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German Pages [210] Year 2015
Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie
Herausgegeben von Christine Axt-Piscalar und Christiane Tietz Band 147
Vandenhoeck & Ruprecht
Lukas Ohly
Anwesenheit und Anerkennung Eine Theologie des Heiligen Geistes
Vandenhoeck & Ruprecht
Für Isabelle
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-56416-5 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de p 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung: Warum man lieber nicht über den Heiligen Geist redet 1.1 Scheinbare Gegentrends . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Konsequenzen und Aufgabenbestimmung . . . . . . . . . . . 1.3 Kurzer Einblick in die Forschungssituation . . . . . . . . . . 1.4 Der Weg dieses pneumatologischen Ansatzes . . . . . . . . .
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2. Zur Methodik der Pneumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Mögliche Zugänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Evidente Anwesenheitsphänomene . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Was „ist“ Anwesenheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Anwesenheit passt nicht zu den aristotelischen Kategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Anwesenheit bei Peirce . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Anwesenheit und die Evidenz Gottes . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Das Anwesen bei Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Johannes Fischers theologisches Geistverständnis als Anwesenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Die Scheidung der Geister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1 Sprachliche Klärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2 Warum die Sünde gegen den Heiligen Geist unvergebbar ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Wann Menschen doch vom Heiligen Geist reden . . . . . . . 3.1 Expressive Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Geistheilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Der Gottesdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Ikonographie und reformatorisches Schriftprinzip 3.2 Reflexive Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Gespensterglaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Eingebungen und Bekehrungserlebnisse . . . . . . 3.2.3 Religiöse Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4. Glaube und Werke: Sind Christen bessere Menschen? . . . . . . . . 4.1 Die Treue Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
4.2 4.3 4.4 4.5
Ist die Rechtfertigung allein aus Glauben evident? . . . . . . Der Glaube ist eine freie Entscheidung, aber keine neutrale . Ein guter Geist leitet gute Personen . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5. Man kann nur mit Kirche an Gott glauben . . . . . . . . . . . . . 5.1 Gerechtigkeit allein aus Treue in der Kirche und in anderen Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 „Warum die Kirche sei“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Treue um der Treue willen in der Familie? . . . . . . . . 5.1.3 Gerechtigkeit der Institutionen und Organisationen . . 5.2 Gibt es Christen ohne Kirchenmitgliedschaft? . . . . . . . . . 5.3 Amtshandlungen für Nichtchristen? . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Wann ist der Kirchenaustritt mit dem christlichen Glauben vereinbar? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Kollidiert nicht die Kirche mit dem Gewissen des Einzelnen? . 5.6 Die Grenzen der Anerkennung zwischen den Kirchen und die Anerkennung in der Ökumene . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.1 Was zeichnet die Ökumene aus? . . . . . . . . . . . . . 5.6.2 Noch zwei unerledigte Themen . . . . . . . . . . . . . . 5.7 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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6. Die Kraft des Wortes . . . . . . . . . . 6.1 Worte und das Wort . . . . . . . . 6.2 Was die Worte des Wortes können 6.3 Evangelium als virtuelle Gegenwelt
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7. Die Kraft der Sakramente . . . . . . . . . . . 7.1 Wie wirken Sakramente? . . . . . . . . . 7.1.1 Wort und Sakrament . . . . . . . 7.1.2 Auf der Schwebe . . . . . . . . . . 7.2 Brauchen wir einen Sakramentsbegriff ? 7.3 Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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8. Ewiges Leben mit altem Gehirn? 8.1 Die Recovery-These . . . . 8.2 Das Identitätsproblem . . . 8.3 Das Funktionalitätsproblem 8.4 Einige Schlussbemerkungen
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. 91 . 92 . 95 . 99 . 102 . 107
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9. Das Ende der Kränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 9.1 Gibt es überhaupt ein Weltende? . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 9.2 Wer wird erlöst? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
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Inhalt
9.3 Wie wird ungeheiltes Leid geheilt werden? . . . . . 9.3.1 Der ewig leidende Gott (I.U. Dalferth) . . . . 9.3.2 Erlösung als retroaktive Kausalität (S. Zˇizˇek) 9.4 Der lange Schatten der Erlösung in die Gegenwart .
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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192
Vorwort Mit dem vorliegenden Band runde ich meine Studien einer trinitätstheologischen Dogmatik ab.1 Ihm gingen etliche Lehrveranstaltungen an der GoetheUniversität in Frankfurt voraus, an denen ich meine Position vorstellen und schärfen konnte. Am Thema der Pneumatologie zeigt sich für mich am stärksten, wie flüssig dogmatische Themen bleiben. So ist die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD von 2012 erst im Lauf des Drucklegungsprozesses dieses Buches veröffentlicht worden und konnte daher nicht mehr hinreichend berücksichtigt werden.2 Allerdings sind die Interpretationen zur Untersuchung selbst noch so flüssig, dass sich daraus bisher noch kein stimmiges Gesamtbild über den gegenwärtigen Zustand der Kirche ergeben hat. Durch die Momentaufnahme einer Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung mag man dennoch den soziologischen Zustand der Kirche inzwischen etwas anders beurteilen als ich es hier getan habe. Unverändert gültig bleiben aber die systematisch-theologischen Einschätzungen von Kirchenmitgliedschaft, die ich vor allem im fünften Kapitel dieses Bandes darlege. In mehreren Etappen habe ich das Manuskript kritischen Lesern vorgestellt, um es weiter zu präzisieren. Dr. Manuel Goldmann verdanke ich einige grundlegende Anmerkungen zu meiner Bibelhermeneutik und zu meiner Aufnahme humanwissenschaftlicher Forschung in die Pneumatologie. Jörg Persch hat als Lektor des Verlags sehr wertvolle Anregungen zur inhaltlichen Zuspitzung gegeben. Für die religionsphilosophische Schärfung hat Jonathan Horstmann ebenso Wesentliches geleistet wie für sprachliche Präzisierungen. Dasselbe gilt für Eva-Katharina Gericke. Den Herausgebern danke ich für die schnelle Bearbeitung, so dass trotz des langen Entwicklungsprozesses nun ein zügiger Abschluss für eine Publikation ermöglicht wurde. Meiner Familie, insbesondere meinem Sohn Noah, danke ich für die unorthodoxe Freizeitgestaltung an etlichen Wochenenden, die oft mit dem Produktionsprozess am Manuskript verknüpft war. Dabei hat meine Tochter Tamara mich beim Verständnis fremdsprachiger Texte phantastisch beraten und meine Frau Kirsten in etlichen Gesprächen meine Gedanken weitergeführt. Die erste Entwurfsphase hat Isabelle Schachermayer mit kontinuierlichen Rückmeldungen unterstützt. Insbesondere hat sie mir erschlossen, dass meine 1 Zu den übrigen Topoi s. Ohly, Warum Menschen von Gott reden; ders., Was Jesus mit uns verbindet. 2 Engagement und Indifferenz.
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Vorwort
dargestellte Dialektik des Anwesenheitsbegriffs den Schlüssel der Pneumatologie bildet. Ihr möchte ich dieses Buch widmen. Nidderau, Ewigkeitssonntag 2014
Lukas Ohly
1. Einleitung: Warum man lieber nicht über den Heiligen Geist redet Menschen reden zwar viel von Gott. Sie reden aber deutlich weniger vom Heiligen Geist. Zwar scheint sich inzwischen ein gesellschaftlicher Trend abzuzeichnen, wonach mehr Menschen an irgendeine übernatürliche Macht1 oder Energie glauben. Gott aber schon als einen „guten Geist“ zu bezeichnen, scheint nur einer gesellschaftlichen Minderheit zugänglich zu sein.2 Schon für Christen wirkt das Reden vom Heiligen Geist wie unnötiger Ballast, den man sich für den eigenen Glauben nicht zumuten möchte. Nun verzichten andere Religionen auf die Rede vom Heiligen Geist.3 Sie mögen von der Weisheit Gottes sprechen oder vom Geist Gottes; sie mögen auch spirituelle Eingebungen kennen. Aber sie beschreiben solche Eigenschaften oder Erscheinungen nicht als Gott selbst. Für andere Religionen ist der Geist allenfalls eine Eigenschaft Gottes. Für das Christentum dagegen ist er Gott selbst. Damit könnte die implizite Unterstellung verbunden sein, dass der Heilige Geist nur im Zusammenhang mit Jesus Christus erscheint. Aber selbst für Christen ist der Heilige Geist etwas Fremdes. Das liegt schon einmal daran, dass er sich schwer vorstellen lässt.4 Dass Gott einen weisen Geist hat, einen klugen Verstand, kann man sich als gläubiger Christ leicht vorstellen. Aber den Heiligen Geist begleiten völlig andere Phänomene als (mentale) Verstandes-Phänomene. Folgt man dem Apostolischen Glaubensbekenntnis, so geht es beim Heiligen Geist um kirchliche Gemeinschaft, um Sündenvergebung und ewiges Leben. Bei diesen Themen mag zwar der Verstand beteiligt sein, aber sie lassen sich nicht auf eine göttliche Verstandestätigkeit reduzieren. Nach der neutestamentlich-reformatorischen Tradition ist vom Heiligen Geist zu reden, wenn die Entstehung des Glaubens thematisiert wird. Nicht nur das Pfingstereignis aus der Apostelgeschichte betont die Wirkmacht des Heiligen Geistes für den Glauben. Auch Martin Luther hat betont: „Ynnerlich handelt [Gott] mit uns durch den heyligen geyst und glauben.“5 Demnach sind zwar beim Glauben mentale Fähigkeiten betroffen, 1 FAZ, Allensbach-Analyse. Christliche Werte haben Bestand, 26.09.2012. 2 Jörns, Die neuen Gesichter Gottes, 52f, 234. 3 Das scheint auch für das Judentum zu gelten: In der hebräischen Bibel kommt dieser Ausdruck nur dreimal vor, der Ausdruck „Geist Gottes“ dagegen 15-mal, „Geist JHWH“ 22-mal. Selbst wenn die beiden letzteren Begriffe deutlich öfter in der hebräischen Bibel vorkommen, ist der Befund zu gering, als dass er unverzichtbar gelten könnte. 4 Fischer, Theologische Ethik, 149. 5 Luther, Werke; WA XVIII, 136.
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Einleitung: Warum man lieber nicht über den Heiligen Geist redet
aber sie übersteigen gewohnte mentale Phänomene. Denn nimmt man den Heiligen Geist wie eine mentale Eigenschaft Gottes, dann lässt sich nicht verstehen, dass der Heilige Geist Menschen überkommen kann. Will man sagen: „Ich glaube durch die Kraft des Heiligen Geistes“ und dies ausschließlich mental interpretieren, dann ist Gottes Bewusstsein im eigenen Bewusstsein enthalten, und zwar so, dass man diese mentalen Zustände nicht hätte, wenn sie Gott nicht hätte und wenn sie Gott nicht in mir hätte. Die Vorstellung, dass ein mentales Bewusstsein in einem anderen mentalen Bewusstsein denkt, widerspricht dagegen unseren Vorstellungen des Mentalen, so dass der Heilige Geist offenbar auch nach biblisch-reformatorischem Verständnis mehr und anderes umfassen muss als nur etwas Mentales. Und genau dieses „Mehr“ macht es Christen schwer, etwas mit dem Heiligen Geist anzufangen: Wie genau wirkt Gott den Glauben, wenn nicht allein durch mentale Prozesse? Nun ist es nicht nur das Wort „Heiliger Geist“, das so schwer nachzuvollziehen ist. Auch die Themen, die traditionell mit dem Heiligen Geist behandelt werden, verhalten sich zu unserer gegenwärtigen zeitgeschichtlichen Situation sperrig, so dass man schwer darüber reden kann. Das gilt schon für den Glauben selbst. Christen reden auch nicht gern über den Glauben. In der medialen Öffentlichkeit sagt man Christen nach, „sich schamhaft zu verbergen oder die Botschaft ins Weltlich-Bekömmliche zu verdünnen.“6 InternetRatgeber warnen davor, bei einem ersten Date über das „ernste“ oder gar „negative“ Thema Religion zu sprechen.7 Man muss sich schon in christlichen Partnerbörsen verabreden, um diese Regel durchbrechen zu können. Aber wer will das schon? Seitdem Muslime in Europa ein verstärktes religiöses Selbstbewusstsein zeigen, fällt demgegenüber auf, wie zurückhaltend Christen über ihren Glauben reden, in der Öffentlichkeit beten oder sich religiös ausdrücken.8 Zum einen mögen sich Christen nicht befähigt fühlen, sprachlich zu artikulieren, was sie glauben. Zum anderen mag ihnen dieser Themenbereich als zu intim erscheinen, als dass sie ihn mit Gesprächspartnern teilen möchten. Schließlich jedoch fehlen vielen auch die religiösen Inhalte, die sie anderen mitteilen könnten. Aber auch die Inhalte des Glaubens, die klassisch dem Heiligen Geist zugeordnet sind, werden marginalisiert. Für die Auferstehung der Toten mag das noch am wenigsten der Fall sein. Allerdings steht diese Vorstellung in direkter Konkurrenz zu anderen Vorstellungen einer Weiterexistenz nach dem Tod. Inzwischen ist bundesweit die Vorstellung der Wiedergeburt fast ebenso oft anzutreffen wie die Auferweckung durch Gott. Unter evangelischen Christen 6 DIE ZEIT 21/2011, 60. 7 http://gentleys.com/so-finden-sie-gesprachsthemen/ (Zugriff 19.05.2011). 8 Das EKD-Impulspapier „Kirche der Freiheit“ beschreibt die Beobachtung, dass nicht-kirchliche Menschen nicht etwa durch die Konfrontation mit dem Christentum über religiöse Themen nachdenken, sondern durch die Konfrontation mit dem Islam (Kirche der Freiheit, 39).
Einleitung: Warum man lieber nicht über den Heiligen Geist redet
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findet sich die philosophische Vorstellung der Unsterblichkeit der Seele dreimal häufiger als das biblische Zeugnis von der Auferstehung.9 Noch stärker verlieren die anderen Themen des Heiligen Geistes an Bedeutung. Dies ist etwa bei der Rede von der Sünde und Sündenvergebung der Fall. Die Sünde ist geradezu ein Reizbegriff für moderne Ohren, bemerkte schon Rudolf Bultmann.10 Dies hat sich seither nicht wirklich verändert, sondern eher verschärft.11 Es scheint sich aber auch der Begriff der Vergebung zu einem Tabuthema zu entwickeln. Wo nicht mehr verstanden wird, was Sünde ist, kann auch die Vergebung der Sünden nicht mehr verstanden und nicht mehr glaubwürdig angesagt werden. Offenbar lässt sich höchstens noch davon sprechen in moralischen Zusammenhängen, aber anscheinend auch da nur sehr zurückhaltend. Tatsächlich haben moralische Diskurse, Bewertungen und Verurteilungen Hochkonjunktur – nicht aber die Vergebung. Sie erleidet dasselbe Schicksal wie der Glaube und wird ins Privatleben abgeschoben. Für politische Fehlleistungen verlangt man den Rücktritt, die öffentliche Selbstkasteiung oder umgekehrt die Bestrafung. Wo solche Machtmittel fehlen – etwa in zwischenmenschlichen Konflikten –, wird Schuld psychologisiert und therapeutisiert. In intimen Konflikten erklären sich Menschen gegenseitig nicht für schuldig, sondern für krank, als bräuchten sie Hilfe.12 Zugleich aber werfen sie sich gegenseitig vor, Hilfe zu brauchen.13 Damit werden wieder Schuldvorwürfe erhoben. Der Versuch ist somit bislang unvollständig geblieben, moralische Schuldkonflikte zu pathologisieren und zu therapeutisieren. Das liegt daran, dass für die Vergebung kein psychologisches Äquivalent zu finden ist: Denn wodurch würden wir anerkennen, dass jemand von seiner „Krankheit“ (ehemals Schuld) geheilt worden ist? Doch nur, indem wir ihm seine Schuld vergeben. Vergebung ist eine Form der Anerkennung eines Menschen als zurechnungsfähige Person wie wir. Genau diese Anerkennung versagen wir einem Menschen gerade, wenn wir seine Schuld psychologisch reduzieren.14 Schließlich erfreut sich auch die Kirche keiner besonderen Beliebtheit. Dem landläufigen Missverständnis, man könne auch ohne Kirche an Gott glauben, wird auf theologischer Ebene nicht grundsätzlich begegnet. Zu einer kirchlichen Begründungshilfe zur Kirchenmitgliedschaft für ihre Mitglieder bemerkt J. Hermelink: „Die Institution läßt ihre Mitglieder hier bislang ziemlich allein.“15 Zwar boomt derzeit das Thema Kirche in praktisch-theologischen und
9 http://www.adeo-online.de/modernes-menschenbild-%E2%80%93-wer-glaubt-noch-an-dieauferstehung (Zugriff 25.05.2011). 10 Bultmann, Neues Testament und Mythologie, 20. 11 Gestrich, Die Wiederkehr des Glanzes in der Welt, 7. 12 Illouz, Warum Liebe weh tut, 265. 13 Treffend illustriert bei Illouz, Warum Liebe weh tut, 405f. 14 Vgl. Körtner, Muss Strafe sein?, 111f. 15 Hermelink, Das Bekennen der Mitglieder und das Bekenntnis der Kirche, 371f.
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Einleitung: Warum man lieber nicht über den Heiligen Geist redet
systematisch-theologischen Publikationen.16 Die hohe Anzahl an Publikationen zur Kirche ist aber ein Symptom ihrer Krise. Man kann zudem nicht sagen, dass dieser Diskurs eine breitere Öffentlichkeit erreicht. Auch das Ausweichen auf strategische Kommunikation (Mitgliederwerbung, Kirchenläden, Tauf-Events) verrät eine argumentative theologische Schwäche zum Zusammenhang von Glaube und Kirchenzugehörigkeit. Es scheint nur pragmatisch klar zu sein, warum Christen zur Kirche gehören sollten.17
1.1 Scheinbare Gegentrends Besteht ein Zusammenhang zwischen der Schwierigkeit, über den Heiligen Geist zu reden, der Schwierigkeit im Verständnis von Sünde und Kirche und schließlich im Verständnis, über den Glauben zu kommunizieren? Man kann umgekehrt nicht sagen, dass überall dort die Probleme überwunden sind, in denen Christen solche Kommunikationsvorbehalte nicht haben. Pietistische und evangelikale Gemeinden zeigen zwar längst nicht dieselbe Zurückhaltung in diesen Themen: Gemeindegründungen gehören zu ihren regelmäßigen Handlungshorizonten ebenso wie eine gepflegte Sprachkultur des Glaubens (auch wenn vor allem in solchen Kreisen beklagt wird, dass „Christen nicht über ihren Glauben reden“ können18). Allerdings hat es nicht den Anschein, dass theologische Gründe ausschlaggebend sind, wenn solche Gemeinden wachsen, sondern vielmehr milieusensible Gemeindeaufbaukonzepte.19 Zu einem missionarischen Modell, bei dem Nicht-Christen zum Christentum gewonnen werden, taugen diese Gemeinden nur bedingt, da sie vor allem neue Mitglieder gewinnen können, die aus anderen Kirchengemeinden kommen.20 Allerdings sollte nicht unerwähnt bleiben, dass das Christentum weltweit eine wachsende Religion ist, und zwar durch die charismatisch geprägten Pfingstbewegungen. Pfingstkirchengemeinden sind die einzigen kirchlichen Gruppen, die weltweit eine Wachstumsbewegung auslösen, wie sie in der Religionsgeschichte einzigartig ist.21 Dabei gibt es auch hier regionale Auffälligkeiten: Die Pfingstbewegung wächst vor allem in Lateinamerika, im 16 Fechtner, Späte Zeit der Volkskirche; Hermelink, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens; Karle, Kirche im Reformstress; Ludwig, Von der Institution zur Organisation; Reuter, Botschaft und Ordnung; Schlag; Zürich 2012. 17 Beispielhaft Rat der EKD, Kirche der Freiheit, 21, 52. Ders., Gott in der Stadt, 68. Kritisch Hermelink, Das Bekennen der Mitglieder und das Bekenntnis der Kirche, 371. 18 http://www.evangelisation.biz/data/file/VORTEILE%20VON%20EVANGELISATIONS-WOCHEN.pdf (Zugriff 19.05.2011). 19 Hofmann: Kirche XXL, 470. 20 Ebd. 21 Thiede, Heilungswunder in der Sicht neuerer Dogmatik, 91.
Konsequenzen und Aufgabenbestimmung
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südlichen Afrika und in Fernost.22 In Europa bleibt sie dagegen eine unauffällige Bewegung. Offenbar lösen nicht etwa reine theologisch-spirituelle Überzeugungen diese Bewegungen entscheidend aus, sondern sie scheinen in spezifischer Weise mit regionalen Besonderheiten verbunden zu sein. Es lässt sich also nicht schlussfolgern, ein produktives Verständnis vom Heiligen Geist und seiner Teilthemen sei allein schon für das Wirken des Heiligen Geistes verantwortlich. Ebenso wenig lässt sich der Umkehrschluss halten, dass schrumpfende Gemeinden ein negatives Zeichen Gottes seien. Denn es könnten andere Gründe noch stärker ins Gewicht fallen, dass bestimmte Gemeinden schrumpfen, obwohl Gott auch in schrumpfenden Gemeinden wirkt.
1.2 Konsequenzen und Aufgabenbestimmung Wie man den Heiligen Geist identifiziert, ist also nicht sofort klar. Das ist ein Grund, warum es so schwer fällt, angemessen über ihn zu reden. Aus den bisherigen noch sehr vorläufigen Beobachtungen möchte ich aber bereits zwei Konsequenzen ziehen. Zum Ersten: Man könnte die emphatische These begeisterter Gemeindeleiter fallen lassen, dass wachsende Gemeinden Gottes Wirken hinreichend zum Ausdruck bringen, aber trotzdem der Meinung sein, dass sie etwas mit ihm zu tun haben. Immerhin fasst bereits das Neue Testament entsprechende Wachstumsberichte zusammen und ordnet sie dem Wirken Gottes zu (Apg 2,47). In diesem Fall werden soziale Wirklichkeiten geist-theologisch relevant, aber auch gemeindeleitende Kalkulation und mit ihr auch materielle und regionale Ressourcen. Wer vom Heiligen Geist spricht, darf und muss dann offenbar auch Themen einschließen, die zunächst ungeistlich erscheinen mögen: Erfolg, materielle Sicherheit, lokale Vorteile, Konkurrenz – unter Konfessionen, aber auch unter Gemeindegliedern. Mit diesen Themen ist dann auch eine ethische Dimension verbunden. Deshalb hat die theologische Frage nach dem Verhältnis von Glaube und guten Werken hier ihren Ort: in der Theologie vom Heiligen Geist. Zum Zweiten: Auch das Verhältnis des Christentums zu anderen Religionen scheint sich nun positiv bestimmen zu lassen. Zumindest ist dies eine wichtige Entwicklung vor allem der letzten Jahrzehnte gewesen. Dies zeigt sich schon in einer Verschiebung der Fragestellung an einen anderen Ort der Glaubenssystematik. Hat man bislang meistens die Frage nach der Absolutheit des Christentums in der sogenannten „Prolegomena“ abgehandelt23 – also in den 22 Rust, Geist Gottes, 22. 23 Zum Beispiel F. Schleiermacher, Der christliche Glaube Bd. 1, § 8; K. Barth, KD I, 2, Zürich 1948, § 17; Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens Bd. 1, § 6; Härle, Dogmatik, Kap. 3.
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Einleitung: Warum man lieber nicht über den Heiligen Geist redet
methodischen Vorüberlegungen –, so ist das Verhältnis zu anderen Religionen inzwischen teilweise in die Lehre vom Heiligen Geist eingewandert.24 Paul Tillichs dritter Band seiner Systematischen Theologie ist hier bahnbrechend gewesen.25 Seither sind theologische Beiträge aufgeschlossen und zwar durch ihre pneumatologische Begründung. 26 Im Gegensatz zu bisherigen Absolutheitsformeln oder Überlegenheitsbekundungen seitens christlicher Theologen wird inzwischen in Aussicht gestellt, dass die Zugänge anderer Religionen unvergleichbar sind27 und daher auch nicht bewertet werden können.28 In beiden Konsequenzen verschränken sich materielle und geistige Elemente; das Materielle gehört zum Geistigen mit dazu. Religionen haben ihre eigene Geschichte, ihre eigenen geografischen Ursprünge. Michael von Brück hat die These vertreten, dass jemand, der Visionen oder ekstatische Erfahrungen hatte, erst Jahre später darüber reden kann. Dabei muss er die Sprache seiner jeweiligen religiösen Herkunft benutzen.29 Von Brück folgert daraus, „dass der jeweilige Zeitgeist oder auch benennbare theologische Interessen das hermeneutische Geschehen beeinflusst haben und auch weiterhin prägen.“30 Eine Theologie des Heiligen Geistes muss daher anscheinend solche Verhältnisse, die der Heilige Geist eingeht, mit in den Blick nehmen. Allerdings kommt es entscheidend darauf an, welche Verhältnisse genau man vorwiegend in den Blick nehmen soll. Je nachdem ist mit unterschiedlichen Ergebnissen zu rechnen. Geht es etwa um das Verhältnis 1. 2. 3. 4. 5.
des historisch Zufälligen zum zeitlos Gültigen oder des Faktischen zum Idealen oder des Individuellen zum Allgemeinen oder des materiell Konkreten zum geistig Abstrakten oder gar des Materiellen zum Mentalen?
Schließlich ist zu klären, ob der Heilige Geist eines dieser Verhältnisse ist oder nur eine ihrer Seiten. Daher muss nach einer angemessenen Methode gesucht werden, wie Phänomene des Heiligen Geistes ausgemacht werden können.
24 H.M. Barth, Dogmatik, 138. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, 426, 528, 678; F.-W. Marquardt ordnet zwar das Verhältnis des christlichen Glaubens zu anderen Religionen der Christologie zu, allerdings nur, indem er dabei die Geisteskraft Jesu zugrunde legt (Marquardt, Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden Bd. 1, 90). 25 Tillich, Systematische Theologie Bd. III, 168–171. 26 Körtner, Die Gemeinschaft des Heiligen Geistes, 90; Moltmann, Der Geist des Lebens, 244; Ritschl, Zur Logik der Theologie, 205f; Welker, Gottes Geist, 284. 27 Bernhardt (Hg.), Horizontüberschreitung. 28 Zum Beispiel Stoevesandt, Wehrlose Wahrheit, 223. 29 Brück, Mystische Erfahrung, 87–91. 30 Brück, Mystische Erfahrung, 93.
Kurzer Einblick in die Forschungssituation
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1.3 Kurzer Einblick in die Forschungssituation Auch die Theologie hält sich mit der Rede vom Heiligen Geist zurück. Es ist wieder ruhiger geworden um den Heiligen Geist, nachdem zwischendurch ein Aufbruch pneumatologischer Interpretation gestartet worden ist.31 Ungebrochen stark wird er allerdings in der freikirchliche Theologen rezipiert. Doch hat sich inzwischen auch dort eine gewisse Ernüchterung breitgemacht. Das Gemeindeaufbau-Modell von Willow Creek, das der Exportschlager freikirchlichen Gemeindeaufbaus ist, wurde zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einer empirischen Studie einer internen Kritik unterzogen.32 Darin zeigte sich, dass vor allem die hoch identifizierten und stark aktiven Mitglieder an ihrer Geisteskraft zweifeln. „Those who are Growing in Christ actually show significant hesitation when they self-assess their spiritual pace.”33 Zwar ist die Frömmigkeit der geistlichen Erneuerung geübt in der Unterscheidung zwischen dem Heiligen Geist und anderen Impulsen34, so dass vorschnelle Identifikationen zwischen innerkirchlichen oder individuellen Glaubensprozessen und dem Geistwirken eigentlich unterbleiben müssten. Allerdings fehlen offenbar transparente Regeln dafür, wie diese Unterscheidung gelingen soll. Dadurch entstehen zum einen eigentümliche Idiosynkrasien („spiritual pace“), zum anderen ein Schwanken zwischen Lobpreis und Kritik. Als Beispiel ziehe ich einen Beitrag von Christian Rust heran: Bei aller Selbstkritik über vorschnelle Identifikationen zwischen Gemeindewachstum und Geistwirken35 kann der Verfasser offenbar trennscharf „erfahren“ oder „spüren“, wie Gott ihm „sehr konkrete Einzelheiten über Menschen offenbarte“36. Der Leser erfährt aber nichts über die Kriterien dieser Identifikation, die sie als pneumatologisch gewirkt ausweist. Kommt Rust auf die pneumatologische Kriteriologie zu sprechen, so betont er immerhin, dass allein eine christologische Bezugnahme vor einem falschen Triumphalismus bewahre.37 Es handelt sich dabei aber nicht etwa um eine kreuzestheologische Bemerkung. Vielmehr wird umgekehrt das Kreuzesleiden Jesu pneumatologisch verstanden: „Das Geschehen am Kreuz Jesu ist nur in der Kraft des Geistes möglich gewesen.“38 In dieser Argumentation zeigt sich entweder ein vitiöser Zirkel oder eine Interdependenz zwischen Christologie und Pneumatologie. Im letzteren Fall ließe sich aber über das Geistwirken außerhalb des Christus-
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Körtner, Die Gemeinschaft des Heiligen Geistes, 1. Hawkins/Parkinson, Prüfen. Hawkins/Parkinson, Move, 52. Farley, Das nackte Evangelium, 12 u.ö. Rust, Geist Gottes – Quelle des Lebens, 33. Rust, Geist Gottes – Quelle des Lebens, 18. Rust, Geist Gottes – Quelle des Lebens, 28. Rust, Geist Gottes – Quelle des Lebens, 44f.
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Einleitung: Warum man lieber nicht über den Heiligen Geist redet
geschehens nichts aussagen, also auch nichts über die Erfahrungen, die Rust beschreibt. In der volkskirchlich geprägten evangelischen Theologie besteht zwar weniger eine Unsicherheit in der geeigneten methodischen Herleitung, wohl aber eine Uneinigkeit darüber. Der Entwurf von Gunther Wenz wählt einen historischen Zugang: „Wie aber der Hl. Geist nicht unmittelbar, sondern mittels bestimmter Zeichen wirkt, die auf Gottes Offenbarung in Jesus Christus verweisen, so kann sich die theologische Selbstreflexion, wenn sie nicht unbestimmt bleiben will, nur auf vermittelte Weise vollziehen, nämlich im überlieferungsgeschichtlichen Medium.“39 Damit Phänomene mit dem Heiligen Geist identifiziert werden können, müssen sie auf die Glaubenszeugnisse rückbezogen werden können, die vom Heiligen Geist reden. Das führt bei Wenz zu einer dogmatischen Untersuchung, die historisch-kritisch rekonstruiert, wie vom Heiligen Geist zu reden ist: „Historische Kritik und systematische Konstruktion stehen in einem differenzierten theologischen Zusammenhang.“40 Im Durchgang seines Entwurfs richtet Wenz allerdings nicht nur einen Blick auf die biblischen Ursprungszeugnisse, die als solche historisch normativ sind, sondern bezieht zudem dogmengeschichtliche Prozesse zur Klärung des Phänomenbereichs heran. Denn weil das Ursprungszeugnis „in einem unveräußerlichen Bezug zu geschichtlichen Ereignissen steht“41, ist letztlich die Geschichtlichkeit von Glaubensurkunden die materiale Grundlage theologischer Erkenntnis. Für eine systematische Konstruktion bleibt in Wenz’ Entwurf kaum Raum, was er selbstkritisch zugesteht, wenn er lediglich „ansatzweise“42 darauf zu sprechen kommt. Auch in seiner knappen Entfaltung der aktuellen Wirkweise des Geistes bindet sich Wenz an die historische Darstellung, nämlich an die altkirchliche Lehre der „media salutis“43. Durch diese methodische Entscheidung entwickelt sich das Buch primär in eine historische Aufarbeitung der Christologie, die dem Problem der Gottessohnschaft Jesu auf den Grund geht, um dadurch verständlich zu machen, wie Gott im Menschen geistlich nahe sein kann.44 Denn weil die Göttlichkeit des Geistes historisch in christologischen Verständigungsprozessen festgeschrieben wurde, ist der theologiegeschichtliche Rekurs auf die Christologie für Wenz zwingend. Für die Beziehung Gottes zu Mensch und Welt steht allerdings nicht der Geist direkt ein, sondern der Logos, also die trinitarische Person des Sohnes.45 Diese wiederum entfaltet ihre Funktion der Gottesnähe
39 40 41 42 43 44 45
Wenz, Geist, 28. Ebd. Wenz, Geist, 234. Wenz, Geist, 353. Wenz, Geist, 353ff. Wenz, Geist, 7ff, 251ff, 294, 308 u.ö. Wenz, Geist, 328.
Kurzer Einblick in die Forschungssituation
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nur „in der Kraft des göttlichen Geistes“46. Hier wüsste man gerne mehr über die differentia specifica des Geistes im Verhältnis zum Logos. Insgesamt bleibt die historisch-systematische Rekonstruktion des Heiligen Geistes bei Wenz streng gebunden an die Christologie, so dass sich das Proprium der Pneumatologie in sie aufzulösen droht. Nach meinem Eindruck wird pneumatologisch zu wenig gesagt und zu wenig Orientierung über eine aktuelle Entfaltung des Heiligen Geistes gegeben. Wenz’ Pneumatologie setzt dennoch mit seiner methodischen Stringenz einen erfreulichen Kontrapunkt zum gegenwärtigen Trend einer eher assoziativen Beschäftigung mit dem Heiligen Geist charismatisch-freikirchlicher Couleur. Daneben ist das Bemühen der feministischen oder politischen Theologie auf ihre pneumatologische Reflexion inzwischen weitgehend abgeebbt oder wirkt wie eine Zeitreise in die 1980er und 90er Jahre.47 Dies markiert allerdings auch die Tatsache, dass die bedeutendsten pneumatologischen Monografien aus jener Zeit stammen. In einem kurzen Abstand erschienen hierzu die beiden Bücher von Jürgen Moltmann48 und Michael Welker49. Beide verbindet das Anliegen, die genannten neuen spirituellen Bewegungen theologisch wertschätzend zu reflektieren. Moltmann setzt dabei das Programm einer ökologischen Versöhnungstheologie fort50, die er bereits in seiner Schöpfungslehre und Christologie begonnen hatte. Weil Gott und Welt natürlich miteinander verbunden sind51, treten als geistliche Gemeinschaften die „natürlichen Gemeinschaften“52 hervor. Entsprechend werden Krankenheilungen als „Vorzeichen der Totenauferstehung“53 zum Auftrag eines vom Geist beseelten Handelns betrachtet. Moltmanns Ansatz ist durch die ökologische Krise und Emanzipationsbewegungen seiner Zeit motiviert54, wird aber methodisch auf eine theologische Ontologie ausgerichtet. Er entwirft pneumatologisch ein ontologisches Modell, in dem sich Gott und Schöpfung auf gleicher Ebene begegnen.55 Auch Welker versucht, Strukturen des Geistwirkens ontologisch zu extrapolieren, ähnelt aber Wenz’ Ansatz in seiner historischen Rekonstruktion des Geistwirkens. Bei dieser Rekonstruktion konzentriert sich Welker auf das biblische Zeugnis und versucht trotz aller Vorbehalte gegen den Begriff eine biblisch-theologische Herleitung des Heiligen Geistes zu erzielen.56 Im Er46 Ebd. 47 Etwa die entsprechenden Beiträge aus Etzelmüller/Springhart (Hg.), Gottes Geist und menschlicher Geist; Leipzig 2013. 48 Moltmann, Der Geist des Lebens. 49 Welker, Gottes Geist. 50 Moltmann, Der Geist des Lebens, 109 u.ö. 51 Moltmann, Der Geist des Lebens, 273. 52 Moltmann, Der Geist des Lebens, 248, 259. 53 Moltmann, Der Geist des Lebens, 202. 54 Moltmann, Der Geist des Lebens, 11. 55 Moltmann, Der Geist des Lebens, 55. 56 Welker, Gottes Geist, 13.
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gebnis findet Welker die Eigenschaft der Selbstlosigkeit des Geistes Gottes57 als befreiende Kraft für Menschen in sozialen Bezügen. Die Selbstzurücknahme des Geistes bewirkt ontologisch, dass das Sein zurückgenommen wird, damit die Möglichkeit hervortreten kann. Dadurch wird die Wirklichkeit angereichert durch das, was sie sein oder werden kann.58 „In diesem Sinne ist ohne die Möglichkeit überhaupt keine Vervollkommnung der Wirklichkeit denkbar, realisierbar, verstehbar.“59 Der Heilige Geist bricht also verkrustete Strukturen der Wirklichkeit auf, indem er in seiner Selbstzurücknahme Möglichkeiten eröffnet. Nun ist nicht jede Möglichkeit eine geistgewirkte. Um identifizierbar zu sein, muss der Geist Gottes auch etwas anderes sein als reine Möglichkeit. Deshalb ist Gottes Geist für Welker an die Person Jesu Christi gebunden: „Er verweist in vollkommener Selbstlosigkeit auf ihn hin.“60 Hier nun ist er mehr als nur Möglichkeit, nämlich zugleich „die Einheit der Perspektiven, der Beziehungen auf Jesus Christus“61. Für diese Einheit ist charakteristisch, dass wir sie nicht selbst konstituieren, sondern nur an ihr teilhaben.62 Unsere passive Teilhabe ergibt sich zwingend aus dem potenziellen Charakter des Geistes: Denn da Menschen für die Beziehungen zu Christus nicht bürgen können, können sie nur durch ihre zurückgenommene Teilhabe im Prozess der Vervollkommnung integriert sein. Beide Ansätze enthalten etliche feinsinnige Einzelbeobachtungen, die uns im Fortgang noch beschäftigen werden. Zudem sind sie heuristisch interessant. Dennoch kann rückgefragt werden, ob die beschriebenen Phänomene wirklich als Geistphänomene zu identifizieren sind. So ist bei Moltmann der Geist das dynamische Prinzip der sich entwickelnden Natureinheit der Gesamtwirklichkeit. Wundersame Krankenheilungen sind Paradebeispiele einer sich geistlich wandelnden Natur. Müssten nicht dann solche Phänomene von Wunderheilungen im Laufe der Geschichte zunehmen? Ich sehe hier ein Dilemma: Entweder sind solche Heilungen naturwissenschaftlich erklärbar. Dann aber zeigen sie keine sich wandelnde Natur an. – Oder sie sind Ausdruck eines solchen vom Geist inspirierten Wandels. Dann aber müssten sie zunehmend natürlich werden. Das heißt: Die gewandelte Natur müsste in zunehmend regelmäßigen Wunderheilungen erscheinen, wenn sie das sein sollen, „was man erwarten muß“63. An diesem Beispiel zeigt sich, wie schwer der Geist als dynamisches Prinzip der Natureinheit veranschaulicht werden kann. Ebenso kann gegen Welkers Entwurf eingewendet werden, dass die ermittelte Typologie von Geistwirkungen Überidentifikationen vornimmt. Es 57 58 59 60 61 62 63
Welker, Gottes Geist, 273. Welker, Gottes Geist, 278. Ebd. Welker, Gottes Geist, 287. Welker, Gottes Geist, 289. Welker, Gottes Geist, 289f. Moltmann, Der Geist des Lebens, 203.
Der Weg dieses pneumatologischen Ansatzes
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mag zwar auf den ersten Blick für eine „realistische Theologie“64 einleuchten, dass sich aus der Bibel ein Typus von Geistwirkungen erkennen lässt. Daraus folgt aber nicht, dass es sich wirklich um einen Typ von Geistwirkungen handelt. Mit Wenz könnte vielmehr umgekehrt eingewendet werden, dass der biblische Kanon in einem bestimmten historischen Kontext entstanden ist, der diese Einheit präjudiziert.65 Was also die biblische Theologie als einen Typ von Geistwirkungen rekonstruiert, muss nicht bereits ein realer Typ sein. Könnte nicht die rekonstruierte Typologie einfach erfunden worden sein, eine „Wunschvorstellung“66? Dann würde auf diesen Typ zutreffen, was Welker zufolge der Geist überwinden will, nämlich „die Gefahr und Kraft der gemeinschaftlich verursachten und veranstalteten, dabei zugleich geleugneten und verschleierten Not und Zerrüttung“67. Michael Moxter hatte dementsprechend in einer frühen Rezension Welkers Ansatz eine zu hohe „Fraglosigkeit bescheinigt.68
1.4 Der Weg dieses pneumatologischen Ansatzes Es haben sich auch in den jüngeren pneumatologischen Entwürfen Unschärfen ergeben, wie das Wirken des Heiligen Geistes signifikant herausgestellt werden kann. Als angemessene Methode für Geistphänomene schlage ich nun eine phänomenologische Darstellung vor. Die Phänomenologie, wie sie bei Edmund Husserl als strenge Wissenschaft entwickelt worden ist, ist inzwischen in die Sozialwissenschaften und auch in die Theologie eingedrungen, vor allem in die Praktische Theologie. Markant an dieser Methode ist ihre Technik, nie „zu viel“ zu sagen, was sich nicht wissenschaftlich sicher belegen lässt. Prägnant ausgedrückt: Nicht alles, was einem Christen gefällt, ist bereits ein Werk des Heiligen Geistes. Die Rede vom Heiligen Geist sollte vielmehr auf evidenten Erfahrungen beruhen und damit prinzipiell auch Nicht-Christen einleuchten. Diesen Grundansatz, Evidenzen aus Erfahrungen zu ermitteln, verfolgt die Phänomenologie. Sie eignet sich nach meinem Eindruck vorzüglich für eine Pneumatologie, weil auch der Heilige Geist nach dem biblischen Zeugnis erlebt wird und das Erleben anregt. Deshalb lege ich diese Methode hier zugrunde. Weil die Phänomenologie nicht „zu viel“ sagt, stecke ich zunächst ein weites Feld ab und versuche anschließend vorsichtig tastend, den Phänomenbereich des Heiligen Geistes sicher zu erschließen. Dadurch soll in den ersten Kapiteln 64 65 66 67 68
Welker, Gottes Geist, 14. Wenz, Geist, 233ff. Welker, Gottes Geist, 283. Welker, Gottes Geist, 272. Moxter, Resonanz für Dissonanz.
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das Wirken des Heiligen Geistes begrifflich bestimmt werden, um anschließend die gewonnenen Einsichten an der alltäglichen Rede des Geistes oder von „Geistern“ abzugleichen. Es wird sich dabei herausstellen, dass der Heilige Geist der Name für ein spezifisches Anwesenheitsphänomen ist, dessen besonderer Charakter präzise beschrieben werden soll (Kapitel 2 bis 3). Dadurch wird klar werden, warum das Verhältnis der Anwesenheit des Heiligen Geistes zu Personen in der Theologie bestimmt worden ist über das Verhältnis von Glaube und guten Werken und über das spezifische Verhältnis der Christen zueinander (Kapitel 4 und 5). Damit wird das große Feld der Ekklesiologie eröffnet und auch begründet, warum die Ekklesiologie ein Teilbereich der Pneumatologie ist. Daraus folgt schließlich auch, dass die Kirche eine zwingende Bedingung des Glaubens ist. Das hat Konsequenzen für die Einschätzung der Kirchenmitgliedschaft. Entgegen eines landläufigen Trends innerhalb der Theologie und innerhalb der Gesellschaft, Kirchenmitgliedschaft für das Christsein für überflüssig zu halten, wird hier die These vertreten, dass die Kirchenmitgliedschaft die reziproke Anerkennung unter Christen darstellt und damit eine unverzichtbare Bedingung des christlichen Glaubens ist. Nach reformatorischer Einsicht aktualisiert sich die reziproke Anerkennung unter Christen und die Anwesenheit des Heiligen Geistes durch Wort und Sakrament. Deshalb werden diese beiden Säulen phänomenologisch auf ihren pneumatologischen Anwesenheitscharakter untersucht (Kapitel 6 und 7). Schließlich ist seit dem apostolischen Glaubensbekenntnis die Hoffnung auf die Auferstehung von den Toten und das ewige Leben mit dem Heiligen Geist verbunden. Daher endet die vorliegende Pneumatologie mit zwei Kapiteln über die Erlösung der Welt (Kapitel 8 und 9). Dabei wird das Phänomen des Trostes in den Mittelpunkt gestellt, das im Johannesevangelium mit dem Heiligen Geist assoziiert ist. Insbesondere soll gezeigt werden, dass es eine seelsorgerische Aufgabe ist zu trösten und inwiefern sich darin der Heilige Geist entfaltet.
2. Zur Methodik der Pneumatologie Auch in diesem Kapitel taste ich mich noch sehr langsam zur Thematik vor. Denn es sollen keine Schritte unachtsam übersprungen werden, um ein angemessenes Verständnis vom Heiligen Geist zu bekommen. Ich bitte also die Leser um ein geduldiges Mitgehen, das sich manchmal kurzzeitig verläuft, um dann schließlich den richtigen Weg zu finden. Schon das Neue Testament verweist darauf, dass man einer gehörigen Urteilskraft oder sogar selbst einer Geistesgabe bedürfe (1Kor 12,10), um „die Geister unterscheiden“ zu können (1Joh 4,1). Das allerdings setzt immerhin voraus, dass es einen gemeinsamen Phänomenbereich unterschiedlicher Geister gibt. Nach dem Zeugnis des neuen Testaments wird die „Sünde gegen den Heiligen Geist“ sogar für unvergebbar gehalten – was offenbar voraussetzt, dass man sich nicht wirklich im Heiligen Geist täuschen kann und daher allenfalls nur mutwillig gegen ihn sündigen kann, wie Welker pointiert interpretiert hat.1 Anscheinend steckt im Heiligen Geist also eine Evidenz, der man sich nicht entziehen kann außer über Mutwillen. Nimmt man beide biblischen Beobachtungen zusammen, so bedeutet das, dass offenbar der Heilige Geist (und mit ihm die Phänomene der „Geister“ überhaupt) schwer auszumachen ist, außer wenn man mit ihm direkt konfrontiert ist. Der Heilige Geist ist ein Anwesenheitsphänomen und zwar ein solches, dem man sich nicht entziehen kann, wenn es einem begegnet. Das heißt aber nicht, dass alle Anwesenheitsphänomene schon „pneumatische“ Erfahrungen sein müssen. Von den meisten Dingen, die uns begegnen, die uns also anwesend sind, können wir uns dennoch distanzieren. Und nicht alles, was sich uns als anwesend aufdrängt, halten wir auch für wirklich. Ein Beispiel: Wenn wir normalerweise im Schlaf träumen, kommt uns alles wirklich vor, was wir gerade träumen. Es drängt sich uns auf, ohne dass wir uns dagegen wehren können. Der Neurophilosoph Thomas Metzinger macht dagegen ein Phänomen aus, nach dem Menschen sich bewusst sein können, dass sie träumen, und dass sie sich dann sogar gegen das Erträumte durchaus wehren können. Diese erlernbare Fähigkeit, die Metzinger „Klartraum“ nennt2, impliziert, dass der Träumer das, was er im Traum erlebt, zugleich auf Abstand halten, also in seinem Wahrheitswert anzweifeln kann. Obwohl also der Traumgehalt dem Klarträumer als anwesend erscheint, durchschaut er zugleich, dass er nicht anwesend ist. Die träumende Person, die einen Klartraum hat, ist sich bewusst, sich im Traumgeschehen frei verhalten zu können. 1 Welker, Der Geist Gottes, 204. 2 Metzinger, Subjektivität und Selbstmodell, 194.
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Sie ist der Traumgeschichte nicht ohnmächtig ausgeliefert.3 Metzinger nennt solche Klarträume deshalb „luzide“. Diese Situation des Klarträumers wendet Metzinger nun auf seine gesamte Bewusstseinsphilosophie an: Gerade wenn ein Mensch einen bestimmten Bewusstseinszustand hat und auch weiß, dass er sich in diesem Bewusstseinszustand befindet, kann er sich davon emanzipieren.4 Obwohl der Bewusstseinsgehalt ihm anwesend erscheint, kann er zugleich durchschauen, dass er nicht anwesend ist. Er durchschaut nämlich, dass sein Bewusstseinszustand auf einem Modell beruht, das durchaus auch anders sein könnte. Das Subjekt, das durchschaut, dass sein Bewusstsein auf einem neurologischen Konstrukt beruht, kann sich gerade so von ihrem aktuellen Bewusstsein emanzipieren. Unser Alltagsbewusstsein nimmt normalerweise diese Unterscheidung nicht vor und wird daher von Metzinger als „nicht-luzides“ bezeichnet.5 Daraus könnte man eine originelle Schlussfolgerung ziehen: Danach könnte es evidente pneumatische Erfahrungen nur geben im nicht-wachen Zustand – in Metzingers Sinn: also wenn Menschen nicht unterscheiden können zwischen ihrem Bewusstseinszustand und ihrem Wissen über ihren Bewusstseinszustand. Es ist Metzinger zuzugestehen, dass man sich nur dann von einer Erfahrung emanzipieren kann, wenn man sie, während man sie macht, zugleich mit einem alternativen Wirklichkeitsmodell konfrontieren kann, das einem aktuell zur Verfügung steht. Es ist aber durchaus nicht klar, dass dies in allen Fällen des Alltagsbewusstseins der Fall ist. Noch könnte es sein, dass es Erfahrungen gibt, die die Möglichkeit gerade ausschließen, hier eine Unterscheidung vorzunehmen, und zwar deshalb, weil es unmöglich ist, das Wissen über einen Bewusstseinszustand auf diesen Bewusstseinszustand anzuwenden. Dies trifft etwa auf das Gefühl zu, „ich“ zu sein. Metzinger möchte dagegen mit seiner Erklärung des luziden Bewusstseins sogar unser Ich-Gefühl zurückweisen: Ich fühle zwar, dass ich bin, aber ich weiß auch über diesen Bewusstseinszustand Bescheid: Das Ich ist nämlich eine Illusion des Gehirns. Also kann ich mich sogar von der Vorstellung emanzipieren, „dass ich bin.“ Metzinger gesteht zwar zu, dass das Ich-Gefühl tatsächlich phänomenal unhintergehbar ist.6 Aber es ist gerade die Freiheit des luziden Bewusstseins, weshalb „ich“ immerhin denken kann, ein anderer zu sein als ich. Immerhin ein anderes Ich kann ich sein als ich mir vorstelle zu sein. Damit schon soll sich die Evidenz des Selbstbewusstseins auflösen: Eben weil ich nicht dieses Ich sein muss, muss ich auch gar kein Ich sein. Die IchIllusion beruht auf einer Repräsentation des Gehirns. Ich kann ihr zwar nicht entkommen, aber ich kann sie wenigstens als Illusion gedanklich nachvollziehen. – 3 4 5 6
Metzinger, 194f. Metzinger, 199. Metzinger, 200. Metzinger, Ganzheit, Homogenität und Zeitcodierung, 628.
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Die Schwäche aber an dieser Darstellung Metzingers, dass sie nicht auf mich anwendbar ist. Sie mag zwar abstrakt auf „ein Ich“ anwendbar sein, und ich kann mir durchaus vorstellen, ein anderes Ich zu sein. Aber ich kann mich eben nicht davon distanzieren, ich zu sein. Ich weiß eben nicht, wie ich den Bewusstseinszustand unterscheiden soll, dass ich (jetzt) bin, und dass ich (jetzt) weiß, dass ich (jetzt) bin.7 Wer das Ich fühlt, kann sich nicht davon distanzieren, und zwar auch dann nicht, wenn er abstrakt jedes beliebige Ich als Illusion des Gehirns durchschaut. Das Ich ist also immer anwesend für den, der sich selbst (sein Ich) denkt. Damit ist das Ich ein Anwesenheitsphänomen. Aber auch ein Phänomen des Heiligen Geistes? Es scheint zumindest an dieser harten Phänomenalität zu liegen, weshalb sich Theologen seit Schleiermacher oft mit dem Subjektivitätsphänomen beschäftigt haben: Subjektivität ist eine evidente Erfahrung, die phänomenal unhintergehbar ist.8 Sie hat es nicht einfach damit zu tun, dass ein mentales System dieselben Erlebnisse (von demselben System) macht, dass ich mich also zum Beispiel daran erinnere, was ich gestern gegessen habe. Denn das können verschiedene mentale Systeme auch: Auch andere Personen können sich daran erinnern, was ich gestern gegessen habe, etwa wenn sie gestern mit mir zusammen waren. – Subjektivität hat vielmehr damit zu tun, dass ein mentales System dasselbe Erleben von Erlebnissen hat: Es fühlt sich eben anders an, ob ich mich erinnere, was ich gestern gegessen habe oder ob sich meine Frau daran erinnert, was ich gestern gegessen habe. Was sich hier anders anfühlt, nenne ich das „Erleben von Erlebnissen“. Der Ausdruck ist strukturell ähnlich zum Ausdruck „Widerfahren von Widerfahrnissen“, mit dem ich an anderer Stelle die Gotteserfahrung charakterisiert habe.9 Menschen fangen an, von Gott zu reden, wenn sie das Zustoßen eines Widerfahrnisses thematisieren. So bedeutet beispielsweise die Frage „Warum musste mir dieses Leid zustoßen?“ nicht dasselbe wie „Warum muss ich leiden?“ Die zweite Frage kann man an eine Ärztin richten; die erste Frage dagegen lässt sich nicht aus medizinischer Sicht beantworten. Sie ist nämlich an eine religiöse Instanz gerichtet. Ebenso ist es mit dem eigenen Selbsterleben: Ein Ich kann sich keine andere nicht-zirkuläre Selbstvergewisserung geben als die, dass es sich erlebt: als das Erleben von Erlebnissen. Dieses Erleben muss ihm dabei widerfahren. Das Ich kann sich nämlich seine Selbstvergewisserung nicht selber „machen“. Das Erleben von Erlebnissen ist eine spezielle Erfahrung des Widerfahrens von 7 Sehr wohl kann ich zwar den erkenntnistheoretischen Sachverhalt über mein Ich-Bewusstsein vom ontologischen Sachverhalt über mein Ich unterscheiden. Im Haupttext geht es aber in beiden Fällen um einen Bewusstseinszustand. Es ist der Unterschied von „Ich denke, dass ich bin“ und „Ich weiß, dass ich denke, dass ich bin“. 8 U. Barth, „Letzte Gedanken“, 205; Herms, Menschsein im Werden, 410; Korsch, Dogmatik im Grundriß, 12. 9 Ohly, Warum Menschen von Gott reden, 39, 60.
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Widerfahrnissen. Darin besteht der religiöse Bezug der Subjektivität: Sie erscheint gemeinsam mit dem Widerfahren des Widerfahrnisses, „dass ich bin.“ Ist Subjektivität darum schon eine evidente Erfahrung des Heiligen Geistes? doch nur, wenn ich darin den Heiligen Geist evident erkenne. Offenbar kann ich aber mich denken, ohne dabei den Heiligen Geist denken zu müssen. – Oder muss man hier unterscheiden, dass wir evidente Erfahrungen machen und dass wir sie irgendwie benennen, auf nicht-evidente Art? Es ist offenbar nicht zwingend, dass man evidente Gehalte einer Erfahrung mit dem Heiligen Geist benennt. Und trotzdem könnte es eine „Sünde gegen den Heiligen Geist“ sein, wenn man diese Erfahrung mutwillig missachtet.
2.1 Mögliche Zugänge In einem ersten Schritt werde ich die evidenten Anwesenheitsphänomene möglichst breit ermitteln, um nicht vorschnell Phänomene auszuschließen, die Phänomene des Heiligen Geistes sind. In einem zweiten Schritt wären dann allerdings die „Geister“ zu scheiden. Es kann eine „Sünde gegen den Heiligen Geist“ sein, die Phänomene des Heiligen Geistes vorschnell auszuscheiden. Vielleicht kann dabei der Sündenbegriff eine entscheidende kriteriologische Rolle spielen, weil er das Stichwort „Sünde gegen den Heiligen Geist“ prägt. Dann wäre auch klar, warum im dritten Glaubensartikel von Sünde und Vergebung der Sünde geredet wird. Mein bisheriger Ansatzpunkt ist, dass das Phänomen der Anwesenheit eine pneumatologische Relevanz hat. Ist es nun eine Sünde, wenn man die Anwesenheit von etwas Anwesendem anzweifelt? Es mag zwar sein, dass man völlig vergebliche Bemühungen unternimmt, wenn man so tut, als sei man selbst gar nicht da. Aber ob das eine Sünde ist, noch dazu eine, die nicht vergeben werden kann, erschließt sich nicht von selbst. Es mag zwar widersprüchlich, unsinnig und bisweilen fatal sein, wenn man Sachverhalte zurückweist, die einem evident begegnen und damit unbezweifelbar anwesend sind. Das heißt aber nicht, dass es schon Sünde ist, wenn man es tut. Es fällt aber auf, dass etliche Bemühungen der Selbstdistanzierung von Anwesendem entweder theologisch reflektiert werden oder selbst religiöser Art sind. Die Neurophilosophin, die ihrem eigenen Ich luzide entkommen will, ist mit ihrer (vergeblichen) Bemühung nämlich nicht allein. Die Ich-Illusion soll nämlich gerade auch mit einer bestimmten Praxis der religiösen Meditation überwunden werden: Metzinger nennt hier beispielhaft einige buddhistische Meditationstechniken, die gerade dadurch die Ich-Illusion durchschauen wollen, dass sie ihre innere Aufmerksamkeit erhöhen. Indem verstärkt die Aufmerksamkeit auf die Ich-konstituierenden Elemente des Bewusstseins gelenkt wird, sollen sie gerade eine Kluft erzeugen, die für das luzide Bewusstsein charakteristisch ist: Die meditierende Person richtet ihre
Mögliche Zugänge
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Aufmerksamkeit auf sich selbst, um dadurch zu unterscheiden zwischen ihrem Bewusstsein von sich und dem Wissen, das sie von diesem Bewusstsein hat. Dadurch soll angeblich die Einheitlichkeit des Ich-Bewusstseins erschüttert werden.10 Ein anderes Beispiel ist es, wie man der evidenten Erfahrung entgehen will, einer anderen anwesenden Person zu entgehen. Wie will ich einer Person entgehen, die mir begegnet? Natürlich kann man weggehen und die anwesende Person stehen lassen. Aber diese Reaktion setzt gerade voraus, dass ich die Anwesenheit der Person anerkenne. Bereits Hegels Darstellung des Zusammenhangs von Herr und Knecht bringt das anschaulich zum Ausdruck.11 Obwohl der Herr aufgrund eines Eigeninteresses den Knecht als Mittel zum Zweck gebraucht, muss er anerkennen, dass er nicht sein „eigener Meister“ ist. Folglich muss er den Knecht als Anderen anerkennen. Dieser Anerkennung würde er zugleich widersprechen, wenn er der anderen Person entgehen wollte. Sogar im Kampf auf Leben und Tod entsteht schließlich dieser Widerspruch, nämlich sobald der Gegner getötet worden ist. Denn der Kampf, der der Anwesenheit des Gegners entkommen will, erkennt dabei diese Anwesenheit an.12 – Der Tod ist lediglich die Folge eines Kampfes, die auf der Anerkennung der Anwesenheit des Gegners beruht hat. Dafür ist es unerheblich, dass der anerkannte andere Mensch nun tot ist. Wenn sich die Theologie mit diesem Anerkennungsphänomen beschäftigt, könnte das daran liegen, dass die Anwesenheit des Anderen nicht davon abhängt, dass ich relativ wenig räumlichen Abstand zu ihm habe. Oder anders: Was ein räumlicher Abstand ist, entscheidet nicht der geometrische Raum, sondern mein Verhältnis zum anderen Menschen. Dass hier religiöse Thematiken berührt sein dürften, wird schon dadurch angedeutet, dass Menschen religiöse Rituale bemühen, wenn sie ihren Abstand zur Anwesenheit einer Person thematisieren. Sie beten oder zünden Kerzen in einer Kirche an. Und nicht selten werden dabei auch Schuldkonflikte offenbar, die primär einer theologischen Reflexion zugänglich sind, weil sie keine moralischen Schuldkonflikte sind.13 Es könnte also sein, dass es sich bei der evidenten Anwesenheit eines anderen Menschen um ein Phänomen des Heiligen Geistes handelt, und zwar weil es eine Sünde wäre, wenn man ihr entkommen wollte. Ich bewege mich bei diesen Beobachtungen noch allein auf der Ebene von Vermutungen. Der religiöse Umgang mit evidenten, nicht-distanzierfähigen Erfahrungen scheint aber durchaus üblich zu sein, beziehungsweise die theologische Reflexion scheint naheliegend zu sein, wenn es darum geht, warum man solchen Anwesenheitsphänomenen eben nicht entkommt. Ob
10 11 12 13
Metzinger, Subjektivität und Selbstmodell, 101. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 132–134. Hegel, Enzyklopädie der Wissenschaften im Grundrisse (1830), § 432. Ohly, Was Jesus mit uns verbindet, 127, 138.
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dies aber überhaupt von allen evidenten Anwesenheitsphänomenen gilt, wird noch zu untersuchen sein. Das Neue Testament scheint mit seiner Behauptung, dass die Sünde gegen den Heiligen Geist nicht vergeben werden kann, offenbar anzunehmen, dass sie selbst evident ist – dass man sich also der Unvergebbarkeit nicht entziehen kann. Das würde bedeuten, dass man die Sünde selbst fühlt, wenn man bestimmten Anwesenheitsphänomenen entkommen will, oder auch, dass man dieses Sündengefühl antizipiert, das einen davon abhalten könnte, das Anwesenheitsphänomen zurückzuweisen. Nicht nur die Sünde (oder das Vermeiden von Sünde) hätte dann einen kriteriologischen Sinn, um den Heiligen Geist irgendwie zu identifizieren. Vielmehr wären Vergebung der Sünde und vor allem ihre Grenze, die Unvergebbarkeit von Sünde, ein evidentes Kriterium für den Heiligen Geist. Hierin könnten sich andere evidente Erfahrungen von Anwesenheit unterscheiden. Wenn das zutrifft, dann würden sich Geisterfahrungen als Anwesenheitsphänomene von anderen evidenten Phänomenen dadurch unterscheiden, dass es eine unvergebbare Sünde wäre, sie nicht anzuerkennen. Und das würde wiederum bedeuten, dass die Anerkennung der Geistphänomene nicht nur unumgänglich ist, sondern auch normativ verbindlich. Ein entsprechendes Anwesenheitsphänomen ist dann nicht nur evident, sondern beansprucht seine Anerkennung zu Recht. Geisterfahrungen würden dann eine Beziehung zu ethischen Fragestellungen aufweisen, wobei sie nicht mit ihnen identisch sein müssen. Denn es kann auch ethische Ansprüche geben, die nicht auf Anwesenheitsphänomenen beruhen. Und umgekehrt können auch Schuldphänomene vorkommen, ohne dass ein moralisches Vergehen vorliegt.14 Die Nachbarschaft der Pneumatologie zu ethischen Fragestellungen liegt dann aber bereits im Phänomen der Anerkennung begründet. Anerkennung ist wiederum eben nicht nur ein moralisches Phänomen. Sie ist auch nicht identisch mit Erkenntnis. Ich kann Sachverhalte erkennen, also wissen, dass ich sie für wahr halte.15 Damit muss ich diese Sachverhalte aber noch nicht anerkennen. Bei Kant folgt bekanntlich aus dieser Differenz die Unterscheidung von theoretischer Erkenntnis und praktischen Fürwahrhaltens.16 – Sehr wohl aber kommt Anerkennung auch als ein religiöses Phänomen vor. Ich kann die Herrlichkeit Gottes anerkennen, ohne dass ich sie damit moralisch anerkennen muss. Der Begriff der Anerkennung kann daher hilfreich sein, wenn es darum geht, Geisterfahrungen ausfindig zu machen. Er ist aber noch nicht bestimmt genug, weil er offen lässt, inwiefern er religiöse und moralische Ansprüche intendiert oder auch verbindet. Nachdem nun der Problemhorizont umrissen worden ist, sollen nun in einem nächsten Schritt mögliche evidente Anwesenheitsphänomene in ihrer 14 Ohly, Was Jesus mit uns verbindet, 127–132. 15 Dalferth, Kombinatorische Theologie, 111. 16 Kant, Kritik der Urteilskraft, 438.
Evidente Anwesenheitsphänomene
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Typik beschrieben werden. Abschließend soll es dann darum gehen, wie entschieden werden kann, ob sie als „pneumatische“ Erfahrungen durchgehen.
2.2 Evidente Anwesenheitsphänomene Ein evidentes Anwesenheitsphänomen habe ich schon vorgestellt: nämlich die Anwesenheit des anderen Menschen. Ebenfalls habe ich schon illustriert, dass es mit dem Ich komplizierter ist: Die Selbstgewissheit, dass ich bin, ist erst dann evident, wenn ich mich von mir unterscheide. Darin hat Metzinger recht: Luzide wird das Selbstbewusstsein erst, wenn es sich selbst thematisiert: Dieses Ich, das sich thematisiert, muss dabei aber funktional von dem Ich unterschieden sein, das thematisiert wird. Das „Ich bin“ ist also keine unmittelbare cartesische Selbstgewissheit.17 Vielmehr muss das „Ich bin“ einen Umweg machen: Es muss sich zum Objekt seines Denkens machen, um sich als Subjekt seines Denkens zu finden. Nur in diesem Sinn ist Selbstgewissheit ein Anwesenheitsphänomen. Deshalb hat Martin Heidegger das Selbstbewusstsein als ein „Sein bei“ beschrieben: Der Mensch ist ein Sein bei der Welt, dem es dabei um sich selbst geht.18 Für Heidegger folgt daraus, dass mir die ganze Welt anwesend sein muss, damit ich „bei mir“ sein kann.19 Ich entdecke mich im gesamten Horizont dessen, was „bei mir“ sein kann: Nur weil die Welt mir anwesend ist, kann auch ich bei mir sein. Ich kann mich der Anwesenheit der Welt gar nicht entziehen. Ich mag mich zwar fragen, ob sie denn wirklich so ist, wie sie mir begegnet. Ich kann mich aber nicht sinnvoll fragen, ob ich nicht immer auch mir selbst dabei begegne. Die Pointe liegt bei Heidegger nicht darin, dass ich mich nicht darüber täuschen kann, sondern darin, dass ich nicht einmal verstehen könnte, was es bedeuten würde, sich hierin zu täuschen. Entsprechend kann ich nicht sinnvoll fragen, ob die Welt vielleicht gar keine Welt ist. Deshalb kann die Position des Skeptikers gar nicht eingenommen werden.20 Ihm bliebe nur der Selbstmord übrig, um zu leugnen, dass es die Welt gibt. Aber wenn er sich umbringen will, müsste sie dabei von der Welt Gebrauch machen. Also kann er gar nicht sinnvoll die Anwesenheit der Welt leugnen. Deshalb hält es Heidegger für unbewiesen – und vermutlich sogar für unbeweisbar –, dass es jemals Skeptiker gegeben hat. Damit ist der Horizont der evidenten Anwesenheit weit abgesteckt. Und er scheint alles zu umfassen: mich, andere und die Welt. Dennoch muss kein konkreter Gegenstand mir schon dadurch evident anwesend sein, dass er mir begegnet. 17 18 19 20
Descartes, Meditationen, 18. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, 181. Heidegger, 321. Heidegger, 229.
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Wir können uns aber offenbar von etwas Anwesendem nur dadurch distanzieren, dass wir dabei uns von etwas anderem nicht distanzieren können. Man kann sich nie von allem zugleich distanzieren. Das ist eine Implikation unseres In-der-Welt-seins, der „Geworfenheit“ in die Welt.21 Dieses Anwesenheitsphänomen ist nicht distanzierbar. Hier besteht aber auch ein Unterschied zwischen Gegenständen und einem anderen Menschen. Ich kann mich zwar von beiden distanzieren wollen. Aber die Distanznahme von Menschen führt zur widersprüchlichen Anerkennung des Anderen, wie etwa bei Hegels Beispiel von Herr und Knecht oder vom Feind im Kampf. Der Andere bleibt mir der Andere, wie sehr ich ihn auch ignorieren oder ihm entkommen will. Ich kann mich zwar täuschen, ob wirklich er anwesend ist, aber ich kann mich nicht in der Anwesenheit eines Anderen täuschen. Sobald ich dem Anderen begegne, bin ich nämlich konfrontiert mit einer Perspektive, die auf mich gerichtet ist und die ich folglich nicht selbst konstruieren kann. Dazu ist es gleichgültig, ob diese Perspektive „real“ ist, ob also wirklich gerade jemand mich wahrnimmt oder wer mich gerade wahrnimmt. Entscheidend ist, dass ich nur deshalb erleben kann, dass eine andere Perspektive auf mich gerichtet ist, weil ich mit der Anwesenheit eines Anderen konfrontiert bin. Von Gegenständen jedoch kann ich mich distanzieren, aber nur, indem ich mich dabei an andere Gegenstände binde. Irgendetwas ist also immer anwesend. Während also Gegenständlichkeit die Welt evident anwesend macht, wird in zwischenmenschlichen Begegnungen die „Dimension des Anderen“ evident anwesend – wer immer es auch ist und wie sehr ich mich auch von seiner Anwesenheit ablenken lassen will. Fassen wir die drei Typen von evidenten Anwesenheitsphänomenen zusammen: 1. Von bestimmten Gegenständen kann ich mich zwar distanzieren, aber nicht von der Welt. 2. Von bestimmten Menschen kann ich mich distanzieren, aber nicht von der „Dimension des Anderen“. 3. Von mir kann ich mich zwar distanzieren – so wie die Neurowissenschaftlerin das versucht. Aber ich kann mich nicht von meinem „Bei-mirSein“ distanzieren. Auch wenn ich mit aller Kraft oder mit allen meditativen Fähigkeiten eine Distanz zu mir aufbaue, kann ich mich nicht von meinem Bei-mir-Sein distanzieren. Das distanzierte Ich ist immer noch bei mir. Damit sind es also nicht einzelne anwesende Gegenstände, von denen man sich nicht distanzieren kann, sondern eher verschiedene Dimensionen von Anwesenheit. Übrigens ist Anwesenheit offenbar keine räumliche Dimension. Sie ist zwar ein räumlicher Begriff, aber eben kein Phänomen des geometrischen 21 Heidegger, 139.
Evidente Anwesenheitsphänomene
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Raums. Ich bin nicht deshalb „bei mir“, weil ich in meinem Körper sitze und der nun mal überall ist, wo ich auch bin. Sondern ich bin bei mir, weil ich mir nicht entkomme, auch dann nicht, wenn ich mir vorstelle, keinen Körper zu haben. Ich bin auch bei mir, weil ich mir nicht entkomme, wenn ich wie die Neurologin mein Ich für eine Illusion halte. – Genauso ist es mit den beiden anderen Dimensionen: Der Andere ist auch dann anwesend, wenn ich einen Brief von ihm lese – sogar wenn mir ein Brief aus früheren Zeiten in die Hände fällt. – Und auch die Welt: Ich bin in der Welt, auch wenn ich natürlich nicht an allen Orten der Welt zugleich sein kann. Wenn also Anwesenheit etwas Räumliches sein soll, dann nicht im geometrischen, messbaren Raum. Entsprechend beschreibt die Bibel den Heilige Geist in räumlichen Metaphern: Er „schwebt“ (Gen 1,2), „kommt“ (Joh 3,8), „hebt empor“ (Hes 11,24), wird „ausgegossen“ (Apg 10,45), „dringt ein“ (1Sam 11,6) oder „füllt“ Menschen an (Ex 33,3). Anwesenheit ist das erlebte, existenzielle Moment des Räumlichen. In der Theologie hat sich im Anschluss an Friedrich Schleiermacher etabliert, diese drei Dimensionen von Anwesenheit als den gesamten Bereich des menschlichen Lebens herauszustellen: den Bereich zur gegenständlichen Welt, zu anderen Menschen und zu sich selbst. Mehr Bereiche scheint es nicht zu geben. Sollte es noch weitere evidente Anwesenheitsphänomene geben, so liegen sie in diesen Bereichen, prägen aber keine neuen Bereiche ein. Die Evidenz Gottes liegt also nicht in einer vierten Dimension, sondern ist ein Moment in den drei Anwesenheitsphänomenen selbst: Indem ich evident bei mir oder in der Welt bin oder ein anderer mir begegnet, wird Gott evident anwesend. Diese Behauptung wird bei verschiedenen Theologen unterschiedlich variiert: Bei Schleiermacher selbst ist sie ein Moment des Selbstbewusstseins.22 Andere erkennen sie aber auch in der alternativlosen Beziehung zwischen Ich und Anderem.23 Bei dieser Interpretation geht es immer darum, dem Begriff „Anwesenheit“ eine andere Bedeutung zu geben, sobald man von Gott spricht. Gott ist nicht so anwesend wie ein Gegenstand oder ein anderer Mensch. Es ist vielmehr die Anwesenheit selbst, die anwesend wird. Man könnte sagen: Im Hinblick auf Gott kommt Anwesenheit auf eine höhere logische Stufe. Bevor wir aber den Charakter dieser höheren Stufe näher untersuchen, soll noch ein weiteres Anwesenheitsphänomen genannt werden. Es gibt nämlich scheinbar noch ein anderes Anwesenheitsphänomen, das aber nicht gleich in eine der drei evidenten Anwesenheitsdimensionen fällt: die Sprache. Nach Ludwig Wittgenstein ist es falsch, dass Bedeutungen in den Dingen liegen, aber auch, dass wir die Bedeutung von Dingen schon verstehen könnten, bevor wir eine Sprache gelernt haben.24 Es muss „schon viel in der 22 Schleiermacher, Der christliche Glaube Bd. I, 24–28. 23 Härle, Die Rechtfertigungslehre als Grundlegung der Anthropologie, 80ff; Herms, Glaube, 82–84; Korsch, Dogmatik im Grundriß, 15. 24 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen § 32.
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Sprache vorbereitet sein“25, damit wir Sachverhalte erkennen können und damit Dinge für uns eine Bedeutung haben. Dieses „Vorbereitetsein“ bildet die Sprache. Insofern bildet die Sprache eine Voraussetzung dafür, dass uns etwas anwesend sein kann. Sprache muss uns gegeben sein, damit wir Anwesenheit erfahren können. Ist also die Sprache ein transzendentaler Typ von Anwesenheit? Für einen solchen transzendentalen Typ spricht, dass die räumliche Vorstellung von Anwesenheit selber abhängig von Sprache ist. Also kann die Sprache uns nicht ihrerseits „anwesend“ sein. Allerdings kann Wittgenstein auch nicht anders als über Anwesenheit erklären, wie es dazu kommt, dass wir eine Sprache erlernen. Wir lernen sie nämlich von anderen Menschen.26 Es ist die Lebensform einer Sprachgemeinschaft, durch die Wörter und Sätze überhaupt erst Bedeutung erhalten.27 Damit ist die Anwesenheit der Dimension des Anderen eine Bedingung der Sprache, nicht umgekehrt. Peter Janich hat dazu bemerkt, dass man „die Gründe bedenken [möge], warum wir via Telefon nicht sprechen lernen können: Es fehlte die Möglichkeit des Verweises auf anwesende Personen, Dinge, Vorgänge usw. durch hinweisende Gesten.“28 Hermann Schmitz hat diese unentbehrlichen Ausdrucksmittel „Gestalten“29 genannt. Solche Gestalten sind keine Gegenstände, sondern sogenannte „Halbdinge“30. Zwar sind sie Gegenständen darin ähnlich, dass sie etliche dingliche Eigenschaften besitzen, unterscheiden sich aber von ihnen darin, dass sie eine „kausale Unmittelbarkeit“31 haben. Bei ihnen kann man nicht unterscheiden zwischen dem ursächlichen Ding und der ursächlichen Einwirkung auf etwas. Das Halbding wirkt vielmehr auf etwas ein, indem es ist. Halbdinge unterscheiden sich auch in einer zweiten Hinsicht von Dingen: Sie sind nämlich nicht „woanders“, wenn sie nicht „da“ sind. Sie können vielmehr sogar präsent sein, wenn sie nicht sind. Für unsere Untersuchung über die Anwesenheit der Sprache ist interessant, dass für Schmitz die Stimme ein Halbding ist.32 Beide Eigenschaften von Halbdingen treffen auf die Stimme zu: Sie wirkt zum einen auf den Hörer ein, indem sie ist. Hier macht der Unterschied zwischen der Stimme als Gegenstand und ihrem Einfluss auf den Hörer keinen Sinn. Zum anderen ertönt eine Stimme auch dann, wenn sie eine Pause macht. Was bereits von tierischen Stimmen gilt, verstärkt sich nochmals bei menschlichen Stimmen, weil der sprachliche Sinn die Stimme noch weiter anfüllt, auch wenn der Schall augenblicklich nicht zu hören ist. Das Beispiel von der Stimme ist in mehreren Hinsichten aufschlussreich: Zum Ersten scheint es so zu sein, dass wir Menschen eben Sprache erlernen, 25 26 27 28 29 30 31 32
Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen § 257. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen §§ 5, 7. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen § 325. Janich, Was ist Information, 35, Herv. L.O. Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 59. Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 58. Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 59. Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 58.
Was „ist“ Anwesenheit?
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weil wir mit solchen „Gestalten“ wie der Stimme konfrontiert sind. Die Sprache wird in der Stimme anwesend oder in anderen Gestalten wie Gesten oder Mimiken, die auch Halbdinge sind. Das Anwesenheitsphänomen der Sprache ist also eine Gestalt im Sinne Schmitz’. In ihr schneidet sich das sprachliche Apriori Wittgensteins mit der evidenten Dimension der Anwesenheit des anderen Menschen. Zum Zweiten erleben wir in der Stimme und anderen Gestalten Anwesenheit, ohne dass wir diese Gestalten festhalten können. Halbdinge sind eben keine Dinge: Sie sind nicht schon dadurch woanders, dass sie gerade nicht ertönen. Im Gegenteil: Eine Rede kann gerade dadurch noch auffälliger werden, dass die Stimme längere Pausen macht. Ihre Anwesenheit markiert sie geradezu in ihrem zeitweisen Verstummen. Paradox ausgedrückt: Offensichtlich lernen wir Menschen Sprache durch Anwesenheit von etwas, auch wenn es nicht (mehr) präsent ist. Wir brauchen solche Phänomene der Anwesenheit, die das Abwesende einschließen. Anwesenheit ist also etwas anderes als nur dass etwas da ist und damit mehr als die räumliche, dingliche Nähe. Worin besteht sie aber dann? Für Schmitz besteht sie eben in ihrer kausalen Unmittelbarkeit: Es ist nicht möglich, nicht von ihr getroffen zu werden. Man kann zwar Stimmen auch überhören. Aber wenn jemandem eine Stimme anwesend wird, dann fällt sie einem auch dann noch auf, wenn sie aufhört zu sprechen oder zu singen. Und es ist eben sie, die einen trifft, nicht ihre physikalischen Eigenschaften. Damit überdauert sie auch diese Eigenschaften: Die Stimme dauert an, auch wenn gerade keine Schallwellen produziert werden. Mit der kausalen Unmittelbarkeit ist Evidenz ihrer Anwesenheit gegeben: Sie lässt keine dingliche Distanz zwischen Ursache und Einwirkung zu, die es uns erlauben würde, auch zu ihr in räumliche Distanz zu treten. Eine weinende Kinderstimme kann noch so weit weg sein. Sie macht uns betroffen und manchmal sogar noch mehr, wenn wir sie auf einmal gar nicht mehr hören. Wir können uns zwar beruhigen, auch wenn wir betroffen sind: Wir können zurückweisen, dass wir verantwortlich für das Kind sind. Wir können vermuten, dass es nur spielt oder dass seine Stimme aus dem Fernseher kommt. Aber damit machen wir die Stimme nicht abwesend. Es bedarf einiger Anstrengung, sich entsprechend zu beruhigen, solange die Stimme anwesend ist. Wer einer konzentrierten Beschäftigung nachgeht, muss einen Teil seiner Konzentration darauf verwenden, die eigene Betroffenheit auf Abstand zu halten, und zwar deshalb, weil die Stimme eben bei allen Manövern anwesend bleibt.
2.3 Was „ist“ Anwesenheit? Man kann sich also nicht von der Anwesenheit distanzieren, die einem erscheint. Das klingt paradox und will einem nicht sofort einleuchten. (Also scheint es zunächst auch nicht evident zu sein.) Zwar schließt Distanznahme
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ein, dass man sich von etwas entfernt, was anwesend ist. Aber diese Distanznahme ist hier nicht möglich, weil es hier nicht um etwas Anwesendes geht, sondern um die Anwesenheit von etwas Anwesendem. Es ist also die Kategorie der Anwesenheit von einem gegenständlich Anwesenden zu unterscheiden. Wie wir am Beispiel der Stimme und anderen Gestalten/Halbdingen gesehen haben, ist Anwesenheit keine Sache mit dinglichen Eigenschaften. Deshalb kann etwas sogar präsent sein, obwohl seine begleitenden dinglichen Eigenschaften weg oder woanders sind. Anwesenheit kann man deshalb nicht auf Distanz bringen. Weder kann ich die Anwesenheit von etwas oder jemandem auf Distanz bringen noch das betreffende Etwas oder der Andere selbst. Gerade deshalb ist es so schwer, ein Wort zurückzunehmen, das man gesagt hat: Man hat aufgehört zu reden, aber das Gesagte „steht noch im Raum“ (ist also präsent). Das gilt auch von der unbelasteten Kommunikation: Das Kind, das im Spiel um Hilfe gerufen hat, hat mit dem Spielen aufgehört. Seine Stimme kann aber „noch nachgehen“, also den Zuhörern räumlich folgen, ihnen präsent bleiben. Anwesenheit haben wir also nicht in der Hand: weder das Anwesende noch uns, denen es präsent erscheint. Anwesenheit ist etwas Drittes zwischen uns und dem Anwesenden. Anwesenheit kommt und geht von selbst. Es fällt auf, dass sich dieses Phänomen der Anwesenheit deshalb einer theologischen Reflexion aufdrängt. „Der Wind (Pneuma) bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt“ (Joh 3,8). Der Wind ist nach Schmitz ein Halbding, eine Gestalt. Zugleich ist das griechische Wort für „Wind“ dasselbe Wort wie für „Geist“. Und das Johannesevangelium scheint hier absichtlich mit diesem Wort zu spielen, indem es den phänomenalen Charakter eines Halbdings theologisch wendet. So setzt der Vers fort: „So ist es bei jedem, der aus dem Geist (Pneuma) geboren ist.“33 Anscheinend hat das Johannesevangelium den phänomenalen Charakter von Halbdingen theologisch reflektiert, weil es ihre Unabhängigkeit von Dingen hat: Halbdinge sind anwesend, ohne dass sie selbst diese Anwesenheit herstellen und ohne dass wir uns zu ihnen willentlich in ein Anwesenheitsverhältnis stellen müssen. Der Wind „kommt“ eben von selbst: Deshalb weiß man nicht, woher er kommt und wohin er geht. Denn um dies zu wissen, müsste man Ursachen auf der dinglichen Ebene ausmachen. In dieser Unabhängigkeit von dinglichen Eigenschaften besteht die geistliche Dimension des Windes. Darin scheint er dem Geist Gottes zumindest ähnlich zu sein, oder in seinem theologischen Charakter besteht sogar seine Anwesenheit. Anwesenheit wird in dieser Bibelstelle zum theologischen Phänomen. Ich möchte diese These philosophisch untermauern, indem ich zeige, dass Anwesenheit eine Kategorie eigener Art ist. Sie lässt sich nicht auf inner33 Dass es sich nicht um ein Geborensein aus dem „Wind“ handelt, stellt der Zusammenhang klar, in dem eindeutig vom Geborenwerden aus Gottes Geist die Rede ist (V. 5). Daher muss Pneuma bei seinem zweiten Auftreten im Vers 8 mit „Geist“ übersetzt werden.
Was „ist“ Anwesenheit?
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weltliche Gegenstände reduzieren. Vielmehr ist es umgekehrt: Innerweltliche Gegenstände bedürfen dieser Kategorie der Anwesenheit, um das zu sein, was sie sind. Zwei Philosophen bieten sich für diese Diskussion an: zum einen der Gründer der Kategorienlehre, Aristoteles, und zum anderen Charles Sanders Peirce. Keine der Kategorien von Aristoteles lässt sich voll auf das Phänomen der Anwesenheit anwenden. Daraus möchte ich den Schluss ziehen, dass Anwesenheit eine Kategorie eigener Art ist. Im Anschluss an Peirce legt sich nahe, diese Kategorie eigener Art theologisch zu deuten, weil sie schöpferisch ist. 2.3.1 Anwesenheit passt nicht zu den aristotelischen Kategorien Aristoteles zählt folgende Kategorien auf: das Ding, die Größe, Beschaffenheit, Beziehung, den Ort, die Zeit, den Zustand, das Haben, Tun und Leiden.34 Alle Sachverhalte, die man „ohne Verbindung“35 zu weiteren Sachverhalten denken könne, seien auf diese Kategorien reduzierbar. Dabei macht er in seiner Schrift nicht deutlich, ob er von Kategorien des Denkens oder des Seins spricht. Schon sein Lehrer Platon hat diese Fragestellung thematisiert. Daher kann man nicht sagen, dass sie eine typisch neuzeitliche Problematik darstellt. Aristoteles scheint sie aber hier zu vernachlässigen, offenbar weil die Frage, wie die Wirklichkeit selbst ist, nur beantwortet werden kann, indem beim philosophischen Nachdenken diese Kategorien zugrunde gelegt werden. Gehört Anwesenheit zu einer der genannten Kategorien? Bestimmte Kategorien können wir von vornherein für die Anwesenheit ausschließen: Anwesenheit ist keine Größe (es gibt für sie kein Größenmaß, wie wir schon am weinenden Kind aus der Ferne gemerkt haben), kein Tun, kein Leiden (Anwesenheit hat Konsequenzen für das Tun und Leiden unter anwesenden Personen, tut und leidet aber selbst nichts36) und keine Zeit (Anwesenheit vollzieht sich immer „gleichzeitig“ zum Referenzrahmen; aber man meint nicht „Anwesenheit“, wenn man „Jetzt“ sagt). Aber kann Anwesenheit ein Ding sein? Wir hatten bereits gesehen, dass Anwesenheit andere Eigenschaften hat als dingliche. Außerdem gibt es zu Anwesenheit keine Art oder Gattung, wie das sonst auf Dinge zutrifft. Aristoteles spricht hier von etwas „Unterliegendem“37. Das Unterliegende ist zum Beispiel das Einzelding gegenüber seiner Art (also etwa „dieser Mensch“ gegenüber der Art „Mensch“). Auch Arten können das Unterliegende sein (zum Beispiel „Mensch“ gegenüber der Gattung „Lebewesen“). Einzeldinge haben selbst kein Unterliegendes. Die Anwesenheit kann nun selbst keine Art oder 34 Aristoteles, Die Kategorien 4. 35 Aristoteles, Die Kategorien 2. 36 Anders ausgedrückt. Nicht dadurch dass etwas Bestimmtes getan oder erlitten wird, wird etwas zur Anwesenheit. 37 Aristoteles, Die Kategorien 2, 5.
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Gattung sein. Anwesenheit ist zum Beispiel keine Art von allem Anwesenden. Denn wie bereits gezeigt, wird die Anwesenheit von etwas nicht schon dadurch in Frage gestellt, dass es weg oder woanders ist. Für Arten gilt aber, dass das, was von ihnen ausgesagt wird, auch von dem Unterliegenden ausgesagt werden kann oder zumindest in ihnen enthalten sein muss.38 Die Anwesenheit ist aber nicht woanders oder weg und kann es nie sein. Also ist „Anwesenheit“ keine Art des „Anwesenden“. Für Anwesenheit scheint es daher kein Unterliegendes zu geben. Anwesenheit hat aber auch keine Art. Sie ist also nicht selbst ein Einzelding, das etwas Unterliegendes zu etwas Anderem sein könnte. Allenfalls ist Anwesenheit das Unterliegende zum Seienden. Das Seiende ist aber selbst keine „höchste“ Gattung, weil Arten und Gattungen selbst Dinge sind39, Dinge aber nur eine Kategorie des Seienden darstellen. So lautet Martin Heideggers berühmte Kritik an Aristoteles.40 Wenn Anwesenheit also ein Ding sein soll, dann ein sehr merkwürdiges, auf das nicht alles zutrifft, was man sonst von Dingen aussagt. Könnte Anwesenheit eine Beschaffenheit sein? Beschaffenheiten sind für Aristoteles vor allem Eigenschaften oder (zeitweise) Zustände.41 Er zählt zwar noch weitere mögliche Kriterien für Beschaffenheiten auf, die allerdings selbst nur speziellere Eigenschaften oder Zustände sind (wie zum Beispiel Schmerzen, die Schmitz ja zu den Halbdingen zählt aufgrund ihrer kausalen Unmittelbarkeit). Aber nur Dinge können „anwesend“ sein, nie selber die „Anwesenheit“. „Anwesend“ kann man eine Beschaffenheit eines Dings nennen, nicht aber „Anwesenheit“. Kommen wir zu den Beziehungen: Beziehungen sind für Aristoteles immer sogenannte zweistellige Relationen: Ein Erstes hat eine Beziehung zu einem Zweiten.42 Anwesenheit scheint diese Struktur aufzuweisen: Etwas erscheint einem Anderen in seiner Anwesenheit. Was ihr aber fehlt, ist ihre Genauigkeit. Beziehungen entstehen bei Aristoteles durch den Vergleich (zum Beispiel: Etwas ist größer als ein Zweites43). Die Anwesenheit des Anderen bei mir ist dagegen nicht scharf bestimmbar, weil eben das Andere zugleich durchaus auch weg oder woanders sein kann (zum Beispiel wenn ich einen Brief von einem Anderen lese). Aristoteles scheint für Beziehungen nur sogenannte asymmetrische Relationen zugrunde zu legen: „So heißt der Sklave Sklave des Herrn und der Herr Herr des Sklaven und das Doppelte ist das Doppelte des Halben und das Halbe das Halbe des Doppelten und das Größere ist das Größere des Kleinern und 38 39 40 41 42 43
Aristoteles, Die Kategorien 5. Ebd. Heidegger, Sein und Zeit, 3. Aristoteles, Die Kategorien 8. Aristoteles, Die Kategorien 7. Aristoteles, Die Kategorien 4.
Was „ist“ Anwesenheit?
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das Kleinere das Kleinere des Größeren.“44 Deshalb ist Anwesenheit keine Beziehung im Sinne von Aristoteles. Denn die Anwesenheit des Anderen bei mir muss nicht meine Anwesenheit beim Anderen einschließen. Nun scheint Aristoteles auch einstellige Relationen als zweistellige Relationen darstellen zu wollen. So ist für ihn zum Beispiel der Ausdruck „das Steuerruder“ eine Beziehung, und zwar eine, die umkehrbar ist: „Das Steuerruder ist das Steuerruder eines Besteuerruderten“45 und lässt dann die Umkehrung zu: Der Besteuerruderte ist der Besteuerruderte durch das Steuerruder. Hier wird die Umkehrung also ermöglicht durch die Konstruktion: a hat eine Beziehung zu b genau dann, wenn b eine Beziehung durch a hat. Ein Beispiel von Aristoteles: „Die Wahrnehmung ist eine Wahrnehmung des Wahrnehmbaren und das Wahrnehmbare ein durch Wahrnehmung Wahrnehmbares.“ Aber auch das trifft auf Anwesenheit nicht zu: Denn es ist unklar, was damit gemeint sein soll: 1) Die Anwesenheit hat eine Beziehung zu b genau dann, wenn b eine Beziehung durch die Anwesenheit hat. Dieser Satz lässt die Beziehung zu unbestimmt. b könnte auch Beziehungen ohne Anwesenheit haben. Zum Beispiel sind verliebte Menschen oft geistesabwesend. Anscheinend setzt manchmal die Anwesenheit zu etwas sogar die Abwesenheit zu etwas Anderem voraus. Also müsste man den Satz weiter präzisieren, zum Beispiel so: 2) Die Anwesenheit hat eine Beziehung zum Anwesenden genau dann, wenn der Anwesende eine Beziehung durch die Anwesenheit hat. Auch dieser Satz ist noch zu unbestimmt, weil nicht ausgesagt wird, zu wem die Beziehung bestehen soll. Es soll ja die Beziehung zwischen dem Anwesenden und der Anwesenheit gemeint sein. Also meint Satz 2) eigentlich: 3) Die Anwesenheit macht den Anwesenden aus genau dann, wenn der Anwesende durch die Anwesenheit ausgemacht wird. Das mag richtig sein, ist aber dennoch unzureichend für die Bestimmung der Anwesenheit als Beziehung. Denn logisch ist auch der folgende Satz wahr: „Die Anwesenheit macht den Abwesenden aus genau dann wenn der Abwesende durch die Anwesenheit ausgemacht wird.“ Eigentlich stimmt auch das, weil die Anwesenheit bestimmt, was abwesend und anwesend ist. Also ist auch Satz 3) noch zu unbestimmt und klärt nichts Genaues über die Beziehung. Zuletzt sei noch folgende Variante untersucht:
44 Aristoteles, Die Kategorien 7. 45 Ebd.
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4) Das Anwesende ist anwesend durch die Anwesenheit genau dann, wenn die Anwesenheit den Anwesenden anwesend macht. Jetzt ist aber nicht mehr die Anwesenheit die Beziehung, sondern das „ist anwesend“ aus dem Satz. Die Anwesenheit selbst wird jetzt wie ein Ding verhandelt, auf das sich die Beziehung bezieht. Im Ergebnis zeigt sich also, dass Anwesenheit zwar nach Aristoteles eine Beziehung sein mag, aber eine, die dadurch nur unzureichend erfasst wird, dass sie als Beziehung dargestellt wird. Damit ist Anwesenheit auch nicht klarer bestimmt, wenn man sie als ein Haben begreift. Denn was hat jemand, der Anwesenheit „hat“? Aristoteles äußert sich über das Haben nicht ausführlicher, weil ihm diese Kategorie klar genug erscheint (man „hat“ eine Waffe dabei oder Schuhe an). Anwesenheit scheint man aber nicht ebenso „haben“ zu können. Das liegt nicht daran, dass man sie nicht verlieren kann (auch seinen Kopf „hat“ man immer dabei, jedenfalls solange man lebt). Es liegt vielmehr daran, dass nicht klar ist, wo und wie man sie hat. Es ist völlig unklar, wie man über seine Anwesenheit verfügen kann – und damit letztlich auch, was Anwesenheit-Haben eigentlich ist. Bleibt nur noch die Kategorie des Ortes. Anwesenheit ist zwar räumlich, scheint sich aber nicht auf bestimmte Orte beschränken zu lassen. Wenn Handy-Besitzer sich beim Anruf erzählen, wo sie sich gerade aufhalten, dann erzählen sie dabei nichts über ihre Anwesenheit. Denn sie erzählen sie ja gerade, dass sie ganz woanders sind als die Person, mit der sie telefonieren. Umgekehrt aber wären sie abwesend, wenn sie nicht ans klingelnde Telefon dran gingen – und zwar auch dann, wenn sie das Telefon klingeln hören aber einfach nicht dran gehen. Anwesenheit sagt also schon etwas über eine Beziehung zu Menschen aus, aber nicht über konkrete Orte. Wenn überhaupt, so kann man Anwesenheit eine Kategorie des Beziehungsraums46 zu Menschen nennen. Johannes Fischer hat diesen Begriff „Beziehungsraum“ geprägt und damit „Lebensverhältnisse“ gemeint, die er als „kommunikative Beziehungsmuster“ interpretiert hat.47 Ein solches Beziehungsmuster soll etwas anderes sein als eine Beziehung.48 Eine Beziehung einzugehen, steht in der Freiheit eines Menschen. In einem Beziehungsraum findet er sich dagegen immer schon vor. Fischer scheint hier die Unterscheidung von Anwesendem und Anwesenheit ebenso zu beschreiben, wie dies hier vorgenommen wird. Man kann zwar den Ort verlassen, aber nicht dadurch die Anwesenheit zurücknehmen. Der Beziehungsraum ist damit eine eigene Kategorie, die über eine örtliche Koordination hinausgeht. Im Ergebnis sehen wir, dass Anwesenheit auf keine aristotelische Kategorie genau passt: Sie ist irgendwie Ding, aber eigentlich auch in Halbdingen zu 46 Fischer, Über moralische und andere Gründe, 131, vgl. 155. 47 Fischer, Organtransplantation und Hirntodkriterium, 23. 48 Fischer, Über moralische und andere Gründe, 131.
Was „ist“ Anwesenheit?
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finden. Sie ist nicht so recht Beziehung, sondern eher Beziehungsraum. Sie ist aber auch nicht Raum im Sinne eines Ortes, sondern konstituiert eher Orte: unbestimmt weit reichende Räume, in denen uns das aus der Ferne weinende Kind „näher“ sein kann als die Tasse auf dem Tisch vor uns. Ist das so, dann scheint sie sich dem Seienden nicht unterzuordnen, sondern im Gegenteil Seiendes überhaupt erst zu konstituieren.
2.3.2 Anwesenheit bei Peirce Die Kategorien von Charles Peirce unterscheiden sich von denen bei Aristoteles darin, dass sie kaum noch anschaulich sind. Anstelle von Dingen, Orten, Zuständen, Beziehungen usw. spricht Peirce von „Erstheit“, „Zweitheit“ und „Drittheit“. Insgesamt gibt es bei Peirce auch nur diese drei Kategorien. Alles Weitere lässt sich auf eine von ihnen und auf ihre Relationen zu den beiden anderen zurückführen.49 Peirce versteht unter einer Kategorie „ein Element der Phänomene von höchster Allgemeinheit.“50 Die erste Kategorie (die Erstheit) ist die „Empfindungsqualität“: ein Wohlgeruch etwa, ein Schmerz oder ein Pfeifton.51 Für die Empfindungsqualität ist charakteristisch, dass sie gegenwärtig („present“) ist.52 Sie ist unmittelbar.53 Damit verweist die erste Kategorie bei Peirce auf das Phänomen der Anwesenheit. An anderer Stelle schreibt Peirce sogar, dass „die Gegenwart überhaupt“, die pure Präsenz, ein universaler Begriff sei.54 Es ist die bloße Empfindungsqualität, die völlig ohne Beziehung zu etwas anderem aufgefasst wird, was diese „Erstheit“ auszeichnet. Diese bloße Empfindungsqualität kann daher nicht anders auftauchen als in der Gegenwart überhaupt. Sie ereignet sich nicht einfach in der Gegenwart, sondern sie ereignet sich als pure Gegenwart – einfach deswegen, weil es nichts gibt, worauf es sich dabei bezieht. „Denn nichts ist dunkler als die absolute Gegenwart.“55 Deshalb bedeutet diese absolute Gegenwart nicht etwa eine Dimension in der Zeit. Als Modus der Zeit müsste sie bereits eine Beziehung zu Anderem haben. Die „absolute Gegenwart“ ist aber eben dunkel. Sie ist daher absolute Anwesenheit. Als solche schließt sie für Peirce die Abwesenheit jeglicher Beziehung ein.56 Hier zeigt sich, dass bei Peirce Abwesenheit als ein Modus der Anwesenheit zu verstehen ist. Ich werde später noch zeigen, dass eine solche absolute Anwesenheit dä49 Zur Vollständigkeit der drei Kategorien s. Peirce, Religionsphilosophische Schriften, 122. Deuser, Evolutionäre Metaphysik, 59f. 50 Peirce, Vorlesungen über Pragmatismus, 23. 51 Peirce, Vorlesungen über Pragmatismus, 25. 52 Ebd. 53 Ebd. 54 Peirce, Semiotische Schriften Bd. 1, 147. 55 Peirce, Semiotische Schriften Bd. 1, 382. 56 Ebd.
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monische Züge trägt, wenn sie nicht ihrerseits rückgebunden ist an einen Geist, der an- oder abwesend ist. Nun kommt aber absolute Gegenwart bei Peirce nie für sich vor. Die drei Kategorien bilden immer zusammen die harte Allgemeinheit jeglicher Phänomene. Die zweite Kategorie besteht darin, dass auf die pure Präsenz der Empfindungsqualität reagiert wird. Peirce folgert daraus, dass die Empfindungsqualität ein Etwas hervorbringt. Die Empfindungsqualität wirkt auf etwas. Sie wird nämlich nur dadurch spürbar, dass etwas auf sie reagiert.57 Dabei bedarf sie eines Mediums, das zwischen beiden vermittelt, indem es das Phänomen repräsentiert. Repräsentation ist daher die dritte Kategorie.58 Alle drei Kategorien treten immer gemeinsam auf. Dies unterscheidet Peirce’ Kategorienbegriff von Aristoteles. Alle drei Kategorien sind verschiedene allgemeine Elemente desselben Phänomens – gleichgültig um welches Phänomen es sich handelt. Dennoch hält Peirce alle drei Kategorien für unabhängig voneinander. Er beschreibt nicht etwa eine triadische Struktur der einen Kategorie „Drittheit“, sondern drei unabhängige Elemente der Phänomene, die dennoch immer aufeinander bezogen bleiben.59 Diese Unabhängigkeit der drei Kategorien ist für Peirce entscheidend wichtig, damit in der Welt Neues entstehen kann. Die absolute Gegenwart muss überraschen, damit etwas darauf reagieren kann.60 Insofern hat die absolute Präsenz schöpferische Funktion für die Entwicklung der Welt. Sie setzt nämlich nichts voraus, sondern erschafft umgekehrt alles. Diese schöpferische Funktion hat sie aber nur, weil sie immer gemeinsam mit den anderen Kategorien auftaucht. Ansonsten würde sie nämlich dämonische Züge tragen, eben absolute Präsenz des Beziehungslosen. So oder so öffnet sich Peirce’ Kategorie der Erstheit einer theologischen Interpretation: Isoliert betrachtet wäre sie pure Leere. Im Verbund mit den übrigen Kategorien trägt sie dagegen theologischen Charakter.61 Erstheit ist kein Seiendes, auch kein Denkbares, weil jedes Denken von Erstheit immer zu spät käme.62 Es ist vielmehr umgekehrt: Alles Seiende bedarf der puren Präsenz, die im Verbund mit den übrigen Kategorien Entwicklung anregt.
2.4 Anwesenheit und die Evidenz Gottes Wir haben bisher evidente Anwesenheitsphänomene aufgezählt und Anwesenheit selbst als ein evidentes Phänomen beschrieben, das eine eigene Ka57 58 59 60 61 62
Peirce, Vorlesungen über Pragmatismus, 43. Ebd. Peirce, Vorlesungen über Pragmatismus, 62f. Vgl. Peirce, Vorlesungen über Pragmatismus, 32f. Deuser, Evolutionäre Metaphysik, 59; ders., Gottesinstinkt, 108. So auch Peirce, Semiotische Schriften Bd. 1, 170.
Anwesenheit und die Evidenz Gottes
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tegorie zu sein scheint, weil sie sich nicht den Kategorien des Seienden fügt. Deshalb liegt sich nahe, Anwesenheit selbst als eine theologische Kategorie zu interpretieren, als transzendente Grundlage für zwei Seiende, von denen mindestens eins dem anderen anwesend ist. Eine theologische Interpretation ist deshalb naheliegend, weil sich Gott als Grund allen Seienden selbst den Kategorien der Schöpfung entzieht – also selbst kein Seiendes ist.63 Es ist zumindest interessant, dass die Theologie immer wieder Anwesenheit theologisch interpretiert hat. Schleiermacher hat im unmittelbaren Selbstbewusstsein – also im unmittelbaren Bei-sich-Sein – ein Moment der Unbedingtheit entdeckt: das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit. Dietrich Korsch hat dieses Moment der Unbedingtheit im Selbstbewusstsein darin gesehen, dass der Mensch notwendig bei sich ist und darin zugleich die Welt als unvermeidlich anwesend erfährt.64 Gott ist die Dimension des Unbedingten im eigenen Dasein in der Welt.65 Diese Entschlüsselung des Gottesphänomens findet nun im Phänomen der Anwesenheit ihren grundlegenden Beleg. Anwesenheit ist die Grundlage für mein Bei-mir-Sein und die Grundlage für mein Verhältnis zur anwesenden Welt. An zwei Autoren möchte ich den theologischen Charakter dieses Phänomens näher entfalten, und zwar an dem Philosophen Martin Heidegger und dem Theologen Johannes Fischer.
2.4.1 Das Anwesen bei Heidegger Aus der Zeit seiner sogenannten „Kehre“ nach dem Zweiten Weltkrieg stammt ein Aufsatz, in dem Heidegger klärt, wie sich das Seiende zur Anwesenheit verhält. In einer Begriffsanalyse des Seienden bei Homer kommt Heidegger darauf, das Seiende als etwas Dynamisches zu verstehen: Das Seiende ist anwesend – im Sinne von: Es „west an“. Homers Seiendes ist „anwesend in die Unverborgenheit.“66 Es befindet sich quasi noch auf dem Weg, um zu erscheinen (also unverborgen zu sein). Sein ist Anwesen67 – in diesem Sinne, dass es auf dem Weg ist. In seiner früheren Philosophie hat Heidegger bereits analog Seiendes und Sein unterschieden. Nun unterscheidet er Anwesendes und Anwesen. Seiendes ist anwesend. Sein ist Anwesen. Sein ist also das Anwesen des Anwesenden. Indem das Seiende „an-west“, „west“ auch das Sein „an“. Allerdings benutzt Heidegger selber diese Verbform nicht für das Anwesen, aus gutem Grund nicht: In der Verbform lässt sich nicht unterscheiden, ob vom Anwesenden geredet wird oder vom Anwesen. Das Anwesen ist das 63 64 65 66 67
Härle/Herms, Rechtfertigung, 45, 71. Korsch, Dogmatik im Grundriß, 17. Korsch, Dogmatik im Grundriß, 15. Heidegger, Holzwege, 320. Heidegger, Holzwege, 321.
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Phänomen, wie das Seiende anwesend wird. „Anwesen“ steht für den Prozess des Anwesendwerdens eines Seienden. Das Sein ist dieser dynamische Prozess. Das Sein ist also nicht selbst das Seiende, das anwesend wird, sondern der Prozess, in dem es anwesend wird. Phänomenologisch ist das Sein damit schöpferisch und nicht selbst ein Geschöpf, weil alles Seiende diesen Prozess durchlaufen muss. Bemerkenswert ist, dass nach Heidegger der schöpferische Charakter des Anwesens auch wirksam ist, wenn etwas abwesend ist: Wenn Anwesendes schwindet, schwindet nicht etwa auch das Anwesen. Heidegger formuliert hier anders: Das Anwesen entzieht sich.68 Es entzieht sich der menschlichen Verfügbarkeit über das Seiende. In unseren Begriffen ausgedrückt: Auch wenn etwas weg oder woanders ist, bleiben wir mit seiner Anwesenheit konfrontiert. Heidegger benutzt den Begriff Anwesenheit nicht, sondern verwendet dafür „Anwesen“, um den dynamischen Charakter des Anwesenden in die Unverborgenheit hervorzuheben oder auch umgekehrt seinen „abgehenden“ Charakter auf die Verborgenheit zu.69 Damit uns etwas anwesend oder abwesend sein kann, muss das Anwesen immer präsent sein. Auch hier wird das Anwesen als etwas dem Anwesenden (Seienden) Enthobenes dargestellt. Heidegger nennt es selbst nicht Gott. Allerdings nimmt es eine transzendente Stelle gegenüber allem Seienden ein. Dass Anwesenheit als theologische Kategorie interpretiert werden kann, kann man am Gegensatz zeigen. Für Heidegger sind nämlich gottlose Weltanschauungen solche, die die Anwesenheit ignorieren wollen. So hält er den Nihilismus für einen Versuch, das Sein als Anwesen zu leugnen und eine Metaphysik der persönlichen Sicherheit zu erzeugen.70 Sobald man das Anwesen des Seienden ignoriert, ignoriert man, dass man vom Anwesen betroffen wird. Dazu versucht man den Prozess des Anwesens zu steuern und dabei das Seiende festzuhalten.71 Darin stecke ein „Wille zur Macht“. Der Wille zur Macht versucht für Heidegger eigentlich das Seiende zu beherrschen (auch sich selbst und das eigene Lebensschicksal). Dazu setzt er voraus, dass Gott tot ist. 72 Mit diesem Gedankengang argumentiert Heidegger schließlich via negationis theologisch. Zwar sagt er nicht ausdrücklich, dass das Anwesen eine theologische Kategorie ist. Aber wer das Anwesen ignoriert, offenbart seine Gottlosigkeit. Zugleich ist der Mensch der Ort, an dem dieses theologische Phänomen erscheint. Nach Günter Figal lässt erst der Mensch das Sein als Anwesen ankommen, weil er offen für das Sein ist.73 Heidegger selbst drückt sich so aus, 68 69 70 71 72 73
Heidegger, Wegmarken, 414. Heidegger, Holzwege, 322f. Heidegger, Holzwege, 414. Heidegger, Holzwege, 411; ders., Wegmarken, 397. Heidegger, Holzwege, 214. Figal, Phänomenologie der Freiheit, 350.
Anwesenheit und die Evidenz Gottes
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dass das Anwesen (Sein) je und je zum Menschenwesen ist.74 Das Menschenwesen ist als solches hörend, weil es in das An-wesen gehört.75 Heidegger benutzt hier ein sinniges Wortspiel: Das Hören des Menschen ist Phänomen der Zugehörigkeit zum Anwesen. Das heißt nicht, dass das Anwesen bloß eine Kategorie des menschlichen Denkens und Wahrnehmens (Hörens) ist. Vielmehr zeigt sich eben im menschlichen Denken und Wahrnehmen, worauf sich der Mensch bezieht, nämlich auf das Anwesen als einer Transzendenz.76 Dieses Anwesen ist die Bedingung für sein Hören und für seine Zugehörigkeit zum Sein. Auffällig ist, wie hier das Anwesen mit dem Hören des Menschen in Zusammenhang gebracht wird. Hören richtet sich nicht nur auf Anwesendes, sondern zugleich auf die Anwesenheit: Wir können nur etwas Anwesendes hören, weil wir dem Anwesen zugehören. Es kann offen bleiben, ob Heidegger selbst das Anwesen theologisch verstanden hat. Entscheidend ist, dass er es als eine Transzendenz gegenüber dem Seienden aufgefasst hat, dem sich das Seiende überhaupt erst verdankt. Dazu gehört auch der Mensch, der seine Zugehörigkeit zum Sein entdecken kann über sein Hören auf das Anwesen. Im Menschen wird daher das Anwesen evident. Es wird nicht einfach nur dem Menschen evident, sondern das Anwesen zeigt sich als die Grundlage jeglichen Hörens, Wahrnehmens und Erkennens. Vor diesem phänomenologischen Hintergrund überrascht es nun nicht mehr, dass sich der Heilige Geist biblisch durch das Hören auf das Wort Gottes ereignet (Kapitel 6). Im Hören offenbart sich evident das Anwesen.
2.4.2 Johannes Fischers theologisches Geistverständnis als Anwesenheit Anwesenheit ist für Johannes Fischer die notwendige Bedingung, dass sich Menschen in der Wirklichkeit wahrnehmen.77 Dabei bedeutet „Anwesenheit“ die soziale Sphäre, in der sich Kommunikation unter anwesenden Personen ereignet.78 Wirklichkeit kann sich also nur unter den Bedingungen einer sozialen Sphäre ereignen. Aber die Personen, die sich dabei als anwesend erleben, sind nicht vorher schon da, bevor ihre gemeinsame Welt ihnen wirklich wird. „Kommunikation unter Anwesenden“ ist nicht die Ur-Wirklichkeit, die vorausgesetzt werden muss, damit Personen Wirklichkeit erfahren können. Denn sonst wäre doch die Wirklichkeit Bedingung der Kommunikation: nämlich das Dasein von Personen. Um konsequent den Gedanken durchdenken zu können, dass Kommunikation unter Anwesenden Wirklichkeit 74 75 76 77 78
Heidegger, Wegmarken, 408. Ebd. Heidegger, Wegmarken, 398. Fischer, Theologische Ethik, 18. Fischer, Leben aus dem Geist, 41; ders., Theologische Ethik, 23.
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konstituiert, muss Fischer unterscheiden zwischen Anwesenheit und Anwesenden: Es ist die Anwesenheit, die das Anwesend-Sein erschafft. Die Wirklichkeit ist deshalb kein „Einheitsraum“79, sondern sie ist abhängig von „Anwesenheitskonstellationen.“80 Mit dem Begriff „Anwesenheitskonstellationen“ will Fischer offenbar hervorheben, dass Anwesenheit Personen widerfährt. Nicht weil sie Personen sind, können Menschen andere als anwesend erfahren oder sich selbst bei anderen anwesend erleben. Vielmehr ist es genau umgekehrt: Weil Menschen in Anwesenheitskonstellationen auftauchen, werden sie zu Personen.81 Eine Person kann daher nicht über Eigenschaften eines einheitlichen Wirklichkeitsraums beschrieben werden.82 Denn der Wirklichkeitsraum ändert sich immer, je nachdem unter welchen Anwesenheitskonstellationen man sich begegnet.83 „Der Modus der Anwesenheit entzieht die betreffenden Personen unserer Verfügung und auch unserer ethischen Verfügung.“84 Aber nicht nur das: Folgerichtig müsste Fischer auch behaupten, dass ich mir selbst ethisch unverfügbar bin: Wer ich bin, kann ich überhaupt nur in Anwesenheit klären. Aber da die Anwesenheitskonstellationen verschieden sind, klärt sich diese Frage immer anders: Von der praktischen Erkenntnis, also vom Raum der Anwesenheit oder Abwesenheit „hängt ab, in was für einer Welt wir lokalisiert sind.“85 Fischer zufolge hat der Geist Gottes etwas mit diesem Anwesenheitsphänomen zu tun86: Der Geist kann selbst nur in Anwesenheit verstanden werden. Er ergibt sich über die Eigenperspektive der Kommunikation zwischen Anwesenden.87 Es ist der Geist, der uns zum Leben bestimmt88, und zwar je verschieden, je nachdem, in welcher Anwesenheitskonstellation wir uns finden.89 Es ist aber auffällig, dass Fischer auch davon spricht, dass Menschen zu Gott ein Verhältnis in Anwesenheit bekommen. Menschen haben eine Beziehung zu Gott, weil er selber anwesend ist.90 Hier unterscheidet Fischer nicht scharf zwischen Anwesenheit und Anwesenden: Gott wird ein Anwesender wie andere auch – selbst wenn Fischer betont, dass Anwesendsein stets auf andere Weise entsteht. Der entscheidende Punkt muss aber der sein, dass Gott An79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90
Fischer, Leben aus dem Geist, 42. Ebd. Fischer, Leben aus dem Geist, 108. Die Vorstellung eines solchen Einheitsraums, etwa in der modernen Weltauffassung, wird konsequent nur als eine kontingente „Perspektive“ beschrieben (Fischer, Theologische Etthik, 29). Fischer, Theologische Ethik, 18 u.ö.. Ebd. Fischer, Theologische Ethik, 18. Fischer, Theologische Ethik, 120. Fischer, Leben aus dem Geist, 130; ders., Theologische Ethik, 120, 129. Fischer, Leben aus dem Geist, 131; ders., Theologische Ethik, 130. Fischer, Leben aus dem Geist, 133. Fischer, Leben aus dem Geist, 108. ders., Wie wird Geschichte als Handeln Gottes offenbar, 223.
Anwesenheit und die Evidenz Gottes
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wesenheit ist: Gott kann selbst nur deshalb anwesend sein, weil er Anwesenheit ist. Es handelt sich dann um das Anwesendsein der Anwesenheit. Denn der Geist begründet die Wirklichkeit91, auch die Wirklichkeit des Anwesenden. Meines Erachtens ist Fischer hier nicht ganz eindeutig. Er betont zwar, dass wir nur die Welt als Schöpfung betrachten können, weil wir uns dabei des Geistes vergewissern.92 Aber das liegt nicht einfach daran, dass sich die Wirklichkeit als Schöpfung nur dann erschließt, wo Gott selbst als Anwesender erlebt wird. Vielmehr liegt es daran, dass Gottes Anwesenheit gegenüber jeglicher Wirklichkeitswahrnehmung primär ist.93 Die Welt ist Gottes Schöpfung, weil sich jegliches Wirklichkeitsverständnis der Anwesenheit verdankt. Jegliches Wirklichkeitsverständnis verdankt sich der schöpferischen Bedingung von Anwesenheit. An dieser Stelle ist der Gedanke der Schöpfung nicht einfach nur kontingent. Der schöpferische Charakter des Geistes ist vielmehr evident. Nicht muss auch schon evident sein, wie wir die Welt als Schöpfung Gottes wahrnehmen: ob Gott also die Dinge, Arten, Lebewesen erschaffen hat und wie er dies gemacht haben könnte (durch Evolution oder handwerkliches Geschick). Denn ein Gott, der etwas tut oder handelt, wäre selbst ein Anwesender. Und als solcher kann er für manche Menschen durchaus umstritten sein. Dagegen ist es evident, dass Anwesenheit schöpferisch ist. Es bedarf der Anwesenheit, um Wirklichkeit des Anwesenden zu erfahren. Kontingent ist also zwar die Erfahrung, dass Gott selbst ein Anwesender ist. Dahinter steckt aber die evidente Bedingung der Anwesenheit. Diese evidente Bedingung nennt Fischer Geist. Er deutet den kategorialen Unterschied an durch seine Unterscheidung von Gefühl und Geist: „Das Gefühl der Hoffnung bezieht sich auf etwas, das der Hoffende irgendwo in der Zukunft lokalisiert. Der Geist der Hoffnung dagegen lokalisiert den Hoffenden auf Zukunft hin.“94 Diesen Geist beschreibt Fischer als einen, den Menschen nicht erzeugen können, weil sie nur an ihm „teilhaben“95, während er „sich nur selbst durchsetzen kann und durchsetzt.“96 Diese „Präsenz der erlebten Wirklichkeit“97, die sich „nicht objektivieren und ausmessen ließe.“98
91 92 93 94 95 96 97 98
Fischer, Leben aus dem Geist, 82. Fischer, Leben aus dem Geist, 23; ders., Theologische Ethik, 22f. So auch Fischer, Leben aus dem Geist, 157. Fischer, Theologische Ethik, 129; Herv. J.F.. Fischer, Theologische Ethik, 128. Fischer, Theologische Ethik, 148. Fischer, Liebe, 215; Herv. J.F. Ebd.
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2.5 Die Scheidung der Geister Wir haben Anwesenheitsphänomene in einer größtmöglichen Breite entdeckt, und zwar in drei umfassenden Dimensionen: in mir, in anderen Menschen und in der Welt. Nun geht es darum zu unterscheiden, welche von ihnen als Geisteserfahrungen verstanden werden können. „Der Wind kommt, wie er will, und du hörst sein Sausen wohl“ (Joh 3,8). Wenn man das Sausen des Windes nicht hören könnte, wäre die Situation anders. So aber wird vorausgesetzt: Der Wind wird wahrgenommen. Dieser Tatsache kann man sich nicht entziehen. So trivial sie ist, so evident ist sie auch. Aber ist das schon ein evidentes Geistphänomen? Steckt darin schon unausweichlich Theologie? Dazu zwei Vorbemerkungen, eine über Geistphänomene und eine über die Sünde. Zum Ersten: Die bisherige Untersuchung hat uns vor das Phänomen der Anwesenheit gestellt. Nicht alles, was uns anwesend ist, muss bereits eine Geisterscheinung sein. Aber alles, was uns anwesend ist, bedarf dabei der schöpferischen Kraft der Anwesenheit. Anwesenheit ist dabei auch spürbar, wenn jemand oder etwas uns abwesend ist. Nicht die Trivialität, dass ich das Sausen des Windes höre und dass er mir so anwesend wird, macht schon Theologie. Aber sobald ich konfrontiert bin mit dieser Trivialität und der Erfahrung, dass nicht der Wind sich selbst anwesend macht, sondern seine Anwesenheit, deren Herkunft sich nicht bestimmen lässt, lässt sich anscheinend kaum noch vermeiden, von Gott zu reden.99 Heidegger hat es versucht, nicht von Gott reden zu müssen. Aber „via negationis“ fand er dabei zu Gott zurück. Zum Zweiten: Woran lässt sich an anderen Sünden erkennen, dass sie sich vergeben lassen, dass sie vergeben werden oder bereits vergeben worden sind? Jesu Wort von der Unvergebbarkeit der Sünde gegen den Heiligen Geist suggeriert etwas, das nicht der Fall ist: nämlich dass es einen Anspruch darauf gäbe, bei bestimmten anderen Sünden vergeben zu bekommen. Ob aber eine Sünde vergeben wird, hängt nicht an ihrem Gewicht, sondern allein an der vergebenden Instanz. Zudem kann keine Sünde so unerheblich sein, dass sie jemandem vergeben werden muss. Sonst wäre es zumindest manchmal richtig, etwas Falsches zu vergeben – was so viel heißen würde wie: Es wäre richtig, etwas Falsches zu tun (nämlich eine Sünde zu begehen). Kombiniert man beide Vorbemerkungen, so könnte die Sünde gegen den Heiligen Geist deshalb unvergebbar sein, weil der Sünder es der vergebenden Instanz unmöglich machen würde, ihm zu vergeben. Dies würde nicht daran liegen, dass der Sünder die vergebende Instanz vernichten würde. Nur ihr Anwesend-Sein könnte er nämlich damit auflösen, aber nicht ihre Anwesenheit. Wenn eine Sünde unvergebbar sein soll, dann vielmehr nur deshalb, weil 99 Inwiefern das biblische Verständnis dieser Vorbemerkung entspricht, lässt sich erst am Ende zeigen, wenn die Charakterisierung des Anwesenhitsphänomens abgeschlossen sein wird.
Die Scheidung der Geister
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der Vergebung die Anwesenheit geraubt wird. Eine Sünde, die gegen die Anwesenheit der Vergebung deren Abwesenheit stellt, wäre unvergebbar. Aber ist eine solche Sünde überhaupt möglich? Wir hatten entdeckt, dass Anwesenheit eine Kategorie ist, deren Wirken unabhängig von menschlichen Fähigkeiten ist: Der Wind kommt eben, wie er will. Anwesenheit ist ein souveränes Geschehen. Das heißt zwar nicht, dass sie immer da ist, aber dass sie immer wirkt – auch wenn das, dessen Anwesenheit uns erscheint, abwesend ist. Sollte etwa umgekehrt die Abwesenheit nun in unserer Hand liegen? Oder ist Abwesenheit ein Modus der Anwesenheit? 2.5.1 Sprachliche Klärungen An dieser Stelle brauchen wir eine sprachliche Klärung. Wenn ein Gegenstand abwesend ist, dann ist seine Abwesenheit anwesend. Ich sage nicht: Das Abwesende ist anwesend. Denn es ist eben abwesend und nicht anwesend. Aber seine Abwesenheit fällt auf, sie kann einem sogar zu dicht werden (etwa wenn man auf eine Freundin im Cafw wartet). Ihre Abwesenheit wird dann anwesend. Sogar verstorbene Menschen, die nirgendwo mehr anwesend sind, werden in ihrer Abwesenheit so dicht, dass es unerträglich sein kann. Dann kann man sogar sagen: Ihre Abwesenheit ist überall anwesend. Der Ausdruck „Die Abwesenheit ist anwesend“ entspricht aber dem folgenden Ausdruck: „Die Anwesenheit des Abwesenden“. „Anwesenheit“ ist folgerichtig dasselbe wie „die Abwesenheit des Abwesenden“. Es handelt sich bei dieser Art doppelter Verneinung nicht um die Anwesenheit eines Anwesenden oder Abwesenden, sondern um die pure Anwesenheit. Gerade indem die Abwesenheit des Abwesenden erscheint, zeigt sich pure Anwesenheit. Dies war Heideggers Grundidee, die er in allen Epochen seiner philosophischen Arbeit verfolgt hat: Gerade indem sich Seiendes unseren Erwartungen entzieht, offenbart sich darin das (wahre) Sein. Daher kann auch gerade durch die Abwesenheit des Abwesenden pure Anwesenheit aufscheinen. Eine Nebenbemerkung: Von der bisherigen Sprachregelung erklärt sich auch, dass es eine „Abwesenheit des Anwesenden“ gar nicht geben kann. Daraus folgt, dass Abwesenheit keine eigene Kategorie ist. Abwesenheit ist vielmehr ein Modus der Anwesenheit selbst. Von hierher nun zurück zur Frage von oben: Kann eine Sünde so schwer sein, dass sie die Anwesenheit der Vergebung selbst zerstört? Tatsächlich kann Vergebung nur anwesend oder abwesend sein. Sie ist abwesend, wenn jemand, der eine Sünde vergeben könnte, dies unterlässt. Eine unterlassene Vergebung steht im Raum, aber sie steht eben nur im Raum als eine abwesende. Wenn Vergebung ausbleibt, kann dies den Betroffenen schmerzlich bewusst werden. Die Abwesenheit der abwesenden Vergebung schafft soziale Wirklichkeit. Was evident übrig bleibt, ist pure Anwesenheit, nacktes Faktum. Und zwar das
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nackte Faktum einer ungeklärten Situation. In der Abwesenheit abwesender Vergebung begegnen sich Menschen hilflos, schwankend zwischen höchster Betroffenheit und Gleichgültigkeit. Sie begegnen sich in Anwesenheit. Aber diese Anwesenheit ist eben „pur“: Sie ist keine geklärte Anwesenheit, weil unklar ist, wovon sie Anwesenheit ist. Die menschliche Interaktion, die von einer puren Anwesenheit geprägt ist, zeigt sich im hilflosen Ausweichen vor Blicken oder vor Höflichkeitskonventionen. Diese Manöver machen aber zugleich betroffen. Gerade weil Vergebung abwesend ist, ist man aufeinander schutzlos zurückgeworfen. Mehrere Aussagen lassen sich aus unserer Sprachregelungen nun treffen, die zwar nicht alle das Gleiche bedeuten, aber alle mit dem Phänomen der Anwesenheit zu tun haben: 1. 2. 3. 4.
Vergebung war abwesend. Spürbar wurde die Anwesenheit der abwesenden Vergebung. Die Abwesenheit der abwesenden Vergebung wurde anwesend. Die Abwesenheit der abwesenden Vergebung erscheint wie eine pure Anwesenheit.100
Eine unterlassene Vergebung konfrontiert uns mit der bloßen Anwesenheit, ohne dass wir mit ihr erträglich leben können. Wären wir stets nur mit bloßer Anwesenheit konfrontiert, wäre ein Zusammenleben unerträglich. Es gäbe keinen möglichen Rückzug aus der total ungeklärten Situation. Sozial lebensfähig sind wir also nur, indem wir uns in einem nennenswerten Anteil unseres Daseins in Situationen vorfinden, in denen wir entweder keiner Schuld ausgesetzt sind (weder unserer noch der anderer Menschen) oder Vergebung erfahren (entweder indem wir selbst vergeben oder vergeben bekommen).
2.5.2 Warum die Sünde gegen den Heiligen Geist unvergebbar ist Die Sünde gegen den Heiligen Geist wäre folgerichtig weitergedacht eine, durch die wir uns mutwillig in Situationen treiben lassen, die uns mit der bloßen Anwesenheit konfrontieren: mit völlig ungeklärten Begegnungen, die uns keine Ruhe gönnen, weil wir nicht wissen, wer wir sind und mit wem wir es zu tun haben. Man kann zwar Vergebung im einen oder anderen Fall verweigern, wenn sie einem unehrlich oder unwahrhaftig erscheint. Wer aber nie Vergebung annimmt, stellt sie in eine prinzipielle Abwesenheit, aus der die bloße Anwesenheit des absolut Ungeklärten resultiert. (Ich lasse offen, ob dazu der Sünder wirklich in der Lage ist. Ist Vergebung wirklich abwesend, 100 Pure Anwesenheit ist dabei ein Phänomen, das die beiden Peirceschen Kategorien der Zweitheit und Drittheit zwar enthält, aber verdeckt. Das Phänomen wirkt so, als ob man es nur mit der puren Anwesenheit zu tun hätte. Vgl. Peirce, Vorlesungen über Pragmatismus, 44.
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wenn uns zwar vergeben wird, wir aber die Vergebung nicht annehmen? Einstweilen können wir unter einem hypothetischen Vorbehalt festhalten: Wenn es eine unvergebbare Sünde gibt, dann liegt sie darin, der Vergebung die Anwesenheit zu nehmen. Übrig bleibt eine pure Anwesenheit, die den Sünder in absoluter Unklarheit und Fremdheit zurücklässt.) Das neutestamentliche Wort über die Sünde gegen den Heiligen Geist stellt einen Bezug her zwischen der Evidenz geistlicher Erfahrungen und dem Phänomen von Sünde und Sündenvergebung. Es ist die Kategorie der Anwesenheit, die eine evidente Geisterfahrung ausmacht. Hier wird nicht nur Gott evident, sondern präziser Gott der Heilige Geist. Nicht jedes evidente Anwesenheitsphänomen ist damit schon eine Erfahrung des Heiligen Geistes. Pure Anwesenheit ist zwar eine evidente Erfahrung, aber eine heillose. Der Heilige Geist wird erfahren, wo Anwesenheit als schöpferische und wirklichkeitsbildende Kraft erfahren wird, indem sie die Anwesenheit von etwas (statt pure Anwesenheit) ist. Auch pure Anwesenheit bildet Wirklichkeit und ist insofern schöpferisch. Aber sie bildet keine Wirklichkeit von etwas, sondern bringt alles, was begegnet, als Unklares hervor. – Nun gibt es aber auch schöpferische und wirklichkeitsbildende Kräfte von Anwesenheit, die zwar etwas hervorbringen, aber etwas Lebensschädliches. Ich möchte diese Kräfte die Anwesenheit des Grauens nennen.101 Das Grauen kommt auch souverän, ohne dass man sich ihm entziehen kann. Es schafft Fakten, die auch dann noch „da“ sind, wenn sie woanders sind. Aber sie sind lebensschädlich. Die Schöpferkraft des Grauens führt zur Schöpfung der Angst und des Todes. Die Anwesenheit des Grauens zeigt sich in der kindlichen Angst vor der Dunkelheit, im Schlüsselgeräusch des Folterknechts, der die Verliestür öffnet, in ehemaligen Konzentrationslagern, die man als Besucher betritt, in Spuren von Vergewaltigungen, in Gewaltvideos und in Jahreszahlen auf Gedenktafeln einer Katastrophe. Manche dieser Phänomene sind von Überlebenden, Künstlern oder von Opfern selbst gebildet worden. Die Anwesenheit soll auf diese Weise gezähmt werden, indem das Grauen einen Ort bekommt, über den man verfügen kann. In diesen Fällen wird die Anwesenheit des Grauens zu einem anwesenden Gräulichen umstilisiert, über das man verfügen kann. Man kann das anwesende Gräuliche so auch auf Abstand halten. Ein anwesendes Gräuliches kann zum abwesenden werden. Gegen die Anwesenheit des Grauens ist man dagegen letztlich machtlos. Der Versuch, anstelle seiner Anwesenheit ein anwesendes Gräuliches nach freiem Interesse zu benutzen, stellt sich als illusionäre Selbstberuhigung heraus. Denn das Grauen kann jederzeit wieder auftauchen – auch ohne anwesende Darstellungsmittel.102 101 Johannes Fischer bemerkt am Rande dieses Phänomen, dessen „Abgründe“ er andeutet, die dadurch entstehen, dass sie sich auf der Dimension des Geistes bewegen, von der Menschen „schlechthinnig abhängig“ sind (Fischer, Theologische Ethik, 150f). 102 Das ist mit ein Grund, weswegen alle Versuche von Verboten des Gräulichen zwar im einen
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Es versteht sich aber von selbst, dass die Anwesenheit des Grauens ein widersprüchlicher Modus von Anwesenheit ist: Das Grauen kommt, um das Anwesende zu vernichten. Es strebt auf pure Anwesenheit hin und ist daher lediglich schöpferisch in der bloßen Dekonstruktion.103 Die Anwesenheit des Grauens missbraucht die schöpferische Kraft der Anwesenheit. Sie liegt mit sich selbst im Widerstreit. Der Heilige Geist dagegen ist die schöpferische und wirklichkeitsbildende Kraft der Anwesenheit, die sich auf ihre Geschöpfe richtet. Anwesenheit orientiert sich am Anwesenden, um das Anwesende zu schützen. Sie bildet eine Wirklichkeit des Anwesenden. Damit ist die „Scheidung der Geister“ abgeschlossen. Der Heilige Geist ist evident lebensdienlich. Man kann zwar bezweifeln, dass es einen Heiligen Geist gibt. Aber man kann nicht an der lebensdienlichen Kraft der Anwesenheit zweifeln. Wenn man einmal das Phänomen der Anwesenheit entdeckt hat, kann man nicht mehr an ihrer schöpferischen, wirklichkeitsbildenden und primär lebensdienlichen Kraft zweifeln. Alle anderen schöpferischen Kräfte von Anwesenheit sind demgegenüber sekundär und eine missbräuchliche Ableitung (pure Anwesenheit, Anwesenheit des Grauens). Wenn man dagegen am Heiligen Geist zweifelt, legt man das Phänomen dennoch für seine Lebensorientierung zugrunde: „Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl.“ Diese Evidenz liegt dem Zweifel voraus. Und es ist diese Evidenz, die auch die Benennung des Anwesenheitsphänomens als Phänomen das „Geistes“ nahe legt. Anwesenheit ist „Geist“, insofern sie wie der „Wind“ kommt. Sie ist aber auch „Geist“ (Bewusstsein), insofern sie Evidenz ist. Die schöpferische, wirklichkeitsbildende und lebensdienliche Kraft der Anwesenheit ist zugleich eine geistige Kraft: die das, was sie bringt, durchschaut. Denn indem sie in uns Evidenz hervorbringt, hat sie Evidenz auch in sich selbst.104
2.6 Ergebnis Anwesenheit ist eine Kategorie, die drei Charakteristiken hat: oder anderen Fall je und je politisch Sinn machen mögen (Verbot rechtsextremer Parteien, Internetzensur, Verbot von Gewaltvideos), aber phänomenologisch letztlich Täuschungen sind. 103 Vielleicht ist das ein Grund dafür, dass gewaltsame Extremisten in ihrer Aggressivität richtungslos sind: Ihre Gewalt kann sich unbestimmt gegen alles richten, sogar gegen sich selbst. Dies mag sich beispielhaft daran zeigen, dass die Opfer der islamistischen Terrororganisation Al Qaida zumeist Muslime sind, obwohl sich Al Qaida als Befreiungsorganisation des Islam versteht. Ebenso können alle Menschen unterschiedslos Opfer rechtsextremer Gewalt werden. Schließlich lassen sich auch Zivilisten im Krieg nicht vor Angriffen schützen, die sich eigentlich gegen militärische Ziele richten. 104 Wie aus unserer Vorstellung eines allmächtigen Gottes die Vorstellung eines allwissenden Gottes folgt, habe ich im Band „Warum Menschen von Gott reden“ dargestellt (Ohly, Warum Menschen von Gott reden, 95–98).
Ergebnis
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1) Sie ist eine evidente Erfahrung, die Menschen zweifellos machen und die ihnen auch als unbezweifelbar erschlossen ist, sobald sie sie sich bewusst machen. 2) Sie macht zudem „affektiv betroffen“105. Die Erfahrung der Anwesenheit versetzt Menschen in eine emotionale Spannung: Weil Menschen Anwesenheit erfahren und nicht isoliert sind, haben sie Gefühle. Dabei gibt es bestimmte Gefühle, die sich auf die Betroffenheit der Anwesenheit selbst richten: Dies können ekstatische Gefühle sein, aber auch andächtige. Wer sich schließlich die Betroffenheit durch Anwesenheit nicht bewusst macht, wird dennoch durch Anwesendes oder Abwesendes affektiv betroffen. 3) Sie stellt soziale Verhältnisse her. Durch Anwesenheit verliert der Mensch seine Isolation. Er ist fortan „Bei-Sein“: bei sich selbst, in der Welt, mit anderen, die auch bei sich selbst in der Welt sind. Phänomene des Heiligen Geistes werden in der Bibel mit diesen drei Charakteristika dargestellt: a) Der Heilige Geist erfüllt Menschen, so dass sie dabei affektiv betroffen werden, etwa ekstatisch (Apg 10,44–46), aber auch mit andächtigen Gefühlen (2Tim 1,7), sobald sie ihre Erfahrungen auf die Gotteserkenntnis selbst richten und dabei Gottes Anwesenheit erfahren. b) Die Anwesenheit Gottes führt Menschen zusammen (Apg 10,44–48) c) und gibt unbezweifelbare Gewissheit (1Thess 1,5; vgl. Apg 11,12), die man sich nicht selber machen oder vorwegnehmen kann (Lk 12,11f). Folgerichtig ist der Glaube an Gott ein Werk des Heiligen Geistes (2Kor 4,13). Auch das Apostolische Glaubensbekenntnis enthält diese Charakteristika, vor allem den Aspekt der kirchlichen Gemeinschaft, der Vergebung der Sünden und des ewigen Lebens. Der Evidenzcharakter steht demgegenüber zurück, zumindest als Inhalt des Bekenntnisses. Allerdings ist er dort aber als Sprachakt des Bekenntnisses vorausgesetzt: „Ich glaube“ – nicht im Sinne eines defizitären Wissens, sondern umgekehrt im Sinne einer Evidenzerfahrung, die sich die glaubende Person nicht selbst machen kann. „Ich glaube“ ist eine widerfahrene Evidenz. Dies wird noch klarer werden, wenn wir den Glaubensbegriff näher untersuchen. Bei der Evidenz des Heiligen Geistes handelt es sich um eine leiblichgeistige Evidenz. Darunter verstehe ich eine unbezweifelbare Klarheit eines Menschen, die sich allein durch den eigenen leiblich-geistigen Lebensvollzug einstellt. Sie muss allerdings nicht auch zu einer persönlichen Evidenz werden. Unter einer persönlichen Evidenz verstehe ich eine unbezweifelbare Klarheit, 105 Der Ausdruck stammt von Hermann Schmitz (Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 95). Dort wird er dem Ausdruck „ästhetische Andacht“ zugeordnet (97) und religiös interpretiert. – Dieser Gedanke ist von Johannes Fischer aufgegriffen worden (Fischer, Theologische Ethik, 100f).
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die unter dem Vorbehalt der eigenen persönlichen Identität steht.106 Anwesenheit als evidentes wirklichkeitsbildendes Widerfahren muss man sich nicht bewusst machen. Die persönliche Identität kann diesen gedanklichen Mitvollzug verhindern. Das heißt aber nicht, dass man auf leiblich-geistiger Ebene die schöpferische Kraft der Anwesenheit nicht mitvollzieht. Diese Evidenz ist vielmehr eine Bedingung des In-der-Welt-seins. Die Verlässlichkeit des eigenen Lebens verdankt sich dem Vertrauen in diese schöpferische Kraft. Hier kollidiert die leiblich-geistige Evidenz eines Atheisten mit biografisch gewachsenen Einstellungen zum Leben. Diese Kollision ist noch kein Widerspruch zur leiblich-geistigen Evidenz. Ob sie ein Widerspruch zur Biografie eines Atheisten ist, hängt davon ab, wie er diese Kollision in der eigenen persönlichen Identität verarbeitet. Ein Atheismus kann durchaus affektiv betroffen sein und sogar eine bestimmte affektive Betroffenheit ausbilden, wenn er sich auf die wirklichkeitsbildende Kraft der Anwesenheit richtet. Atheismus kann sich also mit derjenigen affektiven Betroffenheit verbinden, die man „Spiritualität“ nennt. Ebenso kann der Atheist den sozialen Charakter von Anwesenheit anerkennen. Aber auch wenn ein Atheist diese Kollision nicht logisch auflöst, muss er persönlich kein widersprüchliches Leben führen. Es handelt sich dann zwar um einen logischen Widerspruch. Aber niemand muss logisch widerspruchsfrei leben. Persönliche Identität kann eigene Evidenzen ausprägen, die nicht auf logischen Evidenzen beruhen müssen. Es hat deshalb auch wenig Aussicht auf Erfolg, Atheisten „missionieren“ zu wollen, indem man ihnen nachweist, dass sie eigentlich ja doch wie Gläubige leben. Denn ein erfolgreicher Nachweis kann nur auf der persönlichen Ebene liegen. Folglich kann er „von außen“ gar nicht geführt werden. Dietrich Bonhoeffer hat in seiner letzten Schaffensperiode solche Versuche bekanntlich als „pfäffisch“ verurteilt: „Die Kammerdienergeheimnisse – um es grob zu sagen – das heißt also der Bereich des Intimen (vom Gebet bis zur Sexualität) – werden das Jagdgebiet der modernen Seelsorger.“107 Er hat eine solche „Attacke der christlichen Apologetik auf die Mündigkeit der Welt… erstens für sinnlos, zweitens für unvornehm, drittens für unchristlich“ gehalten.108 Diese Kritik richtet sich nicht darauf, dass etwaige Nachweise vom Widerspruch atheistischer Identitäten nicht logisch berechtigt wären. Bonhoeffers Kritik bewegt sich vielmehr auf der ethischen Ebene, weil sie die Anerkennung der persönlichen Identität eines Atheisten missachtet. Zugleich geht es aber auch um die Anerkennung einer anderen sogenannten „epistemischen“ Ebene. Persönliche Evidenz kann sich nur auf persönlicher Ebene einstellen. Das ist nicht nur eine ethische Forderung, sondern auch eine Festestellung über das Zustandekommen von Erkenntnissen. Leiblich-geistige Evidenz und persön106 Zu verschiedenen Arten der Evidenz s. Ohly, Warum Menschen von Gott reden, 55–59. 107 Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 509. 108 Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 478.
Ergebnis
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liche Evidenz liegen auf verschiedenen „epistemischen“ Ebenen – ebenso wie die logische Evidenz. Das heißt nicht, dass solche Nachweise nicht auf persönlicher Ebene beeindrucken können. Aber ob sie überzeugen, hängt nur davon ab, ob sie von der Person selbst mitvollzogen werden. Wir werden diesen Gedanken wieder aufgreifen, wenn wir über das Verhältnis von christlichem Glauben und Kirchenzugehörigkeit nachdenken.
3. Wann Menschen doch vom Heiligen Geist reden Es gibt Darstellungen des Heiligen Geistes. Menschen reden manchmal doch vom Heiligen Geist, weil sie ihn selbst zur Darstellung bringen wollen. Man kann aber hier zwei Arten von Darstellungen unterscheiden: Im ersten Fall handelt es sich um expressive Formen, um den Anwesenheitscharakter des Heiligen Geistes selbst hervortreten zu lassen. Das könnten Gebete sein, Evangelisationen, kirchenmusikalische Oratorien oder gestaltete Kirchenräume. Im zweiten Fall handelt es sich um Ausdrucksmittel, die das Phänomen der schöpferischen Anwesenheit verständlich machen wollen. Hierzu gehört die theologisch-wissenschaftliche Sprache, aber auch manche Predigten. Während sich die verständliche Rede vom Heiligen Geist auf bereits erfahrene Geistphänomene bezieht, möchte die erste Form selbst schöpferisch sein. Ich habe eben gesagt: Die erste Form ist „expressiv“. Das kann die zweite Form auch sein. Dennoch haben beide Formen unterschiedliche Ausdruckstendenzen: Die erste Form kann ohne Ausdruckskraft gar kein gelungenes Ausdrucksmittel der schöpferischen Anwesenheit sein, die zweite kann dagegen nüchtern sein. Eine Evangelisation, die trocken und langweilig ist, wird man wohl als misslungen bezeichnen müssen. Allerdings gibt es auch nüchterne Expressivität, zum Beispiel die Meditation. Unterschiedlich sind beide Ausdrucksformen in erster Linie in ihrem Ausdruckszweck. Durch diesen Unterschied entstehen verschiedene Ausdruckstendenzen, die aber nicht scharf abgrenzbar sind. Im Folgenden sollen beispielhaft Fälle beschrieben werden, wann Menschen anfangen, vom Heiligen Geist oder vom Geist der Anwesenheit zu sprechen. Dabei wird man sich auf beide Formen beziehen müssen. In diesem Kapitel möchte ich den Geistbegriff nicht vorschnell konfessionell einengen. Dazu lege ich wieder einen möglichst weiten Geistbegriff zugrunde. Dabei werden aber die Ergebnisse des vorigen Kapitels aufgegriffen. Die folgenden Beispiele sind nicht normativ eingrenzend gemeint – weder in ihrer Reihenfolge noch in ihrer inhaltlichen Füllung. Es geht auch nicht darum, dass nur Geistphänomene aus dem christlichen Erfahrungskontext entnommen werden dürften. Durchaus aber soll die Darstellung normative Konsequenzen haben, nämlich ob Geistphänomene, die auch dem nichtchristlichen Bereich entnommen sind, dem phänomenologischen Kriterium des Heiligen Geistes genügen, das im vorherigen Kapitel entwickelt wurde.
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3.1 Expressive Formen 3.1.1 Geistheilungen Für die evangelische Theologie ist das Themenfeld der Geistheilungen weitgehend unbearbeitet. Werner Thiede hat vor einiger Zeit den Reflexionsbedarf dieses Phänomens angemahnt und gibt mit seinem Forschungsüberblick den Eindruck einer allenfalls tastenden Suchbewegung wieder.1 Zwar ist sich Thiede einer pneumatologischen Verortung dieser Frage sicher2, kommt aber über das Referat anderer Autoren nicht hinaus. Letztendlich scheint er solche Phänomene in gewisser Weise sogar theologisch zu nivellieren, wenn er zunächst auf den exegetischen Befund verweist: „Das Neue Testament gibt in dieser Hinsicht insgesamt eine erstaunlich nüchterne Auskunft.“3 Dieser Befund fungiert in Thiedes Argumentation als Voraussetzung für seine systematisch-theologische Folgerung: „Paranormale Phänomene sind also nicht schon per se als göttliche Offenbarungen zu nehmen.“4 Der Artikel schließt damit, dass Thiede den pneumatologischen Sitz wieder verlässt und in einen christologischen verlagert: „Zu deuten sind sie [die Heilungswunder, L.O.] trinitarisch – und das heißt allemal: im Kontext des Kreuzes des Auferstandenen.“5 Entscheidend sei dabei das Wunder der Auferweckung Jesu.6 Damit wird zwar die Frage nach der theologischen Verortung von Geistheilungen beantwortet, aber ihre theologische Einschätzung umgangen. Denn wie die Auferstehung im Sinne einer eigentlichen „Geistheilung“ vom Tod möglich sein soll, bleibt einstweilen im Dunkeln. Aufgrund dieser weitgehenden theologischen Sprachlosigkeit taste ich mich im Folgenden an Äußerungen von Anhängern alternativer Medizin entlang. Es ist auffällig, dass alle Heilmethoden, die keine schulmedizinischnaturwissenschaftlichen Grundlagen haben, Bezüge zum „Geistigen“, „Geistlichen“ oder Spirituellen herstellen.7 Oftmals wird auch von „ganzheitlichen“8 Methoden gesprochen, die leibhafte und geistig-geistliche Elemente in den Heilungsprozess aufnehmen.9 Wie genau sich der Geist auf den Heilungsprozess auswirkt, bleibt weitgehend im Dunklen. „Geist“ ist die Chiffre für etwas Verborgenes im Sichtbaren, für etwas Unbestimmtes im Körperlichen. Es fällt auf, dass die Bezie1 2 3 4 5 6 7 8 9
Thiede, Heilungswunder in der Sicht neuerer Dogmatik. Thiede, Heilungswunder in der Sicht neuerer Dogmatik, 110. Thiede, Heilungswunder in der Sicht neuerer Dogmatik, 116. Ebd.; Herv. W.T. Thiede, Heilungswunder in der Sicht neuerer Dogmatik, 117. Ebd. Risch, Homöopathik, 17. Z.B. Stumpf, Homöopathie, 7. Körtner, Die Gemeinschaft des Heiligen Geistes, 18.
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hung zu den Körpern eine heilvolle oder unheilvolle Bedeutung hat. Nicht nur astrologische Konstellationen „bedeuten“ etwas für die Lebensgeschichte.10 Auch neuere Varianten der der sogenannten „Terlusollogie“ gehen auf die Bedeutung makrokosmischer Konstellationen auf die unterschiedlichen Arten des unwillkürlichen Atmens ein. Heilvoll lebt, wer in Einklang mit diesen Vorgaben lebt. Was bedeutet hier Geist? Der Geist besteht zunächst darin, dass sich das Körperliche auf etwas außerhalb des Körperlichen richtet, also einen intentionalen Charakter hat. Mondphasen „bedeuten“ in diesem Sinn etwas für die persönliche physisch-psychische Gestimmtheit. Eine Handauflegung stimuliert Selbstheilungskräfte. Mit all dem richten sich Körpereinwirkungen auf etwas außerhalb ihrer selbst. Das heißt nicht, dass körperliche Phänomene den Bereich des physikalischen Schemas von Ursache und Wirkung verlassen. Der ganzheitliche Charakter von „Naturheilverfahren“ besteht aber darin, dass Natur das Geistige einschließt oder umgekehrt. Erst über den Umweg auf das Geistige finden physikalische Ursachen zu ihren Wirkungen. Das Geistige wirkt wie ein physikalischer Verstärker: Weil die Gravitation des Mondes nicht stark genug ist, um physikalisch kausal hinreichend stark auf den menschlichen Körper einzuwirken, „bedeutet“ der Mond eine entsprechend starke Wirkung. Der intentionale Charakter der Mondphase verstärkt den Effekt, den die rein physikalische Kausalität nicht selbst aufbringt, sondern dann eben „meint“. Physikalische Phänomene bekommen auf diese Weise den Charakter von Informationen. Diese Rolle des Geistes als Verstärker physikalischer Ursachen bestätigt sich, wenn man danach fragt, wie man die Wirkung solcher geistlichen Heilmethoden beurteilt. Bekanntlich haben die meisten ganzheitlichen Verfahren aus schulmedizinisch-wissenschaftlicher Sicht keine Grundlage außer den sogenannten Placebo-Effekt: Selbstheilungsprozesse können allein dadurch angeregt werden, dass sich die Patientin einen Heilungserfolg verspricht. Dazu muss das entsprechende medizinische Verfahren selbst keinen Wirkstoff enthalten. Placebo-Effekte gelten als schulmedizinisch nachgewiesen. Hier berühren sich Schulmedizin und Geistheilung: Die Therapie erreicht eine Heilwirkung durch die geistig-geistliche Verstärkung des Therapeutikums, das selbst keinen physikalisch nachweisbaren Wirkstoff enthält. Ansonsten aber lassen sich geistliche Heilverfahren nicht schulmedizinisch nachweisen. So sind Wirkstoffe in homöopathischen Medikamenten auf molekularer Ebene nicht nachweisbar. Zwei unterschiedliche homöopathische Mittel sind daher schulmedizinisch gar nicht unterscheidbar. Dieser Tatbestand scheint Homöopathen aber nicht zu beeindrucken.11 Das legt die Frage 10 Der Psychoanalytiker Fritz Riemann etwa hat den psychologischen Effekt von Sternkonstellationen während der Geburt wissenschaftlich zu erheben versucht (Riemann, Lebenshilfe Astrologie, 35, 44f). 11 Enders, Enders’ Handbuch Homöopathie, 18; Risch, Homöopathik, 20.
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nahe, welche Beweisverfahren für die Wirkkraft solcher „ganzheitlicher“ Heilmethoden unter ihren Vertretern eigentlich akzeptiert sind beziehungsweise welche Nachweise sie umgekehrt akzeptieren würden, dass ihre Verfahren nicht wirken. Kritiker wenden häufiger ein, dass man an sie „glauben“ müsse, damit sie wirken. Dieser polemische Einwand scheint die Kritik einzuschließen, dass man auch glauben müsse, dass diese Verfahren wirken, während sie in Wirklichkeit nicht wirken. Auf diesen Einwand wird in der Regel geantwortet, dass Menschen nach solchen Heilverfahren gesund werden. „Wer heilt, hat recht.“ Die Erfahrung mit alternativen Heilmethoden spreche also für sich. Aber stimmt das? Ein Test aus dem Jahre 2005 hat untersucht, ob alternative Heilmethoden überhaupt eine statistisch zu ermittelnde Heilungsquote erreicht. Ebenso wie man pharmazeutische Wirkstoffe mit Placebos vergleicht, um ihre Heilwirkung auszuzeichnen, hat man alternative Heilmethoden verglichen. Das Resultat dieser Testreihe zeigte bei zwei Dritteln der Alternativmethoden keine signifikanten Heilungserfolge.12 Allerdings hat dieses Testergebnis keine Auswirkungen auf die Beliebtheit solcher Heilverfahren gehabt. Weder haben alternative Heilpraktiker oder Reiki-Meister daraufhin nennenswert viele Patienten verloren, noch haben Geistheiler ihre Arbeit eingestellt. Vielmehr werden ungebremst neue Alternativtechniken untersucht und entwickelt. Zwei Drittel der Bevölkerung vertrauen weiterhin in die Verfahren alternativer Medizin.13 Geistheilungen werden also weder an der kausalen Ursache bemessen (den nachweisbaren Wirkstoffen) noch an den kausal bestimmbaren Wirkungen (der physikalisch ermittelbaren Wirkung). Damit ist das „Medium“ des „Geistes“ nicht nur Verstärker der Ursache, sondern auch Verstärker der Wirkung. Eine Geistheilung richtet sich nicht einfach auf die körperlichen Symptome, sondern auf die persönliche Einstellung zu den Symptomen.14 Darin besteht ihre „Ganzheitlichkeit“. In Geistheilungen tritt damit der Anwesenheitscharakter hervor. Sie sind expressiver Ausdruck für die schöpferische und wirklichkeitsbildende Kraft der Anwesenheit. Sie wollen diese Kraft hervorbringen oder von sich aus hervortreten lassen.15 Geistheilungen fügen sich nicht den kausalen Bedingungen naturwissenschaftlicher Wirklichkeit. Sowohl Ursache als auch Wirkung kann unter naturwissenschaftlicher Sicht „abwesend“ sein. Aber der Anwesenheitscharakter des Abwesenden tritt dabei hervor. Nicht weil etwas abwesend ist, kann es nicht wirken. Sondern weil es trotzdem seine Anwesenheit zeigt, kann es auch therapeutisch zur Anwendung kommen. Es ist hier nicht der Ort, um zu klären, ob solche Heilverfahren gelingen und 12 http://www.test.de/themen/gesundheit-kosmetik/meldung/Alternative-Heilmethoden-Oftnicht-wirksam-1299645-2299645/ (Zugriff 21.12.2012). 13 Ebd. 14 Foerst, Von Robotern, Mensch und Gott, 129ff. 15 Ebd.
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zu Recht als Heilverfahren gelten dürfen. Entscheidend ist eher, dass man bei einer solchen Konstellation anfängt, vom Geist zu reden – und zwar sowohl die Befürworter als auch die Gegner dieser Verfahren. Die schöpferische Kraft der Anwesenheit wird strategisch zur Heilung eingesetzt. Die heilende Technik greift auf Mittel zurück, die über den Verantwortungsbereich der Therapeuten hinausgeht. Denn indem man sich nicht direkt auf die Wirklichkeit richtet, sondern auf die Wirklichkeitsbildung, entzieht man den Heilungsprozess einer realen Kontrollmöglichkeit. Die Heilung entzieht sich einer wirklichen Kontrolle, weil die Heilungsstrategie nicht einfach wirklich ist, sondern Wirklichkeit bildet. Deshalb richtet sie sich auf Verstärker, die im real-kausalen Sinn gar nicht verfügbar sind (und auch nicht sein müssen). Somit wird hier eine reale Grenze überschritten – und damit auch der reale Verantwortungsbereich des Heilpraktikers. Die über-reale Verantwortung liegt darin, die Wirklichkeitsbildung zu erschließen, die im schöpferischen Charakter der Anwesenheit liegt. Das Medium der Wirklichkeitsbildung ist daher ebenso der Geist. Die Partizipierenden eines entsprechenden therapeutischen Prozesses lokalisieren sich nicht selbst, sondern sie werden vom Geist in einer neuen Situation lokalisiert. Man muss „neu geboren“ sein, um das Sausen des Windes zu hören (Joh 3,8). Unter „realistischen“ Bedingungen erscheint dieses Verhalten als unrealistisch, weil die Bedingungen der Realität andere sind als die Bedingungen der Wirklichkeitsbildung. Die Grenze liegt in der Anwesenheit, die sowohl real evident ist als auch in ihrem schöpferischen Charakter über die Realität hinausgeht. Deshalb reden Menschen von beiden Seiten hier vom Geist. Der Geist ist Grenze und Medium dieser Heilverfahren.
3.1.2 Der Gottesdienst Gottesdienste sind die „natürlichsten“ Darstellungen der Anwesenheit Gottes. Sie unterscheiden sich aber in ihrem Anspruch, ob sie die Anwesenheit selbst expressiv hervorrufen wollen oder nur verständlich machen wollen. Zum ersten Fall gehören Rituale mit magischen Elementen, aber auch mit beruhigenden Elementen, an denen Gottes Anwesenheit wie von selbst hervortreten soll, zum Beispiel die Stille. Stille kann eine bedrängende Form der Anwesenheit werden. Hermann Schmitz hat die Stille „inspirierend“ genannt: Gerade weil sie Zudringlichkeit meidet, erzeugt sie ein Gefühl der „Engung“ und gibt zugleich „Weite“ ab.16 Bei der gottesdienstlichen Stille wird bewusst diese Engung erzeugt, die den Menschen sammelt aber auch entspannt (deswegen spricht Schmitz von „Weite“). Laut Schmitz entsteht der inspirierende Charakter von Stille durch persönliche Zurückhaltung.17 Gerade weil der Mensch sein eigenes Zutun un16 Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 100. 17 Ebd.
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terlässt, bricht die Inspiration ein. Anwesenheit ist eben nicht woanders oder weg, wenn sie nicht auffällt. Vielmehr sticht sie gerade dann hervor, sobald die eigenen Handlungen „abwesend“ sind. Paradox ausgedrückt: Menschen reden gerade dann vom Heiligen Geist, wenn sie schweigen. Die Wandlung der Elemente während der römisch-katholischen Messe gehört zu den magischen Formen, den Heiligen Geist zur Darstellung kommen zu lassen. Hier wird er im Ritual absichtlich herbeigeführt. Eine ähnliche Variante des magischen Herbeiholens des Geistes findet sich aber auch in evangelischen Liturgien, die mit der Anrufung des Geistes beginnen. So beginnt der agendarische Gottesdienst der Evangelischen Kirchen von Kurhessen-Waldeck mit dem Gesang „Komm, Heiliger Geist, erfüll’ die Herzen deiner Gläubigen und entzünd’ in ihnen das Feuer deiner göttlichen Liebe.“ Nicht ganz so auffällig magisch sind liturgische Eröffnungen, die mit dem Votum beginnen: „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ Das Votum kann und soll wohl auch als „kausative Rede“18 verstanden werden: die also das verursacht, wovon sie redet, indem sie davon redet. Da das Geschehen „im Namen“ Gottes geschieht, wird es auch von Gott selbst autorisiert.19 Nun ist der Begriff des Magischen innerhalb der Theologie ein polemischer Reizbegriff.20 Magie kann als der Versuch verstanden werden, Gott für persönliche Zwecke verfügbar zu machen. Gott muss dabei menschlichen Regeln genügen (zum Beispiel bei der Wandlung bei der römisch-katholischen Eucharistie, in der der priesterliche Handlungsablauf die Niederkunft des Heiligen Geistes zeitlich und sachlich bestimmt). Wird Magie aber so verstanden, so wären etliche der genannten rituellen Handlungen keine magischen Handlungen. Denn nach christlichem Verständnis wird der Gottesdienst nicht nach persönlichen Zwecken der Christen gefeiert, sondern durch die Einsetzung Gottes. Auch die Regeln der katholischen Wandlung der Elemente könnte man in diesem Sinn interpretieren: Nicht weil der Priester das Ritual vollzieht, wird Gott leibhaftig in den Elementen anwesend. Sondern weil Gott es selbst so verfügt hat, kann der Priester dieses Ritual vollziehen. Die Regeln, nach denen Gottes Anwesenheit hervortritt, sind Gottes Regeln ebenso wie die Zwecke. So gesehen wären aber auch viele Handlungen nicht magisch, die religionswissenschaftlich als magisch verstanden werden (zum Beispiel Opferkult, Heilungen von Medizinmännern und Regenmachern, Segnungen und Verfluchungen). In all diesen Fällen wird Gott nicht wirklich verfügbar gemacht, sondern eine Kraft in Anspruch genommen, die das Heilige selbst anbietet, 18 Dalferth, Religiöse Rede von Gott, 190–197. 19 Vielleicht liegt es an der suggerierten Macht der Magie, vor der etliche Pfarrer eine Abneigung haben und stattdessen einen Gottesdienst mit einem völlig unfeierlichen „Guten Morgen“ beginnen – es sei denn sie würden auch diesen Gruß kausativ verstehen (der Morgen wird gut, weil es gewünscht wird). 20 Zur katholischen Kritik an der Magie, die allerdings der katholischen Frömmigkeit nie verloren gegangen ist, s. Simons, Urbild und Abbild, 130, 133.
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und zwar auch zu Zwecken, die nach Offenbarungen autorisiert worden sind. Magie würde erst da anfangen, wo Menschen nach eigenem Interesse heilige Kräfte missbrauchen (zum Beispiel durch Zaubersprüche oder „Hexerei“). Gegenwärtig wird der Begriff der Magie außerhalb der Theologie positiv besetzt, etwa in der Werbung. Das Fahrgefühl eines neuen Autos wird dann als „magical“ bezeichnet. Humanwissenschaften haben seit längerem in der Alltagskultur ein „Wiederaufleben des Magischen“21 entdeckt. Der Theologe Wolf-Eckart Failing hat daher gefordert, magische Elemente auch in der volkskirchlichen Wirklichkeit anzuerkennen. Es gehe nicht darum, das Magische wegzudiskutieren, sondern zu „entzaubern“22. Dieser Rat scheint sich in etwa auf der Ebene zu bewegen, sich darauf zu beschränken, Missbrauchsfälle des Magischen aufgrund seiner kausativen Suggestivkraft zu unterbinden. Darüber hinaus scheint das Magische aber theologisch legitim zu sein. Lässt man einen weiten Begriff des Magischen zu, der ihre partizipierende Wirkkraft an der Anwesenheit des Heiligen Geistes würdigt, dann können auch kirchliche Bauwerke als magisch bezeichnet werden. Rudolf Otto hat einen entsprechend konstruktiven Begriff auf Bauwerke angewendet.23 Ebenso wie die Stille bei Schmitz haben aber auch natürliche Phänomene für Otto den Charakter des Magischen, zum Beispiel das Halbdunkle24, das gerade in kirchlichen Bauten der Gotik spirituell genutzt wird. Wenn man abwertend davon spricht, dass Magie Gott verfügbar machen will, gehört aber auch das Verfügbarmachen im Wissen dazu, dass Gott anwesend ist, wenn man nur bestimmte Praktiken vollzieht. Dies trifft auch auf die genannten volkskirchlichen Rituale zu. Christen rechnen mit Gottes Anwesenheit, indem sie Gottesdienst feiern. Konfessionelle Unterschiede kann man allenfalls darin sehen, dass mit der erhöhten Bestimmtheit ritueller Vollzüge eine erhöhte Klarheit über die Art seiner Anwesenheit anwächst: Der katholische Priester vollzieht die Messe und Gott wird leibhaftig in Brot und Wein präsent. Pfingstlich-charismatische Gemeinden üben die Praxis der Zungenrede und ein Prediger kann diese Praxis eindeutig auslegen. Demgegenüber wird die Anwesenheit Gottes in evangelisch-volkskirchlichen Gottesdiensten eher sublim ausgedrückt. Ihr lässt sich dort kaum eindeutig habhaft werden. Interessanterweise trifft das auch an der Stelle zu, in der die scheinbar höchste Eindeutigkeit der Anwesenheit Gottes besteht, nämlich in der Bibel. Die Bibelauslegung in der Predigt tendiert zwar zu einer gewissen Eindeutigkeit. Aber diese Eindeutigkeit wird durch den Pluralismus der Predigten in anderen Gottesdiensten desselben Sonntags zeitgleich wieder 21 22 23 24
Failing, Lebenswelt und Alltägliches in der Praktischen Theologie, 158. Ebd. R. Otto, Das Heilige, 79f. R. Otto, Das Heilige, 81. Zum Phänomen des Halbdunklen, das sich auch kirchliche Bauten zunutze machen, s. Schmitz, System der Philosophie Band III Teil 4, 265.
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relativiert. Weil Gottes Wort in inhaltlich völlig unterschiedlichen Predigten ergeht, hat es allenfalls eine örtlich begrenzte Eindeutigkeit. Natürlich variieren auch die Predigthörer diese Eindeutigkeit: Was verstanden wird und was auch überzeugt, hängt von jeder einzelnen Predigthörerin und jedem -hörer ab. Die Anwesenheit Gottes ertönt in Vielstimmigkeit. Dadurch bleibt Gottes Anwesenheit in evangelisch-volkskirchlichen Gottesdiensten eher sublim und uneindeutig. Gerade dadurch kann der Eindruck entstehen, evangelische Gottesdienste seien weniger magisch als andere. Wenn jedoch magisch heißen soll, es werde Gottes Anwesenheit durch bestimmte Handlungen evident, dann sind auch evangelische Gottesdienste magisch. Denn zumindest wird auch dort eine persönliche Evidenz in Gottesdiensten erlebt – eine Evidenz, die auch Menschen anderen Glaubens erfahren können. Denn in solchen Gottesdiensten kann man sich nicht völlig frei verhalten, sondern wird durch die Autorität der Anwesenheit reguliert. Es wäre zum Beispiel völlig ausgeschlossen, dass die Liturgin im Gottesdienst ein Zeitungsfoto verbrennt, auf dem ein Kreuz zu sehen ist. Dasselbe Zeitungsfoto kann zu Hause bedenkenlos weggeworfen oder beim Basteln zerschnitten werden. Aber im Gottesdienst verbietet es die Anwesenheit Gottes, dasselbe zu tun. Man könnte darauf einwenden, dass religiös ungebundene Menschen zwar durchaus in Gottesdiensten Rücksicht und Respekt gegenüber der religiösen Gemeinschaft aufbringen können, ohne aber die Autorität Gottes darin zu erkennen. Wenn das aber zuträfe, wäre das ein höchst paradoxes Verhalten von religiös ungebundenen Menschen: Sie würden dann nämlich der religiösen Gemeinschaft Autorität geben, die die Religion von sich aus nicht hätte, weil sie darin Gott in Anwesenheit bringt, den religiös ungebundene Personen nicht anerkennen. Merkwürdigerweise verhalten sich religiös ungebundene Menschen aber in der Regel respektvoll. Dies scheinen sie aber offenbar nur deshalb zu tun, weil sie die magischen Suggestionen intuitiv richtig „lesen“: nämlich als Ausdruck einer Autorität. Nicht erschaffen religiös ungebundene Menschen diese Suggestion; denn was sollte sie dazu motivieren? Auch gestehen sie der religiösen Gemeinschaft nicht zu, dass sie diese Autorität bei ihnen herstellen darf. Denn dazu würden sie sich die Anerkennung einer Autorität aufzwingen lassen, die sie zugleich ablehnen. Daher bleibt nur übrig, dass Gottesdienste diese magische Autorität selbst haben: Es ist die Anwesenheit selbst, die sich anwesend macht. Wer religiös ungebunden ist, wird diese Evidenz nicht als persönliche Evidenz empfinden können, sehr wohl aber als leiblich-geistige Evidenz: Die Atmosphäre des Gottesdienstes erzeugt einen zwingenden Charakter, von dem sich auch die religiös ungebundene Person nicht distanzieren kann. Der Unterschied zwischen dem Magischen in evangelischen gegenüber anderen Gottesdiensten liegt aber darin, dass Gottes Anwesenheit nicht eindeutig identifizierbar ist. Daher bleibt der öffentliche Evidenzcharakter der Anwesenheit auf der Ebene der leiblich-geistigen Evidenz begrenzt. Persön-
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lich wird jeder Gottesdienstbesucher andere Elemente als Erfahrungen göttlicher Anwesenheit ausmachen. Aber diese persönliche Evidenz ist nicht übertragbar. Und niemand beansprucht, dass andere Gottesdienstteilnehmer dieselbe Evidenz empfinden. Anders ist es bei Gottesdiensten von Pfingstgemeinden, die das ekstatische Moment selber erzeugen. Dass Zungenrede wirklich ekstatisch ist, mag grundsätzlich auch von konfessionell ungebundenen Gottesdienstbesuchern nachempfunden werden können (auch wenn sie selbst nicht in Ekstase geraten). Aber was die Zungenrede bedeutet, darüber kann man verschiedener Auffassungen sein. Der Prediger, der die Zungenrede deutet, gibt ihr eine Bedeutung, die sich weder logisch noch implikativ evident aus der Zungenrede ergibt noch aus dem leiblich-geistigen Vollzug. Nur Christen, die diese Gottesdienstkultur teilen, werden die Deutung nicht bloß als überzeugend erfahren, sondern auch als evidentes Wort Gottes. Es handelt sich also für sie um eine persönliche Evidenz. Ebenso ist es mit dem magischen Moment der Wandlung während der römisch-katholischen Messe: Gegen die Vorstellung, hier werde Christus selbst in den Elementen leiblich anwesend, haben sowohl evangelische Christen polemische Argumente entwickelt als auch Atheisten. Philipp Melanchthon bemerkte, dass Christus dann auch im Verdauungstrakt anwesend sein müsste, wenn er wirklich leiblich verzehrt werde.25 Der Popular-Atheist Karlheinz Deschner hat eine Anfrage an den Vatikan recherchiert, wonach ein Vegetarier gefragt haben soll, ob er die Eucharistie einnehmen könne, ohne seinen Prinzipien untreu zu werden.26 All diese Polemiken zeigen, dass die Wandlung nicht für Außenstehende evident ist. Sie kann vielmehr nur persönlich evident erlebt werden. Katholiken werden sich von diesem Geschehen nicht distanzieren können. Während also der Evidenzcharakter des Magischen in anderen Konfessionen die persönliche Identität betrifft, erleben evangelische Christen eine leiblich-geistige Evidenz der Anwesenheit Gottes im Gottesdienst. Damit verbunden ist auch eine andere Darstellung des Magischen: Evangelische Gottesdienste drücken expressiv die Anwesenheit Gottes aus. Andere Gottesdienste dagegen machen Gott zu etwas Anwesendem. Paul Tillichs „protestantisches Prinzip“, wonach religiöse Symbole durch den göttlichen Geist zurückgenommen und permanent revidiert werden27, hat folglich für sein Gottesdienstverständnis die Konsequenz, dass permanent neue Formen gesucht werden, um die theologische Substanz zu retten.28 Ebenso hat der Medienwissenschaftler Jochen Hörisch den Unterschied zwischen der katholischen und der evangelischen Auffassung vom Abendmahl herausgestellt: Während der katholische Gottesdienst den Schwerpunkt der Präsenz Gottes im dinglichen Bestand in der Welt legt (die Zurschaustellung der Oblate in der 25 26 27 28
Zitiert nach Hirsch: Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik, 238. Deschner, Der gefälschte Glaube, 137ff. Tillich, Systematische Theologie Bd. III, 281. Tillich, Systematische Theologie Bd. II, 157.
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Monstranz), betont das evangelische Abendmahlsverständnis die Vernichtung: Die Gegenwart Gottes zeigt sich im Verzehr.29 Das Sein wird gerade bedeutsam im Verschwinden.30 Man darf diesen Unterschied nicht so missverstehen, dass damit das Expressive im evangelischen Gottesdienst nicht weniger magisch ist. Das Magische liegt vielmehr auf einer anderen Ebene: Es vertraut nicht in anwesende Dinge, sondern in die Anwesenheit des Seins im Anwesenden oder im Abwesenden. Die Präsenz des Heiligen Geistes wird ebenso provoziert wie in magischen Handlungen anderer Konfessionen. Sie wird sogar mit Hilfe von anwesenden Gegenständen und Personen zur Erscheinung gebracht. Aber sie wird nicht in Dingen festgehalten und auch nicht mit den Dingen identifiziert. Zwar würde eine Katholikin auch nicht sagen, dass immer noch ein Stückchen Christi mehr verschwindet, je mehr Menschen Brot und Wein zu sich nehmen. Für sie hängt die bleibende Präsenz Christi an der Präsenz der Kirche. Der katholische Theologe Karl Rahner hat deshalb von der Kirche als Sakrament gesprochen, von dem alle anderen Sakramente sachlich abhängen.31 Die „Gnadenpräsenz der Kirche“32 ist die Voraussetzung für die Präsenz Christi im Abendmahl. Deshalb hat das Verschwinden von Brot und Wein beim Verzehr keine Bedeutung für die Anwesenheit Gottes. Gottes Anwesenheit besteht ungebrochen in der anwesenden Kirche. Für evangelische Christen aber, die den gemeinsamen Verzehr als Kernstück der Abendmahlsfeier verstehen, ist dieser Rückverweis auf etwas beständig Anwesendes nicht gangbar. Denn es geht eben gar nicht um die Sicherung von etwas Anwesendem, sondern um die Offenbarung der Anwesenheit, die sich gerade auch im Abwesenden oder Verschwinden hervortun kann. 3.1.3 Ikonographie und reformatorisches Schriftprinzip Ein besonderes Ausdrucksmittel göttlicher Anwesenheit ist die Ikonographie der orthodoxen Kirchen. Ikonen haben teilweise magischen Charakter: Um sie ranken sich Legenden der Schadensabwehr und Heilung. Ikonen sollen aber dem orthodoxen Anspruch nach primär die Gegenwart Gottes oder heiliger Personen herbeiführen. Die Ikonen werden nicht verehrt, sondern die göttlichen Gestalten, die in ihnen zur Darstellung kommen.33 Allerdings ist es die Ikone selbst, die diese göttlichen Gestalten zur Präsenz führt.34 Zwei Eigenschaften der Ikonographie sollen aber den Eindruck abwehren, dass es letztlich die Ikonenmalerei selbst ist – also die Leistung von Menschen, 29 30 31 32 33 34
Vgl. Moxter, Medien – Medienreligion – Theologie; ZTHK 101/2004, 465–488, 478f. Moxter, Medien – Medienreligion – Theologie, 479. Eucharistie; in: K. Rahner/H. Vorgrimler, 105. Sakrament; in: K. Rahner/H. Vorgrimler, 319. Wenz, Geist, 309. Ebd.
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die ein Kunsthandwerk ausüben –, weshalb Gott präsent werde. Die erste Eigenschaft ist der Verzicht auf Originalität. Eine Ikone ist dann „echt“, wenn sie ein genaues Imitat der kirchlichen Tradition ist. Individuelle Gestaltungsfreiheiten der Künstlerin sollen gerade abgewehrt werden. Auf diese Weise unterwirft sich die Ikonographie wieder einer heiligen Regel: Das Heilige kommt zur Anwesenheit im menschlichen Gehorsam gegenüber der göttlichen Regelhaftigkeit, nicht aber durch eine etwaige menschenmögliche Simulation des Göttlichen. Die zweite Eigenschaft ist die Betonung der Zweidimensionalität. Neben den Ikonen kennt die Orthodoxie auch dreidimensionale Skulpturen, etwa Maria mit Jesuskind, die Evangelisten oder andere Heilige. Die dreidimensionalen Darstellungen haben aber nicht den Rang der Vergegenwärtigung des Heiligen. Denn gerade weil sie dem Natürlichen ähnlicher sind, sind sie dem Göttlichen entfernter. Mit dieser Anschauung wird betont, dass es gerade die Distanz zum Natürlichen ist, das die Präsenz des Göttlichen hervorbringt. Das ist weniger eine selbstkritische Note der Kunst des Ikonenmalens als vielmehr eine grundsätzliche Bescheidung des Geschöpfs gegenüber dem Schöpfer. Diese Bescheidung wird gerade mit der Spannung von Anwesenheit und Anwesendem ausgedrückt: Die Anwesenheit des Heiligen offenbart sich zumal in ihrer zurückgenommenen natürlichen Räumlichkeit. Gerade weil das Göttliche nicht natürlich präsent wird, wird es präsent. Nicht das dinglichanwesende Darstellungsmittel offenbart Gottes Anwesenheit, sondern eher das Abwesende in der Darstellung. Diese Spannung von Anwesend-Abwesendem und Anwesenheit entspricht dem reformatorischen Schriftgebrauch, nach dem nicht die Bibel das anwesende Wort Gottes ist, sondern erst der Schriftgebrauch die Anwesenheit des Wortes Gottes auffällig macht – übrigens auch da, wo Gottes Wort selbst abwesend ist. Es ist bezeichnend, dass Martin Luther ausgerechnet in „De servo arbitrio“ den hermeneutisch rechten Umgang mit der Bibel behandelt, in derselben Schrift also, in der er den „verborgenen“ Gott reflektiert. Wo man Luther zufolge im Verstehen der Bibel auf Gottes Verborgenheit trifft, wird zweierlei deutlich: zum einen, dass nicht die Bibel dunkel ist, sondern allenfalls die menschliche Sprache35; zum anderen, dass Gottes Verborgenheit von seiner Offenbarung überholt wird. Gerade der verborgene Gott macht also auf seine Anwesenheit aufmerksam, und zwar auf eine Anwesenheit, die etwas anderes bedeutet als seine Verborgenheit. Die Verborgenheit Gottes ist vielmehr ein Indiz, ihn unter falschen Voraussetzungen verstehen zu wollen, nämlich von eigenen menschlichen Interessen heraus. Dann spricht Luther von der Dunkelheit des Herzens36, von menschlicher Blindheit, mit der man die Bibel auslegen wolle, weswegen die Bibel dann zu Recht dunkel werde.37 35 Luther, Vom unfreien Willen, 15. 36 Luther, Vom unfreien Willen, 17, 258. 37 Luther, Vom unfreien Willen, 144.
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Luther betont zugleich, dass Gott nicht mit seinem offenbarten Wort identisch ist.38 Damit unterscheidet er zwischen dem anwesenden Gott, „Deus revelatus“, und Gott überhaupt. Allerdings soll man sich an sein Wort halten und nicht versuchen, hinter der Offenbarung verborgene Seiten Gottes aufzustöbern. Der verborgene Gott zeigt sich gerade in seiner Verborgenheit, sobald man sich nicht an den offenbarten Gott hält. Gott zeigt sich in seiner Anwesenheit, wenn er sich verbirgt. Gerade dadurch offenbart er aber auch, dass er von seinem Wort zu unterscheiden ist. Das reformatorische Schriftverständnis bescheidet sich also in seinen menschlichen Möglichkeiten. Die Achtung gegenüber der Bibel macht Gott anwesend, aber so, dass zugleich zwischen seiner Anwesenheit und seinem Anwesend-Sein unterschieden wird. Die Herrschaft über die Bibel hat damit keine menschliche Instanz, sondern Gottes Anwesenheit. Ingolf Dalferth hat daraus gefolgert, dass für Luther die Klarheit der Schrift von einem bestimmten Kontext abhängt, in dem sich Gott klar und unmissverständlich ausdrückt, nämlich vom Gottesdienst.39 Der Gottesdienst wird dabei verstanden als der Ort, an dem sich Christen selbst zurücknehmen, um die Selbstauslegung der Schrift zu erfahren. Ebenso wie bei der Ikonographie ist der reformatorische Schriftgebrauch eine expressive Form, Gott im Anwesenden zur Anwesenheit zu bringen. Und ebenso wie bei ihr hält sich der Mensch dabei zurück. Diese Zurückhaltung wird ebenfalls expressiv dargestellt. Zwischen der Ikonographie und dem reformatorischen Schriftverständnis besteht also im Prinzip keine strukturelle Differenz. Der Unterschied liegt vielmehr in der Frage, worin der Ursprung gesehen wird, durch den Gott anwesend „gemacht“ wird. Diese Frage dürfte ökumenisch wenig umstritten sein: Natürlich bildet die Bibel den Ursprung jeglicher gottesdienstlicher Darstellung, weil dies die ältesten Zeugnisse des Christentums bilden. Darin sind sich evangelische und orthodoxe Christen einig. Der expressive Umgang mit der Bibel kann daher als Ursprung der christlichen Gotteserkenntnis betrachtet werden – und damit auch als Ursprung der Ikonographie. Aber ist dieser expressive Umgang auch eine evidente Darstellung des Heiligen Geistes? Dazu ist zweierlei zu bemerken: Zum einen handelt es sich um eine implikative Evidenz: Um die Bibel als Wort Gottes hören zu können, muss Gott darin zur Anwesenheit kommen. Ansonsten könnte sie allenfalls ein Wort über Gott sein, aber nicht Gottes Wort. Dass zum Zweiten Gottes Anwesenheit auch in Ikonen zum Ausdruck kommt, fällt sofort auf, sobald mit ihnen respektlos oder missbräuchlich umgegangen wird. Wer eine Ikone mutwillig zerstört, empfindet entweder selber, wie sehr er dabei Hemmungen überwinden muss. Oder er erzeugt bei anderen eine Abscheu, von der er sich nicht distanzieren kann. Es handelt sich hier um eine Evidenz des leiblich38 Luther, Vom unfreien Willen, 148. 39 Dalferth, Jenseits von Mythos und Logos, 266.
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geistigen Vollzugs: Ikonen eröffnen und begrenzen Handlungsspielräume ebenso wie andere heilige Symbole.
3.2 Reflexive Formen 3.2.1 Gespensterglaube Zur reflexiven Form der Rede vom Heiligen Geist gehört die vielfältige Rede von „Geistern“. Dazu gehört auch die Rede von unheimlichen Geistern. Auch wenn Gespenster weitgehend als fiktive Wesen dargestellt werden, kann der gruselige Charakter von Gespenstern in Gespenstergeschichten nur deshalb aufkommen, weil er real unheimlich ist. Er scheint sich daher auf Erfahrungen zu beziehen, die Menschen machen können oder auch gelegentlich machen. Es sind schon die großen Ausnahmen, wenn Menschen erzählen, sie seien mit der Jungfrau Maria geistig verbunden und könnten jederzeit mit ihr „in Kontakt treten.“ Solche Begegnungen mit solchen Menschen sind dann meistens selber unheimlich. Sehr viel öfter hören Hinterbliebene in den ersten Wochen nach dem Tod eines Mitmenschen „draußen“ seine Stimme oder seine Schritte. Dabei kommt es in der Regel zu keiner direkten Begegnung mit dem Verstorbenen. Die verstorbene Person ist „draußen“ zu hören, im Nebenraum oder im Treppenhaus. Oder aber sie ist zwar in unmittelbarer Nähe, aber man selbst ist nicht im völligen Wachzustand. Beim Einschlafen erleben gelegentlich Ehepartner eines Verstorbenen, dass er bei ihnen liegt – bis zu dem Moment, an dem sie wieder ganz zu sich kommen. Eine gewisse Ähnlichkeit finden diese Schilderungen in der biblischen Geschichte der Emmausjünger, die Jesus den Auferstandenen nicht erkannten, weil ihre Augen von Trauer gehalten waren (Lk 24,16). Die Wahrnehmungsfähigkeit war also auch hier getrübt bis zu dem Moment, an dem sie ihn erkannten. Genau in diesem Moment ist Jesus vor ihnen verschwunden. Ich erwähne diese Geschichte nicht, weil ich meine, hier hätten sich Menschen die Anwesenheit Jesu nur eingebildet. Mir geht es umgekehrt darum zu zeigen, dass solche Erfahrungen offenbar Menschen dazu bringen, von Geistern zu sprechen. Geisterglaube reflektiert diese unwillkürliche Erfahrung. Diese Reflexion kann mehr oder weniger gelingen, scheint sich aber offenbar auf Erfahrungen zu beziehen, von denen sich Betroffene nicht distanzieren können. Ebenso können Orte unheimlich werden, die es bis zum Tod des geliebten Mitmenschen nie gewesen sind: zum Beispiel das Sterbezimmer oder die Werkstatt, in der er immer gearbeitet hat. Überhaupt können Orte eine gruselige Atmosphäre erzeugen, auch wenn nicht konkret an einen Verstorbenen gedacht wird. Nicht nur Kinder reagieren höchst empfindsam auf unheimliche Räume wie den Keller und scheuen sie. Auch Erwachsene können von dunklen oder unübersichtlichen Orten überwältigt werden (das Kino spielt deshalb mit
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den Gefühlen der Zuschauer, wenn es dunkle Straßen, Waldstücke oder lange Gänge eines Hauses inszeniert). In allen Fällen besteht ein mulmiges Gefühl vor der drohenden Anwesenheit. Allein dadurch, dass jemand kommen könnte, droht die Anwesenheit schon jetzt. Die Furcht vor Gespenstern ist nicht die Furcht vor unbelebten Gegenständen, die plötzlich auftauchen könnten. Es ist die Furcht vor dem unheimlichen Lebendigen. Es ist nicht anwesend, aber es könnte anwesend sein. Was hier bedrohlich wirkt, ist die Anwesenheit eines Lebendigen, das auch dann erschauern lässt, wenn es abwesend ist. Siegmund Freud hat das Unheimliche in einem berühmten Aufsatz mit dem gleichnamigen Titel analysiert. Auf den ersten Blick enttäuscht das Ergebnis dieser Studie, die weitgehend Lexikonartikel wiederholt und Freuds Theorie des neurotischen Verhältnisses zu pränatalen, infantilen oder frühkindlichen (Vor-)Erfahrungen wiederholt.40 Nach Freuds Einschätzung besteht das Unheimliche in der Kastrationsangst durch den Vater41 oder in der Verdrängung irgendwelcher Affekte, die die Psyche einem Gegenüber entgegenbringt, das ihr eigentlich vertraut ist.42 Freuds Kommentar scheint genau darin dem Unheimlichen seine signifikante Bedeutung zu geben: Das Unheimliche entsteht, wenn Affekte verdrängt werden und dadurch Angst erzeugen. Dabei ist es unerheblich, ob die verdrängten Affekte ursprünglich selbst mit Furcht verbunden waren oder nicht. Implizit deutet Freud damit an, dass das Phänomen des Unheimlichen noch tiefer liegt: Zum einen zeigt er, dass das Unheimliche ambivalent ist. Es ist nämlich der verdrängte Reiz der sexuellen Befreiung, der zugleich ängstigt. Die mythische Figur Ödipus straft sich nach seiner Tat selbst, als er erfährt, dass er seinen Vater getötet hat. Es ist bedeutsam, wie Freud die Selbstbestrafung des Ödipus interpretiert: Die Selbstblendung bedeutet eigentlich, dass sich Ödipus kastriert. Damit gibt er wieder seine sexuelle Freiheit auf, die er durch den Mord am Vater errungen hat.43 Zum anderen zeigt sich diese Ambivalenz als eine Ambivalenz der Anwesenheit: Das Verdrängte ist zugleich anwesend als auch abwesend. Der verdrängte Affekt erzeugt nämlich gerade dadurch Angst, dass er verdrängt wird. Würde man ihn dagegen zulassen, würde er sich vielleicht gar nicht auf etwas Furchtbares richten, sondern auf etwas Vertrautes, Beschützendes44 und bisweilen sogar etwas Wünschenswertes45. Anscheinend ist das Verdrängte gerade dadurch so machtvoll, dass es abwesend ist. Diese Ambivalenz aus Anwesendem und Abwesenden scheint sich insbesondere bei der mythischen Figur des Ödipus auszudrücken: Nicht der an40 41 42 43 44 45
Freud, Das Unheimliche, 229–268. Freud, Das Unheimliche, 244f. Freud, Das Unheimliche, 254, 258f. Freud, Das Unheimliche, 243. Freud, Das Unheimliche, 257. Freud, Das Unheimliche, 246.
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wesende Vater ist unheimlich, sondern die konstruierte Vater-Figur, die sich der eigenen sexuellen Befreiung entgegenstellt. Psychoanalytisch gedeutet weiß das Ich offenbar nicht, wovor es sich mehr ängstigen soll: vor dem anwesenden Vater oder vor dem abwesenden Vater: vor der Vater-Figur, die sich der eigenen sexuellen Befreiung entgegenstellt, oder vor dem verdrängten Vater, der die Kastration provoziert. Die Anwesenheit der Vater-Figur dominiert die beiden Modi, anwesend oder abwesend zu sein. Es sind gerade diese impliziten Hintergründe, durch die Freuds Darstellung für unsere Untersuchung interessant ist. In Freuds Aufsatz findet sich noch eine weitere Spur für das Unheimliche, nämlich die Fiktion. Freud zufolge gibt es fiktive Erzählungen von Ereignissen, die uns unheimlich sind, aber uns nie unheimlich wären, wenn sie in der Wirklichkeit geschehen würden. Das Umgekehrte gibt es auch, nämlich „daß in der Dichtung vieles nicht unheimlich ist, was unheimlich wäre, wenn es sich im Leben ereignete.“46 Auch hier zeigt sich das Unheimliche als ein Phänomen zwischen gewohnten Kategorien:47 Es zeigt sich als Mittleres zwischen Anwesendem und Abwesenden. Im einen Fall kommt es in der Realität nicht vor, sondern nur in der Dichtung. Aber gerade so ist es real erschreckend, obwohl es erkennbar nicht in die Realität überführt werden kann. Im anderen Fall ist es nur unheimlich, insoweit es in der Realität auftritt; aber sobald es erzählt wird, verliert es seine Macht. Es ist real, aber real unverfügbar, weil man es nicht in der Phantasie steigern oder modulieren kann. Diesen Aspekt der Vermittlung zwischen Anwesendem und Abwesenden hat Martin Heidegger im Phänomen des Unheimlichen beschrieben. Für ihn ist das Unheimliche ein Ausdruck für die vergessene (Freuds verdrängte) Tatsache des „Seins zum Tod“. Dass die meisten Menschen vom Tod nichts wüssten, zeige, dass das Sein zum Tod sich verdecke.48 Offenbar meint Heidegger, dass nicht einfach nur die Menschen den Tod verdrängen, auch nicht, dass der Tod sich verdeckt, sondern dass sich das Sein zum Tod gerade darin zeigt, dass es sich verdeckt. Ich erinnere daran, dass ich im zweiten Kapitel Heideggers Unterscheidung von Sein und Seiendem parallel interpretiert habe zu seinem Begriffspaar Anwesen und Anwesendem: Ebenso wie das Anwesen sich auch im Abwesenden zeigt, zeigt sich das Sein in einem vergänglichen Seienden. Auch wenn Heideggers Gedanken zum Unheimlichen vor seiner Kehre entwickelt wurden, war die Leitidee schon in seinem früheren Buch „Sein und Zeit“, dass das Sein sich hinter dem Seienden verdeckt. Aber es verdeckt sich so, dass es sich dabei zeigt: Es zeigt sich als das Verdeckte, als das Unheimliche. Menschen haben eine Mentalität, diese Verdecktheit zu übersehen, indem sie ihrerseits den Unterschied zwischen Sein und Seiendem vergessen. Das ist vor allem die 46 Freud, Das Unheimliche, 264, Herv. S.F. 47 Turkle, Alone Together, 34. 48 Heidegger, Sein und Zeit, 251.
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Mentalität des modernen Menschen. Wird zwischen Sein und Seiendem kein Unterschied vorgenommen, dann übersieht der Mensch sein „Sein zum Tod“. Eine Selbstberuhigung, die aber nicht ganz funktioniert! Denn eben das Sein zum Tod bleibt als Unheimliches bei ihm. Für diese trügerische Mentalität steht Heideggers Begriff „Seinsvergessenheit“49, weil dann nicht zwischen dem Sein und dem Seienden unterschieden wird.50 Sie ist also die Vergessenheit, dass das Anwesen eine dynamische Kraft ist, die sich auch im Abwesenden zeigt. Deshalb fällt das Sein zum Tod nicht auf, wenn man die eigene Sterblichkeit vergisst oder verdrängt. Diese Seinsvergessenheit zeigt sich aber dennoch. Sie zeigt sich im Unheimlichen: Gerade indem wir dem Unheimlichen aus dem Weg gehen wollen („Flucht aus der Unheimlichkeit“51), zeigt es sich. Es ist nämlich der Grund, weshalb wir flüchten. Das Unheimliche ist also in uns. Hinter der verdeckten Unterscheidung von Sein und Seiendem spürt das menschliche Dasein in sich eine Anwesenheit, die beständiger ist als es selbst. Sie überdauert sogar das eigene Leben, und sie ist es auch, die das Dasein sterblich macht. Bei Freud und Heidegger zeigt sich ein Wechselspiel aus Anwesenheit und abwesendem Wesen, wie es nun auch auf Gespenster zutrifft: Gespenster erschrecken deshalb, weil sie in ihrer Anwesenheit zugleich abwesend sind: Man kann sie nicht ergreifen oder bei sich behalten. Sie sind nicht mehr lebendige Wesen, aber auch nicht leblos oder verschwunden. Sie offenbaren vielmehr eine Dynamik, die man bei anderen uns gewohnten Gegenständen übersieht: Sie verhüllen oder enthüllen ihre Anwesenheit. Sie sind auch spürbar, wenn sie abwesend sind. Damit belegt auch Heideggers Interpretation, dass das Unheimliche keine Einbildung ist oder frühkindliche Phantasie, sondern eine Erfahrung, der man nicht entkommen kann. Selbst wer belustigend das Unheimliche als kindlichen Gespensterglauben abtut, entkommt dieser Erfahrung nicht. Hinter dem Gespensterglauben steht nämlich das Unheimliche. Das Unheimliche regt Menschen an, von Geistern oder vom Geist zu sprechen. Wie Menschen diese Erfahrung deuten, mag mehr oder weniger überzeugend sein. Die evidente Grundlage hinter allen Deutungen besteht aber im Unheimlichen. 3.2.2 Eingebungen und Bekehrungserlebnisse Heidegger hat bekanntlich auch das Gewissen als ein Phänomen des Unheimlichen interpretiert: Das schlechte Gewissen, das mich schuldig spricht, meldet sich aus mir selbst heraus. Es macht mich dabei mir selber unheimlich: 49 Heidegger, Holzwege, 336. 50 Ebd. 51 Heidegger, Sein und Zeit, 252.
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Es ist das Sein in mir, das in seiner Unheimlichkeit ruft.52 Hierzu formuliert Heidegger einen merkwürdig verschachtelten Satz, mit dem er zeigen möchte, dass die Grenzlinie zwischen Sein und Seiendem quer durch mich selbst entlang läuft: „Dieses Woher – die Unheimlichkeit der geworfenen Vereinzelung – wird im Rufen mitgerufen, das heißt miterschlossen. Das Woher des Rufes im Vorrufen auf… ist das Wohin des Zurückrufens.“53 Diesen Satz sollten wir näher untersuchen. Offenbar besteht die „Unheimlichkeit der geworfenen Vereinzelung“ des Gewissensrufs in diesem „Vorrufen auf das Wohin des Zurückrufens.“ Das Gewissen ruft den Menschen „zurück“ zu sich selbst.54 Heidegger spricht auch vom Gewissen als „vorrufender Rückruf“55: Das Gewissen ermahnt den Menschen, zu sich selbst zu finden. Und der Mensch ist im Grunde bereit, diesen Gewissensruf zu hören, weil es sonst gar nicht zum Ruf käme.56 Denn der Ruf kommt nicht von woandersher, sondern vom jeweiligen Menschen selbst. Darin besteht das „Vorrufen“: Der Mensch will sich von seinem Gewissen treffen lassen, weil er auf seine Zukunft ausgerichtet ist.57 Nun ist aber die Zukunft letztlich von seinem Sein zum Tod bestimmt. Denn der Tod liegt in der Zukunft und der Mensch verhält sich zu sich selbst, weil er sterblich ist. Also ist der Gewissensruf nur deshalb ein Rückruf zu sich selbst, weil das Gewissen letztlich den Menschen darin an seine Zukunftsausrichtung erinnert – also an das Sein zum Tod.58 Diese Erinnerung („Rückruf“) ist also eigentlich ein „Vorruf“. Ich interpretiere diesen „Vorruf“ als den „Ort“, von „woher“ der Ruf kommt und „wohin“ der Rückruf ergeht. Dieser Ort ist kein echter räumlicher „Ort“, sondern das Sein zum Tod. Es ist nicht der Tod selbst, sondern das Ausgerichtetsein des Menschen zu seinem Tod. Das Gewissen ruft den Menschen zu seinem Sein zum Tode, indem es ihn an sich selbst erinnert. Darin besteht die Unheimlichkeit, dass das Sein zum Tod im Menschen selbst vorkommt: Das Woher des Rufs ist das Sein zum Tod im Menschen. Es kommt nicht von woandersher, so dass man vor ihm fliehen könnte, sondern es kommt von ihm selbst (in seiner „geworfenen Vereinzelung“, also eben ganz und gar von ihm selbst). Und vor sich selbst kann der Mensch nicht fliehen. Das Gewissen ist also die Gegenbewegung zur Flucht vor der Unheimlichkeit, die im Gespensterglauben vorgekommen ist: Im „Gewissen-haben-Wollen“59 ist der Mensch bereit, sich vom Gewissen treffen zu lassen, sich also vom Sein zum Tod treffen zu
52 53 54 55 56 57 58
Heidegger, Sein und Zeit, 276. Heidegger, Sein und Zeit, 280. Heidegger, Sein und Zeit, 271, 273. Heidegger, Sein und Zeit, 287. Heidegger, Sein und Zeit, 271, 288. Heidegger nennt diese Ausrichtung auf die Zukunft „Sorge“ (Heidegger, Sein und Zeit, 291). Eine terminologische Ähnlichkeit zum Gewissensruf als „Vorruf“ formuliert Heidegger mit dem Sein zum Tod als „Vorlaufen“ (Heidegger, Sein und Zeit, 262). 59 Heidegger, Sein und Zeit, 234.
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lassen, das in ihm ist. Das Unheimliche zeigt sich hier gerade darin, dass der Mensch auf die Unheimlichkeit eingeht, die sich im Gewissensruf zeigt. Heideggers Interpretation der Unheimlichkeit im Gewissensruf macht verständlich, warum Menschen sich auf „Eingebungen“ einlassen. Menschen erfahren an sich selbst, nicht nur einfach Gedankenblitze zu haben, sondern auch Eingebungen, die eine beratschlagende Wirkung haben. Dies soll eine Erzählung aus meiner Pfarramtspraxis illustrieren: Ein ehemaliges Gemeindeglied meiner Kirchengemeinde, das zwischenzeitlich einer atheistischen Organisation beigetreten war, erzählte mir, eine solche Eingebung gehabt zu haben: Auf einer Autofahrt begegnete ihm am Straßenrand ein Fußgänger, der mit Handzeichen ihn zum Bremsen nötigte. Sein Fahrzeug kam hinter einer Kurve zum Stehen, die vorher nicht einsehbar war. Einige Meter weiter wäre das Auto auf Felsbrocken gefahren, die bei einem Steinschlag auf die Fahrbahn gerutscht waren. Der Autofahrer stieg aus dem Auto und wollte sich bei seinem Lebensretter bedanken – aber es fand sich keine Person. Der Fußgänger, der ihn zum Anhalten gedrängt hatte, war eine Eingebung. Und mein ehemaliges Gemeindeglied hatte sein Erlebnis auch als eine solche Eingebung gedeutet. Eingebungen unterscheiden sich von Gedankenblitzen dadurch, dass wir bei ihnen nicht darauf kommen, dass wir sie haben. Der Autofahrer hätte vielleicht nicht gehalten, wenn er sie für einen Gedankenblitz gehalten hätte. Er hätte nämlich dann auch durchschauen können, dass er selbst es ist, der sie hat und sich dann auch täuschen kann. Eingebungen dagegen geben sich nicht als solche zu erkennen. Erst im Nachhinein kann man feststellen, dass man eine Eingebung hatte. Aber im Moment der Eingebung selbst drängt sie sich uns auf, als wäre dort ein echter Fußgänger. Was hier erlebt wird, ist Anwesenheit auch im Abwesenden. Es war zwar kein realer Fußgänger, aber die Anwesenheit von etwas, das uns diese Eingebung veranlasst hat, ist unstrittig. (Sonst hätte man die Erfahrung nicht gehabt.) Menschen fangen an, von Eingebungen zu reden, weil sie Anwesenheit erleben, auch wenn sie eigentlich allein sind. Die Anwesenheit zeigt sich gerade auch in ihrer „geworfenen Einsamkeit“, wie es Heidegger von der Unheimlichkeit ausgesagt hat. Der Gewissensruf bei Heidegger ist eine Unterart der Eingebung. Denn wir sind uns sofort bewusst, wer da ruft, nämlich das Gewissen. Für Heidegger ist aber das Gewissen kein klares Phänomen: Es drängt sich auf, aber es bleibt in seiner Unheimlichkeit verborgen, wer das Gewissen eigentlich ist. Deshalb halten Menschen das Gewissen auch oft für eine göttliche Stimme. Zumindest behält eben auch das Gewissen den Charakter der Unheimlichkeit, weil es im Menschen selbst vorkommt als ein „Woher“, als käme es von woandersher. Ich halte auch Gedankenblitze für eine Unterart der Eingebung. Aber bei ihnen wird das am seltensten auch so erlebt, weil man natürlich weiß, dass man selbst es ist, der jetzt gerade eine gute Idee gehabt hat. Zudem beruhen neurophysiologische Gedankenblitze auf losen neuronalen Verknüpfungen im Gehirn, die erst gefestigt werden müssen, damit man den gedanklichen Zu-
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sammenhang akzeptiert.60 Dennoch erleben manchmal Menschen ihre Gedankenblitze auch als Eingebungen. Das liegt dann vor allem an ihrem Inhalt oder an ihrer starken Wirkung für sie. Zu solchen Gedankenblitzen gehören auch Bekehrungserlebnisse. Im Bekehrungserlebnis erfährt der Mensch in sich selbst noch etwas anderes, das ihn drängt, ein anderer Mensch zu werden. Vor allem drängt es ihn dazu, dieses Andere in ihm selbst anzuerkennen. Wer von solchen Erlebnissen berichtet, deutet die Erfahrung des unwillkürlichen Gedankenblitzes als ein geistliches Offenbarungsgeschehen.
3.2.3 Religiöse Erziehung Dietrich Korsch ist nach meiner Kenntnis der einzige namhafte Theologe, der die These vertreten hat, dass Glauben erlernbar ist. Normalerweise sprechen Theologen davon, dass der Glaube ein Werk des Heiligen Geistes sei. Wenn das ausschließen soll, dass man Glauben lernen kann, dann würde – so Korschs Kritik – der Heilige Geist wie eine Ursache wirken, und zwar so wie in einem einzelnen Akt.61 Dagegen hält Korsch den Heiligen Geist für ein Geschehen, das sich so in Bildungserfahrungen niederschlägt, dass dabei die menschliche Freiheit beteiligt ist.62 Dazu benutzt er eine räumliche Sprache: Glauben zu lernen sei ein „Spielraum“63 der menschlichen Freiheit und zugleich ein „Aktionsfeld“64 des Heiligen Geistes. Offenbar bedarf es günstiger Voraussetzungen, die wie räumliche Voraussetzungen auf den Menschen wirken, dass er dort Glauben lernen kann. Tatsächlich scheinen die Voraussetzungen für den Glauben räumlicher Art zu sein. Detlef Pollack beschreibt diesen Befund ebenfalls mit der Raummetapher des „Klimas“: Das allgemeine religiöse Klima, das in einer Gesellschaft herrscht, übt einen starken Einfluß auf die Traditionsfähigkeit des Christentums aus.“65 In ihrer Tradierungskraft zeigen sich starke regionale Unterschiede.66 Neben der regionalen Rolle für die religiöse Sozialisation scheint der familiäre Einfluss eine entscheidende Rolle zu spielen. Versteht man Familie als primären Lebensraum für Kinder, ist auch hier die Raumkategorie erhalten. So hat Jan Hermelink sozialwissenschaftlich erhärtet, dass die Familie der Ort ist, an dem religiöse Traditionen und Konfessionen ausgeprägt werden. Dabei werden auch regionale Glaubenstraditionen weitergegeben.67 Die 60 Vgl. Rosenthal, Mehrfache Entwürfe und unumstößliche Tatsachen, 425; vgl. O. Flanagan, Hirnforschung und Träume, 498. 61 Korsch, Dogmatik im Grundriß, 24. 62 Korsch, Dogmatik im Grundriß, 213. 63 Ebd. 64 Ebd. 65 Pollack, Zur religiös-kirchlichen Lage in Deutschland nach der Wiedervereinigung, 607. 66 Pollack, Zur religiös-kirchlichen Lage in Deutschland, 604. 67 Hermelink, Praktische Theologie der Kirchenmitgliedschaft; Göttingen 2000, 281.
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Räumlichkeit scheint eine wesentliche Rolle dafür zu spielen, dass ein Mensch Glauben erlernt, und zwar eine größere Rolle als das kritische Urteilsvermögen. Dies belegt die Tatsache, dass in der Kirche bestimmte Milieus vorherrschend beheimatet sind68. Mit dem Milieubegriff wird eine Einteilung sozialer Gruppierungen nach einer räumlichen Kategorie vorgenommen. Max Scheler beschreibt das Milieu als eine Grundorientierung wie die Orientierung „vorne“ und „hinten“.69 Nicht die Intelligenz oder das Bewusstsein prägen ein Milieu, sondern umgekehrt prägt ein soziales Milieu bestimmte Bewusstseinsformen aus – ebenso wie Lebensformen. Menschen wachsen in bestimmten Milieus auf. Sie leben nie an neutralen Orten, an denen sie sich für oder gegen eine Lebensform entscheiden können. Ihre Entscheidung für oder gegen eine Lebensform ist immer schon durch eine Lebensform bestimmt. So kann etwa ein langjähriges Engagement in der kirchlichen Jugendarbeit abrupt abbrechen, wenn man eine Person heiratet, die dieses Engagement nicht unterstützt oder wertschätzt.70 Solche Lebensformwechsel ereignen sich also nie von einem neutralen Punkt aus und werden nie unparteilich getroffen. Räume bilden vielmehr eine Resonanz für die Lernmöglichkeiten eines Menschen. Wer in bestimmten Räumen lebt, dem werden Lernmöglichkeiten „eingeräumt“ aber auch „begrenzt“. Dies gilt auch für die Religionspädagogik: In der Schule lassen sich nicht alle Kinder gleichermaßen für ein religiöses Phänomen begeistern, und zwar unabhängig von ihrer Intelligenz oder ihrem Bildungsvermögen. Es lassen sich aber dort auch nicht alle religiösen Bildungsinhalte pädagogisch umsetzen. Denn die Schule als „Lernort“ ermöglicht bestimmte und begrenzt andere Erfahrungsmöglichkeiten. Religionspädagogen betonen daher, dass Glaube nicht erlernbar sei. Folgt aber daraus schon, dass der Glaube als göttliches Gnadengeschenk sich methodischer Verfügbarkeit entzieht?71 Wenn die These zutrifft, dass Lernmöglichkeiten räumlich begrenzt werden, folgt dann schon daraus, dass der Glaube oder das Wirken des Heiligen Geistes unverfügbar ist und dass Menschen Glauben nicht lernen können? An dieser Stelle kehrt Korschs Einwand wieder. Wenn Glaube nicht gelernt werden kann, dann bleiben nur zwei Alternativen übrig: Entweder wird man mit Glauben geboren oder es muss ein Ereignis im eigenen Leben geben, das den Glauben „verursacht“. Beide Alternativen sind unbefriedigend, denn sie behandeln den gläubigen Menschen wie einen physikalischen Gegenstand. Dieser physikalische Gegenstand hat entweder seine Eigenschaften schon immer oder sie sind ihm durch Ursachen eingeprägt worden. Glauben könnten dann Menschen nicht deshalb, weil sie freie Personen sind, sondern nur, weil sie ihn irgendwie kausal 68 69 70 71
Schulz/Hauschildt/Kohler, Milieus praktisch, 49. Scheler, Der Formalismus der Ethik und die materiale Wertethik, 157. Hermelink, Praktische Theologie der Kirchenmitgliedschaft, 16. Adam/Lachmann: Methodisches Kompendium für den Religionsunterricht, 30.
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aufgezwungen bekommen haben. In etlichen religionspädagogischen Beiträgen ist diese Rede von der Unverfügbarkeit des Geistwirkens theologisch missbräuchlich, aber auch pädagogisch verantwortungslos. Denn die Pädagogen werden so von den Folgen ihrer religiösen Erziehungsverantwortung entlastet. Religiöse Erziehung vollzieht sich nämlich nicht an physikalischen Gegenständen, sondern an Personen. Das bedeutet einerseits, dass man Glauben nicht bei anderen Menschen „machen“ kann. Andererseits heißt es, dass diese anderen Menschen der Alternative zwischen Glauben und Unglauben nicht machtlos gegenüberstehen. Man kann durchaus lernen zu glauben. Glaubende und Nichtglaubende tragen beide eine Verantwortung für ihren Glauben oder Nicht-Glauben. Der theologische Einwand gegen das Erlernenkönnen des Glaubens hat etwas mit der Rechtfertigung des Sünders allein aus Glauben zu tun. Wenn der Sünder allein aus Glauben gerecht wird und wenn man Glauben lernen kann, dann kann jeder Mensch schon etwas für seine Rechtfertigung tun. So wäre der Glaube eine persönliche Leistung und verdankte sich nicht mehr der Rechtfertigung allein aus Gnade. Zwischen dem „allein aus Glauben“ und dem „allein aus Gnade“ würde dann ein Widerspruch entstehen.72 Wenn aber daraus folgen soll, dass der Glaube dem Sünder wie einem physikalischen Gegenstand zwangsverursacht wird, dann entsteht derselbe Widerspruch, wenn auch unter anderen Vorzeichen: Dann würde nämlich die Rechtfertigung des Sünders nicht davon abhängen, dass die glaubende Person Gott anerkennt. Die Rechtfertigung würde ja allein davon abhängen, dass der Glaube einem zwangsverursacht worden ist. Die Anerkennung Gottes im Glauben wäre ein nachträgliches Ereignis, das für das eigentliche Rechtfertigungsgeschehen völlig unerheblich wäre. Ein physikalisch zwangsverursachter gerechtfertigter Sünder hätte nichts sinnvoll mehr zu glauben.73 Wir sollten deswegen die Frage unterscheiden, wie der glaubende Mensch vor Gott gerechtfertigt wird und ob man Glauben lernen kann. Wer Glauben lernt, lernt gerade, sich selbst nicht zu rechtfertigen. Wenn Menschen von religiöser Erziehung reden, dann reden sie offenbar auch vom Heiligen Geist, und zwar gleichgültig, ob sie Glauben für erlernbar halten oder nicht. Hält man den Glauben für nicht-erlernbar, dann scheint der Heilige Geist die notwendige Leerstelle der Eingebung zu füllen, die zu einer Bekehrung führt. Hält man dagegen den Glauben für erlernbar, dann doch so, dass Glaube nicht durch Erziehung erzwungen werden kann. Glaube wird
72 Ähnlich Härle, Der Glaube als Gottes- und/oder Menschenwerk, 37. 73 Es wäre nicht einmal nötig zu wissen, dass man glaubt. Das ist meines Erachtens das schlagende Argument gegen den Zwang von Bekehrungsberichten für die Anerkennung als Christ in bestimmten Freikirchen. Denn wenn für die Alleinwirksamkeit des Geistwirkens die Personalität des Menschen unerheblich ist, ist auch nichts zu berichten.
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vielmehr in Räumen gelernt, in solchen, in denen der Spielraum menschlicher Freiheit und das Aktionsfeld des Heiligen Geistes sich treffen. Hermann Schmitz, der den Heiligen Geist als Atmosphäre beschrieben hat74, hält den Glauben für das Eingeständnis, bei Vollbesitz geistiger Kräfte und des freien Vermögens der Person dieser atmosphärischen Kraft nicht gewachsen zu sein. Damit müsse ihre unbedingte Autorität anerkannt werden.75 Hier zeigt sich, wie man das Wirken des Heiligen Geistes mit der menschlichen Freiheit verbinden kann, Glauben zu lernen. Glaubenlernen ist eine Lernerfahrung, die ein Widerfahrnis und eine persönlich freie Anerkennung einschließt. Und diese Verbindung wird unter räumlichen Voraussetzungen vollzogen. Legt man diese Rede vom Erlernen des Glaubens zugrunde, so ist es wieder die Unterscheidung von Anwesendem und Anwesenheit, die die Rede vom Heiligen Geist prägt. Der Heilige Geist ist die Anwesenheit, die sich auch zeigt, wenn konkrete Ursachen des Glaubens abwesend sind. Man kann zwar glauben lernen, aber man lernt es irgendwie. Bestimmte atmosphärische, räumliche Voraussetzungen erleichtern diesen Lernprozess, und doch garantieren sie ihn nicht. Aber es ist auch nicht so, dass der Heilige Geist wie eine physikalische Ursache über jemanden kommt, damit er glauben kann. Der Heilige Geist ist eben kein Anwesender und auch keine anwesende Ursache.
3.3 Folgerungen Der Heilige Geist ist ein Anwesenheitsphänomen. Er ist nicht unbedingt auch ein Phänomen eines Anwesenden. Dieses Kapitel hat nicht nur gezeigt, in welchen Situationen Menschen doch vom Heiligen Geist reden oder auch in welchen Situationen sie den Heiligen Geist geradezu magisch „beschwören“. Es wurde dabei auch das Kriterium der evidenten Anwesenheit bestätigt, das im zweiten Kapitel als Kriterium für das Wirken des Heiligen Geistes vorgeschlagen worden ist. Vor diesem Hintergrund erweisen sich alle Versuche, das Wirken des Heiligen Geistes mit einem Anwesenden zu identifizieren, als zu kühn. Sie sind deshalb zu kühn, weil sie nicht erklären können, warum das Anwesenheitsphänomen auch auftritt, wenn man mit dem Abwesenden konfrontiert ist. Dabei wird die Unterscheidung zwischen Anwesenheit und Anwesendem übersehen. Das führt zu einer Überidentifikation der Anwesenheit mit dem Anwesenden. Das Problem ist nicht das Magische in den expressiven Versuchen, die Wirkung des Heiligen Geistes zu erregen, sondern dass sich das Magische auf das Anwesende richtet. Das Problem ist nicht, dass fundamentalistische Strömungen mit Eingebungen rechnen, sondern dass 74 Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, 440. 75 Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, 445.
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Eingebungen zum alleinigen Erklärungsprinzip für die Entstehung des Glaubens erhoben werden. Der Marburger Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Peter Janich hat gegen diesen unermesslich geweiteten Informationsbegriff, nach dem alles irgendwie alles Beliebige für jeden Beliebigen „bedeutet“, polemisiert. Janich hat gezeigt, aus welchen Sprachkontexten der Informationsbegriff wissenschaftsgeschichtlich nach und nach herausgelöst und strukturalistisch beziehungsweise materialistisch fehlgedeutet worden ist. Dabei beruht der Materialismus auf einem „sprachlichen Wildwuchs“76 und methodischen Verwechslungen.77 Wenn Neuronen miteinander sprechen und Gene Informationen austauschen können, dann können auch abwesende Geister uns Nachrichten zukommen lassen. Janichs Kritik lässt damit auch der Möglichkeit von Eingebungen keinen Raum. Sie trifft auch meine theologische Rekonstruktion der Anwesenheit. Danach wäre die ganze Rede von Anwesenheit, die uns aufmerken lässt, unsere Selbstheilungskräfte „geistlich“ stärkt, nur eine neue Form des Animismus. Wäre die Rede von der Anwesenheit eine solche Art sprachlicher Wildwuchs? Darauf lässt sich mit Hermann Deuser antworten, dass gerade als wissenschaftliche Basis unterstellt werden muss, dass alles mit allem in einem realen Kontinuum verbunden ist. Ansonsten könnte nämlich nicht von „der“ Realität gesprochen werden. Es bedarf also eines kosmologischen Rahmenkonzepts78, das im neuzeitlichen Wissenschaftsdiskurs verlorengegangen ist, der sich der Weltanschauung des Nominalismus verschrieben hat.79 Das Misstrauen gegen das Geistwirken in den Phänomenen kann Deuser also seinerseits als unrealistisch zurückweisen. Das heißt aber eben nicht, dass nun ein naiver Spiritismus die Realität zusammenhält. Deuser zeigt vielmehr, dass auch solche Vorstellungen, die man auch im Fundamentalismus findet, letztlich nominalistische Voraussetzungen haben, wonach Gott jeden einzelnen Akt wirkt80: Dadurch wird die einzelne Eingebung betont, nicht dagegen die Anwesenheit im Hintergrund, die die Kontinuität der Realität hält. Demgegenüber weicht das hier vorgestellte Kriterium für den Heiligen Geist, die evidente dynamische Anwesenheit, einem Nominalismus aus, der seine wissenschaftlichen Teilergebnisse nicht mehr in eine Rahmentheorie einbetten kann, und einer nominalistisch-spiritistischen Metaphysik, die die Erklärungslücken des Nominalismus durch einzelne Akte eines höheren Anwesenden schließen will.
76 77 78 79 80
Janich, Was ist Information, 91. Janich, Was ist Information, 112. Deuser, Vorsehung I, 318. Deuser, Vorsehung I, 307. Deuser, Vorsehung I, 328.
4. Glaube und Werke: Sind Christen bessere Menschen? Der Kern des christlichen Glaubens wird in dem Satz ausgedrückt, „dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben“ (Röm 3,28). Dieser Satz ist eine provokante Zuspitzung für jede ethische Überzeugung. Konnte etwa der Lagerkommandant eines Konzentrationslagers ein gläubiger und damit gerechtfertigter Christ sein? Hier scheint sich ein Dilemma aufzutun: Wenn Ja, dann wäre seine tagtägliche tödliche Misshandlung von Juden, Homosexuellen und Kommunisten kein Widerspruch zu seiner Gerechtigkeit gewesen. Wenn Nein, dann macht der Glaube doch nicht gerecht, sondern erst ein ethisches Verhalten, das bestenfalls aus dem Glauben folgt. Die provokante Zuspitzung aus dem Römerbrief provoziert nicht nur unser ethisches Empfinden, sondern auch das theologische: Was soll Glaube überhaupt bedeuten? Offenbar ist der Glaube selbst erklärungsbedürftig, wenn allein durch Glaube die Gerechtigkeit folgen soll. Im Laufe der theologischen Gedankenentwicklung sind folgende Lösungsangebote hierzu entwickelt worden: 1. Glaube verändert die Gesinnung eines Menschen. Weil er glaubt und gerecht geworden ist, kann er keine schlechten Handlungen tun. „Ein guter Baum trägt gute Früchte.“ Es handelt sich offenbar um eine natürliche Folgewirkung der Gerechtigkeit, wenn glaubende Menschen ausschließlich gerechte Handlungen ausführen. 2. Eine Variante der Gesinnungsänderung besteht darin, dass der Mensch nicht an seinen Taten gemessen wird, sondern allein an dem guten Willen, der dahinter steckt. Selbst Taten, die als solche ungerechtfertigt sind, können dadurch gerechtfertigt werden, dass sie aus einer gerechten Gesinnung heraus ausgeführt werden. Der gerechtfertigte Mensch kann sich zwar im Hinblick auf seine Beurteilungen täuschen. Aber er will sich nicht täuschen und handelt nicht mutwillig. Diese Position ist etwa Anfang des 20. Jahrhunderts von Wilhelm Herrmann vertreten worden.1 Gegenwärtig argumentiert etwa Christoph Gestrich entsprechend gesinnungsethisch.2 3. Es gibt gar keine Gerechtigkeit von einzelnen Handlungen. Gut und böse sind nicht Handlungen an sich, sondern allein die persönliche Disposition zu Handlungen. Luthers berühmter Satz, dass sogar das Aufheben eines 1 Herrmann, Ethik, 142. 2 Gestrich, Die Wiederkehr des Glanzes in der Welt, 220.
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Grashalms gut ist, wenn man glaubt, dass es gut ist3, kann man für diese Variante heranziehen. Der Lagerkommandant kann hier also gar nicht an seinen „an sich“ bösen Taten gemessen werden, sondern nur an seinem Glauben. 4. Glaube bedeutet gar keine Gerechtigkeit des Menschen, sondern Gottes Gerechtigkeit. Also kann sie auch nicht durch den Menschen zerstört werden. Nicht was der Mensch von sich aus ist oder macht, sondern was Gott in ihm bewirkt, ist gerecht. Eberhard Jüngel hat den Glauben als eine „ek-zentrische“4 Existenz dargestellt. Man kann folglich nicht dem Menschen selbst ansehen, was er ist. Seine Beziehung zu Gott ist ein Teil von ihm. Man muss vom Menschen absehen, um ihn verstehen zu können. Nach diesen Varianten wird der Lagerkommandant zwar jeweils unterschiedlich beurteilt, letztlich aber auch nicht völlig gegensätzlich: Während er nach der ersten Variante unmöglich ein Christ ist, wäre nach der dritten Variante zumindest logisch denkbar, dass jemand aus Glauben auch die größten Verbrechen begeht – die dann keine wären, weil kein Geschehen „an sich“ ein Verbrechen wäre. Luther selbst wäre so allerdings missverstanden, denn mit seinem Beispiel vom Grashalm beschreibt er nur ein moralisch neutrales Verhalten, nicht aber ein unmoralisches Verhalten. Eine Umwertung von eindeutigen Verbrechen nimmt er nicht vor, offenbar deshalb, weil die Verbrechen eines Lagerkommandanten aus der Perspektive des Glaubens nicht neutral sein können. Damit führt Luthers Vorstellung selbst zur ersten Variante. Nach der vierten Variante wäre der Lagerkommandant selbst ohne Glauben, weil ihm die Ek-Zentrizität fehlt: Gerade dadurch dass er eine bejahende Beziehung zu anderen Menschen zerstört, indem er sie vernichtet oder quält, verschließt er sich vor dem Anderen und wird selbstbezogen.5 Zuletzt kann man auch von der zweiten Variante sagen, dass die Gesinnungskraft des Glaubens die Möglichkeit ausschließt, mit gutem Willen Menschen zu quälen oder zu vernichten. Es mag zwar Grauzonen des Ethischen geben, in denen Täuschungen möglich sind, was richtig ist zu tun. Aber die mutwillige Quälerei von Kreaturen ist schon von Immanuel Kant gesinnungsethisch kategorisch abgelehnt worden: Sie schadet nämlich dem handelnden Subjekt selbst und stumpft ab.6 Wir können also sehen, dass die Verbrechen eines Lagerkommandanten nach keiner Variante der Rechtfertigung allein aus dem Glauben gerechtfertigt werden können, und zwar obwohl der Mensch „allein“ aus Glauben gerecht wird. Die Gerechtigkeit allein aus Glauben richtet den Menschen also offenbar auf bestimmte Handlungen aus. Die vier Varianten sind sich allerdings uneinig, sobald es nicht mehr um 3 4 5 6
Luther, Werke; WA VI, 206. Jüngel, Das Evangelium von der Rechtfertigung, 110. Jüngel, Das Evangelium von der Rechtfertigung, 116; vgl. Gestrich, Von der Wiederkehr, 232. Kant, Metaphysik der Sitten (Akademie-Ausgabe Bd. VI); Berlin 1914, 443.
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eindeutige Verbrechen geht, sondern um ethisch umstrittene Themen, in denen man sich auch im Glauben über die Richtigkeit täuschen kann. Trutz Rendtorff hat von vier Missverständnissen der Rechtfertigung allein aus Glauben gesprochen:7 1. Den Antinomismus: Weil die Werke des Gesetzes nicht gerecht machen können, ist auch das Gesetz der Sinaioffenbarung nicht gerecht. 2. Der Quietismus: Man verzichtet auf ethisches Handeln oder auf ethische Beurteilungen des eigenen Handelns. Rendtorff wendet gegen dieses Missverständnis ein, dass man damit das Handeln anderen überlässt. Ethik und Glauben schließen sich so aus. 3. Handeln beruht auf einer Eigengesetzlichkeit, die mit Glauben nichts zu tun hat. Der Glaube kann nicht entscheiden, wie man handeln soll, weil der Mensch die Strukturen seines Handelns in der Welt anerkennen muss. Rendtorff hält diese Theorie der Eigengesetzlichkeit für ein Missverständnis der „Zwei-Reiche-Lehre“. 4. Der „negative Dogmatismus“ hält Handeln ausschließlich für einen Ausdruck der Sünde. Gerechtes Handeln kann es so nicht geben, weil Handeln nie wertneutral ist, sondern immer den Menschen vor Gott schuldig macht, solange Gott nicht vergibt. Diese vier Missverständnisse sind nicht dieselben wie die vier obigen Varianten, wie man Glaube und Gerechtigkeit verstehen könnte. Aber Rendtorff zeigt die Probleme auf, die sich ergeben, je nachdem welche Auffassung man vom Glauben hat. Was ist also der Glaube? Auch hier lassen sich Varianten aufzählen: Glauben ist 1. 2. 3. 4. 5.
eine Gesinnung, ein Fürwahrhalten (Ich glaube, dass…), Vertrauen (Ich glaube an…), eine bestimmte Art von Beziehungen, eine Handlung (also das, was der Römerbrief ein „Werk“ nennt).
Es wird sehr unübersichtlich, sobald man nun alle Varianten miteinander kombiniert: alle Varianten, was man unter Glauben versteht, mit allen Varianten, wie Glaube die Werke beeinflussen kann. Vielleicht sind nicht alle Kombinationen denkbar, aber die Menge unterschiedlicher Vorstellungen von Glaube, Rechtfertigung und ethischem Verhalten führt in ein Dickicht voller „Rechtfertigungslehren“. Nur einige Beispiele: – Man kann der Meinung sein, dass ein guter Baum gute Früchte trägt und deshalb der gläubige Christ ausschließlich gute Handlungen ausführen kann. Aber diese Meinung hat einen völlig anderen Charakter, je nachdem ob man Glauben eine Form des Fürwahrhaltens nennt oder eine Art der 7 Zum Folgenden s. Rendtorff, Ethik Bd. I, 89f.
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Beziehung. Im ersten Fall bin ich allein deshalb unfähig, ethisch falsch zu handeln, weil ich bestimmte Sachverhalte für wahr halte. Im anderen Fall komme ich von der Beziehung zu etwas nicht los, die mein Verhalten prägt. – Man kann der Meinung sein, der Glaube sei die Gesinnung zum Guten, aber diese Gesinnung ergebe sich aus der Einsicht, welche Sachverhalte richtig sind (zum Beispiel dass Christus uns für eine gerechte Gesinnung befreit hat). Man kann aber auch gesinnungsethisch denken und zugleich durch das Vertrauen in Gottes Vergebung eine ethische Einstellung bekommen, entschlossen zu handeln, auch wenn man sich über die Richtigkeit des eigenen Tuns täuscht. Vertrauen wäre dann die Gesinnung, die sogar einen Relativismus der Werte rechtfertigen könnte. Offenbar fehlt also ein eindeutiges und unter Christen allgemein akzeptiertes Kriterium, woran man den Glauben erkennt – und woran man erkennt, dass Christen aus der Gerechtigkeit allein aus Glauben handeln. Ist der Glaube nur für Christen erkennbar? Dann wäre ihr Handeln nicht eindeutig als christliches Handeln erkennbar. Nicht einmal die Motivation, als Christ zu handeln, wäre für Nicht-Christen evident. Deshalb möchte ich in diesem Kapitel den Versuch unternehmen, klare Kriterien für die Gerechtigkeit allein aus Glauben aufzustellen. Gibt es vielleicht sogar evidente Kriterien? Und könnten aus der Evidenz des Heiligen Geistes diese Kriterien gefolgert werden? Ich werde also nicht angesichts des Dickichts denkbarer Varianten der „Rechtfertigungslehre“ jede einzelne Variante überprüfen. Vielmehr soll es darum gehen, die bisherigen pneumatologischen Kriterien für das christliche Glaubensverständnis weiterzuentwickeln, aus denen man die Gerechtigkeit allein aus Glauben erkennen kann.
4.1 Die Treue Gottes Das griechische Wort für Glauben „pistis“ hat mehrere Wortbedeutungen, unter anderem auch die ich am Anfang dieses Kapitels genannt habe. Eine mögliche Wortbedeutung habe ich aber noch nicht erwähnt, nämlich „Treue“. Der Römerbrief benutzt mindestens an einer Stelle das Wort pistis so, dass damit weder ein Fürwahrhalten gemeint sein kann noch Vertrauen. Das ist deswegen ausgeschlossen, weil hier von der „pistis“ Gottes gesprochen wird. In Röm 3,3 heißt es nämlich: „Dass aber einige nicht treu (griechisch: „epistesan“) waren, was liegt daran? Sollte ihre Untreue (apistia) Gottes Treue (pistin) aufheben?“ Luther hat an dieser Stelle den Ausdruck „pistis“ mit „Treue“ übersetzt. Was vom Menschen mit „Glauben“ übersetzt wird, heißt von Gott her „Treue“. Daran ist zweierlei bemerkenswert: Zum einen, dass Paulus dasselbe Wort benutzt, unabhängig davon ob es von Gott oder vom Menschen ausgesagt
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wird. Eine Gerechtigkeit „allein aus pistis“ lässt daher zunächst offen, ob sie von Gott oder vom Menschen ausgesagt wird. Sie könnte schließlich auch für die Beziehung zwischen beiden ausgesagt werden. Denn weil beide mit „pistis“ eine Beziehung verbindet, kann auch die Beziehung die Gerechtigkeit bedeuten. Zum Zweiten ist bemerkenswert, dass Luther „Treue“ für pistis benutzt, wenn Paulus von der pistis Gottes redet. Luther signalisiert damit, dass er pistis als einen zweistelligen Relationsbegriff versteht. Präziser: Mit pistis wird eine intersubjektive Beziehung charakterisiert, nicht unbedingt aber auch ein Verhalten. Wie sicher können wir sein, dass Luther mit der Übersetzung „Treue“ die richtige Wahl getroffen hat? Zumindest ist diese Übersetzung nicht evident. Aber wenn pistis ein Begriff ist, der sowohl Gott als auch den Menschen charakterisiert, dann ist pistis entweder ein sogenannter „symmetrischer“ Begriff. Oder aber pistis ist ein Begriff, der die Beziehung zwischen allen Beteiligten näher beschreibt. So ist es mit Luthers Übersetzung „Treue“. Treue ist zwar kein symmetrischer Begriff (wenn meine Frau mir treu ist, muss ich ihr nicht deswegen schon treu sein). Aber Treue charakterisiert dennoch eine Beziehung. Wenn meine Frau mir treu ist, bin ich mit ihrer Treue konfrontiert, gleichgültig wie ich mich zu ihr verhalte. Auch ein untreuer Ehemann wird von der Treue seiner Ehefrau immer wieder eingeholt. Diese Treue behält Macht über ihn: Es ist seine Schuld, wenn er untreu wird. Denn in der Beziehung herrscht Treue. – Das Umgekehrte zu sagen ist unmöglich: Es ist nicht ihre „Schuld“, dass sie treu ist, obwohl von seiner Seite aus Untreue herrscht. Seine Untreue verlangt nämlich nichts von ihr. Untreue verletzt Verbindlichkeit und kann daher nichts Verbindliches fordern. Eine Beziehung, die von Untreue geprägt ist, verletzt Menschen, ohne sie zu einem konkreten Verhalten anleiten zu können. Umgekehrt prägt Treue in einer Beziehung die beteiligten Personen in ihrem Verhalten: Treue wird zu einem Wegweiser, an dem sie sich orientieren und an dem sie auch scheitern können. Ich halte Luthers Übersetzung daher für eine scharfsinnige Klärung des Phänomens „pistis“. Pistis scheint kein symmetrischer Begriff zu sein: Gottes pistis prägt auch dann die Beziehung zum Menschen, wenn dieser an der pistis Gottes scheitert. Sie bleibt der Wegweiser für den Menschen, auch wenn er sich gegen Gott wendet. Er kann sich überhaupt nur so gegen Gott wenden, indem er sich dabei an der pistis Gottes orientiert. Sonst wüsste er gar nicht, wogegen er sich wenden soll – und könnte sich nicht gegen Gott wenden. Eine Beziehung orientiert zwar das Verhalten. Aber ein Beziehungsbegriff ist selbst noch kein Handlungsbegriff. „Treue“ sagt nicht, wie genau gehandelt wird oder werden soll. Wenn überhaupt, dann ist Treue eher ein Unterlassungsbegriff: Es werden bestimmte Handlungen unterlassen. Aber welche Unterlassungen? Doch nur solche, untreu zu werden. Ein Beziehungsbegriff schließt Handlungen aus, die die Beziehung stören oder gefährden. Es ist also nicht primär das Handeln, das einen Beziehungsbegriff prägt, sondern die
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Unterlassung der gegensätzlichen Beziehung. Woran erkennt man einen treuen Ehemann? Muss ein treuer Ehemann seiner Frau zu jedem Ersten im Monat einen Strauß Blumen mitbringen? Oder kann das nicht sogar ein tückisches Verführungsritual eines untreuen Ehemannes sein? Muss ein treuer Ehemann jeden Abend pünktlich nach Hause kommen? Oder ist wirklich jeder Ehemann treu, der für jede Unpünktlichkeit einen plausiblen Grund anführen kann? – Man kann immerhin vorschlagen, dass ein treuer Ehemann niemals einen Seitensprung zulassen wird. Aber wie unterlässt man einen Seitensprung? Was muss man dazu „tun“? Darf man mit attraktiven Frauen nie flirten? Oder ist es gerade Ausdruck der Untreue, wenn man unterdrückt, wie andere Frauen einem gefallen, weil man gerade so signalisiert, wie gefährlich sie der Ehe werden könnten? Ein Ehemann, der niemals offen mit anderen Frauen flirtet, mag zwar seiner Frau die Sicherheit geben, treu zu sein. Aber er muss nicht deswegen auch schon treu sein. Treue scheint also keine eindeutigen Handlungen zu erzwingen. Sie mag bestimmte Handlungen ausschließen (zum Beispiel den Seitensprung). Aber dabei orientiert sie sich nicht so sehr an eindeutigen Handlungen (zum Beispiel außerehelichen Sex) als vielmehr am gegensätzlichen Beziehungsgepräge: an der Untreue. Außerehelicher Sex macht nicht deswegen schuldig, weil man mit einer Person außerhalb der Ehe schläft. Die Ehepartnerin hat keinen unmittelbaren Schaden; nicht ihre Blöße wird freigelegt (wie bei einer Vergewaltigung), sondern die eigene und die der sexuellen Partnerin der Affäre. Aber solange dies willentlich geschieht, wird niemandem dabei geschadet.8 Das Problem an der Untreue ist also nicht die Handlung als solche.9 Das Problem ist vielmehr, dass sie sich dabei der Treue widersetzt, die in der Beziehung herrscht. Die Schuld an Beziehungen entsteht dadurch, dass das Gegenteil des Charakters bewirkt wird, der über der Beziehung herrscht. Schuldig wird der untreue Mensch nicht mit seiner Handlung, sondern mit seiner Untreue. Es wäre zu kurz gegriffen zu meinen, dass Treue deshalb eine Gesinnung wäre. Der untreue Ehemann wird nicht an einer Gesinnung schuldig, die er gar nicht hat. Er wird auch nicht unbedingt mit seiner Gesinnung schuldig, denn vielleicht liebt er seine Frau und wäre nie bereit, sie zu verlassen. Treue ist vielmehr eben ein Beziehungsbegriff. Sie beschreibt, was eine Beziehung prägt, auch wenn die Beziehungspartner ihr in Handlungen und Gesinnungen widersprechen mögen. Die Treue ist der Widerstand in der Beziehung, die 8 Richard Wasserstrom hat vorgeschlagen, das Unethische am Seitensprung darin zu sehen, dass ein Versprechen gebrochen wird (Wasserstrom, Is Adultary Immoral, 160). Allerdings folgt aus dem Versprechen, den anderen zu lieben, „bis der Tod uns scheidet“, nicht, dass man nicht auch andere Menschen lieben dürfe. Zudem ist zweifelhaft, ob eine intime Beziehung nur zu einer Person bestehen kann (McGinnis, More Than Just a Friend, 163). Daher ist fraglich, ob man die Schuld an der Treue angemessen beschreibt, wenn man sich dabei ausschließlich an Handlungen orientiert. 9 Halwani, Virtue Ethics and Adultery, 143.
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man überwinden muss, um untreue Handlungen auszuführen. Die Treue ist auch der Widerstand in der Beziehung, die man überwinden muss, um eine Gesinnung zur Untreue zu entwickeln. Treue entsteht nicht dadurch, dass jemand etwas macht. Die treue Ehefrau „macht“ nicht die Treue, sondern sie respektiert die Treue in der Beziehung. Wie bereits gezeigt, hat Johannes Fischer herausgestellt, dass der „Geist“ einer Beziehung das Handeln prägt und nicht umgekehrt. Folglich können sich Menschen treu sein, aber auch an der Treue schuldig werden, weil der Geist ihrer Beziehung zueinander von Treue geprägt ist. Das gilt meines Erachtens auch von der Art einer Beziehung: Wenn ein Mann und eine Frau eine intime Partnerschaft eingehen, dann orientiert sie dabei nicht nur der Geist ihrer Partnerschaft, sondern der Geist einer intimen Partnerschaft, wie sie andere auch haben. Die scharfe Reaktion, wie der hintergangene Freund auf die Untreue der Freundin reagiert, passt vielleicht nicht zu seinem persönlichen Charakter, aber zur Art, wie man auch sonst in intimen Partnerschaften reagiert, wenn man hintergangen wird. In der konkreten intimen Partnerschaft zwischen Freund und Freundin herrscht ebenso ein Geist, von dem auch Dritte betroffen sind und den auch Dritte beeinflussen, nämlich über ihre jeweiligen intimen Partnerschaften. Darin zeigt sich, dass der Geist der Treue den beteiligten Personen entzogen ist. Sie finden sich in diesem Geist vor. Sie können ihn nicht verändern. Sie können allenfalls wählen, ob sie diese Beziehung eingehen wollen oder nicht. Dabei hat aber Fischer darauf aufmerksam gemacht, dass auch diese Wahl immer von einem „Geist“ abhängig ist10: Kein Mensch ist jemals in einer neutralen Position eines unabhängigen Richters, aus der er sich für oder gegen eine Beziehung entscheidet. Das ist insbesondere auch in Treuebeziehungen offensichtlich: Man entscheidet sich für die Beziehung, weil man sich eigentlich schon in ihr vorfindet, bevor man sich für sie entscheiden kann. Er ist schon verliebt, bevor er sich entscheidet, bei dieser Frau zu werben. Das gilt auch für andere Treuebeziehungen: Der Angestellte, der treu zu seiner Chefin steht, konnte sich zwar entscheiden, ob er den Job annimmt oder nicht. Aber diese Entscheidung ist keine neutrale gewesen. Sie ist vielmehr von einem Betroffenen entschieden worden – er brauchte einen Job –, der dabei auch von der Treue getroffen worden ist, für deren Verbindlichkeit er sich dann nachträglich entschieden hat. Der Ausdruck „Treue“ ist deswegen eine so geschickte Übersetzung Luthers für „pistis“, weil damit der evidente Charakter der Anwesenheit zum Ausdruck gebracht wird: Anwesenheit kann selbst nicht gewählt werden, man ist immer schon mit ihr konfrontiert. Und Anwesenheit bringt man auch nicht dadurch auf Distanz, dass man etwas oder jemanden auf Abstand hält. Die andere Person kann anwesend oder abwesend sein, ihre Anwesenheit bleibt mir „treu“. Die andere Person kann ihre Einstellung zu mir geändert haben, sie 10 Fischer, Leben aus dem Geist, 51; ders., Theologische Ethik, 119.
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kann mich betrogen oder hintergangen haben – auch dann bleibt ihre Anwesenheit mir dennoch „treu“. Gerade darin besteht der Schmerz, wenn man betrogen worden ist. Die Treue der Anwesenheit läuft hinterher und holt einen immer wieder ein. Zwar können alte Wunden heilen. Man lernt, mit alten Verletzungen zu leben, und man vergisst vielleicht den früheren Partner irgendwann. Aber was bedeuten solche Heilungsprozesse für das Gewicht der Beziehung? Offenbar musste sie dafür mit enormer Anstrengung niedergerungen werden, und zwar auch dann noch, wenn man bereits vom Partner getrennt gelebt hatte. Aber ein Punkt scheint mir entscheidender zu sein: Niemand wird trotz solcher „erfolgreichen“ Trennungen die Beziehung selbst für einen persönlichen Erfolg halten. Man mag einzelne Abschnitte für einen Erfolg halten (zum Beispiel wie man damals zusammengekommen ist oder wie man die eine oder andere Krise bewältigt hat). Aber die Beziehung selbst liegt wie ein Schatten über der Person – ebenso wie über ihrer Partnerin. Es ist ein Schatten, der sehr wohl der Person nachläuft. Man müsste schon unter Amnesie leiden, um das zu vergessen. Es soll hier nicht geleugnet werden, dass man die Gefühle überwinden und auch rechtliche Verbindlichkeiten füreinander abstreifen kann. Es geht vielmehr darum, dass die Bewertung der Beziehung den persönlichen Charakter prägt. Man kann sich gleichgültig stellen zu solchen persönlichen Niederlagen oder sie für den weiteren Lebensweg als nützlich umdefinieren. Das ändert nichts daran, dass eine Trennung der Beziehung widerspricht. Es ist der „Geist“ dieser Beziehung, der diesen Widerspruch hervorhebt. Gegen diesen Widerspruch muss man permanent angehen, wenn man den Bruch als Erfolg werten will. Darin bleibt die Anwesenheit der Beziehung evident. Die Anwesenheit der Treue strahlt also eine Verbindlichkeit aus, der man auch dann nicht entkommt, wenn man die Handlungsfolgen eines Beziehungsbruchs abgewickelt hat. Die Treue fordert alle Betroffenen auf, treu zu sein. Widersetzen sie sich diesem zwingenden Charakter der Beziehung, so heben sie nicht etwa die Treue auf. Denn sie fordert nun eine Beurteilung nach ihren Kriterien. Die Treue fordert das Eingeständnis, im Widerspruch zu ihr zu liegen. Ich halte „Treue“ für das Kennzeichen der Anwesenheit. Beziehungen können verschiedene Charaktere haben und auch einen anderen „Geist“ haben. Aber die Treue ist das Merkmal jeglichen Geistes.
4.2 Ist die Rechtfertigung allein aus Glauben evident? Anwesenheit von Beziehungen meldet sich evident, sogar auch dann, wenn die jeweiligen Beziehungen gescheitert sind. Folgt aus der Evidenz der Anwesenheit auch eine Evidenz der Rechtfertigung allein aus Glauben? Scheinbar
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nicht: Wie sollte etwa der Mensch allein aus Glauben „gerecht“ werden, wenn er doch eingestehen muss, an der Beziehung gescheitert zu sein? Um beide Fragen in ihrer Spannung zu erfassen, schlage ich vor, die obigen Überlegungen von der Treue mit der biblischen Vorstellung von der „Rechtfertigung allein aus pistis“ zu kombinieren. Wenn der Geist den Charakter einer Beziehung bestimmt, dann bestimmt er auch, wie man sich angemessen zur Beziehung verhält. Diese Angemessenheit orientiert jede Person, die von dieser Beziehung betroffen ist. Es ist von daher klar, dass man sich „beziehungsgerecht“ verhält, wenn man nach dem Geist der Beziehung bestimmt wird. Was Gerechtigkeit ist und wie man sich gerecht verhält, bestimmt sich nach dem Geist der Beziehung. Man kann sich diesem Geist nicht entziehen, auch wenn man sich an der Beziehung schuldig macht oder wenn man sie aufkündigt. Denn indem man sich dabei eingestehen muss, dieser Beziehung nicht gewachsen gewesen zu sein, unterstreicht man, dass sie das Eingeständnis orientiert: Der Geist der Beziehung entscheidet über die Gerechtigkeit. Und alle, die an dieser Beziehung teilhaben, haben auch an dieser Gerechtigkeit teil; denn sie orientieren sich auch in ihrem Scheitern an ihr. Darüber hinaus ist es aber gerade die Treue in den Beziehungen, die die Gerechtigkeit gewährleistet. Beziehungen können verschieden sein ebenso wie ihre „Geister“. Nicht aber ihre Treue! Die Anwesenheit beweist in allen Beziehungen ihre Treue. Weil alle Beziehungen ihre Gerechtigkeit der Anwesenheit des Geistes verdanken, erzeugt die Treue des Geistes die Gerechtigkeit. Treue ist das Kriterium der Gerechtigkeit und zugleich der Maßstab für weitere Kriterien der jeweiligen Beziehungsgerechtigkeit. Das ist auch dann der Fall, wenn alle Beziehungen unterschiedliche Verbindlichkeiten erzeugen. Ich hatte schon im zweiten Kapitel gezeigt, dass Personen in unterschiedlichen Situationen von unterschiedlichen „Geistern“ erfasst werden. Die Gerechtigkeit, die aus dem jeweiligen Geist hervorgeht, hat deshalb immer nur eine relative Gültigkeit. Das ist aber nicht der Fall bei der Treue: Denn jeglicher Geist kann nur dadurch seine Beziehungsgerechtigkeit entfalten, dass seine Anwesenheit Treue ist. Die Treue ist darum das Kriterium der Gerechtigkeit schlechthin, aus der unterschiedliche Geister ihre jeweilige Beziehungsgerechtigkeit entfalten. Die „Gerechtigkeit allein aus Glauben“ sollte daher angemessener übersetzt werden mit „Gerechtigkeit allein aus Treue“: Es ist die Treue der Anwesenheit, aus der sich ergibt, wie Personen handeln sollen und wie sie sich und ihr Handeln faktisch beurteilen. Deshalb kann man durchaus schlussfolgern: Wenn Anwesenheit evident ist, dann ist auch die Gerechtigkeit allein aus Treue evident. Nach den Einsichten der Reformation handelt es sich um eine iustitia passiva: Der Mensch kann nicht „aktiv“ für seine Gerechtigkeit einstehen. Er wird nicht gerecht aus Werken, sondern allein aus Gnade. Der Sachverhalt der iustitia passiva ist evident: Die Werke des Menschen können überhaupt nur gerecht sein, weil vorher der Gerechtigkeitsbegriff gültig bestimmt worden ist.
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Und er wird bestimmt durch die Treue Gottes: durch die Anwesenheit des Geistes Gottes.11 Wenn Treue das Kriterium der Gerechtigkeit ist, dann bewertet sie nicht nur die Menschen, die in bestimmten Beziehungen stehen. Vielmehr bewertet die Treue auch die Beziehungen selbst, ob sie ihr entsprechen. Der Geist einer Beziehung kann in Widerspruch geraten zur Gerechtigkeit. Das geschieht immer dann, wenn die Beziehung eine Verbindlichkeit zu den Betroffenen aufbaut, die der Treue der Beziehung widerspricht. Es gibt zwei Arten von Beziehungen, die ihrer eigenen Treue entgegenstehen: 1. Beziehungen, die Untreue fordern, 2. Beziehungen, die von allen Beteiligten die Illusion aufzwingen, dass die Beziehung durch Leistung der Beteiligten besteht. Beide Arten müssen näher erläutert werden. Eine Beziehung, die Untreue fordert, ist eine widersprüchliche Beziehung, weil sie nur Verbindlichkeit ausstrahlen kann aufgrund ihrer Treue. Welche konkrete Beziehung könnte so widersprüchlich sein? Jedenfalls noch nicht eine Beziehung, in der Menschen sich untreu werden können, denn auch der untreue Mensch wird von der Treue eingeholt, und in allen Beziehungen kann man sich untreu werden. Dann sind auch nicht die Beziehungen gemeint, die dazu genutzt werden, um einen Beziehungsabbruch gegenüber Dritten zu erleichtern. Das wäre etwa die Beziehung zwischen Psychotherapeutin und Klientin, die ihr hilft, sich von ihrem gewalttätigen Ehemann zu trennen. Hier fordert nicht die Beziehung selbst die Untreue, denn der Beratungsprozess soll selbst verbindlich sein. Auch im Hinblick zum Dritten (dem Ehemann) fordert sie keine Untreue, sondern stellt sie vielmehr fest. Im Beratungsprozess geht es nur darum, wie man mit der zerrütteten Beziehung umgehen soll. Schließlich sollen auch therapeutische Beziehungen enden. Das heißt aber nicht, dass damit Untreue gefordert ist. Denn die therapeutischen Prozesse sollen ja eine Veränderung im Leben des Klienten in Gang setzen, die auf bleibende Verbindlichkeit zielt. Eine Beziehung, die Untreue fordert, kann vielmehr nur eine sein, die jegliche Bindung und jegliche Verbindlichkeit unter den beteiligten Personen aufheben will. Dazu können nur Beziehungen gehören, in denen die Menschenwürde bestritten wird. Wer gezielt einen Menschen entwürdigt, mag diese Beziehung nur deshalb eingehen, weil er darauf zielt, den Entwürdigten auf Abwesenheit zu bringen. Dies ist aber eine Illusion: Denn wie wir schon gesehen haben, können Menschen sich zwar auf Distanz bringen und selbst abwesend sein. Aber sie verfügen nicht über die Anwesenheit. Die hier vorgestellte Konzeption von Treue kann diesen Sachverhalt näher erläutern: Denn Untreue kann nur dann Verbindlichkeit ausstrahlen, wenn die Beziehung Treue enthält. Deshalb ist jeglicher Versuch, Untreue zu fordern, ein Wider11 Wie schon gezeigt, ist Treue kein Menschenwerk, sondern eben Gottes Werk.
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spruch und auch ethisch zu verurteilen. Es ist die Treue selbst, die solche Beziehungen richtet. Ich komme zur zweiten Art von Beziehungen, die von der Treue gerichtet werden: Beziehungen, die von allen Beteiligten die Illusion aufzwingen, dass die Beziehung durch Leistung der Beteiligten besteht. Solche Beziehungen fordern von den beteiligten Personen etwas, was sie nicht leisten können: nämlich selbst eine Beziehung zu erzeugen. Menschen können Beziehungen nicht erzeugen, sondern finden sich in ihnen vor. Sie können an Beziehungen arbeiten, indem sie den Geist der Beziehung achten und pflegen. Aber sie bleiben dabei von der Treue der Beziehung abhängig. Deshalb fällt auch die zweite Art von Beziehungen deshalb unter das Gericht der Treue, weil sie einen Widerspruch erzeugt. Aber auch hier soll geklärt werden, welche konkreten Beziehungen dazugehören. Es gibt viele lose Marktbeziehungen zwischen einer Anbieterin und einem Kunden, die davon abhängen, dass die Anbieterin ihre Leistung erbringt und der Kunde dafür zahlt. Ohne das Marktprinzip von Angebot und Nachfrage würde eine Beziehung gar nicht zustande kommen. Insofern ist Leistung eine Bedingung für die jeweilige Marktbeziehung. Diese Art von Beziehung muss aber noch nicht verurteilt werden. Denn das Marktprinzip haben die Vertragspartner nicht hergestellt, sondern finden sich als Vertragspartner unter dieser Bedingung vor. Zudem können Anbieterin und Kunde sehr wohl wissen, dass ihre Verantwortung füreinander nicht mit dem Vertragsabschluss endet. Zwar enden die gegenseitigen wirtschaftlichen Verpflichtungen, aber sie werden überlagert durch andere, generellere Beziehungen. Deswegen ist auch die Leistungsgesellschaft nicht schon zu verurteilen, auch wenn sie suggeriert, Leistung sei das entscheidende Kriterium, das die Gesellschaft prägt. Die Illusion entsteht erst durch den Eindruck, dass Leistung das einzige Kriterium wäre, woraus Beziehungen bestehen. Die Beziehung wird auch dann erst von der Treue verurteilt, wenn die Illusion gefordert wird. Überall wo Menschen der Zwang aufgebürdet wird, ihre Beziehungen von ihrer Leistung allein abhängig zu machen oder von der Leistung anderer Personen, entsteht der Widerspruch zur „Gerechtigkeit allein aus Treue“. Mit Sklavenhalterformeln „Nur wer arbeitet, soll auch essen“ verrät sich die Ungerechtigkeit von Beziehungen selbst: Denn die bloße Lebenserhaltung wird allein von der Leistung abhängig gemacht anstatt vom Geist der Treue, der der Beziehung überhaupt erst Verbindlichkeit gibt. Die Leistungsgesellschaft steht allerdings vor der dauernden Gefahr, diese Illusion zu schüren. Gerade wo wirtschaftspolitisch oder auch betrieblich neue Weichen gestellt werden, wird mit illusionären Parolen argumentiert.12 Das passiert immer dann, wenn die neuen Wege als alternativlos dargestellt werden. Diese Alternativlosigkeit einer scheinbaren Logik ökonomischer Vernunft suggeriert die Illusion, dass Leistung der einzige Faktor von Bezie12 Jähnichen, Wirtschaftsethik, 261f.
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hungen ist. Solange man nur segmentär dieser Illusion erliegt und ansonsten von der Eigendynamik von Beziehungen weiß, ist nicht die Beziehung selbst zu verurteilen, sondern nur das Verhalten der Beziehungspartner darin. Die „Gerechtigkeit allein aus Treue“ richtet sich aber gegen eine Ideologie der Leistungsgesellschaft, die wirklich Ernst macht, diese Illusion den beteiligten Personen aufzuzwingen. Denn eine Leistungsgesellschaft, die allein aus Leistung besteht, kann für ihren Bestand schon deshalb nicht garantieren, weil ihre angebliche Regel nicht durch Leistung zustande kommt. Man muss sich vielmehr dem Marktprinzip unterordnen – und das heißt: Man findet sich im Geist des Wirtschaftens auch dann vor, wenn man (noch) nichts geleistet hat. Daran zeigt sich, dass die Treue der Beziehung beständiger ist als das, was Menschen für die Beziehung leisten können. Im zweiten Kapitel habe ich unterschieden zwischen dem Heiligen Geist, dem Geist des Grauens und der puren Anwesenheit. Die beiden widersprüchlichen Arten von Beziehungen lassen sich in diese Klassifikation einordnen: Die Forderung, sich der Illusion einer „geleisteten“ Beziehung hinzugeben, lässt sich der „puren Anwesenheit“ zuordnen: Man erlebt Anwesenheit, kann sie aber nicht mehr genau spezifizieren, wessen Anwesenheit gemeint ist. Denn weil man sich hier der Illusion hingibt, die sich nicht erfüllen lassen, wird man letztlich orientierungslos. Dagegen entspricht der Geist des Grauens der Forderung der Untreue: Wo Misshandlungen drohen, erleben Menschen den Zwang der Untreue. Der Unterschied liegt darin, dass die Ausdrücke „pure Anwesenheit“ und „Geist des Grauens“ die Wirkungen dieser gerichteten Beziehungen beschreiben: So erleben Menschen ungerechte Beziehungen. Dagegen beschreiben die ungerechten Arten von Beziehungen deren Eigenschaften. Abschließend noch einmal ein zusammenfassendes Wort zur Evidenz der christlichen Rechtfertigungslehre: Die „Gerechtigkeit allein aus Treue“ ist nicht deshalb evident, weil wir Gott aufzwingen könnten, dass er unsere Sünden vergibt. Nicht weil wir „glauben“, können wir ein Bollwerk gegen unsere Ungerechtigkeit aufrichten. Sondern weil wir uns im Geist Gottes schon vorfinden, bleibt für einen Zweifel an seiner Treue kein Raum. Die Reformation hat folgerichtig die „Gerechtigkeit aus Glauben“ nicht nur als eine passive Gerechtigkeit verstanden, sondern auch als eine „fremde Gerechtigkeit“ (iustitita aliena). Weil Menschen am Geist der Treue Gottes teilhaben, haben sie teil an seiner Gerechtigkeit. Sie „sind“ gerecht in seinem Geist.
4.3 Der Glaube ist eine freie Entscheidung, aber keine neutrale Mit der bisherigen Darstellung konnte aber noch nicht geklärt werden, warum dann manche Menschen „glauben“ und andere nicht. Bisher gilt, dass im
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Grunde alle Menschen unterschiedslos vom Geist der Treue Gottes erfasst sind und seine Verbindlichkeit erfahren. Insofern sind auch alle gerechtfertigt allein aus Glauben. Müssten dann nicht auch alle Menschen „glauben“? Oder bleibt „Glaube“ ein fremdes Werk Gottes, das nichts daran ändert, ob Menschen an Gott glauben oder nicht? Die Frage zeigt, dass man den Glaubensbegriff offenbar doppeldeutig versteht. Es reicht im Einwand nicht aus, Glaube als Treue zu verstehen, die auch dann wirkt, wenn einer der Beziehungspartner (Gott und Mensch) untreu wird. Denn damit lässt sich der Unterschied nicht fassbar machen, warum manche Menschen eben Gott auch treu werden und andere nicht. Und doch wird damit kein zweiter Glaubensbegriff nötig. Vielmehr handelt es sich um dieselbe Unterscheidung von Anwesenheit und Anwesendem: Das Anwesende aktualisiert die Anwesenheit in einer konkreten Situation. Die Anwesenheit wird im Anwesenden sichtbar. Wenn Menschen anwesend sind, dann verhalten sie sich zu ihrer Anwesenheit und bringen sie zum Ausdruck. Man kann eine Person nur küssen, wenn beide anwesend sind. Aber wie sehr man den Kuss vermisst, kann anwesenden Personen ebenso schmerzlich bewusst werden wie abwesenden. Es ist die Anwesenheit, weshalb man dann den Kuss vermisst. – Ebenso verhält es sich mit der Unterscheidung von Glaube und glauben (oder von Treue und treu sein): Wer treu ist, bringt damit Treue aktiv zum Ausdruck. Er verhält sich darstellend zur Treue. Aber der untreue Mensch beseitigt nicht die Treue, die ihn verurteilt. Vielmehr widerspricht er ihr im Handeln. Die Gerechtigkeit allein aus Treue ist eine fremde Gerechtigkeit. Aber man eignet sie sich an, indem man treu wird. Das heißt: Man drückt sie aktiv und willentlich aus. Man will Gottes Treue erkennbar machen in den Beziehungen, in denen man steht. Wer es wiederum nicht will, entkommt damit nicht schon dem Kriterium der Gerechtigkeit. An seinem Verhalten zeigt sich Gottes Treue nämlich auch, wenn auch als Gegensatz zu seinem konkreten Verhalten. Die Gerechtigkeit allein aus Treue bleibt ihm fremd. Dennoch wird er nach ihr beurteilt. Spricht man vom Glauben anstatt von Treue, um denselben Sachverhalt auszudrücken, dann glaubt man dem Glauben. Man eignet sich an, was der Glaube bewirkt, und orientiert sich am Glauben. Darin bewährt sich die Rede vom Glauben als einer Gabe des Heiligen Geistes.13 Er ist es, weil „Glaube“ das fremde Werk Gottes ist und keine Eigenschaft des Menschen. Der Mensch, der glaubt, eignet sich vielmehr an, was sich auch ohne ihn an ihm vollzieht. Wer glaubt, findet sich immer schon in der Treue Gottes vor. Man kann sich nicht dazu entscheiden, weil man Gottes Treue nicht entscheiden kann. Beziehungen sind vielmehr immer schon von ihr geprägt. Dennoch bleibt Menschen die Möglichkeit, sich für oder gegen Gottes Treue zu entscheiden. Sie können somit für oder gegen den Glauben entscheiden, in dessen Geist sie 13 Luther, Werke; WA Bd. XXXIX, 44.
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sich aber bereits vorfinden. Wilfried Härle hat in einer präzisen Interpretation von Luthers Texten gezeigt, dass Luther den Glaubensbegriff selbst doppeldeutig verwendet hat, um diesen Zusammenhang zwischen iustitia aliena und menschlicher Aneignung aufzudecken: Der Glaube ist beides zugleich: Gottesund Menschenwerk. Der Mensch kommt zum Glauben an Gott, indem er Gottes Wirken an sich geschehen lässt.14 Dieses „Geschehenlassen“ ist ein „bestimmtes Nichtstun“, keine „passive Passivität“, sondern eine „aktive Passivität“15. Härle unterscheidet also menschliche Passivität ihrerseits noch einmal: Passive Passivität ist ein bloßes Erleiden einer Ursache. Aktive Passivität dagegen ist ein zustimmendes Geschehenlassen einer Ursache. Ohne dieses zustimmende Geschehenlassen würde zwar die Ursache auch widerfahren, aber die Wirkung würde nicht angeeignet werden. Zu vergleichen ist ein solches Geschehenlassen mit einer Entspannungsmeditation: Ich muss „loslassen“, damit sich Entspannung „von selbst“ ereignen kann. Beim Loslassen unterlasse ich alles, was der Wirkung des Widerfahrnisses entgegenstehen könnte. Härle hat in seiner Dogmatik darauf verwiesen, dass es in der altgriechischen Sprache neben dem grammatischen Aktiven und dem Passiven auch eine Mittelform gibt, das „Mediale“, das genau diese „aktive Passivität“ meine: Man lässt die Aktivität geschehen, ohne sie dabei selbst zu verursachen.16 Warum Härle dieser Gedanke so wichtig ist, liegt daran, weil die Gerechtigkeit allein aus Glauben sich nicht an passiven Objekten vollzieht – wie an Bäumen, die nichts dafür können, ob sie gute oder schlechte Früchte geben. Die Gerechtigkeit allein aus Glaube vollzieht sich vielmehr an Personen; sie ist eine zustimmende Gerechtigkeit.17 Härles Luther-Interpretation bleibt dennoch zu sehr am Schema von Ursache und Wirkung gebunden. Die Ursache des Glaubens ist nicht selbst Glaube, sondern ein göttliches „Affiziertwerden“18. Das bestimmte Nichtstun versteht Härle dabei wie den kausalen Faktor einer Unterlassung. So besteht der kausale Faktor einer Unterlassung darin, dass ich unterlasse, einen Regenschirm mitzunehmen, und dann nass werde. Diese Unterlassung ist genauso kausal verantwortlich dafür, dass ich nass werde, wie wenn ich mich selber nass mache, indem ich mich in den Regen stelle. In beiden Fällen ist es zwar der Regen, der mich nass macht. Aber in beiden Fällen bedarf es ebenso meiner Mitwirkung. Ohne sie käme es nicht dazu, dass ich nass werde. Härle versteht die menschliche Beteiligung, zum Glauben zu kommen, ebenso wie wenn man seinen Regenschirm nicht mitnimmt. So will er Luthers Bemerkung gerecht werden, wonach der Glaube selbst ein Werk ist, nämlich sogar das „höchste Werk“19. 14 15 16 17 18 19
Härle, Der Glaube, 73. Ebd. Härle, Dogmatik, 549. Härle, Der Glaube, 69. Härle, Der Glaube, 77. Härle, Der Glaube, 39.
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Ich lasse es dahingestellt, ob dies auch Luthers Meinung gewesen ist oder ob Härle seine Meinung hier eingeschlichen hat, weil er diesem Kausalitätsschema unterliegt. Meines Erachtens hätte er es verlassen sollen, gerade wenn er betonen möchte, dass Glaube nicht wie eine Ursache naturhaft auf Gegenstände einwirkt, sondern auf Personen. Demgegenüber hat Johannes Fischer Personen vom Geist abhängig gemacht. Dann kann man sagen, dass der Grund des Glaubens im Glauben selbst liegt. Das ist keine Kausalerklärung mehr, sondern damit wird deutlich gemacht, dass der Geist des Glaubens die Atmosphäre bildet, unter der Personen die Entscheidung für oder gegen den Glauben fällen. Wenn der Geist Personen bildet, dann bildet er mit ihnen auch erst ihre Freiheit, um sich für oder gegen etwas zu entscheiden. Man kann sich daher überhaupt nur gegen den Glauben entscheiden, weil man von ihm zur Freiheit befreit worden ist. Personen treffen freie Entscheidungen nie vom grünen Tisch aus. Auch Glaubensentscheidungen werden nie neutral getroffen. Personen sind vielmehr immer schon durch einen oder mehrere Geister bestimmt.20 Wer sich für den Glauben entscheidet, trifft daher ebenso wenig eine neutrale Entscheidung wie derjenige, der sich gegen ihn entscheidet. Härles Position stimmt aber mit der hier vorgestellten insofern überein, als im Glauben selbst eine Unterscheidung vorgenommen werden muss, um beide Aspekte zusammenhalten zu können: Der Glaube ist ein Geschehen21, dem sich Menschen nicht widersetzen können. (Deswegen ist der Ausdruck zu schwach, dass sie den Glauben „geschehen lassen“ und alles unterlassen, was sich gegen das Widerfahrnis des Glaubens richten könnte.) Sie können allerdings dazu Stellung beziehen, wogegen sie sich nicht widersetzen können: Ebenso wie der untreue Mensch sich der Treue nicht widersetzen kann, sondern ihr nur im Handeln widerspricht, kann sich der Mensch gegen den Glauben entscheiden, dem er gleichwohl ausgesetzt ist. Unglaube ist also eine Art Realitätsverweigerung, die aber persönliche Realitäten setzt.
4.4 Ein guter Geist leitet gute Personen Sind jetzt Christen bessere Menschen? Der Spruch der Reformation: „Ein guter Baum trägt gute Früchte“ suggeriert das immerhin. Er suggeriert nicht nur, dass gläubige Christen in ihrem Wesen gut sind, sondern auch, dass sie gut handeln, und sogar, dass Christen gar nicht anders als gut handeln können. An dieser Stelle stößt aber der Spruch an seine Grenzen: Denn er be20 Das trifft übrigens auf alle Entscheidungen zu, wie die gegenwärtige Debatte über den unfreien Willen belegt, den die Hirnforschung angestoßen hat (zum Beispiel Tetens, Willensfreiheit als erlernte Selbstkommentierung, 180; Tent: Hat er oder hat er nicht, 223). 21 So auch Härle, Der Glaube, 70.
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Glaube und Werke: Sind Christen bessere Menschen?
schreibt Christen wie Bäume, die keine Entscheidungen treffen können, sondern eben einfach so sind, wie sie geschaffen worden sind. Personen dagegen können Stellung beziehen zu dem, wie sie geschaffen worden sind. Der Zusammenhang zwischen ihrem Wesen und ihren Handlungen ist kein „natürlicher“, sondern ein persönlicher. Oder genauer: Es ist ein geistvermittelter Zusammenhang. Denn Menschen werden Personen durch den Geist, in dem sie sich vorfinden. Aber – wie wir eben gesehen haben: Personen entscheiden auch nicht über ihre Taten aus einer neutralen Position heraus. Eine neutrale Position wäre vom Standpunkt des christlichen Glaubens nicht einmal eine gerechte Position. Ein Mensch, der völlig unparteiisch, völlig neutral sich entscheiden könnte, wie er sich verhalten soll, wäre nämlich in einer „geistlosen“ Position. Die „Gerechtigkeit allein aus Glauben“ ist dagegen eine Gerechtigkeit aus dem Geist, in dem man sich vorfindet. Personen beziehen also zwar Stellung zu den Situationen, in denen sie leben, und können freie Entscheidungen treffen. Aber sie lassen sich dabei von dem Geist leiten, in dem sie stehen. Freie Entscheidungen sind niemals „absolut“ frei, wie das die Vorstellung von der Neutralität nahe legt. Vielmehr sind sie rückgebunden an die Gerechtigkeit des Geistes. Wer im Horizont einer Treuebeziehung Entscheidungen treffen kann, wird vom Geist dieser Beziehung dazu geleitet, diese Beziehung zu schützen und zu pflegen. Man kann sich zwar auch anders entscheiden. Aber sich hier anders zu entscheiden, kostet Überwindung – und zwar mehr Überwindung, als wenn man in Achtung vor der Treuebeziehung handelt. Darin besteht der Wahrheitsgehalt des Spruchs vom guten Baum, der gute Früchte trägt: Es ist irgendwie „natürlich“, der Gerechtigkeit des Geistes zu entsprechen. Es ist aber nicht so natürlich wie ein natürliches Ursache-Wirkungs-Verhältnis. Sondern es ist natürlich in dem Sinn, wie der Geist folgerichtiges Verhalten vorgibt. Der Geist konstituiert Personen, die freie Entscheidungen treffen können. Aber der Geist leitet sie dabei so, dass es ihnen leichter fällt, frei auch die richtigen Entscheidungen zu treffen. Trotzdem können Personen auch falsche Entscheidungen treffen. Sie tun es zum Beispiel, weil sie sich über eine Situation täuschen. Sie handeln zwar in Achtung vor der Gerechtigkeit des Geistes, aber sie schätzen eine Situation falsch ein (zum Beispiel ihre Kräfte, die Folgen ihrer Handlung, aber auch die Hintergründe der Situation und den Kreis der Betroffenen). Das ist der Hauptgrund, warum auch „gute“ Menschen gelegentlich schlecht handeln. Deutlich seltener ist der Fall, dass man sich vorsätzlich gegen die Gerechtigkeit des Geistes entscheidet, in der man steht. Ein Ehemann wird in der Regel nicht deshalb untreu, weil er sich vorsätzlich dazu entscheidet, untreu zu sein. Vielmehr findet er sich plötzlich in einer Atmosphäre vor, die ihm die Untreue nahe legt, um etwa neue Beziehungen zu knüpfen und zu genießen. Nur in wenigen Fällen fühlen sich untreue Personen völlig gleichgültig oder sind sogar mit ihrem untreuen Verhalten vollkommen einverstanden. In der Regel empfinden sie, dass die Treue in ihrer Beziehung gerecht ist. Deshalb
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verdecken sie ihre Nebenbeziehungen und schämen sich, wenn sie entdeckt werden. Die Treue der Beziehung ist der Maßstab für weitere Kriterien der Gerechtigkeit, nicht das Verhalten von Menschen. Personen beziehen immer nur im Nachhinein Stellung zu dem Geist, in dem sie stehen. Und dabei können sie zwar schon vom Geist abweichen, auch bewusst und mit Willen. Aber wer sich zum Widerspruch überwindet, spürt, dass sich sein Widerstand gegen die Gerechtigkeit richtet. Einen guten Grund, von der Gerechtigkeit des Geistes abzuweichen, hat man nur, wenn man aus der Gerechtigkeit eines anderen Geistes heraus handelt. Wer also in einer anderen Treuebeziehung steht, die mit der ersten Treuebeziehung konkurriert, kann sich dann auch leichter von der ersten Treuebeziehung emanzipieren und dabei zugleich ein gutes Gewissen haben. Das trifft auch auf Christen zu. Deshalb spricht die Bibel (zum Beispiel Lk 7,21; 1Kor 12,10), die Tradition22 und die gegenwärtige Theologie23 immer auch vom Geist in der Mehrzahl: Personen sind Geistern ausgesetzt, einer Vielzahl konkurrierender Atmosphären, die gegensätzliche Ansprüche stellen. Deshalb kommt Personen die Aufgabe zu, Geister zu „prüfen“. Es ist klar, wie man Geister prüft: nämlich nach der „Treue“, die ihnen allen zugrunde liegt. Sie ist der „Geist der Geister“: Gerechtigkeit entfaltet sich als die Verbindlichkeit, die der Geist setzt. Nicht alle Geister entsprechen dieser Treue, wie wir oben schon gesehen haben: Manche Geister wollen Untreue entfalten oder aber suggerieren eine menschliche Neutralität oberhalb des Geistes – folglich eine Neutralität ohne Treue und eine Neutralität ohne Gerechtigkeit. Denn wie soll Gerechtigkeit ohne Treue verbindlich werden können? Deshalb lässt sich die Verbindlichkeit des „Geistes der Geister“ danach bemessen, dass Menschen ihre primäre Bindung an den Geist der Treue anerkennen und damit ihr Verhalten an der kommunikativen Anwesenheit ausrichten. Handlungen, die aus einem bestimmt Geist heraus den Abbruch von Kommunikation bezwecken, sind damit prima facie begründungsbedürftig und müssen vor allem daraufhin überprüft werden, ob sie auch in Abwesenheit Kommunikation erhalten oder nicht. Die Ausgangsfrage des Kapitels hieß: Sind Christen bessere Menschen? Jetzt sind wir soweit, um darauf eine Antwort zu geben: Ein guter Mensch ist jemand, der sich von der „Gerechtigkeit allein aus Treue“ leiten lässt. Die Gerechtigkeit allein aus Treue liegt allen Geistern zugrunde als deren Hintergrund, ohne den sie sich nicht entfalten könnten. Manche Geister missbrauchen eben diese Grundlage. Ein guter Mensch hingegen lässt sich von der Gerechtigkeit allein aus Treue leiten und prüft von dort aus die Geister, in denen er steht. Er wählt dabei die Geister aus, die der Gerechtigkeit allein aus Treue entsprechen und sie am besten zum Ausdruck bringen können. Auch 22 Luther, Vom unfreien Willen, 84. 23 Fischer, Leben aus dem Geist, 163; Härle, Dogmatik, 365; Körtner, Die Gemeinschaft des Heiligen Geistes, 12; Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, 448; Welker, Gottes Geist, 35.
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Glaube und Werke: Sind Christen bessere Menschen?
gute Menschen können falsche Entscheidungen treffen und im Handeln versagen. Aber solange sie sich von der Gerechtigkeit allein aus Treue leiten lassen, werden sie dabei keine schlechten Menschen. Deshalb vollzieht sich auch die Vergebung der Sünden „ohne des Gesetzes Werke, allein aus Treue.“24 Man darf von Christen erwarten, dass sie in diesem Sinn bessere Menschen sind. Man darf von ihnen erwarten, dass sie die Geister prüfen und sich an der Gerechtigkeit allein aus Treue orientieren. Man darf letztlich erwarten, dass es ihnen dadurch leichter fällt, gerecht zu sein, als ungerecht. An der Gerechtigkeit allein aus Treue entscheidet sich, ob jemand ein Christ ist oder nicht.
4.5 Ergebnis Es bedarf keiner übernatürlichen Erweckung, keines unvorhersehbaren Bekenntniserlebnisses, um zum Glauben zu kommen. Tatsächlich darf es theologisch-normativ mit dem Glauben so sein, wie es unserer Lebenserfahrung entspricht: Menschen lernen zu glauben. Sie lernen es in ihren Familien, in ihren Gemeinden; sie lernen es in bestimmten Regionen der Welt leichter als in anderen. Sie ahmen dabei Praktiken der Gläubigen nach, sprechen mit ihrer religiösen Sprache und orientieren sich an ihrer Gemeinschaft, wenn sie ihr Wertesystem aufbauen und wenn sich für ihr Verhalten ein Habitus entwickelt. Sie tragen auch eine Verantwortung für ihren Glauben, denn sie sind kein guter Baum, der automatisch gute Früchte hervorbringt. Sondern sie sind freie Personen, die sich zum Glauben verhalten können, in dem sie sich vorfinden. Die hier vorgestellte Interpretation der „Gerechtigkeit allein aus Treue“ löst etliche Probleme, mit denen die reformatorische Theologie seit jeher fertig werden muss: 1. Sie erklärt, warum es leichter ist, Christ zu werden, wenn man in einem christlichen Umfeld lebt. Es ist der Geist der Gemeinschaft, in der man sich vorfindet, der es einem leichter macht zu glauben als nicht zu glauben. 2. Sie erklärt aber auch, warum es keine „göttliche Fügung“ ist, in einem solchen Umfeld aufzuwachsen und warum alle übrigen Menschen „Pech“ haben – ein Pech, das sie geradewegs zur Verdammnis führen würde. Denn jeder Mensch lebt in einem Geist, dessen Grundlage die „Gerechtigkeit allein aus Treue“ ist. Hinter der Pluralität der Geister steht der eine Geist, der sie bestimmt. Man kann also hinter der Pluralität der Geister den Geist finden. Das fällt allerdings denjenigen Personen leichter, die angesichts der Pluralität der Geister gelernt haben, die Geister zu prüfen. Und es fällt denjenigen leichter, die dabei in konkreten Treuebeziehungen leben. 3. Sie erklärt außerdem, warum Gerechtigkeit aus Treue keine Gerechtigkeit 24 Das hat mit einer pauschalen Vergebung aller Sünden nichts zu tun.
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aus Werken ist und warum trotzdem Menschen verantwortlich sind für ihr Leben und Handeln. Sie erklärt aber auch, warum „gute Werke“ nichts Separates neben der Gerechtigkeit allein aus Treue sind. Man handelt eben aus dem Geist, in dem man steht. 4. Und sie erklärt schließlich, warum auch „gute Menschen“ unvollkommen sind und stets von der Gerechtigkeit allein aus Treue abhängig bleiben. Sie bleiben damit davon abhängig, allein aus Gnade zu leben. Das Ergebnis dieses Kapitels bereitet damit den Anfang für das nächste Kapitel vor: Die Gerechtigkeit allein aus Glauben wirkt sich vor allem aus in Treuebeziehungen, die sie bewusst zum Ausdruck bringen. Das trifft vor allem auf die Kirche zu. Die Gemeinschaft der Kirche lebt nicht einfach aus einem Geist, sondern orientiert ihren Geist am Prüfkriterium des „Geistes der Geister“. Es ist also ein Fehlschluss zu meinen, man könne als Christ auch ohne Kirche an Gott glauben. Dies ist ein Fehlschluss eines ungläubigen Geistes, eines Geistes der Untreue. Von diesem Geist haben wir oben gesagt, dass er ein widersprüchlicher Geist ist. Die Kirchenzugehörigkeit ist daher gerade aus ethischen Gründen zwingend für Christen. Damit ist aber nicht gesagt, dass in der Kirche das alleinige Heil liege. Und es ist nicht gesagt, dass die Kirche kritiklos zu akzeptieren ist. Diese These ist im Fortgang zu entfalten.
5. Man kann nur mit Kirche an Gott glauben Die Differenz zwischen Treue und Treu-Sein ist ekklesiologisch bedeutsam. Mit diesem Kapitel geht die Untersuchung über von der phänomenologischen Bestimmung des Geistes als Anwesenheitsphänomen, das den Primat der Treue vor dem Treu-Sein konstituiert, zu seiner sozialen Verortung in der christlichen Glaubensgemeinschaft. Bevor ich jedoch den pneumatologischen Argumentationsstrang im engeren Sinn wieder aufnehme und für die Ekklesiologie fruchtbar mache, halte ich eine Darstellung der Mitgliedschaftssituation der evangelischen Kirche für erforderlich. Wurde im vorhergehenden Kapitel die Treue als Kriterium der Gerechtigkeit entdeckt, die aus dem Geist kommt, so wird nun gefragt, wie sich die Treue in der Kirche faktisch niederschlägt. Bei dieser Frage ist die Auseinandersetzung mit soziologischen und praktisch-theologischen Einsichten erforderlich. Jedes Jahr tritt in Deutschland etwa ein halbes Prozent der Kirchenmitglieder aus der evangelischen Kirche aus. Zahlenmäßig kann ein beträchtlicher Anteil durch Übertritte, Wiedereintritte und Erwachsenentaufen wieder gewonnen werden.1 Kirchensoziologen attestieren der Evangelischen Kirche eine erstaunliche Stabilität. Im Gegensatz zu anderen großen Organisationen (Volksparteien, Gewerkschaften) oder Vereinen ist der Mitgliederverlust moderat. Die großen Volksparteien haben seit den 80er Jahren dramatisch Mitglieder verloren, die SPD fast die Hälfte ihrer Mitglieder. Die größte deutsche Einzelgewerkschaft ver.di hat zwischen 2001 und 2011 ein Viertel ihrer Mitglieder verloren.2 Deshalb erstaunt es Soziologen immer wieder, dass Menschen in der Kirche bleiben, für die sie in der Regel Kirchensteuer entrichten, ohne regelmäßige Angebote in Anspruch zu nehmen – zumal die meisten Angebote auch für Menschen offen stehen, die einer anderen oder gar keinen Religionsgemeinschaft zugehören. Und weil Kirchensoziologen dieser stabilen Situation nicht trauen, warnen sie die Kirche davor, dass bald sehr viel mehr Menschen sie verlassen, es sei denn sie reformiere sich endlich.3 Ganz so stabil ist die Situation nämlich doch nicht: Die Kirche verliert nämlich netto Mitglieder. Auch der Gesamtanteil der Christen an der Bevölkerung schrumpft: War Anfang der 80er Jahre der Anteil der Evangelischen in
1 Rat der EKD, Kirche der Freiheit, 17. Latzel, Mitgliedschaft in der Kirche, 18. 2 DIE ZEIT 38/2011, 33. 3 Pollack, Wandel im Stillstand, 75.
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der deutschen Gesamtbevölkerung der stärkste bei rund 44 Prozent4, so liegt er jetzt mit rund 30 Prozent knapp unter der Anzahl der Katholiken.5 Der Anteil der konfessionslosen Menschen ist in Deutschland etwa genauso hoch wie der Anteil einer Volkskirche.6 Diese Situation ist übrigens nicht zum ersten Mal über die Kirche hinweggegangen. Im 19. Jahrhundert war die Kirche von massiven Kirchenaustritten bedroht gewesen. Vor allem unter den Arbeitern verlor sie massiv an Rückhalt.7 Selbst die Theologie hat sich schon damals von der Kirche entfremdet. Allerdings waren es damals eher anmaßende Gebärden um Macht, die auch Theologen gegen die Kirche aufbrachten. Wilhelm Herrmann hat in der Wende zum 20. Jahrhundert darauf hingewiesen, „was in unserer Zeit der Kirche einen widersittlichen Charakter zu geben droht. Das ist das immer fester wurzelnde Bestreben des geistlichen Amtes, Gesetze für den Glauben aufzurichten.“8 Adolf Harnack hat in derselben Zeit in seinen berühmten Vorlesungen „Das Wesen des Christentums“ vor 600 Zuhörern gesagt: „In jedem Volke etabliert sich neben der befugten Obrigkeit eine unberufene, oder vielmehr zwei unberufene. Das ist die politische Kirche, und das sind die politischen Parteien. Die politische Kirche…will herrschen; sie will die Seelen und die Leiber, die Gewissen und die Güter. Dasselbe wollen die politischen Parteien, und indem ihre Führer sich zu Leitern des Volks aufwerfen, entwickeln sie einen Terrorismus.“9 Dagegen beruhen die gegenwärtigen Kirchenaustritte eher auf einer inneren Entfremdung von der Kirche, wie Jan Hermelink in einer großen Studie ausgemacht hat.10 So gut gemeint auch diese Einschätzung sein mag, unterschätzt sie ein anderes Motiv: Es sind vor allem „zahlende Mitglieder“, die aus der Kirche austreten. Wer innere Entfremdungsprozesse durchgemacht hat, aber keine Kirchensteuer entrichten muss, tritt auch nicht aus der Kirche aus. Des Weiteren sind es diesmal nicht die Arbeiter, sondern vor allem Menschen mit mittleren und hohen Einkommen, die primär aus der Kirche austreten. Hermelink hat natürlich eingeräumt, dass das Einsparen der Kirchensteuer das erste Motiv sei.11 Der gegenwärtige Konflikt mit der Kirche ist ein Konflikt um Geld, weniger um Macht wie etwa im 19. und anfänglichen 20. Jahrhundert. Die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung von 2003 hat zeigen können, dass dagegen die Wertunterschiede zwischen Kirchenmitgliedern und Kon4 http://fowid.de/fileadmin/datenarchiv/Kirchenmitglieder_Ev_Kath_Einwohner,%2019702003.pdf (Zugriff 23.12.2011). 5 Evangelische Kirche in Deutschland, Zahlen und Fakten zum kirchlichen Leben; o.O. 2011, 4; Kirche der Freiheit, 17. 6 Evangelische Kirche in Deutschland, Zahlen und Fakten zum kirchlichen Leben, ebd. 7 Hermelink, Kirchenaustritt: Bedingungen, Begründungen, Handlungsoptionen, 98. 8 Herrmann, Ethik, 174. 9 Harnack, Das Wesen des Christentums, 66. 10 Hermelink, Praktische Theologie der Kirchenmitgliedschaft, 289. 11 Hermelink, Praktische Theologie der Kirchenmitgliedschaft, 290.
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fessionslosen kaum auffallen. Selbst zwischen Kirchenmitgliedern und Ungetauften sind sie nur schwach ausgeprägt.12 Es ist sogar empirisch belegt, dass es kaum konkrete Konflikte mit der Gemeindepfarrerin oder mit dem Kirchenvorstand sind, die zum Kirchenaustritt führen.13 Hermelinks Hauptthese lautet, dass familiäre Bindungen über die Bindung zur Kirche entscheiden: Wer austritt, hat auch erlebt, dass die Eltern ein desinteressiertes Verhältnis zur Kirche gehabt haben.14 Ebenso umgekehrt: Wer (noch) nicht austritt, tut dies aus Rücksicht zu Verwandten.15 Man kann hier deutlich sagen, dass es familiäre Treuebeziehungen sind, die das Verhältnis zur Kirche bestimmen. Diese Vermutung wird von Eberhard Hauschild und anderen unterstrichen: Danach sind es vor allem Milieus mit häufig wechselnden oder schwachen familiären Bindungen, die auch in der Kirche am wenigsten beheimatet sind.16 Ausgetretene schätzen oft dieselben sozialen Ziele der Kirche ebenso hoch wie Kirchenmitglieder. Sie halten die Zwecke, wie Kirche ihr Geld ausgibt, für vernünftig17 – übrigens auch kulturelle Zwecke (Kirchenerhaltung, Kirchenmusik). Sie identifizieren sich nur nicht mit der Kirche, als dass sie diese Zwecke durch ihre Kirchenzugehörigkeit fördern wollten. Empirisch belegt ist, dass vor allem Milieus, „die gern das eigene Leben oder auch die Gesellschaft mitgestalten möchten“, lieber autonom und zielgerichtet entscheiden wollen, wofür ihr Geld eingesetzt werden soll.18 Deshalb lassen sie sich für ortsnahe Fördervereine oder Stiftungen leichter binden als für die Kirchenzugehörigkeit, bei der sie einen formellen und pauschalen Betrag abführen, von dem sie nicht wissen, wofür er genau eingesetzt wird.19 So verständlich das einerseits ist, so überraschend ist es andererseits auch: Denn es zeigen sich im Vergleich zu Kirchenmitgliedern eben keine großen signifikanten Unterschiede in der Bewertung dafür, wie Kirche ihr Geld ausgibt. Es gibt also in gewisser Weise eine einigermaßen „pauschale“ Zustimmung dafür, wie Kirche ihr Geld verwendet, aber eben unter Ausgetretenen keine Bereitschaft zur pauschalen Unterstützung kirchlichen Engagements. Bei allen Überschneidungen in den Wertesystemen zwischen Kirchenmitgliedern und Nichtmitgliedern bestehen allerdings durchaus Unterschiede in ethisch-praktischer Hinsicht. Es zeigt sich nämlich, dass der Einfluss des regelmäßigen Kirchgangs auf ein soziales und karitatives Engagement höher ist
12 Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland, Kirche, Horizont und Lebensrahmen, 41ff. 13 Hermelink, Praktische Theologie der Kirchenmitgliedschaft, 300. 14 Ebd. 15 Ebd., vgl. 303. 16 Schulz/Hauschildt/Kohler, Milieus praktisch, 67. 17 Hermelink, Das Bekennen der Mitglieder und das Bekenntnis der Kirche, 369. 18 Schulz/Hauschildt/Kohler, Milieus praktisch, 178. 19 Ebd.
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als andere Einflüsse.20 „Dass Religiosität positiv mit sozialem Engagement als Einstellung und Verhalten korreliert und dass diese Korrelation für die kirchliche Praxis stärker ist als für den religiösen Glauben, ist ein oft bestätigtes Ergebnis der international vergleichenden Umfragforschung.“21 Das Argument mancher Ausgetretener lässt sich also empirisch nicht halten, die behaupten, sie würden die Kirchensteuer nicht einsparen, sondern selber entscheiden, für welchen kulturell-karitativen Zweck sie das eingesparte Geld spenden. Dieser gute Vorsatz scheint mit der Zeit zu verblassen. Wie ist diese Situation theologisch zu bewerten? Mehrere Problemkreise greifen hier ineinander: Zum einen geht es um die Frage, welche Rolle die Kirchenmitgliedschaft für den christlichen Glauben spielt und spielen muss. Es ergab sich als Schlussfolgerung des vorherigen Kapitels, dass der Glaube unterstützender Gemeinschaften bedarf. Er entfaltet sich in Treuebeziehungen, die eine Gerechtigkeit allein aus Treue ausprägen. Der Kirchenaustritt ist damit zunächst eine Infragestellung dieser Gerechtigkeit, wenn er bedeutet, dass man Gemeinschaften des Glaubens nicht unterstützen will. Kann der Kirchenaustritt gegen diese Infragestellung etwas Gerechtes setzen? Es ist auffällig, dass theologisch-kirchliche Verlautbarungen die ethische Dimension des Kirchenaustritts unterschätzen oder sogar tabuisieren. Im EKD-Impulspapier „Kirche der Freiheit“ von 2006 werden Ausgetretene stattdessen rein strategisch als Adressaten für ein missionarisches Kirchenkonzept gesehen: Weil die meisten Konfessionslosen in Deutschland kirchlich sozialisiert worden sind, besteht dem Impulspapier zufolge die Hoffnung, sie für die Kirche wiedergewinnen zu können. Es hält die hohe Zahl der evangelisch getauften Nichtmitglieder für „ein gewaltiges Potenzial für eine besondere missionarische Initiative.“22 Diese Hoffnung setzt aber voraus, dass es immer noch eine geistliche Nähe zwischen Kirche und ihnen gibt. Dazu müsste man aber unterstellen, dass sich diese Nähe auch im ethischen Verhalten auswirkt. Zwar zeigt sich eine solche Nähe in den Wertesystemen. Aber die Distanz wird größer, sobald es um das konkrete Handeln geht. Gerade wer sich an der Gerechtigkeit allein aus Treue orientiert, kann diese Differenz nicht ignorieren. Stattdessen aber werden seitens der Theologie selbst ethische Verurteilungen des Kirchenaustritts weitgehend als moralische Totschlagargumente gebrandmarkt.23 Die Theologie adressiert moralische Appelle eher an die
20 Meulemann, Identität, Werte und Kollektivorientierung, 202f. So etwa ist auch erklärlich, warum die Hälfte aller ehrenamtlich engagierten Menschen in Deutschland im Umfeld der Kirche organisiert sind (Kirche der Freiheit, 67). 21 Meulemann, Identität, 194. 22 Kirche der Freiheit, 17. 23 Hoof, Der Kirchenaustritt. Eine empirische Studie zur Pastoraltheologie, Neukirchen-Vluyn 1999, 276f.
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Kirche als an die Ausgetretenen.24 Anstelle der ethischen Argumentation schlägt man eher Kreativität25 und aktive Mitgliederwerbung26 vor. Finanziell zu fördernde Projekte sollten eher „gefallen, statt danach zu fragen, wie die Verkündigung am besten geschehen kann oder wer unsere Zuwendung wirklich braucht.“27 Hier zeigt sich ein neues praktisch-theologisches Misstrauen gegen die moralische Argumentationskraft der Kirchenmitgliedschaft. Dieses Misstrauen müsste dabei voraussetzen, dass der Geist der Kirche sich der Gerechtigkeit allein aus Treue widersetzt. In diesem Kapitel möchte ich untersuchen, ob das der Fall ist. Die Frage, ob der Kirchenaustritt eine Ethik hat, kann also gar nicht umgangen werden, wenn man ihn theologisch bewerten will. Mit dem Kirchenaustritt ist nicht nur die wirtschaftliche oder gesellschaftspolitische Stabilität der Institution Kirche bedroht, sondern vor allem die ethische Frage danach, wo die Gerechtigkeit allein aus Treue ihren lebendigen Ausdruck findet. Wenn das nicht in der Kirche sein soll, muss es andere Treuebeziehungen geben, die aus Glaubensgründen aktiv unterstützt werden. In diese Frage spielt der zweite Problemkreis hinein, nämlich die Frage nach dem Verhältnis von Kirchenzugehörigkeit und formellen Verpflichtungen. Darf die Kirche ihre Mitglieder zu formellen Kirchensteuerzahlungen zwingen? Oder widerspricht das bereits der Gerechtigkeit allein aus Treue? Wird hier etwa eine „Werkgerechtigkeit“ eingeführt, eine Art Ablasshandel sogar, der die Geldzahlung zur Bedingung für den kirchlichen Segen erhebt? In diesen Problemkreis gehört die Frage, wie der Geist des Glaubens sich zu formellen Organisationsformen verhält und verhalten darf. Was darf die Kirche sein? Und was darf sie besitzen? Welche Güter kommen ihr zu? Welche Güter kann sie weitergeben? Und welche Güter muss sie schließlich loslassen? Zuletzt geht es auch um die Frage der Ökumene: Wie steht der Geist der Kirche zum Geist anderer kirchlicher Konfessionen? Wer katholisch ist, hat gegenüber der evangelischen Kirche keine formellen Verpflichtungen: Ein Katholik muss keine Kirchensteuer an die evangelische Kirche zahlen. Gibt es dafür theologische Gründe? Ist er davon aus theologischen Gründen entbunden, weil er katholisch ist? Entspricht es also der Gerechtigkeit allein aus Treue, dass sich Christen der kirchlichen Gemeinschaft einer anderen Konfession entziehen? Und wäre diese Distanz von einer Konfession anders zu interpretieren als der Kirchenaustritt? Immerhin besteht nach deutschem Recht die Verpflichtung, dass eine steuerpflichtige Person für ihren nicht steuerpflichtigen Ehegatten ihre eigene Kirchensteuer splitten muss: Danach erhält die evangelische Kirche von einem Katholiken die Hälfte seiner Kir24 Hermelink, Praktische Theologie der Kirchenmitgliedschaft, 302; Hoof, Der Kirchenaustritt, 287, 290. 25 Schulz/Hauschildt/Kohler, Milieus praktisch, 217. 26 Kirche der Freiheit, 41. 27 Schulz/Hauschildt/Kohler, Milieus praktisch, 178.
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chensteuer, nur weil seine Ehefrau evangelisch ist, aber kein eigenes Einkommen hat. Die katholische Kirche bekommt also in diesem Einzelfall einen erheblichen Teil „ihrer“ Kirchensteuer vorenthalten und bekäme ihn erst dann voll, wenn die Ehefrau ein eigenes Einkommen hat. (Das geht übrigens so weit, dass die evangelische Kirche einen finanziellen Schaden erleiden kann, sobald der Katholik aus der katholischen Kirche austritt. Das Kirchgeld, das der Steuerzahler stattdessen für seine evangelische Ehefrau entrichten muss, kann deutlich niedriger sein als der Anteil, den er an die evangelische Kirche abführen musste, als er noch katholisch war.) Hier scheint sich eine gewisse formelle Verpflichtung zwischen den Mitgliedern verschiedener Kirchen zu den anderen Konfessionen im Steuerrecht niederzuschlagen. Diese formelle Regelung ist theologisch zu reflektieren.
5.1 Gerechtigkeit allein aus Treue in der Kirche und in anderen Gemeinschaften Wir haben gesehen, dass die Familie einen entscheidenden Faktor für die Kirchenmitgliedschaft darstellt. Im Umkehrschluss kehren Singles und Geschiedene der Kirche eher den Rücken als die Angehörigen einer Kleinfamilie, aber eben auch die Familienangehörigen kirchlich schwach sozialisierter Eltern und Großeltern. Was bedeutet dieser Zusammenhang von Familie und Kirche theologisch? Könnte es sein, dass empirisch die Stabilität der Kirche also von der Stabilität der Familie abhängt? Offenbar finden Menschen „Gerechtigkeit allein aus Treue“ nicht zuerst in der Kirche, sondern in ihrer Familie. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Familie die stabilere Institution ist: Jedenfalls „treten“ weit mehr Menschen „aus der Ehe aus“ als aus der evangelischen Kirche. Während 2009 rund 180 000 Ehen pro Jahr geschieden wurden28, von denen also 360 000 Ehepartner betroffen gewesen sind, sind im selben Zeitraum knapp 150 000 Menschen aus der evangelischen Kirche ausgetreten.29 Selbst wenn man die Austritte desselben Zeitraums aus der katholischen Kirche hinzuzählt, ergibt sich eine niedrigere Summe von rund 280 000.30 Die Ehe ist also keine stabilere Institution als die Kirche. Dennoch scheinen die sozialwissenschaftlichen Erhebungen zu bestätigen, dass Menschen „Gerechtigkeit allein aus Treue“ zuerst in der Familie erfahren. Die Familie ist der Ort, an dem Menschen zuerst erfahren, dass man sich von 28 http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Presse/pm/2011 /01/ PD11__028__12631,templateId=renderPrint.psml (Zugriff 23.12.2011). 29 http://www.kirchenaustritt.de/statistik/ (Zugriff 23.12.2011). Zu älteren Zahlen s. Latzel, Mitgliedschaft in der Kirche, 18; Hermelink, Kirchenaustritt, 97. 30 Ebd.
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einem „gerechten Geist“ leiten lässt, dass „gute Werke“ immer nur zweitrangig sind und dass Vergebung die Gerechtigkeit erhält. Die Gerechtigkeit, die Menschen in der Familie erfahren, kann daher in den Augen vieler Familien die Kirche überflüssig machen. Wo dagegen Familien die Kirchenzugehörigkeit sichern, wird der Geist der Kirche im Geist der Familie stehen. Das heißt: So oder so untersteht der Geist der Kirche dem Geist der Familie. Weil die Kirche zur Familie passt, gehört man noch zur Kirche. Es ist nicht umgekehrt, dass die Familie zur Kirche passt. Damit aber ist der primäre Ort, an dem Gerechtigkeit allein aus Treue erfahren wird, die Familie. Und weil das so ist, können Menschen auch den Eindruck gewinnen, sie bedürften der Kirche nicht weiter. Welchen Mehrwert kann die Kirche da noch haben? Wenn diese Vermutung stimmt, dass Menschen die Gerechtigkeit allein aus Treue zuerst in der Familie erfahren, dann besteht also zwischen den konfessionslosen Familien und den kirchennahen Familien kein wesentlicher Unterschied. Trotzdem gehört bei den einen die Kirche mit zur eigenen Identität dazu und bei den anderen nicht. Das erscheint willkürlich, weshalb eine Familie schnell von der einen Gruppe zur anderen wechseln könnte. Dazu kommt es aber interessanterweise nicht. 80 Prozent der evangelischen Mitglieder erklären, dass für sie ein Kirchenaustritt mehr oder weniger nicht in Frage kommt.31 Der Geist der Kirche muss offenbar doch noch etwas anderes erfahren lassen. Aber was?
5.1.1 „Warum die Kirche sei“ Die Reformation hat die Kirche allein für eine Versammlung der Gläubigen gehalten. So lautet Artikel 7 des evangelischen Bekenntnisses auf dem Reichstag von Augsburg 1530 (die sogenannte Confessio Augustana): „Es wird auch gelehret, daß alle Zeit musse eine heilige christliche Kirche sein und bleiben, welche ist die Versammlung aller Glaubigen, bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakrament laut des Evangelii gereicht werden“ (CA 7). In dieser Formulierung sind mehrere Beobachtungen wichtig: 1. Die Kirche ist keine „Heilsanstalt“ mehr. Während die Kirche nach katholischem Verständnis dazu da ist, das Heil Gottes zu spenden, ist nach evangelischem Verständnis die Kirche der Ort, Glauben zu empfangen (CA 5). 2. Sie ist „Versammlung aller Glaubigen“ und hat damit zunächst nichts anderes zu bieten als andere Gemeinschaften, die sich an der Gerechtigkeit allein aus Glauben orientieren. Wir hatten im vorherigen Kapitel „Glauben“ als „Treue“ verstanden und dabei festgestellt, dass Treue immer 31 Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland, Kirche, Horizont und Lebensrahmen, 14.
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wirksam ist, wenn überhaupt verbindliche Beziehungen bestehen. Treue ist damit auch in anderen Gemeinschaften wirksam, auch wenn sie nicht in allen Gemeinschaften respektiert wird. 3. Kirche ist dennoch notwendig. „Alle Zeit musse eine heilige christliche Kirche sein“, und zwar offenbar nur, um das Evangelium rein zu predigen. Die Kirche ist also der Ort, an dem die Gerechtigkeit allein aus Glauben bewusst gemacht wird. In der Kirche orientiert sich eine Gemeinschaft an der „Gerechtigkeit allein aus Treue“, weil sie „Gerechtigkeit allein aus Treue“ ist. Die Gemeinschaft orientiert sich also am Geist, weil er Geist ist. Es gibt keinen anderen Grund, warum diese Gemeinschaft besteht. Was heißt das konkret? Es heißt, dass sich hier die Priorität der Treuebeziehungen umkehrt. Wir entwickeln eine Treuebeziehungen zu anderen Menschen in der Kirche, nicht weil sie uns sympathisch sind oder wir gemeinsame Ideale vertreten. Sondern wir tun es, weil Treue uns verbindet, auch wenn wir uns unsympathisch sind und uns manchmal über sehr unterschiedliche Auffassungen in der Kirche wundern. Die Treue hat Priorität vor dem Treu-Sein. Wir entkommen der Treue nicht, wenn wir untreu werden. Unser untreues Verhalten wird nämlich nach der Treue beurteilt, die uns verbindet. In der Kirche orientieren sich Menschen daher an der Treue und wollen ihr im Leben und Verhalten entsprechen. Das heißt: Sie wollen auch treu sein. Das heißt aber auch, dass sie sich an einem treuen Verhalten erkennbar machen lassen wollen. Zumindest wollen sie in ihrem Verhalten der Treue nicht erkennbar widersprechen. Natürlich können sie faktisch der Treue im Verhalten widersprechen, sonst macht die Unterscheidung von Treue und Treu-Sein keinen Sinn. Aber Christen werden ihren Versuch, auch treu zu sein, zumindest nicht vor anderen unterdrücken. Ich drücke das absichtlich so abgeschwächt aus, weil es manchmal Christen peinlich ist, in Restaurants zu beten oder über ihren Glauben zu reden. Aber auch dann werden sie zumindest nicht ihren Glauben vor anderen unterdrücken oder ihm mutwillig zuwiderhandeln. Wer sich nicht traut, öffentlich zu beten, wird umgekehrt auch keine blasphemischen Äußerungen von sich geben. Weil also Christen sich einerseits an ihrem Verhalten erkennbar machen lassen, aber nicht immer auch erkennbar sind, müssen wir eine wichtige Unterscheidung einbeziehen, nämlich die Unterscheidung von praktischem Wollen und tatsächlichem Verhalten. Christen lassen sich bereitwillig von anderen in ihrer Orientierung an der Treue entdecken. Aber sie verhalten sich nicht immer treu. Weil das so ist, müssen Christen untereinander ebenfalls unterscheiden zwischen dem, was man im faktischen Verhalten bei anderen Christen erkennt, und der wechselseitigen Anerkennung, dass sie Christen sind. Man erkennt sich als Christ an, und zwar auch dann, wenn man im tatsächlichen Verhalten mancher Mitchristen zweifelhafte Äußerungen erkennt. Die Kirche ist die Gemeinschaft von Menschen, die sich zuallererst gegenseitig darin
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anerkennen, dass ihr Leben und Verhalten der Treue nachzieht, die ihre Beziehung zueinander prägt. Sie achten sich gegenseitig in ihrem Bemühen, im Verhalten der Treue zu entsprechen, die sie orientiert. Die Kirche ist dagegen nicht zuerst auch eine Gemeinschaft von Menschen, die der Treue auch wirklich in jeder Hinsicht treu sind. Nur dann, wenn ein Mensch bewusst und willentlich der Treue widersprechen will, kann man ihn nicht mehr als Christen anerkennen. Ob und wie man solche Menschen erkennt, müssen wir später klären. Die Vorordnung der Anerkennung vor der Erkenntnis entspricht der reformatorischen Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche. Schon Luther hat darauf Wert gelegt, dass man nicht an der sichtbar verfassten Kirche selbst schon ablesen kann, wer zur wahren Kirche gehört. Es könnten ja auch Ungläubige zur Kirche gehören. Außerdem ist eben die sichtbar verfasste Kirche nicht selbst eine Heilsanstalt, die über die Seligkeit selbst verfügt und sie entsprechend durch sichtbare Rituale frei verteilen könnte. „Dan was man gleubt, das ist nit leyplich noch sichtlich: die eußerlich Romische kirche sehen wir alle, drum mag sie nit sein die rechte kirche.“32 Dennoch ist die unsichtbare Kirche nicht losgelöst von der sichtbaren zu betrachten. Es gibt keine unsichtbare Kirche unabhängig von der sichtbar verfassten.33 Luther hält sinnfällige „Zeichen“ für nötig34, um die Kirche zu erkennen und in ihr zu leben. Bis heute ist die evangelische Theologie Luther darin gefolgt, dass die “wahrhafte“ unsichtbare Kirche nicht an der sichtbaren Kirche vorbei existiert. Vielmehr sind die unsichtbare und die sichtbare Kirche aufeinander angewiesen.35 Deutlich schreibt Hermann Deuser: „Ohne unsichtbare Kirche keine sichtbare – aber die unsichtbare steht als institutionell handhabbares Muster nicht zur Verfügung.“36 Dieses Zitat ist aufschlussreich: Man entkommt nämlich als Christ nicht der Aufgabe, die Gemeinschaft auch sinnfällig zu verankern, auch wenn die Kirche zunächst nur im Glauben zugänglich ist. Denn die geglaubte Kirche ist nicht selbst eine Institution, der man beitreten könnte. Wenn man aber die Treue nicht sinnfällig zum Ausdruck bringen will, die man im Glauben an eine verborgene Kirche anerkennt, widerspricht man im Verhalten diesem Glauben. Man widerspricht mutwillig dieser Treue, indem man sich selbst untreu verhält. Deshalb kann man im Glauben auch nicht der Aufgabe entkommen, die institutionelle Ebene der Kirche anzuerkennen und sie mitzugestalten. Der häufig angeführte Satz von Ausgetretenen, man könne doch auch ohne Kirche an Gott glauben37, ist daher ein Wider-
32 Luther, Werke; WA VI, 300f. 33 Luther, Werke; WA VI, 297. 34 „Signum necessarium est, quod et habemus, Baptisma scilicet, panem et omnium potissimum Euangelium“ (Luther, Werke; WA VII, 720). 35 Härle, Dogmatik, 572f; Joest, Dogmatik II, 546; Jüngel, Credere in ecclesiam, 183. 36 Deuser, Kleine Einführung in die Systematische Theologie, 166f. 37 Dieser Satz hat unter Ausgetretenen, die über die Motive ihres Kirchenaustritts befragt worden
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spruch. Man macht es sich zu leicht, weil man Treue anerkennt, ohne selbst sich erkennen lassen zu wollen, auch treu zu sein. Das wäre nur dann anders, wenn es auch außerhalb der Kirche Treuebeziehungen gäbe, die die Treue um der Treue willen ausdrücken. Es bedarf also neben der Ebene der Anerkennung einer unsichtbaren Kirche auch der Ebene der erkennbaren Kirche. Der umgekehrte Fehler besteht darin, dass man der erkennbaren, sichtbaren Kirche höhere Priorität gibt als der unsichtbaren geglaubten. Insofern sind alle Versuche als problematisch anzusehen, in denen Christen von anderen Christen durch ihr faktisches Verhalten als „ungläubig“ stigmatisiert werden. Es mag sein, dass Kirchenmitglieder in ihrem erkennbaren Verhalten der Treue widersprechen. Aber damit allein kann ihnen noch nicht die Anerkennung entzogen werden, als Christen zu leben und sich als solche erkennbar machen zu lassen. Man findet solche inquisitorischen Äußerungen gegen Christen inzwischen weniger in der römisch-katholischen Kirche, sondern vor allem in Kreisen des erweckten Christentums: Homosexuelle, Geschiedene und Yoga-Schüler werden als Ungläubige stilisiert ebenso wie manche Pfarrer. Es ist klar, dass derartige Aussagen immer aufs Ganze gehen: Sobald die Anerkennung des Christseins verweigert wird, wird auch die sichtbare Kirchengemeinschaft bedroht. Auch darin zeigt sich, wie eng verzahnt unsichtbare und sichtbare Kirche sind, die Anerkennung und die Erkenntnis. Nicht die homosexuellen Christen destabilisieren das theologische Fundament der Kirche, auch nicht die Christen, die in ihren Ehen scheitern, und schließlich auch nicht die Pfarrer, die für den Glauben andere Worte wählen als die der Tradition. Das Glaubensproblem haben vielmehr diejenigen, die ihnen allen deshalb schon die Anerkennung versagen, Christen zu sein. Mit solchem Misstrauen wird der verborgenen Kirche nicht geglaubt. Und ohne die Anerkennung anderer Christen, dass sie sich an der Treue Gottes mit einem treuen Verhalten identifizieren lassen wollen, fehlt dann auch die sichtbare Kirche. Christen, die gegen andere Christen misstrauisch sind, machen sich dabei selbst in ihrem Christsein unerkennbar. Sie scheitern an ihrem eigenen Anspruch, die Erkenntnis der Anerkennung vorzuordnen.
5.1.2 Treue um der Treue willen in der Familie? Gilt das auch von Familien, dass sie sich allein am Geist orientieren, weil er Geist ist? Kann die Familie also die Kirche institutionell ergänzen? Oder darf sie schließlich die Kirche sogar institutionell ersetzen? Dazu müsste die Familie folgende Bedingungen erfüllen:
sind, die zweithöchste Zustimmung (Hermelink, Praktische Theologie der Kirchenmitgliedschaft, 293).
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1. Gerechtigkeit allein aus Treue: Die Familiengemeinschaft wird gelebt, weil die Treue höhere Priorität hat als die Sympathie. 2. Vorordnung der Anerkennung: Die Anerkennung der übrigen Familienmitglieder hat höhere Priorität als die Tatsache, wie viel Engagement für die Familie man bei den übrigen Familienmitgliedern erkennt. 3. Die Familie erkennt alle Gemeinschaften an, die ebenfalls diese Kriterien erfüllen wollen. Denn es kommt ihr ja nicht primär auf Sympathie an, sondern auf den Geist der Treue. Also steht sie auch in Gemeinschaft zu Gemeinschaften, die sich ebenfalls an der Gerechtigkeit aus Treue orientieren. Gerade der erste Punkt klingt heute ungewohnt. In Zeiten der „Liebesheirat“ wird ausdrücklich umgekehrt eine Vorordnung der Sympathie vor der Treue gesucht: Man heiratet nur noch in Ausnahmefällen aus strategischen Gründen. Die „standesgemäße“ Verheiratung ist zwar weltweit gesehen immer noch die übliche Form der Familiengründung. Die Treue zu gewachsenen familiären und gesellschaftlichen Strukturen hat dort höhere Priorität als die Sympathie unter den Familienmitgliedern. Aber diese Situation halten wir zumindest unter westlichen Gesellschaften für rückständig und unfrei. Zwar lässt sich humanwissenschaftlich zeigen, dass auch in unseren Gesellschaften die Verheiratung unter gleichen Milieus vorherrscht.38 (Die Ingenieurstochter wird nur in größten Ausnahmen den Zeitarbeiter mit Migrationshintergrund heiraten. Das wird auch dann der Fall sein, wenn sich beide sympathisch sind und sogar eine Zeit lang eine Beziehung miteinander hatten.39) Also bestehen auch bei uns Barrieren. Aber dennoch halten wir eine Eheschließung aus Sympathie für richtig und schützenswert. Vor allem muss eine Ehe aus Freiheit geschlossen werden und nicht aus Achtung gegenüber einer Treue, der wir nur im Verhalten nachziehen könnten. Aber schon nachdem die Ehe geschlossen worden ist, gibt es sehr vielfältigen Umgang mit der gegründeten Familie. Manche Familien zerbrechen schnell, sobald die Sympathie in eine Krise gerät. Andere Familien aber halten dauerhaft, sogar wenn die Liebe in familiären Terror umschlägt. Vor allem im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern scheint die Treue die Sympathie zu bestimmen und nicht umgekehrt. Eltern von kriminellen Kindern halten ihnen in der Regel dennoch die Treue, obwohl sie sich im Wertesystem fundamental unterscheiden. Umgekehrt pflegen Kinder oft ihre alt gewordenen Eltern auch dann, wenn sie selbst unter ihnen gelitten haben. Hier spürt man eine deutliche Vorordnung der Treue: Treue ist wichtiger als die Gegensätze in den Anschauungen. Treue kann sogar tief verwurzelte Kränkungen und Antipathie aushalten. Es scheint dasselbe Phänomen in Familien vorherrschen zu 38 Illouz, Warum Liebe weh tut, 112. 39 Ich bediene absichtlich ein ärgerliches Klischee, um hervorzuheben, dass eben soziale Barrieren gerade auch in unseren Gesellschaften einer „freien“ Familiengründung aus Liebe entgegenstehen.
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können, mit dem Dietrich Bonhoeffer die Kirche beschrieben hat: „Gegensätze bleiben, sie verschärfen sich sogar; jeder ist ja veranlaßt, in der Gemeinschaft seine individuelle Erkenntnis auf die Spitze zu treiben.“40 Damit kann aber auch die Anerkennung vor der Erkenntnis stehen. Die Familie wird dann zuallererst „geglaubt“; es wird sogar in aller Verborgenheit an ihr festgehalten, obwohl Außenstehende in Einzelfall am Erscheinungsbild einer Familie zweifeln. Ebenso wie also theologisch zwischen der unsichtbaren und sichtbaren Kirche unterschieden wird und damit ein Vorrang der Anerkennung vor der Erkenntnis eingeräumt wird, zeigt sich bei Familien oft dieselbe Einstellung. Es verwundert vor diesem Hintergrund nicht, dass die theologische Ethik die Ehe und Familie auf ihren kirchlichen Sinn bezogen hat. Auch wenn der Ausdruck „Schöpfungsordnung“ missverständlich ist, soll er das hervorheben: Der theologische Zweck der Familie liegt primär in ihrer Ausrichtung auf das Evangelium der Gerechtigkeit allein aus Glauben. Die Familie wird in direktem Zusammenhang mit der Gemeinschaft des Glaubens gesehen.41 Die Familie enthält dieselben Prioritäten wie die Kirche. Und darin liegt ihre Heiligkeit. Nun ist allerdings die Familie in eine Krise geraten, in der sich diese Vorordnungen umkehren. Der Vorrang der Sympathie vor der Treue kann einerseits als Errungenschaft der menschlichen Selbstbestimmung gewertet werden. Sie kann zugleich auch als Symptom für die Krise der Ehe betrachtet werden.42 Es ist nicht mehr selbstverständlich, dass Eheleute oder Familienmitglieder die Bindungskräfte der Familie akzeptieren, in denen sie sich zunächst vorfinden. Sobald Selbstbestimmung die Familie prägt, kann sich Emanzipation auch gegen die Familie selbst richten.43 Auch im Verhältnis zwischen Eltern und ihren Kindern besteht inzwischen eine Art „Wahlrecht“: Es wird auch in der Öffentlichkeit Familienmitgliedern zugestanden zu entscheiden, ob und wie viel Verantwortung sie für ihre Familienmitglieder übernehmen wollen. Familienmitglieder bleiben oder werden ihrer Familie gegenüber ein selbstständiges Gegenüber, das gleichsam ein zeitlich befristetes strategisches Bündnis in der Familie eingeht, das es aber auch je nach Situation wieder lösen kann. Der Treue entkommt man dadurch freilich auch hier nicht, denn sie hängt nicht davon ab, ob man selbst treu ist oder untreu wird. Aber wie man die Treue bemisst, verändert sich. Ehe und Familie machen daher eine ähnliche Krise durch wie die Kirche, und zwar aus ähnlichen Gründen: Die Gerechtigkeit allein aus Treue wird in Frage gestellt. Ihr Vorrang wird angezweifelt. An die Stelle wird Sympathie und
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Bonhoeffer, Sanctorum Communio, 129. Zum Beispiel Herrmann, 180–191; K. Barth, KD III,4, 222; Bonhoeffer, Ethik, 392–412. Luhmann, Liebe als Passion, 323; Illouz, Warum Liebe weh tut, 161 u.ö. Illouz, Warum Liebe weh tut, 254, 419.
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der persönliche Nutzen gestellt.44 Anstelle der Anerkennung der „verborgenen“ Gemeinschaft stehen nun das „sichtbare“ Glück und die individuelle Zufriedenheit.45 Es ist soziologisch belegt, dass dieses auf rationalen Prozeduren beruhende Glücksversprechen die Wahl und Bindung an einen Partner erschwert.46 Somit dürfte die Familie als Nachfolgerin der Kirche kaum in Frage kommen. Nicht die Familie als Institution kann die Erwartung einlösen, anstelle der Kirche eine Gerechtigkeit allein aus Treue erlebbar zu machen. Nur konkret gelebte familiäre Beziehungen werden sich willentlich daran orientieren. Dass die Familie als Institution die Kirche nicht ersetzen kann, liegt aber vor allem an der dritten Bedingung, die sie dazu zu erfüllen hätte: Eine Gemeinschaft, die sich am Geist der Treue orientiert, weil er Geist der Treue ist, steht in einer unverbrüchlichen Einheit mit anderen Gemeinschaften derselben Orientierung. Oder anders gesagt: Die christliche Familie lebt immer schon in der Kirche. Sie existiert nicht für sich, weil sie sich nicht von anderen Gemeinschaften durch Sympathie abgrenzt, sondern sich in ihrem Geist von anderen Gemeinschaften unterscheidet. Es ist aber derselbe Geist, den eine christliche Familie lebt und den sie in der Kirche vorfindet. Also kann sie sich nicht vor der Kirche verschließen, ebenso wenig wie sie den Geist anderer Familien für etwas völlig anderes halten kann. Eine Familie dagegen, die sich aus der Kirche ausschließt, kann ihren Geist nicht beerben. Der kirchliche Geist kann daher nur von solchen Gemeinschaften fortgesetzt werden, die sich nicht bewusst und willentlich von der Kirche abgrenzen. Familien können den kirchlichen Geist also ergänzen, aber nicht ersetzen. Es gibt aber auch theologisch neue Chancen durch die Befreiung vom strengen familiären Bund. Etliche Familien engagieren sich als Pflegefamilien und nehmen Kinder in ihre Gemeinschaft auf, die in ihren Ursprungsfamilien psychisch oder physisch schwer gefährdet wären. Die Motivation, Pflegeeltern zu werden, scheint sich dabei an der Gerechtigkeit aus Treue zu orientieren: Ein Kind wird aufgenommen, weil es seinem Wohl dienen soll, in einer Familie aufzuwachsen. Diese Entscheidung zu einer lebenslangen Verantwortungsbeziehung beruht gerade auf einer Vorordnung der Treue vor der Sympathie. Das Kind wird nicht aufgenommen, weil es den Eltern gefällt (so entscheiden allenfalls Eltern über eine Adoption von Heimkindern aus Entwicklungsländern). Vielmehr wird es aufgenommen, weil es der Treue widersprechen würde, es nicht zu tun. Pflegeeltern bewerben sich nicht für die Elternschaft eines Kindes, das sie sich ausgesucht haben, sondern entscheiden sich allgemein dazu, diese Verantwortung zu übernehmen, und werden dann konkret angefragt. Hier ist die Vorordnung der Treue vor Sympathie ebenso offensichtlich wie die Vorordnung der Anerkennung vor der Erkenntnis. 44 Illouz, Warum Liebe weh tut, 329. 45 Illouz, Warum Liebe weh tut, 327. 46 Illouz, Warum Liebe weh tut, 406f.
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Natürlich sind Pflegeeltern nicht automatisch Christen. Das hängt vielmehr davon ab, ob und wie sie Kirche erlebt haben, welche „sichtbare“ Gestalt sie an Kirche erfahren haben. Es hängt aber auch davon ab, ob sie die Prioritätensetzung, die sie in ihrer Familie setzen, auch außerhalb ihrer Familie zugestehen. Achten sie die Vorordnung der verborgenen Gemeinschaft vor der sichtbaren Gestalt auch außerhalb ihrer Familie? Mir scheint allerdings, dass Pflegeeltern sich bewusst für eine Treuebeziehung allein aus Treue entscheiden und daher auch aufgeschlossen sein dürften für die kirchliche Gemeinschaft. Von ihnen könnte sich umgekehrt die Kirche auch erinnern lassen, welche Prioritätensetzungen die kirchliche Gemeinschaft konstituieren.
5.1.3 Gerechtigkeit der Institutionen und Organisationen Auch andere Gemeinschaften wandeln sich inzwischen zu Wahlgemeinschaften. Selbst das Volk, das einst durch die gemeinsame kollektive Geschichte und den gemeinsamen Grund und Boden charakterisiert war, lässt heute zumindest Beitritte und sogar Austritte zu. In dem flexibleren Umgang mit der Staatsbürgerschaft sehen Rechtsphilosophen eine folgerichtige Entwicklung zur Durchsetzung des Rechts: Jürgen Habermas etwa sieht ohnehin die Legitimität des Rechts in der gegenseitigen Verpflichtung moralischer Normen durch Personen, die miteinander interagieren.47 Das Volk ist für Habermas nicht einfach da, aber es wird auch nicht einfach durch die Verfassung ersetzt. Vielmehr bildet sich das Volk souverän durch die wechselseitige Bindung an gemeinsame Werte und Normen: Anstelle eines natürlichen Volkes stellt Habermas die Volkssouveränität.48 Eine politische Gemeinschaft fängt dabei zwar nie bei Null an, aber ihre Identität gewinnt sie doch nicht aus ihrer konkreten Geschichte, sondern aus der wechselseitigen Zustimmung aller Staatsbürger, die zu ihr gehören wollen. Habermas normative Perspektive bewertet politische Gemeinschaften nicht nach ihrem Status quo, sondern nach ihrer moralischen Geltungskraft. Habermas ist davon überzeugt, dass sich auch empirisch der Status quo einer Gemeinschaft letztlich der moralischen Geltungskraft verdankt. Selbst Staatsbürger, die ihr Verständnis von Volk aus einer Art Großfamilie ableiten, müssen einsehen, dass sie ihre Position gegenüber allen rechtfertigen müssen, die zur Gemeinschaft gehören wollen. Und gerade dadurch widersprechen sie sich, ihren Volksbegriff auf die Zugehörigkeit qua Geburt einzuschränken. Der Volksbegriff muss daher durch den Begriff der Volkssouveränität bestimmt werden. Das Volk wird näher durch die politische Zustimmung gebildet und nicht dadurch, dass man im selben territorialen Gebiet oder von Eltern geboren wurde, die dem Volk bereits zugehört haben. 47 Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur, 26. 48 Habermas, Faktizität und Geltung, 365.
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Die Idee der Volkssouveränität betont allerdings die Freiwilligkeit unter allen Staatsbürgern. Die Zustimmung zur gemeinsamen Zugehörigkeit konstituiert das Volk. Bei der Gerechtigkeit allein aus Treue ist das anders. Dort ist die Treue primär. Die Zustimmung zur Treue fehlt zwar nicht, zieht ihr aber nur nach. Wir können hier schon sehen, dass das Volk die Kirche nur dann ablösen könnte, wenn es sich analog zur Familie verhält. Nur dann könnte eine Gerechtigkeit allein aus Treue Priorität haben gegenüber einer Gerechtigkeit, die aus Freiwilligkeit besteht. Dass moderne Staaten eine Gerechtigkeit allein aus Treue nicht erfüllen, liegt dabei nicht so sehr daran, dass man dort die Staatsbürgerschaft erwerben kann. Viel bedeutsamer ist, dass man sie auch freiwillig abgeben kann und unter bestimmten Bedingungen auch abgeben muss. Das Verhältnis der Staatsbürger zu ihrem Volk wird dadurch flexibler und pragmatischer. Ebenso wie man aus der Kirche austreten kann, kann man auch die Staatsangehörigkeit wechseln. Dadurch erodiert das Volk als eine Gemeinschaft, die durch Treue konstituiert wird. Zunehmend wird Volk konstituiert durch Freiwilligkeit, Vorlieben und pragmatische Interessen. Das gilt sowohl für diejenigen, die sich einbürgern lassen, als auch für den Staat, der je nach politisch-partikulären Interessen der jeweiligen Regierung sogar für die Einbürgerung wirbt. Interessant ist, dass die lutherische Ethik das Volk ebenso wie die Familie den Schöpfungsordnungen zugerechnet hat. Und auch hier bekommt es sein Ziel durch eine christliche Bestimmung: die Volkskirche. Unter dem veränderten politischen Selbstverständnis der Staatsbürger muss jedoch auch der Begriff der Volkskirche neu interpretiert oder ganz aufgegeben werden. Ebenso wie „Volk“ nun ein Begriff mit einer geschmeidigen Bedeutung wird, gilt das vom Begriff der Volkskirche. Dazu gehört etwa auch die Frage, ob eine Minderheitenkirche noch Volkskirche sein kann.49 Sobald das Volk eine Freiwilligengemeinschaft ist, bedeutet auch Volkskirche etwas anderes. Es wird dann schwierig darzustellen, dass die freiwillige Zuordnung zur Gemeinschaft der Treue nur nachzieht, die sich in der Gemeinschaft immer schon findet.50 Einen Einwand möchte ich an dieser Stelle gegen meine bisherige Einschätzung diskutieren. Könnte man nicht sagen, dass gerade durch die modernen Veränderungen des Staatsbürgerrechts das Volk „unsichtbar“ wird und damit der Volksbegriff nur aufrecht erhalten werden kann, wenn man der Anerkennung eine Priorität vor der Erkenntnis gibt? Damit wird das Volk mit denselben Begriffen interpretiert wie die Kirche. Was Volk bedeutet, wird nämlich immer unklarer, sobald Menschen mit Migrationshintergrund alle öffentlichen Rollen eines Volkes übernehmen können. Vom Nationalspieler 49 Beintker, „Kirche spielen – Kirche sein“, 254; Körtner, Die Gemeinschaft des Heiligen Geistes, 39. 50 Darin könnte aber auch eine Chance liegen. So könnte sich Kirche als globale ökumenische Gemeinschaft verstehen, die territoriale Prinzipien verlässt.
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bis zur Ministerin können grundsätzlich alle öffentlichen Rollen von Menschen übernommen werden, die keine angeborene Staatszugehörigkeit haben. Das Volk scheint dann durch eine Identifikationskraft geleitet zu werden, die aus dem Verborgenen heraus die gemeinsame Identität hervorbringt. Zum Ausdruck kommt diese Verborgenheit daher in symbolischen Vollzügen, etwa im Tragen des deutschen Nationaltrikots. Genauso leitet die „verborgene“ Kirche die kirchlichen Handlungsvollzüge an (die Versammlung der Gläubigen in Gottesdienst und Sakramenten). Darauf möchte ich antworten, dass im Gegensatz zur Kirche die Zugehörigkeit zum Volk zuerst durch Erkenntnis klar geregelt wird anstatt durch Anerkennung. Wer die Staatsbürgerschaft erwerben will, muss Einbürgerungstests bestehen. Im Gegensatz dazu reicht für die Kirche der bloße Wille aus, zur Kirche zu gehören, um getauft zu werden51 oder nach einem Kirchenaustritt wieder zur Kirche zurückzukehren. Wer die Kirche anerkennt, indem er selbst zu ihr gehören will, wird damit selbst bereits als Teil der Kirche anerkannt. Hier ist die Vorordnung der Anerkennung vor der Erkenntnis deutlich zu erkennen. Sie wird auch nicht dadurch zurückgenommen, dass die Kirche als politische Institution an die Mitgliedschaft bestimmte Auflagen stellt. Denn diese Auflagen erfüllen allein den Zweck, die Vorordnung der Anerkennung vor der Erkenntnis zu sichern.52 Es gibt dagegen in diesem Sinn kein „unsichtbares Volk“ hinter dem sichtbaren. Im Gegenteil: Das sichtbare Volk prägt die Idee vom Volk. Wer dazugehört, definiert mit, was das Volk ist. Das ist ein deutlicher Gegensatz zur Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche. Nun hatten wir im vorherigen Kapitel entdeckt, dass Beziehungen grundsätzlich eine Treue konstituieren, an die man auch dann noch gebunden ist, wenn man untreu wird. Und es ist genau diese Treue, die dem Nationaltrikot Prägekraft gibt. Aber das heißt nicht, dass der eingebürgerte Nationalspieler das Trikot trägt, weil er dieser Treue folgt. Vielmehr entscheidet zunehmend der persönliche Vorteil über die Staatsangehörigkeit oder die staatlichen Erwartungen an den Bewerber. Diese Erwartungen sind an sichtbare Vorgaben gekoppelt. Umgekehrt unterstreichen zwar Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen, dass es eines der höchsten Motive der Kirchenzugehörigkeit ist, persönliche Vorsorge zu leisten, um an biografischen Schwellensituationen kirchliche Amtshandlungen in Anspruch nehmen zu können. Die Kirchenzugehörigkeit sortiert sich also ebenfalls weitgehend nach persönlichen Vorteilen.53 Aber die Kirche wird nicht durch solche Beitritte konstituiert. Die Beitritte folgen 51 Dem widerspricht leider die gelegentliche pfarramtliche Praxis, religionsmündige Menschen erst nach einem katechetischen Unterricht zu taufen. Ein solcher Unterricht sollte nicht zur Bedingung für die Aufnahme erhoben werden, sondern kann allenfalls ein freiwilliges Angebot sein. 52 S. dazu Sektion 5.3. 53 Kirche, Horizont und Lebensrahmen, 15; vgl. Hermelink, Praktische Theologie der Kirchenmitgliedschaft, 261.
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vielmehr der vorgängigen Treue nach. Und auch der Missbrauch der Kirchenzugehörigkeit ordnet sich der vorgängigen Treue unter. Wer sich aus pragmatischen Gründen zur Kirchenzugehörigkeit entscheidet, wird dennoch von der Gemeinde der Gläubigen als Christ anerkannt. Dass die offensichtlichen Motive zur Kirchenmitgliedschaft in persönlichen Vorteilen liegen, schließt also die Anerkennung nicht aus, Christ zu sein. Diese Möglichkeit reicht schon aus, um jemanden als Christen anzuerkennen. Umgekehrt reicht es nicht aus, jemandem die deutsche Staatsangehörigkeit zu verleihen, weil man nicht ausschließt, er könne Deutscher sein. In der Kirche dagegen wird die Priorität der Treue vor dem Treu-Sein gewahrt – ebenso wie der Vorrang der Anerkennung vor der Erkenntnis beziehungsweise der Vorrang der unsichtbaren vor der sichtbaren Kirche.
5.2 Gibt es Christen ohne Kirchenmitgliedschaft? Die Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche hat ihren traditionellen Sinn darin, dass nicht entschieden werden soll, wer innerhalb der sichtbaren Kirche zu den „wirklich Gläubigen“ gehört. Zwar wird durch diese Unterscheidung die Möglichkeit zugrunde gelegt, dass nicht alle Kirchenmitglieder freiwillig der Treue nachfolgen, die in der Kirche wirkt. Das ist eine direkte Konsequenz aus der reformatorischen Einsicht, dass die Kirche keine Heilsinstitution ist. Die Kirchenmitgliedschaft allein garantiert nicht das persönliche Heil. Zugleich wird aber durch die Unterscheidung sichtbar/unsichtbar die Möglichkeit ausgeschlossen, dass der Kreis der Gläubigen eindeutig erkennbar sei. Dietrich Bonhoeffer hat darauf wiederholt hingewiesen, dass sich das reformatorische Kirchenverständnis dadurch der Frage enthält, wer wirklich zur Kirche gehört.54 Innerhalb der Kirche gilt daher: Weil nicht erkennbar ist, wer „wahrer Christ“ ist, ist jedes Kirchenmitglied als Christ anzuerkennen. Wie ist es aber mit Menschen außerhalb der Kirche, die von sich sagen, sie glauben an Gott? Gunter Wenz hält ein Christentum außerhalb der Kirche für eine unbezweifelbare Tatsache, die er allerdings nicht näher begründet.55 Gegen diese scheinbare Selbstverständlichkeit spricht, dass die Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche für den Fall nicht vorgesehen war, dass jemand nicht zur Kirche gehört, aber sich Christ nennt. Die reformatorische Tradition trägt vielmehr mit der Unterscheidung sichtbar/unsichtbar zum inneren Frieden in der Kirche bei. Sie dient der Treue der Kirche, indem sie weder Gewissensprüfungen durchführt noch inquisitorische Maßnahmen ergreift, um die wahren Christen erkennen zu wollen. Gerade so 54 Bonhoeffer, Zur Frage nach der Kirchengemeinschaft, 655. 55 Wenz, Kirche, 41.
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respektiert diese Unterscheidung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche den Vorrang der Treue vor dem Treu-Sein. Kirche wird durch die Anwesenheit der Treue gewirkt. Sie ist damit ein Werk des Heiligen Geistes und kein Menschenwerk. Wenn das so ist, dann geschieht die Unterscheidung sichtbar/ unsichtbar gerade aus Respekt vor dem Vorrang der Treue vor dem Treu-Sein. Die Frage nach dem Heil außerhalb der Kirche wurde dagegen in der Tradition nicht beim Thema „Kirche“ verhandelt, sondern beim Thema Gnade und Erwählung Gottes. Die lutherische Orthodoxie räumt dabei die Möglichkeit einer via extraordinaria ein. Dazu schenkt Gott den Erwählten außerhalb der Kirche Glauben, den sie unter normalen Umständen gar nicht hätten.56 Oder er begnadigt sie, sogar ohne dass sie dabei zum Glauben kommen.57 Bei dieser Möglichkeit wird aber die besondere Wirkkraft Gottes anerkannt, nicht dagegen die Anerkennung anderer Menschen außerhalb der Kirche als Christen oder Gläubige vollzogen. Die Unterscheidung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche ist aber in der Tradition nicht dazu verwendet worden, um das Verhältnis zu Menschen außerhalb der Kirche zu bestimmen, die ein Glaubensbekenntnis abgeben. Eignet sie sich aber heute dazu? Das Problem wird dadurch verstärkt, dass es sich beim Kirchenaustritt um einen Austritt von Getauften handelt. Da die Taufe einen character indelebilis besitzt, hat der Kirchenaustritt theologisch eine schwächere Konsequenz als die Annullierung einer Taufe hätte. Warum die Unterscheidung sichtbar/unsichtbar dennoch hier schlecht passt, hat folgenden Grund: Die Priorität zwischen Anerkennung und Erkenntnis wird nach einem Kirchenaustritt umgekehrt. Wer keiner Kirche angehört, aber sich als Christ versteht, möchte sein (sichtbares) Bekenntnis als hinreichenden Grund verstanden wissen, nicht nur als Christ anerkannt zu werden, sondern auch zur unsichtbaren Kirche zu gehören. Denn da er keiner sichtbaren Kirche angehört, kann es nur die unsichtbare Kirche sein, der er sich zugehörig fühlt. Anstelle der fremden Treue, der das eigene Verhalten nachzieht, wird der Glaube (das Treu-Sein) als „Ausweis“ der wahren Christlichkeit erklärt. Deutlicher ist es noch mit der Taufe: Aufgrund ihres character indelebilis wird ein sichtbares Zeichen zum Garanten der Zugehörigkeit zur „unsichtbaren“ Kirche erklärt. Der Anspruch von Menschen, die aus der Kirche ausgetreten sind, aber sich als Christen verstehen, ist also ein Erkenntnisanspruch: Weil man sichtbare Gründe aufweisen kann, beansprucht man, darin anerkannt zu werden, zur unsichtbaren Kirche zu gehören. Mit diesen Argumenten verdreht man die logische Ordnung von Erkenntnis und Anerkennung: Obwohl man sichtbar nicht zur Kirche gehört, verweist man auf sichtbare Eindrücke, aber nun nicht, um dadurch doch zur sichtbaren Kirche zu gehören, sondern zur unsichtbaren. Es zeigt sich also, dass die Unterscheidung zwischen sichtbarer
56 Dannhauer, zitiert nach Hirsch, Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik, 348. 57 Ott, Antwort des Glaubens, 334.
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und unsichtbarer Kirche ihren Sinn verliert, sobald sie sich auf Menschen außerhalb der Kirche richtet. Wie ist es umgekehrt, wenn die Kirche Menschen kirchliche Amtshandlungen deshalb verweigert, weil sie nicht (mehr) evangelisch sind? Wird hier nicht auch die Erkenntnis an sichtbar nachprüfbare Sachverhalte zur Grundlage für die Aberkennung der Kirchengemeinschaft genommen? Wird hier also auch die Unterscheidung sichtbar/unsichtbar ins Gegenteil verkehrt? Folgende Alternative ist denkbar: 1. Entweder ist die Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche auf die sichtbare Kirche beschränkt. Dass Anerkennung vor Erkenntnis geht, ist nur relativ richtig: Denn diese Priorität der Anerkennung ist wiederum an die schlichte Erkenntnis rückgebunden, dass man zur sichtbaren Kirche gehört. 2. Oder es widerspricht der Gerechtigkeit aus Treue, wenn kirchlich ungebundenen Menschen die Anerkennung vorenthalten wird, zur Gemeinschaft zu gehören, die sich an der „Gerechtigkeit aus Treue“ orientieren will. Noch einmal: Es geht bei dieser Frage nicht darum, die Formel Cyprians „extra ecclesiam nulla salus“ aufrecht zu erhalten. Es geht nur darum zu entscheiden, ob die Unterscheidung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche hilft, das Verhältnis der Christen zu kirchlich ungebundenen Menschen zu verstehen, die ein Glaubensbekenntnis abgeben oder getauft sind. Dass Gott eine „via extraordinaria“ offen steht, um sogar Ungläubige zu erretten, ist von dieser Frage unabhängig. Untersuchen wir beide Optionen: Die erste Option hat für sich, dass hier die sichtbare Kirche mit der unsichtbaren Kirche untrennbar verbunden bleibt. Beide können nur dann ungetrennt bleiben, wenn die sichtbare Kirche den Anlass für die Unterscheidung bildet. Wäre die unsichtbare Kirche der Anlass dazu, dann müsste es auch keine sichtbare Kirche geben. Und gäbe es keine sichtbare Kirche, dann kann auch niemand „sichtbar“ als Christ anerkannt werden. Ohne erkennbare Gestalt hätte auch die Anerkennung keinen präzisen Inhalt. Was „Glaube“ bedeutet, wäre somit der Beliebigkeit von jedermann anheimgestellt. Das Zauberwort zur Anerkennung hieße „Glaube“, aber da jeder etwas anderes darunter verstehen könnte, wäre der Glaube letztlich zwar ein rein sichtbares, aber inhaltsleeres Etikett, um Anerkennung zu verdienen. Dieser Glaube würde nicht in einem sachlichen Zusammenhang zur Treue stehen, aus der die Kirche besteht. Letztlich wäre auch unklar, was denn eigentlich anerkannt wird und im Hinblick worauf sich alle „Gläubigen“ anerkennen. Nun erfüllen ja manche kirchlich Ungebundene wirklich eine sichtbare Vorbedingung. Sie behaupten ja, an Gott zu glauben. Allerdings offenbaren sie gerade damit, dass sie den Begriff des Glaubens beliebig einsetzen. Sie geben diesem Begriff keine sichtbare Gestalt im Hinblick auf Treuebeziehungen, die
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der „Gerechtigkeit allein aus Treue“ nachziehen (denn genau das ist Kirchenmitgliedschaft). Das liegt nicht daran, dass sie ein defizitäres Verantwortungsgefühl gegenüber ihren Nächsten haben müssen. Es muss auch nicht daran liegen, dass sie die Christen nicht aus eigener Sicht anerkennen würden, die einer Kirche angehören – was sie sehr wohl tun, wie Hermelink herausgestellt hat.58 Es liegt vielmehr daran, dass sie die sichtbaren Bedingungen missachten, die eine verfasste Kirche und damit auch die wechselseitige Anerkennung der Christen braucht. Ihre Anerkennung wird nicht sinnfällig außer über den zirkulären Hinweis, dass sie eben glauben. Dieses „Bekenntnis“ bekommt den Charakter eines unbeschriebenen Freifahrtscheins, der nichts bedeutet, aber alles ermöglichen soll. Die theologische Priorität der unsichtbaren vor der sichtbaren Kirche ist danach daran gebunden, dass es eine sichtbare Kirche überhaupt gibt. Das legt nahe, diese Unterscheidung auch nur auf die Mitglieder der sichtbaren Kirche zu beschränken. Ich sage: „Das legt nahe“, denn es ist kein logischer Zwang. Denkbar ist nämlich auch, dass sich die unsichtbare Kirche sekundär durchaus auf kirchlich ungebundene Menschen erstreckt, aber nur weil es eine sichtbare Kirche gibt. Das würde bedeuten: Erst weil es eine sichtbare Kirche gibt, kann man dann auch Christen außerhalb der Kirche erwarten. Dietrich Bonhoeffer hat diesen Gedanken entwickelt, den man einen inklusivistischen nennen kann: Weil es eine Kirche gibt, können auch Menschen an ihrem Wesen partizipieren, die nicht zu ihr gehören. Bonhoeffer sprach hier von einem „unbewussten Christentum“59, das etwa auch bei Menschen der „mündig gewordenen Welt“60 vorkommen könne. In anderer Weise kann man das katholische Kirchenverständnis inklusivistisch nennen61: „Die eine Wahrheit, die die Kirche zu verkündigen hat, schließt die in den Religionen zum Ausdruck kommenden Wahrheiten als ihre eigenen niederen Stufen ein.“62 Entsprechend heißt es im Beschlusstext des 2. Vatikanischen Konzils: „Das Heilige Konzil mahnt die Gläubigen, ihre Leichtfertigkeit wie auch jeden unklugen Eifer zu meiden, die dem wahren Fortschritt der Einheit nur schaden können. Ihre ökumenische Betätigung muss ganz und gar katholisch sein.“63 Was außerhalb der Kirche an Wahrheit erkannt wird, wird auch von der Kirche anerkannt, allerdings nur als „Strahl der Wahrheit“64. Seine Strahlkraft bemisst sich wiederum am Wahrheits- und Heilsverständnis der Kirche. Es ist nicht erstaunlich, dass der katholische Vordenker des Zweiten Vatikanischen Konzils, Karl Rahner, Bonhoeffers Ausdruck vom „unbewuss-
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Hermelink, Praktische Theologie der Kirchenmitgliedschaft, 294f. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 545. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 504. Stoevesandt, Wehrlose Wahrheit, 210. Ebd. Dekret „Unitatis redintegratio“ 24. Dekret „Nostre aetate“ 2.
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ten Christentum“ abgewandelt hat und von einem „anonymen Christentum“65 gesprochen hat. Diese Denkart ist konsequent inklusivistisch. Die Kirche schließt Menschen außerhalb ihrer sichtbaren Grenzen zu einer zweiten Gemeinschaft ein, die keine sichtbaren scharfen Grenzen hat. Aber diese zweite Gemeinschaft kann sich überhaupt nur bilden, weil es die sichtbare Kirche gibt. Hier funktionieren die Begriffe sichtbare und unsichtbare Kirche wieder. Aber sie funktionieren hier nur zur internen Verständigung der Christen innerhalb der Kirche, die ihr Verhältnis zu Menschen außerhalb der Kirche bestimmen wollen. Und sie funktionieren nur, weil die Kirche sich selbst zum Maßstab des Verstehens setzt: Die Menschen außerhalb der Kirche sind eben unbewusste Christen; sie sind anonyme Christen. Sie verdanken damit ihren Status der sichtbar verfassten Kirche, die den Maßstab dafür setzt, was unter Christsein zu verstehen ist. Das zeigt, dass die Unterscheidung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche an die sichtbare Kirche gebunden bleibt. Sie beschreibt vor allem das Verhältnis der Christen innerhalb der Kirche. Auf Menschen außerhalb der Kirche lässt sie sich nur insofern anwenden, als sie der internen Vergewisserung der Christen innerhalb der sichtbar verfassten Kirche dient. Damit bleibt diese Unterscheidung auch an die sichtbare Kirche geknüpft. Und wer sie anwendet, setzt die sichtbare Kirche als Kontext der Unterscheidung voraus. Widerspruchsfrei ist das nur möglich, wenn man die Kirche als maßgebenden Ort des Glaubens anerkennt. Wer das nicht tut, aber sich zugleich zur „wahren“ (nämlich unsichtbaren) Christenheit hinzurechnet, begeht einen sogenannten „performativen Widerspruch“. Die Diskursethik hat mit dem Aufweis performativer Widersprüche gezeigt, dass jeder Mensch, der ernsthaft argumentiert, damit auch anerkennen muss, dass er seine Argumente jedem möglichen Gesprächspartner schuldet. Argumentieren heißt also Anerkennung, und zwar universale Anerkennung jedes möglichen Gesprächspartners. Beim performativen Widerspruch weist man dagegen eine Position zurück und zugleich ihre Gegenposition und gibt damit jegliche ernsthafte Positionalität auf. Der performative Widerspruch von Ausgetretenen, die sich aber zur „eigentlichen“ Christenheit noch zurechnen wollen, besteht in einem entsprechenden Problem der Nichtanerkennung. Sie erkennen nicht an, was sie zugleich anerkennen. Sie erkennen einerseits an, dass die sichtbare Kirche den Maßstab der Unterscheidung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche setzt, indem sie sich auf diese Unterscheidung selbst beziehen. Aber sie schließen sich selbst aus der sichtbar verfassten Kirche aus. Denn sie erkennen sie nicht als Gemeinschaft der Treue an, der sie durch ihr Treu-Sein entsprechen, indem sie Mitglied bleiben. Damit geben sie schließlich ihre Positionalität auf. Wer aus der Kirche austritt und zugleich in ihr verbleibt, befindet 65 Rahner, Schriften zur Theologie Bd. VI, 545–554.
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sich in einem praktischen Widerspruch, der keine Fakten schafft und schließlich nichts bedeutet. Weil der Kirchenaustritt aber zumindest rechtlich wirksam ist, stellt sich der Widerspruch als praktisches Selbstmissverständnis heraus: Die ausgetretene Person erkennt nicht nur nicht die sichtbar verfasste Kirche an. Sie erkennt auch sich selbst nicht als Christin an, weil sie sich dazu auf die sichtbar verfasste Anerkennungsgemeinschaft der Kirche beziehen müsste.
5.3 Amtshandlungen für Nichtchristen? Ich komme zurück zur Frage, ob die Kirche Amtshandlungen von Menschen verweigern darf, die außerhalb der Kirche stehen, aber sich als Christen bezeichnen. Dieses Problem ist keineswegs nur eine kirchenpolitische oder seelsorgerische Frage, sondern gehört in die systematische Theologie. Denn mit ihr ist der Wahrheitsgehalt kirchlicher Amtshandlungen verbunden, den zu überprüfen Aufgabe der Ekklesiologie ist. Was verrät eine kirchliche Amtshandlungspraxis über das kirchliche Selbstverständnis und über die Bindung an den Treuecharakter des Heiligen Geistes? Die vorliegende Sektion konkretisiert daher ein praktisches Problem, allerdings mit einem dezidiert ekklesiologischen Erkenntnisinteresse. Wenn ich dabei von „Seelsorge“ spreche, so beziehe ich mich dabei allgemein auf die kommunikative Begegnung kirchlicher Amtsträger mit anderen Menschen unter Beachtung des kirchlichen Geistes der Treue, der diese Begegnung prägt. Amtshandlungen zu verweigern ist gerechtfertigt, wenn dabei das Verhältnis unsichtbar/sichtbar geschützt wird. Geschützt wird die sichtbare Kirchengemeinschaft, damit sich aus ihr eine Vorordnung der Anerkennung vor der Erkenntnis herausbilden kann. Vergleichen wir diesen Fall nochmals mit dem umgekehrten Fall, dass sich Ausgetretene als Christen einer unsichtbaren Kirche verstehen und hierfür ihren „sichtbaren“ Glauben zugrunde legen. Hier soll die Zugehörigkeit zur unsichtbaren Kirche zu einer sichtbaren Zugehörigkeit umgemünzt werden; die Anerkennung soll der Erkenntnis weichen. Im Fall, dass sich die Kirche in ihrer Amtspraxis von solchen Menschen abgrenzt, wird dagegen nicht über deren Zugehörigkeit zur unsichtbaren Kirche geurteilt. In dieser Frage kann sich die Amtskirche enthalten. Es geht ihr nur um den Schutz des Vorrangs, dass die Kirche durch Anerkennung unter den Christen geprägt ist, und nicht durch Erkenntnis. Dazu schützen solche Entscheidungen die sichtbare Kirche. Es überrascht daher, dass Anfragen, ein Kind zu taufen, wenn beide Eltern nicht der Kirche angehören, in der Amtskirche zunehmend positiv aufgenommen werden.66 Eine „offene Kirche“ zu sein, scheint so sehr ins Selbst66 Hermelink, Praktische Theologie der Kirchenmitgliedschaft, 296f; Hoof, Der Kirchenaustritt, 300.
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verständnis von Pfarrern und Theologinnen eingegangen zu sein, dass der Zusammenhang von sichtbarer und unsichtbarer Kirche gefährdet ist. Amtshandlungen in solchen Fällen zu verweigern, wird als „Disziplinierungsmaßnahmen“ gebrandmarkt, für die es angeblich „keine theologisch überzeugenden Gründe“67 gebe. Anstelle einer konfliktscheuen unbegrenzten Offenheit sollte dagegen eine seelsorgerisch orientierte Unterstützung stehen, um den performativen Widerspruch aufzulösen, in dem solche Menschen stecken. Noch einmal: Performative Widersprüche sind praktische Blockaden. Sie zu beseitigen, gehört in den Bereich der Seelsorge, aber nicht in eine Kirchenpolitik unbegrenzter Offenheit, bei der die sichtbare Kirche unsichtbar und mit ihr die unsichtbare Kirche gehaltlos wird. Bis hierher habe ich diskutiert, ob Kirche in solchen Fällen Amtshandlungen verweigern darf. Ich habe aber damit noch nicht entschieden, ob es Ausnahmen gibt, in denen Amtshandlungen zugelassen werden dürfen. Die Kirchenordnungen der evangelischen Landeskirchen sehen solche Ausnahmen vor und überlassen sie der seelsorgerischen Einschätzung der jeweiligen Pfarrerin. Ausdrücklich befürworten die geltenden kirchlichen Ordnungen entsprechende Amtshandlungen, wenn der Wille zu einem Kircheneintritt bei der betroffenen Person zum Ausdruck gekommen ist, auch wenn es (bisher) Umstände gegeben hat, weshalb er bisher aufgeschoben worden ist. Tatsächlich bedeutet die Willenserklärung zum Wiedereintritt, dass die Treue der Kirchengemeinschaft anerkannt wird und man selbst bereit ist, die Vorordnung der Anerkennung des Christseins vor der Erkenntnis gelten zu lassen. Daher ist hier die Ausführung einer Amtshandlung nahe zu legen. Welche anderen „seelsorgerischen“ Gründe könnten aber darüber hinaus vorliegen? Ich diskutiere hier noch nicht den Fall, dass Menschen christlich gerechtfertigte Gründe zum Kirchenaustritt haben. Denn wer die Kirche als Institution der Gerechtigkeit allein aus Treue nicht mehr anerkennen kann, wird auch keine Amtshandlungen von ihr anfragen. (Dies wäre wieder ein performativer Widerspruch, der seelsorgerisch aufzuarbeiten wäre.) Mir geht es um den Fall, dass Menschen kirchliche Amtshandlungen wünschen, ohne Mitglied der Kirche zu sein. In welchen „seelsorgerisch“ ratsamen Ausnahmefällen dürfen diese Amtshandlungen ausgeführt werden? Allgemein gesagt: Überall da, wo die Vorordnung der Anerkennung vor der Erkenntnis gewahrt bleibt. Dies betrifft etwa Amtshandlungen, die sich nicht unmittelbar auf die wechselseitige Anerkennung beziehen müssen, oder solche, bei denen die Verweigerung der Amtshandlung die wechselseitige Anerkennung behindern würde. Zum zweiten Fall gehören etwa Trauerfeiern von Nicht-Christen, wenn die Angehörigen Christen sind und eine rituelle Begleitung wünschen.68 Hier eine Trauerfeier zu verweigern, könnte bei den 67 Hoof, Der Kirchenaustritt ebd. 68 Der Wille des Verstorbenen ist dabei zu beachten, aber nicht ausschlaggebend. (Ohly, Sterbehilfe, 139–144).
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Angehörigen den Eindruck hinterlassen, es gebe für ihre Situation keine Gerechtigkeit allein aus Treue. Zum ersten Fall gehören Trauerfeiern, wenn auch die Angehörigen keine Kirchenmitglieder sind, aber eine kirchliche Trauerfeier wünschen. Es mag zwar Fälle geben, in denen man die Trauerfeier nur deshalb wünscht, weil sie preisgünstiger ist als die Bestattung durch einen freien Prediger. Dann fehlt die Anerkennung der Kirche als Institution der Gerechtigkeit allein aus Treue. Aber diese Anerkennung kann die Kirche ohnehin nicht bei Menschen voraussetzen, die keiner Kirche angehören. Entscheidend ist nach einem Todesfall nicht die Anerkennung der Kirche durch die Angehörigen. Die Anerkennung ist hier ohnehin nicht vordringliches Thema. Vielmehr geht es um kirchliches Handeln unter Voraussetzung der Vorordnung der Anerkennung der Christen innerhalb der Kirche. Die Kirche ist geprägt durch die Vorordnung der wechselseitigen Anerkennung der Christen zueinander. Und die Kirche bringt genauso die Gerechtigkeit allein aus Treue sichtbar zum Ausdruck. Deshalb ist sie dann auch fähig, über ihre Grenzen hinaus zu handeln. Die wechselseitige Anerkennung der Christen innerhalb der Kirche befähigt also gerade die Kirche, auch dort zu handeln, wo ihr diese Anerkennung verweigert wird. Umgekehrt aber, Wenn Kirche über ihre Grenzen hinaus handelt, ohne an die wechselseitige Anerkennung innerhalb ihrer Grenzen angebunden zu bleiben, wäre ihr Handeln kein kirchliches Handeln mehr. Es wäre ein rein individuelles Handeln, das nicht einmal als christliches Handeln anerkannt wäre. Dietrich Bonhoeffer hat deshalb die kirchliche Bestattung von NichtChristen als einen Akt der Barmherzigkeit gewürdigt.69 Ansonsten hat sich Bonhoeffer eher restriktiv zu Amtshandlungen geäußert und auch die Kindertaufe in Fällen kritisiert, in denen zu vermuten ist, dass das Kind nur dieses einzige Mal mit der Kirche in Berührung kommt oder wo die Wiederholung des Glaubens an die ein für allemal vollbrachte Heilstat Christi nicht gewährleistet werden kann.70 Bonhoeffers restriktive Haltung bei der Kindertaufe wird klar verständlich durch die Vorordnung der Anerkennung in der Kirche vor der Erkenntnis. Bei der Taufe geht es wesentlich um die Anerkennung der Christen, sich in ihrem Verhalten an der Gerechtigkeit allein aus Treue zu orientieren. Gelegentlich wird davon gesprochen, dass die getaufte Person mit der Taufe in das Amt der Evangeliumsverkündigung „ordiniert“ wird. Dies setzt damit die Anerkennung aller Christen voraus, dieses Amt auszuüben. Wenn diese Anerkennung bei beiden Eltern fehlt, widerspricht die Taufe der Vorordnung der Anerkennung vor der Erkenntnis. Bei einer Bestattung wiederum ist es aber problematisch, wenn diese Anerkennung fehlt. Die Kirche gefährdet nicht die Grundregel ihres Zusammenhalts, wenn sie in solchen Fällen bestattet. Deshalb kann Kirche sich hier „offen“ verhalten eingedenk dessen, dass sie ohnehin nicht nur für ihre Mitglieder Servicean69 Zimmerling, Bonhoeffer als Praktischer Theologe, 127. 70 Bonhoeffer, Sanctorum Communio, 181; ders., Nachfolge, 159.
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gebote leistet, sondern ihr Handeln sich stets auch über ihre Grenzen hinaus richtet. Die Kirche möchte mit ihrem öffentlichen Verkündigungsauftrag als Kirche erkennbar werden. Daher kann es auch kirchliche Amtshandlungen geben, wenn die Anerkennung fehlt: sowohl bei der Kirche gegenüber denjenigen, die sie erbitten, als auch umgekehrt bei ihnen gegenüber der Kirche.
5.4 Wann ist der Kirchenaustritt mit dem christlichen Glauben vereinbar? Es gibt nicht viele Theologen, die sich mit der Frage dieser Sektion beschäftigt haben. Wieder einmal ist Dietrich Bonhoeffer hier ein hilfreicher Gesprächspartner, gerade weil er auch die „mündig gewordene Welt“ im Abseits der Kirche am Ende seines Lebens wertschätzen gelernt hat. Seine ethischen Bemerkungen zum Kirchenaustritt gehören in den historischen Kontext einer vom Nazi-Regime gleichgeschalteten Kirche. Aber selbst hier formuliert er vorsichtig und thetisch: Er fragt, ob unter bestimmten Umständen ein Kirchenaustritt theologisch-ethisch notwendig sei.71 Könne man dann nicht sagen, dass der Kirchenaustritt auf einer hoffnungsvollen oder gar verheißungsvollen Gottlosigkeit beruhe?72 Bonhoeffer beantwortet diese Fragen nicht, sondern stellt sie als offene Themen in den Raum. Über den historischen Kontext hinaus kann man aber von einer „hoffnungsvollen Gottlosigkeit“ nur dann sprechen, wenn die Alternative eine Kirche ist, die – wie dies von Bonhoeffer bei der gleichgeschalteten Kirche der Deutschen Christen erlebt wurde – in eine hoffnungslose Gottlosigkeit verstrickt ist. Der Kirchenaustritt geschieht dann zur Erhaltung des christlichen Erbes vor einer Kirche, die es zerstört. Wenn dagegen die Alternative ein hoffnungsvoller Gottglaube ist, kann eine „hoffnungsvolle Gottlosigkeit“ allenfalls die zweite Wahl sein. Eine „hoffnungsvolle Gottlosigkeit“, die den Kirchenaustritt im Glauben vollzieht, muss dabei das ganze ethische Gewicht für sich allein tragen, das ansonsten innerhalb der Kirche die wechselseitige Anerkennung der Kirchenmitglieder trägt. Bonhoeffer hat folgerichtig geschrieben, dass ein Glaube außerhalb der Kirche „ortlos“ wird.73 Der Glaube verliert durch den Kirchenaustritt seine Darstellungsfunktion, dass in der Gerechtigkeit allein aus Treue die Anerkennung des Treu-Seins Priorität vor der Erkenntnis hat. Ein „ortloser“ Glaube ist damit nicht nur ein Glaube ohne sichtbare Kirche, sondern auch ohne unsichtbare Kirche. Wenn die Anerkennung für andere Christen verloren gegangen ist, weil sie sich kompromittieren lassen, kann die Gerechtigkeit allein aus Treue kein soziales Phä71 Bonhoeffer, Ethik, 115. 72 Ebd. 73 Ebd.
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nomen des Treu-Seins mehr nach sich ziehen. Der Glaubende bleibt mit sich allein. Er kapselt seinen Glauben für sich ein. Das ist ein Notzustand des Glaubens, der auf andere Zeiten wartet, in denen die Gerechtigkeit allein aus Treue wieder Sozialgestalt gewinnen kann. Ein solcher Kirchenaustritt ist nach Bonhoeffer nur als provisorische Lösung legitim. Man kann aus einer kompromittierten Kirche nur austreten, wenn man dabei eigentlich die Kirche wiederherstellen will. Heute wird niemand bestreiten, dass die evangelische Kirche in Deutschland von äußerer Kompromittierung befreit ist. Die Kirche kann frei und selbst entscheiden, wie sie sich organisiert. Sie ist demokratisch verfasst und beschließt ihre Ordnungen im Rahmen des öffentlichen Rechts. Weil sie ihre Ordnungen selbst gibt, kann sie sie auch in Rücksicht zur Quelle ihres Zusammenlebens geben, nämlich zur Gerechtigkeit allein aus Treue. Trotzdem kann auch die Gestalt der evangelischen Kirche heute fragwürdig bleiben. Ihre demokratische Organisation schützt sie nicht vor Fehlentscheidungen, die dem christlichen Glauben widersprechen können. Im Namen der Kirche ist im Lauf der Geschichte Unrecht geschehen, sogar in Kirchen, die demokratisch organisiert gewesen sind. Allerdings kann ein Kirchenaustritt heute keine „hoffnungsvolle Gottlosigkeit“ geltend machen, wenn er anachronistisch argumentiert und das kirchliche Handeln anderer Zeiten oder anderer Orte als Grund für seinen Austritt heranzieht. Dennoch kann auch eine demokratisch organisierte Kirche Fehlentscheidungen treffen, die ihre Grundlage aushöhlen, sich an der Gerechtigkeit allein aus Treue zu orientieren. Gegenwärtig richten sich die Haupteinwände gegen die Kirche auf ihren Umgang mit Geld. Es würde zum Beispiel kirchlichem Auftrag widersprechen, wenn kirchliches Vermögen in Anlageformen angelegt wird, die sozial unausgewogen sind, ökologisch schädlich sind oder unchristliche Firmen unterstützen. Man kann darüber diskutieren, ob das gegenwärtig der Fall ist. Darüber hinaus kann man kritisieren, dass die Kirche überhaupt ihren Mitgliedern Auflagen erteilt, die sich aus der Mitgliedschaft ergeben. Nicht allein die Erwartung, sich als Christ erkennbar machen zu lassen, sondern vor allem auch die Erwartung, finanzielle Gebühren für die Kirchenmitgliedschaft zu entrichten, könnte der „Gerechtigkeit allein aus Treue“ widersprechen. Wird nicht gar die Anerkennung hinter die sichtbare Ausdrucksform gestellt, dass man seine Kirchensteuer zu entrichten hat? Vor diesem Hintergrund ist es brisant, dass historisch die evangelische Kirche aus dem Protest hervorgegangen ist, wie die damalige katholische Kirche mit ihrem Geld umgegangen ist. Luthers 95 Thesen waren ein Protest gegen den damaligen Ablasshandel, mit dem die katholische Kirche den Petersdom in Rom finanzieren wollte. Wie bei allen gelingenden FundraisingAktionen handelte es sich dabei um eine scheinbare Win-Win-Situation: Von der freiwilligen Abgabe profitierte die katholische Kirche wie auch der Käufer, dessen Seelenheil damit versprochen wurde.
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Luthers Protest richtete sich gegen diese falsche theologische Suggestion.74 Die „Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade“ ereignet sich vielmehr unmittelbar und ist nicht mehr an die Kirche gebunden. Nach reformatorischem Verständnis folgt daraus, dass die Kirche keine „Heilsinstitution“ mehr ist. Die sinnlichen Zeichen der göttlichen Gnade durch Predigt, Taufe und Abendmahl sind zwar nach Luthers Verständnis mehr als nur „Symbole“. Sie machen Gottes Gnade effektiv.75 Allerdings erzeugen sie nicht Gottes Gnade wie bei einem Ablasshandel. Vielmehr „verteilen“ sie nur Gottes Gnade, die Gott den Gläubigen bereits zugedacht hat: „Der Papst kann keine Schuld vergeben, es sei denn, er erkläre und bestätige, sie sei von Gott vergeben“ (Thesen 6 und 38). Die Kirche vollzieht Gottes Gnade, indem sie sie nachvollzieht.76 Luthers Protest gegen den Ablasshandel richtete sich nicht primär gegen den kirchlichen Umgang mit Geld, sekundär aber durchaus. Für Luther war es zwar keine Frage, dass die Kirche über Eigentum verfügen darf. Mit seinen 95 Thesen stellt er aber Auflagen, wie Kirche ihr Geld einnehmen darf. Sie darf nämlich nicht ihr stellvertretendes Gnadenhandeln unter Bedingungen für die Gläubigen stellen (Thesen 37 und 92). Wenn das aber so ist, auf welche Weise kann Kirche dann überhaupt Einnahmen akquirieren? Darf sie neben freiwilligen Abgaben77 überhaupt noch über andere Einnahmequellen verfügen, die sie für ihre Mitglieder (oder einen Teil) verpflichtend macht? Die Kirchensteuer ist ein verpflichtendes Finanzierungsinstrument, das zwar nur die einkommenssteuerpflichtigen Mitglieder entrichten müssen. Allerdings wird damit ihre Anerkennung als Christen nicht nur an die Reziprozität der Anerkennung gebunden, sondern auch an ihre Kirchensteuer. Wer nicht einkommenssteuerpflichtig ist, bei dem reicht die Anerkennung des Treu-Seins vor der Erkenntnis – so wie es theologisch richtig ist. Bei kirchensteuerpflichtigen Christen dagegen ist die Anerkennung des Treu-Seins an die faktische Abgabe gebunden. Wer aus der Kirche austritt, weil er die Kirchensteuer einsparen will, bei dem kehrt sich automatisch auch die Vorordnung der Anerkennung des Treu-Seins vor der Erkenntnis um. Sein Glaube wird nicht mehr anerkannt, es sei denn, dass man ihn irgendwie anders noch „sieht“. Ist die Kirchensteuerpflicht nicht deshalb theologisch zu verurteilen? Und könnte es nicht sein, dass gerade deshalb ein Kirchenaustritt aus christlichen Gründen legitim ist? Gerade weil die reziproke Anerkennung der Gläubigen an ihre Kirchensteuerpflicht gebunden wird, wird das reformatorische Prinzip der Vorordnung der Anerkennung vor der Erkenntnis des 74 Luther, 95 Thesen, These 32–34, 76. 75 Luther, Werke; WA VI, 531. 76 So auch Luther, Vom unfreien Willen, 251. Auch wenn Zwingli das kirchliche Handeln als symbolisches Handeln verstanden hat, hat er Luthers Position geteilt und teilweise noch deutlicher vertreten (Zwingli, zitiert nach Hirsch, Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik, 232) – im Gegensatz zu Melanchthon (Hirsch, Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik, 235). 77 „Man soll den Christen lehren, dass der Kauf von Ablässen frei, nicht geboten sei“ (These 47).
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Glaubens verletzt. Kann dann nicht der Kirchenaustritt aus einer „hoffnungsvollen Gottlosigkeit“ geschehen? Kann man ihn dann nicht vergleichen mit Luthers heiligem Protest gegen den Ablasshandel? Man könnte sogar die Kirchensteuer als eine Form des Ablasshandels verstehen, der das Seelenheil an finanzielle Ersatzleistungen koppelt. Denn wenn sich die reziproke Anerkennung des Glaubens (des Treu-Seins) an sichtbare finanzielle Leistungen bindet und damit das Prinzip der Kirchenzugehörigkeit umdreht, wird zumindest die Heiligkeit der Kirche bedroht: Diejenige Institution, in der der Geist der Treue um der Treue willen gesucht und anerkannt wird, scheint sich selbst zu verlieren, weil Kirche sich nicht mehr am Geist orientiert, weil er Geist ist. Man könnte folglich aus der Kirche austreten, weil man eigentlich den Geist der Treue retten will. Der Theologe Adolf Harnack hat schon im Jahr 1900 ähnliche kirchenkritische Töne verlauten lassen: „Diejenigen, die in den christlichen Kirchen professionsmäßige Evangelisten oder Diener am Wort innerhalb der Gemeinden geworden sind, haben es in der Regel nicht für nötig gehalten, jene Anweisung des Herrn, sich der irdischen Güter zu entäußern, zu befolgen… Aber es läßt sich doch fragen, ob das Christentum nicht Außerordentliches gewonnen hätte, wenn seine berufsmäßigen Diener, die Missionare und die Pastoren, jene Regel des Herrn befolgt hätten. Mindestens aber sollte es bei ihnen strenger Grundsatz sein, sich um Besitz und irdische Güter nur so weit zu kümmern, daß sie selbst nicht anderen zur Last fallen… Es wird die Zeit kommen, in der man wohllebende Seelsorger ebenso wenig mehr vertragen wird, wie man herrschende Priester verträgt.“78 Theologiegeschichtlich bekannter ist Dietrich Bonhoeffers radikale Forderung gegen Ende seines Lebens, dass Kirche ihr Eigentum an Arme verschenken müsse und Pfarrer ausschließlich von freiwilligen Spenden leben dürften.79 Vermutlich wird Bonhoeffer zwar an eine einmalige Schenkung gedacht haben, die mit der konkreten Not der Menschen durch den Zweiten Weltkrieg und der damit verbundenen Schuld der Kirche zu tun gehabt hat. Denn darüber hinaus kann eine Institution nur dann stabil bleiben, wenn sie über Mittel verfügt. Dementsprechend hat Bonhoeffer den institutionellen Rahmen in seinem Kirchenkonzept auch nie aufgegeben.80 Dennoch zeigen Harnacks und Bonhoeffers Einwände gegen die Finanzierung der Kirche, dass Pflichtabgaben für Kirchenmitglieder aus reformatorischer Sicht kritisch zu bewerten sind. Die Gefahr des Missbrauchs wird allerdings nicht kleiner, wenn man Pflichtabgaben durch freiwillige Abgaben ersetzt, für die man einen Anreiz gibt. Das belegt gerade Luthers Protest gegen den Ablasshandel, der eine freiwillige Abgabe war und wechselseitige Vorteile beider Seiten versprach. Es ist zu erwarten, dass bei steigender Anzahl von Sponsorenprojekten vor allem 78 Harnack, Das Wesen des Christentums, 61f; Herv. A.H. 79 Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 560. 80 Ohly, Kindertaufe und Kirchenzugehörigkeit, 180.
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im Sozialbereich und karitativen Einrichtungen ethisch fragwürdige Anreize geschaffen werden, um Kirche zu finanzieren. Ebenso fragwürdig erscheint eine Gebührenordnung für kirchliche Amtshandlungen, wie sie in vielen anderen Ländern außerhalb Deutschlands üblich ist. Hier wird eine eindeutige Beziehung zwischen der Gebühr und der Amtshandlung hergestellt, wodurch die Gerechtigkeit allein aus Treue getrübt wird. Demgegenüber ist eine flächige Kirchensteuererhebung ehrlicher und wirkt dem Eindruck entgegen, jeder zahle für eine kirchliche Leistung, die er selbst erhalte. Über diesen stellvertretenden Akt symbolisiert der Kirchensteuerzahler die Vorordnung der Anerkennung vor der Erkenntnis. Dennoch bleibt bei der Kirchensteuer ein fahler Nachgeschmack zurück. Natürlich kann man behaupten, dass die Kirche Geld benötigt, um ihrer Aufgabe nachzukommen.81 Und man kann auch von Christen erwarten, dass sie der Treue des Heiligen Geistes dadurch nachkommen, dass sie selbst treu sind und sich in ihrem Treu-Sein erkennbar machen. Dazu bedarf es einer sichtbar verfassten Kirche, die Christen so unterstützen, dass das Treu-Sein sichtbare Gestalt bekommen kann. Schließlich wird die Kirchensteuer durch eine Zumutbarkeitsregel erhoben, die sich relativ zum persönlichen Einkommen ergibt. Das alles ändert aber nichts daran, dass die Anerkennung, zur Kirche zu gehören, an ein sichtbares Verhalten gekoppelt ist, das durch kirchliche Entscheidungen konditioniert ist. Ich halte zur Bewertung dieses Konflikts für ausschlaggebend, dass die Kirchensteuerpflicht demokratisch legitimiert ist. Innerkirchliche Konflikte werden demokratisch ausgetragen. Dabei bevorzugen die demokratisch herbeigeführten Entscheidungen bestimmte christliche Ausdrucksmittel reziproker Anerkennung und machen sie allgemein verbindlich. Dazu gehört auch die Kirchensteuerregelung. Um diese These zu untermauern, ist zunächst an ein vorheriges Ergebnis zu erinnern, dass sich Christen gegenseitig in ihrem Bemühen anerkennen, sich in ihrem Verhalten an der Treue zu orientieren, und zwar auch dann, wenn das erkennbare Verhalten zweifelhaft erscheint (Sektion 5.1.1). Diese Anerkennung schulden sich Christen nicht nur gegenseitig, sondern auch ihrer demokratisch verfassten Kirche. Insofern kann die Kirche erwarten, dass ihre Entscheidung, Kirchensteuer zu erheben, als Bemühen anerkannt wird, der Gerechtigkeit allein aus Treue zu entsprechen – und zwar auch dann, wenn es ernsthafte Zweifel an dieser Entscheidung geben mag. Allerdings gewährt die Kirche umgekehrt mit dieser Entscheidung den kirchensteuerpflichtigen Christen keinen Spielraum, ihr eigenes Bemühen auf andere Weise auszudrücken. Damit schränkt die Kirche Christen ein in ihrer Möglichkeit, wie sie ihr Christsein anders zum Ausdruck bringen wollen. Im Verhältnis zwischen Kirche und einzelnem Christen besteht also keine Gleichheit in der reziproken Anerkennung. Diese Asymmetrie ist aber nur dann legitim, wenn die Kirche 81 So auch Bonhoeffer, Sanctorum Communio, 195, 197.
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demokratisch aufgebaut ist, weil die demokratischen Spielregeln wiederum auf der wechselseitigen Anerkennung aller aufbauen. Christen müssen also Entscheidungen der (demokratisch legitimierten) Kirchenleitung darin anerkennen, dass dabei das Bemühen zum Ausdruck kommen soll, der Gerechtigkeit allein aus Treue zu entsprechen. Umgekehrt aber muss die Kirche nicht diejenigen Christen anerkennen, die ihre Kirchensteuerpflicht erkennbar missachten, weil sie gerade so sich bemühen, bedingungslos Gottes Gnade zu empfangen. Wenn diese Asymmetrie der Anerkennung berechtigt ist – und nur in einer demokratisch verfassten Kirche ist sie das –, dann ist der Protest gegen die Kirchensteuer durch den Kirchenaustritt nicht mit dem christlichen Glauben vereinbar. Aber auch wenn ein solcher Protest gerechtfertigt ist, sind Christen nach ihrem Kirchenaustritt nicht von der Verantwortung entbunden, sich in ihrem Verhalten um eine Entsprechung zur Gerechtigkeit allein aus Treue zu bemühen. Anders gesagt: Eine „hoffnungsvolle Gottlosigkeit“ wird daraus erst, wenn man sich um eine neue Kirchengemeinschaft bemüht. Aber darf die Kirchenleitung den Spielraum anerkennbaren Bemühens näher bestimmen? Und ab wann muss ein Christ die Entscheidung treffen, aus der Kirche auszutreten? Hierzu entlehne ich einen Lösungsvorschlag aus der politischen Theorie. Das scheint mir deshalb berechtigt zu sein, weil die obige Asymmetrie politisch legitimiert wird: Im individuellen Gegenüber zwischen Christen besteht zwar eine gleiche Anerkennung des Bemühens des jeweils anderen, als Christ zu leben. Im Gegenüber zwischen Institution und Einzelnem dagegen besteht ein Anerkennungsvorrecht der Kirche. Dies scheint sich nur rechtfertigen zu lassen, weil die Kirche ihre Bemühungen über einen politisch legitimen Entscheidungsprozess herbeiführt. Warum dagegen der einzelne Christ sein individuelles Verhalten ausrichtet, wie er es tut, ist allein ihm überlassen. Im Konflikt zwischen Institution und Individuum scheint daher die politische Lösung den Vorzug zu haben, weil ihre Entscheidungsprozedur transparent und demokratisch legitimiert ist. Das Individuum ist vom politischen Entscheidungsprozess nämlich nicht ausgeschlossen, auch wenn er zu sozialen Bemühungen der Kirche führt, die man persönlich ablehnt. In einer demokratisch verfassten Kirche kann jeder Einzelne politisch dazu etwas beitragen, dass die Kirche ihrem christlichen Bemühen die Gestalt gibt, die er für richtig hält. In den jüngeren pneumatologischen oder ekklesiologischen Entwürfen fehlt die Reflexion auf die demokratischen Entscheidungsprozeduren der Kirche. Teilweise findet man solche Bezüge in kirchentheoretischen Beiträgen.82 Durch diese zurückhaltende Reflexion wird die pneumatologische Bedeutung der Kirchenmitgliedschaft unterschätzt oder sogar zurückgewiesen. Zwar werden vereinzelt demokratische Staatsverfassungen theologisch ge82 Latente Bezüge zwischen dem demokratischen Aufbau der evangelischen Kirche und seiner pneumatologischen Begründung finden sich in Hermelink, Kirchliche Organisation und das jenseits des Glaubens, 246ff, ferner Karle, Kirche im Reformstress, 256.
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würdigt83 oder sogar aus dem christlichen Glauben abgeleitet.84 Eine Konsequenz für Entscheidungsprozeduren bei innerchristlichen Konflikten wird daraus aber nicht gezogen. Moltmann polemisiert sogar gegen die „unfreiwillige Kirchenzugehörigkeit“85 und wirbt für eine Trennung von Christsein und Kirchenmitgliedschaft.86 Dies hängt mit seiner Wertschätzung für „natürliche Gemeinschaften“ zusammen.87 Demokratie aber ist kein Naturphänomen, ebenso wenig wie ein Staatsgebilde. Die geistliche Natur von Gemeinschaften schließt vielmehr verlässliche und gerechte Konfliktlösungsstrukturen ein. Nur so lässt sich Moltmanns pneumatologisch begründetes Pathos für demokratische Befreiungskämpfe erklären.88 Kirchenmitgliedschaft ist dann aber eine notwendige Implikation einer geistlich gewandelten Natur des christlichen Lebens. Ohne sie wären natürliche Gemeinschaften durch nicht-reziproke Dominanzverhältnisse der Mächtigen geprägt. Der Ansatz einer demokratisch legitimierten Vorordnung des Politischen vor dem Individuellen, wie ich ihn hier vertrete, ist etwa in der Toleranzkonzeption des Frankfurter Philosophen Rainer Forst entwickelt worden. Forst stellt eine Theorie vor, nach der Positionen und Praktiken zu tolerieren sind, obwohl man sie ablehnt. Sogar wenn man gute Gründe hat, solche Positionen und Praktiken abzulehnen, kann ihnen gegenüber unter bestimmten Bedingungen Toleranz verpflichtend sein. Forsts Kriterien treffen auch auf den Fall zu, dass man eine Kirchensteuerpflicht für unchristlich hält. Selbst dann kann es eine christliche Toleranzpflicht für die Kirchensteuererhebung geben. Forsts Theorie fußt auf der politischen Voraussetzung der gleichen Freiheit aller Mitglieder einer politischen Gemeinschaft. Diese Voraussetzung nennt er eine „minimale Gerechtigkeit“89. Aus dieser Voraussetzung entwickelt Forst eine Toleranzpflicht: Toleranz basiert nämlich auf einem grundlegenden Respekt aller Mitglieder der politischen Gemeinschaft, für den zwei Kriterien erfüllt sein müssen: und zwar die Allgemeinheit und die Reziprozität des Respekts. Das neue Kriterium, das dadurch die minimale Gerechtigkeit um eine minimale Toleranzpflicht erweitert, lautet „Nicht-Zurückweisbarkeit“: Eine Position oder Praxis ist zu tolerieren genau dann wenn sie allgemeinreziprok nicht zurückweisbar ist.90 Das Originelle an dieser Idee ist, dass auch Positionen toleriert werden müssen, bei denen umstritten ist, ob sie richtig sind oder nicht. Sogar solche Positionen müssen toleriert werden, bei denen nicht entschieden werden kann, ob sie gerecht sind oder nicht. Dies trifft ja auf 83 84 85 86 87 88 89 90
Moltmann, Der Geist des Lebens, 264f. Wenz, Kirche, 39ff. Moltmann, Der Geist des Lebens, 248. Ebd. Ebd. Moltmann, Der Geist des Lebens, 11. Forst, Toleranz im Konflikt, 499. Forst, Toleranz im Konflikt, 561.
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die Kirchensteuerpflicht zu. Bestimmte Positionen mögen umstritten sein und bleiben. Damit können sie zwar keine Geltung auf allgemeine Zustimmung beanspruchen. Dennoch wäre der Versuch allgemein-reziprok zurückweisbar, ihren Wahrheitsanspruch nur deshalb auszuschließen, weil man ihn nicht entscheiden kann. Deshalb müssen sie toleriert werden. Nun gilt das aber nicht nur für die Praxis der Kirchensteuer, sondern auch für ihre Ablehnung. Wer die Kirchensteuer als unchristlich markiert und deshalb ablehnt, vertritt ebenfalls eine Position, die in diesem Konflikt nicht eindeutig entscheidbar ist. Daher muss diese Position zunächst einmal toleriert werden und mit ihr auch der Kirchenaustritt, wenn man sich nur so von der Kirchensteuerpflicht befreien kann. Durch einen Austritt schließt man sich allerdings auch aus der politischen Gemeinschaft aus und kann dann auch nicht mehr als „verstecktes“ Mitglied der Kirche anerkannt werden. Zugleich ist man ab jetzt von der Pflicht entbunden, die Kirchensteuer zu tolerieren, weil man der politischen Gemeinschaft der Kirche nicht mehr angehört. Wie ist es aber mit Menschen, die von der Kirche eine Toleranzpflicht fordern, weil sie beanspruchen, dass ihr Austritt eine christliche Entscheidung gewesen ist? Diese Menschen würden beanspruchen, dass der Kirchenaustritt theologisch keine Bedeutung hätte. Sie würden weiter beanspruchen, als Kirchenmitglied anerkannt zu werden. Denn sie würden nur die Kirchensteuerpflicht ablehnen, die sie für unchristlich halten. Gibt es hierfür eine Toleranzpflicht der Kirche? Wir hätten es hier mit einem praktischen Dilemma zu tun: Einerseits gibt es eine Toleranzpflicht für die Kirchensteuer, weil diese Praxis nicht reziprokallgemein zurückweisbar ist. Andererseits gibt es eine Toleranzpflicht für diejenige Praxis, die Kirchensteuer zurückzuhalten, weil man sie als Pflicht für unchristlich hält. Das ist deshalb ein Dilemma, weil beide Positionen sich gegenseitig aufheben, wenn man sie beide nicht zurückweist: Wenn man toleriert, dass ein Christ seine Kirchensteuer nicht entrichtet, hebt man die allgemeine Kirchensteuerpflicht auf. Bei einem solchen Dilemma schlägt Forst eine politische Lösung vor: Weil nicht beide Praktiken zugleich zur Anwendung kommen können, muss man eine Praxis durchsetzen, und zwar obwohl beide nicht-zurückweisbar sind. Welche Position man durchsetzt, liegt aber in der Entscheidung des politischen Verfahrens. Denn für den politischen Entscheidungsfindungsprozess sind die Voraussetzungen der „minimalen Gerechtigkeit“ erfüllt: Der herbeigeführte Beschluss, welche Praxis durchgesetzt werden soll, ist legitim, weil das demokratische Entscheidungsverfahren legitim ist. Denn die Kriterien der Allgemeinheit und Reziprozität bilden die Grundlage für den politischen Entscheidungsfindungsprozess.91 Sobald eine Entscheidung herbeigeführt worden ist, wird die Pattsituation aufgehoben. Nun besteht nicht mehr eine wechselseitige Toleranzpflicht für 91 Forst, Toleranz im Konflikt, 594.
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gegensätzliche Praktiken, die sich gegenseitig neutralisieren. Vielmehr gibt es jetzt nur noch eine einseitige Toleranzpflicht: Die unterlegene Partei muss die Entscheidung tolerieren, obwohl sie sie ablehnt. Zwar darf die politisch unterlegene Partei nach wie vor ihre Position vertreten und in den Diskurs einbringen. Aber sie muss tolerieren, dass eine gegensätzliche Position allgemeine Praxis ist. Diese Position muss sogar dann toleriert werden, wenn sie für moralisch falsch gehalten wird. Christen sind demnach in einer demokratischen Kirche sogar auch dann verpflichtet, eine Praxis zu tolerieren, wenn sie sie für unchristlich halten. Auf politischer Ebene ist beides möglich: Es ist möglich, dass die Kirchensteuer sich durchsetzt oder das Verbot, verbindliche Abgaben von Christen zu verlangen. Beide Optionen sind gleichberechtigt, weil sie beide allgemein-reziprok nicht-zurückweisbar sind. Daher können beide Positionen Toleranz beanspruchen. Sobald aber eine von ihnen politisch zur verbindlichen Praxis erklärt wird, und zwar durch einen politisch legitimen Entscheidungsprozess, muss die geltende Praxis toleriert werden, die umgekehrte dagegen nicht. Faktisch hat sich die Kirchensteuerpflicht politisch durchgesetzt. Zwar ist sie im 19. Jahrhundert unter vordemokratischen Bedingungen eingeführt worden. Allerdings besteht heute ein allgemeines politisches Mitspracherecht der Kirchenmitglieder. Daher kann die Kirchensteuerpflicht jederzeit auch demokratisch abgeschafft werden. Solange das nicht der Fall ist, besteht aber eine einseitige Toleranzpflicht für diejenigen Kirchenmitglieder, die eine Kirchensteuerpflicht aus christlichen Gründen ablehnen. Forsts Theorie ist eine interessante Hilfestellung für innerkirchliche Konflikte, die das Wesen der Kirche betreffen. Diese Theorie zeigt, wie auch kirchliche Entscheidungen herbeigeführt werden, wenn es für verschiedene mögliche Entscheidungsoptionen christlich gerechtfertigte Gründe gibt. Forsts Theorie beugt einer praktischen Lähmung kirchlicher Praxis vor. Sie erklärt, warum Positionen praktisch unterschiedlich gewichtet werden dürfen, obwohl sie alle für sich genommen gleichermaßen gerechtfertigt sind. Nach seinem Modell wäre es also jetzt ungerechtfertigt, wenn ein Christ aus Protest gegen die Kirchensteuer aus der Kirche austritt, solange die Kirchensteuer politisch legitim durchgesetzt worden ist. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Kirchensteuerpraxis zwar durchaus vom christlichen Standpunkt her falsch sein kann, aber dennoch allgemein-reziprok nicht zurückweisbar ist. Deshalb muss der Kirchenaustritt nicht als christliche Entscheidung toleriert werden, wohl aber umgekehrt die demokratisch herbeigeführte Entscheidung, die Kirchenmitgliedschaft an bestimmte Abgaben zu binden. Darüber hinaus hilft Forsts Vorschlag, den inneren Frieden der Kirche zu erhalten. Gewagt ist dabei seine Konsequenz: Eine Abspaltung aus Glaubensgründen ist dann nämlich nicht tolerabel. Niemand darf aus Glaubensgründen die Kirchengemeinschaft aufkündigen, weil es für den Konfliktfall
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zwischen verschiedenen Auffassungen eine Entscheidungsprozedur gibt, die ihrerseits allgemein und reziprok nicht zurückweisbar ist. Eine Abspaltung von der Kirche darf es nur geben, wo sie nicht demokratisch verfasst ist, wo sie also die nicht-zurückweisbaren Bedingungen der Entscheidungsfindung ignoriert.92 Das wäre auch dort der Fall, wo die Kirche Entscheidungen herbeiführt, die offensichtlich nicht-zurückweisbare Inhalte verletzt, um zurückweisbare Inhalte durchzusetzen. Ansonsten aber besteht eine allgemeine „Friedenspflicht“ für alle Christen. Der Kirchenaustritt würde diesen Frieden verletzen, weil er sich derjenigen Gemeinschaft entzieht, aus der allgemein geltende, gleiche und wechselseitige Anerkennungspflichten folgen. Der Kirchenaustritt ist eine Störung des kirchlichen Friedens, für die es keine kirchlichen Konfliktregelungen gibt. Denn die Anerkennung wird gerade in Frage gestellt, auf der solche etwaigen Konfliktregelungen beruhen könnten. Kirchenrechtlich zeigt sich diese Störung des kirchlichen Friedens in dem Widerspruch, dass die Taufe in Geltung bleibt, obwohl man aus der Kirche ausgetreten ist und als Christ nicht mehr anerkannt werden muss. Angesichts solcher Konfliktlinien kann nur noch auf das staatliche Recht oder allgemeine Menschenrecht auf Religionsfreiheit ausgewichen werden. Der Staat muss sich aber in der Frage enthalten, ob eine ausgetretene Person noch eine Christin ist oder nicht. Diese Frage kann nur innerkirchlich oder gar nicht entschieden werden. Da man sich nach dem Kirchenaustritt auch von seiner Toleranzpflicht gegenüber kirchlichen Entscheidungen entbindet, bleibt der Konflikt „christlich-politisch“ unlösbar. Er hält keine verbindlichen politischen Verfahren bereit, wie in diesem Konflikt vermittelt werden könnte.
5.5 Kollidiert nicht die Kirche mit dem Gewissen des Einzelnen? Meine bisherigen Vorschläge in diesem Kapitel setzen voraus, dass die Kirche sich als politische Gemeinschaft versteht – zwar nicht als Staat, aber sehr wohl als Gemeinschaft, deren Konflikte politisch ausgetragen werden. Immerhin hat Luther in seiner Zwei-Reiche-Lehre Kirche und Staat soweit unterschieden, dass der Staat in Glaubensdingen nichts zu entscheiden habe. Vielmehr herrscht für Luther in der Kirche nicht politische Macht, sondern allein der Glaube. Die entscheidende Frage lautet daher: Ist denn die Kirche eine politische Gemeinschaft? Die Einwände gegen dieses Kirchenbild liegen auf der 92 Umgekehrt liegt hier auch die Legitimation der Kirchenordnungen begründet. Wenn freikirchliche Gruppierungen salopp mit kirchlichen Ordnungen umgehen unter dem angeblichen Vorwand, dem Evangelium zu dienen anstatt dem Gesetz, widerspricht dies dem demokratischen Charakter der sichtbar verfassten Kirche. Die Anerkennung kirchlicher Ordnung hat einen geistlichen Sinn, wie schon Rudolf Bultmann hervorgehoben hat (Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, 450), der dabei ausdrücklich von „Gemeinde-Demokratie“ spricht (451, Herv. im Original).
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Hand: Kann über theologische Wahrheiten abgestimmt werden? Werden persönliche Gewissensentscheidungen von Gläubigen damit verboten, weil ihre Inhalte nicht mehrheitsfähig sind? Wird schließlich zwischen Gott und den Gläubigen eine politische Instanz geschoben, die aber die Gläubigen durchaus verführen kann? Denn eine evangelische Kirche muss einräumen, dass im Gegensatz zum römisch-katholischen Selbstverständnis93 ihre Beschlüsse nur praktisch zu tolerieren sind, aber nicht auch wahr sein müssen. Wenn der Einwand zutrifft und die Kirche somit keine politische Gemeinschaft ist, dann müssen schon die internen Spannungen unter Christen unbearbeitet bleiben. Denn angesichts gegensätzlicher Positionen, die nicht zurückgewiesen werden können, aber auch nicht gleichzeitig wahr sein können, muss eine legitime Entscheidungsprozedur zur Verfügung stehen: Sowohl dass Christen Kirchensteuer bezahlen sollen als auch dass sie dazu nicht verpflichtet werden dürfen, sind beide nicht-zurückweisbare Positionen. Wer ohne eine politische Lösung auskommen will, kann nur noch die eigene Position gegen die andere ohne ausreichende Gründe durchsetzen. Er mag dies zwar „im Namen einer höheren Wahrheit“ tun wollen. Aber seine Position, eine höhere Wahrheit als andere zu vertreten, kann er nicht ausweisen. Angesichts eines Konflikts zwischen nicht-zurückweisbaren Positionen ist es zurückweisbar, eine Position im Namen einer höheren Wahrheit dann doch zurückzuweisen. Anders gesagt: Wer die Kirche nicht als Gemeinschaft anerkennt, die ihre Konflikte mit politisch legitimem Mittel beilegen darf, kann nur noch in den Fundamentalismus flüchten. Der Kirchenaustritt aus vermeintlich christlichen Gründen ist dann ebenso fundamentalistisch wie biblizistische oder traditionalistische Positionen. Dies gilt auch von Gewissensentscheidungen aller Art. Allerdings muss man einräumen, dass die Kirche nicht nur eine politische Gemeinschaft ist. Das liegt einfach daran, dass in der Kirche eine nicht-zurückweisbare Position etwas anderes ist als in weltanschauungsneutralen Staaten. Glaubensfragen sind in Staaten nicht entscheidbar, aber dennoch zurückweisbar. Denn die Rationalität einer nicht-zurückweisbaren Position bemisst sich allein an den praktischen Bedingungen des Zusammenlebens ihrer Mitglieder in gleicher Freiheit.94 Kurz gesagt: Eine Position ist nichtzurückweisbar, wenn sie argumentativ die Bedingungen der allgemeinen Reziprozität einlösen kann. In der Kirche ist aber die Position allgemeinreziprok nicht-zurückweisbar, dass Gott allein die Ehre zu geben ist. Manche Glaubensfragen sind damit klar entscheidbar und nicht-zurückweisbar, obwohl sie Glaubensfragen sind. Das zeigt den wesentlichen Unterschied zwischen Staat und Kirche. Deshalb muss das Verhältnis zwischen Wahrheitspflicht und Toleranzpflicht in der Kirche anders bestimmt werden als im Staat: Während der Staat sich in manchen Fragen enthalten muss, können Christen 93 Unfehlbarkeit; in: K. Rahner/H. Vorgrimler, 370. 94 Forst, Toleranz im Konflikt, 45, 596.
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in der Kirche nicht alle Positionen tolerieren, die im Staat nicht-zurückweisbar wären. Der Unterschied ist aber kleiner als man befürchten mag. Denn innerhalb der Kirche gibt man Gott allein die Ehre, indem man in seinem Verhalten der Gerechtigkeit allein aus Treue entsprechen will. Es ist die Treue Gottes, der Christen in ihrem Treu-Sein entsprechen wollen und weswegen sie sich gegenseitig in ihrem gleichen Bemühen anerkennen. Genau darin besteht eben auch die Vorordnung der Anerkennung aller anderen Christen vor der Erkenntnis, wer denn ein „besserer“ oder „schlechterer“ Christ sei. Die Anerkennung der Kirchengemeinschaft ist also eine folgerichtige Konsequenz der christlichen Ausrichtung auf die Treue Gottes. Das heißt: Man gibt Gott die Ehre, gerade indem man sich den Konfliktregelungen der Kirche unterstellt, ohne voreilig aus der Kirche auszutreten. Eine demokratisch legitime Entscheidungsfindung ist der angemessene Ausdruck kirchlicher Selbstorganisation, weil in ihr die Anerkennung aller Christen zum Ausdruck kommt. Eine demokratische Kirche achtet mündige Christen. Umgekehrt achten mündige Christen die Entscheidungsverfahren ihrer Kirche. Dann werden sie auch ihre Entscheidungen achten, selbst wenn sie sie für falsch halten: Denn auch hier gilt die Vorordnung der Anerkennung vor der Erkenntnis. Nicht darin besteht das Kennzeichen der Kirche, dass sie die beste aller möglichen Gemeinschaften wäre. Sie orientiert sich vielmehr als fehlbare Gemeinschaft an der allgemein-reziproken Anerkennung, dass sich alle Christen treu zur Treue Gottes verhalten wollen. In der wechselseitigen Anerkennung schneidet sich der christliche Wahrheitsanspruch mit der Nicht-Zurückweisbarkeit demokratisch legitimierter kirchlicher Praxis: Nicht alle kirchlichen Entscheidungen sind wahr oder moralisch richtig. Aber ohne kirchliche Entscheidungsverfahren bleiben christliche Wahrheitsansprüche unentscheidbar oder können dann nur fundamentalistisch entschieden werden. In demokratischen Entscheidungsprozessen werden nun die Defizite beider Pole ausgewogen in ein Verhältnis gebracht, das die Anerkennung in das Bemühen um die beste Gestalt der Kirche auf beste Weise zum Ausdruck bringt. Insofern ist eine demokratisch organisierte Kirche nicht-zurückweisbar. An dieser Stelle möchte ich noch einen Schwachpunkt in Forsts Theorie erwähnen. Er besteht darin, dass demokratische Verfahren sogar Entscheidungen treffen können, die die Grundlagen der allgemein-reziproken NichtZurückweisbarkeit gefährden.95 Dieses Risiko bildete gerade den Hintergrund für unser Problem Kirchensteuer vs. Kirchenaustritt. Denn beide Positionen sind nur deshalb nicht-zurückweisbar, weil man bei ihnen nicht entscheiden kann, ob sie nicht-zurückweisbar sind. Da eine Position zurückgewiesen werden muss, damit die andere gelten kann, kann es sein, dass man sich für die falsche Position entscheidet, nämlich für eine, welche die Grundlagen gefährdet, dass eine Kirche noch eine Kirche ist. Forst erlaubt dieses Risiko, das 95 Ohly, Moralisch oder nicht-moralisch, 182.
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er eigentlich ausschließen muss, wenn er nicht-zurückweisbare Gründe vorbringen will, warum es eine Toleranzpflicht geben soll und für wen. Damit vertraut Forst letztlich in die „Selbstheilungskraft“ einer politischen Gemeinschaft, sogar fundamentale Fehlentscheidungen ausgleichen zu können, die ihre eigenen Grundlagen betreffen. Dieses Vertrauen in eine solche „Selbstheilungskraft“ ist nicht mehr politisch begründet. Es kann sich nur verständlich machen vor dem Hintergrund einer Hoffnung auf die Treue in der Gemeinschaft selbst. Damit ist meines Erachtens Forsts rationalistische Theorie um eine pneumatologische Dimension zu erweitern: Forst vertraut in die Selbstheilungskraft der Gemeinschaft durch den Geist, der in ihr wirkt. Die Gerechtigkeit allein aus Treue überbietet das faktische Untreu-Sein mancher Fehlentscheidungen. Wenn es aber zutrifft, dass Gemeinschaften ihre Fehlentscheidungen tragen können, weil der Geist mit seiner Treue sie überbietet, dann stehen in der Praxis auch andere Optionen offen als nur eine einseitige Toleranzpflicht für die politisch siegreiche Praxis einzufordern. Johannes Fischer hat dementsprechend ein Toleranzverständnis entwickelt, das sich am Potenzial des Geistes orientiert. Der Geist kann durchaus auch Abweichungen zulassen, wofür er keine moralischen Gründe angeben kann. Damit können also Abweichungen toleriert werden, obwohl die Toleranz zurückweisbar wäre. Sogar Praktiken, die eindeutig falsch oder moralisch ungerechtfertigt sind, können unter Umständen toleriert werden, wenn der Geist stark genug ist, sie zu tragen.96 Wann solche Ausnahmen zugelassen werden dürfen, möchte Fischer einem permanenten offenen Diskurs überlassen.97 Insofern teilt er Forsts Idee einer demokratischen Konfliktlösungskultur. Er geht aber über Forst hinaus, wo er die Bindungskraft des Geistes ausdrücklich benennt, die bei Forst nur implizit zugrunde liegt. Dadurch kann Fischers Konzept flexibler auf Interessenkonflikte reagieren. Mit Fischers Konzept könnte man zum Beispiel Abweichungen zulassen, die eigentlich den nicht-zurückweisbaren einseitigen Verpflichtungen widersprechen. Während etwa die Kirchensteuerpflicht durch ein nicht-zurückweisbares Verfahren verbindlich geworden ist, können Personen von der Kirchensteuerpflicht in Ausnahmefällen teilweise oder ganz ausgenommen werden, wenn sie diese Ausnahme beantragen (Kirchensteuerkappung). Ebenso könnten Ausnahmeregelungen zugelassen werden, die eigentlich der kirchlichen Praxis widersprechen, um dadurch christliche Minderheiten innerhalb der Kirche zu schützen (zum Beispiel fundamentalistische Gruppen, die aufgrund biblizistischer Vorannahmen bestimmte liberale Praktiken der Gesamtkirche ablehnen). Dieses Konzept ist flexibler aber auch störungsanfälliger, als unterlegenen innerkirchlichen Parteien eine einseitige Toleranzpflicht aufzuerlegen. Allerdings weist eben auch ein scheinbar rein rationalistisches Konfliktlösungskonzept wie das von Forst 96 Fischer, Über moralische und andere Gründe, 138. 97 Fischer, Theologische Ethik und Christologie, 500.
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Begründungslücken auf im Vertrauen auf die Selbstheilungskraft des Geistes. Deshalb bleibt anscheinend pneumatologisch keine echte Alternative zur Aufgabe, bei innerkirchlichen Interessenkonflikten offen zu verhandeln, inwieweit man sogar Widersprüche in der kirchlichen Praxis in Kauf nehmen soll.
5.6 Die Grenzen der Anerkennung zwischen den Kirchen und die Anerkennung in der Ökumene Ein solcher praktischer Widerspruch ist die Vielfalt von christlichen Kirchen. Es gibt nur deshalb mehrere Kirchen, weil sich Christen von einer Kirche abgespalten haben oder zur Abspaltung gezwungen worden sind. Versteht man Kirchen auch als politische Gemeinschaften, so endet das Wechselspiel der Anerkennung an ihren jeweiligen Grenzen. Wie wir in der vorigen Sektion gesehen haben, bedeutet die Abspaltung von einer Kirche, dass hier auch das Wechselspiel der Anerkennung endet. Die Abspaltung von der je eigenen Kirche ist ein Umstand, der nicht zu tolerieren ist. Es gibt keine kirchlichen Gründe, eine Kirche anzuerkennen, die sich von dem Wechselspiel der Anerkennung verabschiedet hat. Gleichzeitig aber ringen die christlichen Kirchen um die Ökumene. Die Einheit der Kirche soll nicht in Widerspruch zur Vielfalt der Kirchen gesehen werden. Selbst das Zweite Vatikanische Konzil mit seinem Inklusivismus beteuert, dass es außerhalb der katholischen Kirche Christen gibt. Zwar hat die Erklärung „Dominus Iesus“ von 2000 den Kirchencharakter der evangelischen Kirche relativiert (ohne sie dabei ausdrücklich zu nennen). Alle kirchlichen Gemeinschaften außerhalb der katholischen Kirche gelten als „Teilkirchen“98, die nur durch die katholische Kirche ihre Wirksamkeit herleiten.99 Aber auch hier wird unterstrichen, dass sich unter dem evangelischen Bekenntnis Christen sammeln. Es handelt sich wechselseitig um eine Art „gebrochene Anerkennung“: Einerseits kann zwar die Anerkennung der anderen Kirche (zum Beispiel der katholischen) nicht unter den eigenen (evangelischen) Kirchenordnungen vorgenommen werden. Denn die katholische Kirche erkennt ihrerseits die evangelischen Kirchenordnungen nicht an, für die aber gilt, dass sie nicht zurückweisbar sind – zumindest intern kirchenpolitisch nicht. Andererseits ringen die Kirchen um eine wechselseitige Anerkennung, die sich aber offenbar aus einer anderen Quelle speisen muss als über die Nicht-Zurückweisbarkeit von kirchlichen Ansprüchen auf Anerkennung. Darin besteht der 98 Dominus Iesus Art. 17. 99 Dominus Iesus Art. 16.
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Widerspruch der Ökumene, der so lange bestehen bleibt, solange mehrere Kirchen nebeneinander koexistieren. Diesen Widerspruch zu ertragen, ist eine geistliche Aufgabe. Es bedarf des Vertrauens in die „Selbstheilungskraft“ des Heiligen Geistes, um Abweichungen zu tolerieren, die sich gegen nicht-zurückweisbare Ansprüche der Kirche richten. Manche Kirchen haben dieses Vertrauen stärker als andere. Zwar sind sich die drei Großkirchen darin einig, dass die Einheit der Kirche nur durch die Kraft des Heiligen Geistes wieder erlangt werden kann. Allerdings ist das Vertrauen in die Selbstheilungskraft des Geistes inhaltlich unterschiedlich gelagert. Während die katholische Kirche die Selbstheilungskraft des Geistes nur dann anerkennen kann, wenn sich andere Kirchen schließlich unter ihrem Dach versammeln, wagt die evangelische Kirche weitgehend die Anerkennung der anderen Kirchen in ihrer Verschiedenheit: Der Geist heilt die Kirche gerade in der Anerkennung der vielen Kirchen. Das Bild der Einheit ist damit auch verschieden: Für die evangelische Kirche ist die Einheit der Kirche in der gleichen und wechselseitigen Anerkennung der Kirchen bereits hergestellt. Nach römisch-katholischer Vorstellung dagegen ist die Einheit der Kirche erst erzielt, wenn alle Christen römisch-katholisch sind. Einen Kompromiss in der Einschätzung, worin denn eigentlich die Einheit der Kirche besteht, könnte es nur geben, wenn sich die römisch-katholische Kirche eine demokratische Verfassung gibt. Dann nämlich wäre die allgemeine und reziproke Anerkennung die Grundlage kirchenleitenden Handelns. Und dann kann die wechselseitige Anerkennung der Kirchen auch als Kennzeichen für die Einheit der Kirche praktisch realisiert werden. Bislang ist das nicht der Fall. Übrigens auch nicht in der evangelischen Kirche: Die evangelische Kirche erkennt nicht deshalb die anderen Kirchen als Kirchen an, weil sie demokratische Strukturen haben. Vielmehr erkennt sie sie aus anderen theologischen Gründen an: etwa weil sie die Taufe aller Christen anerkennt, weil sie mit anderen Kirchen gemeinsame Bekenntnisse teilt oder auch weil die Bibel den gemeinsamen ursprünglichen Bezug zum Wort Gottes bildet. Nach meinem Eindruck sind die theoretischen Grundlagen allgemeiner und wechselseitiger Anerkennung bislang im ökumenischen Dialog vernachlässigt worden. Auch hier wird die pneumatologische Dimension demokratischer Strukturen unterschätzt oder ignoriert. Dabei wird durchaus gesehen, dass die unterschiedlichen kirchlichen Entscheidungsprozeduren einer ökumenischen Einigung bislang am stärksten entgegenstehen. Was zwischen den Großkirchen mit dem Stichwort „Amtsverständnis“ als Haupthindernis für eine ökumenische Einigung genannt wird, macht die Frage der Kirchenleitung zum Hauptproblem100 – und mit ihr verbunden die Frage nach der demokratischen Legitimation kirchlicher Entscheidungen. Ich halte es für einen Irrtum, wenn man meint, ökumenische Gespräche könnten die Kirchen einander näher bringen, wenn man allein fachtheologische Fra100 Nüssel, Wie ist ökumenischer Konsens evangelisch möglich, 445.
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gestellungen verhandelt und darin sogar weitgehende Übereinstimmungen erzielt. Genauso unzureichend dürfte der Versuch sein, unterhalb der Kirchenleitung eine basisorientierte Ökumene etablieren zu wollen. Viele Kirchengemeinden sprechen von großen Annäherungen zwischen den Konfessionen, weil Nichttheologen gemeinsame ökumenische Gruppen gründen, die sich einem gemeinsamen Auftrag verpflichten (ökumenische Hospizgruppen, diakonische Essenstafeln, Kirchenläden und vieles mehr). Was hier funktioniert, ist die wechselseitige Anerkennung der beteiligten Christen. Was nicht funktioniert, ist die öffentliche Anerkennung der beteiligten Christen durch die Kirchen. Ökumene darf sich aber nicht in dieser Zusammenarbeit auf unterer Ebene erschöpfen. Denn damit würde sie sich auch in der eigentlichen Frage enthalten, nämlich in der Frage nach der demokratischen Legitimation kirchenleitender Entscheidungen. Ökumenische Beziehungen in der Basis werden nur dann Erfolg haben, wenn sie zugleich um die Legitimation ihrer Kirchenleitungen kämpfen. Denn wenn Anerkennung auf Basisebene funktioniert, aber man sich nicht zugleich bemüht, Anerkennung kirchenpolitisch verbindlich zu machen, handelt es sich um eine reine Alibi-Veranstaltung. Eine Ökumene der Herzen zwar, aber keine Ökumene des Geistes! 5.6.1 Was zeichnet die Ökumene aus? Die evangelischen Kirchen werden zu klären haben, inwiefern das Ziel der allgemeinen wechselseitigen Anerkennung der Konfessionen die Einheit der Kirche bedeutet und was dieses Ziel alles beinhaltet. 101 Es wird nicht beansprucht, dass alle Kirchen in einer Einheitsorganisation integriert werden.102 Nicht jeder Christ hat für alle Kirchen gleiche Pflichten, erkennt aber sehr wohl auch diejenigen Kirchen an, für die er keine konkrete Pflicht hat. Damit ähnelt die angestrebte Einheit eher der wechselseitigen Anerkennung zwischen verschiedenen Landeskirchen innerhalb der Gesamtkirche: Obwohl sie alle evangelische Kirchen sind, ist die einzelne Christin nur derjenigen Landeskirche gegenüber kirchensteuerpflichtig, der sie angehört. Der bayrische evangelische Christ muss nach Hamburg keine Kirchensteuer abführen, erkennt aber trotzdem die Evangelische Kirche in Hamburg an. Er kann zwar in Hamburg kein Kirchenvorsteher werden, aber sehr wohl auch dort Abendmahl feiern und sogar Taufpate werden.103 Obwohl zwischen den Landeskirchen und ihren Mitgliedern eine wechselseitige Anerkennung besteht, gibt es doch ein Entweder-Oder in der Mitgliedschaft. 101 Jüngel, Credere in ecclesiam, 187. 102 Ebd. 103 Das Amt des Taufpaten ist das einzige kirchliche Amt, dessen Rechte über alle Landeskirchengrenzen hinweggehen. Selbst die bayrische Pfarrerin darf zwar auch mit Sondererlaubnis in Hamburg Gottesdienst halten, aber nicht Hamburger Pfarrerin werden, ohne dabei ihre Rechte als bayrische Pfarrerin zu verlieren.
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Das Ökumene-Verständnis der evangelischen Kirche ähnelt diesem föderalen Modell der Landeskirchen. Der Unterschied zu den anderen Konfessionen besteht aber darin, dass dort nicht geografische Orte über die Mitgliedschaft entscheiden, sondern verschiedene Inhalte und Traditionen. Zwischen den Landeskirchen unterscheidet die Dimension des Raums, zwischen den Konfessionen die Dimension der Zeit (Tradition) und der Deutung (Inhalt). Deshalb tut es nach evangelischem Verständnis der Einheit der Kirche keinen Abbruch, wenn im selben Ort zwei Kirchen stehen, in denen Gottesdienste mit unterschiedlicher liturgischer Ausgestaltung gefeiert werden. Es widerspricht auch nicht der Einheit, dass die Katholikin nicht evangelische Kirchenvorsteherin werden kann. Die Einheit der Kirche setzt aber voraus, dass alle Christen alle Rechte haben, die sich aus ihrem Christsein ergeben. Oder anders: Die Rechte, die ein Christ innerhalb einer Konfession hat, weil er Christ ist, sind auch an alle anderen Christen zu übertragen. Als Testfall gilt die Rechtsübertragung an Orten anderer Landeskirchen: Wenn ich als Christ aus Hessen das Recht habe, in Bayern das Abendmahl zu feiern, obwohl ich nicht zur bayrischen Landeskirche gehöre, dann haben auch alle anderen Christen das Recht, das Abendmahl zu feiern, gleichgültig wo sie sich aufhalten. Umgekehrt: Wenn ich als hessischer Christ kein Recht habe, in Bayern Bischof zu werden, weil ich nicht zur bayrischen Landeskirche gehöre, dann haben auch andere Christen kein Recht dazu, die keine Bayern sind. Aufgrund des Äquivalenzprinzips von Rechten und Pflichten104 ergeben sich die Pflichten entsprechend. In der Einheit der Kirche haben alle Kirchen die Pflicht, die Rechte zu gewähren, die jeder Christ hat. Das schließt übrigens Varianten der Rechte ein. In der katholischen Kirche etwa ist es Rechtspraxis, dass Katholiken nicht zum Abendmahl zugelassen sind, wenn ihre Ehe geschieden worden ist. Folglich können auch evangelische Christen dieses Recht nicht gewährt bekommen, deren Ehe ebenfalls geschieden worden ist. Wollte man etwas anderes, dann müsste man die Einheit der Kirche unter dem Dach einer einzigen Gesamtorganisation anstreben. Das evangelische Verständnis ökumenischer Einheit ist dagegen organisationstheoretisch bescheidener und zugleich komplexer: Es erkennt eine Variationsbreite in den Rechten an, die die einzelnen Konfessionen den Gläubigen gewähren. Entscheidend ist nur: Alles, was die einzelne Konfession einem Christen derselben Konfession gewährt, der aber nicht zur örtlichen oder regionalen Kirchenorganisation gehört, muss sie jedem Christen gewähren. Deshalb eignet sich der Testfall der Landeskirchen sehr gut, um die Einheit der Kirche zu testen. Es widerspricht der Einheit der Kirche, wenn die katholische Kirche evangelischen Christen die Abendmahlsgemeinschaft verweigert, die sie aber Katholiken gewährt, die eine andere Heimat haben. Es bleibt das Problem übrig, dass die meisten Kirchen nicht oder nur un104 Wenn Person p das Recht auf a hat, dann ist mindestens eine weitere personale Instanz verpflichtet, p das Recht auf a zu gewähren.
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zureichend demokratisch organisiert sind. Sie fassen damit Beschlüsse, deren Verfahren im Sinne der politischen Theorie, die hier vertreten wird, zurückweisbar sind. Die evangelische Kirche könnte somit zu großzügig mit der Anerkennung dieser Kirchen sein, wenn sie zugleich von ihnen getrennt ist. Zwar kann die evangelische Kirche Gemeinsamkeiten mit anderen Konfessionen und auch die Christen anderer Konfessionen anerkennen. Problematisch ist es aber, Kirchen und damit auch ihre Kirchenleitungen anzuerkennen, deren Charakter undemokratisch ist. Denn damit widersprechen diese Kirchen der „minimalen Gerechtigkeit“, die eine Voraussetzung für die allgemeine und wechselseitige Anerkennung der Christen als Christen bildet. Inwiefern können solche anderen Kirchen „anerkannt“ werden, wenn die Vorordnung der Anerkennung vor der Erkenntnis innerhalb der Konfessionen unterlaufen wird, die doch auch zur Trennung zwischen den Konfessionen führt? Was hier Anerkennung heißen kann, lässt sich wieder aus der Analogie zur politischen Theorie Immanuel Kants entwickeln – aber sicher nicht aus der Analogie der „Nichteinmischung in innere Angelegenheiten“, wie sie von Kant im Hinblick auf das Völkerrecht vertreten worden ist.105 Die allgemeine wechselseitige Anerkennung der Christen ist keine „innere Angelegenheit“ der jeweiligen Konfession, sondern die Bedingung, über die überhaupt die Einheit der Kirche legitimiert werden kann. Die hilfreiche Analogie findet sich vielmehr in denjenigen Vorschlägen Kants, wie rechtliche Regelungen zwischen Staaten aufgebaut werden können, wenn es doch keine souveränen Rechtsinstitute oberhalb von Staaten gibt, die die Souveränität von Staaten legitim einschränken können. Anders gesagt: Wenn sich das Recht aus der politischen Gemeinschaft eines Staates ergibt, wie kann dann Recht zwischen Staaten entstehen? Immanuel Kant hat hierzu vorgeschlagen, dass das Recht zwischen Staaten nur durch einen „Völkerbund“106 oder einen „permanenten Staatencongreß“107 hergestellt werden könne. Ein solcher Völkerbund achtet zum einen die Volkssouveränität aller Staaten, die dem Bund beitreten, löst aber zum anderen die moralische Pflicht ein, dass auch das Verhältnis zwischen den Staaten rechtlich legitimiert ist. Im Völkerbund sind alle Staaten gleichberechtigt. Es gibt also keine überstaatliche Gewalt, die andere Staaten beherrscht. Denn ansonsten würden die Staaten in ihrer Souveränität missachtet werden. Der Völkerbund kann daher auch keine Gesetze beschließen, denen nicht jedes Mitglied zugestimmt hat. Denn sonst würden Staaten wie Untertanen behandelt, was der Staatsidee widersprechen würde, wonach Staaten souverän sind. Daraus folgert Kant allerdings die Nichteinmischungspflicht in innere Angelegenheiten. Der innere Prozess für eine allgemeine Volksbeteiligung ist 105 Kant, Zum ewigen Frieden, 199. 106 Kant, Zum ewigen Frieden, 209. 107 Kant, Die Metaphysik der Sitten, 350; Herv. im Original.
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dem jeweiligen Volk selbst zu überlassen, was auch heute geltendes Völkerrecht ist. Der Völkerbund hat allein die Aufgabe, rechtliche Bedingungen für den Frieden zwischen den Staaten herzustellen und notfalls auch politisch zu erzwingen. Wäre Ökumene nach Kants Muster des Völkerbundes organisiert, dann hätte sie allein die Aufgabe, Nichtangriffspakte zu schließen und ihre Einhaltung zu erzwingen. Zu einer Einheit der Kirche führt dieser Vorschlag nicht, im Gegenteil: Es wäre die kirchenrechtlich garantierte Vielfalt von Kirchen. In diesen Zeiten, in denen Kirchen zum Glück nicht paramilitärisch organisiert sind, ist ein solches Verständnis von Ökumene angesichts völkerrechtlicher Verständigung unnötig und für die Einheit der Kirche unbrauchbar. Dennoch ist Kants Vorschlag des Völkerbundes für die Ökumene weiterführend. Es liegt ihr nämlich die wechselseitige Anerkennung der Souveränität zugrunde, die durchaus ökumenisch zum Tragen kommen kann. Zwar sind auch im Völkerbund demokratische Staaten mit undemokratischen Staaten verbündet. Demokratische Staaten müssen nach Kant die undemokratischen Staaten anerkennen, dürfen aber nicht ihre Verfassung anerkennen (sie gilt als ein „böses Beispiel“108). Aber solange die Mitglieder eines Volks die Freiheit haben zu entscheiden, in welchem Land sie leben wollen, wird die Souveränität der Völker auch dann geachtet, wenn ein Volk von seinem Oberhaupt unterdrückt wird. Darin besteht die Übertragbarkeit der Idee Kants für die Ökumene, nämlich im reziproken Konversionsrecht aller Christen aller Konfessionen. Kant hat neben das Völkerrecht noch das „Weltbürgerrecht“ gestellt. Dabei handelt es sich um das „Besuchsrecht“109 jeder Person, „sich zur Gesellschaft anzubieten“110. Zwar hat Kant dieses Recht abgeschwächt: Es handelt sich bei ihm noch nicht um das Recht auf Einbürgerung, wie es bei Kants Nachfolgern des 20. Jahrhunderts formuliert worden ist111 und wie es inzwischen zumindest in manchen Staaten Praxis ist. Und eben auch in der Ökumene! Das allgemeine und reziproke Konversionsrecht aller einzelnen Christen kann auch die Grundlage dafür bilden, dass sich die verschiedenen christlichen Konfessionen anerkennen. Denn auch wenn etwa die katholische Kirchenleitung undemokratisch organisiert ist, haben Katholiken die Freiheit, sich in einer anderen Kirche ihrer Wahl zu organisieren. Insofern kann die evangelische Kirche auch die Souveränität der katholischen Kirche anerkennen, weil ihre Mitglieder die Wahl haben, ob sie ihr zugehören wollen. Die allgemeine und reziproke Konversionsfreiheit füllt in gewisser Weise die „minimale Gerechtigkeit“ aus, die innerhalb einer Kirche zu gelten hat, damit sie auch öku-
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Kant, Zum ewigen Frieden, 199. Kant, Zum ewigen Frieden, 213. Ebd. Zum Beispiel Habermas, Faktizität und Geltung, 158.
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menisch als Kirche anerkannt werden darf, selbst dann, wenn sie intern die Volkssouveränität missachtet. 5.6.2 Noch zwei unerledigte Themen Zwei Nachbemerkungen möchte ich noch an dieser Stelle platzieren. Zum einen könnte nämlich gegen den politischen Lösungsansatz eingewendet werden, dass die christliche Wahrheit unterbestimmt wird. Kirchen erkennen sich nach meinem Vorschlag darin an, dass sie auf nicht-zurückweisbare Weise demokratische Entscheidungen zu Glaubensthemen fassen, obwohl die Entscheidungen selbst in inhaltlicher Hinsicht zurückweisbar sein können. Keine Konfession ist davor geschützt, dass sie auf demokratische Weise Beschlüsse fasst, die sich vom christlichen Erbe entfernen. Gerade so könnten Kirchenabspaltungen immer wieder unabwendbar werden, weil selbst eine demokratische Beschlussfassung nicht verhindern kann, dass sich eine Kirche täuscht. Ist dieser Aspekt in meiner bisherigen Darstellung zu kurz gekommen? Bisher hat es den Anschein gehabt, als sei das demokratische Entscheidungsverfahren hinreichendes Kriterium dafür, ob eine Kirche als christlich anzuerkennen ist. Ich halte demokratische Entscheidungsverfahren tatsächlich für hinreichend dafür, dass ökumenische Beziehungen zwischen verschiedenen Konfessionen von wechselseitiger Anerkennung getragen sind. Aber ein hinreichendes Kriterium ist noch kein notwendiges Kriterium. Zusätzlich zum hinreichenden Kriterium müssen notwendige Kriterien erfüllt sein, damit man die Kirche von anderen Institutionen unterscheiden kann. Zu den notwendigen Kriterien gehört die Orientierung an der „Gerechtigkeit allein aus Treue“, der eine Kirche jeweils eine Gestalt verleihen will. Eine Kirche will sich erkennbar machen, indem sie sich zur Treue selbst treu verhält. Dieses Bemühen ist dabei für die Kirchengemeinschaft fundamentaler als die faktischen Ergebnisse, die eine Kirche in ihrem Bemühen aufweisen kann. Darin besteht die Vorordnung der Anerkennung vor der Erkenntnis, die ihrerseits eine notwendige Bedingung für die Anerkennung einer Gemeinschaft als christliche Kirche ist. Ohne diese Vorordnung gäbe es keinen Unterschied zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche. Und ohne diesen Unterschied hätte man gar keinen Anlass, ökumenische Beziehungen zu bilden. Prägnant ausgedrückt: Jede Gemeinschaft, von der die sichtlich „wahre Kirche“ getrennt ist, kann dann keine Kirche sein. Sind diese beiden notwendigen Bedingungen erfüllt (Orientierung an der Gerechtigkeit aus Treue; Vorordnung der Anerkennung vor der Erkenntnis), dann kann als hinreichendes Kriterium für die Anerkennung einer christlichen Gemeinschaft als Kirche ihre demokratische Entscheidungsstruktur herangezogen werden. Und sogar undemokratisch organisierte Kirchen können dann darunter fallen, solange sie die allgemeine und reziproke Kon-
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versionsfreiheit einräumen und damit ein kirchliches „Weltbürgerrecht“ etablieren, das über die eigene Konfession hinausgeht. Mit meiner zweiten Nachbemerkung komme ich zurück zu den Getauften, die sich dem christlichen Glauben weiterhin verbunden fühlen aber keiner Kirche zugehören. Gelegentlich hört man die Äußerung, es handle sich bei diesen Menschen um eine neue christliche Konfession.112 Wenn das stimmen sollte, dann müsste sich hier ebenfalls die Frage nach ökumenischen Beziehungen stellen. (In der Analogie zum Völkerrecht kann mit Kant gesagt werden, dass die Arbeit an interkonfessioneller Anerkennung kein beliebiges Unternehmen ist, sondern Pflicht.113) Kann man hier wirklich von einer Art inhaltlicher Föderation sprechen? Wenn Ausgetretene eine eigene Konfession bilden, dann müssten sie einander Rechte gewähren, die auf nicht-zurückweisbare Weise institutionalisiert werden. Denn nach der bisherigen Argumentation besteht die ökumenische Anerkennung darin, die Rechte auch den Christen anderer Konfessionen zu gewähren, die ebenso die Mitglieder der eigenen Konfession haben. Aber Ausgetretene haben gar keine Rechte institutionalisiert. Mit dem Kirchenaustritt wendet man sich von der Institutionalität des Christentums ab und beendet damit auch das System verlässlicher Verfahren, in Glaubensthemen zu entscheiden und die soziale Gestalt des Glaubens zu organisieren. Daher gibt es auch umgekehrt keine kirchliche Verpflichtung, zu Ausgetretenen „ökumenische Beziehungen“ zu bilden. Der Ausdruck, dass Ausgetretene eine eigene Konfession bilden, ist also irreführend. Wenn er meint, dass Ausgetretene inzwischen zahlenmäßig so viele sind, dass sie den Großkirchen entsprechen, mag er eine sinnvolle Metapher sein. In die Irre führt er aber, weil er gerade das Phänomen der Anerkennung übersieht, auf dem Ökumene aufbaut.
5.7 Schluss Das gesamte Kapitel hat sich mit einem Thema nicht beschäftigt: mit der aktuellen Frage um die Zukunft der Kirche. Wie kann der Trend umgekehrt werden, dass die Kirchen mehr Mitglieder verlieren als sie gewinnen? Diese Frage habe ich unbehandelt liegen lassen. Hier ging es nur um die Frage, welche Gestalt eine Gemeinschaft haben muss, damit ihr Bemühen verlässlich anerkannt werden kann, die „Gerechtigkeit allein aus Treue“ zur Darstellung zu bringen. Dabei spielten die Bedingungen der reziproken Anerkennung eine Rolle. Ein Christsein ohne Anerkennung anderer Christen verkehrt sich in sein Gegenteil. Daher hat dieses Kapitel den Fokus auf die Bedingungen für die 112 Körtner, Die Gemeinschaft des Heiligen Geistes, 12. 113 Kant, Metaphysik der Sitten, 344; ders., Zum ewigen Frieden, 211.
Schluss
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Anerkennung unter Christen gelegt. Ob die Kirche eine Zukunft hat, kann man mit den Antworten aus diesem Kapitel nicht schon ermessen. Ob eine tief greifende Kirchenreform zu einer missionarischen Kirche oder einer Kirche ausgewählter attraktiver „Leuchtfeuer“114 den Trend umkehren kann, ist bislang soziologisch kaum geprüft worden. Die Vorschläge hierzu verfangen sich weitgehend in Wunschphantasien oder in soziologisch zu pauschal vorgetragenen „Best Practice“-Beispielen.115 Theologisch allerdings wird sich jede Kirchenreform daran messen lassen müssen, dass Modelle einer attraktiven Kirche den Aspekt der Anerkennung nicht verdrängen. Auch eine einladende Kirche darf nicht den Aspekt der Wechselseitigkeit in der Anerkennung unterschlagen. Die Kirche des Evangeliums, der Gnade und Treue richtet sich an Menschen, die in ihrem Verhalten der Treue „nachziehen“ wollen. Ob Anerkennung attraktiv ist, habe ich in diesem Kapitel nicht behandelt. Ob es eine Kirche auch ohne Anerkennung gibt, wurde hier allerdings deutlich verneint. Die Gerechtigkeit allein aus Gnade schließt Anerkennung ein. Und alle christlichen Gemeinschaften, die nicht nur aus Sympathie oder aus strategischen Gründen treu bleiben wollen, sondern um der Treue willen, bilden die Kirche. Hat nun eine solche Kirche eine Zukunft? Wenn nicht, dann wäre die Anwesenheit des Heiligen Geistes nicht länger erfahrbar. Und das widerspräche dem zwingenden Charakter der Anwesenheit. Die Evidenz des Heiligen Geistes können wir getrost ihm überlassen. Alle Kirchenreformen sollten wissen, dass sie sich nur in dieser Klammer bewegen dürfen.
114 Rat der EKD, Kirche der Freiheit, 8f, 45 u.ö. 115 Z.B. Härle u.a., Wachsen gegen den Trend.
6. Die Kraft des Wortes Immer noch schätzen die meisten evangelischen Christen eine gute Predigt am wichtigsten für einen Gottesdienst ein.1 Das heißt aber nicht, dass Christen das Hören der Predigt zu ihren eigenen wichtigsten Kennzeichen als Christen zählen. Nur 3,8 Prozent der evangelischen Kirchenmitglieder nehmen durchschnittlich sonntags am Gottesdienst teil.2 Auch wenn der Anteil derer, die mehrmals im Jahr den Gottesdienst mitfeiern, zehnmal höher liegt3, scheint es für evangelische Christen wenig von Belang zu sein, eine Predigt zu hören. Interessant ist allerdings, dass übrigens die Zufriedenheit mit einem Gottesdienst relativ hoch ist, und zwar auch für diejenigen, die ihn nur gelegentlich mitfeiern.4 Diese weitgehende Zufriedenheit führt aber nicht dazu, dass man häufiger Gottesdienst feiert. Ist dieser Befund dramatisch und Anlass für Gottesdienstreformen? Tatsächlich haben alternative Gemeindeangebote und auch andere Gottesdienstformen einen höheren Zuspruch. Das ändert aber nichts am grundsätzlichen Selbstverständnis der meisten Christen, eine Predigt „nicht nötig“ zu haben. Nicht so sehr der faktische Gottesdienstbesuch, sondern dieses Selbstverständnis stellt theologisch vor eine Herausforderung. Als die Reformation die Kirche bestimmt hat als die „Versammlung aller Glaubigen, bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakrament lauts des Evangelii gereicht werden“ (CAVII), da hat sie gleich hinzugefügt: „Dann dies ist gnug zu wahrer Einigkeit der christlichen Kirchen.“ Wenn es „gnug“ ist, dann wird der Gottesdienst theologisch als der Mittelpunkt nicht nur des Gemeindelebens verstanden, sondern auch als Quelle des persönlichen Glaubens.5 „Solchen Glauben zu erlangen, hat Gott das Predigtamt eingesetzt“ (CAV). Faktisch wird diese „Genügsamkeit“ nochmals unterlaufen, wenn der Gottesdienst zwar weitgehend als schön erlebt wird, aber auch weitgehend als entbehrlich. Dieser Befund ist nicht neu. Die Zahlen der Kirchenbesucher sind seit Jahrzehnten stabil und steigen an manchen Feiertagen sogar an.6 Historische Vergleiche greifen wenig, weil sie den bisweilen staatlich durchgesetzten Kirchgang nicht beachten.7 Ebenso wenig kann davon die Rede sein, dass in 1 2 3 4 5 6 7
Koll, Gott interaktiv, 114. Koll, Gott interaktiv, 106. Gräb, Der Gottesdienst des kirchlichen Christentums, 83. Koll, Gott interaktiv, 115. Preul, Kirchentheorie, 21f. Hermelink, Der Sonntagsgottesdienst zwischen Individuum und Institution, 32. Witvliet/Bierma, Liturgie, 403.
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früheren Zeiten die Prediger unterhaltsamer oder lebendiger gepredigt hätten.8 Solche Vergleiche mit der Geschichte sollten allerdings auch nicht das Problem verharmlosen, indem man es als ein historisch kontinuierliches Problem darstellt. Eher wird es dadurch vertieft, dass zwischen Anspruch und Wirklichkeit ein tiefer Graben liegt und anscheinend schon immer gelegen hat. Auch diese Vorbemerkungen des Kapitels zielen letztlich auf eine systematisch-theologische Klärung, nämlich auf das Verhältnis des Heiligen Geistes als Anwesenheitsphänomen und dem Anwesend-Sein der Christen im Gottesdienst: Müssen Christen den Gottesdienst besuchen? Oder ist es ausreichend für den Glauben, dass der Gottesdienst gefeiert wird, auch wenn nur wenige ihn mitfeiern? Welche besondere Kraft liegt darin, in einem Gottesdienst auch anwesend zu sein? Und kann etwa die Anwesenheit des Geistes vom Gottesdienst aus auch über ihn hinaus wirken auf die Abwesenden? Oder ist schließlich der Gottesdienst für den christlichen Glauben entbehrlich?
6.1 Worte und das Wort Um Worte zu hören, muss man nicht nur geistig anwesend sein, sondern auch körperlich. Das heißt zwar im Medienzeitalter nicht zwingend, dass der Sprecher auch anwesend sein muss, aber zumindest die Sprechquelle muss mit dem Hörer im selben Raum sein. Die Sprache als Medium des Geistes hat sich dabei selbst als mediatisierbar erwiesen. Sprache selbst kommt nie unmediatisiert vor. Sie wird nur dann ein Medium des Geistes, wenn sie selbst mediatisiert wird. Interessant ist aber auch, dass nicht alle Wahrnehmungssinne als Mediatisierung der Sprache taugen. Während zwar jeglicher Sinn mehr oder weniger sprachlich ausgedrückt werden kann, kann Sprache selbst nicht in allen Sinnen zum Ausdruck kommen. Und zwar sind diejenigen Sinne dazu nicht fähig, die nicht „digitalisierbar“ sind. Unter digitalen Zeichen versteht man solche, die dem Gegenstand nicht ähnlich sein müssen, den sie bezeichnen.9 Zum Beispiel ist das Wort „Haus“ einem Haus völlig unähnlich und soll ihm auch gar nicht ähnlich sein. Ein Geruch dagegen ist nicht nur dem ähnlich, was man riecht, sondern er ist sogar das Gerochene. Der Geruch lässt sich nicht vom Gegenstand trennen, den er „bezeichnet“. Insofern kann sich die Zeichenquelle nicht vom Zeichen räumlich distanzieren. Geschmack und Geruch gibt es nur in räumlicher Nähe des Gegenstandes, der riecht oder schmeckt. Worte dagegen können auch in räumlicher Abwesenheit ihres Sprechers gelesen werden. Sie können zwar nur 8 Apg.20,9–12. Zur Wirkung der Predigten Dietrich Bonhoeffers s. Zimmerling, Bonhoeffer als Praktischer Theologe, 109. 9 Dalferth, Religiöse Rede von Gott, 154.
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gehört werden, wenn die Sprechquelle in räumlicher Nähe ist. Aber die Sprechquelle kann auch jemand oder etwas anderes sein als der ursprüngliche Sprecher. Angesichts der pneumatologischen Bedeutung von Anwesenheit überrascht es, dass der christliche Gottesdienst sich von Anfang an an das Wort gebunden hat und damit an ein Medium, das kopierbar ist und sich vom Ursprungskontext distanzieren kann. Das Christentum unterscheidet sich zudem von den Religionen, in denen man bestimmte Orte aufsuchen muss, um mit dem Heiligen verbunden zu sein. Kein Tempel und kein Mekka, in denen die Unvertretbarkeit des augenblicklichen Erlebnisses vorherrscht, prägen das Christentum. Das Wort kann überall gehört und gelesen werden. Die Ausnahmen, in der die Unvertretbarkeit des Erlebnisses für den christlichen Glauben verbindlich gemacht wird, sind Taufe und Abendmahl. Allerdings bindet die Reformation den Vollzug der Sakramente an das Wort des Evangeliums. Die Unmittelbarkeit des Schmeckens wird an die doppelte Mittelbarkeit der Sprache gebunden, um darin den theologischen Mehrwert auszudrücken. Das Christentum ist also an ein Medium gebunden, das beliebig kopierbar ist und selbst nur in mediatisierbarer Form vorkommt. Das gilt vom Medium, es gilt aber nicht zwingend auch vom Erfahrungsgehalt, der mediatisiert wird. Der Erfahrungsgehalt kann sich sogar dabei verlieren, wenn das Medium kopiert wird. Es ist etwas anderes, ob ich mich daran erinnere, wie meine Frau mir das erste Mal gesagt hat, dass sie mich liebt, oder ob sie es mir heute sagt. Der sprachliche Gehalt ist derselbe, aber das damalige Liebesbekenntnis hat mich so sehr bewegt, dass diese Erfahrung nicht kopierbar ist. Wenn ich mich an eine solche Erfahrung erinnere, ist die Erinnerung vielmehr entweder selbst das „Original“ oder auch eine neue Erfahrung (zum Beispiel wenn man bei ästhetischen Texten immer wieder etwas Neues entdeckt), aber keine Kopie einer Erfahrung. Darin besteht die Stärke des Mediums Sprache: Sprachliche Gehalte werden reproduziert, stoßen aber Erfahrungen „im Original“ an. Dabei legen sie bestimmte Erfahrungsgehalte nahe, aber sie legen sie nicht fest. Ein Witz legt nahe, ihn lustig zu finden. Aber mehrfach gehört, kann man sich auch über ihn ärgern. Wer eine Ehekrise durchmacht, kann sehr traurig werden, wenn er sich an das erste Liebesbekenntnis seiner Ehefrau erinnert, obwohl das reproduzierte erste Bekenntnis zunächst das Liebesglück nahe legt. Indem sich das Christentum an diesen doppelten Charakter des Mediums Sprache gebunden hat, kann man Christ sein und bleiben, ohne regelmäßig Gottesdienste mitzufeiern. Die Worte des Glaubens sind nicht an bestimmte Zeiten und Orte gebunden, sondern lassen sich in verschiedene Situationen weitertragen. In diesen neuen Situationen aber stoßen sie Erfahrungen „im Original“ an. Setzt man voraus, dass sie „Worte des Glaubens“ sind, dann scheinen sie den Glauben stets neu zum Klingen zu bringen. Der Rückzug auf den „ursprünglichen“ Ort Gottesdienst scheint dann unnötig zu werden.
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Allerdings setzt dieser Gedanke voraus, dass der Gottesdienst trotzdem ursprünglicher Ort des christlichen Glaubens ist. Ich kann meine Lebenserfahrungen nur so als Erfahrungen des christlichen Glaubens benennen, indem mir dafür eine Sprache voraus liegt. Man kann sie zwar persönlich nicht in einem Gottesdienst gelernt haben, sondern von den Eltern, vom Religionsunterricht oder von der Bibellektüre. Aber eine Sprache des christlichen Glaubens wird sie nicht dadurch, dass sie von den Eltern oder aus dem Religionsunterricht gelernt wird, und nicht einmal dadurch, dass sie in der Bibel gelesen wird. Bei all diesen Beispielen könnte es sich um Distanzierungen handeln, die eben bei der Sprache möglich sind und die es deshalb auch möglich machen, dass sich die Sprache des Glaubens von seinem christlichen Ursprung löst. Es sind zwar dieselben Worte, aber man kann dabei etwas anderes erfahren, als die Worte ursprünglich zu erfahren gegeben haben. Was ursprünglich christliche Sprache ist, kann weder subjektiv durch die eigenen Lebenserinnerungen noch objektiv durch ein heiliges Dokument identifiziert werden. Auch ein heiliges Buch ist Medium und nicht die Sache selbst. Deshalb kann es auch nicht der Ursprung christlicher Sprache sein, sondern sich nur auf ihn beziehen. Die Sprache des Glaubens kann somit nicht zu einem „Sprachding“ gemacht werden. Denn das Medium Sprache ist eben beliebig kopierbar und kann sich deshalb von seinem Ursprung lösen. Ich erinnere daran, dass deshalb nach reformatorischem Verständnis der typische Kontext des Glaubens der Gottesdienst ist. Ich kann nur meine Erfahrungen als christliche Glaubenserfahrungen deuten, weil es eine ursprüngliche Kommunikationssituation gibt, in der Christen so miteinander sprechen. Am Anfang des Glaubens steht eine Kommunikation unter anwesenden Personen. Weil sie körperlich gemeinsam anwesend sind, können sie auch die Sprache des Glaubens verstehen und mitvollziehen. Erst danach können sie sich von dieser körperlichen Nähe lösen und dabei den sprachlichen Gehalt „mitnehmen“. Als christlicher Gehalt bleibt er aber auf den Ursprung Gottesdienst bezogen. Diese Reflexionen rekapitulieren ein Ergebnis aus Kapitel 2 über die Transzendentalität der Sprache.10 Dort wurde gezeigt, dass sich die Sprache der vorgängigen Anwesenheit einer sozialen Gemeinschaft verdankt. Der Gehalt liegt also nicht selbst in der Sprache – nur dann wäre sie ein „Sprachding“. Vielmehr ist die Sprache umgekehrt Medium für einen Gehalt, dem sie ihre Medialität verdankt. Der Gehalt wiederum basiert auf der Ursprungssituation der Kommunikation unter Anwesenden. Der Glaube kommt also aus der Predigt (CAV), aber nicht deshalb, weil hier geistreiche Gedanken ausgesprochen werden, sondern weil Christen in körperlicher Nähe zueinander die christliche Sprache kommunizieren. Die Predigt ist eine christliche Rede unter körperlich Anwesenden. Sie wird als christliche Rede verbindlich durch die körperliche Anwesenheit der Ge10 Sektion 2.2.
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meinde. Sie hat sich verabredet, sich zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort zu treffen, um dadurch die Kommunikation als christliche Rede verbindlich zu machen.11 Im Gottesdienst schneiden sich körperliche Anwesenheit und wechselseitige Anerkennung der Christen. Die Predigt wird nicht deshalb als Wort des Glaubens anerkannt und damit für den Glauben verbindlich gemacht, weil man ihr in jedem Punkt zustimmen könnte, sondern weil Christen darin das Bemühen der Predigerin anerkennen, christlich zu reden. Die versammelten Christen demonstrieren durch ihre körperliche Anwesenheit diese Anerkennung. Nicht nur was gesagt wird, sondern auch die Anerkennung dessen ergibt den theologischen Charakter der Predigt. Die Predigt weckt den Glauben, weil die wechselseitige Anerkennung den Glauben weckt. Sie macht nämlich den Ort Gottesdienst verbindlich, von dem aus der christliche Glauben kommuniziert werden kann. Man muss aber nicht den Gottesdienst besuchen, um Christ zu sein. Das ist schon deshalb so, weil man ansonsten immer dann kein Christ mehr wäre, sobald der Gottesdienst zu Ende wäre und sich die Versammlung auflöst. Christliches Leben muss also über den Ursprung Gottesdienst hinausgehen. Und es kann über ihn hinausgehen, weil die Sprache des Glaubens mediatisierbar ist: Dadurch kann sie in andere Lebenssituationen außerhalb des Gottesdienstes mitwandern. Dabei kann aber nicht verzichtet werden auf die Anerkennung der Versammlungsgemeinde als Ursprungsort des Glaubens. Wer nie den Gottesdienst mitfeiert, kann dennoch christlich leben, solange er den Gottesdienst als Ursprungsort des Glaubens achtet und anerkennt. Diese Anerkennung ist der minimale Faden, an dem der eigene Glauben hängt, wenn man keine Gottesdienste besucht: Man feiert sie zwar nicht mit, aber man besteht trotzdem darauf, dass es sie gibt. Denn der Glaube kann nicht von der fest verabredeten Versammlung gelöst werden, in der sich die Anerkennung der Gläubigen ursprünglich ausdrückt. Daher haben alle Christen, die den Gottesdienst mitfeiern, eine notwendige Stellvertretungsfunktion für den Glauben. Sie vertreten nämlich die gesamte Christenheit, zu der dann auch diejenigen gehören können, die den Gottesdienst nicht besuchen.12 Weil es Christen gibt, die sich zu verabredeten Zeiten im Gottesdienst treffen, kann es auch Christen geben, die das nicht tun. Es gibt aber auch eine umgekehrte Stellvertretungsfunktion derjenigen, die nicht den Gottesdienst besuchen: Ihre Anerkennung der Ursprungsfunktion des Gottesdienstes vertritt nämlich die Sprache des Glaubens außerhalb des Gottesdienstes. Weil es Christen gibt, die den Gottesdienst als Ursprung des 11 Rundfunk- und Fernsehgottesdienste können deshalb den Gottesdienst nicht ersetzen. Zwar treffen sich auch hier Christen zu einer verabredeten Zeit. Im weitesten Sinn kann diese Verabredung an den Ort Fernseher die körperliche Verbundenheit der Gemeinde simulieren. Aber ein aufgezeichneter Gottesdienst kann auch später angesehen werden, wo man sich nicht verabredet hat. Die fehlende Verabredung löst den Charakter der körperlichen Verbundenheit auf. 12 Körtner, Die Gemeinschaft des Heiligen Geistes, 42.
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Glaubens anerkennen, obwohl sie ihn (momentan) nicht mitfeiern, kann Glaube außerhalb des Gottesdienstes eine Sprache bekommen. Diese Christen legen quasi ein „Glaubensbekenntnis zweiter Ordnung“ ab. Auch sie müssen nicht immer selbst die Aussagen für wahr halten, die in einem Gottesdienst getroffen werden. Aber sie erkennen an, dass jegliche Aussagen, die im Namen des christlichen Glaubens getroffen werden, nur deshalb christlich sind, weil es den Gottesdienst gibt. Solche Christen geben also dem Glauben Resonanz, ohne dass sie selbst so glauben müssten, wie es im Gottesdienst gepredigt wird. Noch einmal: Die Verbindlichkeit der Predigt für den Glauben entsteht nicht daraus, was gepredigt wird, sondern dass sie als christliche Rede anerkannt wird.13
6.2 Was die Worte des Wortes können Wenn ein Mensch mit Worten beleidigt wird, werden im Gehirn dieselben Areale erregt, wie wenn dieser Mensch geschlagen wird.14 Hirnphysiologisch gibt es also eine Entsprechung zwischen beiden Erfahrungen, dass man sich durch verbale Äußerung ebenso getroffen fühlt wie durch physische Gewalt. Psychologen haben auch den umgekehrten Befund entdeckt: Worte können den Heilungsprozess bei einem Menschen verstärken, wenn er leicht oder schwer erkrankt ist. Damit wird der Gegensatz zwischen Denken und Gefühlen aufgehoben.15 Nun kann man Menschen nicht nur dadurch positiv stimulieren, dass man mit ihnen spricht. Positive Emotionen können auch durch Zärtlichkeiten oder freundliche Blicke geweckt werden. Allerdings haben wir oben gesehen, dass Sprache Kontexte übergreifen kann. Deshalb kann Sprache auch helfen, dass ein Mensch seine positiven Erfahrungen auch in andere Situationen hinüberretten kann. Er bleibt dadurch mit sich identisch. Weil Menschen sprachbegabt sind, spielt die Sprache für ihre Gesundheit und ihre Persönlichkeitsentwicklung eine entscheidende Rolle. Trotz dieses Befundes besuchen nicht sehr viele Menschen den Gottesdienst. Es wird keiner sagen können, dass er zurzeit kein gutes Wort nötig hat. Allerdings kann man auch genug unterstützenden Zuspruch aus der Familie oder aus dem Freundeskreis hören. Sozialwissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass der Gottesdienst meistens in derselben Zeit gefeiert wird, in der Menschen zugleich am liebsten bei ihren Familien oder Freunden sind wie zu keiner anderen Zeit in der Woche. Das gilt milieuübergreifend.16 Insofern 13 Das setzt natürlich voraus, dass die Predigerin nicht mutwillig unchristliche Botschaften vermittelt. Denn ansonsten würde sie selbst die Anerkennung nicht leisten, auf der der theologische Charakter der Predigt gründet. 14 Eisenberger/Liegerman/Williams, Does Rejection Hurt, 290–292. 15 Spezio, Narrative in Holistic Healing, 206. 16 Ebertz, Wochenenddramaturgien in sozialen Milieus, 14–24.
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konkurriert der Gottesdienst allein von der Zeit her mit anderen „Zuspruchskulturen“. Die Hauptkonkurrenz zum Gottesdienst liegt dabei im Zuspruch selbst. Weil Menschen in ihrem sozialen Nahbereich mehr Zuspruch erwarten und auch darin bestätigt werden, ziehen sie ihr nahes Umfeld dem Gottesdienst vor. Diese Konkurrenzsituation kann auch nicht dadurch abgeschwächt werden, dass man ein Gemeindekonzept der Freundschaft entwickelt. In solchen Konzepten soll keine Konkurrenz zwischen Gemeinde und sozialem Nahbereich aufkommen, weil die Gemeinde selbst der soziale Nahbereich werden soll. Familie und Freundschaften sollen in die Gemeinde integriert werden. Deshalb bleiben solche Gemeinden zahlenmäßig übersichtlich und teilen sich durch Neugründungen auf, sobald sie zu groß werden.17 Dennoch entkommt dieses Gemeindekonzept nicht grundsätzlich der Konkurrenzsituation: Zum einen werden Dissonanzen in Lebensformen und Werten in solchen Gemeinden ausgesprochen hart erlebt und führen nicht selten zu Gemeindezerrüttungen. Eine Ehekrise weitet sich dann schnell zur Gemeindekrise aus. Zum anderen kann auch dieses Gemeindekonzept nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die meisten Christen nicht so sozialisieren lassen. Sie wollen in ihren Lebensräumen Christen sein und nicht die Gemeinde zum ErsatzLebensraum werden lassen. Volkskirche versteht sich dagegen stärker als Institution, für die charakteristisch ist, verlässliche aber auch formale Beziehungen zu den Mitgliedern aufzubauen.18 Wird volkskirchlich gepredigt, dann wird die Konkurrenz zu alternativen Zuspruchskulturen akzeptiert. In der Volkskirche hat der Zuspruch Priorität vor dem Zusammenleben. Damit werden andere Zuspruchskulturen akzeptiert, ohne dass der Zuspruch damit beliebig wird. Die Konkurrenz wird als positive Resonanz begriffen, in der sich der christliche Zuspruch auswirken kann. Deshalb ist für die Volkskirche nicht entscheidend, dass möglichst viele Christen den Gottesdienst mitfeiern. Der christliche Zuspruch will sich in anderen Zuspruchskulturen auswirken. Aber dazu wirkt er nur mittelbar auf sie ein. Es reicht dazu aus, dass es überhaupt Christen gibt, die den Gottesdienst mitfeiern und seine Zuspruchskultur in ihre Lebensräume weitertragen. Diese volkskirchliche Selbsteinschätzung wirkt sich auch auf die Gestaltung der Gottesdienste aus: Hat der Zuspruch Priorität vor dem Zusammenleben, so werden Gottesdienste in einer „Glaubensgemeinschaft“ gefeiert und nicht in einer Lebensgemeinschaft. Treffend hat Ulrich Körtner die leeren Kirchenbänke während des Sonntagsgottesdienstes interpretiert: „Die leeren Bänke sind aber nicht nur Anlaß zur Klage. Sie symbolisieren vielmehr, daß im Reich Gottes für jeden Menschen ein Platz frei und dementsprechend jeder
17 Lindner, Kirche am Ort, 216. 18 R. Preul, Kirchentheorie, 132.
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Mensch in der Kirche willkommen ist.“19 Willkommensein und leere Bänke schließen einander im volkskirchlichen Kontext ein. Entsprechend scheu halten die Mitfeiernden Abstand zu anderen Gottesdienstbesuchern. Zwar soll der Zuspruch auch lebenspraktische Konsequenzen haben. Aber sie müssen sich nicht in der Gottesdienstgemeinde selbst auswirken, indem man selbst eine große Familie wird. Die Gottesdienstgemeinde versammelt sich aus funktionalen Gründen; sie wird aber nicht gezielt aufgesucht, um Gemeinschaft zu erleben. Als das Christentum den Ausdruck „Wort“ zur Metapher für Christus selbst benutzt hat, hat das Wort genau diesen mittelbaren Charakter bekommen. Das Johannesevangelium war die erste christliche Schrift, in der das „Wort“ zur Metapher für Christus geworden ist. Dort wird es als Ausdruck für eine Konfrontation verwendet: Das Wort ist Schöpfer des Lebens, wirkt aber auf die Schöpfung störend: Es enthält Leben und Licht, aber „die Finsternis hat es nicht ergriffen“ (Joh 1,5). „Er kam in sein Eigentum, und die Seinen nahmen ihn nicht auf“ (Joh 1,11). Christus, das Wort, bleibt damit ein Fremdkörper in der Welt, obwohl sich alles seiner Schöpferkraft verdankt. Der Ausdruck „Wort“ ist deswegen passend für diese Spannung, weil Sprache Kontexte überschreiten kann. Ebenso wie der Mensch gewordene Gott sich überschreitet und damit riskiert, ausgegrenzt zu werden, ist Sprache wesentlich anfällig, missverstanden zu werden. Niklas Luhmann hat betont, dass das Normale an sprachlicher Kommunikation das Missverstehen ist und nicht das Verstehen.20 Indem das Christentum von Anfang an sich an das Wort gebunden hat anstatt an Ursprungsorte oder Ursprungsszenen der Religion, hat es sich an dieses Risiko des Missverstehens gebunden. Dieses Risiko ist eine bewusste Entsprechung zur Menschwerdung Gottes. Das Wort entspricht der volkskirchlichen Verkündigungsstruktur, die die Konkurrenz zu anderen Zuspruchskulturen ausdrücklich riskiert. Wie kommt der christliche Zuspruch auch in fremden Zuspruchskulturen zum Tragen? Als Wort der Anwesenheit des Geistes! Wir hatten bereits im zweiten Kapitel gesehen, dass Anwesenheit ein Phänomen ist, das das Abwesende mit enthält. Auch wenn etwas abwesend ist, wird es als Abwesendes auffällig und manchmal sogar derart bedrängend auffällig, dass man sich ihm nicht entziehen kann. Darin zeigt es seine Anwesenheit. Anwesenheit ist das „Anwesen“ des Abwesenden: Es kommt in unsere Nähe, ohne dabei anwesend zu sein. (Im zweiten Kapitel wurde daher zwischen Anwesend-Sein und Anwesenheit unterschieden.) Genauso wirken Worte des Zuspruchs: Auch wenn man sie schon lange nicht mehr gehört hat, kann man sich an den Zuspruch erinnern. Und schon die Erinnerung vergegenwärtigt den Zuspruch. Neurowissenschaftliche Untersuchungen legen nahe, dass ein erinnerter oder sogar nur ein vorgestellter Zuspruch dieselben Hirnareale aktiviert wie ein wirkli19 Körtner, Die Gemeinschaft des Heiligen Geistes, 42. 20 Luhmann, Soziale Systeme, 291.
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cher.21 Wer einen Zuspruch nur erinnert, weiß zwar, dass der Zuspruch nur erinnert ist. Er weiß also, dass der Zuspruch aktuell abwesend ist. Aber die Anwesenheit des abwesenden Zuspruchs hat dennoch eine ähnliche Wirkung wie ein aktueller Zuspruch. In der Erinnerung wird beides bewusst gehalten: der Zuspruch und sein Abwesend-Sein; der abwesende Zuspruch und seine Anwesenheit. Dadurch wirkt der Zuspruch anders als wenn er aktuell wäre. In der Erinnerung an den Zuspruch fällt auf, dass der Zuspruch zugleich in Lebenssituationen eindringt, in denen er abwesend ist.22 „Die Finsternis hat es nicht ergriffen.“ Das Wort zeigt seine Anwesenheit als das Nicht-Ergriffene. Es kommt in sein Eigentum, wird aber nicht angenommen. In diesen Versen des Johannesevangeliums steckt Anwesenheit und Abwesend-Sein zugleich. So ist es bereits in der Erinnerung: Wer den Zuspruch erinnert und zugleich weiß, dass er ihn nur erinnert, erfasst zugleich die Distanz zum Zuspruch, auch wenn der Zuspruch „angenommen“ (Joh 1,12) und mit positiven Emotionen besetzt wird. Das ist der Charakter von Worten überhaupt. Und darin besteht der theologische Charakter der Worte: Sie sind Anwesenheit, die sich nicht schon dadurch verdrängen lässt, dass man sie auf Distanz hält, ausschlägt oder auch in der bloßen Erinnerung von ihnen entfernt ist. Ihre Anwesenheit greift somit auf Lebensräume über, in denen sie nicht gehört oder bewusst überhört werden.
6.3 Evangelium als virtuelle Gegenwelt Um die Wirkung der Verkündigung des Evangeliums zu ermessen, hat Ilona Nord in einer ausführlichen Studie sie mit den technikvermittelten virtuellen Welten verglichen. Ihre Hauptthese lautet, dass sich die Welt des Cyberspace, der Online-Spiele und der Internet-Zerstreuung der christlichen Verkündigung in dem wesentlichen Punkt ähnlich sind, dass sie virtuelle Gegenwelten erzeugen. Virtuelle Gegenwelten wiederum ermöglichen es, ein freies Verhältnis zur sogenannten „realen“ Welt aufzubauen.23 Diese These wäre im 19. Jahrhundert von der Religionskritik als Bestätigung gelesen worden, dass Religion eigentlich „Opium fürs Volk“ ist. Frau Nord betont demgegenüber, dass man ohnehin keinen unmittelbaren Zugang zur Realität haben kann. Alle unsere Zugänge zur Realität sind vermittelt durch Zeichen, durch Sprache, durch Wahrnehmung, die ihrerseits gedeutet werden müssen. Deshalb geht es nicht um einen scheinbaren Gegensatz von Realität vs. Illusion, wie er offenbar der Religionskritik zugrunde liegt. Vielmehr kommt auch die sogenannte irdische Realität immer schon medial 21 Ruhnau, Zeit-Gestalt und Beobachter, 206; D. Papineau, Der antipathetische Fehlschluss und die Grenzen des Bewußtseins, 307. 22 Vgl. Dalferth, Religiöse Rede von Gott, 399. 23 Nord, Realitäten des Glaubens, 41, 103, 113.
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vermittelt vor. Was wir wahrnehmen, ist nicht die „Wirklichkeit an sich“, sondern eine bestimmte Sicht auf die Wirklichkeit. Damit werden die Unterschiede virtueller Welten weicher. Jede virtuelle Darstellung hat einen realen Bezug und eröffnet einen Zugang zur Realität.24 Aber keine virtuelle Darstellung trifft die „Realität an sich“.25 Virtualität ist immer Konstruktion, aber Konstruktion von Wirklichkeit. Sie bildet die Wirklichkeit nicht ab, sondern sie lässt uns etwas sehen. Das könnten OnlineSpiele ebenso wie die Predigt.26 Ilona Nord zeigt, welchen lebenspraktischen Zweck das Spielen überhaupt hat und damit auch das Online-Spielen, nämlich Spielräume in der Wirklichkeit zu vergrößern.27 Virtuelle Gegenwelten wirken Nord zufolge „immersiv“28, weil sie eingebettet sind in den Lebenswelten.29 Hier sind sie also beides: Sie gehören zum eigenen Leben, sind aber darin auch ein Fremdkörper.30 Der Avatar einer Online-Kommunikation ist die eigene „zweite Existenz“, die eigentlich nicht ich selbst bin, aber trotzdem in meinem Leben spielerisch eingebettet ist. Solche virtuellen Identitäten sind eine Gestaltungsform von Freiheit31, erweitern das eigene Selbstbild32, erreichen eine höhere Anpassung an die Umwelt33 und erhöhen die Handlungsfähigkeit.34 Auch Religion hat für Ilona Nord genau darin ihre Kraft.35 Sie bildet keine metaphysische Überwelt, aber auch keine strenge Parallelwelt, sondern eine Immersion.36 Gottes „Präsenz“, „Gegenwart“ oder „Anwesenheit“37 stößt neue Impulse im eigenen Leben an, gerade weil sie etwas Fremdes bleibt und sich trotzdem mit der Lebenswirklichkeit schneidet. Sie ist eine Horizonterweiterung, die Selbstfindungsprozesse initiiert38 und hilft, neue Lebenswege auszuprobieren.39 Wenn Nord damit recht hat, dann hilft der christliche Glaube nicht deshalb den Gläubigen, weil er Religion ist, sondern nur, weil er virtuell ist. Denn es ist gerade kein Kennzeichen der Religion, virtuell zu sein. Virtualität ist vielmehr ein Kennzeichen von Medien. Immersion ist auch kein Kennzeichen von Re24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39
Nusselder, Interface Fantasy, 39, 109. Nusselder, Interface Fantasy, 12, 17. Nord, Realitäten des Glaubens, 112, 117. Nord, Realitäten des Glaubens, 30. Nord, Realitäten des Glaubens, 12, 42 u.ö. Z.B. Nord, Realitäten des Glaubens, 123. Nord, Realitäten des Glaubens, 57f. Nord, Realitäten des Glaubens, 103. Nord, Realitäten des Glaubens, 64. Nord, Realitäten des Glaubens, 17. Nord, Realitäten des Glaubens, 18f. Nord, Realitäten des Glaubens, 39, 94. Nord, Realitäten des Glaubens, 178. Nord, Realitäten des Glaubens, 94, 95, 124. Nord, Realitäten des Glaubens, 58. Nord, Realitäten des Glaubens, 180.
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ligion, sondern eine Eigenschaft von Raumerfahrungen.40 Somit sind auch Religionen immersiv, aber nicht nur sie. Die besondere Rolle der Religion ist damit noch nicht erfasst. Ich habe in einer vorigen Sektion schon erwähnt, dass das Christentum sich von Anfang an mit dem Wort an ein Medium gebunden hat, das in verschiedene Situationen einbettbar ist. Es ist also im christlichen Glauben das Medium der Sprache, das die Immersion bewirkt – und damit räumliche Atmosphären41 auslöst, ein „Arrangement von Anwesendem“42. Und trotzdem würde niemand behaupten wollen, dass es ein religiöser Akt ist zu sprechen. Mit Ilona Nord können wir nun sagen, dass sich der christliche Glaube die Dynamik von Immersionen zu Hilfe nimmt. Bei Nord wird dagegen nicht klar unterschieden zwischen Immersion als Hilfsmittel und als Wesen des christlichen Glaubens. Worin liegt aber nun der spezifische Charakter der Immersion in der christlichen Verkündigung? Dazu macht Frau Nord Andeutungen über den religiösen Charakter von Immersionen allgemein. In der Immersionserfahrung soll die Medialität vergessen werden.43 Im Anschluss daran wage ich die These, dass der spezifische Charakter christlicher Immersion darin besteht, dass eine spezifische medial vermittelte Unmittelbarkeit auftritt. Die Sprache des Evangeliums erzeugt Wirklichkeiten, die als unmittelbar erlebt werden, sobald sie verstanden worden sind. Es entsteht eine Atmosphäre unmittelbarer Nähe zu Gott. Diese Wirklichkeiten werden unmittelbar erlebt, obwohl sie medial vermittelt sind. Die christliche Verkündigung vergegenwärtigt medial eine Atmosphäre, die so erscheint, als ob es des Mediums nicht mehr bedürfe. Verkündigung ist die Leiter, die man umwirft, noch während man auf ihr hinaufsteigt. Der Cyberspace hat eine ähnliche Anziehungskraft. Auch dort kann man sich ins Internet vertiefen, als ob man nicht mehr am Schreibtisch säße. Man wird „magisch“ vom Medium angezogen, als wäre man „drin“. Der Cyberspace hat gegenüber dem christlichen Wort auch den Vorteil, verstärkt auf optische Medien zu setzen. Dadurch wird nämlich stärker räumliche Präsenz suggeriert: Man kann nur sehen, was in der Nähe ist. Worte dagegen zeichnen sich dadurch aus, aus ursprünglichen Situationen herausgelöst werden zu können. Sie können sich sogar vom Sprecher freimachen und sind daher atmosphärisch schwächer als eine optische Simulation. Das liegt auch daran, dass das Sehen stärker räumliche Nähe suggeriert als das Hören. Dass Sehen eine stärkere virtuelle Anziehungskraft ausübt als das Hören, liegt an der Suggestivkraft des Sehens. Das Auge „ist“ dort, wo es hinsieht. Das Ohr hält dagegen tendenziell stärker die Distanz zum Gehörten. 40 41 42 43
Nord, Realitäten des Glaubens, 43. Nord, Realitäten des Glaubens, 119. Ebd. Nord, Realitäten des Glaubens, 110, 185.
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Vielleicht bedeutet das auch, dass man sich über negative akustische Reize eher „ärgern“ kann, während negative optische Reize stärker anekeln als ärgern: Ekel setzt nämlich ein, wenn die Immersion zu dicht geworden ist44, wogegen das Hören tendenziell weniger zulässt, dass etwas zu dicht wird.45 Gerade das ist aber umgekehrt die Stärke der Immersionskraft durch die christliche Verkündigung. Sie vergegenwärtigt einen Zuspruch, ohne den Sprecher mit vergegenwärtigen zu müssen. Oder anders: Sie kann das Wort auf einen anderen Sprecher übertragen. Die christliche Verkündigung ist vermittelt über ein Medium, das so wirkt, als ob es des Mediums nicht mehr bedürfe. Sie erzeugt eine Atmosphäre über ein Medium, das sie nicht „besitzt“. Deshalb erscheint die Atmosphäre auch so, als sei sie nicht auf das Medium angewiesen. Und tatsächlich ist die Atmosphäre nicht dauerhaft auf das Medium angewiesen. Zum Beispiel wird ein Bibeltext vorgetragen, aber gehört wird Trost, als würde er unmittelbar wirken. Wird in der Seelsorge gebetet, fangen Menschen oft an zu weinen. Das Gebet ist das sprachliche Medium, in dem sich auf einmal etwas Unmittelbares ereignet. Inhaltlich und sprachlich muss dabei das Gebet keine neuen Gehalte mitteilen. Was sich durch das Gebet verändert, ist die medial vermittelte Unmittelbarkeit. Das Gebet bringt Gott unmittelbar nahe, obwohl es eigentlich ein Medium der Gottesbegegnung ist. Ebenso können auch Predigten wirken. Ein Beispiel soll den Unterschied zwischen der Immersionskraft christlicher Verkündigung und des Cyberspace illustrieren: Manchmal bitten Gottesdienstbesucher den Pfarrer oder die Pfarrerin darum, die Predigt noch einmal nachlesen zu dürfen. Sie wollen dadurch den Trost „festhalten“, den sie beim ersten Hören erfahren haben. Was bei diesem Medienwechsel gleich bleibt, ist die Trosterfahrung. Um sie festzuhalten, reicht es offenbar nicht, sich nur an sie zu erinnern. Man will vielmehr den Eindruck des Zuspruchs reproduzieren, nicht den Inhalt des Zuspruchs, sondern das Geschehen des Zugesprochenwerdens selbst. Auch dieses Geschehen bedarf zwar eines Mediums. Aber wenn der Zuspruch erfahren wird, scheint es so, als ereigne sich der Zuspruch jetzt, und zwar unabhängig vom Medium. Dem Unterschied zwischen einem Zuspruch und dem Ereignen des Zuspruchs entspricht die kategoriale Differenz zwischen Widerfahrnis und seinem Widerfahren, die ich bereits im zweiten Kapitel theologisch interpretiert habe. Danach ist Gott nicht der Inhalt einer Offenbarung, nicht selbst das Offenbarte, sondern die Offenbarung des Offenbarten.46 Zwar ist auch das Offenbarte theologisch bedeutsam, tritt aber hinter sein Ereignen zurück. Dieses Zurücktreten des Offenbarten hinter sein Ereignen habe ich wiederum christologisch interpretiert, zeichnen sich doch christologische Darstellungen 44 Sartre, Das Sein und das Nichts, 597. 45 Anderson, Sartre’s Early Theory of Language, 493. 46 Ohly, Warum Menschen von Gott reden, 40.
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dadurch aus, dass sie etwas darstellen, was ihnen zugleich entzogen ist.47 Wenn Jesus nach dem Johannesevangelium mit dem Vater „eins“ ist (Joh 10,30), so ist er nicht mit dem Vater im Gehalt identisch (dann müsste es „einer“ heißen), sondern entfaltet medial die Entzogenheit Gottes, also das, was sich gerade nicht gehaltlich fassen oder festhalten lässt (Joh 1,18). Die christologische Darstellung Gottes stellt daher den Widerfahrenscharakter eines Widerfahrnisses so dar, dass er sich gerade nicht darstellen lässt.48 Sie ist die dialektische Darstellung der Grenze des Darstellungsfähigen und lässt gerade so das Ereignen hervortreten, das sie darstellt. Entsprechend tritt das Wort als das Medium der Offenbarung zurück, um auch hier nicht einfach einen Gehalt hervortreten zu lassen, sondern das Ereignen eines Gehaltes. Das Wort stellt den Widerfahrenscharakter so dar, dass er sich zugleich der Darstellung entzieht. Er muss sich vielmehr aktuell ereignen, damit Menschen von ihm erfasst werden. Das wiederum bedeutet, dass das Medium seines Ereignens gegenüber dem Ereignen zurücktreten muss. Das Neue Testament belegt diese christologische Struktur der Offenbarung Gottes etwa mit der Erzählung, dass Jesu Gottessohnschaft in dem Moment auffällig wird, in dem er stirbt.49 Nicht sein Tod, sondern der Widerfahrenscharakter seines Todes tritt dadurch hervor. In seinem Tod tritt Jesus zurück und vollendet somit in dialektischer Weise die Darstellung Gottes, indem dabei der Widerfahrenscharakter hervortreten kann. Dieses christologische Moment der Offenbarung ist ein typischer Zug der Gotteserfahrung. Er setzt sich somit fort in der christlichen Rede von Gott. Entsprechend ereignet sich medientheoretisch eine christliche Immersionserfahrung, während das Medium hinter dem Ereignen des medial vermittelten Geschehens zurücktritt. Um diesen Charakter nochmals zu schärfen, soll der Unterschied zum Immersionsgeschehen des Cyberspace hervorgehoben werden: Beim Cyberspace ist der Eindruck der Unmittelbarkeit an das Medium gebunden und lässt sich nicht davon trennen. Im Medium besteht der Reiz der Illusion von Unmittelbarkeit. Oder anders: Das Medium ist die Unmittelbarkeit. Demgegenüber macht sich der Eindruck der Unmittelbarkeit der Gottesbegegnung vom Medium gerade frei. Christen greifen zwar bewusst auf Sprachmedien zurück, weil sie wissen, dass hier die christliche Botschaft „gespeichert“ ist. Aber hier ist gerade etwas gespeichert, was sich medial nicht speichern lässt, nämlich das Ereignen des Zuspruchs. Dieses Ereignen lässt sich nicht mit dem Zuspruch selbst identifizieren. Zuspruch kann inhaltlich mediatisiert werden. Aber der Inhalt des Zuspruchs ist nicht zu verwechseln mit dem Ereignen des Zuspruchs. Es bedarf also offenbar des Mediums, aber es bedarf des Mediums so, dass darin das scheinbar unmittelbare Ereignen nicht zu finden ist. Eben 47 Ohly, Was Jesus mit uns verbindet, 29. 48 Ohly, Was Jesus mit uns verbindet, 54. 49 Ohly, Was Jesus mit uns verbindet, 137.
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darin besteht der Unterschied zum Cyberspace: Es sind dort die Suggestivmethoden der Animationstechnik, die den Eindruck der Unmittelbarkeit erzeugen. Deshalb kann zwar der Eindruck entstehen, man sei „wirklich“ in einem virtuellen Raum. Aber die Virtualität selbst kann nicht aus dem Medium heraustreten. Im Cyberspace sucht niemand einen Sinn hinter dem Medium, weil dieser Sinn gerade als Medium fasziniert. Zwar kann auch der Cyberspace eine medial vermittelte Unmittelbarkeit suggerieren, als ob es auf das Medium nicht ankäme. Aber das liegt nur daran, dass das Medium selbst die „Welt“ ist, die man „unmittelbar“ sucht. Die Animation ist die Botschaft. Man hat den Eindruck unmittelbarer Begegnungen, weil das Medium selbst als unmittelbar erlebt wird. Das Spezifische der christlichen Virtualität besteht also nicht darin, dass sie eine medial vermittelte Unmittelbarkeit erzeugt. Vielmehr wird dabei ein Unterschied zum Medium aufgebaut. Es bedarf des Mediums und bedarf auch des Wissens um das Medium. Aber zugleich entsteht der Eindruck, als bedürfe es des Mediums nicht. Denn was sich medial ereignen soll, lässt sich selbst nicht mediatisieren, nämlich das Ereignen eines Ereignisses. Diese spezifische Leistung von Virtualität teilt die christliche Verkündigung mit vielen Formen sprachlicher Kommunikation. Auch ein Liebesbekenntnis kann mündlich und schriftlich vorgetragen werden. Es kann vom Absender persönlich oder stellvertretend von einer anderen Person vorgetragen werden. Spezifisch christlich scheint dagegen zu sein, diese Leistung der Virtualität auch gezielt anzustreben. Das Medium soll unbedeutend erscheinen. Das Ereignen des Zuspruchs soll nicht von einer bestimmten Stimme abhängig gemacht werden. Gerade weil es theologisch gleichgültig ist, wer liest und wer predigt, wird unterstrichen, dass nicht das Medium die Bedeutung trägt. Es ist gerade die Einsicht der dialektischen Theologie gewesen, dass deshalb der Prediger gegenüber der Predigt zurückzutreten habe. Die Predigt soll etwa nach Karl Barth nicht den Eindruck vermitteln, als hänge sie von der Person des Predigers ab – obwohl das natürlich der Fall ist, was Barth auch einräumte.50 Diese Paradoxie zuzulassen, ist christliche Medienpraxis par excellence: Es wird medial die scheinbare Gleichgültigkeit des Mediums mitvermittelt. Wenn demgegenüber heutige Predigttheorien das Ich des Predigers verstärkt in den Mittelpunkt rücken und die „liturgische Präsenz“ der Pfarrerin sogar theaterwissenschaftlich begleiten51, kann das den spezifischen Charakter christlicher Virtualisierung gerade gefährden. Hier kann nämlich die Suggestivkraft abgeschwächt werden, dass das Medium überstiegen werden könne. Eine theaterwissenschaftliche Ausbildung von Liturgen macht theologisch nur dann Sinn, wenn die Übertragbarkeit christlicher Zuspruchskultur eingeübt werden soll.52 50 K. Barth, Menschenwort und Gotteswort, 98. 51 Nord, Realitäten des Glaubens, 108, 116. 52 Das muss nicht heißen, dass liturgisches Handeln unpersönlich sein oder die Predigerin sich
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Warum ist es für christliche Verkündigung bedeutsam, auf eine Weise auf Medien zurückzugreifen, als ob sie verzichtbar wären? Weil der Heilige Geist ein Anwesenheitsphänomen ist, das sich vom Anwesenden emanzipieren kann! Die Anwesenheit prägt dabei die Wirklichkeit aus, nicht unbedingt auch Anwesendes. Entsprechend hat Karl Barth über die Predigt geschrieben, dass sie Gott in der zudringlichen Zurückhaltung seiner Verborgenheit zu dienen habe.53 Dieser Satz bringt prägnant zum Ausdruck, dass Abwesendes zugleich Anwesenheit manifestieren kann. Gottes „Verborgenheit“ ist „zudringlich“. Gerade in seiner Verborgenheit ist Gottes Anwesenheit wirklichkeitsbildend. Die christliche Verkündigung entspricht dem Anwesenheitsphänomen gerade so, dass die „anwesenden“ Medien nicht Gott anwesend machen, sondern sogar die Anwesenheit des Abwesenden zum Ausdruck bringen. Deshalb kann sich auch ein zweites Mal Trost ereignen, wenn man nach einiger Zeit die Predigt noch einmal liest. Es muss sich aber kein Zuspruch ereignen, weder beim ersten Mal des Hörens noch beim zweiten Nachlesen. Die Medien garantieren nicht den kommunikativen Effekt, denn sie leisten gerade keine Wirklichkeitsanimation wie der Cyberspace, sondern zielen suggestiv auf ihre Selbstüberwindung. Sie zeigen damit mit an, dass nicht sie es sind, worauf es ankommt. Aber auch wenn der Zuspruch fehlschlägt, ist das theologisch bedeutsam. Eine Predigt, die Unverständnis hervorruft oder Ärger oder einfach nur langweilig ist, hat keinen Zuspruch erreicht. Die Anwesenheit des Abwesenden hat sie dennoch hervorgerufen. Dass die Predigt in solchen Fällen nämlich hinter ihrem Anspruch zurückgeblieben ist, wird gerade unmittelbar deutlich. Es tut sich hinter der Predigt eine Anwesenheit auf, die lediglich medial nicht eingelöst wurde. Darin aber besteht ein Charakteristikum des christlichen Gebrauchs von Medien ohnehin: Die Medien geben zu erkennen, dass nicht sie es sind, worum es geht. Sie wollen sich selbst zurückdrängen lassen, um die Anwesenheit des Heiligen Geistes hervorzuheben. In enttäuschenden Predigten zeigt sich Gottes Anwesenheit also medial als sie unerfüllte. Das ist etwas anderes, als wenn sie sich gar nicht gezeigt hätte. Dann nämlich wäre Gott nicht nur abwesend gewesen, sondern seine Anwesenheit wäre nicht einmal zu ahnen gewesen. Und dann hätte man ihn nicht einmal vermissen können. Deshalb gehört zur virtuellen Inszenierung christlicher Gegenwelten das Risiko, dass sie fehlschlägt, und zugleich die Überwindung des Fehlschlags. Denn dieses Risiko meint nur einen Fehlschlag auf der medialen Ebene. Die Anwesenheit des Heiligen Geistes kommt nämlich auch dann zum Tragen, hinter ihrer Botschaft verstecken soll. Allerdings sollten ein Prediger-Ich und eine bewusste Inszenierung des liturgischen Handelns nur Medien sein, die eine Suggestivkraft entfalten sollen, als komme es auf das jeweilige Medium nicht an. Christliche Verkündigung zielt auf den Eindruck von Unmittelbarkeit der Gottesbegegnung. 53 K. Barth, Menschenwort und Gotteswort, 106.
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wenn kein Wort getröstet hat. Keinen Trost zu bekommen, wird ebenso unmittelbar als Gotteserfahrung erlebt – und zwar ebenso, indem das Medium hinter dieser unmittelbaren Erfahrung zurücktritt. Nur deshalb kann dem Pfarrer vorgeworfen werden, Gott nicht gerecht geworden zu sein, weil sich Gott unmittelbar anders gezeigt hat, als er medial dargestellt worden ist. Auch so zeigt sich die Anwesenheit des Heiligen Geistes, der sich von der medialen Präsenz unabhängig macht, nachdem sie ihn einmal eingeführt hat.
7. Die Kraft der Sakramente Das Ergebnis des vorigen Kapitels lautete, dass die Kirche auf Medien setzt, die den Eindruck vermitteln, als könnte man ihnen entkommen „zur Sache selbst“. Diese Sache selbst ist allerdings kein bestimmter Gehalt, sondern das Widerfahren eines bestimmten Gehalts. – Eine scheinbare Gegenbewegung bilden die Sakramente. Hier scheinen nun bestimmte sinnliche Handlungsvollzüge notwendig zu werden, um die Anwesenheit Gottes zu erfahren. Gerade deshalb scheinbar müssen sie wiederholt werden. Prägnant ausgedrückt: Das Abendmahl wird wiederholt, um Christus „wieder zu holen“. Schaut man aber genauer hin, handelt es sich um denselben Umgang mit Medien wie schon beim Wort: Es wiederholt sich der Überstieg vom Medium. Ich hatte bereits die Beobachtung des Medienwissenschaftlers Jochen Hörisch wiedergegeben, wonach beim Abendmahl die Medien verzehrt werden, die die Anwesenheit Christi zur Erscheinung bringen sollen. Christi Anwesenheit wird also durch ein Medium provoziert, das dabei verschwindet. In der Taufe ist das ähnlich: Zwar wird die Taufe nur einmal im Leben vollzogen; allerdings wiederholt sich das Taufritual für die Gemeinde. Gerade der Trend der letzten Jahrzehnte bestätigt das, wonach die Taufe in Gemeindegottesdiensten vollzogen wird.1 Und trotzdem wiederholt sich die Nähe Gottes durch ein Medium, das zugleich verschwindet: Das Taufwasser auf dem Kopf trocknet bald oder wird in der Regel sogar abgewischt. Wiederholung, Anwesenheit, und zwar im Verschwinden sind daher drei Momente, die das Abendmahl und die Taufe gleichermaßen prägen. Damit ist aber noch nicht erklärt, warum die Sakramente für den christlichen Glauben einen so hohen Stellenwert haben. Rund 90 Prozent aller evangelischen Eltern würden gerne ihre Kinder evangelisch taufen lassen.2 Auch Abendmahlsfeiern bei Gottesdiensten mit einer weiten Öffentlichkeit (Konfirmation, Ewigkeitssonntag) werden von fast allen Anwesenden mitgefeiert. Dabei spielt es keine Rolle, ob man selbst einer anderen Konfession oder gar keiner angehört. Warum ist der Stellenwert der Sakramente derart hoch, wenn sie zunächst die gleichen medialen Momente des christlichen Gebrauchs enthalten wie die christliche Wortverkündigung? zumal man eingestehen muss, dass auch das Wort eben medial vermittelt ist, also ebenfalls die sinnliche Wahrnehmung anregt. (Eine Predigt will nicht nur überzeugen, sondern auch ästhetisch ansprechen.3) 1 Fechtner, Von Fall zu Fall, 89. 2 Domsgen, Kirchliche Sozialisation, 73–94, 80. 3 Volp, Liturgik Bd. 2, 1078.
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Zudem muss man fragen, worin der eigene Charakter der Sakramente besteht. Die Reformation hat den Gebrauch der Sakramente der Wortverkündigung unterstellt. Ein Sakrament ist nicht nur darüber begründet, dass es biblisch legitimiert ist. Vielmehr ist den Reformatoren am Wort auch „mehr… gelegen“4 als am Sakrament. Das Sakrament wird an die Wortverkündigung gebunden. Welche eigene Kraft steckt dann überhaupt in den Sakramenten? Die Frage nach dem Charakter der Sakramente wirkt sich auch ökumenisch aus. Bekanntlich unterscheidet sich schon die Anzahl der Sakramente. Die katholische Kirche orientiert sich dabei am persönlichen Lebensvollzug der Glaubenden und genügt damit stärker einer religionswissenschaftlich gestützten Ritualtheorie. Zwar erinnert der katholische Theologe Karl Rahner daran, dass das Konzil von Trient die sieben katholischen Sakramente biblisch von Jesus her hergeleitet hat.5 Dennoch ist für ihn entscheidend, dass die Kirche von Christus her bevollmächtigt ist, die genaue Zahl eigenständig festzulegen.6 Dadurch orientiert sich Rahner zufolge die katholische Kirche an der Wirksamkeit der Sakramente und nicht an der historischen Einsetzung durch Jesus selbst.7 Demgegenüber hält sich die evangelische Kirche an Luthers Maßgabe, der die Sakramente einer biblischen Begründung unterzogen hat: Diejenigen sinnlich wirksamen Zeichen der Gnade Gottes, die nach dem Zeugnis der Bibel göttlich institutionalisiert8 sind, sind als Sakramente zu definieren.9 An dieser biblischen Grundlegung ist manches fragwürdig: Erstens hat Luther damit seine Engführung nur durch eine gewaltsame Bibelinterpretation aufrechterhalten können. So sind zum einen die sinnlichen Zeichen des Alten Testaments auch göttlich eingesetzt. Luther weist sie dennoch als Sakramente zurück, weil sie nach seiner Auffassung keine sinnlich wirksamen Zeichen der Rechtfertigung allein aus Gnade seien. Dies kann er nur behaupten, weil sich für ihn im Alten Testament die Rechtfertigung allein aus Gnade noch nicht erfüllt hat, da Christus zu diesem Zeitpunkt noch nicht gekommen ist. Damit muss er aber die Spuren rechtfertigungstheologischen Handelns Gottes ignorieren, die bereits im Alten Testament angelegt sind (zum Beispiel das Passah, die Beschneidung, der Sabbat), die nach dem Verständnis der entsprechenden alttestamentlichen Stellen als wirksame Zeichen der göttlichen Gnade und Lebensrettung eingesetzt sind. Viel schwerer wiegt aber, dass auch ein neutestamentliches wirksames Zeichen von Luther nicht aufgegriffen wird, obwohl es göttlich eingesetzt worden ist: nämlich die Krankenheilung (Mt 10,8). Die Krankenheilung genügt Luthers Sakramentsbegriff, und zwar noch mehr als die Beichte, die Luther zwar nicht als vollwertiges Sakrament ansieht, 4 5 6 7 8 9
Luther, WA VI, 374. Rahner, Was ist ein Sakrament?, 66. Rahner, Was ist ein Sakrament, 84f. Rahner, Was ist ein Sakrament, 81. Luther, Werke; WA VI, 572. Zum Folgenden Luther, Werke; WA VI, 531f.
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aber im Kleinen Katechismus doch in einem Atemzug mit Taufe und Abendmahl nennt. Zweitens ist der Begriff „Sakrament“ selbst kein biblischer Begriff. Es wird also von vornherein ein nicht-biblischer Zusammenhang hergestellt und rückwirkend biblisch gerechtfertigt. Ebenso gut hätte Luther dann aus biblisch-theologischen Gründen zurückweisen können, dass zum christlichen Glauben der Vollzug von „Sakramenten“ nötig sei. Demgegenüber wirkt das katholische Sakramentsverständnis flexibler und bedürfnisgerechter. Das reformatorische Sakramentsverständnis ist faktisch nicht geradlinig begründet, lässt aber gerade deshalb ebenfalls eine, wenn auch ungewollte, flexible Weiterführung zu. Um sich über die Kennzeichen der Sakramente klar zu werden, werde ich eine phänomenologische Perspektive wählen. Dabei konzentriere ich mich in einem ersten Schritt auf die beiden Sakramente, die interkonfessionell unumstritten sind. Anschließend untersuche ich die Frage, ob wir überhaupt einen gemeinsamen Oberbegriff brauchen für die Phänomene, die mit dem Abendmahl und der Taufe gegeben sind.
7.1 Wie wirken Sakramente? Wenn sich unter dieser Sektion der Sakramentsbegriff ausschließlich auf Taufe und Abendmahl bezieht, so soll weder eine Vorentscheidung über den Sakramentsbegriff getroffen werden noch die genaue Anzahl vorentschieden sein. Diese Fragen werden erst in der nächsten Sektion verhandelt. Vielmehr gehe ich induktiv vor, indem ich die beiden Sakramente für die Untersuchung zugrunde lege, die im ökumenischen Kontext unstrittig sind. Dabei möchte ich folgende Fragen verhandeln: Wirken erstens die Sakramente nur durch das Wort der Verkündigung oder wirken sie auch „für sich“? Welche Wirkung können wir zweitens phänomenologisch von ihnen entwickeln? 7.1.1 Wort und Sakrament Mir scheint auf evangelischer Seite ein Missverständnis vorzuliegen, wenn behauptet wird, dass die Sakramente in der Geschichte der Reformation als zweitrangig gegenüber dem Wort verstanden worden sind. Horst Georg Pöhlmanns Dogmatik-Lehrbuch mag hier als Paradebeispiel gelten. Die Sakramente wirken nach Pöhlmanns Interpretation der Reformatoren nicht durch den bloßen Vollzug („ex opere operato“), sondern weil ihnen durch die christliche Verkündigung ein Sinn zugeführt wird, den sie für sich genommen nicht hätten: „Die Sakramente wirken… nur, wenn man ihrem Wort glaubt.“10 10 Zum Folgenden Pöhlmann, Abriß der Dogmatik, 295.
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Damit gerade habe sich die Reformation von dem katholischen „ex opere operato“ distanziert.11 Wie erklärt sich dann aber der Sachverhalt, dass die Sakramente nach reformatorischem Bekenntnis auch gültig sind, wenn sie von Ungläubigen vollzogen werden?12 Nicht die Würdigkeit der Person entscheidet nämlich über die Wahrhaftigkeit des Sakraments, sondern der Sakramentsvollzug selbst. Hängt etwa die Wahrhaftigkeit des Sakraments am bloßen Vollzug der Wortverkündigung, unabhängig davon, dass ihre Botschaft überzeugend ist oder dass die predigende Person selbst davon überzeugt ist? In diesem Fall würde nicht das Sakrament an das Wort gebunden, sondern umgekehrt das Wort „sakramentalisiert“: Das Sakrament hinge dann nämlich an der Wortverkündigung, die „ex opere operato“ wirken würde. Und wenn sie das eine oder andere Mal gefehlt hätte? Nun mögen noch die Einsetzungsworte das Abendmahl kennzeichnen und die Taufformel die Taufe. Aber was, wenn die Verkündigung bei einer Taufe gefehlt hätte? Wären sie dann ungültig? Könnte man ihren „character indelebilis“ anfechten? Was, wenn ein Abendmahlsgottesdienst ohne Predigt gefeiert wird? Ist dann nicht wirklich Abendmahl gefeiert worden? Ganz offensichtlich hat die evangelische Praxis keine Probleme mit solchen Fällen. Selbst wer in zweifelhaften Gemeinschaften mit der trinitarischen Formel getauft worden ist, verdient nach evangelischem Verständnis die Anerkennung als Getaufter. Damit bekommen die Sakramente einen Charakter zuerkannt, der sich sehr wohl im bloßen Vollzug verwirklicht. Außerdem bleiben die Sakramente auch gültig, wenn der Glaube fehlt. Bekanntlich wird kirchenrechtlich und theologiegeschichtlich der „character indelebilis“ nicht angetastet, wenn ein Getaufter aus der Kirche austritt. Ebenso wird die Sünden vergebende Kraft des Abendmahls nicht dadurch angetastet, dass ein Nichtchrist sie mitfeiert. Nun geht es Pöhlmann aber nicht um die bloße Wortverkündigung, die nur als notwendige Bedingung des Sakramentsvollzugs genannt wird. Hinreichend ist für ihn dabei der Glaube an das Wort. Um seine Meinung zu belegen, zitiert Pöhlmann aus einem Aufsatzband von Gerhard Ebeling, der von einer „reformatorische[n] Konzentration auf Wort und Glaube“ spricht. Tatsächlich ist aber dieses Zitat völlig aus dem Zusammenhang gerissen: Weder hat sich Ebeling dabei konkret auf die Reformationsgeschichte bezogen noch auf die Sakramentspraxis. Daher taugt sein Zitat nicht als Beleg für Pöhlmanns Interpretation. Pöhlmann könnte sich vielmehr auf Luther selbst beziehen, der 11 Michael Welker, der als systematischer Theologe den sinnlichen Bezug des Abendmahls besonders stark herausgearbeitet hat, fällt ebenso wie Pöhlmann hinter eine versinnlichende Vergegenwärtigung der Anwesenheit Christi zurück, wenn er schreibt, „daß die sogenannten Elemente und der rituelle Vollzug sich nicht selbst genügen. Sie sind als ,Elemente‘ und als kultischer Vollzug angewiesen auf die versammelte Gemeinde, auf das Wort der Verkündigung, auf die ausdrückliche Erinnerung Christi und die Erläuterung dieses Geschehens“ (Welker, Was geht vor beim Abendmahl, 106). 12 Luther, Werke WA XXXVIII, 241.
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etwa vom Taufwasser im Kleinen Katechismus schreibt: „Wasser tut’s freilich nicht, sondern das Wort Gottes, das mit und bei dem Wasser ist, und der Glaube, der solchem Worte Gottes im Wasser traut.“ Allerdings hat Luther damit die Taufe nicht etwa auf das Wort reduziert, wie es eine scheinbare „reformatorische Konzentration auf Wort und Glaube“ zu unterstellen scheint. Offenbar nimmt Luther eher an, dass Wort und Wasser gemeinsam einen Sinnraum eröffnen („mit und bei dem Wasser“), den das Wort allein nicht erschließt. Während bei Luther der Weg nicht einfach vom Wort zum Glauben geht, sondern vom Wort über das Sakrament zum Glauben führt, geht bei Pöhlmann der Weg vom Wort über den Glauben zum Sakrament. Dabei scheint Pöhlmann entweder davon auszugehen, dass es einen Glauben ohne eine sich aktuell vollziehende Wortverkündigung nicht gibt (starke Variante). Oder er scheint zu meinen, dass der Glaube an die Wirkkraft des Sakraments davon abhängt, dass man zumindest sich daran erinnern kann, wie seine Bedeutung einem verkündigt worden ist (schwache Variante). Dabei scheint Glaube für ihn ein denkendes und einsichtiges Verhalten zu meinen oder zumindest zu enthalten.13 Ich stimme Pöhlmann zu, dass der Glaube auch einsichtiges Denken enthält. Gerade wenn Glaube eine Anerkennung der Treue zur Folge hat – wofür ich bisher in diesem Buch eingetreten bin –, bedarf Anerkennung der denkenden Einsicht. Die Frage allerdings schließt sich an: Ist dieses einsichtige Verhalten eine Bedingung der Heilswirkung der Sakramente oder ihre Folge? Zumindest fällt auf, dass nicht nur in der gegenwärtigen Gottesdienstpraxis, sondern auch in der praktisch-theologischen Diskussion der Sakramentstheologie eine sinnliche Eigenständigkeit von Taufe und Abendmahl zugrunde gelegt wird14: Die Sakramente haben eine eigene Bedeutung, die sie nicht erst durch das Wort oder den Glauben an das Wort empfangen.15 Sie sind vielmehr eigenständige „Medien“ des Glaubens, die das Ziel haben, „Absenzen zu überwinden“16. Der französische Religionsphilosoph Jean-Luc Marion hat für das katholische Abendmahlsverständnis diese sakramentale Überwindung von Abwesenheit näher charakterisiert. Sein Ausgangspunkt ist Jesu Unterstellung: „Ich bin das Wort.“17 Damit verschmilzt nämlich der Sprecher mit dem gesprochenen Wort: Der Darsteller ist die Darstellung. Das führt dazu, dass der Sinn der Worte nicht ohne die Präsenz des Darstellers erfasst werden kann. Wenn Jesus Christus das Wort ist, dann stottern wir. Dann ist nichts außerhalb seiner
13 Pöhlmann, Abriß der Dogmatik, 109. 14 Volp, Liturgik Bd. 1, 52; Fechtner, Von Fall zu Fall, 93f. Entsprechend umgekehrt ist die Verkündigung darauf ausgerichtet, nämlich darauf, „was rituell-symbolisch kommuniziert wird“ (98). 15 Nord, Realitäten des Glaubens, 52f. 16 Nord, Realitäten des Glaubens, 158. 17 Marion, God Without Being, 140.
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selbst zu sagen.18 Verständnis glänzt durch seine Abwesenheit.19 Gerade durch dieses Moment, in dem das Unverständnis auffällig wird, begegnet Christus. Er begegnet als die abwesende Seite dessen, was Worte verständlich machen. Da er aber begegnet, wird das mangelnde Verständnis übergeleitet in eine Anwesenheit. Diese Anwesenheit ist das Geschehen der Eucharistie. Es handelt sich um ein „transition from the hermeneutic to the Eucharist“20, der die Augen öffnet. Von diesem Verständnis her macht Marion verständlich, warum nach katholischer Einsicht das Abendmahl im reinen Vollzug „ex opere operato“ seinen Sinn entfaltet, da nämlich die zugrunde liegenden Worte nur die abwesende Seite Christi repräsentieren können. Christus muss aber leibhaftig anwesend sein, damit Worte „sprechen“ können. Das Wort bildet die Negativfolie für die Präsenz Christi: Weil in der Sprache seine Abwesenheit auffällt, kann er nur anders erscheinen – nicht aber in einem anderen Medium, das selbst wieder nur die Getrenntheit zu ihm aufzeigen würde. Vielmehr erscheint Christus in der Einheit von Vollzug und Sinn. Seine Präsenz ist reines Ereignen21, er ist das Wissen über sich in Fakt und in Körper (statt in Gehörtem oder Gesehenem).22 Das Besondere am Abendmahl besteht Marion zufolge darin, dass es ein Ereignis ist, in dem sich Jesu Jünger mit ihm assimilieren.23 Sie erhalten Verständnis von ihm, dem Wort, indem sie in ihm verkörpert werden. Indem sie ihn essen und sich damit mit ihm assimilieren, werden sie durch ihn assimiliert.24 Marion scheint anzunehmen, dass man Christus nur dann versteht, wenn man in die Einheit von Vollzug und Sinn integriert wird. Verstehen ist „Wissen in Fakt und Körper“. Es ereignet sich aber für uns nur im aktuellen Vollzug der Assimilation, also im Vollzug der Eucharistie selbst. Deshalb ist das Abendmahl nur „ex opere operato“ adäquat. Es handelt sich also nur um eine augenblickliche Assimilation und um keine dauerhafte. Das Verstehen Christi ist lediglich ereignishaft möglich. Es bleibt also bei aller augenblicklichen Verschmelzung während der Eucharistie eine grundsätzliche Differenz bestehen zwischen Christus und uns. Die Einheit ist „fragmentarisch“25. Damit wird letztlich keine indifferente Einheit behauptet, sondern ein differenziertes „Bei-uns-Sein“ Christi, was ein Charakterzug von Anwesenheit ist.26 Marions Einschätzung des Abendmahls berührt sich stark mit dem evan18 19 20 21 22 23 24 25 26
Ebd. Marion, God Without Being, 150. Ebd. Marion, God Without Being, 143f. Marion, God Without Being, 147. Marion, God Without Being, 151. Ebd. Vgl. Marion, God Without Being, 157. Kap. 2.
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gelischen Medienverständnis, das ich im sechsten Kapitel dargestellt hatte.27 Dadurch lassen sich auch seine nicht-evidenten Voraussetzungen phänomenologisch relativieren, zum Beispiel dass es der Anspruch Christi ist, dass er das Wort im Vollzug sei, und dass dieser Anspruch wahr ist. Vielmehr müsste sich dieser Anspruch im Vollzug erweisen, ohne scheinbar dabei auf ein Medium angewiesen zu sein. – Allerdings ist Marions Voraussetzung im ökumenischen Kontext zumindest implikativ evident, wenn Christus als UrSakrament gilt, was eine ökumenische Basis ist.28 Wenn nämlich Christus die Sakramente einsetzt aufgrund seiner Wirkkraft, dann wird damit der Vollzugscharakter seiner Einsetzung unterstrichen. Marion geht von dieser implikativen Evidenz aus, wenn er Christus als die Einheit von Vollzug und Sinn interpretiert. Deswegen ist seine Schlussfolgerung auch für das ökumenische Gespräch bedeutsam, nach der das Abendmahl seine Wirkkraft nur im Vollzug, „ex opere operato“ entfalten kann. Marions Darstellung geht allerdings einher mir einer völligen Dekonstruktion sprachlichen Sinns: Theologie kann es so nicht mehr geben außer als eine Offenbarungstheologie, die im Grunde blind ist für das, was sich offenbart. Ihre Erkenntnis besteht nur im Ereignen der Offenbarung.29 Dieses Problem ist deswegen nicht zu unterschätzen, weil sich die Frage stellt, wie Christen außerhalb des Abendmahls ihre Orientierung als Christen wahren können sollen. Marion bietet für dieses Problem nur die Lösung eines Stellvertreters Christi an: Es ist der Bischof, der als Einziger fähig ist, Theologie zu betreiben.30 Nur vermittelt über den Bischof kann also die Gemeinde Texte als christliche Botschaften verstehen.31 Warum? Weil der Bischof eine heilige Person ist, die in einer mystischen Union mit Christus verbunden ist.32 Diese mystische Union geht dabei über den Augenblick des Abendmahls hinaus. Mit dieser Lösung kassiert Marion freilich die Ereignis-Theologie, die er bis dahin entwickelt hat, und formuliert eine Kontinuitätstheologie in apostolischer Sukzession. Dabei erstarren die Formeln des kirchlichen Lehramts, die Marion zuvor dekonstruiert hatte. Hätte er nicht einfach behaupten können, dass Theologie zumindest eine Ahnung für den ereignishaften Vollzug des Wortes erzeugt, wenn er sich auch nur im Sakrament entfaltet? Dann hätte Marion seine Vollzugs-Theologie beibehalten können. Theologie könnte dann als „anreizende“ Rede von Gott charakterisiert werden. Sie würde auf ein Ereignis aufmerksam machen, ohne zugleich einlösen zu können, worauf sie spurenhaft33 hinweist. Im Ergebnis hat Marion „zu wenig Wort“, wie Pöhlmann umgekehrt „zu 27 28 29 30 31 32 33
Sektion 6.3. Luther, Werke WA VI, 86. Marion, God Without Being, 143, 153. Marion, God Without Being, 153. Marion, God Without Being, 152. Marion, God Without Being, 155. Marion, God Without Being, 144.
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viel Wort“ hat. Dennoch ist Marions Vorschlag weiterführend, die Sakramente phänomenologisch in ihrem Vollzug zu ermitteln. Damit komme ich zur zweiten Frage: Welche Wirkung können wir phänomenologisch von den Sakramenten entwickeln? 7.1.2 Auf der Schwebe Das Abendmahl mutet allen, die es mitfeiern, Nähe zu. Niemand feiert das Abendmahl allein für sich. Die räumliche Nähe zu anderen Menschen ist mit ausschlaggebend für das Abendmahl. Es ist das Anwesendsein, das nun auch in körperlicher Hinsicht verlangt wird: Man muss sich körperlich nahe sein. Natürlich muss auch die Speise materiell anwesend sein. Genauso ist es mit der Taufe: Niemand tauft sich selbst, sondern jeder Getaufte bedarf der körperlichen Nähe einer anderen Person, die ihn tauft. Das Wasser führt dabei an die Erfahrung sinnlicher Nähe heran wie kein anderes natürliches Element: Wasser zieht in die Haut ein und wird auch tief unter der phänomenalen Haut gespürt. Kein anderer Stoff ist dazu fähig, ohne den menschlichen Körper zu verletzen. Ein Druck auf die Haut mit einem stumpfen Gegenstand lässt zwar auch den eigenen Körper unter der Haut spürbar werden. Aber der Druck „befindet“ sich nicht auf der „Innenseite“ der phänomenalen Haut. Er kommt nicht vom Körper her, sondern eben von außen. Hier ist die Richtung des gespürten Drucks eindeutig. Wasser dagegen spürt man „von beiden Seiten“: Es fühlt sich etwa kalt auf und unter der Haut an. Darin liegt der phänomenologische Sinn der Feststellung, das Wasser hautdurchlässig ist. Taufe und Abendmahl verbinden also die körperliche Nähe mit anderen Menschen und die körperliche Nähe mit solchen Elementen, die „durch und durch“ gehen: Ebenso wie Speise schonungsvoll „einverleibt“ wird, geht Wasser unter die Haut, ohne den Körper dabei zu verletzen. Die Elemente erweisen sich zwar als unzureichend oder als unangenehm: Das Abendmahl macht nicht satt, und selbst wenn man es als Sättigungsmahl feiern würde, käme irgendwann der Hunger wieder auf. Und gerade das Kindergeschrei bei der Taufe belegt, dass das Taufwasser unangenehm ist. Dabei bleibt offen, ob das Kind durch den Stoff selbst oder durch den Vollzug des Übergießens durch eine fremde Person beunruhigt wird. Zugleich erweisen sich die Elemente aber auch als behutsam und erträglich für den Körper. Das gilt überhaupt für diese Art von Nähe: Sie ist eine Zumutung, aber eine erträgliche Zumutung. Die Abendmahlsteilnehmenden entscheiden bisweilen sehr genau, wer in ihrer Nähe stehen soll. Natürlich ist auch das Trinken aus einem Kelch eine Zumutung. Aber schon die körperliche Nähe und der zeitgleiche Verzehr in der Nähe ist eine Zumutung, für die man sich entscheiden muss. Wer sich dafür entscheidet, schließt offenbar trotzdem noch Kompromisse. Es wird von den Teilnehmenden keine kompromisslose Auslieferung an diese Nähe inszeniert (als ob ich mich etwa unbedingt neben meine Nachbarin
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stellen muss, mit der ich im Streit liege). Denn Nähe ist schon als solche eine Zumutung. Aber sie lässt genug Spielraum, sich ihr aussetzen zu können. Und sie ist behutsam genug, dass man ihr nicht verfällt, wenn etwas passiert, was man nicht wollte (zum Beispiel dass man unversehens doch neben der Nachbarin steht). Ebenso ist es mit der Taufe. Kindergeschrei und unbeholfenes Verhalten der Tauffamilien befremden das Gottesdiensterlebnis für die übrige Gemeinde. Umgekehrt lässt die geringere Quote an getauften Kindern, wenn ihre Eltern alleinerziehend sind, ahnen, dass die Begegnung im Gemeindegottesdienst eine hohe Hürde für Familien darstellen kann, die die Taufe begehren. Überhaupt ist die Taufe für die Tauffamilien eine Zumutung, die sie aushalten müssen, wenn sie sich für sie entscheiden: Sie feiern ein Ritual mit, das sie in der Regel nicht besonders gut kennen, mit Menschen, die sie nicht kennen, von einem Ereignis, das für sie sehr persönlich ist, in dem sie aber für ein fremdes „Publikum“ im Rampenlicht einigermaßen widerwillig inszeniert werden. Was zu ertragen ist, ist Nähe – manchmal eine ärgerliche und anstrengende Nähe, aber immerhin keine zersetzende oder zerstörerische Nähe. Kristian Fechtner hat deshalb auch zu Recht davon gesprochen, dass „im Taufgeschehen ein Moment der Trennung mitkommuniziert wird“34: „Die Kernhandlung der Taufe separiert den Täufling, im Ritual der Wassertaufe nämlich ist er unvertretbar alleine.“35 Dieses Alleinsein setzt aber gerade Nähe voraus. Der Täufling ist gerade im Gegenüber zu allen anderen, die sich in seiner Nähe befinden, allein. Sieht man sich also Taufe und Abendmahl „ohne Worte“ an, also ohne die vermittelnde Botschaft von Jesus Christus, so fällt auf, dass beide Rituale eher konfliktreiche oder anstrengende Auseinandersetzungen mit Nähe sind. Man könnte sie zugleich auch als Einübungen in Nähe bezeichnen, denn als Rituale werden sie ja gewählt: Sie sind kulturelle Schöpfungen und keine Naturereignisse. Es besteht kein Zwang zur Teilnahme, auch wenn es hier und da einen gewissen sozialen Druck geben mag, sich dieser Nähe auszusetzen. Selbst dann bedeutet jedoch ein solches Aussetzen an Nähe kein Ausliefern an Nähe. Taufe und Abendmahl sind also zwar keine Spaßveranstaltungen, werden aber dennoch gewählt und als kirchliche Rituale angeboten. Zu diesen Ritualen gehört das Wort, und zwar zunächst die enge Bindung an die jeweiligen Einsetzungsworte. Insofern Taufe und Abendmahl kulturelle Schöpfungen sind, enthalten sie auch eine sprachliche Präzisierung. Aber es ist dennoch auffällig, dass beide Rituale eine Ähnlichkeit haben, die man auch ohne ihre sprachliche Präzisierung erkennen kann: ihr zumutender Charakter von körperlicher Nähe. Es fällt außerdem auf, dass die Einsetzungsworte diesen Charakter nicht betonen, sondern nur voraussetzen: „Dies“ ist Christi Leib und Blut. Damit wird Nähe indiziert. Die Anwesenheit Christi wird hier 34 Fechtner, Von Fall zu Fall, 93. 35 Fechtner, Von Fall zu Fall, 92.
Wie wirken Sakramente?
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repräsentiert – in körperlicher Nähe. Eine Gemeinschaft wird vorausgesetzt: „Das tut“ oder „Taufet sie“ ist kein Aufruf an einzelne, sondern richtet sich an mehrere zugleich. Aber der Charakter dieser Nähe wird nicht erläutert. Er wird erlebt. Immerhin findet sich in den Einsetzungsworten zum Abendmahl beim Kelchwort der Zusatz „zur Vergebung der Sünden“. Könnte dies die theologische Interpretation für die zugemutete aber auch zumutbare körperliche Nähe sein? Die Einsetzungsworte der Taufe nach Mt 28,18–20 enthalten zwar keinen entsprechenden Verweis auf die Sündenvergebung. Allerdings hat Paulus im Römerbrief eine entsprechende Verbindung gezogen (Röm 6,1–11). Anscheinend assoziieren also beide Rituale auch in ihrer sprachlichen Erläuterung eine konfliktträchtige Ambivalenz, nämlich die von Sünde und Vergebung. Präzisiert wird aber diese Ambivalenz, indem sie erlebt wird: die Bereitschaft, das Anstrengende zu ertragen; die Zumutung zu wählen; von ungewollter Nähe nicht erdrückt zu werden. Darin besteht die Wirkkraft der Sakramente: nicht einfach in der körperlichen Nähe und auch nicht nur in der Ambivalenz, die in ihr liegt, sondern darin, dass diese Ambivalenz gewählt wird – oder dass man sich nicht gegen sie wehrt, obwohl man sich gegen sie wehren könnte. Wenn die Sakramente zur Sündenvergebung gespendet werden, dann wird durch ihre sinnliche Ambivalenz der Charakter der Sündenvergebung präzisiert. Er wird nicht „gedeutet“, sondern erlebnismäßig präzisiert. Damit wird Sündenvergebung nicht vereindeutigt, sondern erlebnismäßig auf der Schwebe gehalten. Sündenvergebung enthält gerade diese Schwebe. Damit ist sie gerade nicht endgültig „ausgedeutet“, sie „bedeutet“ nicht etwa diese Schwebe. Allerdings steht jegliche Deutung der Sündenvergebung auf dieser Schwebe. Deshalb sind die Sakramente auch nicht ersetzbar durch das Wort. Und sie wirken auch nicht nur durch den Glauben an das Wort. Ihre Wirkkraft entfalten sie gerade in körperlicher Nähe. Das ist erst recht der Fall, wenn die Sakramente eine andere Bedeutung haben sollten als die, Sündenvergebung zu versinnlichen. Wenn sie nämlich dann offenbar etwas sprachlich Unbestimmtes bewirken, dann sind sie dabei eben auch nicht an Wort und Glaube gebunden. Sie entfalten vielmehr eine Eigendynamik, auf die sich das Wort beziehen kann, ohne sie dabei aber einzuholen. Was immer sich also theologisch aus den Sakramenten ergibt, muss sich an diese Schwebe halten. Es steht somit in der Klammer dieser Schwebe. Wenn in diesem Zusammenhang von der Sündenvergebung gesprochen wird, dann ereignet sich Sündenvergebung gerade in dieser Schwebe. Es wäre zwar zu stark ausgedrückt zu behaupten, dass die Sündenvergebung in dieser Schwebe besteht. Und doch bezieht Sündenvergebung diese Schwebe ein. Wer Probleme hat, neben seiner Nachbarin das Abendmahl zu empfangen, hat offenbar den Streit noch nicht abschließen können. Streit und Schlichtung sind beide noch auf der Schwebe. In dieser Schwebe ereignet sich Sündenvergebung:
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Gerade weil der Konflikt als eine unerledigte Sache erlebt wird, wird hier mehr erlebt als nur der Konflikt selbst. Es wird seine Schwebe erlebt. Sündenvergebung ereignet sich in der Offenheit, sich nicht mit einem Konflikt ein für allemal abzufinden, sondern seine Schwebe auszuhalten. Genauso ereignen sich eben in der Taufe entsprechende Konflikte, wie ich sie oben schon illustriert habe. Auch hier werden sie freiwillig ausgehalten, um die Schwebe zu halten. Darin besteht die Präzision durch die Sakramente: Sie geben der christlichen Verkündigung einen Rahmen, in dem ihre Bedeutung erlebt werden kann. Sie legen dabei nicht fest: Ebenso wenig wie sie selbst schon den Konflikt lösen, zwingen sie die Teilnehmenden, sie zu beenden oder zu ignorieren. Die Sakramente sind nicht manipulativ, sondern setzen einen Spielraum, in dem sich die Teilnehmenden auf der Schwebe verhalten können. Will man diese Präzisierung deuten, so kann man sagen: Sündenvergebung ereignet sich auf der Schwebe. Es ist die Schwebe des simul peccator et iustus36. Diese Schwebe bedeutet nicht, dass wir uns schon gerecht verhalten, wenn wir den Konflikt auf der Schwebe halten. Damit würden wir nämlich gerade die Schwebe aufheben und etwas Unerledigtes für gerecht erklären und somit für erledigt. Dass Sündenvergebung sich auf der Schwebe ereignet, ist vielmehr eine Zumutung, die selbst auf der Schwebe steht. Die Sakramente können daher nicht weiter ausgedeutet und vereindeutigt werden, bis man ihrer nicht mehr bedürfte, sobald man einen exakten sprachlichen Sinn für sie gefunden hätte. Ihre Präzisierung ergibt sich vielmehr nur im Vollzug. Gerade das macht sie unverzichtbar, um die Evangeliumsverkündigung zu präzisieren.
7.2 Brauchen wir einen Sakramentsbegriff ? Ich habe leider bisher zirkulär argumentiert, indem ich den Sakramentsbegriff auf Taufe und Abendmahl angewendet und daraufhin eine gemeinsame Eigenschaft für beide Rituale entdeckt habe. Daraus folgt nur zirkulär, dass die gefundene Eigenschaft eine „sakramentale“ Eigenschaft ist. Außerdem wird bei diesem Verfahren einfach vorausgesetzt, dass Taufe und Abendmahl überhaupt Sakramente sind. Zwar steht dies innerhalb der verschiedenen Kirchen auch nicht in Zweifel. Dennoch kann sich eine völlig andere „sakramentale“ Eigenschaft ergeben, wenn man in der Beschreibung nicht nur Taufe und Abendmahl zugrunde legt, sondern auch andere Rituale. Und schließlich könnten auch ganz andere Sakramente entdeckt werden, wenn man anders vorgeht. Um diesen Zirkel zu vermeiden, hat Eberhard Jüngel vorgeschlagen, zu36 Luther, Römerbriefvorlesung; WA LVI, 272.
Brauchen wir einen Sakramentsbegriff ?
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nächst einen dogmatischen Sakramentsbegriff zu entwerfen, um in einem zweiten Schritt zu überprüfen, welche Rituale dann zu ihm passen.37 Folgt man aber Jüngels Aufgabe, könnten meine Beobachtungen zur Wirkkraft von Taufe und Abendmahl nichts für einen Sakramentsbegriff beitragen. Denn weil in beiden eine Ambivalenz von Nähe auf der Schwebe gehalten wird, die begrifflich nicht weiter vereindeutigt werden kann, sperrt sich diese Schwebe gegen eine begriffliche Festlegung. Das heißt aber umgekehrt, dass man problematische Voraussetzungen trifft, wenn man von einem Sakramentsbegriff ausgeht: Die Sicht auf die Phänomene könnte dabei einen blinden Fleck bekommen, der das Entscheidende übersieht. Außerdem – wie entwickelt man einen Sakramentsbegriff ? Aus der Tatsache, dass man einen schlüssigen Begriff konstruieren kann, folgt nicht, dass er schon theologisch richtig ist. Dies umso mehr, als der Sakramentsbegriff nicht biblisch ist und eine theologische Herleitung daher allenfalls mittelbar vorzunehmen ist. Jüngel versucht daher, den Sakramentsbegriff gemäß der reformatorischen Tradition aus der Exklusivität Jesu Christi zu entwickeln: Das Solus Christus macht ihn zum einzigen Sakrament.38 Er wirkt für uns, was er für sich ist.39 Dieser Satz ist für Jüngel Axiom, also ein Leitsatz, der nicht begründungsbedürftig ist, weil er für sich selbst ausreichend überzeugend sei – jedenfalls für Christen. Allerdings verfährt auch Jüngel letztlich zirkulär: Er stellt nämlich als zweites Axiom neben dem Solus Christus einen weiteren Satz auf, der nicht ebenso überzeugend ist: nämlich dass Taufe und Abendmahl die beiden Formen des einen Sakraments (Jesus Christus) seien. Damit konstruiert Jüngel eine Exklusivität für diese beiden Rituale auf axiomatischen Weg, die er eigentlich erst begründen müsste. Erst im Nachhinein begründet er dieses Axiom, indem sich für ihn beide Formen wechselseitig ergänzen: In der Taufe wirke Jesus öffentlich, im Abendmahl heimlich.40 Ein Axiom hätte diese funktionale Zuschreibung gar nicht erst nötig gehabt. Interessant ist, dass auch Rahner von Jesus Christus als dem einen UrSakrament ausgeht, aber von dorther die sieben abgeleiteten Sakramente der katholischen Kirche rechtfertigen kann. In den Folgerungen ergeben sich zwischen Jüngel und Rahner also eine deutliche Differenz trotz ihrer gemeinsamen Grundlage, Jesus Christus als einziges Sakrament zu verstehen. Das legt den Verdacht nahe, dass der Ausgangspunkt zu unpräzise ist, um eindeutige Schlussfolgerungen zu ziehen: Gerade weil man von einem Sakramentsbegriff ausgeht anstatt von der Phänomenologie einzelner Zeichenhandlungen, kann sich dann dieser Begriff je nach Leitinteresse auf unterschiedliche Rituale erstrecken. 37 38 39 40
Jüngel, Ein Sakrament – was ist das, 25. Jüngel, Ein Sakrament – was ist das, 36. Ebd. Jüngel, Ein Sakrament – was ist das, 37.
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Die Diskussion um die Zahl der Sakramente mutet deshalb einigermaßen fragwürdig an. Warum soll es theologisch von Bedeutung sein, die Zahl der Sakramente festzulegen? Welche Konsequenz für den Glauben hat es etwa, wenn ein kirchliches Ritual zwar eine seelsorgerisch hilfreiche Wirkung hat, aber kein Sakrament ist? Was ist damit gewonnen, „sakramentsähnliche“ Rituale von Sakramenten zu unterscheiden? Interessanterweise werden solche Abstufungen kirchlicher Handlungen auch gegenwärtig weiter vorgenommen: So werden kirchliche „Amtshandlungen“ von anderen kirchlichen Gottesdienstformen unterschieden. Bis heute ist umstritten, ob die Segnung einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft eine „Amtshandlung“ ist. Anscheinend sind hier kirchenpolitische Gründe ausschlaggebend, weshalb man unterschiedlicher Meinung ist. Die kirchenpolitische Dimension könnte daher den Hintergrund für die Debatte um einen adäquaten Sakramentsbegriff bilden. So haben die Reformatoren in ihrer Reduktion der Sakramente kirchliche Machtverhältnisse in Zweifel gezogen. Hervorheben möchte ich ein Zitat Luthers, das sich auf den Bann gegen sogenannte Ketzer bezieht, die durch den Bann aus der Sakramentsgemeinschaft ausgeschlossen werden. Dieser Praxis hat Luther die Auffassung entgegengestellt, dass es keinen anderen Bann geben könne als den Unglauben.41 „Es mag offt geschehen, das eyn vorbanter mensch werd beraubt des heyligen sakramentis… und sey doch sicher und selig yn der gemeynschafft Christi und aller heyligen, ynnerlich, wie das sacrament antzeygt.“42 Hier beschreibt Luther eine disziplinierende Machtausübung der Kirche über den Einzelnen mithilfe des Sakraments. Dagegen stellt er den Zeichencharakter des wahren Sakraments, das „ynnerlich“ Gemeinschaft mit Christus herstellt. Luther hat anscheinend die Anzahl der Sakramente deshalb beschnitten, um den Machtmissbrauch zu beschneiden, der mit ihrer Disziplinierung einhergehen kann. Bei Philipp Melanchthon findet man die Bemerkung, dass die Kreatur kein Sakrament machen könne.43 Dies wäre nämlich Missbrauch (Götzendienst44), der im Machtmissbrauch des Papsttums gründet. Wenn die Reformatoren fordern, Sakramente müssten durch Christus eingesetzt sein, unterlegen sie den Sakramenten ein Kriterium, das den Amtsmissbrauch der Kirche verhindern soll. „Der leychnam [Christi] wirtt fur euch gegeben, yhr künnt nichts geben odder opffern… Darumb sollen die pfaffen ynn dißem sacrament gott nichts opffern oder geben, sondern alleyn glawben und von gott nehmen.“45 Luther hat offenbar die Dialektik des Opfers erkannt: Indem Priester ein stellvertretendes Opfer darbringen, beanspruchen sie eine Macht über dieje41 42 43 44 45
Luther, Werke WA VI, 64. Luther, Werke WA VI, 65. Zitiert nach Hirsch, Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik, 237. Ebd. Luther, Werke WA VIII, 519.
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nigen, für die sie opfern. Folglich kann die Spendung der Sakramente an Bedingungen geknüpft werden, die Macht über Menschen ausüben, die diese Sakramente empfangen wollen. Die Diskussion um die Anzahl der Sakramente ist bis heute eine Diskussion um kirchliche Macht. Wenn evangelische Theologen auf die Einsetzung durch Christus beharren, antworten Katholiken historisch zu Recht, dass ungesichert sei, ob Jesus überhaupt Taufe und Abendmahl eingesetzt habe.46 „Von Christus eingesetzt“ könne daher nur meinen, von der Wirksamkeit des Sakraments selbst auszugehen. Dazu bedürfe es einer kirchlichen Entscheidung über die Anzahl der Sakramente, die nämlich von Christus als dem wirksamen Sakrament herkomme.47 Mit der Anzahl der Sakramente wird damit ein Stellvertreterstreit geführt um die Autorität kirchlicher Entscheidungsbefugnis. Letztlich geht es um die Frage, welche Kirche die „wahre“ Kirche Jesu Christi ist. Nun hatte ich bereits im fünften Kapitel festgestellt, dass kirchenpolitische Entscheidungen von der reziproken Anerkennung der Christen abhängen. Christen erkennen sich wechselseitig darin an, in ihrem Verhalten ihren Glauben ausdrücken zu wollen. Dies gilt auch für kontroverse kirchenpolitische Entscheidungen, die als solche zu tolerieren sind, wenn sie über demokratische Prozeduren zustande gekommen sind. Daher ist es grundsätzlich legitim, dass die Konfessionen verschiedene Rituale zu den Sakramenten zählen. Da dieser Begriff nicht biblisch ist, wird darin kein offensichtlicher Mangel an christlicher Einsicht erkennbar, wenn man zwei oder sieben Sakramente deklariert. Selbst wenn es so wäre, dass Jesus nur Taufe und Abendmahl eingesetzt hat oder dass beide Rituale Besonderheiten aufweisen, die sich in anderen christlichen Ritualen nicht wiederfinden, folgt nicht, dass man den Sakramentsbegriff nur für diese beiden Rituale verwenden darf. Eine solche restriktive Bestimmung kirchlicher Ritualbildung wäre nur dann nötig, wenn kirchliches Handeln überhaupt nur auf Wortverkündigung, Taufe und Abendmahl zu beschränken wäre. Kirchliche Jugendarbeit wäre dann aber bereits genauso ketzerisch wie kirchliche Diakonie oder Kirchenmusik. Zwar muss nicht alles, was der Kirche wichtig ist, deshalb schon ein Sakrament sein. Aber was ist wirklich gewonnen, wenn man kirchliches Handeln dadurch gewichtet, dass man manche Rituale Sakramente nennt und andere nicht? Die kirchenpolitische Abgrenzung von Handlungen scheint mir nicht hilfreich zu sein, um das Wesen von Kirche (und ihre Autorität) sicherzustellen. Vielleicht ist es ein Verrat am Glauben, wenn Kirche keine Jugendarbeit mehr leistet, während sie aber ansonsten noch tauft und Abendmahl feiert. Um das herauszustellen, bedarf es keines Sakramentsbegriffs, sondern einer synodalen Entscheidung, die kirchenpolitisch allgemeine Anerkennung findet. Aus der Tatsache jedenfalls, dass Jugendarbeit kein Sakrament ist, folgt 46 Rahner, Was ist ein Sakrament, 66. 47 Rahner, Was ist ein Sakrament, 81.
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weder, dass die Kirche keine Jugendarbeit leisten sollte, noch, dass sie unwichtiger ist als die Feier des Abendmahls oder die Taufe. Selbst wenn man sagen will, dass die Taufe die Bedingung für die Kirchenmitgliedschaft ist, könnte kirchliche Jugendarbeit die Bedingung dafür sein, dass Menschen sich taufen lassen. Umgekehrt bleibt Kirche auch dann Kirche, wenn es niemanden mehr gibt, der sich taufen lassen möchte. Erst wenn das Netz wechselseitiger Anerkennung zerreißt, endet die Kirche. Ich befürworte also eine Entkrampfung in der Debatte um die Sakramente. Die Debatte um die demokratische Verfassung reziprok sich anerkennender Christen wird damit nicht unnötig. Es ist allerdings unnötig, dass man die Frage nach der demokratischen Verfassung der Kirche an den Sakramentsbegriff bindet. Ein Sakramentsbegriff ist dann aus Gründen der wechselseitigen Anerkennung der Christen abzulehnen, wenn er restriktiv gehandhabt wird: Wenn Rituale vor allem den Sinn haben, abweichende christliche Lebensformen zu disziplinieren, muss ein entsprechender Sakramentsbegriff mit aller Schärfe zurückgewiesen werden. Das ist etwa der Fall, wenn Geschiedene nicht am Abendmahl teilnehmen oder Christen ohne Firmung beziehungsweise Konfirmation keine kirchlichen Ämter annehmen dürfen. Es ist schließlich auch der Fall, wenn das Pfarramt an das Sakrament der Priesterweihe gebunden wird. Wenn dagegen ein demokratisch verfasstes Konzil sieben Sakramente deklariert, ohne dabei abweichendes christliches Handeln abzuwehren, verdient die Wertschätzung für diese sieben Rituale Anerkennung im Sinne eines kirchlichen Konföderalismus. Es liegen dann zumindest keine Gründe vor, warum man dieser kirchlichen Entscheidung keine Toleranz schulden sollte. Restriktiv ist dagegen auch die reformatorische Variante, wonach nur solche Rituale als Sakramente gelten, die von Christus selbst eingesetzt worden sind. Damit wird jede Erweiterung unter einen Verdacht gestellt, den christlichen Glauben zu gefährden. Ein solches restriktives Kriterium scheint zwar eine reformatorische Reaktion auf vorangegangene restriktive kirchliche Handlungen zu sein. Dann aber spielt das reformatorische Kriterium nur eine provisorische Rolle, weil es ansonsten, als „ewiges Gesetz“, die Bedeutung wechselseitiger Anerkennung unterschlägt. Damit gebärdet sich kirchliche Praxis über ein statisches Prinzip, das Gläubige ausschließt, die durch andere kirchliche Handlungen in ihrem Glauben Trost und Kraft erfahren. Wenn dagegen ein Sakramentsbegriff nicht restriktiv, sondern erweiternd auf legitime Bedürfnisse von Christen reagiert, ist gegen eine höhere Anzahl von Sakramenten nichts einzuwenden, ebenso wie Luther selbst pragmatisch für die Beichte votiert hatte: Sie genügt zwar nicht seinem restriktiven Kriterium, ist aber dennoch aus seelsorgerischen Gründen zu empfehlen.48
48 Luther, Werke WA X/III, 62.
Ergebnis
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7.3 Ergebnis Ich benutze den Sakramentsbegriff pragmatisch für Taufe und Abendmahl, die sich darin ähnlich sind, dass sie die Ambivalenz von Nähe inszenieren. Ihre Wirkkraft verhält sich unabhängig vom Wort. Das Wort der christlichen Verkündigung wird jedoch umgekehrt durch Taufe und Abendmahl präzisiert, indem es in ihrer Ambivalenz von Nähe erlebt wird. Das schließt nicht aus, dass es noch weitere Rituale geben könnte, die eine ähnliche Ambivalenz auf der Schwebe halten. Und es schließt nicht aus, dass die Kirche weitere Rituale praktizieren darf. Die Theologie muss also nicht darauf bestehen, dass Taufe und Abendmahl einzigartige Zeichenhandlungen sind. Es wird ihr kaum gelingen, dies zu begründen, außer über Zirkelschlüsse. Es kann einfach ausreichend sein, dass beide „Sakramente“ eine ambivalente Resonanz für die Wortverkündigung bieten, die gemeindepädagogisch und seelsorgerisch nützlich ist. Werden dann Taufe und Abendmahl irgendwann überflüssig? Könnte man sie irgendwann aufgeben, wenn man nur ausreichend viele alternative Rituale eingeübt hat, die eine ähnliche Ambivalenz auf der Schwebe halten? Der pragmatische Gebrauch des Begriffs „Sakramente“ signalisiert zumindest, dass diese beiden Rituale von besonders herausgehobenem Wert sind. Dadurch, dass sie biblisch verbürgt sind und ebenso lang praktiziert werden wie das Christentum existiert, haben sie „Vorbildcharakter“ für jede weitere kirchliche Praxis. Was auf der Schwebe ist, lässt sich nicht hinreichend ausdeuten. Es lässt sich nur im Vollzug zeigen. Daher sind alle alternativen kirchlichen Neuerungen auf diese beiden Beispiele verwiesen.
8. Ewiges Leben mit altem Gehirn? Der vorliegende Band endet mit zwei Kapiteln zur Eschatologie. Dabei greift er zunächst ein Thema auf, das ich bereits in meiner Christologie behandelt habe, nämlich die Frage nach der Auferstehung von den Toten. Dort habe ich eine allgemeine Repräsentationstheorie nach Charles Sanders Peirce vorgestellt und sie mit der Theorie der Subjektivität bei Alfred North Whitehead kombiniert.1 Im Ergebnis führte diese Darstellung dazu, dass das Leben eine spezifische Form von Zeichenprozessen ist. Selbstbewusstsein wiederum lässt sich ein spezieller Zeichenprozess bestimmen, der sich selbst (zumindest teilweise) transparent ist. Da das Universum zeichentheoretisch ein Prozess ist, der von einer anfänglichen Unbestimmtheit zu einer endgültigen absoluten Bestimmtheit führt, werden am Ende dieses Prozesses alle Zeichen auch für sich selbst absolut transparent sein. Denn in einer absoluten Bestimmtheit des Universums kann kein Zeichen von seiner Bezeichnung ausgenommen sein. Im Zustand absoluter Bestimmtheit wird daher alles, was bezeichenbar ist, selbst ein Zeichen sein, das für sich selbst transparent ist. Am Ende steht also eine universale Lebendigkeit von allem. Da schließlich die Bestimmung des Universums im Laufe seiner Geschichte zunimmt, ist eine allmähliche Auferstehung von zunächst manchen Verstorbenen bereits vor dem Zielzustand absoluter Bestimmtheit zu erwarten.2 Mit diesem Modell lässt sich die biblische Spannung präsentischer und futurischer Eschatologie erklären. Ich halte dieses Modell für leistungsstark, um Erfahrungen angesichts des Todes anderer Menschen aufzugreifen und dabei die Ahnung von Auferstehung mithilfe eines phänomenologischen Ansatzes zu verstehen. In meiner Christologie habe ich allerdings die neuere Diskussion nicht aufgenommen, die bereits die logische Denkbarkeit einer Auferstehung von den Toten ausschließt: Danach ist Auferstehung logisch evident undenkbar. Dabei handelt es sich um Theorien aus der neueren „Philosophie des Geistes“, die durch Erkenntnisse aus der Hirnforschung neue Impulse erhalten hat. Die Diskussion mit diesen Theorien werde ich nun in diesem Kapitel nachholen. Die Ergebnisse des vorliegenden Bandes sind in meiner Christologie bereits im Hinblick auf die Begegnung mit Verstorbenen vorgezeichnet worden. Dort habe ich gezeigt, dass sich auch unser Verhältnis zu Verstorbenen als Anwesenheitsphänomen darstellt.3 Diesbezüglich ist auch der Vorrang der Aner1 Zum Folgenden Ohly, Was Jesus mit uns verbindet, 172–178, 181–192. 2 Eine Andeutung dieses Modells von Auferstehung findet sich bereits bei Peirce, Semiotische Schriften Bd. 1, 141f. 3 Ohly, Was Jesus mit uns verbindet, 207.
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kennung vor der Erkenntnis zu unterstellen.4 Insofern leistet das vorliegende Kapitel nichts wirklich Neues. Es beschränkt sich nur auf eine Art Vorarbeit: Ist Auferstehung von den Toten neurophilosophisch überhaupt denkbar?5 Menschliche Subjektivität, Bewusstsein und Selbstbewusstsein verdanken sich der Aktivität des Gehirns. Auch wenn bis heute nicht klar ist, wie das Gehirn geistige Prozesse erzeugt und was es eigentlich bedeutet, dass das Gehirn Bewusstsein und Subjektivität erzeugt, herrscht über diesen Zusammenhang ein weitgehender Konsens innerhalb der Neurowissenschaften und der Bewusstseinsphilosophie. Die Konsequenz ist, dass spätestens mit dem vollständigen Hirntod menschliche Subjektivität und Bewusstsein erliegen. Darüber hinaus verweisen Neurowissenschaftler darauf, dass bereits mitten im Leben Subjektivität sterben und durch neue Subjektivität ersetzt werden kann. Derselbe Mensch kann im Lauf seines Lebens aus mehreren Subjekten bestehen, die sich zeitlich nacheinander ablösen6 – etwa durch eine Hirnverletzung oder eine Hirnerkrankung.7 Neurophilosophisch bestehen deshalb erhebliche Einwände gegen die Vorstellung einer Auferstehung von den Toten. Nach den Vorstellungen des Neuen Testaments bedeutet die Auferstehung der Toten nämlich ein neues Leben der Subjekte. Paulus sagt eindeutig, dass wir auferstehen werden (1Kor 15,49; Röm 6,5). Man mag noch darüber diskutieren, welche Vorstellungen bei Paulus hier genau zugrunde liegen und welches Subjektivitätsverständnis er hat. Eindeutig ist aber, dass Paulus von unserer Auferstehung spricht und damit die Auferweckung unserer Subjektivität impliziert. Es handelt sich also um dieselbe Subjektivität, die wir während unseres irdischen Lebens sind. Die Konfrontation ist also groß: einerseits die christliche Vorstellung, dass „wir“ wiederkommen; und andererseits die neurowissenschaftliche Beschreibung, dass wir „radikal sterbliche Wesen“ sind – wie es Thomas Metzinger ausgedrückt hat.8 Die religionsphilosophische Verteidigung der Auferstehung läuft bisher darauf hinaus, es entweder für metaphysisch kontingent zu halten, dass Subjektivität an Hirnaktivitäten hängt. (Was physisch zusammengehört, muss metaphysisch nicht zusammengehören.9) Oder aber man blendet die neurowissenschaftliche Diskussion weitgehend aus10 und konzentriert sich nur auf die Frage, wie überhaupt eine Kontinuität angenommen werden kann zwi4 Ohly, Was Jesus mit uns verbindet, 190. 5 Dieses Kapitel ist die Aufarbeitung eines Vortrags, den ich 2011 an der Universität Hamburg gehalten habe. 6 Metzinger, Subjektivität und Selbstmodell, 248. 7 Metzinger, Subjektivität und Selbstmodell, 221. 8 Metzinger, Subjektivität und Selbstmodell, 285. 9 Haeffner, Vom Unzerstörbaren im Menschen, 48; Hasker, Emergenter Dualismus und Auferstehung, 182. 10 Zimmermann, Die Kompatibilität von Materialismus und Überleben, 122; Baker, Personen und die Metaphysik der Auferstehung, 192.
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schen dem irdischen und auferstandenen Menschen, wenn doch der Leichnam zwischendurch zerfallen oder vollständig vernichtet ist.11 Nicht möglich ist dagegen ein Ausweichen auf eine Intersubjektivität. Jemand könnte zunächst einwenden, dass Paulus nur sagt, dass „wir“ auferstehen. Er vertrete also keine Auferstehung der Subjekte („ich“), sondern der Intersubjektivität. – Aber dieser Einwand ist nicht nur exegetisch umstritten (Phil 1,23), sondern weicht auch nur scheinbar dem Problem aus. Denn woran soll sich Intersubjektivität anders zeigen als durch das Erscheinen von Intersubjektivität? Das Problem subjektiver qualitativer Erfahrung (was philosophisch unter dem Kunstbegriff „Qualia“ verhandelt wird), verschwindet nicht, wenn man es von der subjektiven auf die intersubjektive Ebene verschiebt. Es gibt aber auch eine Möglichkeit, wie man unter materialistischen Bedingungen der Neurophilosophie die Auferstehung der Toten denken könnte: und zwar die Vorstellung eines Recovery-Aktes – also einer Wiederherstellung des neuronalen Systems. In diesem Fall würde es aber nicht ausreichen, die lebensgeschichtlichen Informationen eines individuellen Lebens zu speichern. Vielmehr müsste das Erleben dieser Erlebnisse reproduziert werden. Unter der neurophysiologischen Prämisse, dass Subjektivität vom Gehirn abhängt, müsste Gott also die neuronale „Hardware“ wiederherstellen, soweit sie dafür nötig ist, dass ein Subjekt es selbst bleibt, auch wenn sich ansonsten die leiblichen und Umweltbedingungen völlig verändern. Dieselben subjektiven Prozesse laufen dann in einem anderen, neu geschaffenen Körper weiter – zumindest die entscheidenden Prozesse, die nötig sind, damit es immer noch dasselbe Ich ist, das hier geistige Prozesse vollzieht. (Dass manche geistigen Prozesse andere sein werden nach einer gewissen Läuterung und Gottes Vernichtung der Sünde, sei hier vorausgesetzt und würde dem Löschen von einzelnen Daten auf einem Computer ähneln. Es wären dennoch die geistigen Prozesse desselben Subjekts.) Bei der Recovery-These handelt es sich um eine Vorstellung, die immerhin aus neurophilosophischer Sicht selbst eröffnet wird – wenn auch sicher ungewollt: Materialistische Neurophilosophen haben mit ihren Argumenten den Horizont für ein solches Verständnis selbst geöffnet. Darauf möchte ich mich in diesem Kapitel beschränken. Ob die Auferstehung neurophilosophisch erklärbar ist, hängt natürlich immer davon ab, welche neurophilosophischen Annahmen man zugrunde legt. Mir geht es aber hier darum, den Möglichkeitshorizont einer Auferstehung aus den allgemeinen Grundlagen materialistischer Neurophilosophie selbst zu entwickeln. Dabei werde ich auch andeuten, dass eine materialistische Lösung letztendlich in einer allgemeinen Repräsentationstheorie eingebettet sein muss, damit sie funktioniert. Dies
11 Schärtl, Was heißt „Auferstehung des Leibes“, 64f; Zimmermann, Die Kompatibilität von Materialismus und Überleben, 128, 132; Hasker, Emergenter Dualismus, 177; Plantinga, Materialismus und christlicher Glaube, 141.
Die Recovery-These
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wäre die Brücke zur zeichentheoretischen Darstellung der Auferstehung aus meinem Christologie-Buch. Ich werde zunächst kurz vorstellen, wie sich die Recovery-These ergibt. Danach diskutiere ich zwei mögliche Einwände gegen diese These, die man naturalistisch vorbringen könnte, nämlich das Identitätsproblem und das Funktionalitätsproblem.
8.1 Die Recovery-These David Chalmers12 ging es darum zu zeigen, dass die subjektive Qualität von Erfahrungen (Qualia) allein abhängig sind von den jeweiligen Hirnstrukturen eines Subjekts. Um diese These zu belegen, beschreibt er, was passieren müsste, wenn man das Gehirn eines Menschen komplett nachbauen und auch die Hirnströme simulieren würde. Durch den Gedanken der Reproduktion eines Gehirns eröffnet Chalmers die Idee einer hirnphysiologischen Denkbarkeit der Auferstehung von den Toten. Ich möchte das Argument von Chalmers nur zur Hälfte andeuten. Für unseren Zweck reicht diese verkürzte Darstellung schon. Chalmers zeigt in einem Gedankenexperiment über ein indirektes Verfahren, dass Subjektivität allein von den neuronalen Strukturen abhängt und nicht vom Material. Ein bestimmter Mensch – Chalmers nennt ihn Joe – hat eine bestimmte QualiaErfahrung. Er sieht einen bestimmten Gegenstand intensiv rot. Wir könnten ihm einen Roboter zur Seite stellen. Dieser Roboter hätte dieselben Hirnstrukturen wie Joe. Er würde denselben Gegenstand als rot identifizieren, aber er hätte dabei kein Rot-Erlebnis, weil von Robotern intuitiv angenommen wird, dass sie nichts erleben. – Chalmers möchte aber nun zeigen, dass diese Intuition zu absurden Konsequenzen führt. Nehmen wir nun an, wir würden in Joes Gehirn eine kleine neuronale Verbindung auswechseln. Wir würden an ihre Stelle einen Siliziumchip einbauen. Die Hirnstruktur bleibt dadurch unangetastet. Nehmen wir an, Joes Rot-Erlebnis ist nach diesem Eingriff etwas getrübt. Er sieht zwar noch den roten Gegenstand, aber er empfindet die Röte nicht mehr so deutlich wie vorher – einfach deswegen, weil sein Gehirn jetzt teilweise aus einem künstlichen Material besteht; und die künstliche Reproduktion eines Gehirns soll ja laut Voraussetzung zum Totalausfall von Qualia führen. Die spannende Schlussfolgerung, die Chalmers aus diesem Fall zieht, lautet aber: Wenn wir Joe fragen würden, wie deutlich er dieses Rot sieht, dann würde Joe antworten: Leuchtend rot wie vorher auch. „Der springende Punkt ist hier, daß sich Joe systematisch über alles täuscht, was er erlebt. Er sagt natürlich, daß er 12 Zum Folgenden Chalmers, Fehlende Qualia, 367–389.
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leuchtend rote und gelbe Erlebnisse hat, aber er erlebt nur ein schwaches Rot.“13 Warum aber denkt Joe, dass das Rot-Erlebnis noch genauso stark ist wie vorher auch? Weil der Roboter ja auch den roten Gegenstand in seiner signifikanten Intensität identifizieren kann, obwohl er nichts erlebt. Also muss es möglich sein, die Farbe deutlich zu identifizieren, ohne den Farbeindruck fühlen zu müssen. Das Experiment geht jetzt immer weiter: Immer mehr kleine Nervenzellen werden durch maschinelle Teilchen ersetzt. Immer wieder fragen wir Joe, was er sieht. Joe sagt jedes Mal: Ich sehe einen leuchtend roten Gegenstand, aber in Wirklichkeit wird sein Rot-Erlebnis immer schwächer und immer trüber. Am Ende des Experiments sind alle Nervenzellen komplett ausgetauscht worden. Und jetzt, wo sein Gehirn ein Computer geworden ist, kann der robotisierte Joe immer noch sagen: Ich sehe ein leuchtendes Rot. Aber jetzt hat er in Wirklichkeit gar kein Erlebnis mehr, nicht einmal ein getrübtes, weil er – nach der Voraussetzung – als Roboter keine Empfindung haben kann. Der Roboter kann zwar das Rot eindeutig identifizieren, aber er hat kein Erlebnis dabei. Natürlich kommt jetzt die Frage auf: Wie kann Joe das richtig beurteilen, wenn er es gar nicht mehr richtig empfindet? Und Chalmers’ Antwort lautet: Es geht eben nicht. Es mag zwar logisch möglich sein, nicht aber empirisch.14 Wenn Joe auch nach der Gehirnoperation rational richtig beurteilen kann, wie diese Farbe ist, dann muss sein Farberlebnis auch genauso intensiv sein. Also muss ein Roboter mit derselben Hirnstruktur auch dieselbe Erlebnisqualität haben. Folglich kann man auch Gefühle bei einem Roboter simulieren. Mit dieser These hat Chalmers den Grundstein gelegt, auch die Auferstehung der Toten als eine „gefühlsechte“ Simulation subjektiver Eindrücke zu beschreiben. Bei der Auferstehung geht es freilich nicht nur darum, dass ein Lebewesen subjektive Erfahrungen haben kann wie zum Beispiel einen intensiven Rot-Eindruck. Nicht das Erlebnis muss reproduzierbar sein, sondern das Erleben von Erlebnissen.15 Chalmers’ Gedankenexperiment legt nun nahe, dass diese Reproduktion denkbar ist. Und damit wird es auch denkbar, dass Gott mich wiedererweckt, indem er die Hirnstrukturen neu erschafft, die mich ausmachen.
8.2 Das Identitätsproblem Die Recovery-These ist zwar meines Wissens bislang nicht selber ausführlich diskutiert worden. Allerdings ist sie mitbetroffen, wenn im Hinblick auf die 13 Chalmers, Fehlende Qualia, 375; Herv. D.J.C. 14 Chalmers, Fehlende Qualia, 375f. 15 Dasselbe Erlebnis können auch andere Subjekte erlebt haben. Dasselbe Erleben von Erlebnissen kennzeichnet dagegen dasselbe Subjekt.
Das Identitätsproblem
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Auferstehung die Identitätsproblematik allgemein verhandelt wird. Nach einem Argument von Peter van Inwagen kann eine erschaffene Kopie nicht mit dem Original identisch sein, wenn das Original nicht mehr existiert, aber die Kopie dieselben Eigenschaften aufweist wie das Original.16 Wenn nämlich Gott bei der Auferstehung der Toten eine Kopie von mir herstellt, dann könnte er auch zwei Kopien von mir herstellen: zum Beispiel eine Kopie meiner Existenz zum Zeitpunkt meines Todes und eine zweite Kopie meiner Existenz zum jetzigen Zeitpunkt. Und wer von beiden Kopien wäre ich dann? Van Inwagen antwortet: „Keine oder beide, so scheint es, und da es nicht beide sein können, eben keine.“17 Aber vielleicht kann ich ja doch beide Kopien gleichzeitig sein. Van Inwagen schaltet diese Option meines Erachtens zu voreilig aus. Überprüfen wir also den Einwand. Dazu variiere ich zunächst van Inwagens Argument. Nehmen wir hierzu an, von mir werden zwei Kopien meines aktuellen Ichs hergestellt, das ich gerade jetzt bin. Gott kopiert meine aktuellen Gehirnstrukturen zweimal. Warum kann ich nicht zugleich beide meiner Kopien sein? Man könnte antworten, dass ich dann eben aus zwei Gehirnen bestehen würde und dann wohl auch aus zwei Körpern, während ich doch im Moment aus einem Körper bestehe. – Nun reden wir aber davon, dass ich am Tag meiner Auferstehung einen neuen Leib haben werde. Einen solchen Zustand hätten wir nun hier: Wenn Gott mich tatsächlich zweimal kopieren würde, dann würde also meine Leiblichkeit durch die Aktivität von zwei Gehirnen gesteuert. Ich hätte dann zwar zwei Körper, aber es wäre trotzdem nur eine Leiblichkeit, und zwar meine. Meine Leiblichkeit würde sich auf zwei Körper ausdehnen. Das mag man unbequem finden. Vernünftig denkbar ist es trotzdem. Der entscheidende Punkt ist: Unter den neurophilosophischen Grundannahmen, dass ein bestimmter Gehirnzustand eindeutig ein bestimmtes subjektives Erleben erzeugt (und nicht nur dasselbe Erlebnis, sonst wäre Subjektivität doch nicht materialistisch erklärbar!), haben zwei Gehirne mit demselben Gehirnzustand ebenfalls dasselbe subjektive Erleben. Das eine Subjekt wird dann durch zwei Gehirne gleichzeitig generiert. Denn die Subjektivität, die von den jeweiligen Gehirnzuständen zweimal erzeugt würde, würde sich in nichts unterscheiden. Sie könnte also auch nicht merken, dass sie sich in irgendetwas unterscheidet. Meine Subjektivität würde sich in diesem Fall der Gehirnaktivität von beiden Gehirnen verdanken. Natürlich handelt es sich jetzt nicht mehr um eine numerische Identität von „mir“, weil es mein Gehirn zweimal gibt. Dennoch handelt es sich um eine subjektive Identität. Nun könnte man einwenden, dass Gott zwar zwei identische Gehirne erzeugt, aber im Laufe des himmlischen Lebens würden beide Gehirne unter16 Inwagen, Dualismus und Materialismus, 113. 17 Inwagen, Dualismus und Materialismus, 114.
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schiedliche Strukturen aufbauen, je nachdem, welche Informationen sie verarbeiten müssten. Das eine Ich würde sich sehr bald schon in zwei Subjekte aufspalten. Das läuft irgendwann auf van Inwagens Argument heraus, dass es dann gleichzeitig zwei unterschiedliche Gehirnzustände von mir gibt. Damit würde dasselbe Problem wiederkehren: Welcher von beiden wäre dann ich? Dieser Einwand sticht aber nicht. Denn wenn sich meine Subjektivität der Gehirnaktivität von beiden Gehirnen verdankt, dann wird die Informationsverarbeitung beider Gehirne in einer systemischen Beziehung zueinander stehen bleiben, und zwar auch dann, wenn die Gehirne bald sich ausdifferenzieren. Die Subjektivität wird quasi zum gleichzeitigen Beobachter unterschiedlicher subjektiver Eindrücke. Nur durch eine abrupte Störung könnte diese systemische Beziehung verletzt werden – etwa durch einen Unfall –, genauso wie wenn auf Erden das subjektive Erleben nach einem Schlaganfall fast ausschließlich nur noch von einer Gehirnhälfte am Leben gehalten wird. (Dafür habe ich zwar kein philosophisches Argument, aber wir können doch die Hoffnung haben, dass uns im Himmel solche Unfälle erspart bleiben.) Ohne Unfall dagegen bilden beide Gehirne zusammen die systemische Kontinuität, aus der sich meine Subjektivität bilden würde. Wenn beide Gehirne beginnen, sich voneinander in ihren Zuständen zu unterscheiden, so würde sich das Fortleben meiner Subjektivität ebenfalls dieser Veränderung verdanken. Ich würde gleichzeitig unterschiedliche subjektive Eindrücke verarbeiten. Der Gehirnzustand, dem sich mein Ich verdankt, wäre eben auf zwei Gehirne gleichzeitig verteilt. Van Inwagens Argument ist aber noch ein Stück stärker: Wenn Gott mich aus zwei unterschiedlichen Perioden meines Lebens zugleich kopieren würde, hätte ich nun zwei nicht-identische Hirnzustände, die auch nie identisch waren. Und wer von beiden wäre jetzt ich? Nun sagt Chalmers Recovery-These nur aus, dass derselbe Gehirnzustand hinreichend ist für dasselbe subjektive Erleben. Er sagt aber nicht, dass er auch notwendig ist. Meine Subjektivität kann daher auch von verschiedenen Hirnzuständen abhängig sein. Wenn also zwei Kopien unterschiedlicher Gehirnzustände aus meinem Leben jedes Mal mein subjektives Erleben erzeugen, dann verdankt sich meine Subjektivität seit meiner Auferstehung beiden Gehirnzuständen zugleich. Mein Kommentar auf van Inwagens Argument bleibt also der gleiche: Wenn beide Gehirnzustände mein Erleben erzeugen, kann ich gar nicht wahrnehmen, worin ich mich von mir unterscheide. (Ich kann höchstens verschiedene Erlebnisse oder subjektive Zustände in mir unterscheiden, was auch nichts Besonderes ist: Auch heute schon kann ich traurig sein und gleichzeitig erleichtert, dass ich nicht mehr so traurig bin wie gestern. Davon ist aber das Erleben zu unterscheiden, das in beiden Zuständen „meins“ ist.) Also kann ich auch nicht wahrnehmen, dass beide Gehirnzustände ein unterschiedliches Erleben auslösen, obwohl sie unterschiedlich sind. Vielmehr werden die unterschiedlichen Informationen aus beiden Gehirnen in mein subjektives Erleben integriert.
Das Funktionalitätsproblem
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Zusammenfassend halte ich das Identitätsproblem deshalb für kein Problem, weil das Ich nicht numerisch identisch sein muss. Es reicht, wenn es subjektiv identisch mit sich ist. – Ich möchte an dieser Stelle allerdings auch bemerken, dass der Materialismus hier in eine allgemeine Repräsentationstheorie eingebettet werden muss. Denn wenn ein Subjekt durch mehrere Gehirne erzeugt wird, leistet das Gehirn nicht nur Repräsentationsleistungen für sich selbst, sondern eben mindestens auch für das andere Gehirn, von dem es allerdings materiell unabhängig ist.18 Beide Gehirne funktionieren parallel, aber jedes materiell für sich. Die Subjektivität, die sie beide erzeugen und die subjektiv identisch ist, wird also für das jeweils andere Gehirn mitrepräsentiert. Sie erzeugt also eine Verbindung, die kein materielles Korrelat hat. Damit ist der Materialismus noch nicht widerlegt. Allerdings wird er zu einer Erweiterung seines theoretischen Gerüsts gezwungen. Subjektivität ist jetzt keine „private“ oder unveräußerliche Eigenschaft von Gehirnzuständen, sondern eine „öffentliche“ Eigenschaft, die ihre materielle Grundlage übersteigt.19
8.3 Das Funktionalitätsproblem Selbst wenn man akzeptiert, dass Gott die Subjektivität eines Menschen nach dessen Tod durch Simulation wiedererschaffen kann, kann man einen interessanten Einwand gegen die Auferstehung vorbringen. Thomas Metzinger meint, ein Subjekt in einem neuen Körper sei „hochgradig afunktional“20. Metzinger hat dieses Argument zwar nicht auf die Auferstehung bezogen. Es lässt sich aber auf sie anwenden, weil Metzingers Gedankenexperiment Subjektivität auf einen anderen Körper überträgt – genauso wie gemäß des Neuen Testaments wir in einem neuen Körper auferstehen (1Kor 15,42–44). Was würde also passieren, wenn mein Gehirn in einem anderen Körper stecken würde? Metzinger zufolge würde die Realitätskonstruktion des Gehirns so sehr verwirrt, dass es keine Funktion mehr ausüben könnte. Auch mein Selbstbild, das das Gehirn erzeugt hat, wäre zwar noch vorhanden, aber „seinem Gehalt nach schlicht leer.“21 Ich verstehe Metzingers Einwand so, dass ich meinen neuen Körper nicht als meinen Körper erkennen könnte. Mein neurophysiologisch gebildetes Selbstmodell wäre immer noch auf meinen alten Körper geeicht und würde permanent Befehle an ihn aussenden, ohne dass sich irgendetwas tun würde. 18 Das Problem besteht nicht darin, dass Subjektivität dann nicht „im“ Gehirn lokalisiert werden kann. Denn das kann es unter materialistischen Bedingungen ohnehin nicht, sofern Subjektivität eine Illusion ist. Das Problem besteht vielmehr in der materialistischen These der Reflexivität der Repräsentationsprozesse des Gehirns. 19 Ohly, Was Jesus mit uns verbindet, 183f. 20 Metzinger, Subjektivität und Selbstmodell, 265. 21 Ebd.
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Denn mein alter Körper bekommt die Befehle nicht mehr. Und der neue Körper, in dem mein Gehirn jetzt steckt, ist nicht „gemeint“. Metzingers origineller Einwand hat aber eine Schwachstelle. Er scheint nämlich hier vorauszusetzen, was er sonst zurückweist, nämlich dass die vom Gehirn erzeugten Modelle von mir selbst unveränderlich wären. Denn nur dann funktioniert der Einwand. Ansonsten – wenn man voraussetzt, dass das Gehirn seine Selbstmodelle anpassen kann – ist nämlich mit Sicherheit zu erwarten, dass das Gehirn mit der Zeit lernt, den neuen Körper als eigenen Körper zu adaptieren. Es mag sein, dass das Selbstmodell anfänglich nicht in den neuen Körper passt. Das Gehirn wird aber trotzdem „automatisch“ mit neuen Informationen versorgt, die es ihm ermöglichen, sich in seinem neuen Körper zu adaptieren.22 Die meisten Hirnleistungen funktionieren nämlich auch, ohne dass das Gehirn ein Selbstmodell zugrunde gelegt hat. Es handelt sich dann also um folgende Situation: Einerseits repräsentiert das Gehirn ein Selbstmodell, das nicht zu meinem neuen Körper gehört. Andererseits repräsentiert aber das Gehirn die Interaktion mit dem neuen Körper. Folglich wird es mein Selbstmodell an den neuen Körper anpassen. Ich werde dann mit der Zeit lernen, in meinem neuen Körper zu stecken, ohne dass ich deshalb aufhören müsste, „ich“ zu sein. Diesen Lernprozess könnte man sogar theologisch interpretieren: Die anfängliche totale subjektive Orientierungslosigkeit kann theologisch als eschatologische Gerichtserfahrung interpretiert werden: Ich erfahre, dass ich samt meines irdischen Lebens nichts vor Gott bin, sondern alles ihm verdanke. Erlösung wäre dabei als eschatologischer Wandlungsprozess zu verstehen und nicht als einmaliger Wandlungsakt. Nun gibt es zwar empirische Belege dafür, dass schon heute Gehirne ihren Körper nicht mehr als ihren eigenen Körper erkennen.23 Menschen mit solchen pathologischen Befunden können zwar teilweise mit ihrem Körper hantieren, aber sie haben ihren Körper nicht in ihr Selbstbild integriert. Der Körper, der das Gehirn mit Informationen versorgt, ist ein fremder Körper.24 Wäre die Auferstehung ein solcher pathologischer Fall? Eine aktuelle Hirnverletzung, die das Selbstmodell zerstört, ist aber von einem auferweckten Selbstmodell zu unterscheiden, das bisher funktionierte, jetzt auch wieder aktiviert ist aber nun in einem neuen Körper steckt. Für die 22 Das gilt gerade dann, wenn die materialistische These zutrifft, dass mentale Repräsentationen neurobiologische Korrelate haben (Metzinger, Subjektivität und Selbstmodell, 154). 23 Metzinger, Subjektivität und Selbstmodell, 138, 177f. 24 Metzinger würde vermutlich den Einwand nicht gelten lassen, dass in solchen Fällen eine Hirnschädigung die Anomalie ausgelöst hat, während im Fall der Auferstehung ja ein intaktes und damit lernfähiges Gehirn zugrunde gelegt wird. Denn Metzingers Theorie beansprucht, sowohl für pathologische als auch für nicht-pathologische Fälle gleichermaßen gültig zu sein. Metzinger betont, dass die pathologischen Beispiele die generelle Regel unterstützen, wie Selbstmodelle funktionieren (Metzinger, Subjektivität und Selbstmodell, 137, 193).
Einige Schlussbemerkungen
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Funktionalität der Subjektivität ist Auferstehung weniger dramatisch als eine Hirnverletzung im irdischen Leben. Auch wenn sich mein Selbstmodell in einem neuen Körper verändern muss, folgt daraus nicht, dass das neue Selbstmodell nicht mehr „meins“ ist – dass ich also nicht mehr mich darin wiedererkennen könnte. Sonst könnte ich mich nämlich nicht einmal mehr im Rückblick erinnern, wie es anfangs gewesen ist, in einem neuen Körper gesteckt zu haben. In diesem Fall hätte „ich“25 nicht einmal die Afunktionalität des Selbstmodells bemerkt, die doch das Gehirn dazu gezwungen hat, das Selbstmodell an die neue Situation anzupassen.
8.4 Einige Schlussbemerkungen Man könnte noch einen dritten Einwand thematisieren, nämlich die neurophilosophische Behauptung, dass Subjektivität keine ontologische Entität ist, sondern nur vom Gehirn konstruiert wird. Dieser Einwand ist aber unproblematisch für eine materialistische Begründung der Auferstehung. Im Gegenteil habe ich diese Behauptung sogar für meine materialistische RecoveryThese vorausgesetzt.26 Gerade wenn Subjektivität ein Konstrukt des Gehirns ist, wird denkbar, sie auch materialistisch zu reproduzieren. Dazu bedarf es keines ontologischen Hilfskonstrukts einer Unsterblichkeit der Seele oder einer andersartig sichergestellten Kontinuität zwischen altem und neuem Leben. Für die Vorstellung der Auferstehung der Subjekte reicht es völlig, wenn Gott dasselbe Erleben rekonstruiert. Es handelt sich dann allein um eine subjektive Identität zwischen einem sterblichen Menschen und einem auferstandenen. Dieses Ergebnis halte ich auch über die materialistischen Annahmen hinaus für richtig: Eine „objektive“ Identität zwischen mir – dem irdischen Menschen – und mir – dem himmlischen Menschen – zu unterstellen, ist für die Vorstellung der Auferstehung unnötig. Abschließend möchte ich noch kurz die Frage erörtern, was eigentlich der Fall ist, wenn eines Tages Menschen Gehirnzustände eines Subjekts komplett rekonstruieren können. Ist dann Gott für die Auferstehungshoffnung unnötig geworden?27 Nun mag zwar die reine Reproduzierbarkeit meiner Subjektivität den Fortbestand meiner Existenz sichern, nicht aber meine Erlösung. Die Reproduktion meiner selbst reproduziert eben auch meine Erlösungsbe25 Das ist das Ich eines scheinbar völlig verschiedenen neuen Selbstmodells. 26 Nur wenn Subjektivität eine ontologische Entität ist, gelten für sie metaphysische Axiome, zum Beispiel Lockes Basistheorem, dass keine Entität zweimal beginnen kann (Schärtl, Was heißt „Auferstehung des Leibes“, 64f; Zimmermann, Die Kompatibilität von Materialismus und Überleben, 118f). 27 Dieses Problem berührt ethische Fragestellungen, zum Beispiel diese: Können wir noch mit Menschen in einem reziproken Anerkennungsverhältnis stehen, die uns reproduzieren können? Es fällt auf, dass bei solchen Zukunftsvisionen dann davon gesprochen wird, „Gott zu spielen“.
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dürftigkeit mit. Gott dagegen würde die Gehirnzustände auch läutern. Wie sollen aber Menschen Gehirnzustände läutern können, wenn sie selbst Sünder sind? Deshalb ist die Vision einer biotechnisch erzielten Unsterblichkeit eschatologisch belanglos. Sie mag zwar möglich sein, ist aber nicht verheißungsvoll. Dieses Kapitel reduzierte sich auf die neurophilosophische Erklärbarkeit der Auferstehung. Was erklärbar ist, muss aber noch nicht ontologisch möglich sein.28 Ich habe hier weder behauptet, dass die materialistischen Voraussetzungen der Neurophilosophie richtig sind, noch, dass sie ontologisch möglich sind. Das Ziel dieses Kapitels ist deutlich bescheidener gewesen. Mir ist es um die Frage gegangen, ob in diesen materialistischen Voraussetzungen ein Denkhorizont für die Auferstehung mit enthalten ist. Wo von materialistischen Voraussetzungen ausgegangen wird, ist der Gedanke der Reproduzierbarkeit von Subjektivität implizit unterstellt. Sonst müsste man doch Dualist werden – oder zumindest Emergenztheoretiker, also jemand, der die Meinung vertritt, aus materiellen Strukturen könne etwas Neues entstehen, das nicht aus diesen Strukturen besteht.29 Dieses Kapitel hat darüber hinaus gezeigt, dass die materialistischen Grundlagen der neueren Philosophie des Geistes um eine allgemeine Repräsentationstheorie zu erweitern sind. Die Paradoxie, dass zwei Gehirne ein Subjekt erzeugen können, das zwar nicht numerisch, aber subjektiv identisch ist, führt materialistisch in eine Aporie. Zeichentheoretisch dagegen ist diese Paradoxie auflösbar, nämlich entweder so, dass Subjektivität auf Strukturen beruht, deren materiale Grundlage komplexer ist, als es der Materialismus annimmt. Oder die materialistische Prämisse ist unzureichend, dass das Gehirn das subjektive Erleben determiniert.
28 Plantinga, Materialismus und christlicher Glaube, 155f. 29 Zur Unvereinbarkeit von Materialismus und Emergenz s. Metzinger, Subjektivität und Selbstmodell, 89, 206. Metzinger lässt sie nur als soziale Emergenz zu (229). Gegenpositionen vertreten Birnbacher, Künstliches Bewußtsein, 725; McGinn, Bewußtsein und Raum, 193; Smith Churchland, Die Neurobiologie des Bewußtseins, 466.
9. Das Ende der Kränkungen Die biblische Apokalyptik rechnet mit einem endgültigen und weltweiten Ende der Kränkungen: „Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen“ (Apk 21,4). Vier Themen sind damit berührt, die in diesem Kapitel erläutert werden sollen: 1. Ist der Gedanke einer endgültigen Erlösung überhaupt denkbar? Ist es kosmologisch wahrscheinlich, dass ein Weltende überhaupt eintritt? 2. Wer wird erlöst? In welchem Verhältnis steht die christliche Hoffnung nach endzeitlicher Erlösung zum Gedanken des göttlichen Gerichts? 3. Wie wird geheilt? Gibt es nicht Leiden, die unheilbar sind? Oder geht Gottes Macht etwa so weit, dass sie sogar die Leiden, die bereits erlitten worden sind, rückgängig macht? 4. Inwiefern folgt daraus für die Gegenwart einer noch unerlösten Welt, dass die Macht Gottes evident präsent wird? Inwiefern wird Gottes Trost schon jetzt wirksam?
9.1 Gibt es überhaupt ein Weltende? Die meisten Wissenschaftler stimmen darin überein, dass das Universum endlich ist. Es wird also irgendwann eine kosmische Katastrophe geben, die die Weltgeschichte beendet. Es ist charakteristisch für jüdisch-christliches Denken, dass es einen solchen Endpunkt als Zustand versteht. Das ist nicht selbstverständlich: Wenn alles zu Ende geht, kann das Ende kein Zustand sein. Es beendet vielmehr jegliche Zustände. Für jüdisch-christliches Denken ist dagegen das Ende ein neuer Anfang. Dagegen steht die Vorstellung, dass das Universum kein Ende haben wird, weil es nämlich gar kein Universum ist, sondern nur ein relativ abgeschlossenes kosmisches System, das andere Universen in seiner Umgebung hat. Diese Theorie von sogenannten „Multiversen“ rechnet damit, dass zwar einzelne Universen kollabieren können, dabei aber neue Universen erzeugen. Diese Theorie hat etwa Richard Dawkins gegen die jüdisch-christliche Schöpfungslehre hervorgebracht: Die Welt sorge für sich selbst und brauche daher keinen Schöpfer.1 Dann braucht sie auch keinen Erlöser für ihr Ende, weil es kein Weltende gibt. 1 Dawkins, Der Gotteswahn, 204–207.
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Eine andere Theorie der kosmischen Selbsterhaltung stammt von Roger Penrose. Danach handelt es sich bei schwarzen Löchern um Kraftfelder, die keine Materie enthalten, sich aber allein dauerhaft (unendlich lange) erhalten.2 In diesem Modell liegt ein unvergänglicher End-Zustand vor. Das ist letztlich auch bei der Theorie der Multiversen der Fall: Sie relativiert zwar den End-Zustand, indem sie ihn vervielfältigt. Dennoch gibt es nichts, was nicht irgendwann einmal endet. Jedes Ende wird hier als systemimmanentes Ende gedacht, wohingegen das Multiversum niemals endet, aber auch kein System bildet. Der Widerspruch der Theorie des Multiversums besteht aber darin, dass sie dann auch keine Vorhersagen über das Ende des Multiversums treffen kann. Denn wenn ein Multiversum kein System ist, das über eine Gesetzmäßigkeit verfügt, dann kann es jederzeit kollabieren, ohne dass es dafür irgendeinen Grund gibt. Seine Selbsterhaltung kann jedenfalls nicht von den Naturgesetzen der einzelnen Universen abhängig sein. Denn sonst wären die Universen nicht voneinander unabhängig, was sie aber angeblich sein sollen. Anders gesagt: Die Hypothese, dass ein Multiversum unendlich ist, hat keinen Anhaltspunkt. Das ist der Fehler, den Dawkins unternimmt: Er mag zwar noch plausibel machen, dass einzelne Universen durch „Gelegenheiten“ der Umwelt entstehen. Aber er kann nicht mehr geltend machen, dass dies an einer Gesetzmäßigkeit liegt. Denn eine solche Gesetzmäßigkeit liegt außerhalb der Naturgesetze, die nämlich nur innerhalb eines Universums Geltung haben. Die Selbsterhaltung des Multiversums kann nur eine pure Zufälligkeit sein und wäre damit nur zufällig verlässlich – oder anders: eben absolut unzuverlässig. Eine dritte Theorie für die Grenzenlosigkeit des Universums stammt von Stephen Hawking. Ihr zufolge hat zwar das Universum einmal begonnen, allerdings nicht mit einem Punkt, der seinerseits voraussetzungslos wäre (der Urknall; Hawking nennt einen solchen Punkt „Singularität“3). Nach dieser Theorie sind die Naturgesetze vielmehr schon immer in Kraft gewesen. Obwohl das Universum irgendwann einmal kollabiert, also unausgedehnt sein wird, steht es doch in einem raumzeitlichen Zusammenhang, der als solcher kein zeitliches Ende hat: „Das Universum wäre völlig in sich abgeschlossen und keinerlei äußeren Einflüssen unterworfen. Es wäre weder erschaffen noch zerstörbar. Es würde einfach SEIN.“4 Philosophisch wäre dieses „SEIN“ ein zeitloses Sein, weil es Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zugleich umfasst – und zwar absolut umfasst, ohne Berücksichtigung der Relativitätstheorie. Denn dieses SEIN integriert die Zeitdimensionen als Kategorien, nicht als Koordinaten von Ereignissen. Das Universum hätte deshalb kein zeitliches Ende, weil es zeitlos ist, und nicht, weil es eine unendliche Dauer hätte. Diese Theorie denkt also den Kollaps des Universums als einen Zustand. Darin ist Hawking dem jüdisch-christlichen Denken näher als er möchte. 2 Hasker, Emergenter Dualismus und Auferstehung, 183. 3 Hawking, Eine kurze Geschichte der Zeit, 173. 4 Ebd.
Wer wird erlöst?
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Zwar wollte die jüdisch-christliche Apokalyptik die endgültige und absolute Herrschaftsübernahme Gottes über alles ausdrücken und weniger eine Naturvorstellung skizzieren. Dennoch werden grundsätzlich die Vorstellungen eines kosmischen End-Zustandes an sich schon mit Heilsversprechen assoziiert – oder auch umgekehrt mit unheilvollen Phantasien (einer ewigen Hölle). Sobald das Ende ein Zustand ist, wird das Ende verewigt. In der Apokalyptik wird nicht etwa die Beendigung aller Zustände prophezeit, sondern ein End-Zustand verendgültigt. Diese „jüdisch-christliche“ Phantasie steckt nun merkwürdigerweise auch in den genannten nicht-religiösen physikalischen Kosmologien. Sie sind daher weniger „radikal“ und widersprechen christlichem Denken weniger als die Vorstellung des antiken Philosophen Epikur, der schon den eigenen Tod als das Ende der Zustände dachte und damit auch als Ende jeglicher Zuständigkeit. (Er kann dann nach seinem Tod auch für nichts verantwortlich gemacht werden, was er in seinem Leben getan hat.) Eine solche subjektivistische Variante der Vorstellung vom Weltende lässt sich freilich nur durchhalten, indem sie kosmische Fragen ausklammert (zum Beispiel über den Fortbestand der Welt nach dem eigenen Tod). Zusammengefasst lässt sich sagen, dass bis heute keine ausreichenden Alternativen zur Vorstellung eines Weltendes vorliegen. Nach landläufiger philosophischer Meinung von Epikur bis Metzinger können denkende Subjekte sich grundsätzlich nicht vorstellen, nicht mehr zu existieren.5 Sie können nicht über den phänomenalen Charakter ihres Selbstbewusstseins bewusst hinübersteigen. Da sie aber ihr Selbstbewusstsein immer in einer Welt lokalisieren müssen6, ist es ihnen folglich unmöglich, sich ein Weltende vorzustellen. Als Lösung stellen sie sich das Weltende als einen Zustand vor, also als eine Art Neuanfang. Die angeführten kosmologischen Modelle einer unendlichen Welt sind also Versuche, das Undenkbare zu denken. Darin entsprechen sie der biblischen Apokalyptik, die Kontinuität in der Diskontinuität zu beschreiben.
9.2 Wer wird erlöst? Es hat sich inzwischen innerhalb der Theologie die Vorstellung durchgesetzt, es gebe keine Hölle. Michael Beintker schreibt zu Recht: „Der Gedanke an eine ewige Hölle ist mit dem Gedanken der Ewigkeit Gottes nicht zu vereinbaren, weil damit die Ewigkeit des Bösen, das gerade aufhören soll, festgeschrieben und ein heimlicher Dualismus in die Eschatologie implantiert wird.“7 Tatsächlich wäre es auch ein theologischer Widerspruch gegen die apokalyptische All-Herrschaft Gottes, wenn es einen Bereich gäbe, der von seiner Herrschaft 5 Metzinger, Subjektivität und Selbstmodell, 283. 6 Metzinger, Subjektivität und Selbstmodell, 275. 7 Beintker, Gottes Urteil über unser Leben, 232.
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ausgeschlossen wäre. Interessanterweise spricht aber das Neue Testament gelegentlich von solchen Bereichen. Es spricht dann von „draußen“. Wo Heulen und Zähneklappern herrscht, ist ein Raum zurückgeblieben, zu dem auch Gott keinen Zugang hat. Die „Kluft“ ist auch für Gott unüberwindbar (Lk 16,26). Das widerspräche aber seiner endzeitlichen All-Herrschaft. Die unüberwindliche Kluft, wenn es sie denn gibt, kann keine endgültige Kluft sein. Sie kann nur vorerst unüberwindlich sein. Eine Hölle kann es daher nicht ewig geben – wenn es sie denn überhaupt gibt. Dazu passt, dass die erwähnten Passagen aus dem Neuen Testament nicht den apokalyptischen Gattungen angehören, sondern in Gleichnissen von der Kluft reden. Dabei werden Zustände beschrieben, die in der Welt herrschen, nicht aber der kosmische Endzustand. Das Fehlen einer ewigen Hölle heißt wiederum nicht, dass Gottes Herrschaft ausschließlich aus seiner Vergebung besteht. Gott würde nicht erlösen, wenn er ausschließlich verzeihen würde. Es gibt in dieser Welt zu viel Unerlöstes, zu viel Unverzeihliches, zu viel Unerhörtes und Unfassbares, als dass Vergebung allein schon alle Wunden heilen könnte. Wie ich schon in meiner Christologie dargestellt habe, muss Gottes Gnade mit seiner Aufrichtigkeit verbunden werden.8 Das Unerlöste muss auch überwunden werden. Dazu muss dem Bösen entscheidend widersprochen und etwas entgegengesetzt werden. Erlösung ist daher eine kämpferische Kategorie, sie setzt den Widerstreit gegen das Böse voraus und hält diese Entgegensetzung aufrecht. Das ist der existenzielle Sinn der ewigen Verdammnis: die ewige Bändigung des Bösen. „Der Mensch soll das Böse nicht mehr kennen… Damit das Neue Gestalt gewinnen kann, muss das Alte vergehen. Das Alte aber kann nur vergehen, wenn es überwunden, wenn es gerichtet wird.“9 Das unterstreicht aber noch einmal die Vorstellung, dass Erlösung ein Zustand ist und nicht das Ende aller Zustände. Wenn das Böse bleibend gebändigt sein soll, damit man von Erlösung sprechen kann, kann sie nicht mit einer gänzlichen Leere einhergehen. Daraus folgt, dass zur Erlösung ebenso die beteiligten Subjekte gehören, die sie auch erfahren können müssen. Eine subjektlose Erlösung wäre zumindest für die Subjekte kein Zustand, sondern das Ende aller Zustände. Dies legt die Vorstellung von der Allversöhnung nahe. Diese Vorstellung hat ihren Ursprung bei Origenes gefunden. Origenes setzt dabei voraus, dass alle Geschöpfe Gutes enthalten. Sie sind nämlich substanziell mit Gott verbunden. Folglich kann Gott gar nicht ewig verdammen, weil er dann einen Teil seiner eigenen Substanz mit verdammen müsste.10 Bei dieser Vorstellung fehlt in Gott die Fähigkeit einer gerechten Wahrhaftigkeit. Seine universale Herrschaft wäre mit einer unaufrichtigen Gerechtigkeit verbunden. Darin besteht der 8 Ohly, Was Jesus mit uns verbindet, 112. 9 Beintker, Gottes Urteil über unser Leben, 225. 10 Vgl. Chadwick, Origenes, 138, 142.
Wie wird ungeheiltes Leid geheilt werden?
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Fehler Origenes’. Er besteht aber nicht darin, für die Menschen universale Erlösung zu erwarten. Ein unerlöster Mensch, der in die ewige Verdammnis geworfen würde, müsste weiterhin mit einem ungebändigten Bösen zusammen existieren. In dieser Situation wäre Gott nicht allumfassender Herrscher des weltgeschichtlichen End-Zustands.11 Der End-Zustand wird ein Zustand voller Leben sein, bei dem kein Leben ausgeschlossen sein kann.12 Das schließt die Aufrichtigkeit Gottes ein. Wenn nämlich auch der Verbrecher aufersteht, so muss er von seiner tödlichen Macht „geläutert“ worden sein, um umfassend Leben zu repräsentieren. Würde er nicht auferstehen, so bliebe Gottes Gerechtigkeit teilweise unerkannt. Damit Gottes Gerechtigkeit freilich von allen Subjekten anerkannt werden kann, müssen alle Subjekte auferstehen. Nur dann ist die allumfassende Erlösung vollständig.
9.3 Wie wird ungeheiltes Leid geheilt werden? Welche Aussicht auf Gerechtigkeit gibt es für einen Menschen, der seines Lebens beraubt und schwer misshandelt zugrunde gegangen ist? Am nächstliegenden ist die Vorstellung einer Wiedergutmachung: Gott lässt den Menschen wieder auferstehen und erstattet ihm mit seiner Liebe, was ihm in seinem Leben vorenthalten wurde. Dies ist die biblische Vorstellung vom armen Lazarus, der nach seinem Tod von Engeln getragen und in den Schoß Abrahams genommen wird (Lk 16,22). Aber diese Vorstellung braucht den Kontrast zur Bestrafung des ungerechten Menschen. Denn kann es eine wirkliche Wiedergutmachung geben, wenn dem ungerechten Menschen dabei nichts weggenommen wird? Die Vorstellung einer ewigen Verdammnis habe ich allerdings schon zurückgewiesen. Man könnte stattdessen antworten: Dem ungerechten Menschen wird die Ungerechtigkeit weggenommen. Die Wiedergutmachung für den geschundenen Menschen besteht darin, dass er in das Zusammenleben mit dem geläuterten Menschen integriert wird. Aber selbst dann bleibt etwas an diesem Erlösungsmodell unbefriedigend: Die Ungerechtigkeit wird dadurch nicht zurückgenommen, dass sie wieder gut gemacht wird. Oder anders: Es handelt sich gar nicht um eine echte „Wiedergutmachung“, weil das Böse gerade als Böses bestätigt wird. Das Ungeheilte der Weltgeschichte wird nicht geheilt, sondern ersetzt. Das ist die biblische Vorstellung vom vergangenen alten Äon, der durch einen neuen Äon ersetzt wird (2Kor 5,17). Nach diesem Modell muss zumindest Gott auf ewig ertragen, dass Böses geschehen ist. Er hätte zwar die ungerechten Menschen geläutert, damit sie von ihrer Vergangenheit nicht mehr eingeholt werden 11 Beintker, Gottes Urteil über unser Leben, 233. 12 Ohly, Was Jesus mit uns verbindet, 188. S. Kap. 8 in diesem vorliegenden Band.
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könnten. Und er hätte auch die Opfer der Weltgeschichte ihrem Leid entrissen, indem er sie neu erschaffen hätte. Aber er selbst könnte dem geschehenen Unrecht nicht mehr entgehen, und schon gar nicht dadurch, dass er ihm Erlösung entgegensetzt. Diese biblische Vorstellung eines leidenden, „pathischen“ Gottes hat jüngst Ingolf U. Dalferth vertreten. Eine andere, deutlich kompliziertere Lösung besteht darin, dass Gott das Elend der Weltgeschichte wirklich ungeschehen macht. Meines Wissens ist diese Lösung bislang nicht vertreten worden. Immerhin scheint sie auch der biblischen Eschatologie zu widersprechen: Wenn Gott Tränen abwischt (Apk 21,4), dann ist vorher eben geweint worden. Dann jedoch bleibt Gott an diesen Schatten der Vergangenheit ewig gebunden. Allerdings ist in den letzten Jahren zumindest eine Ahnung für das Phänomen einer „retroaktiven Kausalität“ formuliert worden, die dann auch ermöglichen könnte, dass sich Gott selbst vom Leid der Vergangenheit erlöst, indem er die Geschöpfe erlöst. Eine solche Ahnung hat Slavoj Zˇizˇek entfaltet.
9.3.1 Der ewig leidende Gott (I.U. Dalferth) In einem kleinen Bändchen über „Leiden und Böses“13 hat Ingof U. Dalferth im Jahr 2006 einige Vorüberlegungen zum Phänomen des Leidens angestellt, bevor er sie dann 2008 in einem umfassenden Werk namens „Malum“14 zusammengetragen hat. Nach meinem Eindruck sind im späteren Werk die provokanten Linien des früheren Buches verloren gegangen. Anscheinend will Dalferth in seinem späteren Werk Gottes Überwindung des Bösen dadurch charakterisieren, dass jedes Phänomen mehrere Perspektiven zulässt, so dass andere bei einer Erfahrung, die für jemanden böse war, Gott am Werk sehen können. (So konnten die Jünger Gott sogar in Jesu Tod am Werk sehen.15) Der Gedanke eines pathischen Gottes wird zwar auch in Dalferths Hauptwerk nicht verlassen.16 Dennoch scheint er mit seinem früheren Werk prägnanter ausgeführt. Deshalb werde ich mich bei meiner Darstellung Dalferths auf sein früheres Bändchen beschränken. In einer beeindruckenden Analyse unterscheidet Dalferth das Phänomen der Anfechtung vom Zweifel: Der Zweifel kann sich in gewisser Weise selbst erlösen. Denn er findet zumindest in sich selbst eine letzte Gewissheit. Das ist bei der Anfechtung anders: Bei ihr verdunkelt sich jegliche Gewissheit.17 Anfechtung ist der Zweifel an Gott und kann sich daher nicht auf sich selbst beziehen. An Gott kann ich meinen Zweifel nicht richten, weil Gott im Zustand 13 14 15 16 17
Dalferth, Leiden und Böses. Dalferth, Malum. Dalferth, Malum, 495. Dalferth, Malum, 499. Dalferth, Leiden und Böses, 207f.
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der Anfechtung gerade zweifelhaft ist. Und an mich kann ich den Zweifel nicht richten, weil ich mich gerade von Gott verlassen fühle. Gottverlassenheit steigert also Gottverlassenheit. Meine Anfechtung vertieft sich ins Unendliche. Der glaubende Mensch leidet also nicht einfach an etwas Bösem, sondern leidet vor allem unter der Anfechtung. Er leidet daran, dass Gott abwesend ist.18 Genauer: Er leidet daran, dass Gott „dunkel“ wird.19 Diese verzweifelte Erfahrung wird nochmals dadurch gesteigert, dass der glaubende Mensch Gott so erfährt, dass er sich selbst verdunkelt.20 Das bedeutet zugleich, dass Gott auch sich selbst dunkel wird. Dalferth spricht vom „Selbstwiderspruch Gottes“21, der zwei Seiten hat: „Gott selbst steht gegen Gott.“22 Und: „Gott leidet an sich selbst.“23 Gott zieht also die Anfechtung in sich selbst hinein. Gott selbst ist angefochten. In Gott selbst aber führt die Anfechtung zur Erlösung – allerdings auch hier nicht zur Selbsterlösung. Vielmehr liegt gerade in der Selbstverdunklung Gottes die Rettung des Menschen. Indem Gott sich selbst verdunkelt, verdunkelt er vor sich selbst seine Möglichkeiten: das, was er auch hätte sein können.24 Ein Gott, der sich vor seinen eigenen Möglichkeiten verschließt, ist ein Gott purer Eindeutigkeit. Während für die Selbstanfechtung Gottes das Kreuz Christi steht, steht für die Entscheidung in diesem Streit das „Wort vom Kreuz“25. Das Wort vom Kreuz stellt die Eindeutigkeit her, dass sich Gott dem Prozess der Selbstverdunklung seinen Möglichkeiten verschließt und damit einfach der wird, der er ist. Dieser Gott purer Eindeutigkeit ist ein Gott, der sich gegen seine Selbstverdunklung entscheidet.26 Offenbar nimmt Dalferth an, dass dabei das Wort vom Kreuz die Selbstverdunklung als Bestimmung Gottes bestätigt: Gott verdunkelt sich selbst seine Möglichkeiten und wird damit eindeutig der, der er ist. Damit wendet das Wort vom Kreuz die schreckliche Seite der Selbstverdunklung: Der bloße Abgrund in der Selbstverdunklung Gottes wird so aufgehoben. Das Wort vom Kreuz ist eine gewendete Selbstverdunklung, eine Selbstverdunklung ohne Anfechtung. Sobald Gott sich damit eindeutig bestimmt, überwindet er die Anfechtung des glaubenden Menschen. Denn indem Gott eindeutig bestimmt ist, hat der Mensch keinen Grund mehr, sich 18 Dalferth spricht vom Leiden an der „Abwesenheit Gottes“ (Dalferth, Leiden und Böses, 210). Dieser Begriff ist aber nun bei mir zu einem Terminus Technicus geworden, an dem die Evidenz Gottes auftaucht. Dialektisch ist also bei mir auch die Abwesenheit ein Anwesenheitsphänomen. Würde Dalferth dasselbe Phänomen meinen, so ließe die Anfechtung doch eine Selbsterlösung zu: Gerade indem sie sich auf sich selbst richtet, würde sie Gottes Geist entdecken. 19 Dalferth, Leiden und Böses, 209. 20 Dalferth, Leiden und Böses, 211. 21 Dalferth, Leiden und Böses, 212. 22 Ebd. 23 Dalferth, Leiden und Böses, 213. 24 Dalferth, Leiden und Böses, 215. 25 Ebd. 26 Ebd.
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im Zwiespalt aus Hoffnung und Zweifel an Gott zu vertiefen. Dieses Böse ist ihm nun abgenommen. Deshalb – und wohl nur deshalb – kann Dalferth auch die pure Eindeutigkeit Gottes „eindeutig das Gute“27 nennen. Das Kreuz ist Gottes Selbstverzicht: Gott verzichtet auf seine Möglichkeiten und macht sich eindeutig. Durch diesen Selbstverzicht lässt er nicht nur anderes neben sich zu. Vielmehr beschreibt Dalferth diesen Selbstverzicht als Konstitution des Anderen: Anderes wird als Anderes konstituiert, weil Gott sich dadurch bestimmt, dass er auf alle seine eigenen Möglichkeiten verzichtet, selbst ein Anderer zu sein.28 An dieser Stelle wird Gott der pathische Gott. Er erlöst den Anderen (die Geschöpfe) von der Gefahr des Bösen, indem er ihre Andersheit bewahrt. Anstatt sich selbst nach seinen Möglichkeiten zu bestimmen, lässt er sich nun von den Anderen prägen und wahrt damit ihre ewige Eigenständigkeit. „Nichts, was geschieht, ist gleichgültig, weil es Spuren der Kontingenz in Gottes Leben hinterlässt und damit in seine Identität eingeht.“29 Auf diese Weise werden die Geschöpfe von ihrer Vergänglichkeit und ihrer Zerbrechlichkeit erlöst. Sie bewahren ihre Andersartigkeit und können somit auch allem entkommen, das ihre Andersartigkeit bedroht. Das Todesopfer eines Verbrechens bleibt in Gott bewahrt. Für sich selbst ist es zwar vernichtet worden, aber in Gott bleibt es auf ewig bewahrt. Allerdings ist diese Erlösung damit erkauft, dass Gott auch durch das Verbrechen ewig geprägt wird. Er bewahrt auch das Verbrechen in seiner Identität, allerdings so, dass es nicht mehr für Anderes gefährlich werden kann. In Gott besteht also eine universale Koexistenz aller Geschehnisse, die in der Weltgeschichte teilweise unversöhnt gegeneinander stehen. (Deshalb schreibt Dalferth auch, dass das gegenwärtige Erleben des Bösen eine „überholte Wirklichkeit“30 erlebt.) Erlösung stellt sich also so dar, dass Gott das Weltgeschehen erleidet, so dass es ihn dabei vollständig prägt. Es gibt nichts darüber hinaus, wodurch Gott sich selbst prägt, denn er hat sich in seiner Selbstverdunklung gerade von seinen eigenen Möglichkeiten distanziert. Die pure Eindeutigkeit seiner Identität besteht darin, sich von allem Anderen prägen zu lassen. Alles lebt so mit allem anderen zusammen. Darin besteht die Erlösung für alles Andere. Für Gott dagegen ist diese Koexistenz erlitten: Er überwindet keine Verbrechen, sondern er lässt sich durch sie prägen. Allerdings lässt er sich so von ihnen prägen, dass sie ihren zerstörenden Charakter verlieren und ein Anderes werden, das mit allem Anderen koexistiert. Darin besteht Gottes Eindeutigkeit. Dass Gott pathisch wird, heißt nicht, dass er Böses erleiden muss. Aber er erleidet alles Andere. Dalferths beeindruckendes eschatologisches Modell muss dabei Anderes 27 28 29 30
Ebd. Dalferth, Leiden und Böses, 217. Dalferth, Leiden und Böses, 218. Dalferth, Leiden und Böses, 204.
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inhaltsleer beschreiben: in einer formalen Bestimmung. Alles, was nicht Gott ist, ist Anderes. Und alles, was Anderes ist, wird um seiner selbst willen von Gott geliebt. Durch diesen inhaltsleeren Begriff des Anderen prägt Gott dann auch Verbrechen um, indem er sich von ihnen prägen lässt: Sie sind geliebt, aber nicht weil sie Verbrechen sind, sondern weil sie Anderes sind. Mit dieser inhaltsleeren Beschreibung des Anderen kann Dalferth begründen, warum Gott nicht wie ein Weltpolizist in die Weltgeschichte eingreift und trotzdem die Schöpfung erlöst. Außerdem kann Dalferth so unterstreichen, dass die Erlösung wirklich universal geschieht. Diese inhaltsleere Charakterisierung mag zwar befremdlich wirken angesichts des unsäglichen Leids, das Menschen erdulden müssen. Sie entfaltet aber gerade die Stärke, eine weltweite Erlösung zu beschreiben. Denn um eine weltweite Erlösung zu beschreiben, die wirklich alles enthält, muss das Verbrechen auch in der Erlösung enthalten sein. Scheinbar unentschieden ist Dalferths Darstellung auch zwischen Gottes Selbstbestimmung und seinem Bestimmtwerden. Die beiden einzigen Aktivitäten, die Dalferth Gott zuschreibt, sind seine Selbstverdunklung und die Offenbarung des Wortes vom Kreuz. Ansonsten besteht seine Wirksamkeit darin, nicht selbst zu wirken, sondern im Verzicht auf alle seine Möglichkeiten eindeutig zu werden. Gottes Wirksamkeit als Liebe bewährt sich als Bewirktwerden durch alles Andere. Damit stellt sich die Frage, was eigentlich durch Gottes Bestimmtwerden gewonnen wird. Worin unterscheidet sich seine wesenhafte Passivität von dem bloßen Faktum, wie die Wirklichkeit nun mal ist? Was haben die Opfer dadurch gewonnen, dass Gott sich von Verbrechen prägen lässt, ohne aktiv an ihnen etwas zu verändern? (Denn wenn er aktiv werden würde, würde er ja ihre Andersheit antasten, die Gottes Liebe doch bewahren will.) Der entscheidende Gewinn dieses Modells hängt von der Frage ab, wie ein Verbrechen in Koexistenz mit seinem Opfer in Gott eingeprägt sein kann. Wie also können Verbrechen und Opfer in Gottes Liebe koexistieren? Wenn Gottes Wirksamkeit wirklich nur darin bestehen soll, durch andere bewirkt zu werden und gerade dadurch eindeutig zu sein, dann werden bloße Fakten in Gott als Anderes ausdrücklich. In der bloßen Wirklichkeit dagegen werden Fakten nicht als Anderes ausdrücklich, solange sie sich gegenseitig zerstören. Sie sind dann vielmehr in ihrer Faktizität in Frage gestellt. Dagegen bewahrt Gottes Wirksamkeit alles Andere und wahrt damit die Tatsächlichkeit aller Tatsachen. An anderer Stelle31 habe ich die Tatsächlichkeit von Tatsachen als eine Verlässlichkeit beschrieben, die sich von Tatsachen unterscheidet. Während sich Tatsachen verändern können, ist ihre Tatsächlichkeit unveränderbar; sonst wären sie keine Tatsachen. Der Tatsächlichkeit von Tatsachen gegenüber sind alle Existenzen „schlechthinnig abhängig“32, weil es sie nur geben kann, 31 Ohly, Warum Menschen von Gott reden, 35f; ders., Gestörter Frieden mit den Religionen, 91f. 32 Ohly, Warum Menschen von Gott reden, 35.
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wenn die Tatsachen verlässlich sind, was sie sind, auch wenn sie sich verändern. Der Ausdruck „schlechthinnige Abhängigkeit“ bezieht sich dabei auf Gott und kann sich nur auf Gott beziehen.33 Alles ist von Gott schlechthinnig abhängig. Dieses Phänomen der Tatsächlichkeit von Tatsachen begegnet nach meinem Eindruck bei Dalferth implizit wieder. Und es begegnet hier so, dass dabei der Erlösungscharakter der Tatsächlichkeit hervortritt: Nicht die bloße Andersheit erhält schon die Eigenständigkeit bloßer Fakten, sondern erst die garantierte Andersheit. Darin besteht der Unterschied zwischen der bloßen Wirklichkeit und der Tatsächlichkeit von Tatsachen, die durch Gottes liebende Wirksamkeit garantiert ist. Dalferths Modell einer Erlösung durch einen pathischen Gott wirkt zumindest objektiv zurück auf vergangene Ereignisse: Das Böse, das Menschen in der Weltgeschichte erlitten haben, wird durch Gottes Wirksamkeit als Illusion durchschaut. Und zwar handelt es sich um eine illusionäre Zeiterfahrung: Was leidende Menschen gegenwärtig als Böses erleben, ist bereits überwunden: „Wir leben und erfahren etwas, was nicht nur zum Vergehen bestimmt, sondern eigentlich schon vergangen ist, leben der wahren Wirklichkeit also gewissermaßen hinterher.“34 Insofern beschreibt Dalferth bereits eine Art retroaktive Kausalität, die das Böse tilgt, bevor es erlebt wird. Die retroaktive Kausalität besteht dabei darin, dass Gottes Wirksamkeit die Gegenwart zur Vergangenheit verwandelt. Das menschliche Erleiden des Bösen wird dabei nicht rückgängig gemacht, aber sein gegenwärtiges Erleben wird in ein vergangenes Erleben transformiert. Seine Präsenz wird in einen zeitlichen Abstand überführt. Dalferths Modell erlöst zwar nicht von der subjektiv gegenwärtigen Erfahrung des Bösen, aber sehr wohl von ihrer objektiven Wirksamkeit. In Gott ist damit objektiv rückgängig gemacht, was Menschen in der Welt subjektiv an Bösem erlitten haben und erleiden. 9.3.2 Erlösung als retroaktive Kausalität (S. Zˇizˇek) Slavoj Zˇizˇeks Vorschlag einer retroaktiven Kausalität unterscheidet sich insofern von Dalferths Modell, als Dalferth zwei Ebenen eschatologisch ineinander schiebt: die Ebene der Erscheinung und die göttliche Wirklichkeit. Während Menschen gar nicht anders können als unter bösen Erlebnissen zu leiden, besteht in der göttlichen Wirklichkeit eine friedliche Koexistenz aller Fakten. Hier kann nicht mehr unter dem Bösen gelitten werden, auch nicht unter dem Bösen der Vergangenheit, weil in der göttlichen Wirklichkeit kein Anlass dazu besteht, obwohl die Fakten dieselben sind wie in der menschli33 Ohly, Eine leibphänomenologische Herleitung der Allwissenheit Gottes, 67f. 34 Dalferth, Leiden und Böses, 204.
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chen Erscheinung. Dagegen betrifft Zˇizˇeks retroaktive Kausalität zwar auch zwei Ebenen, aber Ebenen derselben Art: Konfrontiert werden frühere mit späteren Erscheinungen. Und das ist für Zˇizˇek dasselbe wie die Konfrontation zweier Realitäten. Denn ohnehin ist seiner Meinung nach Realität eine Konstruktion, die notwendig imaginäre und symbolische Repräsentationen enthält. Zˇizˇek ist ein Philosoph der „Virtualität“. Für ihn ist die Realität immer schon medial vermittelt. Ein unmittelbarer Zugang zur Wirklichkeit besteht nicht. Das heißt aber nicht, dass alles nur eine Illusion ist. Virtualität besteht darin, dass sich in der medialen Vermittlung ein „realer Kern“35 zeigt, der für die Vermittlung unzugänglich ist. Dieser reale Kern stellt sich allerdings nur in seiner Nicht-Darstellbarkeit dar.36 Deshalb ist es für Zˇizˇek kein Unterschied, Erscheinungen zu vergleichen oder Realitäten. In der Erscheinung zeigt sich das Reale als das Undarstellbare. Und deshalb ist Realität zwar Konstruktion, aber keine willkürliche Illusion. Auf dieser Grundlage wird nun verständlich, warum es eine retroaktive Kausalität geben kann. An mehreren Beispielen zeigt Zˇizˇek, wie sich rückwirkend Erscheinungen verändern können, die Menschen bereits gehabt haben. Sein Ausgangspunkt ist ein ästhetisches Beispiel: Erst nachdem man Kafkas Texte kennen gelernt hat, kann man Vorläufer der kafkaesken Absurdität in der Literatur erkennen. Von chinesischen Autoren bis zu Robert Browning kann man kafkaeske Stilmittel erkennen – allerdings erst seitdem es Texte von Kafka selbst gibt. „Die angemessene dialektische Lösung des Dilemmas ,Steht das wirklich dort im ursprünglichen Text, oder haben wir es hineingelesen?‘ lautet daher: Es steht dort, doch wir können dies erst rückwirkend aus unserer heutigen Perspektive wahrnehmen und feststellen.“37 Es handelt sich eben nicht einfach nur um eine Erkenntnis, die wir vorher einfach nicht haben konnten. Vielmehr handelt es sich um eine wirklichkeitsbildende Ursache, die aber rückwärts verläuft, einfach deshalb, weil Realität und Erscheinung keine Gegensätze sind. Bei der retroaktiven Kausalität handelt es sich um „eine selbstbezügliche Kausalität, die in der Zeit ,rückwärts verläuft‘ oder… der Akt des Setzens der Voraussetzungen.“38 Mit dem Ausdruck „selbstbezüglich“ meint Zˇizˇek, dass die retroaktive Kausalität „leer“ ist.39 Sie hat keine Voraussetzungen, weil das Gleichgewicht von Ordnungen und geordneten Voraussetzungen gestört ist. Gerade dadurch wird die Kette linearer Folgen von Ursachen und Wirkungen durchbrochen. Dies ist für Zˇizˇek auch die Bedingung der Freiheit.40 Und sie könnte auch eine Bedingung für die endzeitliche Erlösung sein. 35 36 37 38 39 40
Zˇizˇek, Das Reale des Christentums, 8f. Zˇizˇek, Körperlose Organe, 72, 89f. Zˇizˇek, Körperlose Organe, 155. Zˇizˇek, Körperlose Organe, 157. Vgl. Zˇizˇek, Körperlose Organe, 111. Zˇizˇek, Körperlose Organe, 155.
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Diese Idee führt Zˇizˇek zwar nicht aus. Aber man kann doch mit Hilfe seiner Idee der retroaktiven Kausalität die Vorstellung entwickeln, dass die endzeitliche Erlösung die Realität des Bösen auch rückwirkend verändert. Zˇizˇek zeigt nämlich, wie auch bei ethischen Themen Sachverhalte dadurch rückwirkend verändert werden, dass sie später anders erscheinen.41 So gilt Doping durch pharmazeutische Mittel als ein unfaires Spielverhalten. Dagegen hält man es für eine legitime und damit faire Zuteilung der Natur, wenn man für eine Sportart mehr Talent hat als der Gegner. Sobald man aber weiß, dass Talent durch nichts anderes entsteht als durch bestimmte neurochemische Prozesse im Gehirn, wird die angebliche Differenz zwischen Doping und Talent eingeebnet. Das heißt aber, dass es durch dieses gewonnene Wissen keinen Weg zurück in die Unmittelbarkeit gibt.42 Durch die retroaktive Kausalität werden Tatsachen rückwirkend verfälscht. Die Vorstellung eines „naturgegebenen“ Talents ist rückwirkend falsch. Ebenso rückwirkend falsch ist der Gedanke, der Mensch könne sich vor genetischer Manipulation schützen, wenn er das menschliche Genom nicht antastet. Denn wenn man das Genom nicht antastet, obwohl man weiß, wie es funktioniert, dann ist der Verzicht auf eine genetische Manipulation selbst rückwirkend zur Manipulation geworden. Am Beispiel der Biotechnologie zeigt Zˇizˇek zum einen auf, dass retroaktive Kausalität auch „ernste“ Fakten rückwirkend verändert. Warum also nicht auch das Böse der Weltgeschichte? Zum anderen stellt er selbst den Bezug zur Apokalyptik her, wenn er schreibt: „Die biogenetische Bedrohung ist eine neue, wesentlich radikalere Version des ,Endes der Geschichte‘.“43 Ich verstehe dieses Zitat allerdings so, dass es das „Ende der Geschichte“ nicht nur einmal in der Geschichte gibt. Es findet vielmehr immer dann statt, wenn die retroaktive Kausalität rückwirkend Fakten verändert. Deshalb kann Zˇizˇek das Ende der Geschichte hier komparativisch beschreiben: Es ist ein noch „radikaleres“ Ende (nämlich: als alle bisherigen Enden der Geschichte). Könnte Gott nicht so auch alle Entrechteten, alle Sklaven, alle Opfer, alle Gefolterten und alle Ermordeten dadurch erlösen, dass er sie nicht nur aus dem Tod hervorholt, sondern dass er darüber hinaus auch die Geschichte ihres Elends rückwirkend günstig „verfälscht“? Vielleicht mutet dieser Gedanke zynisch an. Man könnte meinen, dass die Opfer verhöhnt werden, wenn man nachträglich ihr Elend zurückweist. Es klingt wie eine Verharmlosung, wenn alles Elend rückwirkend gar nicht empfunden worden sein soll. Der Gedanke der „Auschwitz-Lüge“ liegt nahe. Offenbar sind sich jedoch AuschwitzLeugner und die, die sie verurteilen, darin einig, dass die Leugnung von Auschwitz die Opfer in den Dreck zieht. Eine merkwürdige dialektische Verwandtschaft! 41 42 43
Zum Folgenden Zˇizˇek, Körperlose Organe, 181. Zˇizˇek, Körperlose Organe, 173. Zˇizˇek, Körperlose Organe, 182.
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Denn andererseits klingt dieser Einwand so, als hätten die Elenden ein Anrecht auf ihr Elend. Nicht auf ihr Elend, aber darauf, dass sie in ihrem Elend anerkannt werden – könnte man erwidern. Aber achtet man wirklich ihre Würde, wenn man sie in ihrem Elend anerkennt – und nicht vielmehr darin, dass man sich gerade nicht mit ihrem Elend abfindet? Sich nicht damit abzufinden, würde heißen, die Geschichte des Elends als unfertige Geschichte zu verstehen – eine Geschichte, über die noch nicht das letzte Wort gesprochen worden ist. Dass wir uns nicht vorstellen können, wie Gott die Geschichte rückgängig machen wird, könnte daran liegen, dass die endzeitliche retroaktive Kausalität eben noch nicht gegriffen hat. Sie ist ja eine Kausalität, bei der die Zeit – wenn auch virtuell – „rückwärts“ läuft. Wenn wir aber uns vorstellen wollen, wie Gott das anstellen könnte, dass er die Geschichte des Bösen rückwirkend verfälscht, dann denken wir zeitlich „vorwärts“. Und dann können wir den Erlöser nicht treffen. Die retroaktive Kausalität gibt nur modellhaft eine Ahnung dafür, wie die Kreaturen nicht nur vom Bösen erlöst werden können, sondern auch von ihrer Geschichte des Bösen. Wir können aber nicht die Ursache antizipieren, die erst in Zukunft die Geschichte „retroaktiviert“.
9.4 Der lange Schatten der Erlösung in die Gegenwart Wir können allerdings die retroaktive Kausalität als Bedingung unserer Freiheit aktivieren. So hat Zˇizˇek eben die retroaktive Kausalität freiheitstheoretisch charakterisiert. Eine „neue Figur der Freiheit“ tritt für Zˇizˇek am „Ende“ in Erscheinung.44 Das könnte bedeuten, dass Freiheit sich immer schon rückwirkend verwirklicht. Freiheit stünde dann immer am Ende, um dadurch Prozesse auszulösen, die zeitlich vor ihr laufen.45 An anderer Stelle46 habe ich ausgeführt, dass Hinterbliebene nach einem Tod die aufdringliche Erfahrung machen, mit dem Verstorbenen verbunden zu sein. Mit diesen Erfahrungen antizipieren sie zumindest für manche Menschen den End-Zustand der universalen Auferstehung und stellen eine endzeitliche Tatsache schon jetzt dar. Damit wird der Prozess der wachsenden Verlebendigung des Kosmos auch durch Menschen vorangetrieben, selbst wenn Gott ihn ausführt und zu Ende führt. Dieser Gedanke kann jetzt für die 44 Zˇizˇek, Körperlose Organe, 184. Zˇizˇek meint damit die konsequente Durchführung der philosophischen Aufklärung, wie sie im 18. Jahrhundert begonnen hat, bis zu ihrem Ende. Gerade in dieser Aufklärungsemphase begegnet Freiheit als retroaktive Kausalität: von ihrem Ende her. Darin hat sie für Zˇizˇek quasi apokalyptische Bedeutung. 45 Das ist der Grund, weshalb die menschliche Freiheit neurowissenschaftlich nicht nachweisbar ist. 46 Ohly, Was Jesus mit uns verbindet, 168, 190.
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menschliche Freiheit als retroaktive Kausalität für die endzeitliche Erlösung wirksam gemacht werden. Die menschliche Freiheit hat die Kraft, gegen geschehenes Unrecht Einspruch zu erheben. Es spricht Bände, dass gegen Diktatur, Terror und Völkermord, aber auch gegen Hunger, Krankheit und Leid immer Menschen angekämpft haben, indem sie sich kreativ zum Ausdruck gebracht haben. In Kunst, Musik und Literatur haben sie auch gegen geschehenes Unrecht oder schweres Schicksal protestiert. Sie haben damit nicht das Geschehen unwirksam machen können, aber doch einen freien Zugang zur Vergangenheit ermöglicht. Sie haben damit auch die Idee ermöglicht, die Geschichte zu überwinden – nicht indem sie vergessen wird, sondern indem das Böse rückwirkend günstig „verfälscht“ wird. Dieser kreative Umgang mit der Geschichte stellt damit Ressourcen bereit, sich vorzustellen, wie Gott sein Erlösungswerk vollenden kann. Die menschliche Freiheit als retroaktive Kausalität, die gegen geschehenes Unrecht rebelliert, bildet kosmologisch günstige Strukturen aus, über die dann auch Gott seine retroaktive Kausalität zur Erlösung der Geschichte ausprägen könnte. Darin könnte die Aufgabe christlichen Trostes bestehen. Die retroaktive Kausalität könnte gerade so wirksam trösten, dass sie die Geschichte rückwirkend günstig „verfälscht“. Um diesen Gedanken für die christliche Praxis zu entfalten, muss es allerdings zunächst als Chance begriffen werden, dass getröstet werden kann. Die Erwartung der Gesellschaft an Pfarrerinnen und Pfarrer, zu trösten, ist zwar ungebrochen.47 Interessanterweise sind es aber Pfarrerinnen und Pfarrer selbst, die sich mit dieser Aufgabe nicht recht anfreunden können. Trösten erscheint ihnen als etwas Unaufrichtiges und Unglaubwürdiges.48 In der Fachliteratur wird immerhin zwischen Vertrösten und Trösten unterschieden. Als unaufrichtig gilt hier nicht das Trösten, sondern das Vertrösten. Während man sich einigermaßen einig darüber ist, worin Vertröstungsstrategien bestehen und warum man sie einsetzt – nämlich um sich selbst zu beruhigen und die verzweifelte Person zu beschwichtigen49 –, ist bis heute nicht deutlich herausgearbeitet worden, worin Trost besteht. Was tröstet eigentlich? Gibt es für Menschen, die trösten wollen, eine Grundorientierung, an die sie sich halten können? Ist Trösten eine Technik? Es spricht für sich, dass eine theoretische Herleitung des Phänomens des Trostes bisher kaum geleistet worden ist. Es gibt wenig theologische Fachliteratur zum Thema. Die Divergenz zwischen den hohen Erwartungen an Theologen und der unzureichenden theologischen Aufarbeitung dieses Themas könnte kaum größer sein. Teilweise werden Wunschphantasien als Trostformen dargestellt: Schon
47 Lämmermann, Vom Trösten Trauernder, 105; Langenhorst, Trösten lernen, 22f. 48 Lämmermann, Vom Trösten Trauernder, 107. 49 Langenhorst, Trösten lernen, 283.
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Schweigen und Zuhören könnten angeblich trösten.50 Dies mag eigenen Erfahrungen entsprechen, aber es fehlt hierfür eine Begründung. Oder: Trost sei eine spezifische Art der Beziehungsgestaltung.51 Das würde heißen, dass man sich nicht selbst trösten kann und dass auch keine leblosen Ereignisse trösten können. Das alles kann man aber nur sagen, wenn man das Phänomen des Trostes herausgearbeitet hat. Bislang fehlt jedoch eine theoretische Grundlegung dieses Phänomens. Nach biblischer Auffassung ist es Gott selbst, der tröstet. Wahrer Trost kann anscheinend nur von Gott selbst stammen.52 Dabei tröstet Gott, indem er gute, aber vergangene Zustände wiederherstellt. Gottes Wiederherstellung Israels53 und seine Wiedererstattung der Verluste Hiobs (Hi 42,10–17) sind dafür ein Beispiel. Es handelt sich hier zwar nicht um eine retroaktive Kausalität im engeren Sinn, aber doch um einen Ausgleich, der geschehenes Leid aufheben soll. Wenn sich Christen am göttlichen Trost orientieren, sobald sie trösten, müssten sie dann nicht an einer Art Wiederherstellung ausgerichtet sein? Das gängige Argument gegen diesen Weg zu trösten lautet, dass dadurch Leid verdrängt werde. Indem beispielsweise nach einem Tod den Angehörigen die Auferstehung von den Toten gepredigt werde, werde das Faktum des Todes übertüncht. Die Botschaft von der Auferstehung sei damit eine „Abwehrleistung“54 und führe in eine „faktische Trostlosigkeit“55. Nach meinem Eindruck liegt das aber nicht an der Auferstehungsbotschaft selbst, sondern daran, dass ein ewiges Leben in ein angebliches Jenseits transportiert wird. Dagegen entspricht es der „retroaktiven Kausalität“, wenn für die Präsenz der Verstorbenen im Diesseits sensibilisiert wird. Tatsächlich entspricht das auch der Erfahrung von etlichen Trauernden, dass sie der Nähe des Verstorbenen ausgesetzt sind oder sich zeitweise bewusst dieser Nähe aussetzen wollen.56 Eine christliche Theologie, die sich an Gottes retroaktiver Kausalität orientiert und sie auch als Bedingung menschlicher Freiheit einübt, wird sich an Spuren von Wiederherstellungen halten. Es handelt sich dann nicht um eine Verdrängung, sondern um eine „diesseitige“ Einlösung des Evangeliums. Dabei ist es insbesondere die retroaktive Kausalität der menschlichen Freiheit, die den Trost zu einem Anwesenheitsphänomen macht. Nicht erst die endgültige Wiederherstellung durch Gott, sondern bereits die angedeutete Wiederherstellung in gegenwärtigen Phänomenen bezeugt die Anwesenheit des Trostes. Wer trösten kann, kann auf diese Phänomene aufmerksam machen. Er eröffnet dabei Perspektiven, die durch die retroaktive Kausalität in den gegebenen Erfahrungen scheinbar „schon immer“ enthalten gewesen 50 51 52 53 54 55 56
Lämmermann, Vom Trösten Trauernder, 107; Langenhorst, Trösten lernen, 316. Kohler, Trost III, 150. Langenhorst, Trösten lernen, 19; Stemberger, Trost I, 144. Stemberger, Trost I, ebd. Lämmermann, Vom Trösten Trauernder, 121. Lämmermann, Vom Trösten Trauernder, 115. Kachler, Meine Trauer wird dich finden, 74, 80f.
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sind. Trost widerfährt, indem die Anwesenheit von etwas Verlorenem widerfährt. Wer getröstet ist, macht eine Differenzerfahrung: Er ist traurig, belastet oder verzweifelt und verspürt zugleich eine Entlastung. Er erfährt sich zumindest ein Stück weit befreit von dem, was ihn belastet und bindet. Eine Distanz baut sich zum entsetzlichen Geschehen auf, unter dem er leidet. Ich lasse offen, ob es ein Gefühl ist, getröstet zu sein, oder ob es sich primär um einen „objektiven“ Freiheitsgewinn handelt. Zumindest muss dieser Freiheitsgewinn auch subjektiv ergriffen werden, damit man wirklich getröstet ist. Deshalb liegt das Getröstetsein weder nur auf der subjektiven noch auf der objektiven Ebene. Getröstetsein ist phänomenologisch subjektiv-objektiv: Es verwirklicht sich in der (subjektiven) Einsicht und („objektiven“) Verwirklichung der Freiheit, die sich zum entsetzlichen Geschehen aufbaut. Wer getröstet ist, steht in dieser Differenz, weil sich die Freiheit vom entsetzlichen Geschehen gegen dieses Geschehen aufbaut. Getröstetsein ist also anderes, als einfach nicht traurig zu sein. Beim Trost widerfährt die Distanz zum Geschehen, während es für jemanden, der nicht traurig ist, gar nicht erst das Geschehen gibt, das traurig macht. Oder anders: Beim Getröstetsein widerfährt die Freiheit, während im zweiten Fall eine solche Freiheit unbemerkt bleibt.57 Trost ist das aktuelle Widerfahren retroaktiver Kausalität, er ist das „Anwesen“ dessen, was die retroaktive Kausalität rückwirkend verwirklicht. Indem Menschen nicht einfach nur ihrem widerfahrenen Leid ausgesetzt sind, sondern zugleich dem Widerfahren des Leides, erfahren sie immer schon eine Distanznahme zum Leid. Es ist das Widerfahren des Leids, das die Distanz zum Leid einräumt. Den Unterschied zwischen Widerfahrnissen und ihrem Widerfahren habe ich oben bereits dargestellt.58 Indem sich Menschen nicht nur mit ihrem Leid beschäftigen, sondern auch mit dem Zugestoßensein ihres Leides, schiebt sich eine Distanz zum Leid. Schon die Frage „Warum musste mir das zustoßen?“ ist also eine Strategie, mit dem Leid fertig zu werden. Als Anklage (gegen Gott oder gegen das Schicksal) beschwört sie in gewisser Weise die retroaktive Kausalität, um das Leid ungeschehen zu machen. Sie beschwört nicht die Krankheit, sondern das Zugestoßensein der Krankheit. Also ahnt sie im Zugestoßensein einen Ansatzpunkt, dem Leid zu entkommen. In gewisser Weise ist daher bereits das Zugestoßensein tröstlich. Natürlich ist nicht die widerfahrene Krankheit tröstlich, sondern es ist das Widerfahren, an das man sich richtet, um sich gegenüber der widerfahrenen Krankheit zu behaupten.59 Ausdrücklich wird daraus ein Trost, wenn mit dem Widerfahren „gespielt“ 57 Wer sich dagegen bei aller Freude auch bewusst machen kann, dass er froh ist, obwohl er es nicht sein müsste, hat eine ähnliche Differenzerfahrung wie eine getröstete Person. 58 Kap.2; Sektion 6.3. 59 Dieses Widerfahren habe ich mit der trinitarischen Position von Gott dem Vater identifiziert (Ohly, Warum Menschen von Gott reden, 60f).
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wird, und zwar mit der Zielsetzung, retroaktive Kausalität zu provozieren. Das halte ich für die Aufgabe, im christlichen Sinn zu trösten. Hermann Schmitz hat im Weinen eine leibliche Regung analysiert, die aus der Trauer befreit. Er nannte das Weinen eine „kühne Eleganz der Wendung“, die einen Spielraum eröffnet. 60 Hier ist der Freiheitsaspekt angedeutet, der sich zwischen den Trauernden und das entsetzliche Geschehen schiebt. Trauernde oder verzweifelte Menschen durch Unerwartetes anzurühren, kann diese Freiheit auslösen und daher schon eine tröstliche Funktion haben. Ebenso überraschend ist es, die bedrängende Präsenz des Abwesenden als Anwesenheit zu entdecken und etwa in der Seelsorge zu illustrieren. Dies war eine Grundcharakterisierung des Heiligen Geistes in diesem Buch: die Anwesenheit, die Anwesendes und Abwesendes einschließt. Deshalb kann der Heilige Geist zu Recht der „Tröster“ genannt werden: Der Heilige Geist macht ausdrücklich, was im Widerfahren der Widerfahrnisse liegt. Er ist die Evidenz der Erlösung im Widerfahren von Widerfahrnissen. Vertröstung liegt dagegen dort vor, wo anstelle der dichten Konfrontation mit der überraschenden Anwesenheit des Geistes eingeschliffene Phrasen gedroschen werden. Georg Langenhorst hat solche Alltagsvertröstungsstrategien aufgezählt: oberflächliche rückblickende Umwertung von Verlusten, imaginär vorausschauende Sprüche, vorgebliche Verschwisterungen, ein allgemeiner Appell an Selbstheilungskräfte, suggestive Umgestaltung von Realität, Verflüchtigungen ins Allgemeine, pauschale Zukunftsvertröstungen, Verdrängungs-Empfehlungen.61 Alle diese Strategien haben gemeinsam, dass sie keine dichte Konfrontation mit dem Leid durch überraschende Anwesenheit des Geistes erreichen. Stattdessen werden entweder ferne Gegenwelten beschworen oder es wird eine Nähe eingeräumt, die aber ohne Überraschung und folglich ohne echte Differenz zum Leid ist. Eine Botschaft endzeitlicher Erlösung, die auf festgetretenen Pfaden daherkommt, kann kaum trösten. Trost ereignet sich, wo etwas Unerwartetes freigelegt wird, wo mit dem Widerfahren gespielt wird oder wo auf die Anwesenheit der Erlösung aufmerksam gemacht wird, die aufgrund retroaktiver Kausalität rückblickend scheinbar „immer schon“ präsent gewesen ist.
60 Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, 159. 61 Langenhorst, Trösten lernen, 281f.
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