksichtigt. Ein Anerkennungsgeber kann sein, wer fähig ist, auf normativ und evaluativ signifikante Eigenschaften zu reagieren (Beispiele hierfür sind Personen, Gruppen und Institutionen; Tiere stellen demgegeüber einen Grenzfall dar.), während alle Träger normativ und evaluativ signifikanter Eigenschaften (dazu zählen auch Kunstwerke, Maschinen, Tiere, Landschaften) Gegenstand solcher Reaktionen sein können. Das, was Β fordert, wenn er Anerkennung fordert, ist vielleicht genau die Art von Reaktion oder Würdigung, die im Prinzip auf alle Träger evaluativer Eigenschaften ausgedehnt werden kann. Der Bereich der Wesen, die Anerkennung „erhalten" können, ist erheblich eingeschränkter als der Bereich der Entitäten, die als Träger von normativ relevanten Eigenschaften Gegenstand des Reagierens sein können. Denn wenn Β von A Anerkennung „ erhält ", geht dies über ein bloßes Reagieren von A auf Β hinaus. Es bedeutet zugleich, dass Β A's Reagieren zur Kenntnis nimmt, und insbesondere, dass Β seinerseits A ein Mindestmaß an Urteilsfähigkeit zuspricht. Der Bereich der Wesen, die potentiell „Anerkennung erhalten" können, ist gleich dem Bereich der Anerkennungsgeber.
Anerkennen und anerkannt werden
Erfolgreich Anerkennung geben und empfangen
Mögliche Anerkennungsgeber
Personen, Gruppen, Institutionen (darunter Staaten), möglicherweise andere Lebewesen (Tiere)
Mögliche Empfänger
Alle Träger normativer Eigenschaften
Tatsachen, betreffend B's Perspektive, die beeinflussen, ob A's Anerkennung von Β erfolgreich ist Relevante Eigenschaften
Keine
Anerkennungsgeber Β muss A als einen Anerkennungsgeber anerkennen, A's Reaktion zur Kenntnis nehmen und ihr eine wenigstens minimale Bedeutung zumessen
Alle normativ relevanten Eigenschaften
Relevante Reaktionen
Alle Reaktionen, die von den normativen Eigenschaften gefordert oder bedingt werden
Adäquate Anerkennung vs. Missachtung
Entsprechen die Reaktionen dem, was die normativen Eigenschaften des anderen fordern?
Tabelle 3: Übersicht über die
Anerkennungsverhältnisse
323
ADÄQUATE W Ü R D I G U N G UND GEGENSEITIGKEIT
Was die relevanten Eigenschaften und Reaktionen betrifft, besagt die uneingeschränkte normativistische Sichtweise, dass Β als Träger jeder beliebigen normativ relevanten Eigenschaft anerkannt werden kann (es muss sich nicht um eine Eigenschaft handeln, die beispielsweise nur Personen oder Anerkennungsgeber besitzen). Unterschiedliche Eigenschaften ziehen unterschiedliche Formen von Anerkennung nach sich. Die vernunftgeleiteten „Reaktionen", die beim Anerkennen im Spiel sind, können von unterschiedlichster Art sein, zum Beispiel so grundlegende Einstellungen oder Formen der Würdigung wie „Achtung", „Wertschätzung", „Liebe". Die Reaktionen können sich in Handlungen oder in situationsspezifischen kognitiven, affektiven oder konativen Reaktionen ausdrücken. Es kann sich bei ihnen um symbolische Gesten handeln, darum, jemandem einen institutionellen Status zuzuerkennen, oder in der Ausgestaltung von Institutionen oder in praktischen Zielsetzungen usw. Was diese Reaktionen gemeinsam haben, ist, dass es sich um Reaktionen handelt, die von normativ relevanten Merkmalen gefordert oder bedingt werden. Es ist sinnvoll, solche Reaktionen zu erwarten, und ihre Abwesenheit kann zu Recht als ein Mangel an Anerkennung aufgefasst werden. Es ist also nicht notwendig, im Voraus zu definieren, welche Arten von Reaktionen auf normativ relevante Eigenschaften als Anerkennung gelten können oder fur das Erhalten von Anerkennung von Bedeutung sind - es kann sich umjede Art von Reaktion handeln. Vertreter von eingeschränkteren Sichtweisen stehen vor der Herausforderung, zu erklären, warum bestimmte Arten adäquater Reaktionen auf normativ relevante Eigenschaften keine Anerkennung darstellen.37
Aus dem Englischen von Andreas
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H E I K K I IKÄHEIMO
Die Realisierung unserer Bestimmung Anerkennung als ontologischer wie auch ethischer Begriff
Einleitung Seitdem Hegel seine bekanntermaßen schwer verständlichen wie doppeldeutigen Passagen über die faszinierenden Figuren von Herr und Knecht sowie den zwischen beiden stattfindenden „Kampf des Anerkennens" geschrieben hat, ist der Anerkennungsbegriff für Generationen von Philosophen und Sozialwissenschaftlern von inspirierender Wirkung gewesen. Und dennoch ist diesem Begriff zu keiner Zeit ein umfänglicheres Interesse entgegengebracht worden als heute. Möglicherweise aus zum Teil verschiedenen Gründen wurde Anerkennung zeitgleich ein prominentes Thema für die jüngere Kritische Theorie wie für die Fachkreise gegenwärtiger Hegelforschung und in Hegelscher Tradition stehende Philosophen. Wollen wir Anerkennung als etwas begreifen, das heute oder in naher Zukunft den Schwerpunkt eines umfassenden philosophischen „Forschungsprogramms" 1 bildet , dann hängt wahrscheinlich viel davon ab, ob diese gegenwärtig eher zusammenhanglosen, die A n erkennung' betreffenden Diskursstränge in einer gegenseitig fruchtbaren Weise zueinander finden können. Dass dies geschehen wird, ist jedoch alles andere als selbstverständlich. Denn zumindest bisher ist eigentlich unklar geblieben, was genau der gemeinsame Bezugspunkt dieser Diskussionen wäre - wenn es diesen denn geben sollte. Gibt es ein gemeinsames Phänomen oder Konzept, nach dem man auf diesen verschiedenen Wegen sucht, auf denen man über ,Anerkennung' spricht? Im Folgenden möchte ich sowohl für die Integrität wie auch die zentrale Bedeutung des Anerkennungsbegriffs argumentieren. Ich möchte zeigen, dass es in der Tat ein gemeinsames, holistisches Konzept gibt, welches umfassend genug ist, die verschiedenen Diskursstränge zum Thema Anerkennung' miteinander zu verbinden. Darüber hinaus möchte ich darlegen, dass mit diesem Konzept etwas erfasst wird, das von wesentlicher Bedeutung sowohl dafür ist, was wir sind, als auch dafür, wovon unser Leben im Guten wie im Schlechten abhängt. Meine Abhandlung gliedert sich folgendermaßen: Zuerst werde ich zwei eher idealtypische Weisen präsentieren - die ,ontologische' und die ,ethische' - , auf denen man Anerkennung und ihre Bedeutsamkeit in den Blick nehmen kann. In diesem Zusammenhang werde ich dahingehend argumentieren, dass die Interpretation von Anerkennung als der praktischen Einstellung, „etwas oder jemanden für eine Person zu halten", fiir beide Weisen gilt. Zweitens werde ich genauer darlegen, in welchen Hinsichten die so verstandene Anerkennung konAvishai Margalit, „Recognition II. Recognizing the Brother and the Other", in: Aristotelian Society mentary Volume 75 (2001), S. 127-139.
Supple-
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HEIKKI IKÄHEIMO
stitutiv fur die verschiedenen Komponenten ist, die eine voll entfaltete Person ausmachen. Nachdem ich also die ontologische Bedeutung von Anerkennung diskutiert habe, werde ich den Nachweis erbringen, dass Anerkennung (und zwar demselben Konzept nach) vielleicht der grundlegendste Faktor bei der Beurteilung der ethischen Qualifikation von Handlungen, Personen, interpersonalen Beziehungen und allgemein des gesellschaftlichen Lebens ist (drittens und viertens). Fünftens und abschließend werde ich - basierend auf meinen vorhergehenden Überlegungen - der Hegeischen Idee von Anerkennung als Triebkraft geschichtlichen Fortschritts eine etwas andere Wendung geben. Die grundlegende Absicht, die ich in dieser Abhandlung verfolge, besteht darin, einen Weg für einen einheitlichen sozialphilosophischen Zugang zu finden, der sowohl ontologische Tiefe als auch kritische Schärfe besitzt und darauf Bezug nimmt, was möglicherweise die am tiefsten liegenden und wohl kulturübergreifend geteilten Elemente des kollektiven Selbstverständnisses unserer Lebensform sind. Die Mittel für eine solche holistisch philosophische Unternehmung bereitzustellen - darin besteht das bisher uneingelöste Versprechen des Hegeischen Begriffs der Anerkennung.
1. Anerkennung - zwei Herangehensweisen an das Thema Wie bedeutsam ist Anerkennung? In welcher Weise ist sie bedeutsam? Welchen Unterschied macht es, ob Anerkennung in stärkerem oder geringerem Maße - oder überhaupt - vorliegt? In der jüngeren Literatur finden sich zwei grundlegende Antworten auf diese Fragen, auch wenn sie nicht ausdrücklich voneinander unterschieden werden. Einerseits glauben viele Autoren, Anerkennung sei qualitativ bedeutsam für die Welt, weil sie die Qualität des von ihr Beeinflussten ändert. Andererseits glauben andere Autoren, Anerkennung sei in generischer oder ontologischer Hinsicht für die Welt bedeutsam, weil es das von ihr Beeinflusste allererst zu dem macht, was es seinem Wesen nach ist. Hinsichtlich der erstgenannten, „qualitativen" Herangehensweise wird nicht allein behauptet, Anerkennung führe irgendwie zu einer qualitativen Änderung der Dinge, sondern auch, sie mache diese Dinge in der Regel irgendwie besser. 2 Zwei zueinander komplementäre Sichtweisen zeichnen sich hier ab. Erstens wird zu weiten Teilen die Überzeugung vertreten, Anerkennung sei gut für die Selbstidentitäten, Selbstauffassungen, oder allgemein gesagt für die Selbstbeziehungen von Individuen. Anerkennung beeinflusse somit sehr allgemein gesagt das Seelenleben im positiven Sinne. Zweitens wird ebenfalls häufig die Meinung vertreten, Anerkennung sei gut für zwischenmenschliche Beziehungen und damit auch für den Zusammenhalt, die Harmonie oder das „Einbeschlossensein" [„inclusiveness"] von Auch gibt es die Ansicht, Anerkennung führe in manchen Fällen zur Verschlechterung der Dinge. Viel hängt hier davon ab, wie man genau den Begriff definiert. Versteht man Anerkennung' als qualitative oder genetische ,.Identifikation', d. h. im Sinne der Klassifizierung von Dingen - hauptsächlich wohl von Personen und Menschengruppen - , dann kann Anerkennung offensichtlich auf Wegen erfolgen, die schädigende Auswirkungen haben. Klassifikationen können stereotypisieren, aufgezwungen werden etc. Wenn man jedoch mit ,Anerkennung' zumindest in groben Zügen das meint, was Hegel darunter verstanden hatte, dann handelt es sich einfach um einen anderen Begriff als den Begriff / die Begriffe (numerischer, qualitativer oder generischer) Identifikation. Im Einzelnen dazu: Heikki Ikäheimo/Arto Laitinen, „Analysing Recognition - Identification, Acknowledgement and Recognitive Attitudes Between Persons", in: Bert van den Brink/David Owen (Hg.), Recognition and Power, Cambridge 2007, S. 33-56.
D I E REALISIERUNG UNSERER BESTIMMUNG
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Gemeinschaften, Gesellschaften oder des gesellschaftlichen Lebens im Allgemeinen. Anerkennung beeinflusse, anders und wiederum allgemein gesagt, das gesellschaftliche Leben im positiven Sinne. 3 Bei der zweiten, „ontologischen" Herangehensweise wird behauptet, Anerkennung mache das, was sie beeinflusst, allererst zu Dingen derart, die sie ihrem Wesen nach sind. Durch den Prozess der Anerkennung kämen, anders gesagt, irgendwie neue Arten von Dingen zustande. Die qualitative - oder vielleicht sollte man sagen ethische - Zugangsweise findet unter den Anhängern der Kritischen Theorie weite Verbreitung, die sich ohne direkten Bezug auf Hegels Schriften von dessen Anerkennungsbegriff inspirieren lassen. 4 Der ontologische Zugang hingegen ist unter Hegelforschern und Philosophen weit verbreitet, die im Allgemeinen Hegel geneigter wie auch stärker von ihm geprägt sind. So wird von neuhegelianischen Zeitgenossen wie Robert Brandom und Robert Pippin behauptet, Anerkennung sei etwas, wodurch der Bereich des „Geistes" [„spirit"] entsteht, oder wodurch aus bloßen Tieren „geistige Wesen" werden. 5 In welcher Beziehung stehen diese beiden Zugänge - der ethische und der ontologische - zueinander? Sind beide wirklich Zugänge zu ein und demselben Phänomen? 6 Ein Hindernis, das der Beantwortung dieser Frage bzw. der Verständigung zwischen den beiden Herangehensweisen im Wege steht, ist zweifellos das Wort „Geist". Während „Anerkennung" für die Hegeische Linke von je her inspirierend war, gehört „Geist" mit seinen theologischen oder verräterisch metaphysischen „rechtshegelianischen" Konnotationen sicherlich nicht zu dem von den anerkennungstheoretisch inspirierten Kritischen Theoretikern bevorzugten Wortschatz. Wir sollten uns jedoch nicht durch Worte aufhalten lassen. Wenn man nicht in der Lage ist, das, was man sagen möchte, mit anderen Worten zu sagen oder mit 3
Einige Autoren legen besonderen Nachdruck auf die seelischen Auswirkungen von Anerkennung, andere auf die sozialen. Und während einige Autoren nur eine der beiden Seiten im Blick zu haben scheinen, sind andere mit beiden beschäftigt. Axel Honneth ist einer der Autoren, die sich ausdrücklich mit dem psychologischen wie dem ontologischen Aspekt beschäftigen, obwohl dem psychologischen Aspekt bei ihm eine bestimmte Priorität zukommt. Darüber hinaus sind diese qualitativen Themen schon in Honneths Kampf um Anerkennung (Frankfurt/M. 1994, Neuaufl. Frankfurt/M. 2003) mit der, grob gesagt, Meadschen ontologischen Fragestellung verflochten, wie sich Tiere zu Lebewesen mit Selbstbewusstsein entwickeln können. Den ontologischen Zugang zum Thema Anerkennung hält er auch noch in seiner Studie über Verdinglichung aufrecht (Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie, Frankfurt/M. 2005). Überdies ist Honneth, wie auch andere, die den von mir „ontologisch" genannten Zugang zum Thema Anerkennung wählen, stark von Hegel geprägt. Honneths Arbeiten sind, wie ich glaube, unter anderem deshalb so interessant, weil sie sich einer einfachen Zuordnung entziehen.
4
Ein prominentes Beispiel dafür ist Nancy Fraser (siehe ihren Beitrag zu diesem Sammelband). Ich beanspruche in dieser Abhandlung nicht, Fräsers bedeutsamer Arbeit im Einzelnen gerecht zu werden. Darüber hinaus glaube ich, Fraser würde Nachdruck darauf legen, dass ihr Zugang zum Anerkennungsproblem politischer statt ethischer Natur sei.
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Siehe Robert Brandom, „Some Pragmatist Themes in Hegel's Idealism. Negotiation and Administration in Hegel's Account of the Structure and Content of Conceptual Norms", in: European Journal of Philosophy, 7/2, (1999) S. 164-189; ders., „The structure of desire and recognition: Self-consciousness and self-constitution", in: Philosophy and Social Criticism, 33 (2007), S. 127-50; Robert Pippin, „What is the Question for which Hegel's Theory of Recognition is the Answer?", in: European Journal of Philosophy, Bd. 8, Nr. 2 (2000), S. 155-172. Vgl. Terry Pinkards Beitrag zu diesem Sammelband.
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Vgl Robert Sinnerbrinks Diskussion der Beziehung zwischen dem „ontologischen" und dem „normativen" Sinn von ,Anerkennung' in: ders., „Recognitive Freedom. Hegel and the Problem of Recognition", in: Critical Horizons, Bd. 5, Nr. 1 (2004), S. 272-295.
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den Worten der anderen, wird man es generell schwer haben, mit jenen zu kommunizieren, die eine andere Sichtweise haben. Im Folgenden schlage ich eine Interpretation vor, die dazu beitragen soll, die Kluft zwischen den beiden genannten Zugängen zum Thema Anerkennung und seiner Bedeutsamkeit zu schließen. Zuerst möchte ich allerdings auf etwas hinweisen, das mittlerweile in der Hegelforschung mehr oder weniger allgemein anerkannt ist, jedoch noch nicht jedem gänzlich einsichtig sein mag, der sich fur das Thema Anerkennung interessiert. Im Unterschied zur traditionellen Lehrbuchperspektive auf Hegel ist „Geist" für ihn kein Name für eine bestimmte Entität und kein transzendentes Prinzip jenseits oder oberhalb der Erscheinungswelt. Stattdessen versteht man dies am besten als Titelwort oder Titelsatz für eine große Anzahl miteinander verbundener philosophischer Themen, die alle etwas mit Faktoren zu tun haben, die uns oder unsere Lebensform grundsätzlich von bloßen Tieren oder einer bloß natürlichen Lebensform unterscheiden.7 Wenn man wie ich diese Lesart für korrekt und ertragreich hält, kann man dann fragen, was genau dieses „wir" als Generalthema der Geistphilosophie im Hegeischen Sinne ist. Die Antwort darauf würde uns eine Übersetzung dessen liefern, wovon Hegel unter dem Allgemeintitel „Geist" gehandelt hat, und das wiederum würde uns in den Stand setzen, an ihn anzuknüpfen. Die Antwort lautet: Das fragliche Wir sind wir Personen. Um Hegels Rede vom Geist in die Ausdrucksweise gegenwärtiger Philosophie zu übersetzen, schlage ich, anders gesagt, vor, sie als Rede über das „Personsein" [„personhood"] zu verstehen. Der Vorstellung von Anerkennung als demjenigen, das Geist aus bloßer Natur destilliert, kann dadurch Ausdruck verliehen werden, dass man sagt, Anerkennung sei konstitutiv für die grundlegenden Merkmale und Strukturen, anhand deren Personen und ihre Lebenswelt von Tieren und deren natürlicher Umwelt unterscheidbar sind - oder die Lebensform von Personen von einer bloß tierischen Lebensform unterschieden werden kann.8 Indem wir die Rede vom „Geist" als jene über „Person" verstehen, haben wir bereits einen Kontakt zwischen dem ontologischen und dem ethischen Zugang zum Problem der Anerkennung hergestellt. So ließe sich jetzt sagen, dass Anerkennung aus ethischem Blickwinkel als Die Begriffe ,Titelwort' und ,Titelsatz' übernehme ich von Pirmin Stekeler-Weithofer. Zu Stekeler-Weithofers Verständnis philosophischer Großbegriffe wie ,Geist', ,Bewusstsein', ,'Vernunft' oder ,Wille' als Titelwörter siehe: Ders., „Zur Logik des ,Wir' - Formen und Darstellungen gemeinsamer Praxis", in: Matthias Gutman/Dirk Hartmann/Walter Zitterbarth (Hg.), Kultur - Handlung - Wissenschaft. Weilerswist 2002, S. 216-240. Wer glaubt, dies sei einer Hegelinterpretation unangemessen, möge in Betracht ziehen, was Hegel in seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (Teil III, Theorie Werksausgabe, Bd. 10, Frankfurt/M. 1970) unter dem Titel „Philosophie des Geistes" tatsächlich diskutiert: unter dem Titel „Der subjektive Geist" emotionale, intentionale und seelischen Merkmale von Personen (oder in Hegels anthropozentrischer Terminologie: des „Menschen"); unter dem Titel „Der objektive Geist" gesellschaftliche und institutionelle Strukturen, die charakteristisch fur das kollektive Leben von Personen sind (natürlich vom Blickwinkel ihrer idealen Konfiguration her gesehen); unter dem Titel „Der absolute Geist" die verschiedenen Formen, die es Personen (im Unterschied zu bloßen Tieren) ermöglichen, sich das Ganze ihrer Lebensform und deren Stellung im Ganzen des Universums vorzustellen und darüber zu reflektieren. Eine Quelle der Konfusion besteht möglicherweise darin, dass „Person" und „Persönlichkeit" für Hegel zugleich termini technici sind und seine Verwendungsweise dieser Worte mit der meinigen nicht genau übereinstimmt. An dieser Stelle muss der Hinweis genügen, dass mein Wortgebrauch von „Person" nicht dem speziell Hegeischen folgt. Er ist statt dessen der Widerhall einer breiten Palette zeitgenössischer und klassischer Verwendungsweisen.
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etwas zu verstehen ist, das unser Leben als Personen in verschiedenen Hinsichten verbessert, während Anerkennung unter ontologischem Aspekt als etwas verstanden wird, das uns überhaupt erst zu Personen macht. So gesehen läuft die Frage, ob der ethische und der ontologische Zugang zur „Anerkennung" tatsächlich dasselbe Thema betreffen, auf jene hinaus, ob es wirklich so etwas gibt, das man „Anerkennung" nennt und das eine solche ethisch-ontologische Doppelrolle in unseren Leben als Personen spielt. Meine These ist, dass es das gibt. Im Folgenden werde ich mich auf ein bestimmtes Anerkennungskonzept konzentrieren, dem zufolge Anerkennung genau ein solches ethisch-ontologisches Phänomen ist. Dieser Konzeption entsprechend, die ich andernorts eingehender diskutiert habe, besteht Anerkennung aus praktischen Einstellungen, denen zufolge Subjekte andere Subjekte fiir Personen halten.9 Subjekte werden in mehr als einer Hinsicht durch Anerkennung zu Personen, also dadurch, dass sie andere fur Personen halten und von anderen für Personen gehalten werden. Auch das Ausmaß, in dem Personen so gemeinsam anerkennen und anerkannt werden, ist in mehr als einer Hinsicht ein entscheidender Maßstab für die Einschätzung der ethischen Qualität oder der Güte des Lebens von Personen. Andere als Personen anzuerkennen, von anderen als Personen anerkannt zu werden und somit eine Person zu sein, ist, so behaupte ich, im gleichen Maße ontologisch wie ethisch grundlegend für unsere Lebensform.
2. Anerkennung und die Konstitution des Personseins Beginnen wir mit einer einfachen Beobachtung. Es gibt Lebewesen, die sich von anderen Lebewesen, denen sie ansonsten gleichen, dahingehend unterscheiden, dass sie ihre Welt durch Werte und gesellschaftliche Normen organisieren oder als durch Werte und gesellschaftliche Normen organisiert erfahren. Solche Lebewesen - also wir selbst - nennen wir Personen. Die anderen Lebewesen, denen wir ansonsten gleichen, sind jene Tiere, die keine Personen sind. Nennen wir sie „bloße Tiere". 10 Wenn Philosophen darüber sprechen, was uns Personen von bloßen Tieren abhebt, so konzentrieren sie sich oftmals auf eine von zwei Dimensionen, in denen wir Personen uns von
9
Siehe dazu Heikki Ikäheimo, „On the Genus and Species of Recognition", in: Inquiry. 45/4 (2002), S. 4 4 7 ^ 6 2 ; Ders./Arto Laitinen, „Analysing Recognition - Identification, Acknowledgement and Recognitive Attitudes Between Persons", in: Bert van den Brink/David Owen (Hg.), Recognition and Power. Cambridge 2007; Heikki Ikäheimo, „Recognizing Persons", in: Ikäheimo/Laitinen, Dimensions of Personhood, a. a. O. In diesen Texten, wie auch im Folgenden gebrauche ich den Ausdruck „etwas / jemanden für eine Person halten".
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Es gibt eine große Versuchung wie auch eine lange Tradition, zu welcher auch Hegel gehört, die Unterscheidung zwischen Personen und „bloßen Tieren" mit jener zwischen Menschen und nichtmenschlichen Tieren zu identifizieren. Ob alle Personen Menschen sind oder alle Menschen Personen - das sind meiner Interpretation zufolge empirische Fragen. Darüber hinaus ist die Unterscheidung zwischen Personen und „bloßen Tieren" eine terminologische Vereinfachung. Was ich nämlich mit Person „im voll entfalteten Sinn" meine, hat verschiedene Bestandteile, die sich alle (oder nahezu alle) allmählich herausbilden. Einen Überblick über die philosophischen Diskussionen um das Thema Person bieten Dieter Sturma, Die Philosophie der Person, Paderborn 1997 und Ikäheimo/Laitinen, Dimensions of Personhood, a. a. O. Ich diskutiere und plädiere für das hier vorgestellte mehrdimensionale und mehrschichtige Modell voll entfalteten Personseins eingehender in: „Recognizing Persons", in: Ikäheimo/Laitinen, Dimensions of Personhood, a. a. O.
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bloßen Tieren unterscheiden: entweder auf die Dimension der Werte oder die der Normen. Als ein Beispiel fur die erstgenannte Gruppe, die Person in ätiologischem Sinne begreift, trifft Harry Frankfurt bekanntermaßen die Unterscheidung zwischen Personen und Subjekten, die keine Personen sind und die er „Wantons" nennt, indem er erklärt, Wantons seien unmittelbar von Trieben gesteuert, Personen hingegen in der Lage, sich von diesen unmittelbar motivierenden Zuständen zu distanzieren. Personen sind für Frankfurt, kurz gesagt, Lebewesen, die fur etwas Sorge tragen und damit ihre Welt im Lichte von Werten erfahren, welche sich nicht auf ein Begehren im unmittelbaren Sinne von Tieren oder Wantons reduzieren lassen." Das ist es auch, was Frankfurt zufolge fur Personen - im Unterschied zu triebgesteuerten Wantons und nichtmenschlichen Tieren - Freiheit ausmacht. Zur letzteren Gruppe von Philosophen, welche den Unterschied zwischen Personen und bloßen Tieren deontologisch begreifen, gehören zeitgenössische Neuhegelianer wie der bereits genannte Robert Brandom. Brandom versteht die Verschiedenheit von Tieren und „uns" so, dass, wie er sagt, Tiere von Trieben gesteuert sind und ihre Welt - bestimmt durch den unmittelbaren Anspruch ihrer natürlichen Bedürfnisse - unter dem Aspekt „erotischer Bedeutsamkeit" [„erotic significances"] erfahren. Hingegen organisieren wir - in meiner Auffassung: wir Personen - unsere Welt bezogen auf kollektiv autorisierte wie auch verwaltete Normen und erfahren sie dadurch. Auch dies bedeutet, dass Personen im Unterschied zu bloßen Tieren in charakteristischer Weise frei sind. Für Brandom und andere zeitgenössische Neuhegelianer, die Hegels Nähe zu Kants legalistischer Auffassung von Erkenntnis und Handeln betonen, besteht nämlich Freiheit in der Leitung durch kollektiv selbstauferlegte Normen. 12 Sowohl die axiologische als auch die deontologische Ansicht trifft zweifellos wesentliche Elemente derjenigen unserer Intuitionen, die die Unterschiede zwischen Personen und bloßen Tieren betreffen. Deshalb scheint der Versuch kaum sinnvoll zu sein, die eine Sichtweise auf die andere zu reduzieren. Im Widerspruch zu dem Eindruck, den der zeitgenössische - man könnte sagen deontologische - Neuhegelianismus erweckt, behaupte ich auch, dass Hegels Konzeption geistiger Subjekte - in unserer Terminologie: Personen - in konzeptionell bedeutsamer Weise sowohl deontologische als auch axiologische Elemente beinhaltet. Dies betrifft die Tatsache, dass Hegels Begriff der Anerkennung zwischen Personen - interpretiert im SinDie Unterscheidung zwischen Wantons und Personen hatte Frankflirt ursprünglich im Zusammenhang einer Konzeption von Wünschen höherer Ordnung entwickelt. Siehe dazu Harry Frankfurt, „Willensfreiheit und der Begriff der Person", in: ders., Freiheit und Selbstbestimmung. Ausgewählte Texte, hg. v. Monika Betzier und Barbara Guckes, Berlin 2001, S. 65-83. In seinen späteren Schriften hat er den Begriff von Wünschen höherer Ordnung dann durch den Begriff der Sorge, in letzter Zeit durch den der Liebe ersetzt. Der letztgenannte Schritt bringt Frankfurt in Berührung mit Hegel. Siehe Harry Frankfurt, Reasons of Love, Princeton 2004. 12
Zu Brandoms Darstellung der möglichen Entwicklung vom Niveau animalischer Triebsteuerung hin zur Stufe gegenseitiger Zuschreibung von Autorität und damit „Selbstbewusstsein" siehe Robert Brandom, „Selbstbewusstsein und Selbst-Konstitution", in Hegels Erbe, hg. v. Christoph Halbig, Michael Quante und Ludwig Siep, Frankfurt/M. 2004, S. 46-77. Zu Brandoms Vorstellung von Freiheit als durch kollektiv selbstauferlegte Normen realisierte Beschränkung sowie die Rolle, welche der Anerkennung dabei zukommt, siehe u. a. Robert Brandom, „Freedom as Constraint by Norms", in: American Philosophical Quarterly 16 (1979), S. 187-196; ders., Making It Explicit: Reasoning, Representing and Discursive Commitment, Cambridge/ Mass. 1994, dtsch.: Expressive Vernunft. Begründung, Repräsentation und diskursive Festlegung, übersetzt von Eva Gilmer und Hermann Vetter, Frankfurt/M. 2000; ders., „Some Pragmatist Themes in Hegel's Idealism", a. a. O. Indem ich auf Brandom als Beispiel eines deontologischen Zugangs zum Thema Geist bzw. Person verweise, erhebe ich nicht den Anspruch, seiner Position in ihren Einzelheiten gerecht zu werden.
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ne von Einstellungen, „etwas oder jemanden für eine Person zu halten" - sowohl eine deontologische als auch eine axiologische Dimension besitzt. Dass Anerkennung verschiedene Dimensionen hat, oder genauer gesagt, dass Einstellungen der Anerkennung eine Gattung mit mehreren Arten ist - darin liegt eine der wesentlichen anerkennungstheoretischen Einsichten von Axel Honneth. Diese Erkenntnis ist fur die Überlegungen, die ich hier vorbringen werde, von zentraler Bedeutung - obwohl ich mich hierbei auf zwei Dimensionen konzentrieren werde - Respekt / Achtung und Liebe - , wohingegen Honneth zwischen drei verschiedenen anerkennungsbezogenen Einstellungen unterscheidet. 13 Achtung / Respekt und Liebe sind in den relevanten Hinsichten folglich insofern miteinander verbunden, als sie jeweils Teilklassen der Gattung anerkennungsbezogener Einstellungen bilden und damit, wie ich glaube, verschiedene Weisen sind, „etwas oder jemanden für eine Person zu halten". 14 Beide sind, so mein Vorschlag, von konstitutiver Bedeutung für miteinander korrespondierende Dimensionen unseres Personseins: Während das, was ich „Achtung" / „Respekt" nenne, grundlegend für die deontische Dimension im Begriff der Person ist (auf welche deontologische Neuhegelianer abheben), ist das von mir mit „Liebe" Gemeinte konstitutiv für deren axiologische Dimension, auf welche sich Philosophen wie Frankfurt konzentrieren. Mit der Rede von „Dimension" möchte ich betonen, dass sowohl die deontologische wie die axiologische Darstellung Merkmale hervorhebt, bei welchen es sich um wesentliche, aufeinander nicht reduzierbare und doch miteinander verbundene Bestandteile dessen handelt, was es heißt, eine Person im voll entfalteten Sinne zu sein. Allein dies macht deutlich, dass Personsein ein komplexer Begriff ist. Eine weitere Quelle der Komplexität - wie auch der ziemlich verwirrenden Natur der philosophischen Literatur zum Thema Personsein - besteht in der Tatsache, dass in einigen Darstellungen zu diesem Thema Personsein im Sinne von seelischen Befähigungen verstanden wird, in anderen im Sinne eines bestimmten Status. Somit gibt es einerseits sozusagen „psychologische Konzepte des Personseins", denen zufolge eine Person zu sein bedeutet, bestimmte personenkonstitutive Merkmale oder Fähigkeiten zu besitzen, die Nichtpersonen 13
Honneth nennt die drei anerkennungsbezogenen Einstellungen „Liebe", „Achtung" / „Respekt", „Wertschätzung" (siehe Honneth, Kampf um Anerkennung). Meine Interpretation von Achtung / Respekt als anerkennungsbezogene Einstellung weicht von Honneths Interpretation ab, weil ich deutlicher zwischen der Achtung, die man jemandem als einer Autorität entgegenbringt, und der Achtung* einer Person als Inhaber von Rechten differenziere (siehe auch Fußnote 20). Aus Platzgründen lasse ich die dritte Einstellung hier außer Betracht, wie auch deshalb, weil mir deren genauer ontologischer Stellenwert noch nicht völlig klar ist. Siehe dazu jedoch meine Abhandlung „A Vital Human Need - Recognition as Inclusion in Personhood". European Journal of Political Theory, 2009, 8(1), S. 3 Í —45. Dort plädiere ich u. a. dafür, einerseits eine dritte anerkennungsbezogene Einstellung, die ich „kontributives Werten" [„contributive valuing"] nenne, als konstitutiv für die kooperativen Strukturen der Lebenswelt von Personen zu betrachten; diese sollte man andererseits jedoch streng vom instrumentalen Werten unterscheiden. Eine eingehendere Untersuchung dieser Einstellung findet sich in Heikki Ikäheimo/Arto Laitinen, „What is Esteem? Two rival accounts" (im Erscheinen).
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Man beachte, dass es mir hier nur um Anerkennung zwischen Personen bzw. interpersonale Anerkennung geht. Hegel hingegen nutzt „Anerkennung" auch in anderen Hinsichten. Mein Verständnis der „Art" interpersonaler Anerkennung soll nicht all die weniger systematischen Weisen umfassen, in denen Hegel diesen Terminus verwendet. Mir geht es stattdessen dabei um eine rationale Rekonstruktion dessen, was m. E. eindeutig ontologisch und ethisch grundlegende Formen interpersonaler Anerkennung generell gesprochen für den Bereich des Geistes sind.
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(wie etwa Tiere) nicht besitzen. Andererseits gibt es „Statuskonzepte des Personseins", denen zufolge eine Person zu sein bedeutet, einen personenkonstitutiven Status (oder deren mehrere) zu besitzen, den (oder die) Nichtpersonen (wie etwa Sklaven) nicht haben. 15 Außerdem beinhaltet Personsein in dem Sinne, einen für Personen konstitutiven Status (oder deren mehrere) zu besitzen, zwei zueinander verschiedene, jedoch üblicherweise nicht hinreichend voneinander unterschiedene Vorstellungen. Einer dieser Vorstellungen zufolge, die ich „institutionelles Statuskonzept des Personseins" nenne, bedeutet ein Person zu sein, kollektiv verwaltete „institutionelle oder deontische Befugnisse" [„institutional or deontic powers"] zu besitzen - paradigmatisch gesehen sind das Grundrechte - , die Personen von Nichtpersonen unterscheiden. Eine andere in den personentheoretischen Diskussionen präsente, dort jedoch noch weniger explizit gemachte Vorstellung besteht darin, dass eine Person zu sein bedeutet, in den Augen anderer eine fur Personen konstitutive soziale oder interpersonale Bedeutsamkeit (oder mehrere solcher Bedeutsamkeiten) zu besitzen - oder, kurz gesagt, in konkreten Interaktionszusammenhängen von anderen als eine Person anerkannt zu werden. Dieses letztere Konzept, das ich das „interpersonale Statuskonzept des Personseins" nenne, wird schnell mit dem institutionellen Statuskonzept des Personseins vermengt - was man allerdings nicht tun sollte. Ob man Rechte oder andere personenkonstitutive deontische Befugnisse besitzt, die einem den institutionellen Status einer Person innerhalb des Institutionssystems einer gegebenen Gemeinschaft oder Gesellschaft verleihen, ist eine Sache. Eine andere Sache ist es jedoch, ob man von konkreten anderen im Lichte personenkonstitutiver Bedeutsamkeiten gesehen und behandelt wird, die einen in deren Augen zur Person machen und einem damit den interpersonalen Status einer Person in konkreten Interaktionszusammenhängen verleihen. Auch hier bin in der Überzeugung, dass die psychologischen, interpersonalen und institutionellen Begriffe verschiedene, aufeinander nicht reduzierbare und doch miteinander verbundene Bestandteile dessen erfassen, was es heißt, eine Person im voll entfalteten Sinne zu sein. Diese Bestandteile nenne ich „Schichten". Alle erwähnten Vorstellungen über das Personsein - die deontologische, axiologische, psychologische Ansicht wie auch die beiden 15
Ein Beispiel des psychologischen Personenbegriffs ist die von Lynne Rudder Baker entwickelte Konzeption, derzufolge Personen durch die psychologische Eigenschaft oder Befähigung von Selbstbewusstsein bestimmt werden, genauer gesagt durch das, was sie die „Perspektive der ersten Person" nennt. Siehe Lynne Rudder Baker, Persons and Bodies: A Constitution View. Cambridge 2000; dies., „Persons and Other Things" in: Ikäheimo/Laitinen, Dimensions ofPersonhood, a. a. O. Ein Beispiel des Statuskonzepts der Person ist die von Michael Tooley entwickelte Vorstellung, derzufolge eine Person zu sein bedeutet, ein „ernsthaftes Lebensanrecht" zu besitzen. Siehe Michael Tooley, „Abortion and Infanticide", Philosophy and Public Affairs (1972), Bd. 2, Nr. 1. Obwohl Personsein verschiedentlich entweder im Sinne bestimmter psychologischer Eigenschaften oder Befähigungen definiert wird oder aber statusbezogen, wird doch in den meisten personentheoretischen Diskussionen sowohl auf Befähigungen als auch auf Status verwiesen. Eine Quelle der Konfusion in den Debatten besteht jedoch darin, dass Autoren des Öfteren über das Personsein sowohl unter dem Aspekt von Befähigungen als auch unter dem des Status sprechen, ohne jedoch zwischen diesen beiden Redenweisen zu unterscheiden. Die mehr oder weniger übliche Klassifikation von Personenkonzepten in „moraltheoretische" und „metaphysische" ist da wenig hilfreich, denn ein „moraltheoretisches Personenkonzept" lässt sich sowohl psychologisch als auch statusbezogen definieren, was auch häufig getan wird. Diese übliche Klassifikation ist auch insofern nicht von Nutzen, als sie a priori die durchaus praktikable Möglichkeit ausschließt, dass moralische Befähigungen und / oder Status zumindest Teil dessen sind, was Personen metaphysisch von anderen Lebewesen unterscheidet.
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statusbezogenen Ansichten - lassen sich schematisch so anordnen, dass sie der abgebildeten Tabelle gemäß auf verschiedene Dimensionen und Schichten voll entfalteten Personseins verweisen. Die in der Tabelle aufgeführten Bestandteile mögen auf den ersten Blick eigenartig erscheinen. Sie werden jedoch je fur sich nachfolgend erläutert. Deontische Dimension des Personseins
Axiologische Dimension des Personseins
Psychische Schicht des Personseins
Befähigung zur Ausübung deontischer Koautorität
Befähigung zum intrinsischen Werten oder zur Fürsorge
Interpersonale (Status-)Schicht des Personseins
Bedeutsamkeit deontischer Koautorität
Jemandes Bedeutsamkeit, dessen Glück von intrinsischer Bedeutung ist
Institutionelle (Status-)Schicht des Personseins
Personenkonstitutive deontische Befugnisse (Grundrechte etc.)
Korrespondierende Anerkennungseinstellung
Achtung / Respekt
Liebe
Bestandteile voll entfalteten Personseins
Die allgemeine Vorstellung hierbei ist, dass ein jeder der in der Tabelle aufgelisteten Bestandteile - die psychischen Befähigungen zur Ausübung „deontischer Koautorität" und zum intrinsischen Werten oder zur Fürsorge, der interpersonale Status von Koautorität und der des interpersonalen Status einer Person, deren Glück von intrinsischer Bedeutung ist, wie auch einige Grundrechte oder andere „deontische Befugnisse" 16 - als „personenkonstitutive" Merkmale oder wesentliche Bestandteile des Personseins verstanden werden kann und verstanden werden sollte. Denn das Fehlen eines der Bestandteile oder dessen Verlust lässt sich gleichermaßen als Fehlen oder Verlust eines Teils dessen verstehen, was Individuen zu ganzheitlichen oder voll entfalteten Personen macht. So weit ich sehen kann, ist auch keiner der Bestandteile auf einen anderen reduzierbar, auch wenn sie in vielfacher Hinsicht miteinander verbunden sind. Und es sind diese Verbindungen, bei denen Anerkennung von zentraler Bedeutung ist. Sie sind es, die ,voll entfaltetes Personsein' zu einem holistischen Phänomen mit dynamischer Innenstruktur und Einheit machen. Dies möchte ich im Folgenden erläutern.
Achtung / Respekt und die deontische Dimension des Personseins Um mit der deontischen Dimension des Personseins zu beginnen: personentheoretisch bezeichnend ist mithin hier, in dieser Dimension, die Tatsache, dass Personen ihr Leben vermittels kollektiv selbstautorisierter Normen regeln und fuhren. Um eine solche kollektive Normverwaltung realisieren zu können, müssen die fraglichen Subjekte zwei generelle Eigenschaften aufweisen: erstens die psychischen Befähigungen, die für die Teilnahme an der 16
„Deontische Koautorität" kann man, wenn man möchte, auch als eine Mela-Befugnis verstehen. Denn im Grunde genommen handelt es sich dabei um die Befugnis, (gemeinsam mit anderen) festzulegen, wem welche „deontischen Befugnisse" zukommen (Rechte, Verantwortlichkeiten etc.).
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Normverwaltung oder für deontische Koautorität maßgeblich sind (diepsychische Schicht der deontischen Dimension des Personseins). Zweitens aber müssen sie die interpersonale Bedeutsamkeit oder den Status der Koautorität füreinander besitzen (die interpersonale Schicht der deontischen Dimension des Personseins). Die letztere Eigenschaft ist erforderlich, weil es keine kollektive Normverwaltung ohne Bildung eines „Wir" bzw. einer kollektiven Koautorität geben kann, wobei Subjekte sich gegenseitig als Koautoren verstehen und einander somit diesen Status zuerkennen. Dies gilt für alle sozialen Normen - von begrifflichen Normen bis hin zu Normen der Moral - in dem Maße, als ihnen als sozialen Normen wirklich freiwillig gefolgt wird, sie durch die Mitglieder sanktioniert werden und somit innerhalb eines Kollektivs wirken. 17 Andere werden hier also als solche verstanden, welche die das gemeinsame Sozialleben regulierenden Normen koautorisieren. Akzeptiert man diese Sichtweise als zur Gattung interpersonaler Anerkennung gehörende Art, dann benötigt man eine Bezeichnung, wodurch sie bestimmt und von anderen Teilen unterschieden werden kann. Dafür geeignet scheint mir, seiner Kantianischen, legalistischen Konnotationen wegen, der Titel Achtung oder Respekt zu sein.18 Den deontologischen Neuhegelianern folgend, können wir nunmehr sagen, eine Person sei frei oder autonom im Sinne der Führung durch kollektiv selbstautorisierte Normen, wenn sie die entsprechenden anderen als Koautoritäten der Normen und Institutionen eines Kollektivs achtet und im Gegenzug von ihnen im gleichen Sinne geachtet wird. Bei der institutonellen Schicht des Personseins handelt es sich um einen Spezialfall von Normen und Institutionen, die innerhalb einer solchen Lebensform entstehen können. Eine Person in diesem institutionellen Sinne zu sein bedeutet, bestimmte deontische Befugnisse oder Status wie etwa Grundrechte (ζ. B. das Recht auf Leben und Eigentum) zu besitzen. Eine Person in diesem institutionellen Sinne zu sein, hängt damit davon ab, dass die für die Insti17
Man beachte, dass dies nicht die Behauptung impliziert, dass alles, was wir Normen nennen, soziale Normen in diesem Sinne sind. Müssen aber soziale Nonnen selbstautorisiert sein? Lassen sie sich nicht durch eine außenstehende Autorität auferlegen? Zu betonen ist, dass es hier nicht um den Ursprung von Normen geht: Nicht wer zufälligerweise ein Gesetz schreibt, ist das Thema, sondern wessen Autorität es für ein Kollektiv zu einem Gesetz macht. Hegel zufolge gibt es so etwas wie eine völlig äußerliche Autorität überhaupt nicht. Denn auch der Herr bedarf der Anerkennung durch den Knecht und Gott der Anerkennung seitens des Gläubigen, damit dem Herrn bzw. Gott Autorität gegenüber dem Knecht bzw. Gläubigen zukommen kann. Das heißt, Autorität ist zwangsläufig eine Beziehung der Koautorität. Andererseits ist bloßer Zwang überhaupt keine Autorität und mittels roher Gewalt durchgesetzte Verordnungen sind alles andere, nur keine sozialen Normen. Kurz gesagt: Kollektive Selbstautorisierung ist notwendig, damit es innerhalb eines Kollektivs soziale Normen gibt. Für die meisten Fälle sozialer Normen und Institutionen gilt folgende weitere Tatsache, die bedeutsam für das moralische und politische Urteilsvermögen hinsichtlich bestimmter Beziehungen, Gemeinschaften oder Gesellschaften ist: Nicht jeder, dessen Leben sie regeln, wird in gleichem Maße als ein solcher respektiert, der sie autorisiert. Was dem einen Teil der Bevölkerung eine aus freien Stücken akzeptierte Institution ist, mag anderen, deren Autorität nicht gefordert ist oder nicht in gleichem Maße zählt, eher einem Zwangssystem gleichen. Indoktrination und Ideologie fordern dieses eher einfache Bild heraus. Diese Schwierigkeiten können hier jedoch nicht diskutiert werden.
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Deontologische Neuhegelianer nennen das einfach „Anerkennung". Denn sie unterscheiden nicht zwischen verschiedenen anerkennungsbezogenen Einstellungen. Hegel nutzt die Termini „Achtung" und „Respekt" in anerkennungstheoretischen Zusammenhängen eher selten. Da aber Liebe für ihn eine zur Anerkennung gehörige Art ist, diese j edoch nicht erschöpft, benötigen wir andere Termini, um auch diesen anderen Arten gerecht zu werden.
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tuierung von Normen erforderlichen Bedingungen vorliegen. So verstanden ist der deontisch interpersonale Status einer Person - der eine solche Bedingung ist - in ontologischem Sinne wesentlicher als der institutionelle Personenstatus. Auch ist zu beachten, dass Rechtsbesitz ohne Rechtsautorisierung bedeutet, dem gerade genannten Sinne nach nicht frei zu sein. Verschaffen wir uns an dieser Stelle einen kurzen Überblick über die konstitutive Rolle, welche Anerkennung als Achtung / Respekt in Hinblick auf die deontische Dimension unseres Personseins spielt. Erst einmal ist Achtung / Respekt für die interpersonale Schicht von konstitutiver Bedeutung, weil eine Person im interpersonalen Sinn zu sein, den interpersonalen Status von Koautorität zu besitzen, schlechthin das gleiche ist wie von anderen geachtet zu werden. Zweitens jedoch ist Achtung / Respekt auch für die psychische Schicht des Personseins, und zwar in zwei verschiedenen Hinsichten, konstitutiv. Einerseits gehört die Befähigung, andere zu achten, selbst zu den deontischen personenkonstitutiven Fähigkeiten. Wenn man nämlich andere als Koautoritäten nicht achtet, ist es unmöglich, gemeinsam mit ihnen koautoritativ zu agieren. Andererseits ist Achtung / Respekt für diese Fähigkeiten konstitutiv. Deren Entwicklung und Aufrechterhaltung sind nämlich durch die Achtung des Subjekts dieser Fähigkeiten durch andere ursächlich bedingt und damit dadurch, dass dieses Subjekt in das „Wir" oder Kollektiv der Normverwaltung einbezogen ist, die unsere Lebensform wesentlich charakterisiert. Wird ein Kind von den fur dieses Kind maßgeblichen anderen nicht als ein aktives Mitglied geachtet, dem der Status einer Autorität entsprechend den (tatsächlichen und / oder potenziellen) Fähigkeiten zur Autorisierung zukommt, wird das Kind somit nicht in die normativen, für die Lebensform von Personen wesentlichen Netzwerke integriert, dann werden sich diese Fähigkeiten schwerlich optimal entwickeln oder verwirklichen können. Und wie wir nur allzu gut wissen, kann zumindest permanente Missachtung seitens maßgeblicher anderer auch die personenkonstitutiven Fähigkeiten Erwachsener schädigen.19 Drittens schließlich ist, wie bereits bemerkt, institutionelles Personsein qua gesellschaftliche Institution von Achtung / Respekt abhängig, weil es weder gesellschaftliche Normen noch irgendwelche Institutionen geben kann, ohne dass einige Individuen einander als solche achten, die den für jegliche personale Lebenswelt konstitutiven Raum sozialer Normen koautorisieren oder mitverwalten. 20
Liebe und die axiologische Dimension des Personseins Da weder Liebe als eine Form von Anerkennung noch das Ganze dessen, was ich die axiologische Dimension des Personseins nenne, im neueren deontologischen Neuhegelianismus debattiert worden ist, scheint es sinnvoll zu sein, dazu einige ausfuhrlichere Erwägungen 19
Es ist diese zweite Hinsicht, in der Anerkennung für die personenkonstitutiven psychischen Fähigkeiten bedeutsam ist, der im Zentrum von Axel Honneths anerkennungstheoretischem Werk steht.
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Es ist wichtig, an dieser Stelle zwischen der Achtung, die man jemandem entgegenbringt, der gesellschaftliche Normen und Institutionen autorisiert, von der Achtung* zu unterscheiden, die jemandem als Inhaber institutioneller oder deontischer Status, wie etwa der Grundrechte, zukommt. Jemanden als Inhaber von Rechten zu achten* ist damit vereinbar, ihm die Achtung als einer Autorität in Bezug auf seine Rechte oder die anderer zu verwehren. Deshalb ist die Annahme, dass im Besitz von Rechten zu sein und geachtet* zu werden die Selbstachtung derjenigen befördere, die Rechte innehaben, weniger offensichtlich, als zuweilen angenommen wird. Vgl. Joel Feinberg, „The Nature and Value of Rights", in: Ders., Rights, Justice, and the Bounds of Liberty - Essays in Social Philosophy, Princeton 1980.
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anzustellen. Dabei ist die Feststellung von Wichtigkeit, dass Individuen keine Personen in der deontischen Dimension sein können, wenn sie nicht Personen in der axiologischen Dimension sind. Dies lässt sich durch einige einfache Fragen leicht verdeutlichen: Was bewirkt denn überhaupt personenspezifisch das Interesse oder das Motiv, als Person sein Leben durch gesellschaftliche Normen zu organisieren? Warum kümmern wir uns qua Personen überhaupt um gesellschaftliche Normen - wohingegen jene Tiere, die keine Personen sind, oder Frankfurts Wantons dies nicht tun? Die offenkundige Antwort ist, dass wir qua Personen Anliegen haben, die bloßen Tieren fehlen. Im Unterschied zu Tieren, die von unmittelbaren Begierden getrieben werden, sorgen sich Personen um ihr Leben in einem allgemeineren Rahmen und, so weit es geht, bezogen auf das Leben im Ganzen. Dies ist es, was Personen einen Wertehorizont sowie eine Motivationsstruktur verschafft, die weit komplexer sind als jene der bloß begehrenden Tiere. „Leben" meint hier offenkundig nicht das bloße Leben im biologischen Sinne. Auch ist Personen typischerweise nicht allein das biologische Überleben von Belang. Worum es ihnen vielmehr geht, ist die Sorge um die Güte des Lebens oder das Glück, was dies auch immer genau fur die einzelne Person bedeuten mag. Die axiologische Dimension der personalen Lebensform lässt sich mit Blick auf die für Personen charakteristische Sorge um die Güte des Lebens oder das Glück auf zwei grundlegenden Wegen begreifen: Erstens kann Glück oder die Güte des Lebens als eines der von Personen geschätzten Objekte (oder eine Eigenschaft) verstanden werden. Zweitens lässt sich „Glück" als ein Titelwort für all das interpretieren, was Personen in einem solchen Maße schätzen, dass der Erfolg oder das Gedeihen dieser Dinge das ist, worin das Glück oder der Erfolg oder die Güte des Lebens dieser Person besteht. Dieser zweiten Vorstellung entsprechend - der ich folge und von der ich glaube, dass Hegel sie vor Augen hatte - ist das Bedachtsein oder die Sorge um das eigene Glück nichts anderes, als etwas (intrinsisch) zu schätzen, und zwar mit dem Wunsch, dass das Geschätzte gedeihen möge.21 Wenn man bemerkt, dass das, was man schätzt, gedeiht, ist man glücklich oder fuhrt ein subjektiv gutes oder gedeihliches Leben. Personen sind qua Personen jedoch nicht nur auf ihr eigenes Leben bedacht. Sie sind auch in der Lage, sich um das Leben zumindest einiger anderer Personen zu sorgen, und tun dies für gewöhnlich auch. Indem man um das Glück einer anderen Person bemüht ist, schätzt man auch das, was diese schätzt, und möchte, dass diese Dinge gedeihen. Etwas zu schätzen und damit zu wünschen, dass es gedeiht, und zwar einfach aus dem Grunde, dass es für das Glück einer anderen Person wesentlich ist, anders gesagt: es ihr zuliebe zu schätzen - dies ist eine der grundlegenden Sinnrichtungen, die wir damit meinen, jemanden zu lieben.22 Indem man jemanden in diesem Sinne liebt, verinnerlicht man den Werthorizont des Geliebten als Teil 21
Dies ist in etwa der Standpunkt, den Frankfurt in Reasons of Love vertritt.
22
Dies ist von der Möglichkeit zu unterscheiden, dass A Dinge schätzt, weil sie für Β's Glück wesentlich sind und weil B's Glück von wesentlicher Bedeutung für das Glück eines anderen ist (wie etwa das von A). Das heißt eben nicht, etwas einfach deshalb zu schätzen, weil es fur B's Glück wesentlich ist, oder einfach ihr zuliebe. An dieser Stelle muss ich in den sauren Apfel beißen und behaupten, dass eine Person etwas immer dann nur „ihr selbst zuliebe" schätzt, wenn sie es nicht einem anderen zuliebe schätzt. „Zuliebe" [„sake"] bezieht sich hier nicht auf ein schätzenswertes Ding unter anderen, sondern auf den besonderen Wertungshorizont, in welchem etwas wertvoll erscheint, oder auf das Subjekt, dessen Glück sich durch den Erfolg oder das Gedeihen dessen bestimmt, was im Horizont des Subjekts schätzenswert ist. Ich benutze „ihr selbst zuliebe um ihr Glück besorgt sein" gleichbedeutend mit „um ihr Glück intrinsisch besorgt
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des eigenen Werthorizonts. Somit schätze ich χ dann, wenn ich glaube, dass es für das Glück einer Person, die ich liebe, grundlegend ist. Im Falle dessen jedoch, dass ich sie nicht liebte, würde ich χ nicht (notwendigerweise) schätzen - ich schätze es nicht mir sondern ihr zuliebe, und es bleibt doch meine Einschätzung und Teil meines Werthorizonts. Der Werthorizont der geliebten Person wird, anders gesagt, Teil des Werthorizonts der liebenden Person; allerdings behält der erstere - innerhalb des letzteren - einen unaufhebbaren Bezug zu der geliebten Person. Anerkennung als Liebe schafft, wie Hegel schreibt, eine „Identität der Interessen" 23 , die jedoch in sich den Unterschied bewahrt. Für Hegel ist Liebe auch eine der Formen, im anderen bei sich selbst zu sein, oder sich selbst im anderen zu wissen - so formuliert er generell seine Freiheitsauflfassung. Liebe ist für Hegel eine der Formen, wenn nicht gar die paradigmatische Form von Freiheit ,24 Hegels Vorstellung von durch Liebe realisierter Freiheit ist komplexer als die Frankfurts, denn fiir das Hegeische Bild ist Gegenseitigkeit von wesentlicher Bedeutung. Wie man in der Tat erst dann in der deontischen Dimension frei ist, wenn jene, die man als Koautoritäten achtet, einen gleichermaßen als Koautorität achten, ist man in der axiologischen Dimension erst dann wirklich frei, wenn jene, deren Werthorizonte man qua Liebe als Teil des eigenen Werthorizonts verinnerlicht hat, sich in reziproker Weise verhalten. 25 Zwischen einander liebenden Personen, die sich im jeweils anderen insofern wiederfinden, als beiden der Werthorizont des je anderen als unersetzlicher Bestandteil des eigenen Werthorizonts gilt, besteht eine (wenn auch niemals perfekte) Harmonie in Hinblick auf ihr Werten und ihre Motivationen. Diese mühelose gegenseitige Stärkung von Einzelwillen durcheinander - darin besteht, so glaube ich, Hegels tiefe Intuition - ist ein ebenso bedeutsamer Aspekt oder Teil interpersonaler Freiheit wie das wechselseitige sich und den anderen Binden durch koautorisierte Normen. Lässt man die Liebe hier außer Betracht, so ignoriert man entscheidende Elemente des Geltungsbereichs des Hegeischen Freiheitsbegriffs. Wenn man annimmt, dass gesellschaftliche Normen immer mit der Organisation des Lebens zu tun haben, dann sind sie im Ganzen genommen nur für jene Subjekte relevant, die intrinsisch um ihr eigenes Leben und das der anderen besorgt sind. Was darüber hinaus solchen Subjekte, d. h. Personen, als akzeptabler Inhalt von Normen zur Lebensorganisation gilt, hängt in entscheidendem Maße von dem Leben ab, das sie fiir sich und jene erhoffen, die von ihn geliebt werden. Ich behaupte hier nicht, dass Personen permanent mit Kalkulationen sein". Um es ganz klar zu sagen: „um jemandes Glück besorgt sein" sollte so verstanden werden, dass man wünscht, er möge glücklich sein, und nicht, dass er unglücklich sein solle. 23
Ci. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft Grundrisse,
im
§ 161, handschriftlicher Zusatz, in: ders., Theorie Werksausgabe, Bd. 7, Frankfurt/M. 1986,
S. 310, ebenso handschriftlicher Zusatz zu § 161, S. 311. 24
Vgl. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen
Wissenschaften im Grundrisse, III, § 436, S. 226 f. Neben
anderen betont Alan Patten zu Recht die Bedeutung dieser Formulierung für Hegels komplexen Freiheitbegriff. Siehe ders., Hegel 's Idea of Freedom, N e w York 1999. Allerdings scheint er mir das Ausmaß herunterzuspielen, in welchem das Handeln im Allgemeinen für Hegel grundlegend davon abhängt, dass das Subjekt bestimmte Interessen besitzt. 25
Man betrachte das im Kontrast zu jemandes Misere, einen anderen zu lieben, dem das eigene Glück belanglos ist, oder der einem Unglück wünscht. Die Bedeutsamkeit von Gegenseitigkeit wird klar sichtbar in Hegels Erörterung dessen, was er „allgemeines Selbstbewusstsein" nennt. Vgl. ders., Enzyklopädie der
philosophischen
Wissenschaften im Grundrisse, III, § 436.
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derart beschäftigt wären, ob dieser oder jener Norm zu folgen vorteilhaft für einen selbst und einige andere sein würde. Mir geht es allgemeiner darum, dass die ganze Praxis normorientierten Lebens unabhängig davon einfach sinnlos ist, was Personen schätzen und ihnen deshalb als förderungs- und schutzwürdig gilt. Die Idee kollektiver Normverwaltung durch Subjekte, denen nichts von Belang ist, ist in dem Maße absurd,26 wie es die Idee von Freiheit als Leitung durch kollektiv selbstautorisierte Normen wäre, deren Inhalt nicht durch das von jenen für wertvoll Erachtete beschränkt sein würde, die diese Autorität besäßen. Dies ist nicht als Hinweis darauf zu verstehen, dass Subjekte sich zuerst in der axiologischen Dimension zu vollentwickelten Personen ausprägen oder ausprägen können, um danach das Geschäft der Normverwaltung anzugehen: Die axiologische Dimension ist gleichfalls von der deontischen abhängig. Zumindest um komplexe Zielvorstellungen entwickeln zu können, ist propositionales Denken erforderlich, das wiederum ohne Erlernen einer natürlichen Sprache unmöglich wäre. Die deontische Geschichte ist in der axiologischen schon immer impliziert. Wir werden zu komplex denkenden Personen nur durch die Teilnahme an der kollektiven Verwaltung begrifflicher Normen, die beim Sprechen einer Sprache impliziert sind.27 Dennoch hängt die Tatsache, dass Kinder eine Sprache zu sprechen beginnen und das Bestreben entwickeln, immer besser zu sprechen und somit auch zu denken, gewiss von deren Besitz einer motivationalen Struktur ab, die nicht nur mit der Befriedigung unmittelbaren Begehrens mittels unmittelbar gegebener Gegenstände zu tun hat. Im Ganzen genommen sind die deontische und die axiologische Dimension in komplexer Weise voneinander abhängig. Beide entstehen (und vergehen) folglich gemeinsam. Wir sollten uns an dieser Stelle einen kurzen Überblick über die personale Funktionsweise von Anerkennung als Liebe in der axiologischen Dimension des Personseins verschaffen. Diese Funktion gleicht in bestimmtem Maße, wenn auch nicht zur Gänze, jener, die Ach26
Sie ist in zweifacher Weise absurd. Erstens hat ein Akteur, dem nichts von Wert ist, kein Motiv zur NormVerwaltung. Zweitens macht es keinen Sinn, jemanden als deontische Autorität oder Normverwalter in solchen Fragen zu achten, die diesem völlig gleichgültig sind. Man vergleiche die Aussage von Regan, eine Kantische Gesetzgebung ohne Werte sein willkürlich (vgl. Ronald H. Regan, „The Value of Rational Nature", in: Ethics, Bd. 112. Januar 2002, S. 267-291). Ich behaupte, sie ist unmöglich, und die Tatsache, dass dem so ist, wird nicht durch jene andere beeinträchtigt, dass es sich bei Gesetzgebung oder Verwaltung um eine Kollektivpraxis handelt, wie die deontologischen Neuhegelianer behaupten. Siehe auch McDowell, der Brandom gegenüber kritisch bemerkt, Normverwaltung sei, um nicht willkürlich zu sein, durch Normen zu beschränken, die von der Normverwaltung unabhängig sind (vgl. John McDowell, „Response", in: Nicholas H. Smith, Reading McDowell - On Mind and World. London 2002, S. 276 und Anm. 10). Mir scheint diese Bemerkung akzeptabel zu sein, wenn sie so verstanden wird, dass nicht alle Normen gesellschaftliche Normen sind. Mir geht es allerdings darum, dass dem gesamten deontologischen oder legalistischen Diskurs über Geist, Person oder ,zweite Natur' (McDowell bevorzugt letztere Termini) die Bodenhaftung fehlt, wenn er die axiologische Dimension des Wertens und damit der Motivation missachtet. Hegel war sich über diesem Punkt - und zwar sein ganzes intellektuelles Leben hindurch - immer völlig im Klaren. Über den Zusammenhang von Glücksstreben und ethischen Normen bei Hegel siehe Frederick Neuhouser, Foundations of Hegel 's Social Theory: Actualizing Freedom, Cambridge 2000, Kapitel 7; siehe auch Alfredo Ferrarin, Hegel and Aristotle. Cambridge 2001, Teil III, Kapitel 8, § 8 zu Hegels Weg, Kantianismus und Aristotelismus in der Diskussion um den Begriff des Willens miteinander zu versöhnen.
27
Das heißt nicht, alles Denken hänge von der Sprache ab. Eine Konzeption zur Unterscheidung zwischen sprachabhängigen und sprachunabhängigen Denkformen findet sich bei José Luis Bermudez: Thinking Without Words, Oxford 2003.
D I E REALISIERUNG UNSERER BESTIMMUNG
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tung / Respekt in der deontischen Dimension zukommt. Zunächst einmal ist Liebe grundlegend für die interpersonale Schicht der axiologischen Dimension, weil eine Person im interpersonalen Sinn zu sein, den interpersonalen Status jemandes zu besitzen, dessen Glück anderen intrinsisch bedeutsam ist, schlechthin darauf hinausläuft, von diesen anderen geliebt zu werden. Die von mir hier vorgeschlagene Interpretation besagt, dass der interpersonale personenkonstitutive Status jemandes, dessen Glück intrinsisch bedeutsam ist, der Liebe als einer Einstellung von Anerkennung in gleicher Weise korrespondiert wie der interpersonale personenkonstitutive Status der Koautorität der Einstellung von Anerkennung in Hinblick auf Achtung / Respekt. Zweitens jedoch ist interpersonale Liebe auch für die psychische Schicht der axiologischen Dimension des Personseins von grundlegender Bedeutung, und dies in zwei verschiedenen Hinsichten. Erstens: Selbst wenn uns schon allein die intrinsische Sorge um das eigene Glück, die eigene Liebe, einen Werthorizont verschafft, der uns aus der bloßen Animalität heraushebt, selbst wenn diese darüber hinaus für die Teilnahme an der Normverwaltung hinreicht, so sind wir doch auch der Überzeugung, dass die Befähigung, andere Personen zu lieben, Teil der normalen psychischen Ausstattung einer Person ist.28 Zumindest gilt die durchgängige Unfähigkeit, andere zu lieben, als eine schwerwiegende Persönlichkeitsdefizienz oder -pathologie. Eine zweite und völlig anders geartete Weise, in welcher die interpersonale Anerkennung als Liebe grundlegend für die axiologischen personenkonstitutiven psychischen Fähigkeiten ist, besteht darin, dass die Entwicklung und möglicherweise auch der Erhalt dieser personenkonstitutiven Fähigkeiten zumindest in bestimmtem Maße davon abhängt, dass das diesbezügliche Subjekt von anderen geliebt wird. Wie auch immer sich die Dynamik konkret gestaltet, 28
Peter Strawson ist der Überzeugung, dass jemand, der „offenbart, in welch hohem Maß ihm die willensmäßigen, ihn betreffenden Einstellungen anderer [personal reactive attitudes] von Belang sind, der andererseits aber hinsichtlich der willensmäßigen Einstellungen anderer gegenüber Dritten völlig ungerührt bleibt, als abartiger Fall moralischen Egozentrismus, als eine Art moralischer Solipsist erscheinen würde". Femer behauptet er, ein solches Individuum sein „kaum mehr als ein Denkmöglichkeit" (siehe Peter Strawson, „Freedom and Resentment" (1962), in: Ders., Freedom and Resentment and Other Essays, London 1974, S. 15). Wie mir scheint, kann das, was Strawson „reaktive Einstellungen" nennt (seine berühmten Beispiele sind Verstimmung und Dankbarkeit (resentment / gratitude)), als Emotionen begriffen werden, die erstens durch die Pro-Einstellung konstituiert werden, dass jemand bestimmte Arten von Einstellungen - nämlich anerkennungsbezogene Einstellungen von Achtung / Respekt und / o d e r Liebe - gegenüber einem anderen haben sollte; zweitens jedoch durch die Überzeugung, dies sei der Fall (oder die Überzeugung, dies sei nicht der Fall). Das heißt, C erwartet von A, dass er C oder Β anerkennt. Er reagiert mit Verstimmung, sollte dies nicht zutreffen, und - sollte dies zutreffen - mit Dankbarkeit. Strawsons Pointe besteht folglich darin, dass ein Individuum C, das sehr feinfühlig in Bezug auf As Einstellungen gegenüber ihm (C), nicht jedoch gegenüber Β ist, nahezu unmöglich wäre. Nun verstehe ich das so, dass C's Sorge um A's Anerkennung oder deren Fehlen impliziert, dass Β durch C anerkannt wird. Die axiologische Dimension des zitierten Strawsonschen Gedankens besteht somit in Folgendem: Es sei nahezu unmöglich, sich intensiv um sich zu kümmern, und somit darum, von anderen anerkannt zu werden, ohne dass man sich um andere sorgt und somit auch um deren Anerkanntsein durch dritte Personen. Ob dies nun zutreffend ist oder nicht - die Idee einer Person ohne jede intrinsische Sorge um das Wohlergehen anderer, ist für unsere Vorstellungskraft eine klarer Grenzfall. Weiter unten werde ich die These vertreten, dass es sich bei jenen, die wir „Psychopathen" nennen, um Individuen handelt, die in erheblichem Maße unfähig sind, andere anzuerkennen - im Sinne von Liebe oder Achtung / Respekt. Siehe auch Honneths Diskussion des Autismus als Unfähigkeit zur Anerkennung in: Verdinglichung - Eine anerkennungstheoretische Studie, Frankfurt/M. 2005, S. 48-51, 70.
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es herrscht generell Übereinstimmung, dass zumindest ein extremer Mangel an Liebe durch andere für die optimale Entwicklung der eigenen Fähigkeit abträglich ist, sich selbst und andere zu lieben und somit ein axiologisch reichhaltiges Leben zu fuhren, wie es für Personen charakteristisch ist.
3. Die ethische Qualität des Lebens innerhalb einer anerkennungsgegründeten Lebensform Aus einer Kant zuneigenden Position heraus wird oftmals behauptet, die andere Person beschränke meinen Willen, sie schränke ihn ein. Der dahinterstehende Gedanke besteht darin, dass eine solche Einschränkung des Willens durch den anderen moralisch oder ethisch von zentraler Bedeutung ist. Jedoch aus einer eher Hegel zuneigenden Position heraus sind die anderen, denen gegenüber ich Einstellungen der Anerkennung habe - Achtung / Respekt oder Liebe - , von konstitutiver Bedeutung für meinen Willen, oder allgemeiner gesagt für die gesellschaftlich und durch Anerkennung vermittelte Art von Struktur und Inhalt von Intentionalität, die mich zu einer Person im psychischen Sinne macht. Was andererseits mich zu einer Person im interpersonalen Sinn macht, ist die Tatsache, dass andere die Art von Struktur und Inhalt von Intentionalität besitzen, die sie zu psychischen Personen macht und die sie folglich mir gegenüber - also qua Anerkennung - im Sinn haben. Für die Lebensform von Personen ist es grundlegend, dass Personen einander unter dem Aspekt personenkonstitutiver Bedeutsamkeiten oder Status verstehen und auf diese Weise wechselseitig verstanden werden. Diese Bedeutsamkeiten und Status unterscheidet sie, von den reziproken Perspektiven her, als Personen (im interpersonalen Sinn) von Nichtpersonen. Der Hegelianischen Lesart zufolge ist Anerkennung nicht nur etwas, das uns Beschränkungen auferlegt, sondern etwas, das uns ganz allgemein gesagt zu dem macht, was wir sind - nämlich Personen. Anerkennung in dem Sinne, jemanden für eine Person zu halten, ist für unser Personsein nicht nur ontologisch grundlegend, sondern auch moralisch und ethisch von zentraler Bedeutung für das Leben, welches wir als Personen führen. Das zeigt sich an der Tatsache, dass der Grad, in welchem Personen einander in bestimmten Beziehungen, sozialen Kontexten oder Gesellschaften anerkennen oder dort gegenseitig anerkannt werden, für die moralischen oder ethischen Urteile über diese sozialen Formationen wie auch über die an ihnen beteiligten Personen von entscheidender Bedeutung sind. Man kann das folgendermaßen verstehen: Intuitiv gesehen bedeutet zurückgesetzt zu werden im Wesentlichen oder doch zu wesentlichen Teilen, dass man mit mangelnder Achtung als Person im Sinne einer Autorität jener Handlungsnormen behandelt wird, denen man selbst unterliegt, oder mit mangelnder Sorge um das Glück, insofern es einem selbst zuliebe zugestanden werden sollte. Moralisch benachteiligt zu werden bedeutet - oder in schwächerer Lesart: beinhaltet - folglich, von dem Übeltäter nicht als Person anerkannt, von ihm nicht fur eine Person in dem interpersonal angemessenen Sinn gehalten zu werden. Dies wiederum meint, hinsichtlich der in Frage stehenden interpersonalen Beziehung nicht hinreichend Person mit interpersonalem Status zu sein. Der moralische Missetäter korrumpiert damit auch sein eigenes Personsein, insofern nämlich zu einer voll entfalteten Person im psychischen Sinne zugleich gehört, andere in angemessener Weise zu achten und zu lieben. Moralische Verfehlungen reichen von der alltäglichen Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen bis hin zu Gräueltaten. Wenn Philosophen über die Behandlung von Personen als Nichtpersonen sprechen und danach fragen, worum es sich dabei handelt und wie das möglich
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sei, so haben sie für gewöhnlich letzteres im Sinn. Je schrecklicher der Fall, desto prägnanter die Konturen von Verletzung und Verderben des Personseins des Leidenden wie des Täters. „Psychopath" ist das Wort, mit dem wir ein Individuum bezeichnen, dem Ansprüche normativer Autorität oder des Glücks anderer in einem Maße unzugänglich sind, das sich dem Verständnis normaler moralischer Personen verschließt. Wir neigen dann dazu zu sagen, ein Psychopath habe etwas, das ihn „unmenschlich" oder „nicht richtig menschlich" mache. Wir meinen damit (ich werde darauf weiter unten zurückkommen), die psychischen Fähigkeiten oder Merkmale eines solchen Individuums seien bezogen darauf unzulänglich, was als ein zentrales Moment des Personseins gilt: die Anerkennung anderer. Ethisch gesehen jedoch noch bedenklicher sind solche Fälle, in denen Personen durch die Würde und das Glück einiger anderer Personen bewegt werden, den anderen aber mit bemerkenswerter Kälte entgegentreten. Der Wachmann eines Konzentrationslagers, der seine Kinder zutiefst liebt und dem die moralischen Werturteile seiner Frau wie seiner Nachbarn wichtig sind, mag, falls es ihn gegeben haben sollte, als Musterfall gelten. Menschen sind jedoch auch unter weit normaleren Umständen in der Lage, bestimmten anderen gegenüber in grausamer Weise gleichgültig und kalt zu sein. Man denke etwa an den Ehemann und Vater, der einen illegal arbeitenden Fremdarbeiter beschäftigt und unter Lebensbedingungen arbeiten lässt, die ihm einfach unmenschlich wären, würden sie ihm, seinen Familienmitgliedern, Verwandten oder Freunden als Lebens- und Arbeitsumstände auferlegt. Der beunruhigende Sachverhalt besteht darin, dass sich der Umfang, in dem wir einander anerkennen oder personifizieren, somit Personen im Sinne von Subjekten und Objekten von Anerkennung sind, in dramatischer Weise von Beziehung zu Beziehung unterscheiden kann. Wenn wir nun voraussetzen, dass wir keine überzeugenden Gründe dafür haben, die von uns im alltagspraktischen Moralurteil hergestellte Beziehung zwischen moralischem Unrecht und einem Mangel an Anerkennung oder Personifikation grundsätzlich in Frage zu stellen, dann ist die Grundthese der „ethischen" Berichte über die Bedeutsamkeit von Anerkennung völlig akzeptabel: Ein Mehr an Anerkennung verbessert das psychische wie das soziale Leben von Personen. Und was hier wichtig ist: es ist eine Verbesserung im ethischen Sinne.29 Ist dem so, dann scheint Anerkennung in der Tat eine ethisch-ontologische Doppelrolle in unserem Leben als Personen zu spielen.
4. Aristotelischer Essenzialismus mit naivem psychologischem Optimismus? Nicht jeder wird an dieser Stelle schon überzeugt worden sein. Das von mir Gesagte mag bei jenen Zweifel erregen, die eine Aversion gegenüber allem haben, das dem aristotelischen normativen Essenzialismus ähnelt.30 Darüber hinaus hat die Annahme, der personalen Le29
30
Man bemerke, dass dies eine völlig andere Behauptung ist, als die im moralischen oder ethischen Sinne neutrale Redensart, Anerkennung durch andere mache uns psychisch stärker bzw. stärke uns psychisch für Zwecke der Selbstverwirklichung. Mit „normativem Essenzialismus" meine ich eine Vorstellung, derzufolge Dinge ein Wesen besitzen, das sie in höherem oder geringerem Maße verwirklichen können, und derzufolge die Verwirklichung in einem höheren Maße die fragliche Entitat in bestimmter Weise verbessert. Eine solche Vorstellung kann ohne Weiteres als aristotelisch begriffen werden. Um hier jedoch genauer zu unterscheiden: Ich verstehe als aristotelische
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bensform sei etwas so schönes wie Achtung / Respekt und Liebe wesentlich, für viele Ohren einen bestimmten Klang von Naivität. Man könnte ja in der Tat fragen, ob dies denn nichts anderes ist, als eine seltsame Mischung von lange überholtem aristotelischen Essenzialismus und naivem psychologischen Optimismus. Wie wäre darauf zu antworten? Zunächst ließe sich - was Philosophen und Theoretiker auch immer davon halten mögen dazu sagen, dass der normative Essenzialismus der Erfahrung unseres wechselseitig geteilten Lebens - außerhalb des philosophischen Seminars - zutiefst innewohnt. Er sitzt so tief, dass der Versuch, ihn vollständig auszutreiben, das ins Wanken bringen würde, was möglicherweise - j e n s e i t s philosophischer Schulen und kultureller Unterschiede - die Grundfesten unseres ethischen und moralischen Denkens sind. Wenn etwas universell geteilt ist, dann sicherlich die Überzeugung, dass zumindest extreme Grausamkeit - auf diese oder jene Art - unserem eigentlichen Wesen widerstreitet. Charakteristischerweise verstehen wir Gräueltaten, die wir mit den Namen von Hitler, Stalin, Pol Pot, Milosevic und ihresgleichen assoziieren, als Inbegriffe von „Unmenschlichkeit". Wir verorten diese Unmenschlichkeit sowohl aufseiten der Täter als auch aufseiten der Opfer: Die Taten und damit die Charaktere der Täter untersuchen wir im Lichte ihrer offenkundigen „Unmenschlichkeit", die Zwangslage der Opfer beschreiben wir analog in Begriffen, die die „Unmenschlichkeit" der Situation hervorheben. So sagen wir etwa, Menschen würden wie Tiere behandelt, geschlachtet, wie Ungeziefer vergiftet, wie Abfall verbrannt, wie Schadstoff entsorgt etc. Die Überzeugung, die hier nach Ausdruck verlangt - dass nämlich diese und ähnliche Handlungen auf irgendeine Art dem, was wir sind, oder unserem eigentlichen Wesen widerstreiten - , ist, so möchte ich behaupten, völlig akzeptabel. Nur leistet man ihr einen ziemlich schlechten Dienst, wenn man sie mit Worten wie „Menschlichkeit" und „Unmenschlichkeit" charakterisiert. Wie rhetorisch effizient dies jenen auch immer scheinen mag, die darin die adäquate Ausdrucksweise sehen - anderen ist sie sentimentaler Nonsens. Schließlich sind unter allen uns bekannten Lebewesen allein Menschen zu den hier thematischen Handlungen fähig. Wie können Gräueltaten irgendwie nicht- oder unmenschlich sein, wenn sie doch zu dem gehören, was nur Menschen zu tun fähig sind?31 Was diese Frage offenlegt, ist einfach die wohlbekannte Doppeldeutigkeit des Terminus „menschlich": Im biologischen Sinne menschlich zu sein, ist ein Sache - im moralischen oder ethischen Sinne menschlich zu sein eine andere. Wenn man nicht den Verheißungen der Symbiose von Ethik und Biologie, wohl aber an die Bedeutsamkeit des Gedankens glaubt, dass das Übel dem widerstreitet, was uns ausmacht, dann muss man sich anders orientieren. Statt sich auf die Frage zu konzentrieren, was der Mensch sei, sollten wir lieber, so mein Vorschlag, nach einer Theorie der Person Ausschau halten, die in der Lage wäre, unsere am tiefsten sitzenden Intuitionen darüber zu artikulieren, zu organisieren und philosophisch zu rechtfertigen, was uns zu dem macht, was wir sind. Wenn wir dieser Richtung folgen, können wir den rationalen Kern des Gedankens bewahren, dass die obengenannten Vorfälle unserem
31
Lesart des normativen Essenzialismus eine Position, die überdies behauptet, Entitäten neigten dazu, ihr Wesen in höherem Maße zu verwirklichen (siehe Abschnitt 5). Ich argumentiere für den aristotelischen normativen Essenzialismus nur in Hinblick auf eine bestimmte Klasse von Entitäten: nämlich Personen. Vgl. Avishai Margalit, The Decent Society, Cambridge, Mass. 1996, und Jonathan Glover, Humanity-A Moral History of the 20,h Century, New Haven 2000.
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Wesen zuwider sind, diesem irgendwie widerstreiten. Wir würden diese Kernfrage dann nämlich so interpretieren, dass sie auf uns als Personen Bezug nähme bzw. auf unsere intuitiven Ansichten darüber, was uns zu Personen macht. Wir können (auch auf die Gefahr der Wiederholung hin) folglich sagen, die oben erwähnten Handlungen charakterisieren ein radikales Versagen der Täter, ihre Opfer als Personen anzuerkennen. Eine Konsequenz dessen ist auch ein fundamentales Scheitern der für das psychische Personsein grundlegenden moralischen Selbstbeziehungen. Das heißt, das Ausmaß, in welchem Individuen bestimmte andere achten und lieben, ist identisch mit jenem, in welchem sie ihre eigenen Gedanken, Handlungen und sich selbst vom deontischen und axiologischen Standpunkt dieser anderen aus beurteilen und bewerten.32 Ein radikales Unvermögen, durch die Würde oder Verletzbarkeit anderer bewegt zu sein, und somit ein radikales Fehlen von Achtung oder Liebe gegenüber ihnen, macht den interpersonalen Aspekt von Selbstbeziehungen zunichte und schädigt letztere dadurch moralisch.33 Auf Seiten des Opfers bedeutet das den radikalen Verlust seines Personseins im interpersonalen Sinn. Denn in den in Frage stehenden bestimmten sozialen Zusammenhängen oder Beziehungen fehlt dem Opfer der Status oder die Bedeutsamkeit des Personseins.34 Die Fähigkeiten, welche die Täter allererst in den Stand setzen, so zu handeln, wie sie es tun, lassen sich in der Tat nicht völlig von dem trennen, was Personen zu Personen macht. Es ist im Gegenteil eben ihr Sein als Personen, d. h. als Lebewesen, die normengeleitet denken und handeln, sich zumindest um das eigene Leben sorgen (wie pervers die eigene Vorstellung von der Güte dieses Lebens auch immer sein mag) und komplexe Zielvorstellungen fur wertvoll und somit handlungsmotivierend halten, was Nazis, Stalins Bürokraten und die Khmer Rouge als Killer z. B. von Katzen unterscheidet, die Mäuse ihrem natürlichen Instinkt folgend töten. Dass sie diese Fähigkeiten besitzen, ist untrennbar davon, dass sie einige andere Personen zumindest in irgendeiner Weise anerkennen und anerkannt haben. Was sie jedoch zu den Monstern macht, die sie sind, ist die verhängnisvolle Selektivität in ihrer Anerkennung anderer psychischer Personen als Personen im interpersonalen Sinn.35 Ihren Einstellungen 32
Dies wäre der Ausgangspunkt meiner Antwort auf die Frage, die Judith Butler in ihrer Erwiderung auf Honneths Theorie der Verdinglichung gestellt hat: Was genau bedeutet es, dass Anerkennung die Einnahme der Position der zweiten Person impliziert? (Siehe dazu die amerikanische Ausgabe von Axel Honneths Buch über Verdinglichung: Reification - A New Look at an Old 1dea, N e w York 2008, S. 97-119.) Wenn ich eine Person liebe, dann beziehe ich mich auf meine Gedanken und Handlungen sowie auf mich selbst als deren Subjekt aus einer evaluativen Perspektive, welche die evaluative Perspektive der geliebten Person einschließt (in der in Abschnitt 2 diskutierten Weise). Wenn ich hingegen jemanden achte, dann beurteile ich meine Gedanken und Handlungen und damit mich selbst anhand von Normen, welche die deontische Koautorität der Person, die man achtet, einschließt.
33
Vergleiche Robin S. Dillons Diskussion von Arroganz als persönlichkeitsschädigend (Robin S. Dillon, „Arrogance, Self-Respect and Personhood", in: Ikäheimo/Laitinen, Dimensions of Personhood, S. 101-126.) Die hier gemachten Ausführungen lassen sich partiell als Auseinandersetzung mit ihrem eher Kantianischen Zugang zum Problem fehlender (Selbst-)Anerkennung als einer Persönlichkeitsschädigung verstehen.
34
Dies mag Auswirkungen auf die Selbstbeziehungen, allgemeiner gesagt: auf die psychologische Schicht des Personseins der Opfer haben oder auch nicht. Jedoch ist offensichtlich, dass das Übel der Nichtanerkennung / Nichtpersonifizierung über seine psychologischen Effekte hinausreicht. Siehe auch vom Verfasser: „A Vital Human Need - Recognition as Inclusion in Personhood".
35
In Beziehung dazu scheint die Tatsache, dass Opfer auch nicht als Inhaber solcher Grundrechte geachtet* werden, die fur das Personsein im institutionellen Sinne (welche das auch immer sein mögen) konstitutiv
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bestimmten anderen gegenüber fehlt es an jeder, oder doch nahezu jeder Anerkennung, deren völliger Mangel gegenüber allen anderen (hier allerdings: aller anderen gegenüber ihnen) zur Folge gehabt hätte, dass sie selber nicht einmal Personen hätten werden können.36 Eine Möglichkeit der Unterscheidung zwischen einerseits denen, die als moralisch krank, unfähig oder wnrei/betrachtet werden, und andererseits jenen, die als moralisch schlecht gelten, besteht im Folgenden: Während erstere generell fur eher unfähig gehalten werden, andere anzuerkennen, zeigen letztere gegenüber bestimmten anderen einen signifikanten Abfall von dem Niveau an Anerkennung, dessen sie fur fähig erachtet werden und welches gegenüber den in Frage stehenden spezifischen anderen Personen sowie in den fraglichen Zusammenhängen für angemessen gehalten wird.37 Im Ganzen ist mit der These, Anerkennung als Achtung / Respekt und Liebe seien unserer Lebensform wesentlich, kein besonderer Optimismus dahingehend verbunden, was Personen oder Menschen empirisch gesehen sind. Sie besagt nur, dass moralische oder ethische Mängel im Sinne der Abwesenheit angemessener Achtung und Liebe für andere als Personen zugleich Mängel im ontologischen Sinne sind. Dies wiederum ist nur die Äußerung des Gedankens, der nach Ausdruck verlangt, wenn wir über Täter und ihre Taten wie auch die Zwangslage ihrer Opfer urteilen, diese seien „nichtmenschlich" oder „unmenschlich".
sind (ob nun Empfehlungen der Philosophen, den verschiedenen Deklarationen von „Menschenrechten" oder tatsächlich existierenden Rechtsformen folgend), für unsere Urteile über die moralische Qualität der in Frage stehenden Ereignisse weniger bedeutsam zu sein. Gleiches gilt etwa für die Sklaverei: Keine Rechte zu besitzen, ist nicht das Schlimmste an ihr. Das heißt jedoch nicht, institutionelles Personsein im Sinne von Grundrechten sei völlig unbedeutend. Ganz im Gegenteil. Es stabilisiert das gesellschaftliche Leben und sichert das individuelle, indem es Personen weniger anfällig für den Mangel interpersonalen Personseins seitens bestimmter anderer macht. 36
Dies kommt Honneths durch Adorno inspirierter Rede über Verdinglichung von Personen als „Anerkennungsvergessenheit" nahe (ders., Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie). Auch wenn der Nutzen der Rede vom „Vergessen" umstritten sein mag (siehe dazu Frederick Neuhouser, „Axel Honneth: Verdinglichung, a review", in: Notre Dame Philosophical Review, http://ndpr.nd.edu/review.cfm?id=5941, Zugriff am 25. Februar 2009), so ist doch Honneths Gedanke klar: Verdinglichung in dem Sinne, dass A sich auf Β bezieht, ohne Β anzuerkennen, ist die Abwesenheit von etwas, dass selbst ein notwendiger Bestandteil für A's Personwerdung gewesen ist - nämlich Anerkennung. Die vorliegende Abhandlung kann als Argumentation gegen Jonathan Lears Behauptung gelesen werden, Anerkennung im für die grundlegenden personenkonstitutiven Fähigkeiten „symbolischen Denkens, der Sprache" etc. wesentlichen Sinne einerseits und Anerkennung als konstitutiv im Sinne menschlichen Wohlergehens andererseits seien zwei verschiedene Phänomene (siehe Lears Kritik an Honneth in: Reification - A New Look at an Old Idea, S. 131-143). In der Tat trifft Honneth selber eine analoge Unterscheidung zwischen „existenziellen" und „substanziellen" Formen von Anerkennung. Vgl. ebd, S. 90, Anm. 70, vgl. die deutsche Ausgabe: Verdinglichung, S. 60, Anmerkung 19.
37
Zu dieser Unterscheidung wäre natürlich weit mehr zu sagen. Eine ersichtlich in Betracht zu ziehende Frage betrifft die Tatsache, dass individuelle Einstellungsmuster gegenüber bestimmten anderen (Individuen oder Gruppen) durch das Kulturumfeld beeinflusst werden und auch für bewusste Manipulation und Indoktrination anfällig sind.
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5. Personsein als Telos Geist oder die geistige Form des Seins ist, wie deontologische Neuhegelianer betonen, eine Errungenschaft 38 - eine Leistung, die nur durch einen permanenten Reproduktionsprozess ihr Bestehen hat. „Wir" erzeugen Geist im Großen und Ganzen durch Anerkennung und Anerkanntwerden. Dies heißt in der Folge der von mir vorgeschlagenen Übersetzung, dass wir Personsein in uns selbst und dem jeweils anderen - damit auch die personale Lebensform im Allgemeinen - produzieren wie reproduzieren, indem wir einander fur Personen halten. Eines der Merkmale dieser Übersetzung besteht darin, dass sie zumindest in Teilen den teleologischen Schub von Hegels Geistesbegriff auf mehr oder weniger unprätentiöse Weise zu interpretieren vermag. In Hegels Worten ist das „Wesen des Geistes [...] die Freiheit"39 - und er meint damit eindeutig das Wesen im aristotelischen Sinn eines sich selbst realisierenden Telos. Den Skeptikern sein gesagt, dass sich Hegel nicht nur durch die Annahme des normativen Essenzialismus mit Aristoteles verbündet. Dass er auch den Gedanken akzeptiert, das Wesen des Geistes habe eine Art Tendenz zur Selbstverwirklichung, macht es für Hegel nicht besser. Sollte jedoch der Hegeischen Konzeption nach die interpersonale Anerkennung ein wesentliches Element des Geistes und damit der Freiheit bilden, dann würde die Rede von der Tendenz des Geistes, sein Wesen zu verwirklichen, zumindest auch den einfachen Gedanken meinen, es gebe einen generellen Schub in Richtung zunehmender Anerkennung. Ist das eine glaubwürdige Behauptung? Das scheint in der Tat, und zwar in zweifacher Weise, der Fall zu sein. Einerseits sind Anerkennungserwartungen sicherlich ein bedeutendes Moment aller menschlichen Interaktion, wie es in jeder menschlichen Beziehung ein Problem darstellt, wenn es an angemessener Anerkennung in dieser oder jener Weise spürbar fehlt. Als Interaktionsteilnehmer spüren wir die Notwendigkeit von Anerkennung als dringendes Bedürfnis immer dann, wenn uns oder jenen, die uns wichtig sind, eine angemessene Anerkennung offen versagt wird. Nicht für jemanden gehalten zu werden, der hinsichtlich der Praktiken autorisiert ist, die einen selbst oder das einem Wichtige betreffen, der nicht für jemanden gehalten wird, dessen Glück von intrinsischer Bedeutung ist - sollte irgend etwas eine jedermann verständliche moralische Erfahrung sein, dann mit Sicherheit dies. Erfahrungen dieser Art macht man in unterschiedlichem Maße. Auch sind sie, als subjektive Erfahrungen, keineswegs infallibel. Und dennoch handelt es sich bei ihnen um Erfahrungen (stufenweiser) Ausgrenzung aus der Lebensform von Personen als Personen. Solche Erfahrungen radikaler - oder ontologischer - Ausgrenzung können, bringt man sie nur deutlich genug zur Sprache, eine Motivationsquelle bilden, die anderem hinsichtlich ihrer Stärke in der Menschenwelt nicht nachsteht. Andererseits scheint es, wie bereits erörtert, unseren tiefsten moralischen Überzeugungen zu entsprechen, dass das Maß, in welchem Menschen überhaupt in je besonderen Beziehungen, Kulturen oder Gemeinschaften als Personen behandelt - also anerkannt - werden, für 38
Siehe ζ. B. Pippin, „What is the Question for which Hegel's Theory of Recognition is the Answer?", S. 161.
39
Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, § 382, S. 25, und ders., Vorlesungen über die Philosophie des Geistes, Hamburg 1994, S. 3 - 7 sowie die Einleitung von Robert R. Williams zur amerikanischen Ausgabe der Vorlesungen: G. W. F. Hegel, Lectures on the Philosophy of Spirit 1827-28, translated and with an introduction by Robert R. Williams, New York 2007, S. 3-7.
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HEIKKI IKÄHEIMO
die Bemessung der ethischen Güte dieser Zusammenhänge entscheidend ist - unabhängig davon, wie umfänglich wir Anerkennung in den spezifischen Beziehungen und gesellschaftlichen Lebenswelten erfahren, an denen wir oder uns Nahestehende partizipieren.40 Wenn wir folglich ernsthaft an unseren Überzeugungen festhalten, uns mit ihnen identifizieren, sind wir vom Prinzip her auch motiviert, uns darum zu kümmern, dass es statt weniger ein Mehr an Anerkennung nicht nur in unserem eigenen Leben oder dem der uns am nächsten Stehenden gibt, sondern auch in der Welt im Allgemeinen. Selbstverständlich haben wir verschiedenste Erwartungen hinsichtlich menschlicher Beziehungen, wie wir auch verschiedenste, diese Beziehungen betreffende Überzeugungen und Motive in verschiedener Tiefe und Ernsthaftigkeit hegen. Wird jedoch Anerkennung der hier vorgeschlagenen Interpretation folgend verstanden - nämlich als konstitutiv für unser Personsein - , dann betreffen die anerkennungsbezogenen Erwartungen, Überzeugungen und Beweggründe nicht einfach irgendetwas in uns, sondern unser wirkliches Wesen. Der Beweggrund für ein Mehr an Anerkennung, so verborgen er auch immer sein mag, ist ein solches Motiv, das uns vom Prinzip her dazu antreibt, das Personsein in uns und in anderen zu verwirklichen. Gewiss, dieser Beweggrund ist in starkem Maße den Unwägbarkeiten des eigenen materiellen, gesellschaftlichen und kulturellen Umfelds ausgesetzt, wird oft von anderen Motiven überlagert und zuweilen in verhängnisvoller Weise behindert - dennoch ist er eine tiefe, nicht zu unterschätzende Grundströmung des menschlichen Lebens. Es ist, so behaupte ich, diese
40
Einer genaueren Untersuchung bedarf die Frage, wie die Bemessung von Anerkennung in speziellen Fällen und speziellen Sphären gesellschaftlichen Lebens als adäquat oder zweckdienlich genau zu begreifen wäre. Die Quantifizierung von Achtung / Respekt wie auch von Liebe ist etwas, worüber Philosophen generell noch nicht allzu viel nachgedacht haben - auch wenn es sich hierbei um elementare Aspekte unseres moralischen Lebens handelt. Wenn ζ. B. Kant sagt, wir sollten einander nicht nur als Mittel (d. h. als Nichtpersonen) sondern auch als Zwecke (d. h. als Personen) brauchen, kann man fragen, was denn dann in den verschiedenen Lebensbereichen die richtige oder zulässige Mischung dieser beiden Arten gegenseitiger Behandlung wäre. Wie hätten wir solche Mischformen begrifflich zu verstehen? In Ikäheimo/ Laitinen, „Analysing Recognition" nähern wir uns dem Thema unter dem Aspekt von „Ansprüchen auf das Personsein", die festlegen, in welchem Umfang Anerkennung in einem jeden dieser Fälle angemessen wäre. Offensichtlich ist zur Klärung dieser Frage aber noch eine Menge Arbeit zu leisten (vgl. Alice Le Goff, Rezension von: Bert van den Brink and David Owen (Hg.), Recognition and Power. Axel Honneth and the Tradition of Critical Social Theory,in: Revue du MAUSS, 9. decembre, 2007). Hier möchte ich noch einen Gedanken ansprechen, den Bert van den Brink in die Diskussion gebracht hat: Es ist zumindest unanmessen, jemanden in einer solchen Hinsicht zu achten, in welcher er über keine Autorität verfugt. Folglich ist, so van den Brink, die These, „ein Mehr an Anerkennung ist immer gut" zu simpel. Zwei Dinge sollten jedoch noch bemerkt werden. Erstens glauben wir in der Tat, als Regel könne gelten, dass der bessere Weg zur Überwindung einer solchen Diskrepanz zwischen Respekt und Befähigung ein höherer Grad an Befähigung (folglich ein höherer Anspruch auf Respekt) statt ein niedrigerer Grad an Respekt wäre. Zweitens sind nicht nur die tatsächlichen sondern auch die potentiellen Befähigungen des Anzuerkennenden zur Ausübung von Autorität für die Beurteilung der Zumutbarkeit von Graden des ihm entgegenzubringenden Respekts bedeutsam. Ein weiterer bedeutsamer Aspekt besteht darin, dass die Institutionalisierung von deontischen Befugnissen, welche den institutionellen Status einer Person ausmachen, mitnichten eine Angelegenheit gradueller Erweiterung sein muss, während doch interpersonale Anerkennung an sich gradeweise erfolgt. Sollten wir uns so entscheiden, ist es unser Gesetzeswille, dass ein jeder, der den uns fur ausschlaggebend geltenden Kriterien entspricht, die gleichen personenkonstitutiven Rechte im vollen Umfang genießt. Weiteres dazu in Heikki Ikäheimo, „Recognizing Persons", in: Ikäheimo/Laitinen, Dimensions of Personhood, a. a. O.
D I E REALISIERUNG UNSERER B E S T I M M U N G
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G r u n d s t r ö m u n g , w e l c h e d e n t e l e o l o g i s c h e n S c h u b d e s G e i s t e s , d. h. d e s P e r s o n s e i n s , w e s e n t lich a u s m a c h t u n d u n s e r e m W e s e n d i e T e n d e n z zur S e l b s t v e r w i r k l i c h u n g verleiht.
Schluss Z u s a m m e n f a s s e n d lässt s i c h s a g e n , d a s s die o b i g e n Ü b e r l e g u n g e n zur e t h i s c h - o n t o l o g i s c h e n D o p p e l f u n k t i o n v o n A n e r k e n n u n g für d i e p e r s o n a l e L e b e n s f o r m e i n e n W e g zur o n t o l o g i s c h e n B e g r ü n d u n g immanenter
Gesellschaftskritik 4 1 a u f z e i g e n - v o r a u s g e s e t z t , d i e s e Ü b e r l e g u n g e n
sind ü b e r z e u g e n d . Es sollte betont w e r d e n , d a s s e s s i c h bei der hier u m r i s s e n e n und a u f H e g e l s A n e r k e n n u n g s b e g r i f f gestützten S o z i a l o n t o l o g i e entfalteten P e r s o n s e i n s k e i n e s w e g s u m e i n e theoretische, aus d e m p h i l o s o p h i s c h e n E l f e n b e i n t u r m heraus g e s c h r i e b e n e Konstruktion handelt, sondern w o h l nur u m die E x p l i k a t i o n und S y s t e m a t i s i e r u n g w e s e n t l i c h e r E l e m e n t e unserer A l l t a g s i n t u i t i o n e n darüber, w a s uns z u d e m macht, w a s w i r sind. 4 2 D i e s e Intuitionen z u e x p l i z i e r e n , ihnen e i n e n s y s t e m a t i s c h e n Z u s a m m e n h a n g in einer p h i l o s o p h i s c h e n G e s a m t darstellung der Wirklichkeit z u g e b e n u n d damit e i n e klare und s e r i ö s e S t i m m e z u v e r l e i h e n , ist die A u f g a b e e i n e r u n v o r e i n g e n o m m e n e n , kritischen S o z i a l p h i l o s o p h i e , die o n t o l o g i s c h e T i e f e mit der S c h ä r f e i m m a n e n t e r Kritik vereinigt. 4 3
Zur immanenten Kritik siehe Antti Kauppinen, „Reason, Recognition, and Internal Critique", Inquiry (2002), 45/4, S. 479-98. 42
Der hier von mir unterbreitete Vorschlag ähnelt dem, was Christopher Zum ein „in starkem Maße metaphysisches Projekt" nennt (siehe ders., „Anthropology and normativity: a critique of Axel Honneth's f o r mal conception of ethical life'". Philosophy and Social Criticism (2000), Bd. 26, Nr. 1, S. 115-124). Im Unterschied jedoch zu dem, was zu einem solchen Projekt, wie Zum glaubt, gehört, verkünde ich keine „ontologischen oder metaphysischen Wahrheiten über das zeitlose Wesen der Menschheit" (Hervorheb. von mir, H. I.). Das liefe auf ein anthropologisches Unternehmen hinaus. Stattdessen berufe ich mich auf tiefsitzende Intuitionen hinsichtlich des Personseins als eines Ideals oder, wie man auch sagen könnte, auf das kollektiv geteilte normativ-essentalistische Selbstverständnis unserer Lebensform.
43
An dieser Stelle möchte ich noch auf eine Richtung verweisen, in der das von mir über die „ethische" Bedeutsamkeit von Anerkennung Gesagte seltsam anmuten könnte und möglicherweise die Anhänger eines ethischen anerkennungstheoretisehen Denkansatzes enttäuscht. Ich habe mich hier nämlich überhaupt nicht mit der Anerkennung (im Sinne der Akzeptanz, dem Aufmerksamkeit Schenken oder der Wertschätzung) besonderer Identitäten beschäftigt, auf welche die Diskussion um die „Politik der Anerkennung" zu erheblichen Teilen orientiert. Ein Grund dafür ist, dass der ziemlich verschwommene Begriff der „Anerkennung von Identität" eine gründliche Analyse erfordern würde, die in dieser Abhandlung nicht geleistet werden kann. Darüber hinaus glaube ich, dass die „Anerkennung von Identität" weder ethisch noch ontologisch von so wesentlicher Bedeutung ist wie die Anerkennung im Sinne von Liebe und Achtung / Respekt. Um es geradeheraus zu sagen: Wenn die fraglichen anderen um mich herum sich um mein Wohl intrinsisch nicht kümmern, wenn sie mich zudem nicht als jemanden achten, der in mich betreffenden Fragen Autorität besitzt, dann mag das, was sie von meinen besonderen Merkmalen auch immer halten mögen, meine Zwangslage erleichtern oder erschweren, daran jedoch nichts ändern, dass sie ziemlich elend ist. Andererseits ist die Tatsache, dass Menschen nicht all die besonderen Merkmale meiner Identität schätzen, gar nicht so schlecht: sofern es sie nämlich ernsthaft etwas angeht, was gut und was schlecht für mich ist, soweit sie mich wirklich als jemanden achten, der autorisiert ist - ζ. B. über die Kriterien und Normen zu befinden, denen zufolge besondere Identitäten einzuschätzen und zu beurteilen sind. Auch wenn, kurz gesagt, die Wertschätzung der eigenen besonderen Qualitäten oder der eigenen „Identität" nicht ohne Bedeutung ist, so zählt doch sicherlich mehr, als eine Person Anerkennung zu finden.
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Heikki Ikäheimo
Obwohl sich die Angelegenheit bei der Klärung der Einzelfragen zweifellos als schwieriger erweisen wird, so bringt uns allein schon die erste Annäherung in die Nähe der Wahrheit: Je mehr Anerkennung - und damit Personsein - eine Beziehung, Gemeinschaft, Gesellschaft oder Kultur verkörpert oder befördert, desto besser ist sie ethisch gesehen. Zumindest dies scheint es zu sein, was wir wirklich denken. Auch scheint die Annahme nicht besonders gewagt, dass das fragliche „Wir" vernünftige Menschen weit über alle kulturellen Unterschiede hinaus einschließt.44 Aus dem Englischen von Veit Friemert
44
Ich danke Axel Honneth und den Teilnehmern seines Forschungskolloquiums, dass am 17. 04. 2008 in Frankfurt/Main stattgefunden hat, den Teilnehmern des Workshops über Anerkennung am Frankfurter Institut für Sozialforschung vom 30. 06. 2007, den Kollegen an der FEP-SEP-Konferenz der University of Sussex vom 08.-10. 09. 2007, den Teilnehmern des Workshops über Anerkennung und Solidarität am Helsinki Collegium for Advanced Studies (17.-18. 12. 2007), den Teilnehmern der Konferenz Limits of Personhood(6.-8. 06. 2008) in Jyväskylä für konstruktive Kommentare und Fragestellungen. Im gleichen Sinne danken möchte ich Louis Carre, Andrew Chitty, Volker Heins, Michael Quante, Titus Stahl, Italo Testa und Christopher Zum. Viele meiner Gedanken zum Thema Anerkennung entstanden in jahrelanger Diskussion und Zusammenarbeit mit Arto Laitinen. Last but not least bin ich meiner Frau Ming-Chen Lo fur Ermutigung und eine immer scharfsinnige Kritik zu Dank verpflichtet.
Personenverzeichnis
Adorno, T. W. 143, 229-231, 344 Aglietta, M. 298 Albertini, V. 184,185 Altmeyer, M. 181 f., 186, 195 Anderson, E. 161 Anderson, J. 304 Aristoteles 59, 162 f., 165, 338, 345 Augustinus 28 Bacai, H. 186 Balint, M. 195 Bauer, B. 153 Beauchamp, T. L. 113 Beckert, J. 223,249 Bellow, S. 156 Benjamin, J. 20, 67, 181, 183, 191-194 Bennett, J. 103 Bermudez, J. L. 338 Bernstein, J. M. 18,67 Bion, W. 185,187,191 Bloch, E. 216 Boltanski, L. 263 Bourdieu, P. 211, 228, 243, 244 Boydston, J. Α. 273 Boyer, R. 238 Brandom, R. 95, 122, 140, 327, 330, 338 Brennan, G. 315 Brock, D.W. 123 Brudney, D. 19 f., 147, 162, 166 f., 171, 176 Buchanan, Α. 123 Butler, J. 150,155,233 Castel, R. 2 1 3 , 2 3 9 , 2 4 4 Celikates, R. 234 Chiapello, È. 263 Chitty, A. 4 8 , 5 1 Cohen, J. 3 0 , 1 7 0 Comte, A. 154,155,163
Cusset, Y 231 Daniels, N. 123 Danto, A. 73 Darwall, S. 113 Deigh, J. 158 Dejours, C. 284-286 Dent, N. J. H 28, 30 f. Deranty, J.-P. 23, 229, 234, 236, 241, 247, 249, 280, 285, 297 Dewey, J. 272-277, 285, 293 f., 298 Dickens, C. 155 Dillon, R. S. 343 Domers, M. 193 Dröge, Κ. 117 Duménil, G. 240 Durkheim, É. 225, 226, 227, 228 Eagle, M. N. 186 Eliot, G. 1 5 4 , 1 5 7 , 1 6 0 , 1 6 7 Emerson, R. W. 155 Engels, F. 173 Faden, R. R. 113 Feinberg, J 148, 169, 170, 171, 172, 335 Feldman, L. 270 Feuerbach, L. 150, 154, 162, 174 Fichte, J. G. 8, 18, 19, 53, 54-89, 96-98, 104, 107 f., 112 f., 115, 129 Forster, R. 229,233 Foucault, M. 231,233 Frank, M. 93 Frankfurt, H. 330,336 Franks, P. W. 6 0 , 6 6 , 7 0 Fraser, N. 21-23, 117, 121, 126, 209 f., 230 f., 236, 244, 247-250, 252, 263 f., 267, 269-271, 277 f., 283, 285-287, 289-292, 295 f., 298 f., 327 Freud, S. 182-185, 187, 191-193, 197
350 Fukuyama, F.
PERSONENVERZEICHNIS
125
Gattig, E. 186 Gill, M. 148 Goldmann, Α. 18, 104 f. Granovetter, M. 237 Grice, P. 67 Habermas, J. 8, 87, 93, 112, 115, 122, 125, 127, 181, 214, 218 f., 229-232, 236-238, 242, 263-265, 272, 275, 286 f., 292 f., 296 Halbig, C. 104,112,330 Hampshire, S. 155 Hampton, J. 317 Hardt, M. 239,241 Hartmann, M. 230,246 Hegel, G. W. F. 8, 9, 11, 13, 18, 19, 23 f., 27, 60, 70, 78 ff., 86, 91-104, 107-121, 123, 125, 127-138, 140-143, 149, 173, 181, 191 f., 194, 203, 206, 220-228, 234 f., 266 f., 272-274, 309 f., 319, 325-328, 330, 334, 337 f., 345, 347 Hellinger, B. 186 Herman, Β. 147 Hill, T. 168 Hitler, Α. 342 Hobbes, T. 2 8 , 8 6 Holbein, H. 85 Honneth, A. 9, 13,21 f., 27, 92, 112 f., 115-117, 119 f., 126, 169, 173, 181, 189, 193, 214, 216, 218, 229-239, 241, 244-265, 269-300, 303 f., 316, 327, 331, 335, 339, 343 f., 346-348 Horkheimer, M. 2 2 , 2 2 9 Horstmann, R. P. 96, Huhn, T. 75, Hume, D. 145,180 Ikäheimo, H. 24, 302, 305, 309, 311 f., 316, 318-320 Jacobi, F. H. 55,57 Jaeggi, R. 36 Jevons, W. S. 257 Joas, H. 2 8 4 , 2 8 7 , 2 9 3 Jones, P. 317 Kachele, H. 190 Kambartel, F. 217 Kant, I. 10, 14, 19, 27, 56-58, 60, 66 f., 70-72, 112, 126-131, 133, 138, 338,346 Kauppinen, A. 347 Keynes, J. M. 262,266
Kim, J„ 18, 105 Klein, M. 20, 182, 184-187, 191, 194 Kleist, Η. v. 114 Kocyba, H. 291 Köhler, D. 109 Kohut, H. 195 Kojève, Α. 125,181 Kompridis, Ν. 231 Korsgaard, C. M. 147,127 Krämer, H.-L. 283 Kreines, J. 125 Küchenhoff, J. 186 Lacan, J. 181 Laitinen, Α. 23 f., 304-306, 309, 311 f., 316, 318, 320 f., 326, 329, 331 f., 343, 346, 348 Laplanche, J. 65 Leggewie, C. 283 Leibniz, G.W. 138 Lévy, D. 240 Locke, J. 86,152 Loewald, H. 186 Luhmann, N. 14,118 Lukács, G. 14 Maak, T. 277,282 MacIntyre,A. 134 Mahler, M. 194 Margalit, A. 325,342 Marshall, T. H. 116 Marx, K. 8, 14 f., 19 f., 39^11, 145-147, 149-153, 156-177, 180, 205, 210, 229-233, 237-243, 271, 273 f., 282 Mason, Α. 317 McDowell, J. 130,131,338 Mead, G. Η. 11,49,277 Merleau-Ponty, M. 181 Mesch, A. 120 Mill, J. S. 20, 145, 150, 154-156, 161 Milosevic, S. 342 Mitchell, S. 182 Money-Kyrles, R. 185-187, 196 Morgenroth, C. 214 Morus, T. 162 Müller, H. 229 Münch, R. 219 Negri, A. 239,241 Neuhouser, F. 17, 35, 46, 56, 61 f., 170 f., 338, 344 Newman, Κ. M. 186
351
PERSONENVERZEICHNIS
O'Brien, L. 73 O'Neill, O. 127 Oksenberg Rorty, Α.
159
Parsons, Τ 14 Pettit. Ρ 170,315 Pickford, Η. 153 Pinkard, T. 19, 92, 129, 135, 137, 327 Pippin, R. 129, 136, 327, 330, 345 Platon 5 9 , 8 5 , 1 6 2 , 1 6 3 Pöggeler, O. 109,112 Pol Pot 342 Polany, Κ. 222,223 Popper, Κ. R. 93 Quante, M. 18, 91, 93, 96 f., 100, 104 f., 113, 120, 122, 267, 330, 348 Rawls, J. 12, 117,120 f., 127,146 f., 167 f., 170 f., 177 Reagan, R. 172 Reath, A. 147 Reiche, R. 186,196 Renault, E. 22, 233-236, 238, 246 f., 271, 280-285,289-291,299 Richardson, H. 131 Ricoeur, P. 107, 112, 119 f. Rortry, R. 115, 125f, 159 Rousseau, J.-J. 8, 17, 2 7 - 4 1 , 4 3 f., 46, 48, 51, 56, 86, 166, 169 Rutherford, M. 297 Sallard, Y. 238 Sartre, J.-P. 181,230 Scanion, T. M. 113 Scharff, J. M. 186 Schlegel, Friedrich 114 Schmidt am Busch, H.-C. 7, 22, 23, 145, 221, 244, 250, 254, 265 f., 323 Schneider, G. 186 Schopenhauer, A. 150, 155 Schweikard, D. 9 1 , 1 0 0 Seel, M. 216 Segal, H. 184 f. Sen, Α. 118 Senghaas-Knobloch, E. 213 Sennet, R. 217,244
Siep, L. 18 f., 91-93, 107-109, 112, 115, 118, 120, 122 f., 125,310,330 Sinnerbrinks, R. 327 Smith, A. 194,292,278 Solomon, R. C. 159 Sophokles 139 Sorel, G. 230 Spivak, G. C. 235 Stalin, J.W. 342,343 Stehr, Ν. 249 Steiner, J. 186 Stekeler-Weithofer, P. 328 Stephen, J. F. 156 f. Straus, E.W. 82 Strawson, G. 314 Strawson, P. F. 67,319 Taylor, C. 112-114, 118 f., 1 2 6 , 2 9 3 , 3 0 3 , 3 1 7 Taylor, F.W. 251 Thomä, H. 190 Thompson, M. 134 Thompson, S. 270 Todorov, T. 193 Tomasello, M. 117 Tooley, M. 332 Tugendhat, E. 93,186 Ulrich, P.
277,282
Vidal, G. 151 Vieth, Α. 91 Vincent, J.-M. 229 Walzer, M. 118 Weber, M. 14, 209 f. Wikler, D. 123 Wilde, O. 150 Wildt, A. 2 0 , 9 2 , 1 8 1 , 1 8 9 , 1 9 1 Williams, R. 86, Winnicott, D. 20, 183, 190-192, 195 Wittgenstein, L. 80 Wood, A. 64 Zum, C. F. 7-24, 145, 236, 243, 247, 268, 270-282, 285 f., 288 f., 291 f., 294-296, 298 f., 323, 324, 347, 348