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German Pages 258 Year 2017
Tanja Thomas, Lina Brink, Elke Grittmann, Kaya de Wolff (Hg.) Anerkennung und Sichtbarkeit
| Band 18
Editorial Die Reihe Critical Studies in Media and Communication (bis September 2015: »Critical Media Studies«) unterzieht Medien, Kommunikation und Öffentlichkeit einer kritischen Gesellschaftsanalyse. Dies umfasst Studien, die soziale Praktiken, Kommunikations- und Alltagskulturen aus aktueller wie historischer, sozial- wie kulturwissenschaftlicher Perspektive analysieren. Die Beiträge der Reihe verdeutlichen, wie Gender, Race und Class als relevante Dimensionen gesellschaftlicher Ungleichheit und sozialer Positionierung in globalisierten Medienkulturen wirksam – zugleich aber auch unterlaufen – werden.
Tanja Thomas, Lina Brink, Elke Grittmann, Kaya de Wolff (Hg.)
Anerkennung und Sichtbarkeit Perspektiven für eine kritische Medienkulturforschung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt A nerkennung und S ichtbarkeit : P erspek tiven einer kritischen M edienkulturforschung Anerkennung und Sichtbarkeit in gegenwärtigen Medienkulturen: Ausgangspunkte Tanja Thomas / E lke Grittmann / Kaya de Wolff / Lina Brink | 11
Anerkennung und Sichtbarkeit: Impulse für kritische Medienkulturtheorie und -analyse Tanja Thomas / E lke Grittmann | 23
Kosmopolitismus, Anerkennung und Sichtbarkeit – Postkoloniale und feministische Ansätze zur Konturierung einer kritischen Medienkulturforschung Kaya de Wolff / Lina Brink | 47
A mbivalenzen von A nerkennung und S ichtbarkeit Ikonen einer neuen Freiheit? Das Frauenschwimmen und die Ambivalenzen seiner Sichtbarmachung in den USA zwischen den Weltkriegen Olaf Stieglitz | 69
Arm und (un-)sichtbar? Kritik stereotyper Fernseh-Vor führungen Martina Thiele | 87
S ichtbarkeit und exkludierende A nerkennung Ein Erbe gespenstischer Normalität Postmigrantisches und multidirektionales Erinnern in Filmen von Sohrab Shahid Saless, Hito Steyerl und Ayşe Polat Maja Figge / Anja Michaelsen | 105
Betrauerbarkeit, Erinnerung und Gedenken an die Mordopfer des NSU aus anerkennungstheoretischer Perspektive Gabriele Fischer | 121
Anderes Sehen: Blickregime von Behinderung in der Fotografie Anna Grebe | 137
V erletzbarkeit , A nerkennung und S ichtbarkeit in digitalisierten Ö ffentlichkeiten Mediatisierte Missachtung Anerkennungsordnungen in digitalen Öffentlichkeiten Jennifer Eickelmann | 155
Verletzbarkeit durch Sichtbarkeit? Verhandlungen geschlechterpolitischer Positionen in digitalen Medien Ricarda Drüeke | 173
Infrastrukturen der Un/Sichtbarkeit navigieren? Zur aktivistischen Bearbeitung von Verletzbarkeiten Magdalena Freudenschuss | 185
I nterventionen in A nerkennungs - und S ichtbarkeitsverhältnisse Tödliches Zu-Sehen-Geben: Sichtbarkeit und Deutungsmacht am Beispiel des Mordes an Lee Rigby Nicole Falkenhayner | 203
Vergnügliche Interventionen in digitalen Öffentlichkeiten Eine Diskursanalyse am Beispiel des Hashtag-Protests #distractinglysexy Miriam Stehling | 219
Please Relax Now: Vika Kirchenbauers Interventionen in Repräsentations- und Rezeptionsregime Skadi Loist | 235
Angaben zu den Autor_innen und Herausgeber_innen | 253
Anerkennung und Sichtbarkeit: Perspektiven einer kritischen Medienkulturforschung
Anerkennung und Sichtbarkeit in gegenwärtigen Medienkulturen: Ausgangspunkte Tanja Thomas / E lke Grittmann / K aya de Wolff / Lina Brink
Anerkennung und Sichtbarkeit werden im vorliegenden Band zum Ausgangspunkt und Gegenstand einer kritischen Medienkulturforschung. Eine solche kritische Medienkulturforschung verstehen wir als ein reflexiv angelegtes, gesellschaftstheoretisch fundiertes Projekt, das soziale Phänomene, Entwicklungen und Kämpfe analysiert und dabei nach der Bedeutung von Medien fragt. Damit werden Medienkultur, Medienkulturtheorie und -analyse als unablösbar vom Sozialen konzeptualisiert und eine Perspektive eingenommen, die nicht nur Bedeutungs- und Sinnstrukturen, sondern auch die ebenfalls in Strukturen und Machtverhältnissen verankerten Praktiken in den Blick nimmt. In der Tradition der Cultural Studies werden Fragen nach der Politik des Kulturellen und der Kultur des Politischen adressiert (vgl. Hall 2000: 141) und die politische Bedeutung des (Medien-)Kulturellen auf ihre konzeptuellen, methodischen, theoretischen und philosophischen Grundlagen hin befragt (vgl. Marchart 2008: 24f.). Eine kritische Medienkulturforschung verstehen wir darüber hinaus im Anschluss an feministische und postkoloniale wissenschaftstheoretische Überlegungen als eine, die einen Standpunkt einnimmt, von dem aus eine kritische Praxis einer Medienkulturtheorie und -analyse entfaltet wird (vgl. ausführlicher Thomas 2010, 2015). Anerkennung und Sichtbarkeit sind in jüngster Vergangenheit zu Schlüsselbegriffen vielfältiger öffentlicher Identitätspolitiken und politischer Auseinandersetzungen um den Zugang zu ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Ressourcen avanciert. Dabei können beispielsweise die Feststellung, dass sich etwa Protestierende immer schon technischer Hilfsmittel und Medien bedient haben, um sich zu organisieren und ihre Anliegen hör- und sichtbar zu machen, und die Beobachtung, dass digitale und die häufig auch (audio-)visuelle Verbreitung der Protestaktivitäten über soziale Medien inzwischen dafür sorgen, dass Ereignisse in Echtzeit weltweit verbreitet werden (vgl.
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Beuerbach/Godehardt 2017), zum Ausgangspunkt einer kritischen Untersuchung von Anerkennung und Sichtbarkeit in gegenwärtigen Medienkulturen werden. Der #Black Lives Matter-Bewegung 1 ist es beispielsweise über soziale Medien gelungen, weit über die USA hinaus (wieder) Sichtbarkeit dafür herzustellen, dass Rassismus zur Alltagserfahrung insbesondere von Afroamerikaner_innen gehört, und öffentlich zu thematisieren, inwiefern strukturelle und institutionelle Rassismen Ursache für soziale Ungleichheit und Ungleichbehandlung durch das Justiz- und Strafverfolgungssystem sind. Johannes Thimm (2017: 24f.) argumentiert, dass Black Lives Matter auch zum Anlass dafür geworden ist, dass etwa unter dem Hashtag #WhitePrivilege als Weiß kategorisierte Personen Alltagssituationen beschreiben, in denen sie Privilegien genossen haben und Nutznießer_innen häufig unbewusster rassistischer Stereotypen gewesen sind; wieder andere Hashtags dienen der kritischen Reflexion einer Medienberichterstattung, die rassistische Stereotype perpetuiert – unter #If TheyGunnedMeDown2 wird beispielsweise thematisiert, dass in den Reportagen über Menschen, die Polizeigewalt zum Opfer gefallen sind, oft Fotografien benutzt werden, die die Opfer in unvorteilhafter Pose oder negativ konnotierter Geste zu sehen geben und so suggerieren, dass die Gewaltanwendung gerechtfertigt war. Auf diese Weise wird deutlich, dass Verhandlungen verkennender und anerkennender Sichtbarkeit auch in medialen Öffentlichkeiten im Gang sind und Dynamiken von Anerkennung und Sichtbarkeit relevante Untersuchungsgegenstände für eine kritische Medienkulturforschung darstellen. 1 | Das Hashtag #BlackLivesMatter wurde von drei Aktivistinnen in San Francisco erdacht. Anlass war die Empörung über die häufige Praxis, schwarzen Opfern von Gewalt eine Mitverantwortung an ihrem Tod zuzuweisen. Der Freispruch des Polizisten, angeklagt wegen des gewaltsamen Todes des Schwarzen Jugendlichen Trayvon Martin, erschossen am 26. Februar 2012 in einer Siedlung in Sanford/Florida, wurde in Teilen der Presse mit Hinweis auf die Mitschuld des Ermordeten erklärt, da dieser ein verdächtig wirkendes Kapuzenshirt getragen habe (vgl. Thimm 2017: 21). 2 | Der Afroamerikaner Michael Brown wurde am 9. August 2014 in Ferguson, einem Vorort von St. Louis, Missouri, von dem Polizisten Darren Wilson erschossen. Thimm (2017: 25) führt aus, wie in der Berichterstattung Bilder von Michael Brown gezeigt wurden, die zudem eine Geste als Indiz für eine Beteiligung an einer Gang interpretierten. Er schildert, wie daraufhin Menschen via Hashtag Aufnahmen von sich als friedliche und vertrauenerweckende Menschen (u. a. dem Schuljahrbuch entnommen, mit Musikinstrumenten) oder gar Vorzeigebürger_innen (als Lehrer_innen, in Militäruniform etc.) mit solchen kontrastierten, die sie eher als kriminell wirken lassen (in Gangster-Posen, mit Schusswaffen etc.), dies verbunden mit der Frage: Wenn ich erschossen würde (»If they gunned me down«), welches Foto würden die Zeitungen veröffentlichen?
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Feministischen Forderungen zu öffentlicher Sichtbarkeit verholfen zu haben, ist etwa ein Verdienst der Beteiligten an dem Women’s March in Washington, der in Reaktion auf den Amtsantritt von Donald Trump in den USA im Januar 2017 organisiert wurde, und der 673 weiteren Sister Marches3, die diesen Protest in den Folgemonaten weltweit begleitet und weitergeführt haben und weiterführen. Sie alle demonstrieren die große mobilisierende Kraft queer_feministischer Proteste und Bewegungen und deren Ziele im politischen Kampf gegen Rassismus, Islamophobie, Antisemitismus, Homophobie, Misogynie und kapitalistische Ausbeutung. Während des Women’s March in Washington trug Schauspielerin, Regisseurin und Produzentin Natalie Portman ein T-Shirt mit der Aufschrift ›We should all be feminists‹ – inspiriert von Chimamanda Ngozi Adichies (2014) gleichnamigem Essay. Portman unterstrich mit ihrer Teilnahme ihre feministischen Anliegen, die sie beispielsweise als Kritik an der frauenfeindlichen Filmindustrie formuliert. Das von dem Unternehmen Dior zum Preis von ca. 500 US-Dollar angebotene Shirt4 tauchte eine Weile lang immer wieder in medialen Öffentlichkeiten auf, z. B. auf Instagram, getragen von dem Popstar Rihanna oder für Harper’s Bazaar, getragen von Oscar-Preisträgerin Jennifer Lawrence, in Szene gesetzt.5 Ein feministisches Bekenntnis für den kleinen Geldbeutel kann etwa als Hoodie mit der Aufschrift ›Grl Pwr‹ eingekauft werden.6 Andi Zeisler (2017) spricht allerdings angesichts solcher und vielfach ähnlicher Entwicklungen, die Feminismus auf eine spezifische Weise (medial) präsent werden lassen und für die das hier erwähnte T-Shirt nur exemplarisch steht, kritisch von einem »Marktfeminismus«. Eine solche »Wiederkehr des Feminismus« kennzeichnet sie anhand zahlreicher Beispiele etwa aus den Bereichen Werbung, Film, Fernsehen, Zeitschriften und Popmusik als die »populärste aller Zeiten« (ebd.: 12) und konstatiert einen »Ausverkauf einer politischen Bewegung«, so der Untertitel ihres Buches. Die Women’s Marches, so wollen wir argumentieren, markieren eine Intervention in die vielerorts als rechtspopulistisch oder neoreaktionär bezeichneten erstarkenden Politiken; die Proteste machten queer_feministische Forderungen (wieder) sichtbar(er). Dass eine wachsende Sichtbarkeit allerdings keineswegs unmittelbar mit einem emanzipatorischen Potential im Sinne von stärkerer Handlungsfähigkeit 3 | Die Angabe zur Zahl der Märsche bezieht sich auf die Onlinequelle https://www. womensmarch.com/sisters (19.09.2017). 4 | http://www.mirror.co.uk/3am/style/celebrity-fashion/christian-diors-feministlogo-shirt-10018190 (18.09.2017). 5 | Einen kleinen Überblick hierzu liefert ein Beitrag in der Zeitschrift Elle, online unter http://www.elle.de/dior-t-shirt (18.09.2017). 6 | Kritisch kommentiert diesen Trend Maria Hunstig (2017) in einem Artikel für Süddeutsche Zeitung Magazin.
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oder gar einer Erhöhung des Zugangs zu Ressourcen und deren Kontrolle sowie der Entscheidungs- und Handlungskompetenz in Verbindung steht, sondern vielmehr den Ambivalenzen von Sichtbarkeit Rechnung getragen werden muss, haben feministische Studien immer wieder gezeigt (vgl. dazu für den Bereich der Medien Ferguson 1990; im deutschsprachigen Raum einschlägig Wenk 1996, Schaffer 2008). Die Sichtbarkeit von Feminismus, so könnte man im Einklang mit Zeisler formulieren, geht im Kontext eines global agierenden Kapitalismus mit einer Anerkennung im Konditional (Schaffer 2008: 70ff.) einher, der in öffentlicher Thematisierung und politischer Inanspruchnahme regelhaft nur um den Preis seiner Vermarktungsfähigkeit öffentlich thematisiert werden kann.7 Angela McRobbie (2010) hat vielfältig aufgezeigt, wie kommerzielle und gouvernementale Formen die Sichtbarkeitsräume abstecken, die junge Weiße Frauen adressieren und zur Aktivität im Feld von Bildung und Berufstätigkeit anhalten, um so an der Produktion einer erfolgreichen Weiblichkeit und Sexualität teilzunehmen. So wird deutlich, welche Aufmerksamkeits- und Sichtbarkeitsräume jungen Weißen Frauen gegenwärtig zur Verfügung stehen, in denen sie überhaupt in Erscheinung treten können (vgl. dazu auch Villa et al. 2012; Stehling 2015). Wie somit eine heteronormative Matrix aufrechterhalten, rassifizierte Normen und neu konfigurierte Klassenunterschiede8 immer wieder eingesetzt werden, ist also auch eine Frage von Anerkennung und Sichtbarkeit in Medienkulturen. Bei aller Unterschiedlichkeit der disziplinären Verankerung in Medien-, Kommunikations-, Kulturwissenschaft, Politikwissenschaft, Soziologie oder Geschichtswissenschaft teilen die Autor_innen des Bandes die maßgeblich unter Bezugnahme auf Arbeiten von Vertreter_innen der Visual Culture Studies (vgl. Mirzoeff 1998, 1999; Mitchell 2002; im Überblick Adorf/Brandes 2014) 7 | Schon im Jahr 2009 forcierte Nancy Fraser eine geschlechtertheoretische Diskussion darüber, ob und wie ›die Frauenbewegung‹ bzw. ›der Feminismus‹ dem Kapitalismus bzw. Neoliberalismus in die Hände gespielt habe (vgl. Fraser 2009). Feministische Leitbilder – Befreiung von patriarchaler Kontrolle, Selbstbestimmung, Unabhängigkeit, eigenständige Existenzsicherung – gingen zunehmend verloren und Feminismus träfe sich insbesondere in seiner öffentlichen Thematisierung und politischen Inanspruchnahme mit den Prinzipien des globalen Standortwettbewerbs und der neoliberalen Zuweisung von individueller Eigenverantwortung, so auch Sabine Hark und Paula Irene Villa (2010: 115). 8 | Klassismus ist bislang ein noch immer wenig gebräuchlicher Begriff zur Bezeichnung der individuellen, institutionellen und kulturellen Diskriminierung und Unterdrückung aufgrund des tatsächlichen, vermuteten oder zugeschriebenen sozial- oder bildungspolitischen Status (vgl. Kemper/Weinbach 2009). Analysen von Klassenproduktion in Medienkulturen bilden im deutschsprachigen Raum noch immer eine Ausnahme (vgl. Baron/Steinwachs 2012; Seier/Waitz 2014; Steinwachs 2015).
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entwickelte Auffassung, Sichtbarkeit nicht einfach als gegeben und Anerkennung nicht nur als Frage nach der Anerkennung etwa einer Identität zu verstehen, sondern als Arbeit an dem gesamten Feld der Normen, die regulieren, ob und inwiefern Individuen, Lebensweisen, Erfahrungen und Forderungen anerkennbar gemacht werden (vgl. Schaffer 2008: 20; Butler/Athanasiou 2014: 125). Eine solche Perspektivierung öffnet den analytischen Blick für eine kritische Medienkulturforschung und lässt beispielweise fragen: Unter welchen Bedingungen werden etwa Menschen mit Migrationsgeschichte und/oder Fluchterfahrung, sich der Norm entziehende Lebensweisen oder als ›anders‹, oder ›disabled‹ bezeichnete Körper zu sehen gegeben? Welche Normen der Anerkennung ermöglichen und verunmöglichen eine Sichtbarkeit, die gesellschaftliche, gar transformatorische Wirksamkeit entfalten kann? In digitalen, vernetzten Medienumgebungen sind Verhandlungen von Anerkennung mehr denn je mediatisiert und Anerkennung lässt sich ohne Frage nach Sichtbarkeit unter Bedingungen gegenwärtiger Medien(kulturen) nicht angemessen verstehen. Gleichzeitig stellt eine sich kontinuierlich ausweitende Allgegenwart digitaler Medientechnologien mit ihren Überwachungs-, Vermessungs- und Kontrollmöglichkeiten neue theoretische wie analytische Fragen nach Potentialen der Un/Sichtbarkeit. Die Autor_innen des vorliegenden Bandes beziehen sich auf unterschiedliche Weise auf ein gesellschaftstheoretisch fundiertes Verständnis von Anerkennung und eine repräsentationskritische Beschäftigung mit Sichtbarkeiten. Die meisten von ihnen hatten wir im Sommer 2016 zum Vortrag an die Eberhard Karls Universitat Tübingen eingeladen. Unsere Bitte an die Vortragenden lautete, zu zeigen, wie sie anerkennungstheoretische Überlegungen in ihren Analysen über die mediale Herstellung von Anerkennung und Sichtbarkeit in Film, Fotografie, Presse, Onlinekommunikation oder qua Überwachungstechnologien einsetzen. Für die Publikation haben wir die Beiträge in fünf Kapiteln zusammengestellt: Das erste Kapitel mit der Überschrift ›Anerkennung und Sichtbarkeit: Perspektiven einer kritischen Medienkulturforschung‹ eröffnen Tanja Thomas und Elke Grittmann mit dem Beitrag Anerkennung und Sichtbarkeit: Impulse für kritische Medienkulturtheorie und -analyse. Sie zeigen zunächst auf, wie die medien- und kommunikationswissenschaftliche Beschäftigung mit medialen Repräsentationen zur Frage nach Anerkennung und Sichtbarkeit in gegenwärtigen Medienkulturen geführt hat. Im Anschluss werden anerkennungstheoretische Ansätze thematisiert, die Öffentlichkeit als bedeutsame Dimension adressieren und bereits in Medienanalysen aufgegriffen worden sind. Mit Blick auf Diversität und Hybridisierung in postmigrantischen Gesellschaften zeigt der Beitrag, wie Anerkennung und Sichtbarkeit in ihrer gegenseitigen Verschränkung für die Bearbeitung von Fragestellungen in gegenwärtigen Medienkulturen bereits eingebracht und für eine kritische Medienkulturana-
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lyse produktiv gemacht wurden und weiterführend erkenntnisfördernd sein können. In ihrem Beitrag über Kosmopolitismus, Anerkennung und Sichtbarkeit – Postkoloniale und feministische Ansätze zur Konturierung einer kritischen Medien kulturforschung machen Kaya de Wolff und Lina Brink Problematisierungen kosmopolitischer Ansätze, die bei aller Unterschiedlichkeit die Forderung nach der Anerkennung der ›Andersheit der Anderen‹ teilen, zum Ausgangspunkt einer kritischen Auseinandersetzung mit Anerkennung und Sichtbarkeit. Anhand von Fallstudien – zur Verhandlung der Anerkennung des Herero-Genozids und der Anerkennung protestierender Frauen 2011 in Ägypten – argumentieren sie, dass gesellschaftstheoretisch fundierte empirische Medienanalysen sowohl symbolische als auch materielle Dimensionen in den Blick nehmen müssen, um machtvolle Anerkennungsordnungen und korrespondierende Sichtbarkeitsverhältnisse nicht nur zu rekonstruieren, sondern auch in Frage stellen zu können. Das zweite Kapitel ›Ambivalenzen von Anerkennung und Sichtbarkeit‹ eröffnet Olaf Stieglitz mit seinem Beitrag Ikonen einer neuen Freiheit? Das Frauenschwimmen und die Ambivalenzen seiner Sichtbarmachung in den USA zwischen den Weltkriegen. Stieglitz untersucht, wie Sportler_innen in Fotografien zu sehen gegeben werden, die in den USA zwischen den Weltkriegen entstanden sind. Dabei fragt er nach der Verbreitung von hegemonialen Bildern vergeschlechtlichter Körper in Bewegung und thematisiert damit Spannungsfelder, die einerseits angesichts einer Anerkennung von jungen Weißen Frauen im Sport als Ausdruck neu erkämpfter Rechte und Symbol der gewollten Selbstbestimmung bestimmter Frauen und andererseits der Kommerzialisierung und Sexualisierung der Sichtbarkeit weiblicher Körper entstehen. In ihrem Beitrag Arm und (un-)sichtbar? Kritik stereotyper Fernseh-Vorführungen beschäftigt sich Martina Thiele mit Fragen medialer Sichtbarkeit von Armut und prekären Lebensverhältnissen. Ausgehend von einem Forschungsüberblick zur medialen Repräsentation von Armut und Reichtum in kommunikations- und medienwissenschaftlichen Studien diskutiert Thiele anhand der RTL2-Produktion Hartz und herzlich, wie Klasse in Formaten des Scripted Reality TV erzeugt wird: Fernsehen inszeniert Prekarität und produziert damit höchst ambivalente Formen von Sichtbarkeit und Anerkennung, die die Notwendigkeit – auch klassentheoretisch fundierter – intersektionaler Medienforschung unterstreicht. Unter der Überschrift ›Sichtbarkeit und exkludierende Anerkennung‹ haben wir Beiträge in einem dritten Kapitel zusammengestellt, die auf eindrückliche Weise zeigen, wie Medien Sichtbarkeit für häufig dethematisierte Erfahrungen von Menschen herstellen. Die Analysen arbeiten heraus, dass und wie diese Sichtbarkeit unter spezifischen Bedingungen entsteht und sie zeigen damit Stärken gesellschaftstheoretisch fundierter Medienforschung: In dem Beitrag
Anerkennung und Sichtbarkeit in gegenwär tigen Medienkulturen
Ein Erbe gespenstischer Normalität. Postmigrantisches und multidirektionales Erinnern in Filmen von Sohrab Shahid Saless, Hito Steyerl und Ayşe Polat fragen Maja Figge und Anja Michaelsen nach den Bedingungen postmigrantischer Sichtbarkeit in der Bundesrepublik Deutschland seit den 1980er Jahren. Am Beispiel von drei Filmen beleuchten die Autorinnen den Zusammenhang von verdrängter NS-Geschichte und Rassismus in der Gegenwart. Sie argumentieren, dass die Möglichkeit des Erinnerns von Migrationsgeschichten sowie der Geschichte der (Arbeits-)Migration eine Voraussetzung für die gegenwärtige Anerkennung und gesellschaftliche Teilhabe postmigrantischer Gruppen und Subjekte darstellt; in ihrer Analyse der filmischen Mittel zeigen sie komplexe postmigrantische und multidirektionale Formen des Erinnerns auf. In dem Text Betrauerbarkeit, Erinnerung und Gedenken an die Mordopfer des NSU aus anerkennungstheoretischer Perspektive beschäftigt sich Gabriele Fischer mit Gedenkpraktiken und Formen des Erinnerns an die Opfer des NSU nach dessen Selbstenttarnung. Zunächst theoretisiert Fischer den Zusammenhang zwischen Erinnern, Gedenken und normativen Rahmen des Anerkennbaren mit Bezug auf Arbeiten von Judith Butler. Im Anschluss zeigt sie entlang der Verhandlungen von Gedenken und Erinnern an die NSU-Opfer auf, dass die Selbstenttarnung des NSU zwar zu Neuaushandlungen von Erinnerungen an Rechte Gewalt geführt hat, in denen aber nach wie vor rassistische Zuschreibungen wirkmächtig bleiben. Anna Grebe rekonstruiert in ihrem Beitrag Anderes Sehen: Blickregime von Behinderung in der Fotografie fotografische Repräsentationsmodi von Behinderung in künstlerischen und medialen Artefakten. Sie plädiert dafür, Erkenntnisse aus der in den Disability Studies geführten Auseinandersetzung über das klinische versus das soziale Modell von Behinderung mit Überlegungen zur Theoretisierung moderner Blickregime zu verknüpfen. Wie die somit gewonnenen Einsichten zu einer Konzeptualisierung von Anerkennung und Sichtbarkeit jenseits dichotomisierender Kategorien von ›Normalität‹ und ›NichtNormalität‹ beitragen und das kulturelle Bilderrepertoire erweitern können, zeigt sie exemplarisch an einer Fotografie von Andi Weiland. In dem vierten Kapitel ›Verletzbarkeit, Anerkennung und Sichtbarkeit in digitalisierten Öffentlichkeiten‹ diskutieren drei Autor_innen die besonderen Herausforderungen, die aus Prozessen der Sichtbarmachung und ihrer Instrumentalisierungen in digitalen Räumen entstehen: In Mediatisierte Missachtung. Anerkennungsordnungen in digitalen Öffentlichkeiten beschäftigt sich Jennifer Eickelmann mit dem Leidensweg von Amanda Todd, einer jungen Kanadierin. Anhand dieses Beispiels richtet Eickelmann das Interesse ihrer Untersuchung darauf, inwiefern mediale Formen der Herstellung von Sichtbarkeit mit Prozessen der Legitimierung von Anerkennung sowie Missachtung verbunden sind. Auf der Grundlage von Theorien zum intraaktiven Werden von Medientechnologie und Subjektwerdung fragt
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sie nach veränderten Anerkennungsordnungen im Kontext digitaler Sichtbarkeitsregimes und den damit verbundenen Chancen und Risiken. Ricarda Drüeke widmet sich in ihrem Beitrag zu Verletzbarkeit durch Sichtbarkeit? Verhandlungen geschlechterpolitischer Positionen in digitalen Medien den Möglichkeiten feministischer Praxen im Netz und insbesondere den mit digitaler Sichtbarkeit verbundenen Risiken der Verletzbarkeit. Drüeke problematisiert dabei die Reproduktion postkolonialer Hierarchien durch Sichtbarkeit im Netz und diskutiert Erscheinungsformen und Umgang mit antifeministischem sowie sexistischem Hate Speech. Ebenfalls mit den veränderten Potentialen der Kontrolle und Gefährdungen durch Überwachung befasst sich Magdalena Freudenschuss in ihrem Beitrag Infrastrukturen der Un/Sichtbarkeit navigieren? Zur aktivistischen Bearbeitung von Verletzbarkeiten. Sie setzt sich mit den Gefährdungen und der neuen Verletzbarkeit im aktivistischen Handeln auseinander, das gleichzeitig auf diese vermachteten digitalen Strukturen angewiesen ist. Auf der Grundlage von Interviews und Analysen mit politischen Aktivist_innen geht Freudenschuss der Frage nach, wie diese ihre eigene Verletzbarkeit bearbeiten und im politischen Handeln damit umgehen. Die Verletzbarkeit, die sich in diesen vermachteten, sozial wie technisch zu denkenden Strukturen ergibt, erfordert ein ständiges ›Navigieren‹ zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Nicole Falkenhayner eröffnet das fünfte Kapitel, das wir mit der Überschrift ›Interventionen in Anerkennungs- und Sichtbarkeitsverhältnisse‹ versehen haben. Wie sie in ihrem Beitrag Tödliches Zu-Sehen-Geben: Sichtbarkeit und Deutungsmacht am Beispiel des Mordes an Lee Rigby zeigt, machten sich die Täter digitale Medienumgebungen im Kampf um Sichtbarkeit, Anerkennung und Deutungsmacht zu Nutze. Es gelang ihnen durch eine Instrumentalisierung öffentlcher Überwachungssysteme, mobiler Kamera-Apps und ›Social Media‹ kurzfristig, die Ubiquität der (städtischen) Kamera-Überwachung und die shareability-Funktion mobiler Kommunikationsmedien für ihre Selbstinszenierung zu nutzen und damit eine Sichtbarkeit für ihre Tat und Botschaften herzustellen, die zur Bedrohung wurde. Auf diese Weise unterliefen sie die klassischen Nachrichtenmedien und konnten diesen damit die Deutungsmacht – zumindest für einen kurzen Zeitraum – abringen. Vergnügliche Interventionen in digitalen Öffentlichkeiten. Eine Diskursanalyse am Beispiel des Hashtag-Protests #distractinglysexy lautet die Überschrift des Beitrags von Miriam Stehling. Sie konzentriert sich darin zunächst auf Charakteristika von Hashtag-Feminismus und dabei auf die besondere Bedeutung von Ironie und Vergnügen. Anhand einer vergleichenden Analyse der deutschen und britischen Presseberichterstattungen rekonstruiert sie die dominanten Deutungen des Hashtags #distractinglysexy und zeigt damit exemplarisch, wie die Sichtbarmachung feministischer Anliegen teilweise mit einer Depolitisierung und Delegitimierung des Protests in den Pressetexten einhergeht.
Anerkennung und Sichtbarkeit in gegenwär tigen Medienkulturen
Wie künstlerische Interventionen vermachtete Blickregime und Strukturen des Sehens und Zu-Sehen-Gebens auf ›lustvolle‹ Weise dekonstruieren können, damit befasst sich Skadi Loist in ihrem Beitrag Please Relax Now: Vika Kirchenbauers Interventionen in Repräsentations- und Rezeptionsregime. In ihrer Analyse der Video-Arbeit Please Relax Now aus dem Jahr 2014 arbeitet Loist heraus, wie durch die Figur der Künstler_in als Protagonist_in im Video Blickverhältnisse und Begehren verändert und gewaltvolle Blickstrukturen gedreht werden. Die queeren Strategien, die auch das Publikum einbeziehen, lassen sich als Interventionen in die Machtverhältnisse der Anerkennungszuschreibung verstehen. Lisl Ponger hat uns ihre Arbeit Citizenship als Abbildung für den Bucheinband zur Verfügung gestellt. Das Puzzeln thematisiert Prozesse der Herstellung von Sichtbarkeit, des Zu-Sehen-Gebens und Unsichtbarmachens und der menschlichen Verletzbarkeit. Ponger arbeitet mit einer Fotografie, die jüdische Menschen während der Ankunft in Antwerpen auf dem Transatlantik-Passagierschiff St. Louis am 17. Juni 1939 zeigt, in das sie auf ihrer Flucht nach der verweigerten Aufnahme in Kuba und den USA zurückkehren mussten. Sie kombiniert es mit einer Farbfotografie eines der vielfach gezeigten Bilder von Geflüchteten, die in einem überfüllten Boot im Mittelmeer um ihr Leben fürchten. Wir verstehen die Arbeit auch als eine Form der Kritik an Regimen der Sichtbarkeit und des Politischen, die mit der Kaffeetasse aber zugleich auch an die Alltäglichkeit erinnert, zu der solche Bilder erschreckenderweise aufgrund der häufigen Sichtbarkeit in medialer Berichterstattung geworden sind. Wir danken Lisl Ponger herzlich dafür, dass sie uns diese Arbeit für den Band zur Verfügung gestellt hat. Der vorliegende Band ist Ergebnis eines intensiven Austauschs unter den Herausgeber_innen und der Mitwirkung der Autor_innen, die zumeist schon einen Vortrag zu einer gleichnamigen Vorlesungsreihe an der Universität Tübingen beigetragen hatten. Für Vorträge und Beiträge sei ihnen herzlich gedankt. Der Arbeitszusammenhang hätte ohne die finanzielle Förderung der Nachwuchsforscher_innengruppe »Transkulturelle Öffentlichkeit und Solidarisierung in gegenwärtigen Medienkulturen« durch die Hans-Böckler-Stiftung nicht hergestellt werden können. Neben Lina Brink und Kaya de Wolff haben sich dankenswerterweise auch Helena Körner als Mitglied der Nachwuchswissenschaftler_innengruppe in die Konzeption und Durchführung der Vorlesungsreihe sowie Barbara Carl-Mast von organisatorischer Seite eingebracht. Die Stiftung hat uns darüber hinaus einen Schreib-Retreat für das Verfassen und Diskutieren von Texten ermöglicht. Wir danken insbesondere Dr. Gudrun Löhrer als Referentin der Hans-Böckler-Stiftung für die auch immer wieder inhaltliche Bestärkung und Unterstützung aller Beteiligten.
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Unser Dankeschön geht an Simon Pleikies für die Unterstützung der Korrekturgänge, an Steffen Rudolph für Geduld und Gelassenheit bei der schnellen und sorgfältigen Realisierung des Layouts. Lia Raber danken wir herzlich für die Beherbergung unserer Herausgeberinnenarbeit in ihrem Berliner Zimmer.
L iter atur Adichie, Chimamanda Ngozi (2014): We should all be feminists. New York: Penguin. Adorf, Sigrid/Brandes, Kerstin (2014): Studien visueller Kultur. Studien Visueller Kultur. In: Stephan Günzel/Dieter Mersch (Hg.): Bild. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/Weimar: Verlag J. B. Metzler, S. 446-452. Baron, Christian/Steinwachs, Britta (2012): Faul, Frech, Dreist. Die Diskriminierung von Erwerbslosigkeit durch BILD-Leser*innen. (= Kritische Wissenschaften – Klassismus. Band 1). Münster: edition assemblage. Beuerbach, Jan/Godehardt, Nadine (2017): Protest im Verhältnis von Politik, Raum und Medialität In: Nadine Godehardt (Hg.): Urbane Räume. Proteste. Weltpolitik. Berlin: SWP Studien, S. 15-29. Butler, Judith/Athanasiou, Athena (2014): Die Macht der Enteigneten. Zürich/ Berlin: Diaphanes. Ferguson, Majorie (1990): Images of Power and the Feminist Fallacy. In: Critical Studies in Mass Communication, 7. Jg., H. 3, S. 215-230. Fraser, Nancy (2009): Feminismus, Kapitalismus und die List der Geschichte. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2009, S. 43-57. Hall, Stuart (2000): Cultural Studies und die Politik der Internationalisierung. Kuan-Hsing Chen interviewt Stuart Hall. In: ders.: Cultural Studies. Ein politisches Theorieprojekt. Ausgewählte Schriften 3. Hamburg: Argument, S. 137-157. Hark, Sabine/Villa, Paula Irene (2010): Ambivalenzen der Sichtbarkeit – Einleitung zur deutschen Ausgabe. In: Angela McRobbie: Top Girls. Feminismus und der Aufstieg des neoliberalen Geschlechterregimes. Wiesbaden: VS Verlag, S. 7-16. Hunstig, Maria (2017): Das Wichtigste steht auf der Brust. In: SZ-Magazin Vorgeknöpft: Die Modekolumne 14. Juli 2017. Online unter http://sz-magazin. sueddeutsche.de/texte/anzeigen/46219/Das-Wichtigste-steht-auf-der-Brust (18.09.2017). Kemper, Andreas/Weinbach, Heike (2009): Klassismus. Eine Einführung. Münster: Unrast Verlag. Marchart, Oliver (2008): Cultural Studies. Konstanz: UVK/UTB.
Anerkennung und Sichtbarkeit in gegenwär tigen Medienkulturen
McRobbie, Angela (2010): Top Girls. Feminismus und der Aufstieg des neoliberalen Geschlechterregimes. Wiesbaden: VS Verlag. Mirzoeff, Nicholas (1999): An Introduction to Visual Studies. London/New York: Routledge Mirzoeff, Nicholas (Hg.) (1998): Visual Culture Reader. London: Routledge. Mitchell, William J. Thomas (2002): Showing Seeing. A Critique of Visual Studies. In: Journal of Visual Culture, 1. Jg., H. 2, S. 165-181. Seier, Andrea/Waitz, Thomas (Hg.) (2014): Klassenproduktion: Fernsehen als Agentur des Sozialen. Münster: Lit. Stehling, Miriam (2015): Die Aneignung von Fernsehformaten im transkulturellen Vergleich. Eine Studie am Beispiel des Topmodel-Formats. Wies baden: VS Verlag. Schaffer, Johanna (2008): Ambivalenzen der Sichtbarkeit. Bielefeld: transcript. Steinwachs, Britta (2015): Zwischen Pommesbude und Muskelbank: Die mediale Inszenierung der »Unterschicht«. Münster: edition assemblage. Thimm, Johannes (2017): #BlackLivesMatter: Eine neue Qualität gesellschaftlichen Protests in den USA. In: Nadine Godehardt (Hg.): Urbane Räume. Proteste. Weltpolitik. Berlin: SWP Studien, S. 15-29. Thomas, Tanja (2015): Kritische Medienkulturanalyse als Gesellschaftsanalyse: Anerkennung und Resonanz in mediatisierten Öffentlichkeiten. In: Ricarda Drüeke/Susanne Kirchhoff/Thomas Steinmaurer/Martina Thiele (Hg.): Zwischen Gegebenem und Möglichem. Kritische Perspektiven auf Medien und Kommunikation. Bielefeld: transcript, S. 42-55. Thomas, Tanja (2010): Perspektiven kritischer Medienkulturtheorie und -analyse: Aktuelle Herausforderungen und theoretische Potentiale. In: Andreas Hepp/Marco Höhn/Jeffrey Wimmer (Hg.): Medienkultur im Wandel. Wiesbaden: VS Verlag, S. 73-89. Villa, Paula-Irene/Jäckel, Julia/Pfeiffer, Zara S./Sanitter, Nadine/Steckert, Ralf (Hg.) (2012): Banale Kämpfe. Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Geschlechterverhältnisse in der Populärkultur. Wiesbaden: VS Verlag. Wenk, Silke (1996): Versteinerte Weiblichkeit. Allegorien in der Skulptur der Moderne. Köln, Weimar und Wien: Böhlau.
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Anerkennung und Sichtbarkeit: Impulse für kritische Medienkulturtheorie und -analyse Tanja Thomas / E lke Grittmann
Eine »nahezu alle kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen übergreifende ›Konjunktur‹ und ›Karriere des Anerkennungsbegriffs‹« (Balzer 2014: 5) hat dazu geführt, dass das Konzept der Anerkennung auch Eingang in medien kulturwissenschaftliche Studien gefunden hat. Einen Ausgangspunkt dafür lieferte das in medien- und kommunikationswissenschaftlichen Arbeiten schon seit den 1970er Jahren aufkommende Interesse an der Repräsentation der ›Anderen‹, das aufgrund der Ausdifferenzierung der Konzeptualisierungen des Repräsentationsbegriffs und angesichts gesellschaftlicher Entwicklungen auch in Fragen nach der Anerkennung der ›Anderen‹ mündete. Es sind dabei insbesondere ethisch-moralphilosophische bzw. gerechtigkeits- und politik theoretische Ausarbeitungen von Anerkennungskonzepten, wie sie von Axel Honneth (1992), Charles Taylor (1993), Nancy Fraser (2001) und Judith Butler (2010) entwickelt worden sind, die Impulse für Medienkulturanalysen liefern. Sie lassen erkennen, wie Normen, symbolische Ordnungen und Ressourcenverteilungen mit Akten der Anerkennung und Verkennung (vgl. Bedorf 2010) verwoben sind. Diese Ordnungen und Normen sind historisch, sozial und kulturell wandelbar; indem sie in hohem Maße über, in und durch Medien ausgehandelt werden, verspricht eine Verschränkung von Anerkennungstheorie und Medienkulturanalyse weiterführende Erkenntnisse. Wir werden im Folgenden zunächst nachzeichnen, wie die medien- und kommunikationswissenschaftliche Beschäftigung mit medialen Repräsentationen zur Frage nach Anerkennung und Sichtbarkeit in gegenwärtigen Medien kulturen geführt hat. Danach werden wir in einem notwendig knappen Überblick unterschiedliche Konzeptualisierungen von Anerkennung ansprechen. Da wir uns insbesondere für die Verbindung von Anerkennung und Sichtbarkeit für Medienkulturtheorie und -analyse interessieren, erläutern wir anerkennungstheoretische Ansätze, die Öffentlichkeit als bedeutsame Dimension aufgreifen und daher bereits in Medienanalysen aufgegriffen worden sind oder eine Verbindung nahe legen. Wir argumentieren anschließend, dass es beson-
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ders gewinnbringend erscheint, ›Anerkennung‹ und ›Sichtbarkeit‹ in ihrer gegenseitigen Verschränkung als Konzepte für die Bearbeitung von Fragestellungen in gegenwärtigen Medienkulturen aufzunehmen. In den beiden folgenden Abschnitten werden wir einerseits darlegen, wie von einer Verbindung der beiden Konzepte Impulse für Medienkulturtheorie und -analyse mit Blick auf Diversität und Hybridisierung in postmigrantischen Gesellschaften ausgehen kann. Andererseits argumentieren wir entlang der Einsicht, dass nicht nur in der unmittelbaren »Konfrontiertheit« (Butler 2012), sondern auch in dem Anerkennen globaler Interdependenzen die Notwendigkeit erkannt werden muss, dass in Anerkennung und Sichtbarkeit in Medienkulturen wesentliche Grundlagen eines demokratischen und friedlichen Zusammenlebens liegen.
R epr äsentationskritik und A nerkennungsforschung in M edienkulturen : V erbindungslinien Auf welche Weisen Personen oder Personengruppen – Frauen* als ›Hausfrau‹ oder ›Verführerin‹, Menschen mit Migrationsgeschichte als ›Gastarbeiter‹, ›Migrant/Migrantin‹, ›Orientale‹ oder ›Orientalin‹ – in medialen Angeboten repräsentiert werden, ist in deutschsprachigen medien- und kommunikationswissenschaftlichen Studien schon seit einigen Jahrzehnten immer wieder untersucht worden; nach 9/11 sind der ›Islamist‹ oder die ›Kopftuchträgerin‹ als Stereotype in öffentlichen Diskursen jüngere Repräsentationsformen der ›Anderen‹.1 Seit dem Sommer 2015 hat die mediale Darstellung von ›Flüchtlingen‹ eine erneute Konjunktur erlebt und Untersuchungen angeregt (vgl. z. B. Drüeke/Klaus 2016; Grittmann 2018, i. E.; Hafez 2016; Hemmelmann/ Wegner 2016; Lünenborg/Maier 2017; Szczepanik 2016); angesichts von Digi talisierung und global weitreichender Verbreitung von Medientechnologien beschäftigt Medien- und Kommunikationswissenschaftler_innen auch das ›Medien handeln‹ von geflüchteten Menschen (vgl. Richter/Kunst/Emmer 2016; Fiedler 2016). Die Frage nach der Repräsentation der ›Anderen‹ ist also keineswegs neu; im Laufe der Zeit hat eine Ausdifferenzierung des Verständnisses von medialer Repräsentation eingesetzt (zu den vier dominanten Verwendungsweisen des Begriffs vgl. Maia 2014: 29f.) und diese interagiert – so sollte mit Verweis auf die hier exemplarisch genannten Studien angedeutet 1 | Zu einer der frühen Studien zu ›Gastarbeiter‹ in der Presse zählt die Studie von Delgado (1972), im Jahr 1975 erscheint die vielzitierte Küchenhoff-Studie zur ›Darstellung der Frau und zur Behandlung von Frauenfragen‹ im Fernsehen. Zur ›orientalischen Frau‹ im westlichen Diskurs‹ hat früh Helma Lutz (1989) veröffentlicht, zur ›fremden‹ Frau in den Medien vgl. Brigitta Huhnke (1996) sowie weitere Beiträge in Röben/Wilß (1996) publiziert; zum Islambild in den deutschsprachigen Medien vgl. Hafez (2002).
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werden – auch mit gesellschaftlichen Veränderungen und (medien-)technologischen Entwicklungen. Insbesondere gesellschafts- und kulturtheoretisch fundierte Auseinandersetzungen zum Verständnis medialer Repräsentation haben unterdessen auch neue Ansätze befördert, die zu einer Auseinandersetzung mit ›Anerkennung‹ und ›Sichtbarkeit‹ geführt haben: Es sind vor allem die Arbeiten von Stuart Hall, die einen kulturwissenschaftlichen Repräsentationsbegriff in die Medienanalyse einführten. Hall begreift Repräsentation als »active work of selecting and presenting, of structuring and shaping: not merely the transmitting of an already-existing meaning, but the more active labour of making things mean« (Hall 1982: 64). Repräsentationen werden als vermachtete Praktiken der Produktion von Bedeutung verstanden und es wird die Notwendigkeit hervorgehoben, diese Praktiken als in einem historisch gegebenen System von Strukturen, Oppositionen und Differenzen situierte zu untersuchen. Der Blick auf Praktiken und ›Repräsentationsregime‹, die das »gesamte Repertoire an Bildern und visuellen Effekten, durch das ›Differenz‹ in einem beliebigen historischen Moment repräsentiert wird« (Hall 2004: 115), umschließen, hat weitere Frageperspektiven eröffnet – etwa die nach den ›Produktionsmitteln‹ der Repräsentation oder danach, wer wie mittels welcher Ressourcen an den Praktiken der Herstellung von Repräsentationen beteiligt ist. Wie durch Repräsentation soziale Positionen zugewiesen werden, hat ein vermehrtes Interesse an dem Zusammenhang von Medienrepräsentation und Identität bzw. Identifikation auch in der deutschsprachigen Medien- und Kommunikationswissenschaft insbesondere seit Anfang der Jahrtausendwende hervorgerufen (vgl. u. a. Hepp/Thomas/Winter 2003; Mikos/Hoffmann/Winter 2006). Diese Beschäftigung mit Identität, Identifikation und Identitätsräumen (vgl. Hipfl/Klaus/Scheer 2004; Klaus/Drüeke 2010; Klaus/Drüeke/Kirchhoff 2012) steht in Verbindung mit der Beschäftigung mit Prozessen der Herstellung des ›Eigenen‹ und ›Fremden‹ und mit einer Auseinandersetzung mit Differenz. Zudem, einerseits inspiriert durch Arbeiten von Vertreter_innen der Cultural Studies und deren Auseinandersetzungen mit Michel Foucaults Überlegungen zur Formierung, Transformierung und grundsätzlichen Kontingenz moderner Subjektivierungsweisen (vgl. Thomas 2009), mit Louis Althussers Konzept der Interpellation, mit Jacques Lacans Theorie der Subjektivität (vgl. Hipfl 2009), mit Valerie Walkerdines Arbeiten zur Diskursivierung von Subjekten (vgl. Hipfl/Marschik 2009), andererseits durch die Rezeption feministischer und postkolonialer Theorie (insbesondere Spivak 1994; Mohanty 1988, 2003; Butler 1991, 2004, 2005, 2010) – setzte unterdessen auch im deutschsprachigen Raum in der Medienund Kommunikationswissenschaft eine Beschäftigung mit der Frage ein, wie Subjekte (auch) qua Medienkommunikation und -handeln nicht nur repräsentiert werden, sondern welche Normen zugrunde liegen, die es Individuen und Gruppen erst ermöglichen, auf eine Weise sichtbar zu sein und gesehen zu
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werden, die Stimme zu erheben und Gehör zu finden, die als gesellschaftlich bedeutsam wahrgenommen werden kann (vgl. Klaus/Lünenborg 2012). Da die Beschäftigung mit Identität, Differenz, Gerechtigkeit und Subjektivierung in Konzeptualisierungen von Anerkennung zentral verhandelt werden, liegen hier auch bereits vereinzelt erschlossene und weiterführende Anschlussstellen für kritische Medienkulturanalysen.
A nerkennungstheorie und M edienkultur : A nknüpfungspunk te Entlang der Unterschiede verschiedener theoretischer Konzeptualisierungen von Anerkennung durch ausgewählte Autor_innen kann hier nur angerissen werden, welche Fragestellungen und Erkenntnispotentiale den unterschiedlichen Verständnisweisen innewohnen. Die gegenwärtige Aktualität des Anerkennungsbegriffs ist nicht nur im deutschsprachigen Raum eng verbunden mit Axel Honneth, dessen Arbeit Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte im Jahr 1992 erschien.2 Honneth etabliert Anerkennung als »Grundstein einer Ethik« (1997: 25, zit. nach Balzer 2014: 49); er betont die Bedeutsamkeit intersubjektiver Anerkennung für die menschliche Lebensform als zentral psychologische Verfasstheit von Personen, als das Ideal der individuellen Selbstverwirklichung und Bedingung der Möglichkeit von individueller wie kollektiver Freiheit. Aus seiner Sicht schaffen Liebe (in der Anerkennungssphäre der Primärbeziehungen), Recht (liberale Freiheitsrechte, politische Teilnahmerechte, soziale Wohlfahrtsrechte) und Wertschätzung (in der Erwerbssphäre auf Grundlage intersubjektiv geteilter Wertehorizonte) als Formen der Anerkennung die sozialen Bedingungen, unter denen »menschliche Subjekte zu einer positiven Einstellung gegenüber sich selber« gelangen können, um sich »uneingeschränkt als ein sowohl autonomes wie auch individuiertes Wesen zu begreifen« (Honneth 1992: 271). Honneth vertritt damit laut Balzer (2014: 31) eine ethisch-moralische Variante des Paradigmas der affirmativ-evaluativen Anerkennung von Identität, das auch Charles Taylor (1993) in seinem inzwischen zum ›Klassiker‹ avancierten Essay Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung in einer anderen, politisch-kulturellen Variante und mit Blick auf Identität bekräftigt. Auch Taylor geht davon aus, dass Identität durch die Anerkennung der ›Anderen‹ mitbestimmt wird. Anerkennung vollzieht sich nach Taylor durch language in einem Dialog: Unter language fasst er dabei nicht nur Sprache, sondern auch andere Ausdrucksfor2 | Honneths Interesse an der Anerkennungstheorie dauert bis heute an und seine Konzeptualisierungen sind durch Differenzierungen und Revisionen gekennzeichnet (vgl. Balzer 2014: 50ff.); unsere Ausführungen können hier nur schematisch erfolgen.
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men wie Kunst, Liebe, Gesten (vgl. Taylor 1994: 32) und er unterscheidet zwei Ebenen der Anerkennungsbeziehungen, die für Fragen nach Anerkennung in Medienkulturen weiterführend sind, die intimate sphere, den persönlichen Bereich, und die public sphere, die Öffentlichkeit (Taylor 1994: 37). Nancy Fraser (2001, 2003) kritisierte die von Honneth wie Taylor vorgeschlagene normative und aus ihrer Sicht idealisierende Lesart von Anerkennung, entlang derer Anerkennung auf ›gelingende‹ Identität fokussiert und als Lösung für gesellschaftliche Konflikte entworfen wird. Zudem werde aus ihrer Sicht übersehen, dass nicht nur die Verweigerung von Anerkennung, sondern auch die Gewährung dilemmatisch sein kann. Um eine kritische Theorie der Anerkennung zu entwickeln, will Fraser die »praktische Abkopplung der Politik der Anerkennung von der Politik der Umverteilung« (2001: 274) und das von ihr kritisierte »Selbstverwirklichungsparadigma« (Fraser 2003: 50) überwinden. Fraser behandelt mangelnde Anerkennung als »Angelegenheit der Gerechtigkeit« (ebd.: 44) und interessiert sich dafür, wie Einzelne oder Gruppen »durch institutionalisierte kulturelle Wertmuster daran gehindert [zu] werden, als Gleichberechtigter am Gesellschaftsleben zu partizipieren« (ebd.: 45 – Hervorheb. i. O.). Leitender normativer Maßstab ist somit nicht ›Selbstverwirklichung‹, sondern die »Vorstellung einer partizipatorischen Parität« (ebd.: 54 – Hervorheb. i. O.). Sie fragt nicht nur, wie mangelnde Anerkennung als eine Benachteiligung auf der Ebene von Status, sondern auch wie ökonomische Benachteiligung auf der Ebene von Klasse als einem Modus sozialer Differenzierung, Akteur_innen Mittel und Ressourcen zur partizipatorischen Parität vorenthält. Klasse und Status sind aus der Sicht Frasers einerseits mit dem politisch-ökonomischen und andererseits mit dem kulturellen Aspekt der sozialen Ordnung verbunden; dabei ist »die Wirtschaft keine von kulturellen Mustern unberührte Zone, sondern eine solche, die die Kultur instrumentalisiert und ihr neue Bedeutungen zuweist« (ebd.: 87) – und dies mit Folgen für Anerkennung und Verteilung. Mangelnde Anerkennung und ökonomische Beteiligung sind für Fraser vielfältig verflochtene Aspekte von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit; dies ist auch deshalb bedeutsam, weil etwa Maßnahmen der Umverteilung unbeabsichtigte Effekte der mangelnden Anerkennung im Sinne von Restigmatisierungen stärken oder Maßnahmen zur Behebung mangelnder Anerkennung die ökonomischen Strukturen, die Benachteiligung schaffen, intakt lassen und stigmatisierte Klassen verletzlicher Menschen3 schaffen. Daher kann es aus Frasers Sicht »keine Umverteilung ohne Anerkennung« und »keine Anerkennung ohne Umverteilung« geben (Fraser 2003: 90-93; Hervorheb. i. O.; vgl. hierzu auch Balzer 2014: 246ff.). Was laut Fraser anerkannt werden muss, ist der Status individueller Gruppenmitglieder 3 | Anerkennung müsse auch als ein Problem von Verletzungen angesehen werden, vergangenes Unrecht in Betracht ziehen und berücksichtigen, so Carolin Emcke (2000).
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als vollwertige Partner_innen in sozialer Interaktion; dazu sind nicht (kollektive) Identitäten affirmativ anzuerkennen, sondern Wertschemata in ihrer institutionellen Geltung in einem transformativen Sinne so zu verändern, dass allen das gleiche Recht zukommt, unter »fairen Bedingungen der Chancengleichheit nach gesellschaftlicher Achtung zu streben« (Fraser 2003: 49). Um gesellschaftliche Achtung gegen zunehmende »Misframings« zu verteidigen, die Fraser in der national-staatlichen Rahmung transnationaler Ungleichheit beobachtet, erweitert Fraser ihr Modell von Anerkennung und Umverteilung um die Dimension der Repräsentation (Fraser 2006: 32ff.) und schafft damit – wie wir im nächsten Abschnitt wieder aufgreifen werden – weitere Anschlussstellen für Medienkulturanalysen. Die von Fraser wiederholt angesprochene Einsicht in die paradoxen und dilemmatischen Nebenfolgen von Anerkennung sind ein Ausgangspunkt für die Einsicht, dass Anerkennung als soziale Praxis Identitäten nicht nur bestätigt, sondern auch hervorbringt. Diese Auffassung von einer ›subjektivierenden Anerkennung‹ geht nicht ausschließlich von positiven und ermächtigenden Effekten von Anerkennung aus, sondern auch mit Unterdrückung bzw. Formung.4 Diese Überlegungen sind für Judith Butlers (2001, 2009, 2010) Auseinandersetzungen mit dem Anerkennungsbegriff kennzeichnend; aus ihrer Sicht ist die Frage nach dem Zusammenhang von Anerkennung, Subjektwerdung und Macht zentral. Für Butler ist Anerkennung unverzichtbar, um »existieren zu können und (an)erkennbar zu sein« (2001: 593). Ihre Überlegung, dass subjektivierende Anerkennung immer in vermachtete soziale Praktiken, Diskurse und Apparate sowie deren materielle Grundlagen eingebunden ist, dass sie partiell ist und somit auch immer schon Verkennung impliziert, lässt Judith Butler gemeinsam mit Athena Athanasiou (2014) über die »Gewalt der Anerkennung« nachdenken. Im Dialog machen Butler und Athanasiou deutlich, dass die Normen der Anerkennung, mit denen und über die gerungen wird, soziale Normen sind, die zugleich das eigene ›Selbst‹ wie die Anerkennung ›Anderer‹ miteinander verschränken. Schon in ihrem Band Gefährdetes Leben schreibt Butler (2005: 60): »Wenn ich auf einer gemeinsamen körperlichen Verletzbarkeit bestehe, mag es so aussehen, als postuliere ich eine neue Grundlage für den Humanismus. Das könnte stimmen, aber ich bin geneigt, dies anders zu sehen. Eine Verletzbarkeit muss wahrgenommen und anerkannt werden, um in einer ethischen Begegnung eine Rolle zu spielen, und es gibt keine Garantie, dass dies geschehen wird«. Es gibt also nicht nur stets die Möglichkeit, dass eine Verletzbarkeit nicht anerkannt wird 4 | In diesem Sinne lassen sich auch Forderungen wie etwa nach einem right to opacity in der Folge der Überlegungen von Edouard Glissant (1997) verstehen oder einer »Politik der Unwahrnehmbarkeit«, die als Politik des Entgehens und sich Entziehens weiterführende Perspektiven eröffnet (vgl. Engel 2011).
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und dass sie als das ›Nichtanerkennbare‹ konstituiert wird; zudem hat, wenn eine Verletzbarkeit anerkannt wird, diese Anerkennung auch die Macht, die Bedeutung und Struktur der Verletzbarkeit selbst zu ändern (vgl. ebd.). Damit geraten auch die ›Rahmen‹ der Anerkennung, »[j]ene allgemeinen Begriffe, Konventionen und Normen« in den Blick, die die Bedingungen der »Anerkennbarkeit« darstellen (Butler 2010: 13). Diese Bedingungen der Anerkennung sind, das hat Judith Butler in Gefährdetes Leben (2005) im Anschluss an Levinas Theorie des Antlitz bereits betont, auch abhängig von der Möglichkeit, gesehen und gehört zu werden: »Bestimmte Gesichter müssen dem Blick der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, müssen gesehen und gehört werden, wenn ein geschärfter Sinn für den Wert des Lebens, allen Lebens, Verbreitung finden soll.« (Butler 2005: 14) Auch wenn Butler hier Öffentlichkeit als eine Öffentlichkeit fasst und die feministische Öffentlichkeitsforschung überzeugend aufgezeigt hat, dass Öffentlichkeit als »Öffentlichkeiten« gedacht werden sollte (vgl. Fraser 1990), bekräftigen auch Butlers Überlegungen, dass die Ausarbeitung der Verbindungen von Anerkennnungstheorie und Medienkulturanalyse lohnenswert ist, denn Medien spielen in unterschiedlichen sozialen Räumen und Öffentlichkeiten eine maßgebliche Rolle, und zwar sowohl in den einfachen ›Begegnungen‹ im Alltag über Versammlungs- und Bewegungsöffentlichkeiten als auch in komplexen Öffentlichkeiten, wie sie die so genannten ›Massenmedien‹ herstellen (zu den Ebenen von Öffentlichkeit vgl. Klaus/Drüeke 2010). Kommunikative Akte der Anerkennung sind in mediatisierten Gesellschaften in hohem Maße durch Medien konstituiert und werden über und in Medien in diversen Öffentlichkeiten ausgehandelt, die jeweils durch spezifische Machtverhältnisse geprägt sind. Medien arbeiten mit an der Herstellung und Wiederholung von Normen, die normative Ordnungen begründen; zugleich ermöglicht aber mediatisiertes Handeln auch Interventionen in Anerkennungsverhältnisse und somit deren Verschiebung und Veränderung. Sichtbarkeit in Öffentlichkeiten ist für mediatisierte Anerkennungsprozesse konstitutiv. Vor dem Hintergrund der hier knapp entfalteten anerkennungstheoretischen Überlegungen schlagen wir vor, Fragen nach Anerkennung und Sichtbarkeit in Medienkulturen als Fragen nach den historisch spezifisch, vielfach mediatisierten sozialen und politischen Herstellungsprozessen aufzufassen, die über die Produktion von Sichtbarkeit anerkennbare Körper, Subjekte und gesellschaftliche Verhältnisse hervorbringt.
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A nerkennung und S ichtbarkeit in M edien (kultur) analysen Die ethisch-moralphilosophischen bzw. gerechtigkeits- und politiktheoretischen Theorien von Anerkennung und Sichtbarkeit sind, dies hat Balzer (2014: 5) bereits bemerkt, in besonderem Maße anschlussfähig an Forschung, die sich mit Differenzkonstruktionen auseinandersetzen. Auch in der medienwie kommunikationswissenschaftlichen Forschung lässt sich die Aufnahme anerkennungstheoretischer Überlegungen beobachten. Seit den 1970er Jahren wurden, wie wir bereits im Abschnitt »Repräsentationskritik zu Anerkennungsforschung in Medienkultur: Verbindungslinien« gezeigt haben, Fragen von medial hergestellten Differenzen, von Repräsentationen, Identitäts- und Subjektpositionierungen und -positionen in Hinblick auf Kategorisierungen von Geschlecht, Klasse, ›Rasse‹, Ethnizität und Religion sowie auf Marginalisierungen bis hin zur »symbolic annihilation« (Tuchman 1978) und Exklusionen von ›Anderen‹ in kritischen Medienanalysen erforscht. Medienanalysen aus der Perspektive postkolonialer Kritik haben insbesondere Repräsentationen von Migrant_innen und ›entfernten Anderen‹ in globalen Zusammenhängen adressiert und sich den Prozessen des »Othering« (Spivak 1994) in und durch die Medien zugewandt. Insbesondere diese Tradition einer gesellschaftskritischen Medien- und Kommunikationswissenschaft wie auch der medienorientierten Visual Studies bietet theoretische und konzeptionelle Anschlüsse, wie Anerkennung und Sichtbarkeit für eine kritische Medienkulturforschung produktiv gemacht werden können. Wenn im Folgenden Ansätze und Studien der Medien- und Kommunikationswissenschaft, wie sie seit gut einem Jahrzehnt entwickelt wurden, vorgestellt und neue Perspektiven skizziert werden, dann geschieht dies nicht nur mit der Zielsetzung, die Relevanz und den Ertrag von Anerkennung und Sichtbarkeit für das Forschungsfeld aufzuzeigen. Die Konturierung von Anerkennung und Sichtbarkeit unter den Bedingungen derzeitiger Medienkulturen scheint uns auch umgekehrt für die Anerkennungsforschung ganz zentrale Impulse liefern zu können. Die verschiedenen Anerkennungstheorien gehen davon aus, dass sich Anerkennung und Verkennung bzw. Missachtung in sozialen Beziehungen und Ordnungen zwischen einem ›Anderen‹ und einem ›Selbst‹ vollziehen. Dabei ist, so unsere These, Kommunikation als eine der grundlegenden Formen der Aushandlung und Konstitution von Anerkennung zu begreifen – sei es im Sinne eines intersubjektiven oder eines subjektivierenden Prozesses. In Inter aktionen, deren Grundform als Face-to-Face-Interaktion konzeptionalisiert wird, werden spezifische, gesellschaftlich geteilte und verbreitete Normen stets von Neuem aktualisiert. Mit der Ausarbeitung der Anerkennungskonzepte hat sich auch die Frage nach den unterschiedlichen Bedingtheiten von Anerkennungsverhältnissen aus historischer wie kultureller Perspektive neu gestellt.
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Eine dieser zentralen Bedingungen, unter denen sich Anerkennungsprozesse in spezifischen normativen Ordnungen gesellschaftlich (re-)konstituieren und unter denen Anerkennung und Sichtbarkeit verhandelt werden, stellen die spezifischen Strukturen und Prozesse kultureller und sozialer Ausgestaltungen von Medienkulturen und (kommunikativem) Medienhandeln in Gesellschaften dar. Mit dem Begriff der »Medienkultur« können diese medialen Bedingungen der Kommunikation konturiert werden, wie das Tanja Thomas und Friedrich Krotz (2008: 23) im Anschluss an die Definition von Knut Hickethier vorgeschlagen haben: Medien sind demnach nicht nur als »Vermittlungs- und Beobachtungsinstanz«, sondern »auch als selbst gestaltender Teil der Kultur« (Hickethier 2003: 455) zu begreifen. Soziale Beziehungen und Ordnungen lassen sich somit als maßgeblich in und durch Medien gestaltete begreifen und in der Konsequenz lässt sich »nun gut begründen, dass medialer Kommunikation auch eine zentrale Funktion für die jeweilige (klassenspezifische) Sinnorientierung und die Aushandlung kultureller Identität zukommt« (Thomas/ Krotz 2008: 22). Den Begriff der Sichtbarkeit schlagen wir als Schlüsselbegriff vor, um Anerkennung theoretisch für eine Analyse von Medienkulturen konzeptionalisieren zu können; »Sichtbarkeit, Gesehen-Werden ist eng mit ›Anerkennung‹ verknüpft«, so betonen auch Sigrid Schade und Silke Wenk (2011). Wie im Abschnitt zu den Theorien der Anerkennung bereits aufgezeigt wurde, spielt die Ebene der (medialen) Öffentlichkeit sowohl bei Taylor als auch bei Fraser und Butler eine wichtige Rolle. In allen Konzeptualisierungen lässt sich Öffentlichkeit als ein Raum verstehen, in dem sich Anerkennungsordnungen konstituieren und in dem Subjekte Anerkennung (oder Missachtung bzw. Verkennung) durch ›Andere‹ erfahren oder erst ›intelligibel‹ werden. Der im Kontext sozialer Bewegungen und politiktheoretischer Debatten verwendete Begriff der Sichtbarkeit im Sinne eines öffentlichen ›in Erscheinung Tretens‹ und ›Anerkanntwerdens‹ (vgl. Ataç et al. 2015; Schaffer 2008) stellt bereits jene Verbindung her. Dieses Verständnis greift allerdings zum einen zu kurz, weil es, wie Schaffer (2008: 15) zurecht kritisiert hat, Sichtbarkeit mit Macht gleichsetzt und beispielsweise stereotype Darstellungsweisen zu verkennender Sichtbarmachung führen können. Zum anderen erscheint es uns entscheidend, Sichtbarkeit nicht nur als Ergebnis der Sichtbarmachung zu fassen, sondern auch als Resultat jener Verhältnisse, die diese Sichtbarmachung konstituieren. Im Anschluss an die Visual Studies (vgl. Adorf/Brandes 2014) ist Sichtbarkeit stets als durch Macht- und Herrschaftsverhältnisse geprägte zu begreifen und somit als eine durch Machtverhältnisse konstitutierte Bedingung und Produkt jener wirklichkeitserzeugenden Konstruktion, die in und durch Medien hergestellt
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wird.5 Es gilt, sie in ihrer historischen, politischen, sozialen, materiellen – und nicht zuletzt medialen – Dimension zu untersuchen und die Praktiken der Herstellung von Sichtbarkeit in den Blick zu nehmen; diese Praktiken sind eingebunden in ein Wechselspiel von Bildern und Apparaturen des Sehens, von Repräsentationsordnungen und Repräsentationslogiken. Letztere wiederum entwerfen Subjekt- und Identitätskonstruktionen, von denen geblickt wird und durch die das, was gesehen werden kann, informiert ist. Derzeit werden Fragen nach (wechselseitiger) mediatisierter Anerkennung und Sichtbarkeit sehr offensichtlich dringlicher, einerseits angesichts neuer und verstärkter Migrations- und Fluchtbewegungen und den damit verbundenen vervielfachten und vervielfältigten transkulturellen Begegnungen, andererseits aufgrund einer mediatisierten ›Konfrontiertheit‹ mit entfernten ›Anderen‹ und transnationalen Verflechtungen durch grenzüberschreitende Kommunikationen, die auch unter dem Begriff des ›Kosmopolitismus‹ bzw. ›Kosmopolitisierung‹ diskutiert werden. Im Folgenden werden wir uns auf diese beiden Themenfelder konzentrieren und anhand exemplarischer Studien zentrale Zugangsweisen wie auch mögliche Impulse und Perspektiven für die kritische Medienkulturforschung aufzeigen. Die Ansätze sind vielfältig; sie argumentieren demokratietheoretisch (Cottle 2007; Maia 2014), identitätspolitisch (Cottle 2007), repräsentationskritisch (Schaffer 2008; Bleiker et. al 2013; Kannengießer 2011) oder ethisch (Chouliaraki 2008; Brand/Pinchevski 2012) und konzentrieren sich auf unterschiedliche Mediengattungen und -genres, z. B. auf Nachrichten in Presse und Fernsehen (Chouliaraki 2008; zu Talksendungen vgl. Cottle 2007), Sozial- und Werbekampagnen, Fotojournalismus und Pressefotografie (Grittmann/Maier 2016), Social Media (Mihelj/van Zoonen/Vis 2011), auf Blogs und Filme (Maia/Rezende 2014; Heidenreich 2015) oder auch künstlerische Interventionen (Schaffer 2008). Diese vielfältigen Zugänge und Medienperspektiven zeigen gleichzeitig, in welchem Maße die medien-, kommunikationswissenschaftliche und medienkulturwissenschaftliche Forschung von diesen theoretischen Konzeptionen profitieren kann.
A nerkennung und S ichtbarkeit im F lucht _M igr ationsdiskurs Überlegungen zu den Formen von Repräsentation marginalisierter Gruppen hat Johanna Schaffer (2008) mit der Frage verbunden, wie Menschen mit Migrationserfahrung sichtbar (gemacht) werden können, ohne dabei in der Art 5 | Zu verwandten Begriffen und Konzepten in den Visual Studies insbesondere Visualität, Visuality, Vision, Seeing/Showing und Scopic Regime verweisen wir auf den Überblick von Lobinger (2015).
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und Weise ihrer visuellen Darstellung Prozesse des Othering und der rassifizierenden Hierarchisierung zu wiederholen. Hierfür führt sie den Begriff der »anerkennenden Sichtbarkeit« (2008: 19) ein, der Anerkennung in Anlehnung an Judith Butler und Iris Marion Young mit einer »Lesbarkeit und Verstehbarkeit spezifischer Subjektpositionen« und einer »Belehnung mit Wert« (ebd.: 20) verbindet. Schaffer betont, dass sich visuelle Kultur nicht nur mit Bildern, den Apparaturen des Sehens und Fragen der Subjektkonstitution beschäftigt, sondern auch mit den Modi von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit in ihrem Verhältnis zueinander sowie mit der technischen und soziokulturellen Hergestelltheit der Sichtbarkeit. Wichtig ist ihr daher die Ebene der »technischmedial-materiellen Bestimmtheit von Repräsentationen« (ebd.: 79), die neben der Materialität der Bild-Diskurse, Institutionen und gesellschaftlichen Apparate in die Analyse einbezogen werden sollte (vgl. ebd.: 80). Schaffers Arbeit ist in den Visual Studies zu verorten, sie bietet aber nicht zuletzt aufgrund der medienspezifischen Perspektiven und Analysen von Plakatkampagnen auch grundlegende theoretische Überlegungen für eine kritische Medienkultur analyse von Sichtbarkeiten, die mediatisierte Anerkennung als ambivalente Praxis begreift und am »gesamten Feld der Normen« (ebd.: 20) der Anerkennung arbeitet. An ihre Überlegungen anknüpfend haben Elke Grittmann und Tanja Maier (2016) eine Systematik der Modi medialer Bilder entwickelt, um auf deren Grundlagen eine systematische Analyse der »Rahmen« (Butler 2010) der Anerkennung und Sichtbarkeit zu ermöglichen.6 Wie solche Normen im aktuellen Mediendiskurs über Flucht auch zu einer Dehumanisierung führen können, haben Bleiker et al. (2013) in einer Analyse der australischen Berichterstattung über Asylsuchende gezeigt. Ebenfalls im Sinne einer Arbeit mit den Normen der Anerkennung verfolgt Simon Cottle (2007) das Ziel, Medienpraktiken einer mediatised recognition herauszuarbeiten. Der »Kampf um Anerkennung« und Gerechtigkeit mariginalisierter Gruppen in Öffentlichkeiten und die auf zahlreichen Studien beruhende Problematisierung medialer Repräsentationen von Migrant_innen, der indigenen Bevölkerung in Australien und Geflüchteten, die durch Exklusion, Stereotypisierung und Missachtung gekennzeichnet sind, bilden die Ausgangsüberlegungen von Cottles Fragen danach, wie Medien diesen Kampf um Anerkennung unterstützen können. Cottle knüpft insbesondere an Taylors Politics of Recognition (1993) an, betont aber, dass sich die Frage nach Anerkennung auch aus demokratietheoretischer Perspektive nicht einfach auf Medien anwenden lässt, sondern gerade medienspezifische 6 | In der Studie von Lünenborg und Maier (2017) über die Bildberichterstattung deutschsprachiger Printmedien zu den Themen Flucht, Migration und Integration wurde die Systematik für die Bild- und Kontextanalyse genutzt. Sie konzentriert sich auf die Sichtbarmachung.
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Eigenheiten und Kommunikationsmodi berücksichtigen werden müssen, die er unter deliberation und display fasst und am Beispiel des Fernsehens und des Dokumentarfilms aufzeigt. Das Potential der ›Deliberation‹ sieht er in der Erweiterung der Stimmen (Voices), beispielsweise durch Interviews mit Migrant_innen, Geflüchteten oder minorisierten Gruppen in Nachrichtenformaten sowie der Herstellung von Vielfalt, um politische Handlungsmacht zu eröffnen. Gleichzeitig fordert er die kritische Hinterfragung mächtiger Akteur_innen in öffentlichen Diskussionssendungen, um deren Handlungsmacht wiederum aufzubrechen (Cottle 2007: 38ff.). Auf diese Weise und auch durch mediale Erinnerung an Gewalt, Ungerechtigkeit und Trauma, beispielsweise durch dokumentarische Fotoarbeiten, könnten Möglichkeiten der ›Wiedergutmachung‹ (vgl. z. B. Tully 2014 sowie den Beitrag von de Wolff und Brink in diesem Band) eröffnet werden. Schaffer wie Cottle diskutieren Anerkennungsbedingungen und mediale Formen der Anerkennung bzw. Missachtung oder Verkennung nicht nur anhand der Darstellung und Repräsentation, sondern auch anhand von Fragen der ›Agency‹ und ›Ermächtigung‹, sei es durch alternative Bildproduktionen (Schaffer 2008) oder die Möglichkeit der Partizipation durch mediale Zeugenschaft und politische deliberative Teilhabe im Diskurs. Immer wieder wurde gerade das Potential digitaler Infrastrukturen hervorgehoben, neue Öffentlichkeiten zu schaffen, die Dialog und Begegnung erlauben und damit Möglichkeiten eröffnen, zu sprechen und gehört zu werden. Bisher sind Onlinekommunikationen aus anerkennungstheoretischer Perspektive kaum untersucht worden (s. dazu den Beitrag von Eickelmann in diesem Band), doch stehen etwa Formen der medialen Deliberation in Arbeiten von Rousiley Maia (2014) und ihren Forschungskolleg_innen im Mittelpunkt des Interesses; das Projekt befasst sich beispielsweise mit den Online-Debatten über rassistische Äußerungen eines Politikers in verschiedenen Online-Foren aus anerkennungstheoretischer wie auch demokratietheoretischer Perspektive. Maia rekurriert auf das Anerkennungsverständnis von Axel Honneth und bezieht sich in der Analyse auf deliberative Kategorien zur Erhebung der Diskurs-Qualität, um Selbstpositionierung, Formen der Konversation und der Argumentation zu untersuchen (Maia/Rezende 2014: 156f.). Diese exemplarisch ausgewählten Arbeiten zeigen, dass mediatisierte Anerkennung und Sichtbarkeit entscheidend von medientechnologischen Bedingungen und Kommunikationsmodi geprägt werden; gerade die Möglichkeit zu sprechen, gehört zu werden sowie die Möglichkeiten des Austauschs sind in den traditionellen Medien reguliert und von Machtstrukturen abhängig. Eine Analyse von Anerkennungsnormen und Bedingungen muss dementsprechend diese medientechnologischen Aspekte und die mediatiserte Verfasstheit von Kommunikation berücksichtigen und ihre theoretische Konzeption erweitern. Mit dem Ziel der Analyse von Anerkennungs- und Sichtbarkeitsverhält-
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nissen in Online-Foren, Social Media und Websites, die sich mit Themen von Flucht, Migration und Integration beschäftigen, haben wir einen ersten Vorschlag für ein heuristisches Modell entwickelt (vgl. Grittmann/Thomas 2017, i. Dr.), das nach Bedingungen mediatisierter Anerkennung und Sichtbarkeit fragt. Wir schlagen dazu vor, mediatisierte Sichtbarkeit (Visibility) in digitalen Medienumgebungen um die Dimension der Stimme (Voice), die Möglichkeit zu sprechen, als auch um die der medialen Begegnung (Encounter)7, z. B. in einem Chat oder einem Forum, zu erweitern. Anerkennung und Sichtbarkeit sind, so wollen wir betonen, nicht alleine eine Frage der Repräsentation, sondern konstituieren und artikulieren sich in Medienkulturen in und durch die medienspezifischen Bedingungen und Materialitäten.
A nerkennung der » entfernten A nderen « Für die Frage der Anerkennung nicht nur in der unmittelbaren Konfrontiertheit, sondern auch in der Begegnung mit geographisch weit entfernten ›Anderen‹ sind insbesondere zwei Entwicklungen relevant: Erstens lässt sich durch massive ökonomische und neoliberale Globalisierungsprozesse eine zunehmende ›Kosmopolitisierung‹ beobachten, die im Anschluss an Ulrich Beck (2011) als zunehmende transnationale Interdependenz und unfreiwillige transnationale Verflechtung mit ›entfernten Anderen‹ gefasst werden kann. Zweitens kommt es, bedingt durch medientechnologische transnationale Kommunikationsnetzwerke, neben neuen ›Nachbarschaften‹, einer veränderten Nähe (vgl. Tomlinson 1999) und Deterritorialisierung (Hepp 2009) auch zur mediatisierten Begegnung mit ›entfernten Anderen‹. Roger Silverstone (2008) hat angesichts dieser neuen transnationalen Medienstrukturen die medienethische Frage aufgeworfen, welche Verantwortung für Medien aus diesem neuen »medialen Erscheinungsraum«, den er »Mediapolis« nennt (ebd.: 59), erwächst. Er greift dazu ethische und sozialphilosophische Ideen eines ›neuen‹ Kosmopolitismus u. a. in Anlehnung an Ulrich Beck (2009) auf, der sich von alten universalistischen Ansätzen abgrenzt (zur Diskussion vgl. Köhler 2006), und sieht eine zentrale Verpflichtung in der »Anerkennung von Differenz« (Silverstone 2008: 183). Aus der ethischen Verpflichtung gegenüber Anderen leitet er eine Art mediales ›Gastrecht‹ ab, das ein Recht auf Repräsentation, auf Stimme und Gehör umfasst (ebd.: 211ff.). Die Medien, und damit meint Silverstone sowohl Massenmedien als auch Social Media, eröffnen nicht nur die Begegnung mit ›fremden‹ ›Anderen‹; aus seiner Sicht fordern sie viel7 | Diese Überlegung, die Frage von ›Begegnung‹ in/mittels mediatisierter Kommunikation aufzunehmen, ist u. a. inspiriert von Mihelj/van Zoonen/Vis (2011).
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mehr auch die angemessene Form von Distanz, von Gleichheit und Differenz heraus: eine »richtige Distanz« (2008: 185). Silverstone hat mit seiner Arbeit ganz maßgeblich dazu beigetragen, theoretische Impulse eines ›neuen‹ und ›kritischen‹ Kosmopolitismus, wie sie in zahlreichen Disziplinen in den letzten beiden Jahrzehnten entstanden sind (zum Überblick vgl. Holton 2009), auch in die Medien- und Kommunikationswissenschaft einzuführen. Diese Frage nach dem kosmopolitischen Potential und der Anerkennung der Medienberichterstattung hat sich insbesondere in der transnationalen Konflikt-, Krisen- und Katastrophenberichterstattung seit Beginn des letzten Jahrzehnts zu einem der Hauptforschungsfelder entwickelt: Lilie Chouliaraki hat in mehreren Studien zur nationalen und transnationalen Fernsehberichterstattung über ›Distant Suffering‹ untersucht, wie Medienberichterstattung eine ›proper distance‹ durch spezifische ästhetische und semiotische Darstellungsweisen herstellt (vgl. Chouliaraki 2008, 2010). Daran schließen sowohl qualitative (vgl. z. B. Ekström 2012) als auch quantitative Studien (vgl. Robertson 2010) an. Diese Forschung (vgl. zu Überblick Thomas/Grittmann 2017, i. Dr.) konzentriert sich zunächst auf Bedingungen der Erzeugung von Mitleid und Empathie, die implizit als Formen der Anerkennung gedacht werden. Chouliaraki (2013) hat jedoch unterdessen auf das (auch in der Forschung reproduzierte) asymmetrische Machtverhältnis zwischen Globalem Norden und Globalem Süden aufmerksam gemacht; damit hat sie ethische Überlegungen zur Erzeugung und Anerkennung von Differenz(-konstruktionen) durch mediale Darstellungsmittel angeregt und wichtige Grundlage für die Auseinandersetzung mit Sichtbarkeiten von ›entfernten Anderen‹ geschaffen. Eine Erweiterung stellt die Arbeit von Mihelj, van Zoonen und Vis (2011) dar. Sie haben sich aus kosmopolitischer Perspektive mit Medienhandeln in Onlineforen befasst und an das Konzept des Zuhörens (›listening‹) als kosmopolitische Haltung und kommunikative (Medien-)Praxis angeschlossen und am Beispiel eines transkulturellen Onlinediskurses auf YouTube untersucht. Die Autorinnen haben dabei insbesondere aufgezeigt, dass diese Kommunikation in vermachtete Strukturen eingebettet ist (ebd.: 616). Die vertiefte Auseinandersetzung mit anerkennungstheoretischen Arbeiten liefert Grundlagen für kritische Medienkulturanalysen in einer Welt, die sich angesichts globalen Wirtschaftens und den damit verbundenen Verflechtungen und asymmetrischen Verhältnissen stetig verändert. In Medienkulturen stellt sich die Frage, inwiefern Medien die Verantwortung übernehmen, diese globalen Prozesse zu thematisieren und damit Sichtbarkeit für diese Problematik und die betroffenen Akteur_innen zu erzeugen. Dazu reicht jedoch eine kosmopolitismustheoretisch fundierte Forschung, die sich allein auf das ›Leiden‹ der ›Anderen‹ und Mitleid wie Empathie konzentriert, nicht aus. Eine an Nancy Fraser orientierte dreidimensionale Konzeptualisierung aner-
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kennungstheoretischer Überlegungen kann eine Analyse der »Grammatik der Anerkennung«, der »Architektur der Umverteilung« und der Repräsentation (Dackweiler 2006: 188; Fraser 2006) in den Blick nehmen und ermöglicht damit die Analyse grenzüberschreitender und transnationaler Formen der Ungerechtigkeit, ihre Ursachen und Folgen in Medienkulturen. Am Fall der Berichterstattung über die Ereignisse, Ursachen und Folgen des Todes von mehr als 1.100 Menschen, die durch den Einsturz eines achtstöckigen Fabrikgebäudes in Bangladesch ums Leben gekommen sind, sind wir in einer Analyse dieser Verantwortung der Medien nachgegangen (vgl. Thomas/Grittmann 2017, i. Dr.). Beim Zusammenbruch des ›Rana Plaza‹ am 24. April 2013 waren darüber hinaus Tausende zum Teil schwer verletzt worden. Unter den Opfern waren hauptsächlich Textilarbeiter_innen, die in den fünf Textilfabriken im Gebäude auch für europäische, US-amerikanische und kanadische Firmen Kleidung genäht hatten. Auf Grundlage einer Operationalisierung von Frasers dreidimensionalem Konzept von Anerkennung, Umverteilung und Repräsentation haben wir die Berichterstattung in deutschen Medien auf eine Weise untersucht, die erkennen lässt, wie Betroffene zwar sichtbar, aber vorrangig als handlungsunfähige, passive Opfer repräsentiert und damit nur bedingt anerkannt werden. Fragen der Umverteilungen wurden zwar aufgeworfen, aber auch hier einschränkend vor allem an die Regierung von Bangladesch rückadressiert; Fragen ökonomischer Interdependenzen – geschweige denn Fragen von intersubjektiver Interdependenz und Verletzbarkeit als Grundbedingungen des Menschseins (Butler 2005, 2010, 2012) – bleiben weitgehend unthematisiert. Exemplarisch wollen wir mit einem Hinweis auf unsere Fallstudie argumentieren, dass anerkennungstheoretische Ansätze eine Konzeptionalisierung einer Medienethik eröffnen, die die Verantwortung der Medien für die Thematisierung globaler Interdependenzen und Externalisierungsprozesse (vgl. Lessenich 2016) ermöglicht.
A nerkennung und S ichtbarkeit – P erspek tiven für eine kritische M edienkultur analyse Mit unseren Ausführungen haben wir zeigen wollen, wie eine Verbindung von anerkennungstheoretischen Ansätzen und einer an bewegungspolitischen Forderungen und den Visual (Culture) Studies geschulten Konzeptualisierung von Sichtbarkeit für Medienkulturtheorie und -analyse ertragreich werden kann: Gewinnbringend ist es, unterschiedliche anerkennungstheoretische Überlegungen aufzugreifen, die nach den sozial etablierten ›Ordnungen‹ der Anerkennung fragen und diese in Verbindung bringen mit Fragen nach Sichtbarkeit als einer durch Machtverhältnisse konstituierten Bedingung und zugleich einem Produkt jener wirklichkeitserzeugenden Konstruktionen, welche
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in und durch Medien hergestellt wird. Medien bilden wirkungsmächtige Akteure, die an den normativen Ordnungen der Anerkennung mitarbeiten und sie durch ihre Repräsentationen, Zugangsbedingungen der Partizipation und Begegnung auf Grundlage ihrer materiellen, ästhetischen und semiotischen Ressourcen miterzeugen. Diese medial erzeugten Ordnungen bilden keine kommunikativen und allein kulturell verfassten Strukturen neben gesellschaftlichen Realitäten, sie sind an ihrer Konstituierung maßgeblich beteiligt. Der Rekurs auf ausgewählte Studien sollte verdeutlichen, wie sich Anerkennung und Sichtbarkeit wechselseitig bedingen und sich in Medienkulturen in und durch die medienspezifischen Bedingungen und Materialitäten artikulieren – mediatisierte Anerkennung und Sichtbarkeit werden entscheidend von medientechnologischen Bedingungen und Kommunikationsmodi geprägt. Digitalisierungsprozesse und die damit verbundenen Entgrenzungen und Vervielfältigungen von Medienkommunikation fordern immer dringlicher dazu auf, Fragen nach Handlungsfähigkeit und Partizipation in und durch mediales Handeln mit Fragen nach Anerkennung und Sichtbarkeit in medialen Öffentlichkeiten zu verbinden. Untersuchungen zu der Frage, wessen Sichtbarkeit historisch gewachsene, sozio-ökonomisch und medienkulturell etablierte wie medienpolitisch regulierten Anerkennungsnormen und -ordnungen durchlaufen kann und wessen Stimmen im digitalen Stimmengewirr auch öffentlich gehört, öffentlichkeitswirksam verbreitet werden (zur Bedeutung von Listening in Medienkulturen vgl. Dreher 2009, 2010) und damit gesellschaftliche Resonanzen auszulösen vermögen (zur Diskussion um Anerkennung und Resonanz vgl. auch Rosa 2016), sind ohne die Berücksichtigung der in medientechnologische wie medienpolitische Infrastrukturen eingelassenen mediatisierten kommunikativen Praktiken wenig aussagekräftig. Untersuchungen, die an solche Überlegungen anschließen, werden angesichts der Heterogenisierung und Hybridisierung in Gesellschaften und den politischen Kräften, die diese Entwicklungen umzukehren versuchen, von besonderer Bedeutung: Sie können einen Beitrag leisten zur Bearbeitung der von Silverstone (2008: 59) formulierten medienethischen Frage, welche Verantwortung für Medien aus diesem neuen »medialen Erscheinungsraum« erwachsen. Wir haben gezeigt, welche Pionierarbeit hier bereits geleistet worden ist. Diese sollte dazu anregen, die vor allem durch feministische und postkoloniale Theorie getragenen Konzeptualisierungen von Anerkennung und Sichtbarkeit in Medienkulturtheorie und -analyse weiterzuführen: Dazu gehört auch, wie Johanna Schaffer im Anschluss an insbesondere Peggy Phelans betont, Überlegungen zur Sichtbarkeit als ›Falle‹ aufzunehmen; Sichtbarkeit ruft auch »Überwachung und das Gesetz auf« (Phelan 1993: 6, zit. n. Schaffer 2008: 56). Die von diesen Überlegungen getragene Einsicht in den Doppelaspekt von Unterwerfung und Subjektwerdung in Anerkennungsprozessen einerseits und die Ambivalenzen von Sichtbarwerden als emanzipatorischem und zugleich normierendem, kon-
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trollierendem und überwachendem Akt andererseits ermöglichen es, die Verstrickung und Begrenzung durch Normen und symbolische Ordnungen wie Strukturen der kapitalistischen Produktionsweise sichtbar machen. Sie können damit auch zum Ausgangspunkt werden, sich dagegen wehren zu können, »nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert zu werden« (Foucault 1992: 12). Mit der Digitalisierung von mediatisierter Kommunikation haben Möglichkeiten der Kontrolle und Überwachung durch und in der Sichtbarkeit neue, medientechnologisch bedingte Qualitäten erhalten, die zunehmend problematisiert werden (vgl. z. B. Blas 2015). In der staatlichen wie supranationalen Überwachung im Kontext neuer Sicherheits- und Grenzregime, wie sie die Europäische Union in den vergangenen Jahren aufgebaut hat, werden diese Fragen ebenso virulent wie in den Kontrollsystemen durch global agierende Konzerne wie Apple, Microsoft u. a. Die eingesetzten Technologien verunmöglichen einen Schutz vor Sichtbarkeit und befördern ein Ausgesetztheit einer Verletzbarkeit, wie sie durch Politiken und Gesetze manifestiert wird. Die Konsequenzen – etwa für die Arbeit in NGOs und soziale Bewegungen (vgl. Freudenschuss im vorliegenden Band) – sind bislang nur vereinzelt und häufiger in künstlerischen als in wissenschaftlichen Arbeiten adressiert worden. Anerkennung und Sichtbarkeit können als Konzepte neue Perspektiven für eine medienethisch wie gerechtigkeitstheoretische Forschung eröffnen. Ziel ist, nicht nur nach den Möglichkeiten ermächtigender, entkategorialisierender Bilder und Repräsentationen zu fragen – Anerkennung ist vielmehr eine »ambivalente Praxis« (Balzer 2014: 18), die es auch und gerade für (politisches) Handeln in mediatisierten Medienkulturen zu reflektieren gilt.
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aus feministischer Sicht. In: Elisabeth Klaus/Ricarda Drüeke/Martina Thiele (Hg.): Kommunikationswissenschaftliche Geschlechterforschung als kritische Gesellschaftsanalyse. Bielefeld: transcript (i. Dr.). Thomas, Tanja/Krotz, Friedrich (2008): Medienkultur und Soziales Handeln: Begriffsarbeiten zur Theorieentwicklung. In: Tanja Thomas (Hg.): Medienkultur und soziales Handeln. Wiesbaden: VS Verlag, S. 17-42. Tomlinson, John (1999): Globalization and Culture. Cambridge: Polity. Tuchman, Gaye (1978): Introduction. The Symbolic Annihilation of Women by the Mass Media. In: Gaye Tuchman/Arlene Kaplan Daniels/James Benet (Hg.): Hearth and Home: Images of Women in the Mass Media. New York: Oxford University Press, S. 3-38. Tully, Melissa (2013): Conflict Resolution and Reconciliation through Recognition. Assessing an Integrated Peace Media Strategy in Kenya. In: Journal of Applied Communication Research, 42. Jg., H. 1, S. 41-59.
Kosmopolitismus, Anerkennung und Sichtbarkeit – postkoloniale und feministische Ansätze zur Konturierung einer kritischen Medienkulturforschung Kaya de Wolff / Lina Brink »Thus cosmopolitanism is always situated, something that is sometimes unrecognised by its theorists.« (Yuval-Davis 2005: 168)
Die globale Sichtbarkeit für das Leid entfernter Menschen sowie für ihre politischen Kämpfe wirft in medien- und kommunikationswissenschaftlichen Stu dien die zentrale Frage auf, was aus einer so entstehenden »mediated proximity« (Tomlinson 1999) folgt oder folgen kann und inwiefern mit ihr neue Formen einer mediatisierten Anerkennung von entfernten ›Anderen‹ verbunden sind.1 Diese Fragen zum Verhältnis von Sichtbarkeit und Anerkennung stehen auch im Mittelpunkt von Debatten um Kosmopolitismus in Medienkulturen. Angesichts gesellschaftlicher Transformationsprozesse, wachsender globaler Ungleichheit und Migrations- und Protestbewegungen hat der Begriff Kosmopolitismus in den 1990er Jahren – vor allem in sozialwissenschaftlichen Theo rien – eine auffällige Konjunktur erlebt (vgl. für einen Überblick Vertovec/ Cohen 2002; Delanty 2006). Thematisiert wird in aktuellen Perspekti vierungen insbesondere die Notwendigkeit, sich mit den Auswirkungen vielfacher, über lokale und nationale Kontexte hinausreichender neuer Verbindun1 | Der Begriff des ›Anderen‹ ist in kosmopolitischen Ansätzen zwar nicht essentialistisch gemeint, allerdings bleibt problematisch, dass die Andersheit der Anderen in der Regel von einem westlichen Standpunkt aus thematisiert wird und die eigene ›Andersheit‹ aus dem Blick gerät. Aus diesem Grunde verwenden wir in diesem Beitrag die Schreibweise mit einfachen Anführungszeichen, um eine selbstreflexive Position einzunehmen und auf die Wechselseitigkeit von Konstruktionsprozessen zu verweisen.
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gen in einer mediatisierten Welt zu beschäftigen.2 In dieser Hinsicht wurde Kosmopolitismus auch als eine Alternative zu jeglichen exkludierenden Politiken begrüßt (vgl. Yuval-Davis 2005: 167). Trotz all ihrer Diversität besteht ein gemeinsamer Nenner kosmopolitischer Ansätze darin, dass sie sich überwiegend affirmativ auf eine Offenheit gegenüber globalen ›Anderen‹ beziehen und damit letztlich die Möglichkeit einer politischen globalen Ordnung betonen, die alle Menschen als Bürger_innen umfasst (vgl. Holton 2009: 2). Verbunden ist damit die Hoffnung auf eine gerechtere Welt, wie etwa Robert J. Holton (ebd.: 83) betont: »A major normative feature of cosmopolitanism is the hope that war, racism and global injustice can be effectively countered through some kind of over-arching human solidarity (…).« Allerdings – so kritisiert etwa Nira Yuval-Davis (2005: 167) – argumentieren manche Vertreter_innen kosmopolitischer Entwürfe normativ und reflektieren häufig ihre eigene Situiertheit nicht. Dadurch laufen sie Gefahr, die Diskriminierungs- und Ausschlussmechanismen ihrer Konzeptualisierungen zu übersehen. Ausgehend von einer solchen Kritik ist es ein Anliegen dieses Beitrags, Kosmopolitismus, Anerkennung und Sichtbarkeitsverhältnisse aus postkolo nialer und feministischer Perspektive zu reflektieren. Daran anschließend wollen wir Anknüpfungspunkte entsprechender Ansätze für empirische Medienanalysen aufzuzeigen. Die Hauptkritik in der Diskussion kosmopolitischer Zugänge richtet sich auf machttheoretischen Defizite; eine präzisierende Thematisierung gesellschaftlicher Ein- und Ausschlussmechanismen und rassifizierender und vergeschlechtlichter Repräsentationslogiken, wie wir sie für eine kritische Medienkulturforschung erforderlich erachten, bleibt somit meist aus. Wir wollen jedoch zeigen, dass Berührungspunkte zwischen kosmo politischen Ansätzen und theoretisch-politischen Projekten wie den Postcolonial Studies und feministischer Kritik bestehen und ein weiterführender Austausch durchaus produktiv insbesondere für Analysen zum Verhältnis von Anerkennungsordnungen und Subjektivierungsweisen in Medienkulturen sein kann. Im Folgenden gehen wir zunächst auf Ansätze eines neuen kritischen Kosmopolitismus ein, die sich von frühen Debatten um Kosmopolitismus als normatives Projekt abgrenzen. Aus postkolonialer und feministischer Perspektive wird sowohl früheren als auch neueren Kosmopolitismen eine mangelnde Selbstreflexion attestiert, die wir anschließend erörtern. Über diese Kritik hinaus zeigen wir drei Aspekte auf, die postkoloniale und feministische An2 | Mit Holton (2009: 77ff.) ist in diesem Zusammenhang kritisch anzumerken, dass auch die von Beck so bezeichnete ›erste Moderne‹ nicht ausschließlich lokal oder natio nal orientiert gewesen sei und die Historie – auch medienvermittelten – kosmopolitischen Alltagshandelns nicht unterschätzt werden darf.
Kosmopolitismus, Anerkennung und Sichtbarkeit
sätze als erweiternde Problematisierungsperspektive für aktuelle Debatten um Kosmopolitismus fruchtbar machen. Insbesondere ermöglicht eine solche Erweiterung, Verhältnisse von Sichtbarkeit und Anerkennung in gegenwärtigen Medienkulturen (kritisch) analytisch zu befragen. Anhand von zwei Fallstudien der Presseberichterstattung in Deutschland – zum einen zu Auseinandersetzungen um die Anerkennung des Herero-Genozids (1904–1908) und zum anderen um die Anerkennung protestierender Frauen 2011 in Ägypten – werden wir exemplarisch demonstrieren, welche Einsichten ein solcher Ansatz in der empirischen Analyse journalistischer medialer Diskurse eröffnen kann. Beide Untersuchungen nehmen eine postkoloniale und feministische Perspektive auf mediale Repräsentationen und Anerkennungsverhältnisse ein und beleuchten dabei zwei verschiedene Aspekte: Zum einen geht es darum, ob und wie global entfernte ›Andere‹ mit ihren Forderungen in hegemonialen Öffentlichkeiten medial sichtbar werden und zum anderen, wie diskursive Normen eine Anerkennung medial sichtbarer global entfernter ›Anderer‹ strukturieren. Eine Verknüpfung von kosmopolitischen Ansätzen und post kolonialer sowie feministischer Kritik erweist sich in diesen Untersuchungen als fruchtbar, um sowohl die ermächtigenden als auch entmächtigenden Elemente globalisierter Medienkulturen bzw. transkultureller Öffentlichkeiten in den Blick zu nehmen. In den Schlussbetrachtungen fassen wir die Potentiale einer solchen Herangehensweise zusammen und formulieren weitere Desiderata für empirische, gesellschaftstheoretisch fundierte Untersuchungen zu Anerkennung und Sichtbarkeit in gegenwärtigen Medienkulturen.
S ituierte K osmopolitismen oder K osmopolitismus situieren Wie etwa Gerard Delanty (vgl. 2006: 26) betont, waren frühe Auseinandersetzungen mit dem Kosmopolitismusbegriff in der Politischen Philosophie beheimatet; soziale Prozesse und insbesondere gesellschaftliche Machtverhältnisse wurden nicht oder nur am Rande berücksichtigt. Unterschieden wurden einerseits moralisch und ethisch (aktuell u. a. Nussbaum 1997) und andererseits institutionell sowie rechtlich-politisch (aktuell v. a. Held 1994) orientierte Kosmopolitismen (vgl. auch Köhler 2006: 24).3 In beiden Ausprägungen wurden diese auf Antike und Aufklärung zurückgehenden Verständnisweisen insbesondere aufgrund ihrer Verankerung in einem westlich geprägten Universalismus kritisiert. Denn die Werte, die im Namen einer kosmopolitischen Ordnung als 3 | Diese Trennung muss jedoch als eine analytische verstanden werden, da beide Ausrichtungen eng miteinander verwoben sind und Kosmopolitismus als übergeordnetes normatives Ziel ihrer Überlegungen setzen (vgl. Holton 2009: 21).
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universal behauptet wurden, wurden meist von einem hegemonialen Standpunkt aus definiert, der von einer Weißen, männlichen und westlichen Norma lität ausgeht (vgl. Reilly 2010: 8). Marginalisierte Gruppen wurden dadurch systematisch von einer solchen Ordnung ausgeschlossen und der Blick auf globale Ungleichheiten verdeckt (vgl. Gilroy 2013; van der Veer 2002; Yuval-Davis 2005; s. auch Ehrmann 2009). Wenngleich sich neuere sozialwissenschaftlich konturierte Ansätze von politisch-philosophischen Kosmopolitismen abgrenzen, ist auch mit diesen Entwürfen die Hoffnung auf eine positive Veränderung der Beziehungen zwischen Menschen weltweit verbunden, die sich jedoch in einem veränderten ethischen Anspruch ausdrückt. Es geht in diesen Ansätzen weniger um die Erörterung von Kosmopolitismus im Sinne eines politischen Projektes, sondern vielmehr um die – theoretische als auch empirische – Auseinandersetzung mit alltäglichem Kosmopolitismus (Vertovec/Cohen 2002: 5) oder Kosmopolitisierung (Beck 2002) und damit auch um deren mögliche Auswirkungen auf Einstellungen und Handlungen von Menschen. Dieser neue oder kritische Kosmopolitismus richtet sich zudem auf eine Ausgewogenheit zwischen Universalismus und Partikularismus und interessiert sich auch für eine Pluralisierung von Bezügen zwischen lokaler und globaler Ebene in Medienkulturen und deren Folgen (vgl. Beck 2003: 16f.). Darüber hinaus besteht ein zentraler ethischer Anspruch in der Forderung nach Anerkennung von Differenz in Form einer »Anerkennung der Andersheit der Anderen« (Köhler 2006: 38). Ähnlich argumentiert auch Delanty (2006: 27), der eine Offenheit gegenüber der Welt als zentrales Element eines kritischen Kosmopolitismus beschreibt. Dabei stellt sich die Frage, wie diese Offenheit gegenüber Anderen verstanden wird und vor allem wie sie in empirischen Arbeiten analytisch gefasst werden kann. Delanty schlägt eine Unterscheidung in kulturelle, politische und moralische Dimensionen vor. Um die moralische Dimension von Offenheit analytisch zu fassen, benennt er (2009: 86) die affir mative ›Anerkennung der Anderen‹. Diese wird in neuen kosmopolitischen Ansätzen zu einem zentralen Indikator für einen Kosmopolitismus, der sich vor allem für die moralischen Folgen (bzw. Möglichkeiten) interessiert, die sich aus einer alltäglichen Kosmopolitisierung von Lebenswelten ergeben können. Sowohl für frühe wie auch für neuere »teilweise machtvergessene Diskurse« (Ehrmann 2009: 93f.) kosmopolitischer Ansätze werden aus postkolonialer Perspektive Forderungen nach einer verstärkten Selbstreflexivität erhoben, die wir im nächsten Schritt näher beleuchten wollen.
Kosmopolitismus, Anerkennung und Sichtbarkeit
K osmopolitische A nsät ze aus postkolonialer und feministischer P erspek tive Postkoloniale Kritik richtet sich zunächst auf die universalistisch geprägten frühen Kosmopolitismen: Peter van der Veer (2002: 165) betont mit Blick auf den »kolonialen Kosmopolitismus« der Europäischen Aufklärung, dass Kosmopolitismus als Weltsicht eng mit Nationalismus und westlichem Imperialismus verknüpft sei und somit innerhalb einer dezidiert »kolonialen Moderne« verortet werden muss, die sich durch eine enge Komplizenschaft von Universalismen auszeichnet. So zeigte sich insbesondere in der Kolonialzeit deutlich, dass universalistische Argumentationen gerade nicht mit einer Ermächtigung aller Menschen einhergehen, sondern auch Entmächtigungen legitimieren können. Mit Blick auf den »Universalismus der Menschenrechte und die Dialektik von Inklusion und Exklusion« (Ehrmann 2009: 85ff.) unter zieht auch Jeanette Ehrmann kosmopolitische Diskurse einer kritischen Revision aus postkolonialer und feministischer Perspektive. In Anlehnung an Spivak verortet sie die gegenwärtige Praxis einer globalen Menschenrechtspolitik seit 1948 »zwischen Subalternität und Transnationalität« (ebd.: 89). Diese sei vor allem problematisch, da sie weitere Grenzlinien zwischen dem Globalen Norden und Globalen Süden bestärke, nämlich unterteile in »jene, die Menschenunrechte erleiden, und jene, die deren Unrechte richten« (ebd.: 90). Eine derartige globale Menschenrechtspolitik könne leicht zum »Alibi« (Spivak 2010: 8) neokolonialer Politiken werden und asymmetrische (geopolitische) Machtkonstellationen stabilisieren. Auch Paul Gilroy (2013) kritisiert den Diskurs um Kosmopolitismus und verortet ihn ebenfalls im Kontext von europäischem Imperialismus. Gilroy bezieht sich dabei sowohl auf Kolonialismen zur Zeit des europäischen HochImperialismus als auch auf Neo-Kolonialismen in der politischen Gegenwart.4 Ebenso sind die neueren differenz-theoretischen kosmopolitischen Ansätze u. a. von Van der Veer hinsichtlich der in ihnen fortwirkenden westlichen Hegemonie kritisiert worden. Die Suche nach Differenz (Offenheit gegenüber kulturell ›Anderen‹) sei lediglich eine aktualisierte Version eines »kolonialen Kosmopolitismus« (colonial cosmopolitanism). Denn während das Problem der »kolonialen Andersheit« (Köhler 2010: 199) als Konstruktion zentrale Denk4 | Am Beispiel der aktuelleren neokolonialen (politischen) Diskurse in Großbritannien problematisiert Gilroy die ›kosmopolitischen‹ Diskurse der vermeintlich universellen Menschenrechte und des westlichen Humanitarismus (politischen Kosmopolitismus), die angesichts der Debatten um das Scheitern von ›Multikulturalismus‹ und des (Wieder-)Erstarken nationalstaatlich organisierter Grenz- und Sicherheitspolitiken (Terror, ›Flüchtlingskrise‹) zur Legitimation eben dieser Gewalt und Aufrechterhaltung geopolitischer Machtkonstellationen eingesetzt werden (vgl. Gilroy 2013: 112).
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figur postkolonialer Theorie und Kritik ist, behandeln viele kosmopolitische Entwürfe Differenz als »vorgegebenen Sachverhalt« bzw. als »essentielle Wesenheit« (ebd.: 194), kritisiert auch Köhler. Die Kritik an einer mangelnden Auseinandersetzung mit der diskursiven Hervorbringung der ›Anderen‹ kann auch für bestehende Studien zu Kosmopolitismus in Medienkulturen geltend gemacht werden. Neben der Beschäftigung mit einer alltäglichen, mediatisierten Kosmopolitisierung im Sinne der Wahrnehmung einer globalen Welt (vgl. Appadurai 1990; Szerszynski/Urry 2002) interessiert sich auch diese Forschung vor allem für die moralischen Implikationen der Begegnung mit Anderen über und in den Medien. Im Mittel punkt dieser Überlegungen steht die Frage: Inwiefern wirkt sich eine alltägliche Kosmopolitisierung der Medienkulturen auf die Offenheit gegenüber der Welt bzw. gegenüber globalen Anderen aus?5 Dabei wird in den wenigen empirischen Arbeiten die Möglichkeit einer mediatised recognition (Cottle 2006) oder eines mediatised cosmopolitanism (vgl. Robertson 2010) hervorgehoben. Silverstone problematisiert in diesem Zusammenhang, dass – auch bei seiner Forderung nach einer medialen »Gastfreundschaft« (Silverstone 2008: 210ff.) – nicht von einem Automatismus zwischen vermehrter globaler Sichtbarkeit und einer damit einhergehenden Anerkennung der Anderen ausgegangen werden dürfe. Damit mediale Repräsentation einen kosmopolitischen Beitrag leisten könne, sieht er die Notwendigkeit, eine »richtige Distanz« (ebd.: 78) einzuhalten, bei der vor dem Hintergrund einer gemeinsamen Zugehörigkeit zur Menschheit die Differenz der Anderen anerkannt wird (vgl. ebd.: 46). Andersheit versteht er dabei als eine wesentliche, gemeinschaftliche menschliche Erfahrung, die sowohl die Anderen als auch uns selbst betreffe. Nicht nur die mediale Anerkennung der Andersheit der Anderen, sondern auch unsere eigene Andersheit sei daher entscheidend, um Differenz als gleichwertig zu repräsentieren (vgl. ebd.: 62). Ein notwendiger Schritt in der Forschung zu Kosmopolitismus in Medienkulturen ist folglich, so betont auch Ong (2009: 463f.), bestehende mediale Repräsentationen empirisch zu analysieren und zu fragen, wer in solche anerkennenden Repräsentationen ein- und wer von ihnen ausgeschlossen ist, wem also mit Offenheit begegnet wird und wem nicht. Denn es besteht, wie Lilie Chouliaraki (2013: 279) deutlich macht, eine zentrale Herausforderung in der medialen Repräsentation von Mitgliedern des Globalen Südens in westlich dominierten Medien-Öffentlichkeiten: »There is, however, yet another barrier to voice – a symbolic barrier that reflects the profound misrecognition of the global South in a predominantly Western mediascape. Captured in Spivak’s (1988) pertinent question ›can the subaltern speak?‹, symbolic 5 | Vgl. den Überblick zu aktueller Forschung bei Ong 2009: 450.
Kosmopolitismus, Anerkennung und Sichtbarkeit misrecognition refers to the systemic inability of non-Western others to speak out and be heard in the trans-national flows of mediation.«
Mit Bezug auf Judith Butler (2009) betont Chouliaraki (2013: 268), dass nicht nur untersucht werden müsse, wem ›unsere‹ Anerkennung verwehrt bliebe, sondern auch, wie Anerkennung über bestehende Normen hierarchische Verbindungen zwischen dem Globalen Norden und Globalen Süden fixiere.
K osmopolitische M edienkulturforschung : A usgangspunk te für eine kritische K onturierung Wie bis hierhin bereits deutlich geworden ist, ist eine kritische Erweiterung kosmopolitischer Entwürfe notwendig; diese kann unserer Ansicht nach durch den Einbezug postkolonialer und feministischer Ansätze in empirischen Studien zu Kosmopolitisierung in Medienkulturen geleistet werden. Dabei sehen wir drei zentrale Aspekte, die Beachtung finden sollten: Hier folgen wir, erstens, den Überlegungen von Gayatri Chakarvorty Spivak zur (Un-)Möglichkeit subalterner Handlungsmacht, die sie in ihrem vielzitierten (und mitunter auch missverstandenem) Essay Can the Subaltern Speak? (2008 [1988]) dargelegt hat. Spivak selbst hat in einem späteren Gespräch verdeutlicht, dass es ihr stets zentral um die Dialektik von Sprechen und Hören gegangen sei: »›Die Subalterne kann nicht sprechen‹, das meint also, dass sogar dann, wenn die Subalterne eine Anstrengung bis zum Tode übernimmt, um zu sprechen, dass sie sogar dann nicht fähig ist, sich Gehör zu verschaffen – und Sprechen und Hören machen den Sprechakt erst vollständig.« (Spivak 2008: 127) In anderen Worten bedeute dies, dass »der subalterne Widerstand immer schon durch die hegemonialen Systeme der politischen Repräsentation gefiltert ist«, resümieren Castro Varela/Dhawan (2015: 198). Insoweit ziele Spivaks Aussage, dass die Subalternen nicht sprechen können, vielmehr darauf ab, dass »das Hören hegemonial strukturiert« (ebd.) sei. Zweitens schlagen wir einen kritischen Blick auf postkoloniale Differenzkonstruktionen – insbesondere Vorstellungen außereuropäischer Kulturen und nicht-westlicher Frauen – vor. Als zentral für die Legitimation und Festigung von Herrschaftsverhältnissen – gerade im deutschsprachigen und europäischen Raum – kann die von Said (1979) als »Orientalismus« bezeichnete Konstruktion eines als rückständig, im Gegensatz zum fortschrittlichen Westen, repräsentierten Orients gelten. Aus postkolonialer Perspektive ist nun aber nicht nur die Frage von Interesse, wie dieses Orientbild konstruiert wird, sondern gerade wie darüber eine okzidentale Norm (re-)produziert wird. Diese Umkehrung des forschenden Blickes zu einer Perspektive des kritischen Okzi-
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dentalismus (vgl. Dietze 2009) richtet das Interesse auf die Konstruktion des Eigenen als Normalität und hegemoniales Prinzip über das Andere. Drittens erscheint es uns ertragreich, die Überlegungen Judith Butlers zu Prozessen der Anerkennung als grundlegendem Element der Subjektwerdung aufzunehmen. Mit Spivak argumentiert Butler, dass Anerkennung etwas sei, was wir nicht nicht wollen können (vgl. Butler/Anthanasiou 2014: 110), auch wenn durch die Subjektivierung in einem Akt der Anerkennung gleichzeitig stets eine Unterwerfung unter die jeweils geltenden Normen der Anerkennbarkeit und die Rekonstruktion dieser Normen vollzogen würde.6 Die NichtThematisierung von deren Bedingungen in Forderungen nach oder Gewährleistungen von Anerkennung stellt auch in der Auseinandersetzung mit Kosmopolitismus, gerade aus postkolonialer und feministischer Perspektive, ein Desiderat dar, welches aufgrund der materiellen Folgen dieser Bedingungen nicht unterschätzt werden dürfe (vgl. ebd.: 126).7 Wir plädieren daher für eine kritische Auseinandersetzung mit Ambivalenzen globaler Sichtbarkeit und dem Anerkennungsbegriff an sich als normatives Ziel der Forschung zu Kosmopolitismus in Medienkulturen. Im Folgenden stellen wir zwei Fallstudien vor, entlang derer wir verdeutlichen, welche empirischen Untersuchungen die angestellten theoretischen Überlegungen ermöglichen.
Z wei F allbeispiele zur ambivalenten medialen R epr äsentation der (E ntschädigungs -)F orderungen indigener G ruppen und P rotestierender in Ä gyp ten in deutschen P resse -D iskursen In unseren Fallbeispielen konzentrieren wir uns im Folgenden auf journalistische Diskurse, da ›Massenmedien‹ – wie Silverstone u. a. gezeigt haben – potentiell eine Öffentlichkeit für global entfernte Andere herstellen. Methodisch orientieren sich die Studien, entlang derer exemplarisch und mit Blick auf die hier adressierten Herausforderungen einige Überlegungen und Ergebnisse vorgestellt werden sollen, am Programm der durch Reiner Keller (vgl. u. a. Keller 2011) geprägten Wissenssoziologischen Diskursanalyse. Diese stellt die diskursive Konstruktion von gesellschaftlichen Wissens- und 6 | »Subjekte werden durch Normen konstituiert, die in ihrer wiederholten Anwendung die Bedingungen erzeugen und verschieben, unter welchen Subjekte anerkannt werden.« (Butler 2010: 11). 7 | Eine wichtige, feministisch-marxistische Erweiterung des Anerkennungsbegriffes schlägt Nancy Fraser vor, die in ihrer Konzeption von sozialer Gerechtigkeit Anerkennung mit Umverteilung zusammen denkt (vgl. Fraser/Honneth 2003).
Kosmopolitismus, Anerkennung und Sichtbarkeit
Wirklichkeitsordnungen und ihre Legitimationen sowie die Rolle sozialer Akteur_innen und die Verteilung von Sprechpositionen ins Zentrum der Analyse. Wie wir zeigen werden, ermöglicht eine postkolonial und feministisch fundierte Perspektive einerseits, die strukturellen (Un)Möglichkeiten subalternen Widerstands in westlichen Medien-Öffentlichkeiten mit Blick auf die Zugangshürden und das Nicht-Gehört-Werden indigener Minderheitengruppen (wie den namibischen Herero) bei der Einforderung politischer Rechte zu untersuchen, sowie andererseits die Anerkennungs-Ordnungen in der medialen Repräsentation protestierender Frauen in Ägypten zu erhellen.
»N ot about us without us!«: D er mediatisierte A nerkennungsk ampf der H erero »Weil sie bei deutschen Regierungen kein Gehör fanden, versuchen Nachfahren eines von Truppen des wilhelminischen Kaiserreichs unterworfenen afrikanischen Stammes jetzt vor US-Gerichten, Entschädigung für Völkermord und Ausbeutung zu erstreiten.« (Spiegel, 24.9.01, S. 146)
Die folgende Diskussion basiert auf einer qualitativen Studie zur Berichterstattung um den gegenwärtigen erinnerungspolitischen Konflikt um die Anerkennung des Herero-Genozids. Die Untersuchung fragt danach, wie diese historischen Ereignisse und ihre Folgen vor dem Hintergrund der lauter werdenden Forderungen nach einer Entschuldigung und Entschädigung für erlittenes koloniales Unrecht im deutschen Presse-Diskurs verhandelt werden und wer an diesem diskursiven Aushandlungsprozess beteiligt ist. Seitdem Herero-Vertreter_innen im Jahr 2001 an einem US-Gericht eine Entschädigungsklage gegen deutsche Unternehmen und die deutsche Regierung eingereicht haben, hat der Konflikt um die Anerkennung der von deutschen Kolonialtruppen verübten Genozide an den Herero im damaligen Südwestafrika wachsende mediale Aufmerksamkeit erhalten. Damit wurde ein öffentlicher Diskurs über die deutsche Kolonialherrschaft hervorgebracht, die hierzulande in der dominanten Erinnerungskultur lange ›vergessen‹ bzw. verschwiegen wurde.8 Deutsche Zeitungen titelten Herero klagen auf Entschä8 | Wie u. a. Kößler (2015: 49ff.) zum Stichwort »post-koloniale Amnesie« darlegt, wurde die deutsche Kolonialvergangenheit in der offiziellen Erinnerungskultur nach Ende des Zweiten Weltkrieges lange verschwiegen. In diesem Zusammenhang führt der postkoloniale Theoretiker Kien Nghi Ha (2009: 105f.) aus, dass die kollektive Amnesie ein konsensuales Schweigen bezeichne, welches selbst »politischer Ausdruck des kollek
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digung wegen Völkermords (FAZ, 6.9.01, S. 1), Deutsch-Südwest: Hereros verklagen die Deutsche Bank (FAZ, 28.9.01, S. 22) oder Namibias Herero-Volk verklagt Deutsche Bank (SZ, 8.9.01, S. 22). Wie Dominik Schaller (2011: 271) treffend bemerkt, ist diese neue Sichtbarkeit an sich schon bemerkenswert, da indigene Gruppen selten solch eine mediale und akademische Aufmerksamkeit erlangen. Auch Reinhart Kößler (2015: 45) betont in seiner Studie zur deutschnamibischen Erinnerungspolitik, dass die Herero (wie auch andere indigene Gruppen) in diesem Setting lange lediglich marginalisierte Sprechpositionen einnehmen konnten. Mit ihrer Kampagne »Not about us without us!« protestieren Herero-Aktivist_innen – gemeinsam mit Vertreter_innen der Nama – gegen die exklusiven und intransparenten Verhandlungen der deutschen und namibischen Regierungen und fordern das Recht, direkt an den bilateralen Verhandlungen beteiligt zu werden, für sich selber sprechen zu dürfen und als souveräne Verhandlungspartner_innen gemäß völkerrechtlicher Standards anerkannt zu werden (vgl. ebd.: 306ff.). Die Berichterstattung macht die Forderungen der Herero hörbar und (re-)konstruiert den Anerkennungskampf, der in geografischer Ferne im nami bischen Parlament, in amerikanischen Gerichten und in zwischenstaatlichen Gesprächen hinter verschlossenen Türen verhandelt wird, in der bundesdeutschen Öffentlichkeit. Der mediale Diskurs kann somit auf erster Ebene als kosmopolitisch charakterisiert werden, aber weiter ist kritisch zu fragen, wie Vertreter_innen der Herero in der deutschen Presse als ›Andere‹ konstruiert werden, ob über diese Repräsentationen eine »richtige Distanz« (Silverstone) hergestellt wird und wer im medialen Diskurs wie sprechen darf. Mit Blick auf den deutschen Presse-Diskurs besteht die größte Herausforderung darin, dass innerhalb einer deutschen Leser_innenschaft kaum ein Wissen um die Verbrechen der deutschen Herrschaft in der ehemaligen Kolonie vorausgesetzt werden kann. So wird in journalistischen Artikeln meist ein kurzer historischer Abriss vorangestellt, in dem die ›Faktenlage‹ erläutert wird, angefangen mit der Information, dass das damalige Südwestafrika von 1884 bis 1919 unter deutscher Kolonialherrschaft gestanden habe und es dort Anfang des 20. Jahrhunderts zu zwei brutalen Kriegen gegen die indigene Bevölkerung kam. Dabei werden wissenschaftliche Arbeiten als ›Evidenzen‹ herangezogen; führende deutsche ›Afrika-Historiker‹ kommen namentlich und ausführlich zu Wort und stellen ein erforderliches kolonialgeschichtliches
tiven Gedächtnisses« sei und somit als Form einer »sekundären Kolonialisierung« verstanden werden können.
Kosmopolitismus, Anerkennung und Sichtbarkeit
Grundwissen als Orientierung bereit.9 Wenngleich die erklärten ›Experten‹ 10 überwiegend eine kritische Kolonialismus-Forschung vertreten und durchaus im Sinne der Klagenden argumentieren, bleiben sie oftmals in einem Fach-Diskurs und technischen Debatten verhaftet darüber, wie die Ereignisse historisch einzuordnen und die Forderungen entsprechend zu bewerten seien. Herero kommen hingegen selten selbst ausführlicher mit eigenen Stellungnahmen zu Wort und werden somit in die Rolle stummer und passiver Opfer verwiesen. Wo sie sichtbar werden, werden sie zudem – wie auch das Eingangszitat aus dem Spiegel veranschaulicht – als differente ›Andere‹ gekennzeichnet und dabei wird ein koloniales Überlegenheitsdenken (re-)produziert. Über die (erneute) Viktimisierung und Verstummung der Herero hinaus weisen Repräsentationsmuster im medialen Diskurs mitunter eine deutliche Kontinuität zu historischen kolonial-rassistischen Diskursen auf: Begriffe wie ›Stamm‹, ›Naturvolk‹ oder ›Nomadenvolk‹ verweisen die Kläger_innen in ein imaginiertes Kolonialreich und reproduzieren dazugehörige Binarismen (Europa vs. Afrika, zivilisiert vs. unzivilisiert usw.).11 Vertreter_innen der Herero werden in diesem Zusammenhang kaum als (gleichwertige) soziale Akteur_ innen anerkannt, die politische Rechte einfordern, sondern ungeachtet ihrer eigenen politischen Agenda als hilfsbedürftige globale Andere stilisiert – als »Minderheitsvolk«, das nun »auf deutsche Milliarden« warte oder »hoffe«, wie die Süddeutsche Zeitung titelte (SZ, 23.1.03, S. 9). Wie diese Beispiele ambivalenter Repräsentationsmuster zeigen, wird den Aktivist_innen kaum politische Handlungsmacht eingeräumt und durch den Rückgriff auf kolonial-rassistischen Differenzkonstruktionen ein asymmetrisches Verhältnis zwischen Vertreter_innen des Globalen Nordens und Globalen Südens hergestellt: Zum einen wird eine asymmetrische (neokoloniale) Beziehung entworfen, innerhalb derer die deutsche Regierung als Geberin erscheint, von der Hilfe ›erhofft‹ wird; zum anderen werden deutsche Wissenschaftler_innen als überlegene ›Anwält_innen‹ der Herero in den Vordergrund gerückt. Mit Spivaks (2010: 8) Worten lässt sich hier »von einer Art Sozialdarwinismus« sprechen, den sie in eine Linie stellt mit dem Diskurs um die ›Bürde des weißen Mannes‹: 9 | Vgl. z. B. Jürgen Zimmerers Gast-Kommentar Wir müssen jetzt krassen Terrorismus üben (FAZ, 2.11.02). 10 | Hier ›Experten‹ (plural maskulin), da es sich bei den Autoren ausnahmslos um männliche Historiker handelt. 11 | So wurde insbesondere auch Paramount Chief Kuaima Riruako, der als Urheber der Sammelklage von 2001 in vielen der ersten Berichte eine prominente Rolle besetzte, wahlweise als »Herero-Häuptling« oder »der oberste Häuptling« (beide SZ, 23.1.03, S. 9), »der Älteste der Herero« (FAZ, 6.9.01, S. 1) oder »Herero-König« (SZ, 13.6.07, S. 9) betitelt. Vgl. zur Dekonstruktion solcher kolonial-rassistischer Begrifflichkeiten etwa die Einträge in Arndt/Hornscheidt 2004.
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»[…] die Stärkeren müssen das Recht auf sich nehmen, das Unrecht der Schwächeren zu richten.« Oder wie Ehrmann (2009: 91) feststellt: »Indem politische Handlungsfähigkeit damit nur denjenigen zugestanden wird, die auf der privilegierten Seite der Transnationalität stehen, werden die EmpfängerInnen einer advokatorisch betriebenen Menschenrechtspolitik fortwährend als Opfer von Menschenunrechten objektiviert.« Diese hierarchischen Anerkennungsordnungen verdeutlichen abermals den erschwerten Zugang indigener Gruppen zu globalisierten Medien-Öffentlichkeiten sowie das Fortwirken kolonial-rassistischer Vorstellungswelten und deren diskursiven Ausschlussmechanismen. Die ambivalente mediale Repräsentation im deutschen Pressediskurs zeigt sich besonders im Rückgriff auf kolonial-rassistischen Sprachgebrauch und Stereotype, die die entindividualisierten Akteur_innen vorwiegend als objektiviertes Opferkollektiv sichtbar werden lassen, über dessen Schicksal verhandelt wird. Die Deutungshoheit liegt bei westlichen, Weißen, männlichen ›Experten‹, die sich in ihren Argumentationen vornehmlich auf europäische Quellen und Paradigmen beziehen. Wenngleich die Medien den Anerkennungskampf der Herero überhaupt sichtbar machen, so reproduzieren viele Artikel durch den Rekurs auf Fachdebatten nicht nur den Überlegenheitsanspruch europäischer Normen und die Hierarchisierung von akademischen Wissenschaften gegenüber populären Wissensformen (etwa oralen Erinnerungskulturen innerhalb der Herero-Gemeinschaften), sondern verschweigen auch deren eigene Situiertheit und Komplizenschaft bei der Aufrechterhaltung globaler Machtkonstellationen. Folglich kann eine »enge Verbindung zwischen dem Status der Subalternität und dem Schweigen« behauptet werden, wie Hito Steyerl (2008: 12) im Rekurs auf Spivak prägnant formuliert. Denn »[d]ie Ordnung des Diskurses erlaubt die Artikulation bestimmter Sachverhalte nicht, da sie selbst auf diesem Schweigen beruht.«
A nerkennungsordnungen und N ormen der A nerkennung »Ist das Bild von der unterdrückten, ins Private verbannten arabischen Frau eine europäische Projektion?« (taz, 1.6.11, S. 15)
Die Studie, auf die die folgenden Ausführungen rekurrieren, analysiert die Anerkennung protestierender Frauen und ihrer Forderungen im deutschen journalistischen Diskurs um Proteste in Ägypten zwischen 2011 und 2014. Dabei wird unter anderem die Anerkennung verschiedener Subjektpositionen in den Blick genommen, die beteiligte Frauen im Diskurs einnehmen (können). In diesem Abschnitt werden beispielhaft anhand der diskursiven Konstruk tion der Subjektposition ›Aktivistin‹ Normen von Anerkennbarkeit (vgl. Butler
Kosmopolitismus, Anerkennung und Sichtbarkeit
2010) aufgezeigt. Neben den Positionen ›gläubige Muslima‹, ›Feministin‹, ›Sorgende‹ und ›Opfer von Gewalt‹ ist es insbesondere die Position der ›Aktivistin‹, an der sich die Gleichzeitigkeit einer kosmopolitischen Öffnung gegenüber vergeschlechtlichen ›Anderen‹ und deren Unterwerfung unter die ›eigenen‹ Normen der Anerkennbarkeit verdeutlichen lassen. Gerade diese Normen rücken dabei im Sinne eines »kritischen Okzidentalismus« (Dietze 2009) in den Fokus der Analyse. Kontextualisiert werden können die im Diskurs kon stituierten Subjektpositionen innerhalb von Orient/Okzident-Konstruktionen, für die die Kategorie Geschlecht – welche in postkolonialen Ansätzen nach wie vor zu häufig ausgeblendet wird – eine zentrale Rolle spielt. Die Inszenierung einer unterdrückten, passiven und bedeckten orientalen Weiblichkeit lässt sich als wesentliches Vehikel der Konstitution einer als Gegenentwurf zu dieser konzipierten emanzipierten, freien und sichtbaren okzidentalen Weiblichkeit verstehen. Schon 1989 wies Helma Lutz mit Blick auf deutsche Diskurse darauf hin, dass die Hegemonie ›westlicher‹ Frauen über die Rückständigkeit orientalisierter Frauen konstruiert werde. Auch Dietze (2009: 237) hebt hervor: »Bilder und Selbstbilder ›unserer‹ Emanzipation benötigen sozusagen die tägliche Rekonstruktion der Unterdrückung und Rückständigkeit islamischer Frauen.« (Dietze 2009: 237) Die Proteste in Ägypten wurden – so verdeutlicht es das Eingangszitat aus die tageszeitung – sowohl im medialen als auch wissenschaftlichen Diskurs als Moment der Irritation tradierter (vergeschlechtlichter) Orient/Okzident-Repräsentationslogiken thematisiert: Das ›eigene‹ Bild der ›Anderen‹ werde hier in Frage gestellt und damit Raum für mediatisierte Anerkennung geschaffen. Im Kontext der Berichterstattung über die Proteste betonte daher etwa Chouliaraki die Möglichkeit eines »space of transnational recognition between ›them‹ and ›us‹« (Chouliaraki 2013: 276; ähnliche Überlegungen finden sich auch bei Cottle 2011). Die Subjektposition der ›Aktivistin‹ konstruiert Frauen als aktive Sprecherinnen, die politische Forderungen stellen und als emanzipiert, kämpferisch, mutig und stark dargestellt werden. Dabei werden unterschiedliche Merkmale hervorgehoben: Zum einen der individuelle Widerstand gegen (körperliche) Unterdrückung und zum anderen die Herstellung von Öffentlichkeit durch Frauen sowie deren Einsatz für politische Anliegen. Anerkennung erfolgt oft durch eine Verbindung dieser Elemente, wie das folgende Zitat verdeutlicht: »Auch um die Schriftstellerin Samia Serageddin hat sich eine Gruppe von Menschen versammelt und hört ihr aufmerksam zu. ›Ich bin gekommen, um zu zeigen, dass wir keine Angst haben und uns nicht einschüchtern lassen‹, sagt sie und formuliert klare politische Forderungen (…). Die Menschen um sie herum klatschen.« (taz, 10.2.11, S. 3) Zentral für die anerkennende Haltung sind hier der durch die Aktivistin formulierte Mut und eigene Widerstand, die Formulierung ›klarer politischer Forderungen‹ sowie deren Einbringung in und Anerkennung durch die Öffentlichkeit der
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klatschenden Menschen. Nicht nur in Einzelfällen, sondern auch allgemein werden Aktivistinnen als zentral für die anhaltenden Proteste gegen die Regierung gesehen. Betont wird zudem die Vereinbarkeit der Widerständigkeit und Emanzipation des Subjekts ›Aktivistin‹ mit dem Tragen eines Kopftuches: »Eman ist eine schmale, junge Frau mit großen Zielen: Geschlechtergerechtigkeit, demokratische Reformen, Rechtsstaat für alle hat sie sich auf die Fahnen geschrieben. Sie trägt ein Piercing in der Nase und ein Tuch auf dem Kopf, Eman lässt sich nichts diktieren.« (ZEIT online, 9.12.13) Hier zeigt sich ein Bruch mit tradierten Formen der Repräsentation orientalisierter Frauen: Sie werden als Subjekte anerkannt, durch ihr Sprechen und die Form ihrer Repräsentation erfolgt eine Belehnung mit Wert. Aus Sicht der oben beschriebenen Erweiterung durch postkoloniale Ansätze rückt in diesem Kontext jedoch die Frage nach den Normen dieser Anerkennung in den Mittelpunkt. Die Anerkennung im Rahmen der Subjektposition ›Aktivistin‹ erfolgt zunächst unter der Bedingung, dass Frauen sich individuell gegen ihre Unterdrückung auflehnen, dass sie entweder bürgerliche und politische Rechte oder individuelle Freiheitsrechte einfordern und ihr Widerstand sich insbesondere in der Herstellung von Sichtbarkeit zeigt, sei es durch die Anklage und Veröffentlichung von sexualisierter Gewalt, durch die Teilnahme an oder Dokumentation der Proteste oder durch Schilderungen der eigenen Lebenssituation in sozialen Medien. Hier zeigt sich in der individuellen Deutung von Emanzipation, der Fokussierung auf politische und Freiheitsrechte im Sinne der Aufklärungstradition und dem Ideal der Sichtbarkeit (vgl. u. a. Dietze 2009) eine Rekonstruktion westlicher Normen, die die Regeln der Anerkennbarkeit des Subjekts ›Aktivistin‹ prägen. Gleichzeitig erfolgt eine mediatisierte Anerkennung der ›Aktivistinnen‹ unter der Bedingung, dass Geschlechterungerechtigkeiten weiterhin als Problem der ›Anderen‹, nicht aber als globale Herausforderung eingeordnet werden. Die ›eigene‹ Position, von der aus Anerkennung ›gewährleistet‹ wird, wird damit auch als eine gedeutet, die sich von auf die Kategorie Geschlecht beziehender Ungerechtigkeit weitgehend befreit habe. Bedingt wird die Anerkennbarkeit der spezifischen Subjektposition ›Aktivistin‹ zudem durch ihre Einordnung in die übergelagerten Normen der Anerkennung von Frauen in ›westlichen‹ Aufmerksamkeitsräumen. Wie Angela McRobbie (2010) in ihren viel zitierten Überlegungen zu Top Girls ausführt, sind diese Räume unter anderem von Schönheit und Körperlichkeit oder individueller Aktivität und Professionalität geprägt. Die Betonung der Körperlichkeit als ›schmale, junge Frau‹ zeigt sich schon im ersten Zitat, Verweise auf »modisch gekleidete Ägypterinnen mit perfektem Make-up« und »rot lackierten Fingernägeln« (ZEIT 14.2.13, S. 13) und ähnliche körperliche Beschreibungen finden sich in fast allen Repräsentationen von Frauen wieder: »eine große Frau mit porzellanfarbener Haut und dunklen Augen« (Spiegel, 28.3.11, S. 54).
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Zudem wird die Professionalität von Frauen, insbesondere auch in einem globalen Kontext betont: »Mariam Kirollos, die beruflich für eine internationale Menschenrechtsorganisation recherchiert.« (taz, 14.2.13, S. 6) Mit der Anerkennung der Subjektposition ›Aktivistin‹ geht demnach eine Unterwerfung unter allgemeine Regeln der Anerkennbarkeit weiblicher Subjekte und spezifische Regeln der Anerkennbarkeit emanzipierter weiblicher Subjekte einher. Obwohl sich Brüche mit tradierten Repräsentationslogiken zeigen lassen und von einer mediatisierten Anerkennung ›Anderer‹ gesprochen werden kann, wird hier somit primär diskursiv ›das Eigene‹ und damit verbundene okzidentale Normen der Anerkennbarkeit weiblicher Subjekte und ihrer Widerständigkeit reetabliert.
E in A nerkennungsbegriff für kritische M edienkultur analysen Wie wir in der theoretischen Diskussion herausgestellt haben, öffnet eine postkolonial und feministisch fundierte Perspektive den Blick einerseits für gesellschaftliche Machtverhältnisse hinsichtlich der Bedingungen des Zugangs zu medialen Diskursen und Möglichkeiten der Intervention in transkulturelle Öffentlichkeiten; andererseits haben postkoloniale Studien aufgezeigt, dass es bei der Kritik von Repräsentationsregimen wesentlich darum geht, diese zu dekonstruieren und ihre Kontingenz aufzuzeigen (also nicht nur zu fragen: Wie werden die ›Anderen‹ dargestellt?, sondern Wie werden sie als ›Andere‹ konstruiert? und Wie wird das ›Eigene‹ in diesen Differenzkonstruktionen konstruiert?). In diesem Zusammenhang kann auch der Anerkennungsbegriff, der in kosmopolitischen Ansätzen zwar eine zentrale Rolle einnimmt und zugleich dabei aber meist vage bleibt, mit feministischen Theoretiker_innen für kritische Untersuchungen transkultureller Medien-Öffentlichkeiten aufgenommen und für empirische Studien produktiv gemacht werden. Die Untersuchung des öffentlichen Diskurses um den Anerkennungskampf der Herero demonstriert ausgehend von Silverstones Idee des »medialen Gastrechts« exemplarisch die Zugangshürden für die Artikulation subalternen Widerstands und verschiebt dabei den Fokus von voice in Richtung des Zuhören-Wollens und (Ver-)Schweigens seitens der dominanten Erinnerungskulturen. Mit Butler konnte in der zweiten Fallstudie zu Normen der Anerkennung und Subjektivierungsweisen im Kontext der Proteste in Ägypten gezeigt werden, dass nicht nur die ›Anderen‹, sondern auch die Anerkennenden konstruiert und positioniert werden in medialen Diskursen. Die von Mohanty diskutierte »diskursive Kolonisierung« von in diesem Fall orientalisierten Frauen zeigt sich dabei nicht nur in der Konstruktion unterworfener Opfer und damit der (Re-)Konstruktion binärer Oppositionen, sondern auch in Repräsentatio-
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nen von ermächtigten Frauen (»empowered womanhood«, Mohanty 2003: 528), in der scheinbar ›authentische‹ Stimmen repräsentiert werden. Insbesondere Spivak und Mohanty kritisieren, dass auch solche Repräsentationen zentral die eigenen Normen (re-)konstruieren, weswegen gefragt werden muss: »whose agency is being colonized?« (Mohanty 2003: 528) In beiden Fällen zeigt sich folglich das – insbesondere von Spivak viel diskutierte – Problem der Stellvertreter_innenschaft. Die Beispiele demonstrieren auch, dass Anerkennung nicht als Ziel, sondern als Strategie auf dem Weg zu materieller Umverteilung zu sehen ist (vgl. hierzu auch Bedorf 2010). Des Weiteren folgt aus diesen Befunden, dass in Medienanalysen Widersprüche, Brüche und Irritationen mit bestehenden Ordnungen fokussiert, aber auch nach Kontinuitäten und Verschränkungen alter und neuer Grenzziehungen gefragt werden sollte. Denn, wie Mogobe Bernard Ramose (2015: 243) – am Beispiel der ›Europäischen Integration‹ – deutlich macht, tragen solche vermeintlich inklusiven Politiken gleichermaßen zur Herausbildung neuer Beziehungen und Solidaritäten als auch zur (Re-)Produktion alter und neuer Ausschlüsse bei: »Der Kosmopolitismus baut deshalb gedanklich weiterhin auf Grenzziehungen auf, die einerseits Gemeinschaften konstituieren und andererseits ›die Anderen‹ ausschließen und auf Distanz halten.« Diese Grenzziehungen zeigen sich besonders deutlich im Falle der Forderungen der Herero zur Anerkennung (und Entschädigung) von Kolonialverbrechen; und selbst dort, wo eine Gleichheit suggeriert wird, wie das Beispiel protestierender Frauen in Ägypten zeigt, wird Anerkennung von Subjekten entlang bestimmter Normen, die westliche Hegemonien verfestigen, hervorgebracht. Nicht zuletzt ist somit ein intersektionaler Blick gefordert, der die Komplexität soziokultureller Phänomene erkennen lässt und gesellschaftliche Machtstrukturen in den Fokus rückt (vgl. Yuval-Davis 2010). Eine solche Perspektive auf komplexe machtvolle Interdependenzen und Verschränkungen – die sowohl symbolische als auch materielle Dispositionen in den Blick nimmt – ist für Untersuchungen in globalen Sichtbarkeitsarenen, die vermeintlich emanzipatorisches Potenzial bereitstellen, in besonderem Maße gefordert. Andernfalls läuft die Forschung zu Kosmopolitismus und Kosmopolitisierung in globalisierten Medienkulturen Gefahr, bestehende machtvolle Ordnungen und Ausschlussmechanismen zu rekonstruieren und diese damit zu festigen, statt sie in Frage zu stellen und auf ihre Veränderbarkeit hinzuweisen.
Kosmopolitismus, Anerkennung und Sichtbarkeit
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Ambivalenzen von Anerkennung und Sichtbarkeit
Ikonen einer neuen Freiheit? Das Frauenschwimmen und die Ambivalenzen seiner Sichtbarmachung in den USA zwischen den Weltkriegen Olaf Stieglitz
Im August 1918 erschien in der auflagenstarken und preiswerten Zeitschrift Physical Culture, dem Flaggschiff im Printimperium des umtriebigen Fitness Enthusiasten Bernarr Macfadden, ein mehrseitiger Artikel unter der Überschrift Learning to Swim is Easy (Corsan 1918). Obgleich der Erste Weltkrieg, nunmehr auch unter Einsatz von US-Truppen, weiter Opfer kostete, beschäftigten sich populäre amerikanische Magazine offenbar auch mit weniger dramatischen Themen. Doch der erste Eindruck trügt, denn der Beitrag hatte doch eine Menge mit dem Krieg zu tun. Das lag zum einen am Autor: George Corsan war so etwas wie der ›Schwimmlehrer der Nation‹. Als nationaler Koordinator für die Schwimmkurse der Young Men’s Christian Association (YMCA) gehörte es unter anderem zu seinen Aufgaben, Programme zu entwickeln, mit deren Hilfe Rekruten in den Trainingscamps der Armee das Schwimmen erlernen sollten; Sicherheit und Leistungsfähigkeit hunderttausender junger Männer hingen also nicht zuletzt von Corsans Kompetenzen ab. Zum anderen verwies Learning to Swim is Easy aber noch auf eine wichtige soziale Entwicklung der Kriegszeit. Schon lange vor dem Kriegseintritt der USA im April 1917 war die Diskussion um eine Ausdehnung der Bürgerrechte für Frauen, namentlich die Einführung des Wahlrechts auf Bundesebene, ebenso intensiv wie kontrovers debattiert worden. Der Kriegseintritt und die durch ihn bewirkte größere Präsenz und die erweiterten Einflussoptionen von Frauen in Institutionen und im Arbeitsleben setzte die alte Forderung der Frauenbewegung nun mit einem enormen zusätzlichen Gewicht auf die politische Agenda. Corsans Artikel konnte man als indirekten Beitrag zu dieser Diskussion verstehen. Einerseits adressierte der Text, eher ungewöhnlich beim Thema Sport zu dieser Zeit, ausdrücklich Männer und Frauen; Schwimmen war nicht nur einfach zu erlernen, es war dies auch, so der Autor, eine sinnvolle, nützliche und womöglich lebensrettende Praktik für alle Menschen, die aktiv am öffent-
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lichen Leben teilnahmen. Andererseits illustrierte die Redaktion den Beitrag mit insgesamt 15 Fotografien einer Schwimmerin und markierte damit eine sich wandelnde Selbstverständlichkeit von (jungen, Weißen) Frauen als Teil einer aktiven, körperlichen Freizeitkultur. Schwimmen, so wollte der Artikel unterstreichen, war sichtbarer Ausweis der öffentlichen Präsenz der ›new woman‹ (vgl. Dumenil 2016). Learning to Swim is Easy ist ein früher Indikator für eine Entwicklung in den Vereinigten Staaten, die ich im Weiteren aufzeigen, auffächern und analysieren möchte. Die gesellschaftliche Auseinandersetzung um die Anerkennung von Frauen als aktiver Teil der öffentlichen Kultur des Landes drehte sich immer auch um Fragen der politischen Partizipation im engeren Sinne, aber eine besondere Dynamik entwickelte sie zumeist bei Aspekten der Populärkultur und dabei vor allem dann, wenn sich die Kontroversen an weiblichen Körpern und ihren Praktiken abarbeiten konnte. Für die Jahre zwischen den Weltkriegen lässt sich das am Sport treiben insgesamt und beim Schwimmen im Besonderen sehr gut nachverfolgen. Wenn heute der athletische (Frauen-)Körper der öffentlich-selbstbewusst auftretenden Flapper-Girls so etwas wie die Visitenkarte der US-Moderne in den 1920er und 1930er Jahren repräsentiert,1 so darf das nicht darüber täuschen, dass die junge, sportliche, Weiße Frau in der Öffentlichkeit im Zentrum einer Kontroverse stand, in der über den Platz, die Rollen und Verantwortungen von Frauen in einer beschleunigten, immer urbaner sowie komplexer und heterogener werdenden Gesellschaft gestritten wurde (vgl. Dumenil 1995; Zeitz 2006). Die umfangreicher werdenden Möglichkeiten für Sport und Bewegungskultur in dieser Zeit boten dafür eine beinahe ideale Projektionsfläche, denn in ihnen wurden Geschlecht und damit intersektional verwoben Vorstellungen von ›Rasse‹, Klasse, Alter und Leistungsfähigkeit immer wieder aufs Neue performativ hergestellt. Sport und Bewegungskultur stellten massenhaft Körper in Bewegung zur Schau, und wo und wann werden Körper und deren Attribute deutlicher präsentiert, vermessen, kategorisiert, eingeordnet, ins Spiel gebracht, aufeinander losgelassen und gegeneinander ausgespielt, als im modernen Sport? In ihm werden sich bewegende Körper zur weithin sichtbaren und gesellschaftlich vermittelten Schnittstelle von ›Rassen-‹ und Geschlechterentwürfen, von Jugend und Alter, von Gesundheit und Krankheit, von Schönheit und Verworfenheit, von 1 | Flapper-Girls (oder Flappers) nannte man nach dem Ersten Weltkrieg junge Frauen, die aufgrund ihrer Kleidung und ihres öffentlichen Auftretens die gängigen Konventionen viktorianischer Weiblichkeit bewusst in Frage stellten. Kurze Röcke, kurze Haare, Alkohol- und Tabakkonsum – was als Trend unter lohnarbeitenden Teenagern begann wurde im Verlauf der von der Prohibition geprägten 1920er Jahre zur dominanten Mode der urbanen ›new woman‹. Vgl. Conor 2004 u. Zeitz 2006.
Ikonen einer neuen Freiheit?
individuellen wie kollektiven Selbst- und Fremdbildern (vgl. Green 1986; Rosoff 2006; Stieglitz 2013). Ich werde im Folgenden diese Konstellation am Beispiel des Frauenschwimmens in den USA zwischen den Weltkriegen diskutieren und mich dabei insbesondere unter Rückgriff auf Fotografien auf Aspekte der Sichtbarkeit sowie der Sichtbarmachung konzentrieren. Dabei soll den Fragen nachgegangen werden, welche Bilder vom Schwimmen kursierten, was auf ihnen zu sehen war, wer für ihre Verbreitung verantwortlich war, und welche unterschiedlichen Vorstellungen von geschlechtlich codierten Körpern in ihnen verhandelt wurden. Konzeptionelle Orientierung ziehe ich aus Ansätzen, wie sie Johanna Schaffer, Sigrid Schade und Silke Wenk vorgeschlagen haben; mir geht es mithin in erster Linie darum, die Bildpolitik der Zeit als machtstrategische, von zahlreichen Ambivalenzen durchzogene Auseinandersetzung um Anerkennung bzw. Verweigerung bestimmter Körper und ihrer Bewegungsformen zu analysieren (vgl. Schaffer 2008; Schade/Wenk 2011).
N icht mehr gegen den S trom – D er A ufschwung des F r auenschwimmens und die › ne w woman ‹ Schwimmen gelernt zu haben und den ›Sport‹ wenn möglich auch zu praktizieren – in den Jahren nach 1900 gehörte das immer mehr zum Selbstverständnis vieler Menschen in der Weißen US-Mittelklasse. »As a preventative of disease as well as an up-builder of the body and a moulder of form it stands without a rival among all the systems devised for the purpose of physical care and perfection. It is likewise a powerful agent for the development of the mind and will, as likewise the suppleness, activity and precision of the body in its action.« (Brown 1919: o.p.)
So formulierte es ein Lehrbuch aus den späten 1910er Jahren und unterstrich dabei vor allem die Nähe zwischen körperlicher Ertüchtigung und sowohl physischer wie mentaler ›Gesundheit‹. Ganz ähnlich charak terisierte es auch der mit seinen zahlreichen und viel gelesenen Büchern und Zeitschriften ebenso einflussreiche wie kontroverse Fitness-Unternehmer Bernarr Macfadden; für ihn war das Schwimmen »of great value, both as a means of physical development and as a health builder« (Macfadden 1915: 102; vgl. auch Adams 2009). Dieser Zusammenhang war vor allem für die wachsenden Teile der US-Bevölkerung zentral, die sich mit dem rasanten Anwachsen der Städte und dabei mit deren vermeintlich größer werdenden gesundheitlichen Risiken auseinandersetzen mussten.
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Schwimmen, das war erstens ein traditionelles Wissen, das man aus dem alten, ruralen Amerika in die Städte ›mitnehmen‹ konnte, auch weil diese Kompetenz dort, zweitens, angesichts der Risiken der beschleunigten Moderne, Leben retten konnte – Unfalltod durch Ertrinken galt als ein verbreiteter Schrecken (vgl. Sprawson 1992: Kap. VII). Die Zahlen variierten, zumeist gingen Autorinnen und Autoren aber davon aus, dass nur etwa 20 bis 25 Prozent der US-Bevölkerung schwimmen konnten (vgl. z. B. Dalton 1912: 17). Darüber hinaus wurde das Schwimmen zugleich, drittens, auch politisch aufgeladen. Die besten Ideale würden durch das Schwimmen angestoßen, hieß es in einem Handbuch aus den 1920er Jahren, »such as courage, self-confidence, leadership, a democratic spirit, good sportsmanship, self-sacrifice and heroic service. These ideals form a vital part of one’s training for citizenship« (Sheffield & Sheffield 1927: xii). Dies war vor dem Hintergrund der enormen Einwanderung in die Vereinigten Staaten zwischen 1890 und dem Ersten Weltkrieg bedeutsam: Das Schwimmen war auch Werkzeug sozialer Distinktion, es galt als eine Bewegungsform, die den meisten der so genannten ›neuen‹ Einwanderinnen und Einwanderer aus Süd- und Osteuropa nicht oder nur sehr unzureichend bekannt sei, und afroamerikanischen Menschen, die es nun ebenfalls in größeren Zahlen in die Metropolen des Nordens zog, wurde diese Kompetenz zumeist pauschal abgesprochen. Das hatte wenig mit Fakten zu tun, aber viel mit Rassismus und sozialem Ausschluss mit Hilfe eines Hygienediskurses. Dies lässt sich nicht zuletzt dadurch zeigen, indem man sich die quantitative Zunahme an Schwimmbädern auch unter räumlichen und sozialen Gesichtspunkten ansieht. Wie die meisten anderen Freizeitaktivitäten, war auch das Schwimmen um 1900 und danach enorm segregiert. Die vermeintliche ›Rassenzugehörigkeit‹ von Menschen spielte dabei eine Hauptrolle, nicht nur in den Südstaaten mit ihrem damals noch gänzlich intakten System der beinahe vollständigen ›Rassentrennung‹; auch in anderen Teilen der USA war es beispielsweise für afroamerikanische Menschen enorm schwer, Zugang zu einem öffentlichen Schwimmbad oder einem Badestrand zu bekommen. Darüber hinaus, das unterstreicht der Historiker Jeff Wiltse, konnten und sollten auch Männer und Frauen zumeist nicht gemeinsam schwimmen gehen (vgl. Wiltse 2007). Das sollte sich in den Jahren um den Ersten Weltkrieg herum langsam ändern, als der Zuwachs an kommerziellen Freizeitangeboten insgesamt das Zusammenkommen der Geschlechter im öffentlichen Raum beförderte (vgl. Wolcott 2012). Auch Mitglieder unterschiedlicher Klassen teilten sich bis dahin eher selten die gleichen Bäder oder Strände. In zahlreichen Städten entstanden seit den 1890er Jahren kommunale Schwimmbäder, meist in Innenstadtlagen und für die eher mittellosen Gruppen von Migrantinnen und Migranten gedacht; diese Einrichtungen dienten vor allem ›hygienischen Zwecken‹ und hatten wenig mit Sport oder Vergnügen zu tun – obgleich sich zeigen sollte, dass die Nutzerinnen und Nutzer mitunter durchaus
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eigensinnig mit den ihnen gebotenen Möglichkeiten umgingen, denn solche Sporteinrichtungen waren nicht selten Orte, an denen sich später die soziale Aufwärtsmobilität einer Gruppe zeigen sollte. Zur gleichen Zeit investierten private Sportvereine, oder auch der YMCA und deren Pendant für Frauen, der YWCA, massiv in ihre Sportinfrastruktur und dabei eben auch in Pools. Diese standen einer Mittelklasseklientel zur Verfügung und entwickelten sich rasch zum Motor für die weite Verbreitung des Schwimmens (vgl. Henne 2015). Eine große Rolle spielten auch die Hochschulen des Landes, an denen der Sport nunmehr in die dortigen physical education Programme Aufnahme fand und somit Teil einer als ›ganzheitlich‹ gedachten Ausbildung wurde. Dies galt unter anderem auch für die Frauencolleges wie beispielsweise Bryn Mawr oder Vassar; diese und andere Einrichtungen hatten einen wichtigen Einfluss dabei, das Schwimmen als Sport- und Freizeitaktivität sozial akzeptabel zu machen (vgl. Verbrugge 2012). In ihrer Überblicksdarstellung beschreibt Lisa Bier (2011) die Entwicklung des Frauenschwimmens in den Vereinigten Staaten als ein beständiges Ankämpfen gegen den Strom der öffentlichen Meinung. Das Bild verdeutlicht sehr schön, mit welchen Widerständen aktive sportliche Betätigung von Frauen (nicht nur) im Wasser lange Zeit konfrontiert gewesen war. Doch wurden die Verhältnisse zu Beginn des 20. Jahrhunderts komplexer; Sport und Bewegungskultur gewannen insgesamt auch für Frauen an Bedeutung, das konkrete Ausagieren wurde aber durch eine Reihe von Faktoren mit beeinflusst. So brachte etwa eine jüngere Generation von Lehrerinnen im wahrsten Sinne des Wortes Bewegung an die Schulen und Hochschulen der USA, und das Schwimmen war dabei oft ein wichtiger Bestandteil, auch und gerade für Mädchen und Frauen. Ihnen waren zwar weiterhin viele schweißtreibende und Körperkontakte provozierende Sportarten versperrt, doch das vermeintlich ›elegante‹, ›unangestrengte‹ Schwimmen stand ihnen offen, sogar in Wettkämpfen (vgl. Cahn 1994). Dieser Trend war aber jungen, Weißen Mitgliedern der Mittelklasse vorbehalten; afroamerikanische oder Frauen der Arbeiterklassen profitierten davon zunächst kaum oder gar nicht. Auch begann sich der medizinische Diskurs langsam zu liberalisieren. Physische Anstrengung und die Frage nach deren Auswirkungen auf den weiblichen Körper sowie seine als vorrangig eingeschätzte Aufgabe der Reproduktion wurden nicht zuletzt aufgrund des Einflusses der Eugenik und dessen Betonung von Leistungsfähigkeit in einer hierarchisch gedachten Gesellschaft anders aufeinander bezogen (vgl. Vertinsky 1990; Stanley 1996; Park 2007). Mit der zunehmenden Akzeptanz kommerzieller, von Männern und Frauen gemeinsam verbrachter Freizeitkultur in den Städten verloren darüber hinaus auch Sorgen um Moral und Anstand an Überzeugung, obgleich die Frage nach der ›richtigen‹, schicklichen Kleidung gerade beim Schwimmen noch lange Thema blieb. Mit der größeren Aneignung des öffentlichen Raums durch die ›neuen Frauen‹ wur-
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de das Schwimmen nicht allein mehr und mehr sichtbar, es wurde zu einem Symbol moderner US-Frauen.
E leganz und E rmächtigung , F reiheit und F remdbestimmung – A mbivalenzen der S ichtbarmachung im F r auenschwimmen In den Jahren nach 1900 wurde die Australierin Annette Kellermann (18871975) eine internationale Sportgröße. Schon im Alter von 15 Jahren gewann sie überregionale Titel im Schwimmen, und 1905 reiste sie nach Europa und schwamm in Flussrennen in London und Paris gegen männliche Konkurrenten. Als erste Frau versuchte sie – drei Mal und immer ohne Erfolg – den Ärmelkanal zu durchschwimmen. Anschließend ging sie in die USA, um dort Profisportlerin, Vaudeville Tänzerin und schließlich Hollywood Star zu werden (vgl. Gibson 2005; Capatano 2008). Doch zunächst wurden ihre Auftritte in den Vereinigten Staaten skandalisiert, denn obwohl das Schwimmen zu dieser Zeit eine der wenigen Sportarten war, in denen Wettkämpfe für Frauen erlaubt waren, erregte das öffentliche Zurschaustellen von als zu privat erachteten weiblichen Körperteilen – Beinen, zum Beispiel – nach wie vor mitunter Anstoß. Und so wurde Kellermann 1907 in Boston aufgrund des Vorwurfs von ›indecent exposure‹ verhaftet, denn sie hatte am Strand einen ihrer selbst entworfenen, einteiligen Badeanzüge getragen (vgl. Warner 2006). Gleichzeitig wurden ihr Körper und seine athletischen Bewegungen aber auch zum Objekt vermeintlich wissenschaftlicher Studien. Kellermanns Körper wurde zu einer beständigen Referenz im Streit der Expertinnen und Experten, ob und in wie weit denn ein sichtbar muskulöser Frauenkörper nicht viktorianische Schicklichkeitsstandards unterminiere oder nicht genau jene Bedingung sei, mit der das eugenische Bemühen um das, was man damals den ›Erhalt der aussterbenden weißen Rasse‹ nannte, geführt werden könne. In einem Bericht der New York Times stellte sich 1910 Dudley A. Sargent, ein Mediziner der Harvard Universität und Autor zahlreicher Bücher zum Thema Bewegungskultur, auf die Seite der Anhängerinnen und Anhänger Kellermanns und erklärte sie, angesichts der Proportionen ihres Körpers und ihrer überragenden Fitness, zur »Perfect Woman« (Sargent 1910). Die so Geehrte blieb nicht nur weiterhin aktive Schwimmerin, Buchautorin und Modedesignerin, sondern tanzte auch Ballett im Wasser, was dann auch Hollywood auf das Multitalent aufmerksam machte. In den 1910er Jahren spielte sie Hauptrollen in Produktionen mit Namen wie The Mermaid, Neptune’s Daughter oder Venus of the South Sea, womit die Ansicht ihres Körpers noch weiterverbreitet und kulturell wirkmächtiger wurde (vgl. Latham 1995).
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Durch Annette Kellermann erreichte das Frauenschwimmen in den USA eine völlig neue Dimension der Sichtbarkeit und gewann so auch an gesellschaftlicher Anerkennung. Kellermanns Erfolge und ihre Popularität waren eng an Strategien und Praktiken der Sichtbarmachung ihres Körpers gebunden – durch die Teilnahme an Wettkämpfen, durch das Auftreten an öffentlichen Badestränden, durch ihre Shows vor einem Publikum, das von Vaudeville eben gerade das Spektakel außergewöhnlicher Körper in Bewegung erwartete, durch Artikel, Werbeanzeigen und Kataloge, in denen ihr athletischer Körper in den selbstentworfenen Anzügen präsentiert wurde, und nicht zuletzt durch ihre Filme. Und wie sehr diese Ebenen der Sichtbarkeit miteinander verschmelzen konnten, kann man beispielsweise in Kellermanns eigenem Lehrbuch nachverfolgen, das sie 1918 auf den Markt brachte (vgl. Kellermann 1918). How to Swim war eines der ersten Schwimmanleitungsbücher von einer Frau für Frauen, und es wurde zu einem Bestseller. Das lag nicht zuletzt darin begründet, dass es mit und durch seine zahlreichen Abbildungen neben den basalen Techniken insbesondere Annette Kellermann, den Star, ins Bild setzte. Den Anfang machte eine Fotografie aus A Daughter of the Gods, ihrem bei der Veröffentlichung aktuellsten Film; es zeigt die Autorin bei einem kühnen Kopfsprung von einem Turm ins Meer. Im Anschluss an diese Demonstration von Mut und Gewandtheit enthielt das Buch weitere Actionaufnahmen aus den Filmen sowie eine ganze Reihe von Bildern, auf denen Kellermann ihre Bademode trägt, und die später auch immer wieder in den Anzeigen auftauchten, mit denen für ihre Produkte geworben wurde (Abb. 1). Aufnahmen vom eigentlichen Schwimmen fehlten im Buch, doch war das zu diesem Zeitpunkt auch noch Standard – Kameratechniken waren in der Regel dafür noch nicht ausgereift genug oder ihre Verwendung war schlicht noch zu kostspielig. Zur Repräsentation von Bewegung im Wasser verließ sich How to Swim auf Zeichnungen, die aber neben ihrem Nutzen als Schautafeln jeweiliger Schwimmstile vor allem darauf setzten, Kellermanns sportlichen Körper und den modernen Schwimmanzug anzupreisen (Abb. 2). Die Popularität Annette Kellermanns stand am Anfang eines Sichtbarmachungsbooms athletischer, namentlich schwimmender Frauenkörper in den USA, doch während die Sportlerin, Künstlerin und Geschäftsfrau Kellermann zumindest größtenteils die Kontrolle über ihr eigenes Bild in der Öffentlichkeit behielt, wurden die visuellen Strategien und ihre Bedeutungszusammenhänge in der Folge unübersichtlicher. »One of the weirdest of the many phenomena attendant upon the American sport scene is the worship […] accorded to lady swimmers«, wunderte sich der Sportkolumnist Paul Gallico, und er beobachtete, dass sie »have been photographed, biographed, feted, pursued by millionaires, popped into the movies, lionized, and […] glorified, beyond all bounds of sanity and reason.« (Gallico 1936)
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Abbildung 1: Annette Kellermann, How to Swim. New York: George H. Doran, 1918, zwischen S. 48-49.
Abbildung 2: Annette Kellermann, How to Swim. New York: George H. Doran, 1918, S. 136.
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Gegen Ende der 1910er Jahre war es sowohl technisch möglich als auch preiswert genug, regelmäßig Fotografien in Büchern und Zeitschriftenartikeln abzudrucken, und namentlich die Märkte für illustrierte Magazine und ausgiebig bebilderte Anleitungsbücher explodierten förmlich nach dem Ersten Weltkrieg. Neben Hollywood war es vor allem auch die Welt des Sports, die dafür sorgte, dass Bilder athletischer Körper in Bewegung zu einer Plattform in der Auseinandersetzung um Modernevorstellungen wurden. Quantitativ dominierten dabei weiter Fotografien von männlichen Sportlern, und so wurde beispielsweise der Olympiaschwimmer (und spätere Tarzan-Darsteller) Johnny Weissmuller neben dem Schauspieler Douglas Fairbanks zur populärsten Projektionsfläche einer veränderten, modernen Männlichkeit, die gerade auch durch sichtbar gemachte Körperlichkeit akzentuiert wurde – die Werbeaufnahmen etwa, die von Weissmuller für Bademoden und Unterwäsche angefertigt wurden, waren oftmals auch erotisch aufgeladen (vgl. Pendergast 2000; Dyreson 2008). Doch obgleich diese Bildpolitik mehrheitlich männliche Athleten und deren physische Leistungsfähigkeit in den Blick nahm, spielten auch Frauenkörper darin nunmehr eine weitaus größere Rolle als zuvor. Und neben der Flugpionierin Amelia Earhart sowie dem Tennisstar Helen Wills waren es in erster Linie erfolgreiche junge Wassersportlerinnen, die nunmehr in großer Zahl in Magazinen, Büchern oder auch auf den Leinwänden in den Wochenschauen zu sehen waren. Ethelda Bleibtrey, Gertrude Ederle, Ethel Lackie, Georgia Coleman, Eleanor Holm und andere wurden in oft umfangreichen und üppig illustrierten Features porträtiert und die Bilder ihrer trainierten Körper dienten zum einen dazu, junge, Weiße, körperbetonte Weiblichkeit als wichtigen Teil einer modernen US-Öffentlichkeit anzuerkennen. Zum anderen waren diese Abbildungen aber auch zumeist in hohem Maß sexualisiert, und viele zeitgenössische Texte verbanden ihre Argumente von den ›neuen, erfolgreichen Frauen‹ ausdrücklich mit einer visuell unterstrichenen Betonung von ›sex appeal‹ als bedeutsamen Bestandteil dieser modernen Weiblichkeit. Ein dichtes visuelles Arrangement verband also das Frauenschwimmen aktiv mit Schönheitsvorstellungen, Modekonsum und physischer Attraktivität. Wenn Business Girls Should Swim for Better Posture, um die Überschrift eines weiteren Artikels aus Physical Culture zu zitieren, dann sollten sie dies als Konsumentinnen und als vielversprechende ›dates‹ tun (vgl. Macfadden 1937). Diese Bildpolitik setzte sich bis hinein auf die Seiten vermeintlich ›objektiver‹ Lehrbücher fort. Besonders charakteristisch konnte man diese Verknüpfung in den preiswerten und ungemein weit verbreiteten Handbüchern aus dem Haus des Sportartikelherstellers Albert G. Spalding nachvollziehen, damals Marktführer bei Sportzubehör und Sportbekleidung, aber auch was illustrierte Anleitungsbücher anging (vgl. Levine 1985, Kap. 5). Im vorderen Teil eines Buches mit dem Titel Swimming for Women (Handley 1928) konnte man so etwa Bewegungsstudien von kraulschwimmenden Frauen betrachten, deren
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Abbildung 3: Louis de Breda Handley, Swimming for Women. Preliminary and Advanced Instruction. Competitive Swimming, Fancy Diving and Life Saving. New York: American Sports Publishing Company, 1928, ohne Seitenzahl.
modische Badeanzüge im hinteren Teil in ganzseitigen Anzeigen beworben wurden (Abb. 3). Ähnliche Beispiele häuften sich nunmehr, und in wenigen Jahren wurden Aufnahmen mit Bildmotiven Standard, die vor dem Weltkrieg noch höchst problematisch oder gar unmöglich gewesen wären. Schon Mitte der 1920er Jahre schwamm eine Person ins Zentrum dieser Aufmerksamkeit und auch in diesem Fall ist zu beobachten, wie nicht zuletzt das Zusammenspiel unterschiedlicher Medien die Debatten um weibliche Körperlichkeit und Leistungsfähigkeit verdichtete. Gertrude Ederle (1905-2003), Tochter einer deutschstämmigen Familie aus New York, galt als Schwimmwunderkind und brach bereits als Teenager zahlreiche Rekorde. Allerdings blieben ihre Erfolge bei Olympischen Spielen2 – im Schwimmsport damals wie heute die wichtigste Bühne für Popularität in einer breiteren Öffentlichkeit – eher bescheiden und sie wechselte daher 1926 ins Profilager mit dem Ziel, als erste Frau den Ärmelkanal erfolgreich zu durchschwimmen. Anders als bei 2 | Seit den fünften Spielen 1912 in Stockholm gehörten Schwimmwettkämpfe für Frauen zum olympischen Programm.
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ihrem Vorbild Annette Kellermann war Ederles imagepolitischer Gestaltungsspielraum begrenzt, gerade auch was die Bildgebung anbelangte. Sie selbst oder auch ihre Familie hatten nicht die finanziellen Mittel, um in ihr Projekt zu investieren, und so übergab sie ihr Management in die Hand der New Yorker Boulevardzeitung Daily News, die neben ihrem Sensationsjournalismus insbesondere für ihre Vorreiterrolle bei der umfangreichen Nutzung tagesaktueller Fotografien bekannt war. Die Zeitung organisierte und vermarktete Ederles Rekordversuch und sie sicherte sich dazu auch umfassende Bildrechte an ihrer Person (vgl. Dahlberg 2009). Im August 1926 schwamm Gertrude Ederle tatsächlich als erste Frau von Cap Gris-Nez in Nordfrankreich über den Kanal an die englische Küste, und sie tat dies schneller als alle Männer vor ihr; ein Resultat, so meinten Viele, ihrer herausragenden Meisterschaft der noch immer neuen und oft als spektakulär beschriebenen Kraultechnik. Aus der ohnehin schon recht bekannten Schwimmerin wurde ein Superstar, der später in ihrer Heimat New York mit einer Konfettiparade gefeiert werden sollte. Die Visualisierungen ihres Körpers und seiner Bewegungen im Wasser waren dabei vielschichtig und changierten zwischen Bewunderung, Anerkennung und (wenn auch selten) Ablehnung. Die Daily News nutzte ihr besonderes Verhältnis zu Ederle durch eine exklusive Blitzberichterstattung vom Schwimmereignis in Europa; die Redaktion hatte zusammen mit der Athletin ein Team von Fotografen entsandt und sorgte dafür, dass Bilder vom Start, vom Verlauf der Überquerung sowie vom Empfang in England über Nacht mit Hilfe fortgeschrittener Übertragungstechnologie in New York zur Verfügung stand, um rechtzeitig in den nächsten Ausgaben des Blattes gedruckt werden zu können. Die Bilder zeigen eine gut gelaunte, junge, muskulöse Frau, die zuversichtlich ins Wasser steigt, um mehr als 14 Stunden später erschöpft, aber erfolgreich wieder an Land zu kommen. Vielfach wurde betont, dass es gerade Einwanderinnen der zweiten Generation waren, die mit diesen Tugenden ausgestattet den Sport als Sprungbrett für soziale Aufwärtsmobilität zu nutzen wussten (vgl. Borish 2006). Dieser Eindruck änderte sich, als einige Tage später Aufnahmen der Kanalüberquerung in den Wochenschauen zu sehen waren; hier dominierten Anblicke von Anstrengung und Entbehrung, obgleich die Zeitungen wie die Zwischenüberschriften der Wochenschauredaktionen das Augenmerk auf den Triumph richteten. Eine weitere, wenn auch nur vereinzelt wahrgenommene Modifizierung erfuhr das öffentliche Bild Ederles, als einige Wochen nach der Kanalüberquerung Fotografien debattiert wurden, die ebenfalls von Daily News Fotografen gemacht worden waren (Abb. 4). Sie zeigten die Athletin vor ihrem Start, ihr Körper war – wie beim Langstreckenschwimmen insbesondere im Meer üblich – mit einer schützenden Fettschicht eingecremt. Standen diese Abbildungen zuerst für die Ernsthaftigkeit und die Entschlossenheit Ederles, so wurden sie nunmehr geschlechtlich umcodiert und gaben Anlass zu einer Diskussion um
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Abbildung 4: Gertrude Ederle, 26. August 1926, Getty Images, New York Daily News Archive Collection, 97288164.
Abbildung 5: Gertrude Ederle, Vanity Fair, September 1925, S. 63; Foto v. Albert B. Schlafke.
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die Grenzen weiblichen Sporttreibens (z. B. Grahame 1926). Breite Schultern und die ›Verunstaltung‹ durch die Fettschicht signifizierten für einige (ausschließlich männliche) Kommentatoren eine unangemessene Maskulinisierung von Frauenkörpern, die nicht allein Schönheitsideale und Anstand in Frage stellten, sondern auch grundlegende medizinische Fragen wieder aufwarfen. Obgleich nicht untypisch für die immer wiederkehrenden Versuche, das Geschlecht und oftmals damit zusammenhängend auch die Sexualität von Sportlerinnen in Frage zu stellen, blieb diese Argumentation im Zusammenhang mit der Berichterstattung rund um Gertrude Ederle eher randständig. Vor dem Hintergrund wird aber auch eine weitere visuelle Adressierung von Ederles Körper wichtig, welche sich als hegemonial durchsetzen sollte. Hochglanzmagazine wie beispielsweise Vanity Fair, vergleichsweise teuer und eindeutig an ein Weißes, urbanes, gebildetes Mittelklassepublikum gerichtet, verbanden Körperdarstellungen von Athletinnen nun ganz bewusst mit künstlerischen Merkmalen (Abb. 5). Dabei wurde die Sexualisierung weiblicher Körper mit ästhetischen Mitteln vorangetrieben und normalisiert, sie wurde so zum Ausweis einer modernen Weltoffenheit und eines Liberalismus, der als amerikanische Moderne weltweit wirkmächtig werden sollte, in all seinen positiven wie negativen Begleiterscheinungen und Wahrnehmungen. Junge, Weiße, weibliche Sportlichkeit, das verhießen die Bilder von Ederle und anderen Athletinnen, war ins Zentrum des Selbstverständnisses eines urbanen, modernen Amerikas gerückt, allerdings zu einem hohen Preis – bei aller neu erworbenen Anerkennung verlor das Versprechen politischer Emanzipation und sozialer Gleichberechtigung an Gewicht. Die enge Koppelung athletischer Weiblichkeit mit den politischen Zielen der Frauenbewegung, die in den Jahren um den Ersten Weltkrieg herum noch prägend sowohl für die Bildpolitiken des Frauensports ebenso wie für die umlaufenden Texte gewesen war, hatte sich in einer zunehmend kommerziellen Zwängen unterworfenen Medienlandschaft der Zwischenkriegsjahre rasch beinahe gänzlich aufgelöst.
I konen der F reiheit & I konen des B egehrens – ein F a zit Seit den späten 1910er Jahren, so formulierte es der US-Sporthistoriker Mark Dyreson, wurden junge, Weiße Frauen in die ›Republik des Sports‹ integriert: »As women’s sports boomed during the 1920s, American culture transformed female athletes into icons of liberty. At the same time, American culture also transformed female athletes into objects of desire.« (Dyreson 2003: 438; vgl. auch Welky 2008) Diese ambivalente Form von Anerkennung war einerseits eng an politische Entscheidungen und Entwicklungen gekoppelt, sie war Teil einer populärkulturellen Bestärkung und Untermauerung neu erkämpfter politischer und sozialer Rechte, sie war Ausweis einer gewollten aktiven Rolle von
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bestimmten Frauen und ihrer körperlichen Selbstbestimmung im Projekt der US-amerikanischen Moderne als Modell für den ›demokratischen Westen‹. Zugleich war sie andererseits von Beginn an eng verwoben mit einer beschleunigten Kommerzialisierung und Sexualisierung der Geschlechterverhältnisse, die nicht selten quer zum demokratischen Ideal oder ihm sogar entgegenliefen. Visuelle Medien und Politiken der Sichtbarmachung spielten dabei eine sehr wichtige Rolle, das wollte dieser Beitrag am Beispiel des Frauenschwimmen in den USA zwischen den Weltkriegen verdeutlichen. Der Eintritt von Frauen in die ›Republik des Sports‹ gestaltete sich aufgrund der gesellschaftlichen Segregation der Vereinigten Staaten ohnehin sehr ungleichgewichtig und begünstigte junge, Weiße Mitglieder der urbanen Mittelschicht. Doch auch diesen in vieler Hinsicht privilegierten Frauen gelang es nur zeitweise und nur vereinzelt, die Sichtbarmachung dieses Prozesses selbstbestimmt mit zu gestalten. Bildagenten waren oftmals andere Personen, welche die Anerkennung athletischer Weiblichkeit in die westliche Moderne anders interpretierten als entlang politischer Ideale im engeren Sinne. Sportliche Frauenkörper waren in dieser Lesart in erster Linie nicht in Bewegung, um ein politisches System zu erneuern (obgleich das als Argument freilich immer mit unterstrichen wurde), sondern um hegemoniale Modernevorstellungen sowohl nach innen wie nach außen attraktiv und konsumierbar zu machen. Dabei waren eigensinnige, rebellische oder auch widerständische Praktiken und deren Repräsentationen nicht ausgeschlossen, aber doch erschwert und verkompliziert – Macfaddens Magazin Physical Culture mit seinen häufig aus Zuschriften von Leserinnen und Lesern basierten Beiträgen bietet hierfür ein interessantes Beispiel, das unter diesem etwas veränderten Blickwinkel noch zu selten beleuchtet worden ist (vgl. Stieglitz 2017). Insgesamt ging es diesem Beitrag darum, einige Interventionen der kritischen Studien zur visuellen Kultur in ihrer Bedeutung zu unterstreichen. Die konsequente Historisierung der visuellen wie textuellen Strategien der Sichtbarmachung ebenso wie der Ignorierung (nicht-Weißer, nicht-bürgerlicher) Frauenkörper in den Kontext der USA im frühen 20. Jahrhundert verhindert, sich allzu leicht vom Eindruck einer vermeintlich unmittelbaren Verständlichkeit von Bildern täuschen zu lassen. Stattdessen müssen »Prozesse der Produktion, der Rezeption, der Wahrnehmung, der Zirkulation, der Tradierung, des kulturellen Austauschs und der kulturellen Differenzen als Elemente der gesellschaftlichen und subjektiven Bedeutungs- und Werteproduktion und als Gegenstände der Analyse ernst genommen werden« (Schade/Wenk 2011: 8). Zugleich zeigt sich auch die anhaltende Relevanz des historischen Arguments, denn die zunehmend engere Verzahnung von Leistungs- wie Freizeitsport mit Diskursen und Praktiken der kommerzialisierten (Selbst-) Optimierung gewann in den USA zwischen den Weltkriegen zum ersten Mal erkennbar Dyna-
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mik und Breitenwirkung. Es wird bedeutsam sein, bei der kritischen Debatte gegenwärtiger Tendenzen die aktive Rolle von Bildpolitiken bewusst mit in Rechnung zu stellen.
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Arm und (un-)sichtbar? Kritik stereotyper Fernseh-Vorführungen Martina Thiele
Wenn es um Armut und prekäre Lebensverhältnisse als Medienthema geht, belegen Studien einerseits, dass Armut ein ›Un-Thema‹ ist und höchstens anlassbezogen berichtet wird. Die von Armut betroffenen Menschen bleiben unsichtbar, ihre Schicksale, mehr noch aber die Ursachen von Armut wie Reichtum werden nicht thematisiert (vgl. Malik 2010; Arlt/Storz 2013). Andererseits ist aber auch ein Trend zu mehr medialer Sichtbarkeit von Armut und prekären Lebensverhältnissen erkennbar. Ausgelöst wurde er vor allem durch privatkommerzielle Fernsehsender, die in Reality TV-Formaten arme Menschen vorführen. Möglich wären hier auch andere Formulierungen: ihnen eine Stimme geben, Öffentlichkeit für ihre problematische Situation herstellen, sie sichtbar werden lassen. Damit ist das Problem umrissen, um das es im vorliegenden Beitrag geht: Die Sichtbarmachung von Armut. Statt aber nach Quantitäten und damit nach dem Umfang, dem Zuviel oder Zuwenig der Berichterstattung zu fragen, interessiert, wie im Fernsehen Armut präsentiert, inszeniert, stereot ypisiert wird. Was für eine Art von Sichtbarkeit wird dadurch hergestellt? Solche Fragen erfordern eine Auseinandersetzung mit Stereotypen und dem Prozess der Stereotypisierung, mit Klasse, Klassenstereotypen und Klassismus sowie mit der bisherigen Forschung zu Armut als Medienthema. Anhand eines aktuellen Beispiels, der Sendung Hartz und herzlich (RTL2), wird dargelegt, welche »Ambivalenzen der Sichtbarkeit« (Schaffer 2008) durch Scripted Reality-Formate entstehen und wie »Klassenproduktion« (Seier/Waitz 2014) medial vonstatten geht. Dabei wird weniger von einer realistischen Position aus argumentiert, die mehr Realitätsadäquanz einfordert, als von einer sozialkonstruktivistischen, die das »Zu-Sehen-Gegebene« (Schade/Wenk 2011) und Formen des medialen Klassismus hinterfragt.
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K l assenstereot ype und K l assismus Stereotype beruhen auf Kategorisierung, Vereinfachung und Verallgemeinerung. Es handelt sich bei ihnen um individuelle und sozial geteilte Meinungen über die Merkmale der Mitglieder einer sozialen Gruppe. Diese Merkmale sind mit positiven oder negativen Wertungen verbunden. Kategorisierungen und Einteilungen in soziale Gruppen sowie Zuschreibungen von Eigenschaften führen also zu Stereotypen (vgl. Thiele 2015). Stereotype sind aber nicht nur, wie Walter Lippmann bereits 1922 definiert hat, »Bilder in unseren Köpfen« (Lippmann 1998), sie sind nicht nur Kognitionen, sondern können auch als Text im weitesten Sinne, als sprachliche und bildliche Aussage, materialisiert werden. In Medientexten finden sich häufig Stereotype. Ihre Verwendung begründen Inhaltsproduzent_innen zumeist funktionalistisch mit ›Komplexitätsreduktion‹, Erhöhen der Verständlichkeit, Ermöglichen einer raschen Dekodierung (vgl. Thiele 2015: 60ff.), zuweilen auch mit Ironie. Eine weitere Funktion von Stereotypen ist, dass sie zur Identitätsbildung beitragen. Sie erzeugen in Abgrenzung zu einer zuvor definierten ›Outgroup‹ ein Ich- und ein Wir-Gefühl bei den Mitgliedern der ›Ingroup‹. Diese Inklusions- und Exklusionsprozesse finden bei allen Stereotyparten und damit auch bei Klassenstereotypen statt. In marxistischer Tradition ist Klasse als politische und ökonomische Kate gorie entscheidend für die Analyse von Macht in kapitalistischen Gesellschaften. Als sozialstatistischer Begriff fasst Klasse Menschen in ähnlicher sozioökonomischer Lage zusammen. Zwar schien im Zuge der Etablierung von Schichtmodellen und daraus resultierenden Einteilungen in Ober-, Mittel-, Unterschicht, in soziale Milieus und Lagen, der Klassenbegriff teilweise überholt (vgl. Thien 2015), doch sprechen für ein Festhalten am Klassenbegriff weiterhin existierende und sich global wie lokal verschärfende Unterschiede, was Macht in Form von Besitz und Vermögen, aber auch Zugang zu Bildung, Entwicklungschancen, Lebensqualität und kulturelle Teilhabe anbelangt. Neben Klasse, Schicht, Lage etc. etabliert sich unter Bezugnahme auf Michel Foucault und Judith Butler das Prekäre als Bedingung und Effekt von Herrschaft in der politisch-philosophischen und soziologischen Diskussion. Als weiterführend erweist sich hier die Unterscheidung zwischen drei Dimensionen des Prekären, die Isabell Lorey (2011) trifft. Sie differenziert zwischen Prekärsein als nicht-individuelles, relationales und sozialontologisches »MitSein«; Prekarität als »Ordnungskategorie […], die mit Prozessen des Othering einhergeht« und gouvernementaler Prekarisierung, die ermögliche, »die komplexen Wechselwirkungen eines Regierungsinstruments mit ökonomischen Ausbeutungsverhältnissen sowie Subjektivierungsweisen in ihrer Ambivalenz zwischen Unterwerfung und Ermächtigung zu problematisieren.« (Lorey 2011: o. S.)
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In engem Zusammenhang mit Klasse und Klassenstereotypen steht der Begriff Klassismus, der zur Bezeichnung von Diskriminierung aufgrund tatsächlicher, zugeschriebener oder vermuteter Klassenzugehörigkeit (vgl. Kemper/Weinbach 2009: 47) und in Analogie zu anderen ›-ismen‹ verwendet wird. Wie sexism, racism oder ageism ist die Rede von classism zuerst im angelsächsischen Sprachraum üblich gewesen, inzwischen liegen auch auf deutsch Publi kationen zu Klassismus (vgl. Kemper/Weinbach 2009; Baron/Steinwachs 2012; siehe Bibliographie bei Kemper 2016: 23) vor. Aufschlussreich sind die Erweiterungen, die der Klassenbegriff, der der Klassismus-Kritik zugrunde liegt, dort erfährt. So schreibt Heike Weinbach für ein Themenheft der feministischen anschläge: »Bei Klassismus geht es immer auch um Aberkennungsprozesse auf kultureller, institutioneller, politischer und individueller Ebene, etwa indem Rechte und Rechtsansprüche verweigert, Lebensweisen und Wertvorstellungen nicht anerkannt und nicht sichtbar werden. Der Klassenbegriff, der der Klassismus-Kritik zugrunde liegt, bezieht sich auf den ökonomischen Status als Grundkategorie, wird aber als veränder- und erweiterbar gedacht.« (Weinbach 2014: o. S.)
Zudem werden Klasse und Klassenstereotype in den neueren Publikationen vermehrt aus intersektionaler Perspektive betrachtet. Klassenstereotype sind jedoch im Vergleich zu Nationen- und Geschlechterstereotypen diejenigen, denen in der deutschsprachigen Stereotypenforschung und speziell in der Kommunikations- und Medienwissenschaft bislang kaum Aufmerksamkeit geschenkt wurde (vgl. Thiele 2015: 378f.). Und auch in den im Umfeld der britischen Cultural Studies entstandenen Studien spielen Klasse und Klassen stereotype trotz der Fokussierung auf ›race, class, gender‹ eine nachrangige Rolle, was z. T. damit erklärt wird, dass sich Forscher_innen von orthodoxmarxistischen Deutungsweisen absetzen wollten, wonach Kultur lediglich als ›Überbau‹ und Medienrezeption als passives Konsumieren betrachtet werde (vgl. Marchart 2008: 195f.; Klaus 2015).
F orschung zu A rmut in den M edien Ebenso wie Klasse und Klassenstereotype sind mediale Repräsentationen von Armut und Reichtum selten Thema kommunikations- und medienwissenschaftlicher Studien. Doch hat das deutsche Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) in Vorbereitung auf das für 2010 ausgerufene ›Europäische Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung‹ eine Studie Zum Umgang der Medien mit Armut und sozialer Ausgrenzung in Auftrag gegeben. Ziel der Studie war, so die Autorin Maja Malik (2010), durch Medieninhaltsanalysen
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die formalen und inhaltlichen Merkmale der Berichterstattung über Armut und Ausgrenzung zu erfassen und Journalist_innen zu befragen, welche Faktoren für diese Art der Berichterstattung ausschlaggebend sind. Zwar gibt es deutliche Unterschiede je nach Medientyp und redaktionellem Konzept, doch bestätigen die Aussagen der befragten Journalist_innen, dass sie sich bei der Auswahl der Themen vor allem auf einzelne Ereignisse konzentrieren, die ihnen einen konkreten Berichterstattungsanlass bieten. Insbesondere Themen, die eine Nähe zur Lebenswelt des Publikums aufweisen und die als aktuell gelten, werden für die Berichterstattung ausgewählt (vgl. Malik 2010: 6). 2013 untersuchten Hans-Jürgen Arlt und Wolfgang Storz im Auftrag der Rosa-Luxemburg Stiftung, warum Reichtum für Journalist_innen eine ›Blackbox‹ darstellt und über Armut, wenn sie denn überhaupt thematisiert wird, stereotyp und »portioniert« (d. h. einzelne, armutsbetroffene Gruppen wie Rentner_innen oder Alleinerziehende werden herausgehoben) berichtet wird. Eine Ursache sehen die Autoren in den Bedingungen journalistischen Arbeitens und der sozialen Herkunft der Journalist_innen. Sie würden die Chancen der Pressefreiheit nicht nutzen und sich »eigenständige, von den Systemen der Wirtschaft und Politik unabhängige Themen- und Positionssetzungen erlauben.« (Arlt/Storz 2013: 93) Neben diesen inhaltsanalytischen Studien, die die Berichterstattung verschiedener Medien untersuchen, gibt es kultur- und medienwissenschaftliche Publikationen, in denen z. B. Marktlogiken in Lifestyle-TV und Lebensführung (Thomas 2008), die Debatte über das sogenannte ›Unterschichtenfernsehen‹ (vgl. Klaus/Röser 2008; Waitz 2009; Waitz 2014) oder einzelne Formate wie In der Schuldenfalle (Voglmayr 2012), Teenager-Mütter (Voglmayr 2015), Familien im Brennpunkt (Steinwachs 2015) oder Wir leben im Gemeindebau (Voglmayr 2018) analysiert werden. Zusammengeführt werden Einzelstudien und verschiedene Ansätze zur Theoretisierung medialer wie sozialer Inklusion und Exklusion in dem Band Klassenproduktion. Fernsehen als Agentur des Sozialen (Seier/Waitz 2014). Darin findet sich auch eine umfassende Aufarbeitung der ›Unterschichtenfernsehen‹-Debatte (Waitz 2014). Sie ist aus kommunikationsund medienwissenschaftlicher Sicht aufschlussreich, u. a. weil diejenigen, die den Begriff eingebracht haben – der Entertainer Harald Schmidt, der Historiker Paul Nolte, der Publizist Walter Wüllenweber oder der SPD-Politiker Kurt Beck – eine Gleichsetzung von Medienangeboten und -inhalten, im Fernsehen sichtbaren Personen und Rezipient_innen vornehmen, die einer empirischen Prüfung nicht standhalten würde. Die Kritiker_innen des ›Unterschichtenfernsehens‹ treffen gerade auch bezüglich der Medienausstattung und -nutzung extrem stereotype und stigmatisierende Aussagen und greifen dabei auf das »in hohem Maße common-sense-gesättigte Stereotyp des lethargischen, seine Misere selbst verschuldet habenden declassé« (Hark 2007: 153) zurück. Letztlich geht es um die Demonstration sozialer wie kultureller Überlegenheit,
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was Thomas Waitz in der Erkenntnis zusammenfasst: »Unterschichtenfernsehen ist immer und zu aller erst, ex negativo, die phantasmatische Erschaffung, Behauptung und Verteidigung eines aus gutem Grund namen- und konzeptlos bleibenden ›Mittelschichtenfernsehen‹.« (Waitz 2014: 31) Entsprechend ließen sich in der aktuellen Debatte über ›Qualitätsfernsehen‹ und speziell ›Qualitätsserien‹ Anzeichen erkennen, dass auch sie auf Distinktionswünschen gründet. Wie speziell das Fernsehen Klassenstereotype und Klassismus (re-)produziert, soll im Folgenden nach einigen definitorischen Bemerkungen zu Reality TV und Scripted Reality am Beispiel der 2016 von RTL2 ausgestrahlen Sendung Hartz und herzlich verdeutlicht werden.
F ernsehen und S crip ted R e alit y Fernsehen ist an der Herstellung und Verbreitung wirkmächtiger Bilder von Klasse entscheidend beteiligt. Insbesondere bei Formaten, die als dokumentarisch und faktenbasiert gelten, etwa Nachrichtensendungen, Reportagen und Dokumentationen, nehmen Zuschauer_innen an, dass ihnen ein realistisches, wahrheitsgemäßes Bild ›der‹ Wirklichkeit vermittelt wird. Auch das sogenannte Reality TV sieht sich in der Tradition wirklichkeitsnaher, dokumentierender TV-Formate; in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit RealityTV wurden aber von Beginn an der Hybridcharakter des Formats aufgrund der Vermischung von Fakten und Fiktionen sowie die Vielfalt innerhalb der »Genrefamilie« (Klaus/Lücke 2003) betont. Zur Familie zählen auch Scripted Reality-Formate. Das sind »fiktionale oder zumindest stark fiktionalisierte Unterhaltungsformate […], in denen LaiendarstellerInnen (Amateure) einem vorgegebenen Drehbuch (›script‹) folgend in Orientierung an ihrem eigenen (aussermedialen) Habitus, Charakter und Milieu und in teilweise freier sprachlicher Form alltagsnahe Geschichten darstellen (›reality‹), die mit dokumentarischen Gestaltungsmitteln und in der Ästhetik von nonfiktionalem RealityTV präsentiert werden.« (Klug/Schmidt 2014: 110)
Scripted Reality ist vergleichsweise preiswert und darf ›billig‹ ausschauen. Das verstärkt gerade beim Thema Armut den Eindruck des Authentischen. Durch den Einsatz schlecht bezahlter Laiendarsteller_innen und das Drehen ›vor Ort‹, ohne besondere Ausstattung, bleiben die Produktionskosten gering. Insgesamt scheint sich der Rückgriff auf etablierte Erzählmuster und Klassenstereotype zur Inszenierung von Prekarität für RTL2 zu lohnen, doch hat das privat-kommerzielle Genre auch Kritik, u. a. die der öffentlich-rechtlichen Konkurrenz, hervorgerufen. Im NDR-Politmagazin Panorama wurden in der Sendung vom 07.07.2011 Scripted Reality-Sendungen als »Lügenfernsehen«
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bezeichnet 1, was sich im Zuge der aktuellen Debatte über fake news, Journalismus und Wahrheit und dem von Rechtspopulist_innen erhobenen Vorwurf der ›Lügenpresse‹ für ›die‹ Medien nicht unproblematisch ist. Denn möglicherweise unterscheiden Zuseher_innen weder ausreichend zwischen Realität und Fiktion, noch zwischen öffentlich-rechtlichen und privat-kommerziellen Sendern, sondern beurteilen einfach nur ›das Fernsehen‹ und ›die Medien‹ insgesamt. Die Auseinandersetzung über Scripted Reality hat schließlich dazu geführt, dass vom Verband Privater Rundfunk und Telemedien (VPRT) 2014 »Leitlinien für die Kennzeichnung und deren Wahrnehmbarkeit bei Scripted Reality-Formaten«2 formuliert worden sind. Dabei handelt es sich aber lediglich um freiwillige Verhaltensgrundsätze. Erfolgreicher im Sinne von Aufklärung und Kritik scheinen da Aktionen wie #verafake, bei der das Team um Neo Magazin Royal-Moderator Jan Böhmermann Darsteller in die RTL-Sendung Schwiegertochter gesucht geschleust hat, die danach über die Inszenierung von Realität und das bewusste Vorführen ›seltsamer Typen‹ berichten konnten. Neben medienethischen und -ökonomischen hat Scripted Reality erneut Fragen nach möglichen Wirkungen sowie der Realitäts-Fiktions-Unterscheidungskompetenz der zumeist jugendlichen Zuseher_innen aufgeworfen (vgl. Schenk/Gölz/Niemann 2015; Ziegler/Jandura/Dohle 2016). Letztere ist nicht besonders ausgeprägt: 30 % der Zuseher_innen der RTL-Sendung Familien im Brennpunkt meinten, dass Realität dokumentiert wird, 48 %, dass manches vielleicht nachgestellt ist, es sich aber um wahre Begebenheiten handelt, und nur 22 % erkennen, dass es ein erdachtes Format ist, für welches Laiendarsteller_innen eingesetzt werden (vgl. Götz 2012: 6f.). So stellt das auch als factual entertainment bezeichnete Genre aufgrund seiner Ästhetik und narrativen Struktur, der fließenden Übergange zwischen Fakten und Fiktionen, Information und Unterhaltung, Inszenierung und Abbildung eine Herausforderung für die kommunikations- und medien wissenschaftliche Forschung dar. Hinzu kommt, dass in Sendungen wie Hartz und herzlich mit dem Thema Prekarität ein von Journalismus und Kommunikationsw issenschaft vernachlässigtes Thema aufgegriffen wird und damit zusätzlich Fragen der medialen Klassenproduktion, Anerkennung und Sichtbarkeit aufgeworfen sind. 1 | Vgl. Das Erste (o. J.): Wie wirkt »Scripted Reality«? Online unter http://daserste. ndr.de/panorama/archiv/2011/Wie-wirkt-Scripted-Reality,luegenfernsehen131.html (10.07.2017). 2 | Verband Privater Rundfunk und Telemedien e. V. (2014): Leitlinien für die Kennzeichnung und deren Wahrnehmbarkeit bei Scripted Reality-Formaten: Freiwillige Verhaltensgrundsätze der privaten Fernsehveranstalter. Online unter: http://www.vprt.de/ sites/default /f iles/document s/2014_09_19_GVK _VPR T_ Leitlinien_ Scr ipted_ Reality.pdf?c=2 (31.07.2017).
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A nerkennende S ichtbarkeit in H artz und herzlich ? Exemplarisch für die mediale Herstellung von Klasse und Stereotypisierung als »Repräsentationsmodus, in dem sich Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit auf spezifische Weise begegnen« (Schaffer 2008: 55) ist das RTL2-Format Hartz und herzlich. In bislang zwei Staffeln (Stand: Juli 2017) wurde der Alltag (angeblicher) Bewohner_innen der »Eisenbahnsiedlung in Duisburg« (Staffel 1) und der »Benz-Baracken in Mannheim« (Staffel 2) gezeigt. Ich beziehe mich in meinen Ausführungen auf Staffel 1, die aus zwei dreistündigen Teilen besteht, erstmals an zwei Samstagabenden im Februar 2016 zur Primetime ausgestrahlt und bereits mehrfach wiederholt wurde. Besondere Aufmerksamkeit gilt den Figuren, den verhandelten Problemen und der Off-Kommentierung des Zu-Sehen-Gegebenen. Was sofort auffällt, ist die Diskrepanz zwischen der Ankündigung der Sendung auf der RTL2-Webseite3 und der tatsächlichen dramaturgischen Auf bereitung des Materials, das online weiterhin, zumindest in einzelnen Sequenzen, von der Webseite und via YouTube, komplett über TV NOW abruf bar ist. In der Ankündigung heißt es: »Die Eisenbahnsiedlung von Duisburg ist eine Arbeitersiedlung mit einer über 100-jährigen Tradition am Stadtrand der Ruhrgebietsmetropole. Der Niedergang der Stahlindustrie hat die Gegend stark verändert. Heute leben hier nicht nur alteingesessene Anwohner, sondern auch zahlreiche Hartz IV-Empfänger, die in den günstigen Wohnungen ein neues Zuhause gefunden haben. (…) Für die neue Doku-Reihe waren Kamerateams über vier Monate jeden Tag vor Ort und haben die Menschen in ihrem Alltag begleitet – sowohl beklemmende Momente als auch Begegnungen voller Herz und Humor. Das vielzitierte ›Herz auf der Zunge‹ der Menschen im Ruhrgebiet wird immer wieder deutlich. Die aufwändige Sozialdokumentation zeigt die Lebensrealität verschiedener Menschen. Da ist die alleinstehende gelernte Hauswirtschaftlerin Marina (52), die krankheitsbedingt nicht mehr arbeiten kann und immer mehr Probleme mit dem Jobcenter bekommt. Ihre Tochter Nina (31) ist Mutter von vier Kindern und schlägt sich mit den wenigen Mitteln, die ihr zur Verfügung stehen, durch den Alltag. Ein paar Blocks weiter wohnt der ehemalige Bergmann Frank (43). Er schaut auf 13 harte Dienstjahre zurück, den Verlust seiner Arbeit hat er bis heute nicht verkraftet. Sein Nachbar und Freund Olaf (46) steht ihm als guter Kumpel zur Seite. Er selbst ist nicht in der besten Verfassung, da er wegen massivem Übergewicht und Krankheiten seine Wohnung kaum noch verlassen kann. Um es mit Franks Worten auszudrücken: ›Man ist aufeinander angewiesen, wenn man wenig Geld hat‹. 3 | Online unter: http://www.rtl2.de/sendung/hartz-und-herzlich/folge/folge-1-69 (31.07. 2017).
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Mar tina Thiele Einen Lebensmittelmarkt oder eine Kneipe gibt es in der Siedlung nicht mehr. Fast alles hat hier dichtgemacht – bis auf den Kiosk ›Siedlertreff‹ von Julian (28), auch ›Julz‹ genannt. Schlagfertig und humorvoll kommentiert er das Tagesgeschäft und hat zu allem eine Meinung. Hilfsarbeiter Klaus (62) trinkt hier täglich sein Feierabendbier und träumt von den alten Zeiten. Genauso wie viele andere lang jährige Einwohner, die sich an der ›Bude‹ zum Plausch treffen. Die Langzeit-Dokumentation beschäftigt sich mit Menschen, die in Armut leben, zeigt aber auch, wie Traditionen in der Siedlung bewahrt werden.« 4
Illustriert wird die Ankündigung, in der das Format nicht etwa als ›gescripted‹, sondern als »Doku-Reihe«, »aufwändige Sozialdokumentation« und »Langzeit-Dokumentation« bezeichnet wird, mit dem Bild einer Familie am Küchentisch (vgl. Abb. 1).5 Lächelnd schaut die vierfache Mutter Nina, 31 Jahre alt, direkt in die Kamera, die Kinder, ebenfalls lächelnd, zu ihr. Die ältere Tochter löffelt ein Fertiggericht aus einer Aluminiumschale, auf dem Tisch Plastik limonadenflaschen, ein voller Aschenbecher und ein Handy. In der Sequenz »Neues Jahr, neues Glück« nennt Nina als ihren größten Wunsch für das neue Jahr, »dass meine Brüste gemacht werden«.
Abbildung 1: Bewohner_innen der Duisburger Eisenbahnsiedlung: Nina und ihre Kinder. Online unter: www.rtl2.de/sendung/hartz-undherzlich/folge/folge-1-69 (18.08.2017) 4 | Ebd. 5 | Ebd.
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Gemäß dem Prinzip der Doku Soap werden verschiedene Personen und Handlungsstränge mit Titeln wie »Silvester in der Siedlung«, »Großes Unheil für Bärbel« oder »Futter für das Haustier« verfolgt. Dabei bedient die Sendung Vorurteile, die im Zuge der »Unterschichten-Debatte« (vgl. Lindner 2008) verbreitet wurden. Das geschieht zum einen durch eine Stereotypisierung des (Konsum-)Verhaltens und Aussehens der Figuren, zum anderen durch Aussagen, die die Darsteller_innen über sich selbst und die Nachbar_innen treffen. Zwar ist der Off-Kommentar oft auffällig lobend und anerkennend, etwa wenn es heißt »Olaf möchte seiner Tochter ein guter Vater sein«, auf der bildlichen Ebene wird allerdings vermittelt, dass dieser gute Vorsatz, so wie alle Ziele, die die Darsteller_innen etwa in »Neues Jahr, neues Glück« formulieren, nicht erreicht werden. Solche »Text-Bild-Scheren« (Wember 1976) sind ein in Hartz und herzlich häufig eingesetzes Verfahren: Positive, anerkennende verbale Äußerungen werden durch das Zu-Sehen-Gegebene konterkariert. Olaf, z. B., dessen Mobilität aufgrund seines Übergewichts sehr eingeschränkt ist und der schon deshalb kaum mehr in der Lage ist, sich mit seiner 15jährigen, bei der Mutter lebenden Tochter zu treffen, wird in einer Wohnung voll Unrat gezeigt. Offensichtlich mag ihn die Tochter dort nicht besuchen (vgl. Abb. 2).
Abbildung 2: Bewohner der Eisenbahnsiedlung: Olaf in seiner Wohnung im Gespräch mit einer Mitarbeiter_in des Pflegedienstes Revita. Online unter: www.rtl2.de/o/vipo/ img/30800_hartz-und-herzlich-0002-06.jpg (18.08.2017)
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Klasse wird hier auch durch Körper vermittelt. Er sei, so die Narration im Falle Olaf, das Ergebnis von falscher Ernährung, Sucht, mangelnder Bewegung, unzureichender Körperpflege, letztlich nicht stattfindender Selbstdiziplinierung und Arbeit an sich selbst – wozu Arbeitslose doch aber ausreichend Zeit hätten.6 Durchgängig zeigt Hartz und herzlich Armut nicht als strukturelles und gesellschaftspolitisch relevantes, sondern als individuelles Problem. Statt Ursachen von Armut oder Möglichkeiten ihrer Abschaffung zu thematisieren, werden von Armut Betroffene vorgeführt. An diesem Begriff halte ich fest, obwohl z. B. Andrea Seiers Kritik, wonach in einer Argumentation nach dem Muster ›Zynische Fernsehsender treffen auf chancenlose Opfer‹ immer auch eine Abgrenzungsstrategie erkennbar werde, nachvollziehbar ist. Richtig ist auch ihre Forderung, »die Ambivalenz von Selbstdarstellung und Beobachtung, Stolz und Bestrafung, Expressivität und sadistischer Ausstellung genauer in den Blick« (Seier 2014: 45) zu nehmen. Doch bezieht sich Seier auf bestimmte Genres innerhalb der Gattungsfamilie Reality TV. Scripted Reality-Formate und speziell Sendungen, die wie Hartz und herzlich Armut thematisieren, stellen insofern eine Besonderheit dar, als die gecasteten und häufig selbst von Prekarität betroffenen Laiendarsteller_innen »Hybridwesen« (Pauer 2010) in einem Hybridformat sind. Sie erlangen zwar Sichtbarkeit, doch wird im Rückgriff auf klassistische Stereotype sicher keine spezifische Subjektpositionen anerkennende Sichtbarkeit hergestellt. Beide Konzepte, Sichtbarkeit wie Anerkennung, werden hier mit Bezug auf Judith Butler deswegen als ambivalent verstanden, weil jegliche Vollziehung von Akten der Sichtbarkeit und Anerkennung von diskursiven Kategorien, Konventionen und Normen bestimmt ist, die nicht nur für Inklusion, sondern auch für Exklusion sorgen. Butler (2010: 5) spricht daher auch von Anerkennbarkeit (recognizability). Florian Pistrol, der sich mit Schlüsselbegriffen wie Subjekt, Vulnerabilität, Körperlichkeit, Anerkennung und Sichtbarkeit im Denken Butlers befasst, führt aus, warum Anerkennung ihrer Meinung nach ambivalent ist: »Zwar stiften Anerkennungprozesse allererst Subjektivität und werden so zu einer unabkömmlichenn Überlebensbedingung; jedoch können die diskursiven Normen der Anerkennung, die im Sinne identitätslogischer Zuschreibungen operieren, der Singularität des betreffenden Individuum niemals ganz gerecht werden, insofern dieses nie vollständig und restlos in den herrschenden Anerkennungsstrukturen aufgehoben sein 6 | Die nur auf den ersten Blick gegenläufige Erzählung berichtet vom ›Proll‹ in der ›Muckibude‹ oder im ›Tattoo-Studio‹. Er (oder sie) investiert Zeit, den Körper zu formen und nimmt dafür auch Schmerzen in Kauf, doch trifft das Ergebnis der in diesem Fall stattfindenden Arbeit am Selbst wiederum nicht den Geschmack der herrschenden Klasse – ermöglichen ihr aber Distinktionsgewinne.
Arm und (un-)sichtbar? wird. Zudem gehen Anerkennungsakte auch auf struktureller Ebene mit Verlusten einher, da Normen in ihrer Spezifität notwendig exkludierend sind; Anerkennung bedeutet damit stets auch, dass bestimmte Seinsmöglichkeiten und Subjektformationen verworfen werden.« (Pistrol 2016: 236)
Konventionen und Normen, die u. a. vermittelt durch Stereotype zu sozialer Inklusion und Exklusion führen, werden durch Scripted Reality-Formate wie Hartz und herzlich repräsentiert und affirmiert, rezipiert und reproduziert. Davon zeugt ein offener Brief an RTL2, verbreitet von (Online-)Zeitungen der FunkeMedien-Gruppe, und verfasst vom Vorsitzenden des Vereins Interessengemeinschaft Hohenbudberg Eisenbahnsiedlung, Michael Küsters: »Sie haben Verein und Ort samt Bewohner für Ihre Quotenziele instrumentalisiert. Zunächst dürfen wir feststellen, dass es in unserem Ort neben den Berufstätigen und Ruhes tändlern auch Menschen gibt, die auf Transferleistungen des Sozialsystems angewiesen sind, darunter sind selbstverständlich auch Hartz IV Empfänger. Angesichts der gesamtgesellschaftlichen Dimension von Transferleistungen ist dieser Umstand weder überraschend noch außergewöhnlich. Mitarbeiter einer für Sie tätigen Produktionsfirma schlichen sich geschickt in unsere Gemeinschaft ein und täuschten uns hinsichtlich ihrer wahren Motive. Nachdem sie dabei auf ein positives Beispiel des Zusammenlebens unterschiedlichster Menschen stießen, orientierten sie sich wohl neu. Sie suchten offensichtlich gezielt nach Menschen am Rande unserer Gesellschaft und wurden fündig. Diese Menschen kannten wir bis dato nicht persönlich, nach Ihrem Bericht, der alle gängigen Klischees bediente und auf Effekthascherei ausgerichtet war, hat sich daran nichts geändert. Insofern können wir nicht beurteilen, inwieweit das von Ihnen gezeichnete Zerrbild der Realität entspricht. Wir verwahren uns ausdrücklich dagegen, dass Sie unter Verwendung von Unwahrheiten und diesen Bildern die Eisenbahnsiedlung als Schmelztiegel von Verbrechern, Süchtigen und sonstigen asozialen Elementen darstellen. Bei uns hat sich der Eindruck verfestigt, dass Sie mit Ihrem Sender ausschließlich eine Zielgruppe ansprechen wollen, bei der Sie nur mit Beiträgen auf niedrigstem Niveau eine Einschaltquote erreichen können.« (Küsters, zit. nach Cnotka 2016: o. S.)
Deutlich wird durch diesen Brief zum einen ein Umstand, der in Hartz und herzlich thematisiert und verbal wie visuell inszeniert wurde, nämlich, dass in der Duisburger Eisenbahnsiedlung Menschen in unterschiedlichen sozialen Lagen zusammen bzw. nebeneinander leben. Denn da seien, so der »28-jährige Kiosk-Betreiber Julian«, einerseits »die alten Siedler, die, die geblieben sind« und andererseits der »Super Hartz IV-Block«. Illustriert werden die unterschiedlichen Lebenswelten durch einen Schwenk von Häusern mit kleinen Vorgärten hin zu einem Wohnhaus mit vollgemüllten Balkonen oder durch die Silvester-Sequenz, in der die Hartz IV-Bezieher_innen einsam in ihren Wohnungen sitzen, die Siedler_innen zusammen eine Party feiern.
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Zum anderen zeigen der Brief und die Empörung, die darin zum Ausdruck kommt, dass sich private Unternehmen, ob RTL2 oder die Funke-Medien gruppe, in Sachen Klassenproduktion und Herstellung von Klassengegensätzen kaum unterscheiden. Anerkennung erfahren in Hartz und herzlich wie in der Medienberichterstattung über das Scripted Reality-Format die »Alteingesessenen«, die »Siedler«, die für »Ordnung« und »Zusammenhalt« sorgen, nicht aber die »Hartzer«.
K l assismus als R echtfertigungsideologie Der Vorwurf, Armut sei ein im Fernsehen vernachlässigtes Thema und bleibe ›unsichtbar‹, kann gegenüber privat-kommerziellen Sendern wie RTL2 kaum mehr erhoben werden. Am Beispiel Hartz und herzlich wurde veranschaulicht, wie Fernsehen Prekarität sichtbar macht, im Sinne von inszeniert und vorführt, und dabei letztlich höchst ambivalente Formen von Sichtbarkeit und Anerkennung produziert. Ambivalent deswegen, weil im Rückgriff auf Klassenstereo type Setzungen vorgenommen werden und Zuschreibungen stattfinden, die die jeweils ›Anderen‹ ausgrenzen. ›Aufklärerisch‹ und ›authentisch‹ sind Scripted Reality-Formate sicher nicht – oder höchstens in einem sehr begrenzten Umfang. »Vielmehr«, so Johanna Schaffer (2008: 57), »gilt gerade für das Darstellen marginalisierter Existenzweisen, dass diese emanzipatorisch verstandene Form der Wahrheitsproduktion die Regulierung dieser Lebensweisen zunehmend antreibt, während gleichzeitig die Bedingungen dieser Existenzweisen entpolitisiert werden.« Georg Seeßlen und Markus Metz formulieren noch schärfer: Sie meinen, die »Blödmaschine« Fernsehen sei »eine besonders tückische Waffe im Klassenkampf von oben geworden. Sie erzeugt zugleich, was sie bekämpft, sie bestraft, was es ohne sie in dieser Form gar nicht gäbe.« (Seeßlen/Metz 2011: 302) Sendungen wie Hartz und herzlich sind klassistisch. Auch in der Berichterstattung darüber sowie in der publizistischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung über ›Trash-TV‹ und ›Unterschichten-Fernsehen‹ lassen sich z. T. klassistische Argumentationsmuster erkennen. Klassismus als Rechtfertigungsideologie liefert Begründungen für soziale Ungleichheit und die Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen status quo. Er erklärt weitgehend auch den Erfolg von Sendungen wie Hartz und herzlich.
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Sichtbarkeit und exkludierende Anerkennung
Ein Erbe gespenstischer Normalität Postmigrantisches und multidirektionales Erinnern in Filmen von Sohrab Shahid Saless, Hito Steyerl und Ayşe Polat Maja Figge / A nja Michaelsen
Gibt es einen Zusammenhang zwischen verdrängter NS-Geschichte und Rassismus in der Gegenwart? Lässt sich ein fehlendes Bewusstsein für Migrationsgeschichte auf hegemoniale Politiken der Erinnerung1 an gewaltvolle Vorgeschichten im Herkunfts- und Einwanderungsland zurückführen? Und welche Folgen hat ein solches Vergessen und Verdrängen für die Sichtbarkeit und Anerkennung postmigrantischer2 Gruppen und Subjekte? Sicht1 | Gemeint sind hier in erster Linie die deutschen NS-Erinnerungspolitiken, die trotz der Behauptung einer erfolgreichen Erinnerungskultur anhaltend umkämpft sind, wie sich insbesondere an Auseinandersetzung um Scham und Schuld, die Indienstnahme der Erinnerung in Innen- und Außenpolitik, sowie die Schwierigkeiten der offiziellen Erinnerung an den Genozid an Sinti und Roma und der sich daraus ergebenden Verantwortung heute zeigt. Ohne hier auf die genannten Punkte genauer eingehen zu können, geht es uns vor allem darum, die Perspektive der Opfer und ihrer Nachfahren zu unterstreichen, die in offiziellen Erzählungen lange und anhaltend ausgeblendet wurde und wird. Angesichts der Tatsache, dass nur mehr wenige Überlebende am Leben sind, um von den Taten zu berichten, ist die Erinnerung dieser Perspektive umso wichtiger. Postmigrantisches, multidirektionales Erinnern könnte, so meinen wir, dazu produktive Ansätze beisteuern. 2 | Der Begriff »postmigrantisch« wurde von Shermin Langhoff eingeführt, die Ende der 2000er Jahre am Berliner Ballhaus Naunynstraße das postmigrantische Theater aufbaute. Der Begriff wurde in den Sozialwissenschaften aufgenommen und vor allem für Analysen der »politischen, kulturellen und sozialen Transformationen von Gesellschaften mit einer Geschichte der postkolonialen und der Gastarbeiter-Migration« (Tsianos/ Karakayalı 2014: 34) fruchtbar gemacht. Das Präfix ›post-‹ führt eine zeitliche Dimension ein, die wie im Begriff des Postkolonialen nicht einfach ein ›nach‹ der Migration bedeutet, sondern insbesondere auf die Auswirkungen und das Nachwirken der Migration
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barkeit führt nicht zwangsläufig zu größerer symbolischer und materieller Anerkennung und Teilhabe. Wir gehen jedoch davon aus, dass die Möglichkeit des Erinnerns von Migrationsgeschichten sowie der Geschichte der (Arbeits-) Migration als wesentlicher Teil deutscher Erinnerung eine unverzichtbare Voraussetzung für diese darstellt. Daher fragen wir nach den Bedingungen postmigrantischer Sichtbarkeit in der Bundesrepublik Deutschland seit den 1980er Jahren und wenden uns hierfür Filmen zu, die in unterschiedlicher Weise erinnerungspolitische Rahmungen für postmigrantisches Erinnern in Deutschland thematisieren. Die hier diskutierten Filme Empfänger unbekannt (D 1982/83, R: Sohrab S. Saless), Normalität 1-10 (D 1999-2001, R: Hito Steyerl) und Die Erbin (D 2012/13, R: Ayşe Polat) haben gemeinsam, dass sie auf einen möglichen Zusammenhang zwischen postmigrantischem Erinnern und dem Erinnern des Nationalsozialismus hinweisen. Sie werfen die Frage auf, welche Folgen ein fehlendes oder hegemoniales Erinnern des Nationalsozialismus für das Erinnern postmigrantischer Geschichte in Deutschland hat.3 Empfänger unbekannt und Die Erbin sind Spielfilme mit fiktionalen und dokumentarischen Bildern, Normalität 1-10 ist ein dokumentarischer Essayfilm. Alle drei Filme sind, trotz ihrer unterschiedlichen Ästhetiken, Erzählweisen und Formate, Studien postmigrantischen Erinnerns. Die jeweils eingesetzten filmischen Mittel suggerieren in unterschiedlicher Weise ein Fortwirken einer gewaltvollen (NS-)Vergangenheit im Heute. Wir schließen hier an Michael Rothbergs Konzept des »multidirektionalen Gedächtnisses« an (vgl. Rothberg 2009). Ausgehend von US-amerikanischen Erinnerungspolitiken, im Rahmen derer afroamerikanischer Geschichte eine geringere Sichtbarkeit als dem Holocaust zukomme, schlägt Rothberg vor, Erinnerungen an unterschiedliche Gewaltgeschichten nicht als miteinander konkurrierend zu verstehen. Kollektive Erinnerungen verdrängen sich nicht gegenseitig, so Rothberg, vielmehr funktioniere Erinnerung multidirektional rekurriert (vgl. Foroutan 2016: 231). Es geht also nicht nur um Gegenwartsanalyse, sondern gleichermaßen auch um Dimensionen postmigrantischer (als transnationaler) Erinnerung von durch Migration und Rassismus geprägten Lebensgeschichten (vgl. Tsianos/ Karakayalı 2014; Espahangizi 2016): »Dieses ambivalente Verhältnis zur Migration als gelebte Erfahrung einerseits und diskursive Zumutung andererseits bildet das Herzstück des Postmigrantischen.« (Espahangizi 2016). 3 | Wir fassen die hier analysierten Filme unter den Begriff des Postmigrantischen, da seine gegenwärtige Formation genealogisch mit der (transnationalen) Geschichte der Kämpfe der Migration um Anerkennung, Teilhabe und gegen Rassismus verbunden ist (vgl. Espahangizi 2016). Entscheidend für die Frage nach dem Bedingungsverhältnis von postmigrantischer Erinnerung und deutscher Erinnerungspolitik an den Nationalsozialismus ist zudem, dass das Postmigrantische eine gesamtgesellschaftliche Perspektive auf Deutschland einnimmt.
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und sei Gegenstand anhaltender Verhandlungen, Überschneidungen und Anleihen. Die Erinnerung an den Holocaust blockiere nicht notwendigerweise die Erinnerung an afroamerikanische Geschichte, stattdessen könne erstere auch genutzt werden, um Kolonialismus und Sklaverei zu analysieren, wie Rothberg unter anderem an Texten Aimé Césaires und W.E.B Du Bois’ veranschaulicht. Erinnerungen an verschiedene Gewaltgeschichten interagieren miteinander in produktiver Weise in der Gegenwart und führen im besten Fall zu Solidarität (vgl. ebd.: 3). Im hiesigen Zusammenhang gehen wir der in den Filmen entworfenen These nach, dass sich ein affektives Nachwirken des Nationalsozialismus in multidirektionaler Weise mit der Erfahrung und Erinnerung an die Geschichte der Migration verschränkt.4 Miteinander in dynamischer Weise verwobene Erinnerungen an verschiedene Gewaltgeschichten prägen die postmigrantische Gegenwart. Erinnerungen an diverse Geschichten existieren nicht in klar voneinander getrennter Weise nebeneinander, sondern beeinflussen sich gegenseitig über räumliche, zeitliche und kulturelle Grenzen hinausgehend (vgl. ebd.: 11). Das bedeutet nicht, dass die Multidirektionalität von Erinnerung zwangsläufig verbindende Effekte hat (ebd.). Kollektive Erinnerung ist umkämpft. Entscheidend ist für uns hier, dass das Nachdenken über die Sichtbarkeit und die Möglichkeit des Erinnerns postmigrantischer Geschichte erfordert, die multidirektionalen Verschränkungen mit der Erinnerung an die deutsche Geschichte des Nationalsozialismus zu berücksichtigen. Die beiden ersten hier untersuchten Filme, Empfänger unbekannt und Normalität 1-10 thematisieren das Erinnern bzw. Nicht-Erinnern der nationalsozialistischen Vergangenheit in der Bundesrepublik Deutschland seit den 1980er Jahren. Empfänger unbekannt stellt zentral die These auf, dass das VergessenWollen der NS-Vergangenheit in einem kausalen Verhältnis zum Rassismus gegenüber den Arbeitsmigrant_innen in der Gegenwart steht. Der Rassismus der Gegenwart erscheint als affektives Erbe des Nationalsozialismus. Normalität 1-10 beschäftigt sich vor allem mit antisemitischen Anschlägen auf Gräber und Gedenkorte in den Jahren 1998 bis 2000. Das Schänden der Gräber wiederholt und setzt die überkommen geglaubte nazistische Gewalt fort und verhindert ein Gedenken und Erinnern. Auch Steyerl zieht eine Verbindung zwischen diesem Fortwirken des Nationalsozialismus und antisemitischen und rassistischen Anschlägen in der Gegenwart. Die beiden Filme entwerfen das Bild einer postmigrantischen Situation im Vor- und Nachwendedeutschland, 4 | Mit Hito Steyerl fassen wir die Situation in Deutschland als sowohl postkolonial, postnationalsozialistisch, postsozialistisch und als auch von mehreren aufeinander folgenden Regimes der Migration, der Emigration und des Genozids gekennzeichnet; in dieser »überblenden sich Geschichten, laden sich auf, hallen ineinander wieder und löschen sich gegenseitig aus« (Steyerl 2003: 39).
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die von einem Rassismus geprägt ist, der mit Avery Gordon als gespenstische Wiederkehr des Nationalsozialismus erscheint: »[…] haunting is one way in which abusive systems of power make themselves known and their impacts felt in everyday life, especially when they are supposedly over and done with (slavery, for instance) or when their oppressive nature is denied (as in free labor or national security).« (Gordon 2008: xvi) Als »soziopolitischer-psychologischer Zustand« offenbart das Geisterhafte, was Foucault als »unterdrücktes Wissen« (subjugated knowledge) bezeichnet hat, das, was offizielles Wissen in seinen Institutionen und Archiven unterdrückt und das, was marginalisiertes, flüchtiges Wissen ist, das »unterhalb« und jenseits offizieller Wissensproduktion entsteht (vgl. Gordon 2008: xviii). Wie die Erinnerung postmigrantischer Geschichte indirekt von diesem erinnerungspolitischen Komplex bestimmt wird, lässt sich anhand von Polats Die Erbin veranschaulichen. Der Film erzählt von der Rückkehr einer jungen Frau in ihr türkisches Heimatdorf; dabei ist die Art und Weise, wie dies erzählt wird, von dem bestimmt, was innerhalb eines rassistischen deutschen Ausländerdiskurses (vgl. Heidenreich 2015: 45ff.) gesagt werden kann. Alle drei Beispiele machen mit filmischen Mitteln ein außerfilmisches Unsichtbares sichtbar: ein für multidirektionale, postmigrantische Erinnerung konstitutives gespenstisches Fortwirken von Vergangenheit.
S ohr ab S hahid S aless ’ E mpfänger unbek annt (1982/1983) Als Sohrab Shahid Saless’5 Empfänger unbekannt Anfang der 1980er Jahren entsteht, sind ehemalige Nazis noch Teil des gesellschaftlichen und politischen Lebens und die Auseinandersetzungen mit den deutschen Verbrechen in Holocaust und Zweitem Weltkrieg (noch) von Erinnerungs- und Schuldabwehr geprägt (vgl. u. a. Messerschmidt 2008: 48). Der Film vertritt die These, dass diese Affektökonomie auch im Verhältnis zwischen Deutschen und Migrant_innen zum Tragen kommt. Der Entstehungskontext des Films ist die sogenannte zweite Ölkrise, die 1982 ihren Höhepunkt hatte und mit hoher
5 | Zu Biografie und Werk von Sohrab S. Saless, der zwischen 1975 und den frühen 1990er Jahren in der Bundesrepublik lebte und in dieser Zeit 13 Spielfilme vor allem für das ZDF drehte vgl. u. a. Bernstorff 2016; Tietke 2016. Der Oldenburger Verein Werkstattfilm e.V. verwaltet den Nachlass des 1998 in den USA verstorbenen Regisseurs und betreibt eine Datenbank: www.saless.de (11.04.2017).
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Arbeitslosigkeit und zunehmend öffentlich artikuliertem Rassismus einherging.6 Empfänger unbekannt setzt unmittelbar mit der Frage ein, in welchem Zusammenhang die NS-Vergangenheit mit dem Rassismus der Gegenwart steht. Noch vor dem Vorspann wird auf einer Texttafel ein Zitat aus William Shakespeares Drama Der Kaufmann von Venedig eingeblendet, »wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?« Die daran anschließende Sequenz zeigt aus einem fahrenden Zug heraus gefilmt die vorbeiziehende Landschaft. Nach einer Überblendung sehen wir nun den Blick auf einen Zug, der in die entgegengesetzte Richtung fährt, die Kamera folgt ihm in einem langsamen Schwenk, kommt zum Stehen. Als der Zug vorbei gefahren ist, wird eine Parole auf einer Mauer sichtbar: »La France aux Français!« Darunter wird in weißer Schrift eingeblendet: »Bei einer Reise in Frankreich sah ich aus dem Fenster eines Zuges etwas, was mich dazu bewegte, mich an das Thema ›Fremdenhass‹ zu wagen. Sohrab Shahid Saless.« Auch wenn mit dieser Exposition Rassismus7 als nicht auf die Bundesrepublik beschränkt eingeführt wird, steht das Motiv des Zugs nicht nur für die Reise oder für Migration, sondern ruft darüber hinaus die Erinnerung an die Deportationen der Shoah wach. Es verbindet diese Sequenz mit der nächsten, die Ausschnitte aus einem Film, den Alliierte nach der Befreiung in einem nicht genauer bestimmten Konzentrationslager aufgenommen haben, zeigt. Über die Bilder der Leichen spricht eine Frauenstimme im Off: »Gefällt es dir in Deutschland?« »Ich weiß es nicht«, antwortet eine Männerstimme (die Figuren im Film haben keine Namen). Während sie sich weiter unterhalten, sehen wir in der nächsten Einstellung eine Reisegruppe mit Regenschirmen vor der Berliner Mauer. »Mein Mann und ich haben uns kennengelernt, da wurde die Mauer gerade gebaut«, so die Frau aus dem Off. Der Mann antwortet: »Als ich hierher kam, stand sie schon da. Das erinnert mich an den Krieg. Wie ein Mahnmal.« Während die beiden sprechen, geben die Tourist_innen im Bild nach und nach ein Graffiti frei: »Ausländer raus«. Die Frau: »Heute kommen von überall her Touristen und lassen sich davor fotografieren. Diese 6 | Auch damals wurden Migrant_innen für die ökonomischen Probleme verantwortlich gemacht: Ende 1981 titelte Der Spiegel »Grenzen dicht für Ausländer?« und brachte im Heft einen Überblicksartikel über die parteiübergreifenden politischen Bemühungen zur Migrationsbegrenzung und -kontrolle aber auch den Widerstand dagegen (vgl. Der Spiegel, Nr. 50/1981: 24-32). Eine Umfrage des Bonner Infas-Instituts im Dezember 1981 über die Einstellung der Deutschen zu den ›Gastarbeitern‹ kam zu dem Ergebnis, dass die Stimmung umgeschlagen und nun ca. 66 % der Befragten für die vollständige Ausreise der Migrant_innen sei. Im März 1982 kam eine Emnid-Umfrage zu einem noch höheren Ergebnis von 68 % (vgl. Der Spiegel, Nr. 18/1982: 37-44). 7 | Zum Ausweichen auf Ersatzworte wie ›Ausländer-‹ oder ›Fremdenfeindlichkeit‹ oder wie im Fall hier auf ›Fremdenhass‹, vgl. Heidenreich 2015: 44, Anm. 75.
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Menschen haben den Krieg wohl nie erlebt oder ihn schon vergessen.« Die Kamera fährt näher heran und verweilt auf der rassistischen Parole. Mit dieser komplexen Bild-Ton-Montage werden gegenwärtige Artikulationen und Sichtbarkeiten des Rassismus zur fehlenden Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg bei gleichzeitiger Allgegenwärtigkeit der nationalsozialistischen Vergangenheit in Beziehung gesetzt. Der Film stellt eine Auseinandersetzung mit diesem Befund dar: Im Zentrum steht die These, dass die Wahrnehmbarkeit von Rassismus an die Empfindungsfähigkeit geknüpft ist; an einer Stelle sagt die Frau aus dem Off: »Der Krieg hat die Deutschen gleichgültig und gefühllos gemacht.« In verschiedenen an Tableaus erinnernden Szenen (im Büro, im Bus, auf der Ausländerbehörde, im Krankenhaus) führt Empfänger unbekannt vor, wie Rassismus trotz seiner Offensichtlichkeit nicht wahrgenommen oder bagatellisiert wird und analysiert diese Beobachtung im Verlauf des Films als an die Schuld bzw. die Schuldabwehr der Deutschen geknüpft. Damit thematisiert der Film etwas, was sich analog zum »sekundären Antisemitismus« (Adorno 1962: 362, vgl. auch Messerschmidt 2008: 48f.) vielleicht als Rassismus ›wegen Auschwitz‹ beschreiben ließe: Kurz bevor der türkische Migrant aufgrund der Zunahme des offenen Rassismus (bei gleichzeitiger Leugnung) die Bundesrepublik und die deutsche Frau endgültig verlässt, beschreibt er die Situation folgendermaßen: »Deswegen ist es eine harte Sache, Fremder in Deutschland zu sein, wir werden zurückgewiesen. Natürlich nicht auf brutale oder stupide Art und Weise, sondern vornehm und subtil. Wir sind isoliert in dem Sinne, dass die Deutschen uns nicht das Gefühl geben, Anteil zu haben an der tiefen Mitschuld, die darin besteht, dass man dem Schicksal einer Nation auf Gedeih und Verderb verpflichtet ist.«
Vordergründig erzählt der Film von der Ehekrise eines deutschen ex-68er Ehepaars. Die beiden schreiben sich Briefe, die als kontinuierlicher Dialog im Off vorgelesen werden. Der Film verknüpft den privaten Beziehungskonflikt mit der Frage der Erinnerung an die NS-Geschichte und der Empfindungsfähigkeit angesichts rassistischer Gewalt. Während die Frau aus dem Eingangsdialog durch ihre Beziehung zu dem Mann, einem türkischen Migranten, zunehmend sensibler für das affektive Nachwirken des Nationalsozialismus und den sie umgebenden alltäglichen Rassismus wird, erscheint ihr Ehemann, den sie in der westdeutschen Provinz zurückgelassen hat, als ignorant und nur darauf bedacht, die private Beziehung zu retten. Die erweiterte Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit der Frau aber lässt eine Rückkehr zu ihrem Ehemann bzw. zu ihrem früheren Leben nicht mehr zu. Nachdem ihr Freund in die Türkei zurückgekehrt ist, wirft sie sich vor einen Zug, wie wir durch die Einblendung einer Zeitungsschlagzeile erfahren, während ihr Ehemann am Bahnhof ver-
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geblich auf sie wartet. Die Gespenster der nationalsozialistischen Vergangenheit wirken auf eine Weise im Rassismus der Gegenwart fort, die der Frau ein Weiterleben verunmöglichen. In ihrem letzten Brief an ihren Mann beschreibt sie einen »schrecklichen Traum«, der den Anfang des Films wieder aufgreift: Wir sehen eine Schwarz-Weiß-Fotografie, die SS-Leute vor einem zerstörten jüdischen Geschäft zeigt, davor ist eine Gruppe von Jüdinnen und Juden montiert, die vermutlich in einem Konzentrationslager aufgenommen wurde. Im Traum ebenso wie im Filmbild werden die Judensterne auf ihrer Kleidung plötzlich gelb und die jüdischen Gesichter verwandeln sich in ›türkische‹. Der Traum wiederholt die Fantasie des Freundes, der die Frau vor seiner Rückkehr in die Türkei fragt: »Wollt ihr uns wirklich ins KZ stecken?« Im Sinne von Rothbergs multidirektionalem Erinnern verstehen wir dies nicht so sehr als Analogsetzung bzw. Vergleich des gegenwärtigen Rassismus mit der Shoah, sondern als Hinweis darauf, wie die Erinnerung an die NSVergangenheit die Wahrnehmung von gegenwärtigem Rassismus bedingt: »Meanwhile, labor migrants and their descendants in Europe often find themselves confronted with the ghosts of the pasts at the same time that they experience the prejudices of the present.« (Rothberg 2009: 28) Es sind genau diese Gespenster, das Nachwirken des Nationalsozialismus im Rassismus der Gegenwart, die in Empfänger unbekannt den türkischen Migranten und schließlich auch seine deutsche Geliebte heimsuchen – ausgelöst durch die Zunahme öffentlicher Artikulationen von Rassismus. Zur Sichtbarkeit kommen der Rassismus und das Nachleben des Nationalsozialismus in den Standbildern und Tableaus, Beobachtungen alltäglicher Artikulationen von Rassismus und seiner gleichzeitigen Leugnung;8 durch die Trennung von Bild- und Ton-Ebene und den Off-Kommentar – die Briefe der Frau ebenso wie die Monologe des Mannes – wird dieser analysiert. Damit zeigt der Film uns nicht nur den diskursiven Rahmen, den an die Erinnerungsabwehr geknüpften alltäglichen Rassismus, sondern rahmt diesen zudem durch die migrantische Perspektive und macht ihn so erkennbar; in Referenz auf Trinh T. Minh-ha und Judith Butler ließe sich dieses Vorgehen als Rahmung des Rahmens verstehen (vgl. Trinh 1992; Butler 2010: 16). Aber Saless’ Film bleibt nicht bei dieser Re-Perspektivierung stehen, sondern argumentiert, dass Empfindungsfähigkeit die Voraussetzung für Erinnerung, Solidarität und die Wahrnehmung von Rassismus ist.
8 | Teilweise wird diese Leugnung direkt mit der Schuldabwehr verknüpft, wenn etwa der Vater des Ehemannes über die Effekte der Arbeitsmigration sagt: »So etwas hätte es unter Hitler nicht gegeben.«
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H ito S te yerls N ormalität 1-10 (1999-2001) Auch Hito Steyerls zehnteiliger Essayfilm Normalität 1-10, der in den Jahren 1999 bis 2001 entstanden ist, nimmt eine Rahmung des Wahrnehmungsrahmens vor und macht auf diese Weise die Alltäglichkeit rassistischer und antisemitischer Gewalt dieser Jahre sichtbar. Die Fluchtlinie ihrer Serie ist die Frage, »How can one see the structure of violence?« Wodurch wird das Sehen der Gewalt möglich? Mit welchen filmischen Mitteln wird die Struktur der Gewalt in Normalität 1-10 sichtbar gemacht? Wie kann Gewalt sichtbar gemacht werden, wenn die Verunglimpfungen und Versuche der Tilgung der Erinnerung Bestandteil der Gewalt sind? Die ersten sechs Teile beschäftigen sich mit antisemitischer Gewalt, die in den späten 1990er Jahren zunimmt und in zahllosen Schändungen jüdischer Gräber kulminiert. In Normalität 1 sehen wir Aufnahmen des geschändeten Grabes von Heinz Galinski, dazwischen montierte Texttafeln geben knappe Informationen zum Geschehen. Normalität 2 beginnt mit der gleichen Ansicht, diesmal ist jedoch der diegetische Ton zu hören. Untertitel werden eingeblendet: »Arnold Schönberg wrote his piano concerto ›op. 42‹ in exile: 1943. In the second movement, he describes fascism as a grotesque scherzo. He gave the movement the title ›suddenly hatred erupts‹.« 1998 bricht der Hass erneut aus: In Untertiteln berichtet Steyerl von antisemitischen Angriffen und den lapidaren Reaktionen von Polizei und Politik. Der Film fügt eine Deutung mittels eines Zitats aus Walter Benjamins Aufsatz Über den Begriff der Geschichte (1980) aus dem Jahr 1940 hinzu: »Even the dead will not be safe from the foe if he triumphs. And this foe has not ceased to triumph.« Angesichts der Grabschändungen erhält Benjamins Einschätzung, die dieser kurz vor seinem Tod auf der Flucht schrieb, eine Aktualisierung, die Vergangenheit und Gegenwart miteinander verschränkt und eine Analyse der in der Serie thematisierten Gewalt liefert. Weitere Hinweise auf Anschläge, unter anderem auf Ignatz Bubis, auf jüdi sche Friedhöfe und Mahnmale zur Erinnerung an die Shoah folgen. Steyerl reflektiert im Off: »Als ich dieses Vorhaben begann, konnte ich nicht ahnen« – ein Foto mit umgestürzten jüdischen Gräbern wird eingeblendet –, »dass es sich zu einer niederschmetternden Serie entwickeln würde. […] Zu einem Fortsetzungsfilm aus Deutschland, einem Land, in dem Normalität herrscht.« Die ersten drei Folgen bilden formal und thematisch eine Einheit. Mit dem Fokus auf das gewaltsame Wiederauftauchen der nationalsozialistischen Vergangenheit im Heute untersuchen sie die Normalisierung des Antisemitismus um die Jahrtausendwende. Es scheint, als sollte mit der Schändung der Gräber und Denkmäler die Erinnerung an die Geschichte der Gewalt zerstört, ausgetrieben werden. Dagegen setzt Steyerl die im Exil in den USA entstandene Musik Schönbergs. Wie in Empfänger unbekannt sind auch hier Text und Bild
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ebenso wie Stimme und Text getrennt. Der Text ist durchgängig auf Englisch, aber Teile des Kommentars werden von Steyerl auf Deutsch gesprochen. An wen sich dieser Bericht aus Deutschland richtet, bleibt offen. Steyerl untersucht die prekäre Sichtbarkeit antisemitischer und rassistischer Gewalt mit den Mitteln der Montage: Auf der Bildebene dominieren feste Einstellungen, die wie Standbilder anmuten. Dann zoomt die Kamera nah heran, um die Spuren der Gewalt in Augenschein zu nehmen. Immer wieder werden die Aufnahmen von Schwarzbildern unterbrochen. Diese fügen Pausen ein, Intervalle9, die Distanz schaffen und die Notwendigkeit des Bruches mit der (vermeintlichen Kontinuität der) Normalität markieren. Als Intervalle verweisen die Schwarzbilder auf Unsichtbarkeiten, Abwesenheiten, auf die Toten ebenso wie auf die Leerstellen im Diskurs; sie geben aber auch Raum und Zeit und öffnen so die Wahrnehmung für die beschriebenen Gewaltausbrüche. Zugleich fordern sie eine Unterbrechung der postnational sozialistischen wie postsozialistischen Normalität im wiedervereinigten Deutschland. Gleichsam als »Lektion der Erinnerung« (Rancière 1999: 37) mahnt der Kommentar die Gegenwart in ihrer historischen Tiefe und insis tiert auf die Notwendigkeit des Widerstands. In Normalität 7 erweitert Steyerl ihren Blick und weist darauf hin, dass nicht nur antisemitische Anschläge, sondern auch rassistische Angriffe alltäglich geworden sind. In ihrer aus dem Off gesprochenen Auflistung erinnert sie z. B. an den antisemitischen Bombenanschlag in Düsseldorf10, bei dem zehn Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion verletzt wurden, an den Mord an dem Mosambikaner Alberto Adriano in Dessau, einen Mordversuch an dem indischen Wissenschaftler Atiqur Rahman in Leipzig, einen Angriff auf einen türkischen Imbiss in Eisenach. Steyerl bezeichnet diesen Umstand als einen Krieg, der zur Vergangenheit des Nationalsozialismus ebenso in Verbindung steht wie auch zum Nationalismus der frühen Nachwendezeit: »A war against the dead and unborn? […] A war which has been taken for normality for the last ten years?« Normalität 7 spitzt die zentrale Frage der Serie zu: »How can one see the structure of violence?« und beantwortet diese mit dem Hinweis auf das Verhältnis von Normalisierung und Gewalt: »Violence is a practice of normalisation. […] Normality is a consequence of violence. A silent war called normality.« Dem Protokoll der Gewaltserie stellt sie Aussagen der Behörden gegenüber, rechte Gewalt sei zurückgegangen.11 9 | Zum filmischen wie musikalischen Intervall vgl. Trinh 1999: xiif. 10 | Der Sprengstoffanschlag am 27.07.2000 in Düsseldorf-Wehrhahn wurde jahrelang nicht aufgeklärt. Erst Anfang Februar 2017 wurde der mutmaßliche Täter, ein bekannter Neonazi, festgenommen (vgl. Brekemann/ Kipp 2017). 11 | Das Jahr 2000 ist auch das Jahr des Mordes an Enver Şimşek in Nürnberg durch den Nationalsozialistischen Untergrund und damit des bislang vermuteten Beginns der
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Während Normalität 7 durch den Entzug der Bildebene das Weiße, mehrheitsdeutsche Nicht-Sehen(-Wollen) als Nicht-Wahrnehmen(-Wollen) der Gewalt problematisiert, setzt Normalität 8 die Untersuchung mit einer weiteren Ortsbegehung fort: Es geht um die Folgen der sogenannten ›Hetzjagd von Guben‹, bei der im Februar 1999 drei Migranten von Neonazis durch Guben gejagt wurden, was für den Algerier Farid Guendoul tödlich endete. Örtliche Antifaschist_innen haben an der Stelle seines Todes einen Gedenkstein errichtet, der wiederholt von Neonazis beschädigt wurde. Wie in Normalität 3 folgt Steyerl auch hier den Versuchen der Unsichtbarmachung der Erinnerung an die Gewalt und macht sie auf diese Weise sichtbar. Normalität 1-10 bleibt jedoch nicht bei der Analyse stehen, sondern betont die Notwendigkeit von Widerstand gegen den rassistischen Normalzustand: So wird im letzten Teil, Normalität 10, die Feier zum zehnten Jahrestag der deutschen Einheit parallel zu einer migrantischen antirassistischen Demonstration in Hannover montiert. Mehrere Aktivist_innen kommen zu Wort. Sie sprechen unter anderem über alltäglichen, gesetzlichen und institutionellen Rassismus in Deutschland, fordern die Öffnung der ›Festung Europa‹. Am Ende steht die Aufforderung einer Aktivistin, das Weiße, mehrheitsdeutsche Schweigen über Rassismus zu brechen: »Silence. Silence is the most threatening thing of today. Silence is the most threatening thing of our time. Yes, you may not be racist or fascist in your actions. You may not be openly articulating racist attitudes. But, the silence, your silence is encouraging fascism. Your silence is telling the fascists that it is okay what they are doing. And it is time that we all break the silence and say to those people who are perpetuating racism that they have to stop!«
Normalität 1-10 vermittelt ein Bild von Deutschland um die Jahrtausendwende, in dem sich das affektive Erbe des Nationalsozialismus in allgegenwärtiger antisemitischer und rassistischer, symbolischer und körperlicher Gewalt fortsetzt, die sich als empfundene Normalität der Wahrnehmung von Politik und Öffentlichkeit zu entziehen scheint.
rassistischen Mordserie. Rückblickend ist noch deutlicher, dass Normalität nicht nur ein ›stiller Krieg‹ ist, sondern auch in eine rassifizierte Wahrnehmungsstruktur eingebunden ist, die das Sehen und damit das Erkennen rassistischer und antisemitischer Gewalt erschwert (vgl. Figge/Michaelsen 2015).
Ein Erbe gespenstischer Normalität
A yşe P ol ats D ie E rbin (2012/13) Wie lässt sich innerhalb einer solchen erinnerungspolitischen Rahmung eines affektiven Nachwirkens nationalsozialistischer Gewalt im Rassismus der Gegenwart postmigrantische Erinnerung denken? Anschließend an Rothbergs Konzept multidirektionalen Erinnerns beeinflusst die Sichtbarkeit bzw. Sagbarkeit von Rassismus das Erinnern postmigrantischer Geschichte. Postmigrantisches Erinnern muss im Rahmen deutscher Erinnerungspolitiken betrachtet werden. In Die Erbin reist die junge Schriftstellerin Hülya nach Damal, das Dorf, aus dem sie in den 1970er Jahren mit ihrem Vater Kenan, einem der ›Gastarbeiter‹, von denen Saless in Empfänger unbekannt erzählt, nach Deutschland ausgewandert ist. Ihre Reise ist von dem Wunsch motiviert, mehr über den Grund ihrer Emigration herauszufinden. Hülya schreibt ein Buch über ihren Vater und will vor Ort besser verstehen, wie es damals zum Weggang gekommen ist. Die Erbin beginnt damit, dass der Vater aus dem Off erzählt, wie Hülya im Krankenhaus seinen Tod miterlebt. Ein paar Tage nachdem er gestorben ist, habe sie geträumt, ihr Vater würde sie liebevoll umarmen. Sie habe dabei ein Gefühl empfunden, »das sie mitriss in die Vergangenheit, in die Zukunft und darüber hinweg, an einen zeitlosen und angstfreien Ort«. Wer da spricht ist die Stimme eines Toten, eines Geistes und entsprechend sehen wir nichts, das Bild zu diesem Prolog ist schwarz. Der tote Vater erzählt aber nicht sein Empfinden, sondern die Gefühle und Gedanken der Tochter. Wir haben es mit einer Gleichzeitigkeit verschiedener Perspektiven und Zeiten zu tun, die nicht klar voneinander getrennt werden. Postmigrantische Erinnerung wird hier als mehrstimmig dargestellt, sich aus den Erinnerungen der Toten und den Imaginationen der Lebenden zusammensetzend. Die Erbin bricht mit Vorstellungen authentischer Herkunftserzählungen, ohne die Notwendigkeit dieser in Frage zu stellen. Die Gleichzeitigkeit und Untrennbarkeit mehrerer Perspektiven wird visuell dadurch vermittelt, dass die Perspektive immer wieder zwischen der beobachtenden Sicht des toten Vaters auf Hülya, Hülyas eigenem Blick auf das Heimatdorf des Vaters und einer neutralen Rückblende wechselt. Die Darstellung des früheren Lebens des Vaters im Dorf vor ihrer Emigration nach Deutschland und die Gegenwart seiner erwachsenen Tochter verschränken sich im Bild und Ton auf fast unmerkliche Weise. Auf den väterlichen Prolog folgt die nächtliche Ankunft Hülyas im Dorfhotel, im Anschluss sehen wir den jungen Vater in einem Holzwerk bei der Arbeit und Hülya als Kind mit ihrem Vater und anderen Familienmitgliedern beim Essen. Gemeinsam verlassen Vater und Tochter das Haus und gehen durch das Dorf. In einem langen Schwenk richtet die Kamera nun den Blick weg von Hülya, dem Mädchen, hin zu Hülya als erwachsener Frau, die, mit dem Rücken zur Kamera auf
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die Landschaft blickt, durch die das Mädchen im Begriff ist, hindurch zu laufen. Räume wiederholen sich, einmal sehen wir ihren Vater und dann wieder Hülya als Erwachsene. In einer Szene sitzt sie beim Frühstück im Hotel, während aus dem Off der Hotelbesitzer im Gespräch mit ihrem Vater zu hören ist, in dem dieser von seinem Entschluss erzählt, nach Deutschland zu gehen.12 In dieser verschränkenden Darstellungsweise vermittelt sich der unsichere Status der Erinnerungen. So wie die Differenz zwischen den Perspektiven und Erinnerungen von Vater und Tochter uneindeutig bleibt, so schwankt der Film zwischen fiktionalisierender Imagination des Vergangenen und dokumentierenden Aufnahmen der Gegenwart. Am Ende wird das Geheimnis des Vaters aufgedeckt: Er hatte den Auftrag, seine Schwägerin zu töten, weshalb, wird nicht gesagt. Hülyas Vater führt sie aus dem Dorf heraus und schickt sie zu ihren Eltern ins Nachbardorf, aber er tötet sie nicht, was, so wird nach und nach deutlich, von der Familie und im Dorf als Feigheit und Schande angesehen wird und den Vater dazu veranlasst, mit seiner Frau und seinen Kindern nach Deutschland zu gehen. In der filmischen Gegenwart ist Hülya darum bemüht, die ›verlorene Ehre‹ ihres Vaters wiederherzustellen. Die filmischen Mittel betonen jedoch nicht den sozialen Konflikt. Stattdessen stellt die Parallelisierung und Verschränkung der Perspektiven die Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten postmigrantischen Erinnerns in den Vordergrund. In Die Erbin werden in multidirektionaler, geisterhafter Weise Erinnerungen an eine patriarchale Gewalt aufgerufen, die weibliche Familienmitglieder verstoßen und ermorden kann. In Fortsetzung dieser Gewalt fordert die Großmutter die erwachsene Enkelin/Autorin auf, an Stelle ihres Vaters die Schwägerin nachträglich in ihrem Buch zu töten. Der deutsche erinnerungspolitische Rahmen deutet sich in beiläufiger, aber für das Erzählen der Geschichte und die Darstellungsweise des Films wesentlicher Weise an: Nicht nur stellt das Weggehen des Vaters nach Deutschland den Ausgangspunkt der Erzählung dar, Hülya ist für die Dorf bewohner die »deutsche Autorin« und die Geschichte der türkischen Arbeitsmigration wird in Anekdoten aus Berlin Kreuzberg zitiert. Für die Frage nach der Möglichkeit des Erzählens und Erinnerns postmigrantischer Geschichte ist dieser Bezug zu Deutschland signifikant: 2012 12 | Es gibt eine politische Bedeutungsebene, auf die wir hier leider nicht genauer eingehen können, die jedoch zumindest kurz genannt sei: Das Dorf liegt im kurdischen Teil der Türkei, die Schulkinder üben ein militärisches Theaterstück zum Feiertag der Nationalen Souveränität am 23. April ein und auf einem Berghang erscheint regelmäßig bei einem bestimmten Lichteinfall die Silhouette Atatürks, der »einzigen touristischen Attraktion« dort, wie Hülya von einem lokalen Taxifahrer und Verwandten erfährt. Diese Details sind wie beiläufig eingefügt, sie weisen auf einen Erinnerungshorizont gewaltvoller, nationaler Konflikte hin, der auch das im Film gezeigte Familiengeschehen rahmt.
Ein Erbe gespenstischer Normalität
einen Film über einen geplanten ›Ehrenmord‹ zu machen ist heikel. Er ruft in der deutschen Öffentlichkeit unvermeidlich rassistische Bilder migrantischer ›Parallelgesellschaften‹ auf. Es ist daher vermutlich kein Zufall, dass der ›Vorfall‹ im Film nicht ausdrücklich benannt wird. Die Darstellung der postmigrantischen Erinnerungen ist zwangsläufig von einem deutschen erinnerungspolitischen Rahmen rassistischer Bilder geprägt. »Orte und Personen vermischten sich, veränderten sich, wechselten sich ab. Mit damals und jetzt. Hier und dort. Alles nebeneinander«, so heißt es zu Beginn im Film. In der multidirektionalen postmigrantischen Erinnerung mischt sich die türkische Vergangenheit mit der deutschen Gegenwart.
E rinnern in der postmigr antischen S ituation Die Filme argumentieren und demonstrieren, dass die Frage der Anerkennung postmigrantischer Subjektivität und gesellschaftlicher Realität mit der Möglichkeit zu tun hat, postmigrantische Erfahrungen und Vergangenheiten innerhalb des erinnerungspolitischen Rahmens ihrer Umgebung erzählen und erinnern zu können. Empfänger unbekannt und Normalität 1-10 verdeutlichen in eindringlicher Weise, wie das affektive Erbe des Nationalsozialismus im Vergessen und Verdrängen bzw. in der Wiederholung antisemitischer Gewalt und auf indirekte oder direkte Weise in alltäglichem, normalisiertem Rassismus in der Gegenwart fortwirkt. Innerhalb eines solchen Rahmens steht postmigrantisches Erinnern vor der Schwierigkeit, mit Geistern unterschiedlicher gewaltvoller, multidirektional und untrennbar miteinander verwobenen Vergangenheiten ringen zu müssen. Alle drei Filme bedienen sich spezifisch filmischer Mittel, um die Komplexität postmigrantischen Erinnerns und Wahrnehmens zu vermitteln. Empfänger unbekannt setzt Überblendungen dokumentarischer und fiktionaler Bilder ein, um sonst nicht sichtbare Bezüge herzustellen und arbeitet insbesondere mit der Kontrastierung von im Off gesprochenem Text und Bild. Normalität 1-10 bedient sich weniger der Kontrastierung als der Ergänzung gegenwärtiger Bilder durch historisches Material, der Musik Schönbergs oder des Zitats von Benjamin, die das gegenwärtige Geschehen in Kontinuität zur Vergangenheit setzt. Die Unterbrechungen auf der Bildebene durch Schwarzbilder vermitteln den Eindruck eines Entzugs der Wahrnehmung und Darstellung, der veranschaulicht, was Steyerl mit Normalität meint: ein Nicht-Sehen-Wollen alltäglicher rassistischer Gewalt. Die Erbin veranschaulicht die Multidirektionalität postmigrantischen Erinnerns nicht nur durch ständige Perspektivwechsel, sondern vor allem durch die filmische Gleichzeitigkeit auf Bild- und Ton-Ebene. Alle drei Filme setzen Aufnahmen ein, die es, wie Standbilder, ermöglichen,
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die Details besser erkennen zu können. Auf diese Weise stellen sie eine komplexere Sichtbarkeit der postmigrantischen Situation her.
F ilme Empfänger unbekannt (Sohrab Shahid Saless, BRD 1982/83). Normalität 1-10 (Hito Steyerl, D/A 1999-2001). Die Erbin (Ayşe Polat, D/T 2012/13).
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Ein Erbe gespenstischer Normalität
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Betrauerbarkeit, Erinnerung und Gedenken an die Mordopfer des NSU aus anerkennungstheoretischer Perspektive Gabriele Fischer »Was wäre gewesen, wenn es ›normale‹ Deutsche aus der oberen Mittelschicht getroffen hätte?« (Varol 2016: 65)
Am 4. November 2011 wurde bekannt, dass der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) für die Morde an Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter sowie für die Bombenanschläge in der Keupstraße und der Probsteigasse in Köln verantwortlich ist. Mit der Selbstenttarnung konnten die Morde und Anschläge nicht mehr allein zur Angelegenheit der Angehörigen und Freund_innen der Opfer gemacht werden. Die Mordserie und die gesellschaftlichen Bedingungen, die sie ermöglicht hatten, wurden zu einem relevanten Ereignis auch für den Teil der Gesellschaft, der nicht im Fokus der Täter_innen gestanden hatte. Die Selbstenttarnung kann daher als »radikales Ereignis« im Foucaultschen Sinne verstanden werden. Dieses bewirkt, »dass die Dinge plötzlich nicht mehr auf die gleiche Weise perzipiert, beschrieben, genannt, charakterisiert, klassifiziert und gelernt werden […]« (Foucault 2003: 269) können wie zuvor. Veränderte Perspektiven und Neuordnungen des Wissens ließen sich für den NSU-Komplex in verschiedenen Bereichen analysieren: Hinsichtlich der Arbeit der Polizei und der Geheimdienste, hinsichtlich der Rolle der Medien oder des politischen Umgangs mit Rechtsextremismus in der Bundesrepublik. Ich möchte in meinem Beitrag den Fokus auf Gedenkpraktiken und Formen des Erinnerns an die Opfer des NSU legen, denn auch hier lässt sich nach der Selbstenttarnung eine Veränderung beobachten. Theoretisch beziehe ich mich auf Judith Butler, die Überlegungen zur Betrauerbarkeit und Anerkennbarkeit von Leben miteinander verbindet (vgl. Butler 2010). Ausgehend von der Darstellung ihrer theoretischen Überlegungen werde ich den
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Zusammenhang zwischen Erinnern, Gedenken und normativen Rahmen des Anerkennbaren nachzeichnen und so auf die Relevanz von Machtverhältnissen in gesellschaftlichem Erinnern hinweisen. Gerade im Kontext NSU lässt sich nachvollziehbar machen, wie sich Rassismus in gesellschaftliche Formen des Erinnerns einschreibt. Im Anschluss an die theoretischen Ausführungen werde ich an konkreten Aushandlungen um Gedenken und Erinnern an die NSU-Opfer darstellen, dass die Selbstenttarnung zu Neuaushandlungen von Erinnerungen an Rechte Gewalt geführt hat, in denen aber nach wie vor rassistische Zuschreibungen wirkmächtig bleiben.
A nerkennbarkeit und B e tr auerbarkeit Während Anerkennung alltagssprachlich häufig als etwas Positives angesehen wird, das es zu erreichen gilt, richtet die hier eingenommene theoretische Perspektive einen etwas anderen Blick auf das Konzept Anerkennung. Gerade über die Konzeptionalisierung von Rahmen oder Rastern des Anerkennbaren, wie sie Judith Butler beschreibt, wird deutlich, dass Anerkennung eine Anpassung an gesellschaftliche Verhältnisse des Anerkennbaren voraussetzt. Somit kann Anerkennung nicht mehr nur als wertschätzend und relevant für die Überwindung von Ungleichheit (vgl. Honneth 1994) verstanden werden. Anerkennung wird vielmehr als ein zentraler Bestandteil der Herstellung von sozialen Hierarchien angesehen, die in Ungleichheitsverhältnissen praktiziert wird. Denn auch über Anerkennung werden privilegierte und auch weniger privilegierte Positionen zugewiesen (vgl. ausführlicher Fischer 2015). Die jeweiligen sozialen Positionen, die über Anerkennungsprozesse zugewiesen werden, beschreiben eine wichtige Voraussetzung dafür, wie Individuen in diesen Positionierungen jeweils gehört und/oder sichtbar werden. Für die theoretische Konzeptionalisierung dieses Gedankens sind Judith Butlers Analysen des Zusammenspiels von Anerkennung, Macht und Subjektivierung relevant (vgl. Butler 2001, 2003). Sie zeigt, wie über Anerkennungsverhältnisse Subjektpositionen entstehen, die durchaus hierarchisch zueinander stehen und auch Marginalisierungen beinhalten können. So lässt sich theoretisch nachvollziehen, wie Anerkennungsprozesse Subjektpositionen in gesellschaftlichen Verhältnissen zuweisen, aus denen heraus agiert wird. Butler entwickelt ihre Gedanken mit Bezug auf die Figur der Anrufung bei Louis Althusser und auf Michel Foucaults Machtanalysen. Althusser thematisiert Wiedererkennen und Anerkennung in seinem viel zitierten Beispiel des Polizisten, der jemanden mit »He, Sie da!« anruft. Mit dem Sich-Umdrehen als Reaktion auf diese Anrufung werden sowohl die Person des Rufenden als auch das Angerufenwerden selbst anerkannt (vgl. Althusser 1977). Dabei wird
Betrauerbarkeit, Erinnerung und Gedenken an die Mordopfer des NSU
noch nicht differenziert danach, als wer die Individuen angerufen werden und von wem. Judith Butler geht in ihren Überlegungen einen Schritt zurück und stellt an Althussers Szenario die Frage, warum sich der/die so Angerufene überhaupt umdreht und welche Auswirkungen dieses Sich-Umdrehen auf die Subjektkonstitution hat (vgl. Butler 2001: 11). Butler denkt die Möglichkeit mit, die Anrufung mit dem eigenen Namen nicht zu verstehen, nicht zu hören, falsch zu verstehen oder die rufende Person nicht zu (er)kennen und damit die Anrufung nicht auf sich zu beziehen (vgl. ebd.: 91f.). Dies wird noch offensichtlicher, wenn die Anrufung in Form einer sozialen Position wie beispielsweise als Migrant_in in bestimmter Art und Weise erfolgt. Anrufungen wie die als ›Migrantin‹ oder ›Mann‹ sind niemals eindeutig. Ihre Inhalte lassen sich je nach Kontext unterschiedlich interpretieren und haben entsprechend das Potenzial, sowohl beleidigend als auch bekräftigend zu wirken. Diese verschiedenen Deutungsmöglichkeiten weisen Positionen zu, implizieren aber auch Freiheiten für die Angerufenen. Sie können innerhalb eines bestimmten Rahmens eigenmächtig entscheiden, auf die Anrufung zu reagieren oder nicht, beziehungsweise in einer bestimmten Art und Weise zu antworten und sie möglicherweise umzudeuten. Dies lässt sich jedoch nicht ohne gesellschaftliche Machtverhältnisse denken. Denn die Frage, ob das Nicht-Reagieren oder das Zurückweisen überhaupt gehört und wahrgenommen werden, ist von der jeweiligen Position der Individuen in gesellschaftlichen Machtgefügen abhängig. Die Gleichzeitigkeit von Unterwerfung und Selbstermächtigung lässt Judith Butler zu dem Schluss kommen, Anerkennung selbst als »Ort der Macht« (Butler 2009: 11) zu bezeichnen. Da der Rahmen der Anerkennbarkeit durch soziale Normen bestimmt ist, wird über Anerkennung verhandelt, »wer für das anerkennbar Menschliche überhaupt in Frage kommt« (ebd.). Judith Butler stellt also nicht Anerkennung als Ziel von Begehren oder Ergebnis von sozialen Interaktionen in den Mittelpunkt, sondern sie fragt nach den gesellschaftlichen Verhältnissen, innerhalb derer Anerkennung stattfindet und soziale Positionen zugewiesen und angenommen werden. Diese Positionen werden relevant für Fragen von Teilhabe, Sichtbarkeit und Möglichkeiten des Gehörtwerdens. Die Raster des Anerkennbaren sind keinesfalls als fix zu verstehen. Sie werden in Anerkennungsprozessen ebenfalls als legitime Grundlage anerkannt. In solchen Prozessen wird, ließe sich argumentieren, damit nicht nur das Anerkennbare, sondern auch das Nicht-Anerkennbare benennbar und als solches anerkannt. Anerkennung wird somit wichtiger Bestandteil des Prozesses von Normalisierung beziehungsweise der normalisierenden Unterwerfung und damit gleichzeitig von Othering, Hierarchisierung und Diskriminierung. Zudem unterliegen Raster des Anerkennbaren Veränderungen, die über Aner-
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kennungspraktiken hervorgerufen werden. Das Zurückweisen rassistisch konnotierter Adressierungen als ›Migrantin‹ und deren selbstermächtigende und umdeutende Aneignung wären dafür ein Beispiel (dies wird deutlich in den Widerstandspraktiken migrantischer Kämpfe wie z. B. kanak attack, vgl. z. B. Bojadžijev 2008). Damit werden nicht nur Subjektpositionen zurückgewiesen, sondern auch normative Raster des Anerkennbaren selbst irritiert oder sogar verschoben. Im Zusammenhang mit der Anerkennbarkeit des Lebens stellt Judith Butler die Frage, warum manche Leben gesellschaftlich mehr betrauerbar erscheinen als andere und denkt damit beides zusammen (vgl. Butler 2010). Sie entwickelt damit einen Gedankengang, bei dem es nicht um einzelne Individuen, also einzelne Leben geht, sondern um Verhältnisse, in denen Leben stattfindet, gefährdet und betrauerbar ist. Den Aspekt der Anerkennbarkeit von Leben, im Sinne der normativen gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen Leben anerkannt werden kann, denkt sie vom Tod her. Sie schreibt: »Nur in Verhältnissen, in denen sein Tod von Bedeutung ist, kann der Wert dieses Lebens zutage treten. Betrauerbarkeit ist somit Voraussetzung dafür, dass es auf ein bestimmtes Leben ankommen kann.« (Butler 2010: 22) Mit dem »Wert dieses Lebens« unterscheidet Butler nicht wertvolles und weniger wertvolles Leben, sondern sie kritisiert gesellschaftliche Verhältnisse, die es zulassen, dass dem Sterben von bestimmten Leben keine oder weniger Bedeutung beigemessen wird. Die gesellschaftlichen Verhältnisse der Anerkennbarkeit weisen also nicht nur unterschiedliche soziale Positionen zu, sondern bestimmen mit, ob Leben als mehr oder weniger betrauerbar gelten. Dieser Gedankengang lässt sich auf die Morde im NSU-Komplex übertragen: Die Opfer der rassistisch motivierten Morde wurden bis zur Selbstenttarnung als potenzielle Täter_innen deklariert. Damit wurde ihnen eine gesellschaftliche Position zugeschrieben, die sie zu ›Anderen‹ machte, um deren Leben sich das mehrheitsgesellschaftliche ›Wir‹ nicht zu sorgen zu brauchen schien. Ihr Tod und seine Folgen für die Angehörigen wurden in diesen gesellschaftlichen Verhältnissen als wenig bis nicht betrauerbar angesehen. Çağan Varol stellt in diesem Zusammenhang die Frage: »was wäre gewesen, wenn es ›normale‹ Deutsche aus der oberen Mittelschicht getroffen hätte?« (Varol 2016: 65) Für die Betrauerbarkeit der Opfer des NSU lässt sich mit der Selbstenttarnung eine Veränderung feststellen, die sich mit den gerade dargestellten theoretischen Überlegungen verbinden lässt. Um diese Veränderung nachvollziehbar zu machen, werde ich im Folgenden die gesellschaftlichen Aushandlungen des Umgangs mit den Opfern des NSU vor und nach der Selbstenttarnung darstellen.
Betrauerbarkeit, Erinnerung und Gedenken an die Mordopfer des NSU
A nerk annt › anders ‹ – R assistische T äter -O pfer -U mkehr Nach bisherigen Kenntnissen begann der NSU seine Mordserie am 9. Septem ber 2000 mit der Ermordung von Enver Şimşek, der in seinem mobilen Blumenstand in Nürnberg mit acht Schüssen niedergeschossen wurde. Zwei Tage später, am 11. September 2000, starb er an den Folgen der Schussverletzungen in einem Nürnberger Krankenhaus. Rund zehn Monate später, am 13. Juni 2001, wurde Abdurrahim Özüdoğru in seiner Änderungsschneiderei ebenfalls in Nürnberg tot aufgefunden. Er wurde mit zwei Schüssen in den Kopf ermordet, geradezu hingerichtet. Beide Männer wurden mit derselben Waffe erschossen. Anhand der Analysen der Medienberichterstattung, die Elke Grittmann, Tanja Thomas und Fabian Virchow (2015) vorgenommen haben und der NichtWahrnehmung der Stimmen der Angehörigen nach den Morden an Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat will ich exemplarisch zeigen, welche Einsichten durch den oben ausgeführten theoretischen Zusammenhang von Anerkennbarkeit und Betrauerbarkeit befördert werden können: Die Befunde zur Presse berichterstattung und die Platzierung von Fotos lassen erkennen, wie eine Opfer-Täter-Umkehr konstruiert wird: Am 19. Juni 2001 erschien in der Nürnberger Zeitung ein Artikel, der über die beiden Mordopfer und die Suche nach den Täter_innen berichtete. Der Artikel war illustriert mit drei nebeneinander angeordneten Fotos: Links platziert war ein schwarz-weißes Bild im PassfotoStil von Enver Şimşek, rechts ein ähnliches Foto von Abdurrahim Özüdoğru. In der Mitte zwischen diesen beiden Fotos setzten die Redakteur_innen ein Phantombild des möglichen Täters (vgl. Virchow/Thomas/Grittmann 2015: 34). Die Analyse dieser fotografischen Darstellung zeigt, wie über diese Anordnung eine Ähnlichkeit von potentiellen Täter_innen und den beiden Mordopfern hergestellt wird. Die Bildsprache schließt an das an, was sich in den Ermittlungen der Behörden und der Berichterstattung über die Mordserie systematisch fortsetzen sollte: Eine Täterkonstruktion, die auf rassistischen Stereotypen gründete, und die von Polizei und Medien unhinterfragt angewendet, übernommen und produziert wurde. In den Analysen zeigt sich weiter, dass auch darüber berichtet wurde, was der Tod der einzelnen ermordeten Männer jeweils für die Familien bedeutete. Der Fokus der Berichterstattung lag dabei vor allem darauf, dass Familien ohne ihr ›Familienoberhaupt‹ zurückgelassen wurden; dies suggeriert in Kombination mit konstruierten Verstrickungen in kriminelle Milieus eine Lesart von Verantwortungslosigkeit der Opfer ihren Familien gegenüber (vgl. Virchow/Thomas/Grittmann 2015: 33ff.). Die Konstruktion der Opfer als potentielle Täter_innen verhindert eine empathische und trauernde Zuwendung zu den Angehörigen, die sicherlich wünschenswert gewesen wäre, die über die rassistischen Differenzkonstruktionen jedoch weitgehend ausblieb (vgl. Utlu 2013).
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Als einen weiteren Hinweis auf die Reproduktion rassistischer Praktiken anstelle von empathischem Hören und Sehen lassen sich die Demonstrationen in Kassel und Dortmund verstehen. Am 4. April 2006 wurde Mehmet Kubaşık in seinem Kiosk in Dortmund erschossen, am 6. April 2006 wurde Halit Yozgat im seinem Internetcafé in Kassel ermordet. Am 6. Mai 2006 fand in Kassel unter dem Motto »Kein 10. Opfer« ein Schweigemarsch statt, an dem mehr als 4.000 Personen, vor allem Menschen mit Migrationsbiographien, teilnahmen. Initiiert und organisiert wurde die Demonstration von Familie Yozgat, anwesend waren auch Angehörige der Familien Şimşek und Kubaşık. Wenige Wochen später, am 11. Juni 2006, fand ein weiterer Trauermarsch in Dortmund statt. Auch hier reiste Familie Yozgat an, um den Angehörigen der Familie Kubaşık Beistand zu leisten. Beide Demonstrationen fanden medial so gut wie keine Aufmerksamkeit. Lediglich eine Journalistin der taz berichtete von der Demonstration in Dortmund (vgl. Virchow/Thomas/Grittmann 2015: 28). Ayşe Güleç und Lee Hielscher arbeiten den rassistischen Hintergrund dieser Praxis des ›Silencing‹ heraus. Spezifisches Wissen, das Migrant_innen aus ihren Erfahrungen mit Alltagsrassismus in Deutschland haben, wird als nicht relevant erachtet und zum Schweigen gebracht. In diesem Kontext lässt sich nicht von einem Nicht-Hören, sondern von einem Nicht-Hören-Wollen sprechen (vgl. Güleç/Hielscher 2015) und gerade diese Ignoranz verhindert eine empathische Zuwendung zu den Opfern (vgl. Güleç/Schaffer 2017). Die Frage, wie in der Berichterstattung und den Ermittlungen aus den Mordopfern potentielle Täter_innen konstruiert wurden und warum die Stimmen der Angehörigen bei den Demonstrationen und den Verhören nicht gehört wurden, als sie auf einen rechtsextremen Hintergrund der Taten hinwiesen, lässt sich nicht ohne die Aushandlungen von Migration in Deutschland diskutieren. Auch hier zeigt sich, dass die Perspektive der Migrant_innen lange Zeit nicht vorkam. Dies will ich paradigmatisch an der Berichterstattung über die Ankunft des ›eine Millionsten Gastarbeiters‹ darstellen (vgl. hierzu auch Motte/Ohlinger 2004). Am 9. September 2004 berichtet die FAZ über ›den eine Millionsten Gastarbeiter‹, der 40 Jahre zuvor, am 10. September 1964 in Köln angekommen war.1 Der Artikel thematisiert die erfolgreiche Beschäftigungspolitik der Bundesrepublik, das Medienspektakel bei der Ankunft, bei der Armando Sa-Rodrigues ein Moped geschenkt bekommen hatte. Von Armando Sa-Rodrigues selbst erfährt man wenig. Er habe das Essen nicht vertragen, habe dann ein Magengeschwür bekommen und sei mit 58 Jahren in Portugal an Krebs gestorben. Zehn Jahre später, zum 50. Jahrestag der Ankunft des ›eine Millionsten Gastarbeiters‹, erschienen Artikel, deren Informationen sich nur unwesentlich voneinander und von dem Text aus dem 1 | http://www.faz.net/video/medien/bildergalerien/gastarbeiter-ein-nagelneuesmoped-als-gastgeschenk-fuer-den-neuankoemmling-1180077.html (06.06.2017).
Betrauerbarkeit, Erinnerung und Gedenken an die Mordopfer des NSU
Jahr 2004 unterschieden.2 Wie sich Armando Sa-Rodrigues dafür entschieden hatte, zum Arbeiten nach Deutschland zu kommen, wie er hier im Alltag zurecht gekommen ist, welche wichtigen Geschichten er aus seinem Leben zu erzählen gehabt hätte und ob er überhaupt ein Moped haben wollte, davon wird in dem Artikel nichts berichtet. Die Geschichte des ›eine Millionsten Gastarbeiters‹ geht als Erfolgsgeschichte der Beschäftigungspolitik in das Narrativ der bundesdeutschen Geschichtsschreibung ein. Die Ankunft selbst, die für Armando Sa-Rodrigues ein vollkommen neues Leben bedeutete, wird auf das geschenkte Moped reduziert. Das Narrativ dieser Ankunft veranschaulicht die Repräsentation der Geschichte der Migration in Deutschland. Migration im Kontext der Anwerbeabkommen tauchte bis vor wenigen Jahren in der Geschichtsschreibung der Bundesrepublik gar nicht oder als Erfolgsgeschichte des als ›Wirtschaftswunder‹ bezeichneten, von den US-Alliierten finanzierten ökonomischen Aufschwungs der 1950er und 1960er Jahre auf, zusätzlich wird suggeriert, es seien nur Männer angeworben worden (vgl. Schwarz 2013; Motte/ Ohliger 2004). Die Menschen, die mit Lebenserfahrungen nach Deutschland gekommen sind und hier ihr Leben unter anderen Vorzeichen weiter lebten, neue Perspektiven entwickelten, mit bisher nicht gemachten Erfahrungen zu kämpfen hatten und versuchten, in einem anderen Land Leben und Alltag zu gestalten, kamen in den Narrativen nicht vor (in einigen Städten sind in den letzten Jahren Ausstellungen zum Thema entstanden, vgl. z. B. Bayer et al. 2009). Das große Desinteresse an den Geschichten der Migrant_innen lässt sich als Teil der sozialen Herstellung von »Migrationsanderen« verstehen, wie Paul Mecheril die den Migrant_innen zugewiesene Positionierung bezeichnet (vgl. Mecheril 2004). Mit diesem Kunstwort bringt er zum Ausdruck, dass die Perspektive auf Migrant_innen und ihre Nachkommen eine Form des ›Othering‹ darstellt. Sie homogenisiert und spricht ihnen Selbstermächtigung und Handlungsfähigkeit ab. Othering und die damit verbundenen Differenzkonstruktionen finden auf vielen verschiedenen Ebenen statt und schreiben sich letztendlich in den normativen gesellschaftlichen Rahmen ein. In Abgrenzung zu den konstruierten ›Migrationsanderen‹ und dem Leben, das sie vermeintlich führen, lassen sich normative Vorgaben des ›eigentlichen‹, des ›richtigen‹ Lebens ableiten und legitimieren. Die Konstruktionen des ›Eigentlichen‹ und des ›Anderen‹ lassen sich auf die oben ausgeführten theoretischen Überlegungen der Rahmen der Anerkennbarkeit beziehen. Während das ›Eigentliche‹ als anerkennbar gilt, lässt sich 2 | Z. B.: http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/der-millionste-gastarbeiter-kamvor-50-jahren-ankunf t-im-wir t schaf t swunderland-deut schland/10677442.html; http://www.deutschlandfunk.de/millionster-gastarbeiter-vor-50-jahren-ein-mopedfuer.871.de.html?dram:article_id=296998 (06.06.2017).
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nicht davon sprechen, dass das, was als das ›Andere‹ konstruiert wird, als nicht anerkennbar gilt. Vielmehr wird es im Rahmen das Anerkennbaren als das ›Andere‹ ebenfalls anerkannt und hierarchisch eingeordnet. Das ›Andere‹ lässt sich sogar als anerkannt ›Anderes‹ und damit konstitutiv für die Konstruktion des ›Eigentlichen‹ verstehen. Mögliche Veränderungen dieser Rahmen des Anerkennbaren werden über rassistische Praktiken wie die des oben beschriebenen ›Silencing‹ erschwert. Gerade die Praktiken der Differenzierung in ›Wir‹ und die ›Anderen‹, die ich beispielhaft dargestellt habe, verhinderten die gesellschaftliche Betrauerbarkeit der Opfer. Dies änderte sich, als bekannt wurde, dass Rechtsextreme für die Taten verantwortlich sind.
»11 J ahre l ang durf ten wir nicht einmal reinen G e wissens O pfer sein « – P ositionsver änderungen Die Selbstenttarnung kann, wie oben bereits angedeutet, als radikales Ereignis im Foucaultschen Sinne (vgl. Foucault 2003: 269) gelesen werden. Das Bekennerv ideo brachte die zehn Morde und die beiden Anschläge in Köln in Verbindung und offenbarte die ihnen zugrunde liegende rassistisch-neonazistische Ideologie. Damit wurde sichtbar, wozu die Neonazi-Szene in Deutschland in der Lage ist, wie wenig effektiv die Behörden das Bekämpfen rechtsextremen Terrors verfolgen, wie stark die Geheimdienste in den Auf bau einer rechten Szene involviert sind, wie leicht die Medien rassistischen Ermittlungen folgen und wie wenig empathisch sich die Mehrheitsgesellschaft gegenüber dem Kampf der Angehörigen gegen die eigene Diskriminierung und rassistische Vorverurteilung zeigte (für eine Auseinandersetzung mit Zorn und Empathie im Kontext Erinnerung an die Opfer des NSU vgl. Utlu 2013). Aktuell, fast sechs Jahre nach der Selbstenttarnung, lässt sich feststellen, dass der Perspektive der Opfer nach einer anfänglich relativ starken Präsenz nur noch geringe mediale und öffentliche Aufmerksamkeit zukommt. Manche der Angehörigen der NSU-Mordopfer und Opfer der beiden Bombenanschläge in der Keupstraße sowie der Probsteigasse in Köln äußerten zunächst Erleichterung darüber, dass Neonazis für die Taten verantwortlich waren. Alleine dieses Gefühl der Erleichterung drückt aus, was die Angehörigen im Anschluss an die Taten erlebt hatten. Für sie bedeutete die Selbstenttarnung das Ende von Verdächtigungen im eigenen Umfeld, erniedrigenden Verhören durch die Polizei und der Unsicherheit darüber, was wirklich geschah (eine Zusammenstellung von Berichten der Angehörigen und Opfer findet sich in John 2014). »11 Jahre durften wir nicht einmal reinen Gewissens Opfer sein«, sagte Semiya Şimşek bei der offiziellen Gedenkfeier der Bundesregierung am
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23. Februar 2012.3 Etwas später ergänzt sie jedoch in ihrer Rede: »Mein Vater wurde von Neonazis ermordet. Soll mich diese Erkenntnis nun beruhigen?« Nach dem, was Semiya Şimşek mit ihrer Familie in Deutschland erlebt hatte, entschied sie sich, das Land zu verlassen und in der Türkei zu leben.4 Wie viele andere Familien der Opfer fühlte sie sich in Deutschland nicht mehr sicher. Die Anerkennung als Opfer, sowohl als Opfer rechter Gewalt als auch als Opfer staatlicher Ermittlungen, spielte für einige Angehörige eine wichtige Rolle. Abdulla Özkan beispielsweise legt großen Wert darauf, sich selbst als ›Opfer‹ des Anschlags in der Keupstraße zu bezeichnen und nicht als ›Betroffener‹.5 Doch was bedeutet es, als ›Opfer‹ anerkannt zu werden? Mit der Position des Opfers ist eine gewisse Schwäche verbunden, sie beinhaltet vielfach die Gefahr, auf diesen Status reduziert zu werden. Selbstermächtigung, Wider spruch und vielleicht sogar Widerstand wird mit dieser Position selten in Verbindung gebracht. Im Kontext der NSU-Opfer lässt sich erkennen, wie die Opfer als Opfer anerkannt und gleichzeitig rassistisch adressiert werden. Das machen beispielsweise die Reaktionen auf die wiederholten Forderungen von İsmail Yozgat deutlich. İsmail Yozgat, der Vater des in Kassel ermordeten Halit Yozgat, fordert bei so vielen Gelegenheiten wie möglich die Umbenennung der Holländischen Straße, in der sich das Internetcafé befand, in dem sein Sohn umgebracht wurde, in Halitstraße. Um diese Forderung sichtbar zu transportieren, präsentiert er ein zweigeteiltes Schild, das oben ein Foto seines Sohnes zeigt und unten den Schriftzug: »Halitstraße oder ich will meinen Sohn zurück«. Dieses Schild trug er auch während seiner Zeugenaussage vor dem Oberlandesgericht in München bei sich, beim Empfang des damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck und bei verschiedenen Gedenkveranstaltungen an den Mord an Halit Yozgat in Kassel. Ayşe Güleç weist darauf hin, dass İsmail Yozgat mit dieser Forderung »Halitstraße oder ich will meinen Sohn zurück« die Unmöglichkeit zum Ausdruck bringen will, seinen Sohn zurück 3 | https://www.youtube.com/watch?v=ra_NWRKRY-4 (06.06.2017). 4 | Semiya Şimşek ist ihrem Mann zuliebe in die Türkei gezogen und dann dortgeblieben. In einem Interview mit der Welt zeigt sie sich besorgt über die Entwicklung in Deutschland. Zur Türkei sagt sie: »Ich bin froh, dass mein Sohn in der Türkei aufwächst. Das ist zwar auch ein Terrorland. Aber dort sind wir wenigstens willkommen.« https:// www.welt.de/vermischtes/ar ticle153964459/In-der-Tuerkei-sind-wir-wenigstenswillkommen.html (06.06.2017). 5 | Dies wird in dem Film »Der Kuaför aus der Keupstraße« deutlich und er brachte dies auch bei einem Gespräch mit Studierenden am 24.11.2016 an der Hochschule Esslingen zum Ausdruck. Er war zum Zeitpunkt des Anschlags im Friseursalon von Özcan Yildirim und wurde bei den Ermittlungen bereits unmittelbar nach dem Anschlag trotz seiner schweren Verletzungen als Verdächtiger behandelt.
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zu bekommen und damit gleichzeitig die Frage formuliert, ob es denn wirklich unmöglich sei, die Straße nach ihm umzubenennen (vgl. Güleç 2015: 202 f.). Auf ihrer Internetseite begründet die Stadt Kassel, warum sie die Straße nicht umbenennen will. Dort heißt es unter anderem: »Seit Kassel 1277 hessische Hauptstadt wurde, hat die Stadt immer in Maßstäben und Bezügen gelebt, die weit über die eigene Umgebung hinauswiesen; es existierte eine jahrhundertealte Ausrichtung auf europäische Zentren von Kunst und Wissenschaft. Dies kommt auch im Straßennamen ›Holländische Straße‹ zum Ausdruck. Die Holländische Straße war lange Zeit ein holländischer Postkurs und somit ein Teil eines großen, alten Verkehrswegs zum Niederrhein und nach Holland; (...) Weitere ›Holländische Straßen‹ in der Region verweisen ebenso auf diesen Zusammenhang. Diese geschichtlichen Bezüge würden durch eine Umbenennung verloren gehen. (...).« 6
Die Selbsterzählung als weltgewandte, handelsfreudige Stadt im Mittelalter wird hier also als Argument herangezogen, um die Sichtbarkeit eines rassistischen Mordes zu verhindern.7 Die Stadt Kassel fasste den Beschluss gegen die Umbenennung mit dieser Begründung bereits im Jahr 2012. Unterstützt von der ›Initiative 6. April‹ in Kassel fordert İsmail Yozgat bis heute immer wieder die Umbenennung der Straße. In der Zwischenzeit erlebt er dabei auch genervte bis rassistische Reaktionen: Bei der Gedenkveranstaltung 2014 wurde er von einem städtischen Vertreter aufgefordert, nicht über die Straßenumbenennung zu sprechen; in der Lokalpresse musste die Kommentarfunktion im Anschluss an die Gedenkveranstaltung aufgrund zahlreicher rassistischer Kommentare geschlossen werden und auf die Gedenktafel gab es im Anschluss einen Anschlag (vgl. Güleç 2015: 203f.). Bezogen auf die theoretischen Ausführungen zu Anerkennbarkeit und Betrauerbarkeit lässt sich hier eine Gleichzeitigkeit feststellen: İsmail Yozgat wird als Opfer der NSU-Mordserie anerkannt und wird in dieser Position beispielsweise vom Bundespräsidenten empfangen. Gleichzeitig wird ihm von der Mehrheitsgesellschaft die Position des gleichberechtigten, fordernden und mitgestaltenden Akteurs abgesprochen. Er fordert eine sichtbare Neuverhandlung der Kasseler Stadtgeschichte, indem sich der Name seines von Neonazis ermordeten Sohnes als Straßenname durch Kassel ziehen soll. Damit nimmt er sich das Recht, die Selbstbeschreibung der Stadt mitgestalten zu wollen. Er tut dies als Angehöriger einer Gruppe, dem über einen langen Zeitraum die Position des ›Gastarbeiters‹ als anerkennbar zugeschrieben und er so als 6 | http://www.stadt-kassel.de/aktuelles/meldungen/18035/ (10.06.2017). 7 | Hier zeigen sich durchaus Parallelen zu Abwehrreaktionen gegen die Umbenennung kolonialer Straßennamen.
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›Anderer‹ konstruiert wurde. Die Anerkennung als Opfer führt also nicht unbedingt dazu, als gleichberechtigter Verhandlungspartner wahrgenommen zu werden, denn rassistische Raster des Anerkennbaren bleiben nach wie vor wirkmächtig. Seit der Selbstenttarnung des NSU werden im Diskurs um rechte Gewalt auch frühere Opfer zunehmend hörbar. Bei der Gedenkveranstaltung der Bundesregierung im Februar 2012 brannten zehn Kerzen für die Mordopfer des NSU und eine elfte für andere, nicht genannte Opfer rechter Gewalt. Unabhängig davon, ob dies von der Bundesregierung wirklich intendiert war, werden in der Auseinandersetzung um den NSU-Komplex andere rechtsextreme Übergriffe zunehmend sichtbar bzw. geraten (wieder) in den Fokus der Debatte. Ibrahim Arslan befand sich in dem Haus in Mölln, auf das am 23. November 1992 von Neonazis ein Brandanschlag verübt wurde. Seine Großmutter Bahide Arslan wickelte ihn in nasse Tücher und setze ihn neben den Kühlschrank. So überlebte er als Siebenjähriger den Anschlag. Seine 52-jährige Großmutter Bahide kam ums Leben. Auch seine zehnjährige Schwester Yeliz Arslan und seine 14-jährige Cousine Ayşe Yilmaz starben. Die Stadt Mölln organisierte relativ schnell nach dem Anschlag zu den Jahrestagen Gedenkveranstaltungen, die sie nach ihren Vorstellungen gestaltete. Ibrahim Arslan sah seiner Familie bei diesen Ereignissen die Rolle von Gästen und Zuschauer_innen zugewiesen. Von 2009 an fand im Rahmen der Gedenkveranstaltungen die »Möllner Rede« statt. Familie Arslan wollte Einfluss auf die Auswahl der Redner_innen nehmen, was der Stadt Mölln insofern missfiel, als sie dadurch die Gestaltungshoheit hätte abgeben müssen (vgl. Freundeskreis Mölln o. J.). Seit 2013 organisiert der Freundeskreis Mölln um Familie Arslan die so genannte »Möllner Rede im Exil« in unterschiedlichen Städten. Im Jahr 2016 fand die Rede in der Kölner Keupstraße statt; damit sollte eine explizite Verbindung zwischen dem Anschlag in Mölln und dem NSU-Komplex hergestellt werden (vgl. ebd.). Die »Möllner Rede im Exil«lässt sich als Wieder-Aneignung der Erinnerung verstehen. Das Motto der Initiative lautet entsprechend »reclaim and remember« und Ibrahim Arslan unterstreicht die Wichtigkeit, sich die eigene Geschichte nicht aus der Hand nehmen zu lassen. Auch er beschreibt sich als ›Opfer‹ rechter Gewalt. Gleichzeitig eignet er sich die Position des Handelnden und Gestaltenden an. Über die Kritik am Umgang mit seiner Familie als Opfer und an dem Nicht-Wahrnehmen ihrer Geschichte und ihrer Erfahrungen weist er die Position des schweigenden und akzeptierenden Opfers zurück und ermächtigt sich dazu, die Gestaltung der Erinnerung an den Anschlag selbst zu übernehmen und damit eine eigene Stimme zu haben. Sowohl İsmail Yozgat und die ›Initiative 6. April‹ als auch Ibrahim Arslan und die Initiative ›mölln 1992 – reclaim and remember‹ lassen sich als Protagonist_innen in der Aushandlung um die Deutung der Erinnerung an rechte Gewalt verstehen (vgl. ausführlicher Kahveci/Pınar Sarp 2017). Sie sind Bei-
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spiele dafür, wie sich die Opfer Gehör erkämpfen und die von der Mehrheitsgesellschaft zugewiesenen Positionen zurückweisen. Sie tragen so dazu bei, das Raster des Anerkennbaren zu verändern.
A nerkennbares L eben – B e tr auerbares L eben Aushandlungen um rechte Gewalt und Erinnerung lassen sich an unterschiedlichen Orten beobachten: In Hamburg führten die Auseinandersetzungen um das Gedenken an den 2001 von Mitgliedern des NSU ermordeten Süleyman Taşköprü dazu, sich mit weiteren Opfern rechter Gewalt in Hamburg auseinanderzusetzen (vgl. Initiative zum Gedenken an Ngoc Chau Nguyen und An Lan Do o. J.; Initiative Tatort Hamburg o. J.). Gülistan Ayaz-Avcı, die Witwe des 1985 in Hamburg von Neonazis ermordeten Ramazan Avcı, erzählt mittlerweile von ihren Erfahrungen, beispielsweise beim NSU-Tribunal im Mai 2017 in Köln. Auch der Mord an den beiden vietnamesischen Geflüchteten Ngoc Chau Nguyên und Anh Lân Dô 1980 in der Hamburger Halskestraße wird wieder in Erinnerung gerufen (Initiative zum Gedenken an Ngoc Chau Nguyên und Anh Lân Dô o. J.). In Rostock werden Bezüge hergestellt zwischen dem Mord an Mehmet Turgut und den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen.8 Es fällt auf, dass bei diesen Neuverhandlungen der Geschichte von Rechter Gewalt vor allem Opfer rassistischer Morde im Fokus stehen. Anerkennungstheoretisch lässt sich dies durch eine Diskursverschiebung in der Thematisierbarkeit von Rassismus begründen. Auseinandersetzungen um Rassismus haben mittlerweile in Wissenschaft, Kultur und Politik begonnen, gehören in manchen Kontexten schon fast selbstverständlich dazu. Schlüsselpersonen dafür sind sowohl Migrant_innen als auch die Kinder und Enkel der ersten Generation der Migrant_innen, die über Anwerbeabkommen in die Bundesrepublik kamen. Diese artikulieren sich in Medien, Kultur, Wissenschaft oder Politik rassismuskritisch und gestalten damit in machtvollen gesellschaftlichen Bereichen den Diskurs mit. Ihnen gelingt es, Rassismus in der Mehrheitsgesellschaft zu diskutieren und die auch auf Rassismus gegründeten normativen Raster des Anerkennbaren zu irritieren (zum Thema NSU vgl. z. B. Bozay et al. 2016; Önder/Umpfenbach/Mortazavi 2016). Die Thematisierbarkeit von rechter Gewalt steht also in engem Zusammenhang mit gesellschaftlichen Anerkennungsverhältnissen. Auch wenn in keinster Weise davon gesprochen werden kann, dass in Deutschland eine zufriedenstellende Auseinanderset8 | Diese Aufzählung ist hier nur beispielhaft und nicht vollständig. An vielen Orten wird den Opfern rechter Gewalt zunehmend mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Oft sind es allerdings ausschließlich antirassistische Initiativen und Gruppen der Antifa, die auf die Kontinuitäten rechter Gewalt hinweisen.
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zung mit dem Thema Rassismus stattfindet, so ist das Thema selbst doch ein wichtiger Bestandteil gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, die auch darin bestehen können, immer wieder – wie im Fall des Prozesses gegen die angeklagten Mitglieder und Unterstützer_innen des NSU am Oberlandesgericht in München – auf die fehlende Thematisierung von Rassismus hinzuweisen. Die Amadeu Antonio Stiftung geht von mindestens 172 Mordopfern rechter Gewalt seit 1990 aus (vgl. Amadeu Antonio Stiftung 2012). Darunter sind unter anderem auch Wohnungslose, die zum Teil brutal von Neonazis ermordet wurden. Die Erinnerung an diese Morde hat noch einen schweren Weg hin zu mehr Sichtbarkeit und öffentlicher Auseinandersetzung vor sich. Der Zusammenhang von Anerkennbarkeit von Leben und seiner Betrauerbarkeit liegt nahe. Dies unterstreicht, wie Raster der Anerkennbarkeit deren Betrauerbarkeit bedingen.
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Anderes Sehen: Blickregime von Behinderung in der Fotografie Anna Grebe
B ehinderung zeigen Der Berliner Fotograf Andi Weiland, der hauptberuflich bei der Berliner NGO Sozialhelden tätig und am Fotoprojekt Gesellschaftsbilder beteiligt ist, weist in seinem Portfolio darauf hin, dass Fotografien von Menschen mit Behinderung häufig durch Stereotype gekennzeichnet seien, »die Menschen mit Behinderung auf ein Defizit beschränken«.1 Er setzt sich deshalb für eine »klischeefreie Bildsprache« ein, die er als Fotograf in verschiedenen Projekten direkt und praktisch anwendet, indem er Menschen mit Behinderung in Alltagssituationen zeigt. Der französische Fotograf Deniz Darzacq, der in seiner Ausstellung Act (2008-2011)2 Jugendliche mit Behinderung in außergewöhnlichen Posen, Räumen und Umgebungen zeigt, begründet sein Interesse an ihrer fotografischen Insbildsetzung wiederum weniger mit einer Kritik an einer häufig klischeebeladenen Darstellungsweise, sondern mit einer weitgehenden medialen Unsichtbarkeit: »Some people have said to me: ›How dare you photograph disabled people.‹ And I said: ›How dare you not photograph them‹.«3 Im Ausspruch Darzacqs als auch in Weilands Beobachtung wird deutlich: Wenngleich es viel1 | http://sozialhelden.de/, http://gesellschaftsbilder.de/, http://andiweiland.de/ portfolio/inklusion/ (11.08.2017). 2 | Auf seiner Homepage lässt Darzacq sein Projekt folgendermaßen beschreiben: »Act is the result of Denis Darzacq’s long work amongst people with learning disabilities. Even though some of the subjects are also actors, athletes and dancers, each of them found in the acting and in the ownership of the public space a means to express the complexity of their individuality beyond the assigned label of ›handicapped person‹«. Vgl. http://www.denis-darzacq.com/act.htm (11.08.2017). 3 | http://lejournaldelaphotographie.com/entries/6389/new-york-denis-darzacq-act (20.08.2013, Website nicht mehr erreichbar).
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leicht das grundsätzliche Ansinnen vieler Fotograf_innen ist, ihre Modelle so ›normal‹ und so ›authentisch‹ oder auch so ausdrucksstark wie möglich zu zeigen, so werden Bilder von Menschen mit Behinderung immer auch mit dem Gegenteil dessen in Verbindung gebracht, was als ›normal‹ gekennzeichnet zu sein scheint. Menschen mit Behinderung werden entweder als ›nicht normal‹ oder im Zweifel auch einfach gar nicht visuell repräsentiert.4 Die immer lauter werdenden (und durchaus berechtigten) Rufe nach einer nicht diskriminierenden, angemessenen medialen Darstellung von Menschen mit Behinderung im Zuge der 2008 in Kraft getretenen der UN-Behindertenrechtskonvention zielen dabei heute noch darauf, Effekte des Abgrenzens und der Exklusion zu verhindern und dies nicht nur mit Blick auf bildliche Repräsentationen, sondern auch hinsichtlich einer Exklusion aus der so genannten ›Normalgesellschaft‹. Diese Kritik verfolgt beispielsweise das Community-Projekt der US-amerikanischen Aktivistin Alice Wong5; sie sammelt und verbreitet auf ihrer Website und auf Facebook täglich Dutzende Links und Postings unter der Leitfrage der Verschränkung von Disability und Visibility, um so einerseits Menschen mit Behinderung und ihren persönlichen Geschichten zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen, und andererseits die Berichterstattung über und die Repräsentationsweisen von Menschen mit Behinderung zur kritischen Diskussion durch die mehr als 12.000 Mitglieder umfassende Community zu stellen. In solchen kritischen Diskussionen wird auch immer wieder auf die Reproduktion eines »medizinischen« oder auch auf den »klinischen Blick« (Foucault 1993) verwiesen, zum Beispiel dann, wenn deutschsprachige Portale wie leidmedien.de darauf aufmerksam machen, dass Menschen mit Behinderung in der medialen Berichterstattung nicht entlang der Zuschreibung einer (körperlichen) ›Schädigung‹ identifiziert werden und damit als defizitär gekennzeichnet, sondern mit der Normalität ihres Lebens gesehen werden möchten (Maskos 2015). In der kultur- und medienwissenschaftlichen Forschung herrscht soweit Einvernehmen darüber, dass eine erhöhte Sichtbarkeit einer gesellschaftlichen Minorität im gesellschaftlichen Raum jedoch nicht zwangsläufig eine »Belehnung mit Wert« (Schaffer 2008: 20) bedeutet. Jedoch wurde insbesondere in den Disability Studies lange Zeit vernachlässigt, dass Bilder von Behinderung als Produkt einer Wechselwirkung von Blick und Sehen analysiert werden sollten, deren Produktion als auch deren Wahrnehmung aufgrund erlernter und tradierter Bildstrategien erfolgt. Disability Studies können, so argumentiert dieser Beitrag, von den Einsichten einer kritischen Bildwissenschaft und durch die Berücksichtigung der jeweiligen spezifischen Medialität des Zu-Sehen4 | Vgl. auch ht tp://anderstark.de/ (Initiatorin: Anastasia Umrik), ht tp://www. keinwiders pruch.de/ (Johannes Meirhofer), http://gesellschaftsbilder.de/ u. v. m. (alle 11.08.2017). 5 | Vgl. http://disabilityvisibilityproject.com/ (23.06.2017).
Anderes Sehen: Blickregime von Behinderung in der Fotografie
Gebens profitieren. Diese Medialität lässt sich ihrerseits wiederum als Resultat des Ineinandergreifens von technischer Entwicklung und sozialer Praxis denken. Konkret heißt das, dass an der Konstitution von Behinderung als wirkmächtige soziale Kategorie auch gleichermaßen ihre Sichtbarmachung oder auch ihre Unsichtbarmachung beteiligt ist und dass diese Repräsentationen gleichsam als Akteure im Diskurs um die Praktiken sozialer Herstellung von Behinderung als auch von Normalität untersucht werden müssen, ohne die Bilder selbst als ontologisch aufzufassen und ihnen damit lediglich den Status einer (historischen) Quelle zuzuweisen. Dieser Beitrag skizziert im Folgenden die sozio-historischen Repräsentationsmodi von Behinderung in künstlerischen und medialen Artefakten und konzentriert sich auf fotografische Repräsentationen. Ziel ist, die Erkenntnisse aus einer Diskussion der in den Disability Studies etablierten heuristischen Modellbildung mit Einsichten zur Theoretisierung moderner Blickregime zu verknüpfen.
D ie B licke der D isabilit y S tudies Die sich seit den 1980er Jahren aus der politischen Behindertenbewegung herausgebildeten sozialwissenschaftlich fundierten Disability Studies benennen als ihren Dreh- und Angelpunkt das »soziale Modell« von Behinderung (vgl. Waldschmidt 2005; Renggli 2004). Anhand dessen setzen sich ihre Vertreter_innen vom sogenannten »medizinischen Modell« von Behinderung ab. Sie rekurrieren auf Michel Foucaults Kritik an einem »klinischen Blick«, der das Ziel verfolgt, »die Abweichung festzustellen und dann in geeigneter Form zu behandeln« (Hirschberg 2009: 112), und der damit den behinderten Menschen auf diese Devianz reduziert. Folglich konzeptualisieren Vertreter_innen des sozialen Modells Behinderung in ihren »Studien zu oder über Behinderung« (Waldschmidt 2005: 10) in Abgrenzung zu den biologistisch orientierten Gesundheits- und Rehabilitationswissenschaften nicht als individuelles Merkmal oder Problem, welches Heilung oder Linderung bedarf, sondern als sozial hervorgebrachtes Phänomen oder als Kategorie, die es als »komplexes Zusammenspiel politischer, ökonomischer Kräfte und kultureller Werte« (Hermes 2006: 22) zu analysieren gilt. Die Kritik der Vertreter_innen des sozialen Modells am klinischen oder auch ärztlichen Blick richtet sich somit gegen eine den behinderten Menschen auf seine ›Schädigung‹ oder seinen ›Mangel‹ reduzierende Sichtweise als auch gegen ein defizitorientiertes und mechanistisches Menschenbild, das zwischen den vermeintlichen Polaritäten von ›Normalität‹ und ›Nicht-Normalität‹, ›Gesundheit‹ und ›Krankheit‹ und ›nicht-behindert‹ und ›behindert‹ keinen Handlungsspielraum zu kennen scheint (vgl. Maio 2008). Mein zentrales Argument lautet: Es ist der sprichwörtliche Blick auf den Menschen, der die Behinderung
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und damit das behinderte Subjekt erst hervorbringt. Versteht man Subjektbildung als einen im höchsten Maße von Praktiken der (Selbst-)Wahrnehmung gekennzeichneten Erkenntnisprozess, für welchen das »Sehen und das Gesehen-Werden« (Bublitz 2006: 343) die Grundlage bildet, so zeigt sich auch, dass gerade jene »Reziprozität der Perspektiven« (Bublitz 2006: 355) für die Reintegration des Körpers als »visuelle[r] Verkörperung des Sozialen« (ebd.: 343) in die Modellbildung der Disability Studies von nicht zu unterschätzender Relevanz ist. Um diese Perspektive zu schärfen, gilt es deshalb nun, diese beiden dominanten (Denk-)Modelle der Disability Studies auf ihre den Blick und das Sehen organisierenden Bedingungen hin zu befragen und einen Versuch der Übersetzung in das vorzunehmen, was von Vertreter_innen der Visual Studies als »visuelle Regime« oder »Blickregime« bezeichnet wird und als ein Set von Konfigurationen verstanden werden kann, welches das Subjekt vor der Kamera und als Bild konstituiert (vgl. Jay 1988; Silverman 1997). Dabei wird deutlich, dass sich die Annahme, dass das soziale Modell das medizinische Modell als das in den Disability Studies dominierende unterdessen »abgelöst« (Renggli 2004: 16) habe, nicht halten lässt – weder erkenntnistheoretisch hinsichtlich einer damit formulierten radikalen genealogischen Ab- oder Reihenfolge noch mit Blick auf die soziale Praxis der fotografischen Repräsentation und im Umgang mit Bildern von Behinderung. Das medizinische Modell wird häufig auch als ›individuelles Modell‹ bezeichnet, was darauf zurückzuführen ist, dass es im Unterschied zum sozialen Modell nicht die Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen einer Einzelperson und der Gesellschaft in den Blick nimmt, sondern sich auf das Individuum und seine Handlungsoptionen konzentriert (vgl. Hirschberg 2009: 105). ›Medizinisch‹ wird das Modell deshalb genannt, da es eng verknüpft ist mit der Geschichte und der Entwicklung der Medizin und der Humanwissenschaften und dem daraus resultierenden medizinisch-biologisch-analytischen Blick auf den menschlichen Körper. Behinderung gilt aus dieser Perspektive als individuelles Problem, das durch Vererbung, durch einen Unfall oder Krankheit hervorgebracht wurde und »als tragischer Defekt, als defizitäre Abweichung eines einer Minderheit angehörenden Individuums« (Renggli 2004: 16) betrachtet werden muss. Die körperliche Schädigung alleine wird hier mit ›Behinderung‹ gleichgesetzt, während gesellschaftliche Faktoren oder die sächliche Umwelt keine Rolle für die Abweichung vom ›Normalzustand‹ spielen. Gelöst werden könne das ›Problem‹ Behinderung durch medizinisch-therapeutische Maßnahmen, durch die das zur Heilung und Genesung bereite Individuum wieder in die ›Normalgesellschaft‹ integriert werden kann (vgl. Waldschmidt 2005: 17). Behinderung kann im medizinischen Modell also nur ›überwunden‹ werden, wenn das Individuum sich als aus der Mehrheit ausgeschlossen akzeptiert, sein defizitäres Dasein erkennt und aus seinem exklusiven Status
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heraus versucht, sich dieser Mehrheit durch die eigene Anstrengung und den Rehabilitationswillen anzunähern. Die verschiedenen Ausprägungen des sozialen Modells hingegen betrachten Behinderung eben nicht als Leiden oder Störung des Individuums, sondern rücken sie in das Spannungsfeld zwischen Gesellschaft und Umwelt (vgl. Hirschberg 2009: 113). Der Ursprung dieses Modells lässt sich in der politischen Behindertenbewegung der 1970er und 1980er Jahre und etwa zeitgleich in Großbritannien und den USA als Kritik und Abwendung vom medizinischen Modell verorten. Behinderung ist für die Vertreter_innen des sozialen Modells nicht mehr im Sinne des medizinischen Modells als individuelles Schicksal zu verstehen, das durch Therapie und Rehabilitation überwunden werden kann, sondern als Produkt sozialer Organisationen. Die gesellschaftliche Benachteiligung behinderter Menschen wird so zur Grundlage ihrer Überlegungen und Forderungen. Es ist also nicht der behinderte Mensch, der sich ändern und anpassen muss, sondern die Gesellschaft und damit auch die sächliche Umwelt, um ihn oder sie als mündige und zu Selbstbestimmung fähige Bürger_in wahr und ernst zu nehmen. Durch die Konzeptionalisierung des sozialen Modells verschwanden medizinische Deutungen von Behinderung jedoch keineswegs: Gerade der medizinische Blick hält sich aufgrund von neueren biomedizinischen Diskursen sowie den sich weiterentwickelnden bildgebenden Verfahren hartnäckig statt aufgrund politischer Instrumente der Integration und Inklusion wie immer wieder gefordert an Bedeutung zu verlieren. Die Lesarten von Normalität und Abweichung und ihrem Verhältnis zueinander, so meine These, konfigurieren sich deshalb immer wieder neu und in ständiger Wechselwirkung von sozialem Wissen und Bilderwissen – und unterliegen zeitlich und situativ variierenden Zuschreibungen von Machtverhältnissen und visuellen Regimes. Das bedeutet, dass eine simple Übertragung der Modelle in ein visuell-ästhetisches Konzept am ehesten dazu führen würde, eine normative ›Behindertenästhetik‹ zu kreieren. Stattdessen, so schlägt dieser Beitrag vor, gilt es zu fragen, wie ein Körper im Bild als ›behindert‹ markiert, konstruiert oder produziert wird und damit selbst zum Bild für Behinderung allgemein wird. Behinderung kann somit auch als wirkmächtige Kategorie verstanden werden, an deren sozialer wie auch technischer Verfassung einerseits die Gesamtheit aller Aussagen bzw. der Diskurse zum Thema Behinderung, andererseits aber auch die Institutionen und Orte sowie die Techniken der Sichtbar- und Unsichtbarmachung im fotografischen Medium beteiligt sind. Wenn dieser Beitrag etwas über die Blickregime von Behinderung und Normalität im Spannungsfeld der Modellbildung der Disability Studies in Erfahrung bringen will, so gilt es demnach auch, Fotografien als ›Subjektivierungsmaschinen‹ zu begreifen, die das sehende wie auch das zu fotografierende Subjekt formen und dadurch Wissen hervorbringen und es als ›Wahrheit‹ konsolidieren – eine soziale wie auch fotografische
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›Wahrheit‹ über Behinderung (vgl. Deleuze/Guattari 2005; Broeckmann 1996: 116).
N ormale B ilder von B ehinderung ? Der Herausforderung, die visuelle Repräsentation von Menschen mit Behinderung als auch deren Wahrnehmung zu untersuchen und eine Bildgeschichte von Behinderung in verschiedene Strömungen, Ordnungen oder eben auch Modelle zu überführen, wurde bisher in der Disability-Forschung größtenteils unter einem kunst- und/oder kulturhistorischen Fokus begegnet – doch geschah dies zumeist unter Vernachlässigung der wechselseitigen Konstitution von Bild und Behinderung. So analysiert etwa Robert Bogdan, ein US-amerikanischer Soziologe und Disability-Forscher, in seiner Studie Picturing Disability (2012) anhand einer beeindruckend hohen Anzahl von Quellen die Intentionen oder die Bestimmung von Fotografien behinderter Menschen, beispielsweise im Rahmen von Fundraising für Wohlfahrtsorganisationen oder gar kommerzieller Produktwerbung. Dabei geht er davon aus, dass eine diesem »disability photography genre« (Bogdan 2012: 165) inhärente und eigene Ästhetik existiert, deren Merkmale Betrachter_innen darauf schließen lassen, dass es sich bei dem fotografisch zugerichteten Subjekt um einen Menschen mit Behinderung handelt.6 Dieser materialorientierte Ansatz muss notwendigerweise darüber hinwegsehen, dass es eine über die Intention von Fotograf_ innen oder Auftraggeber_innen hinausreichende Bilddimension gibt, die außerhalb des Feldes der Sichtbarkeit einer körperlichen Behinderung oder der körperlichen Manifestation einer (vermuteten) geistigen Behinderung operiert und durch die Zuweisung von Genres oder ästhetischen Kategorien ›Behinderung‹ erst produziert. Bogdan widmet sich überdies auch jenen Bildern, von denen er behauptet, dass sie im Gegensatz zu den bisher von ihm untersuchten Aufnahmen keine spezifische Ästhetik implizieren: »In this chapter, I look at photographs of people with disabilities in which disability photographic conventions are not employed or, if they are, they do not dominate the image.« (Ebd.: 144) Bogdan gesteht diesen Bildern zu, dass sie den Menschen mit Behinderung als »ordinary member of the community« zeigen und bezieht sich dabei auf synchron entstandene bürgerliche Atelierfotografien, die in erster Linie als Andenken für die Familie produziert worden seien. Dabei beschreibt er ausführlich die Techniken der Normalisierung durch die Inszenierung, das Setting oder die Requisite und bezieht sich dabei vordergründig auf jene 6 | Bogdan versteht unter »genre« in diesem Zusammenhang »different sets of guide lines«, welche wiederum mit verschiedenen »modes of representing« und fotografischen Konventionen operieren.
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Behinderungen, die sich auf der Körperoberfläche manifestieren, während er für ›unsichtbare‹ Behinderungen wie geistige Behinderungen, Gehörlosigkeit oder Blindheit durchaus zugibt, dass er auf die Frage nach diesen Normalisierungsstrategien keine Antwort parat habe (vgl. ebd.: 162). Seine These, dass die fotografierten Subjekte ›ganz normal‹ dargestellt werden würden, scheint er in seinen Bildbeschreibungen dann allerdings selbst zu überholen, denn er identifiziert die abgebildeten Menschen nicht als ›behindert‹ oder ›nicht normal‹ auf der Grundlage fotografischer Konventionen, der Komposition oder des kulturellen Bilderrepertoires. Vielmehr setzt er in seiner detailreichen Betrachtung bereits voraus, dass denjenigen, die das Bild sehen, bewusst ist, dass es sich um einen Menschen mit Behinderung handelt. Bogdan argumentiert: »Although it is difficult to make a diagnosis based on the photograph, the mother’s gaunt appearance suggests tuberculosis.« (Ebd.: 156) Dies ist insofern problematisch, als dass er sich dadurch anhand von Spekulationen selbst einem klinisch-ärztlichen Sehen auf der Basis des medizinischen Modells von Behinderung ergibt und im selben Moment, in dem er den Subjekten Normalität zuspricht, ihre Nicht-Normalität außerhalb des Bildes voraussetzt. Rosemarie Garland-Thomson hat im Zuge ihrer vielfältigen Beschäftigung mit Bildern von Menschen mit Behinderung in ihrem Aufsatz Seeing the Disabled. Visual Rhetorics of Disability in Popular Photography von 2001 zum ersten Mal vier Bildrhetoriken identifiziert, die den Blick auf Behinderung durch das Bild hindurch beschreiben und dadurch eine Differenzlogik zwischen Behinderung und Nicht-Behinderung implizieren: den außerordentlichen (»the wondrous«), den rührseligen (»the sentimental«), den exotischen (»the exotic«) und den alltagsnahen Blick (»the realistic«) (vgl. Garland-Thomson 2001; Renggli 2006). Diese rhetorischen Modi ermöglichen es, den ›Bildinhalt‹ zu lesen, setzen aber zugleich den Blick nicht-behinderter Betrachter_innen auf eine als behindert gekennzeichnete Person voraus, und wurden infolgedessen u. a. von deutschsprachigen Disability-Forscherinnen aufgegriffen und kritisiert (vgl. Renggli 2006; Ziemer 2008). Garland-Thomson zufolge können die vier Modi in manchen Bildern auch konvergieren, ineinander aufgehen und auch konfligieren, und fordern dadurch den_die Betrachter_in auf, auf die Bilder zu reagieren (Garland-Thomson 2001: 339). So sei der außerordentliche Blick historisch gesehen der älteste Modus und fände immer noch seine Anwendung. In diesem Modus nimmt der_die Betrachter_in eine Position des Gewöhnlichen, Normalen ein, und blickt bewundernd und beeindruckt hinauf zur als Wunder oder im modernen Diskurs als »supercrip« (Grebe/Ochsner 2013; Kama 2004) verkörperten Differenz (Garland-Thomson 2001: 340). Dennoch geht es auch im außerordentlichen Modus weniger darum, den_die nicht-behinderte_n Betrachter_in in eine demütig-bewundernde Position zu bringen, sondern vielmehr kann diese_r durch die distanzierte Beziehung zu
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dem, was er_sie bewundert, sich seiner_ihrer eigenen Normalität versichern und diese stabilisieren. Diesem Verhältnis zwischen nicht-behindertem_r Betrachter_in und betrachtetem fotografischen Referenten im Bild steht der rührselige Modus gegenüber, der den behinderten Menschen als Opfer oder als hilflos Leidenden unterhalb des_der Betrachters_Betrachterin positioniert. Garland-Thomson bindet diese Konstellation an die bürgerliche Empfindsamkeit des langen 19. Jahrhunderts an, in deren Spur der_die Betrachter_in dem behinderten Individuum gegenüber zum großzügigen und hilfsbereiten Akteur werden kann, der in einem nahezu paternalistischen Gestus den bemitleidenswerten Behinderten durch seine Aufmerksamkeit (zum Beispiel auch in Form von Almosen) als ihm_ihr unterlegen anerkennt (vgl. Garland-Thomson 2001: 341). Die dritte rhetorische Form, der exotische Blick, hält Betrachter_in und Betrachtetes auf Distanz: Der behinderte Mensch verkörpert das Fremde, das sich vom_von der Betrachter_in eingehend begaffen und bestaunen lässt, Furcht und Neugierde zugleich anregt. Der_die Zuschauer_in erfährt sich dabei als erleuchtet und angenehm durch die Begegnung mit dem Exotischen erregt, bewahrt jedoch die Distanz. Im Gegensatz zum exotischen Blick verringert der alltagsnahe Blick diese Distanz und stellt den Menschen mit Behinderung nicht mehr als etwas ›radikal anderes‹ dar, sondern normalisiert und minimiert die Sichtbarkeit in Form einer Zurschaustellung von Behinderung. »[R]ealistic«, so Garland-Thomson (2001: 344), heißt in keinem Fall, dass es sich um eine besonders ›echte‹ oder ›wahrhaftige‹ Darstellung handelt, sondern der Modus hat die Funktion, eine Vorstellung von Realität zu erschaffen. Insofern ist dieser Modus so konstruiert wie alle anderen Modi auch, kann aber GarlandThomson zufolge dazu ermutigen, dass Betrachter_in und Betrachtete_r sich auf Augenhöhe miteinander identifizieren und so Gleichberechtigung entsteht. Diese vier rhetorischen Modi der Insbildsetzung von Behinderung sind meines Erachtens hier eher als Impulse denn als feststehende Kategorien für die Frage nach der Produktion von Behinderung in der Fotografie zu verstehen; nicht nur, da sie in den seltensten Fällen isoliert auftreten, sondern auch, weil mit dieser Modellbildung der ikonisch-indexikalische Status des analogen fotografischen Bildes vernachlässigt wird. Garland-Thomson erkennt die Asymmetrie zwischen starer und staree, die der fotografische Akt mit sich bringt, da die Oberfläche und die Rahmung des Bildes den_die Betrachter_in geradewegs dazu einladen, den abgebildeten Menschen zu betrachten, und sie weist in ihren unter den rhetorischen Modi erfolgenden und spannenden Bildanalysen auch auf die zeitlich-epochale Ungebundenheit der rhetorischen Figuren hin (vgl. Garland-Thomson 2001: 349). Jedoch argumentiert sie nicht im Anschluss an die Visual Studies auf der Grundlage einer permanenten Neuverfassung des Bildes als visuelles Ereignis und vernachlässigt überdies die Medialität, die ihren Ausführungen zum fotografischen Bild zugrunde liegen.
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Dies hat zur Folge, dass die von ihr beschriebenen Praktiken des Sehens von Behinderung für die Visual Studies unvollständig dahingehend bleiben, als sie die den Blick konfigurierenden Techniken unberücksichtigt lassen und so die visuelle Begegnung zwischen Subjekt und Objekt des Sehens ohne ihre Media tisiertheit und ihr Dispositiv denken (vgl. Bergermann 2013: 288f.). So erscheinen die von ihr entwickelten Bildrhetoriken aufgrund ihres heuristischen Charakters freilich wenig flexibel und offen für die Beschreibung jener vexierbildhaften Bewegungen zwischen Normalisierung und Denormalisierung. Sie können so letztlich keinen Ausweg aus dem Dilemma eines zugeschriebenen unabänderlichen medizinischen Blicks seitens des_der nicht-behinderten Betrachters_Betrachterin auf einen Menschen mit Behinderung aufzeigen. Um aber genau jene Verschränkung der Ereignishaftigkeit von Bildern einerseits und von Behinderung andererseits und zugleich deren Arretierung im fotografischen Denken und dessen Dispositiven aufzuzeigen und beschreibbar machen zu können, erscheint es notwendig, sich von einem sich über die Verbindung von Blick und Gegenblick etablierenden rhetorisch-figurativen Modell wie auch von Kategorien einer spezifischen ›Behindertenästhetik‹ zu entfernen. Stattdessen gilt es, außerhalb von heuristischen Analysekategorien produktive Zugänge zu entwickeln, die den Status von Fotograf_innen, Referent_innen, der Betrachter_innen und nicht zuletzt des Mediums selbst in seiner sozio-technischen Verfasstheit berücksichtigen und in ihrer Relation zueinander erfassen.
B lickregime von B ehinderung als dominante F ik tion Wird nun also im Rahmen der Disability Studies vom klinischen Blick als erkenntnisleitenden Moment für das medizinische Modell gesprochen, so muss dieser meines Erachtens im Sinne eines ›klinischen Blickregimes‹ verstanden werden oder allgemeiner als ein ›visuelles Regime‹, welches das Subjekt anhand von Repräsentationen und der Wahrnehmung definiert, es in bestimmte diskursive (Bild-)Formationen einbindet und es sich so in Relation zu einem imaginären äußeren Betrachtungsstandpunkt wahrnehmen lässt. Das bedeutet, dass eben jene Bedingungen für das Sehen von Behinderung und NichtBehinderung einem stetigen Wandel unterliegen, dessen Wirkmacht von sozialen wie auch technischen Veränderungen motiviert wird und dadurch auch stetig neue Deutungsangebote hervorbringt. Die Kritik, die Vertreter_innen des sozialen Modells von Behinderung an diesem stabilisierten klinischen Blick üben, zielt folglich auf die praktischen Konsequenzen der Exklusion und Separation ab, die aus dieser Ordnung gezogen wurden und dazu geführt haben, dass kranke und behinderte Menschen an den Rand der Gesellschaft gedrängt und zur ›Auf bewahrung‹ in Anstalten und Institutionen gebracht
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wurden, um so erneut ihren nicht-normalen Status zu zementieren. Die Kritik thematisiert somit die Machtverhältnisse, die ein visuelles Regime in Wechselwirkung zu produzieren und zu etablieren vermag und die Formen von Wissen und ›Wahrheit‹ herstellt, die ›Behinderung‹ als Devianz markiert und ein Körperideal erzeugt, das deutliche Normalitätsgrenzen dazu zieht. Ein Regime impliziert damit auch immer, dass es eine herrschende, eine domi nante Wissensform gibt, die das Subjekt modelliert, jedoch eben nicht von einem zentralen institutionellen Punkt oder Souverän ausgeht, sondern sich im Sinne des von Foucault in seinen späteren Schriften geprägten Begriffs der Gouvernementalität als »Gesamtheit, gebildet aus den Institutionen, den Verfahren, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken […]« (Foucault 2003: 820) vollzieht. Gerade die Technologie(n) des fotografischen Verfahrens und die Zuschreibungen, die an sie gemacht werden, spielen für die Errichtung und den Vollzug dieser Machtverhältnisse und für die damit verschränkte Konfiguration des nicht-behinderten/behinderten Subjekts eine wesentliche Rolle (vgl. Silverman 1997: 42). Hinsichtlich der Prozesse einer solchen Konfiguration können laut Kaja Silverman drei wichtige Teilprozesse unterschieden werden, die den fotografischen Akt und seine Bedeutung für die Wahrnehmung von Normalität betreffen: die Subjektkonstitution durch das Posieren vor der Kamera, das Sich-Einschreiben in die Fotografie durch den mechanisch-optischen Akt des Auslösens und die Rezeption der Welt durch das fotografische Bild sowie die damit verknüpften Sehkonventionen (Silverman 1997: 42). Der analytische Blick auf diese Teilprozesse erhellt die Bedingungen der (Re-)Produktion gesellschaftlich dominanter Sehweisen, die sich in ihrer Gesamtheit als die Konstitutiven für die Erfassung visueller Regime beschreiben lassen. Sie bilden ein dichtes und von permanenten Wechselwirkungen gekennzeichnetes Feld, das Martin Jay folgend durchaus von einer Pluralität verschiedener Sehweisen charakterisiert ist, die sich voneinander abzugrenzen versuchen und wenig harmonisch zueinander stehen, jedoch auch unbestreitbar majorisierte und minorisierte Seh- und Deutungsweisen hervorbringen (vgl. Jay 1988: 4). Diese Erkenntnis macht an dieser Stelle deutlich, dass es sich zumindest beim medizinischen Modell von Behinderung auch und gerade um ein hegemoniales Regime handelt, das sich als »dominante Fiktion« (Silverman 1992) vor dem Hintergrund eines »kulturellen Bilderrepertoires« (Silverman 1997: 42) herausgebildet hat, das das Subjekt vor der Kamera wie auch das rezipierende Subjekt konfiguriert und bestimmt, wie es gesehen wird und wie es sich selbst zu sehen hat (vgl. Schaffer 2008: 113). Die Kamera als technisch-mediale Apparatur wird so zur Beobachtungs- und »Kontrollinstanz«, anhand derer sich das Subjekt »als eines, das sich seiner im Feld der Sichtbarkeit, im Blick des Anderen« (Bublitz 2006: 351) versichert. Jenes Feld der Sichtbarkeit oder auch Bilderrepertoire enthält wiederum einen Teilbereich, der von Silverman als das »Vorgesehene«
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(engl. »given-to-be-seen«, frz. »donné-a-voir«) bezeichnet wird und die Bedeutung von bereits existierenden Bildern für die Wahrnehmung neuer Bilder stark macht. So müssen in der Analyse auch »jene Parameter der Sinnherstellung und jene Bilder, die sich nachdrücklich und unvermeidlich aufdrängen, weil sie durch häufige und emphatische Wiederholung enorm präsent sind […]« (Schaffer 2008: 114) Beachtung finden, um verstehen zu können, auf welchem Wege sich visuelle Regime stabilisieren und über einen langen Zeitraum halten können, während andere in dieser hegemonialen Ordnung eine subalterne Rolle spielen. Aufgrund ihres repetitiven Erscheinens und des von unseren Blicken Illuminiertwerdens treten diese Bilder in den Vordergrund, erhalten dadurch den Status des Wahrhaftigen, Unhintergehbaren und stellen sich so immer wieder zwischen den Menschen und die Welt, indem sie seine Wahrnehmung organisieren und zugleich präfigurieren. In diesem Sinne erscheint das soziale Modell und die damit aufgerufenen neuen Betrachtungen und Deutungen von Behinderung auch als eine Art neues und (noch) subalternes Blickregime, das sich durch politische Umwälzungen, den sozialen Wandel und veränderte technische Möglichkeiten der Bildproduktion und -rezeption unter neuen Bedingungen konstituiert hat und mit dem Blickregime des medizinischen Modells in einem deutlichen Spannungsverhältnis steht. Das Blickregime des sozialen Modells fordert das des medizinischen Modells heraus, indem es nach seiner Berechtigung fragt, den Diskurs zu beherrschen, ist aber auch gleichsam Teil dieses Diskurses, denn ein »Konzept herrschender Repräsentationspraktiken [impliziert] die Existenz minorisierter oder subalterner Formen und Praktiken« (Schaffer 2008: 115). Die mit dem medizinischen Blickregime von Behinderung in Verbindung gebrachten Bilder des kulturellen Bilderrepertoires sind folglich über einen langen Zeitraum hinweg häufig ›angestrahlt‹ worden, um in Silvermans Rhetorik zu bleiben, während andere, alternative und vom Blickregime des sozialen Modells favorisierte Bilder zwar vorhanden gewesen zu sein scheinen, jedoch im Dunkeln des Repertoires verharrten. Damit sie in den Vordergrund treten und so hegemoniale Bildpraktiken kritisch angreifen können, um sie langfristig zu verändern, müssen sich die Bilder des sozialen Blickregimes von Behinderung zunächst der ›visuellen Grammatik‹ des dominierenden medizinischen Blickregimes bedienen (vgl. Schaffer 2008: 161). Perspektivisch geht es in den Disability Studies folglich nicht um eine getrennt voneinander erfolgende Weiterentwicklung von Modellen von Behinderung auf der einen Seite und Repräsentationsmodi auf der anderen Seite, sondern um die Profilierung der Disability Studies in ihrer kulturwissenschaftlichen Ausprägung als »eine differenzierte methodische und theoretische Optik für die Erforschung des Themas Behinderung« (Dederich 2007: 41), die sich von der ideologisch-aktivistischen Ausrichtung des sozialen Modells zwar nicht ablöst, aber sich so weit entfernt, dass ein Partei-Ergreifen
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für den Wandel der Gesellschaft durch eine fundierte Kultur- und Sozialkritik möglich bleibt (vgl. Grebe 2016: 52).
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Abbildung 1: Andi Weiland: Inklusion Love wins, http://gesellschaftsbilder.de/ photo/337/Inklusion-Love-wins.html (06.08.2017)
Die Modellbildung der Disability Studies im Lichte einer Reflexion der Wechselwirkung von (fotografischem) Bild und Blick zeigt, dass Bilder am ableism von Menschen mit Behinderung zwar beteiligt sind, ihre mediale und gesellschaftliche Schlagkraft jedoch nicht allein einer diskriminierenden Haltung von Fotograf_innen oder der Betrachter_innen zugewiesen werden kann. Als Produkte von Praktiken und Techniken der Visualisierung und des Sehens beeinflussen Bilder von Behinderung das gesellschaftliche Bild von Behinderung in gleichem Maße, wie gesellschaftliche Sichtweisen ihren Weg in die Bildproduktion finden. Beides verändert permanent das kulturelle Bilderrepertoire durch ihre wechselseitige Referenznahme. Folglich muss für zeitgenössische Fotoprojekte wie auch für Kampagnenbilder von Wohlfahrtsorganisationen gleichsam bedacht werden, dass der Vorsatz, ›andere Bilder‹ und damit minorisierte Sichtweisen produzieren zu wollen, vor Herausforderungen steht. Andi Weilands Fotografie Inklusion Love wins (s. Abb. 1), in der er die Autorin Laura Gehlhaar und ihren Freund porträtiert, ist insofern ein interessantes Beispiel für (und so lautet auch die Bildbeschreibung auf gesellschaftsbilder.de) »den Alltag von Menschen mit und ohne Behinderungen in einer Beziehung« als
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auch für eine Repräsentation von Behinderung, die diese nicht in den Vordergrund stellt, aber auch nicht unsichtbar macht. Auf dem Bild ist ein Paar in der Rückenansicht zu sehen, das Hand in Hand durch einen Hauseingang rollt; die Frau im Rollstuhl, der Mann sein Rennrad schiebend. Die symmetrische Bildkomposition, die das Paar und das Rad – ihren Rollstuhl und sein Rennrad – und ihre Hände in den Fokus stellt, betont so das Verbindende und nicht das Trennende zwischen den beiden abgebildeten Individuen. Dadurch, dass die Fotografie in einer öffentlich zugänglichen und webbasierten Datenbank zur Verfügung steht und unter Suchbegriffen wie »alltag«, »berlin«, »liebe« oder »pärchen« gefunden und genutzt werden kann, kann sie auch jenseits von dichotomisierenden Kategorien von ›Normalität‹ und ›Nicht-Normalität‹ und von Stereotypisierungen das kulturelle Bilderrepertoire erweitern, ohne Menschen mit Behinderung als ›anders‹ und ›besonders‹ hervorzuheben. Stattdessen liegt die Chance in Fotografien wie jenen von Weiland darin, über eine heuristische Modellbildung hinaus ›Behinderung‹ und ›Nicht-Behinderung‹ nicht als absolute Differenzkategorien zu stabilisieren, sondern wie im Falle von »Inklusion Love wins« das aus dem Hintergrund des Bilderrepertoires hervortreten zu lassen, was Menschen verbindet.7
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Anderes Sehen: Blickregime von Behinderung in der Fotografie
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Verletzbarkeit, Anerkennung und Sichtbarkeit in digitalisierten Öffentlichkeiten
Mediatisierte Missachtung Anerkennungsordnungen in digitalen Öffentlichkeiten Jennifer Eickelmann
D er F all A manda Todd : E in P hänomen mediatisierter M issachtung Am 7. September 2012 lädt Amanda Todd, eine 15-jährige Schülerin aus Kanada, unter dem Namen Thesomebodytoknow ein Video auf YouTube hoch. Das Video mit dem Titel My story: Struggling, bullying, suicide, self harm zeigt sie selbst. Es erzählt mithilfe weißer Notizzettel und handschriftlich geschriebener Satzteile eine Geschichte über diffamierende Adressierungen und ihre Verletzungsmacht: Separierung in der Schule, körperliche Gewalt auf dem Schulhof, Ängste, Panikattacken, Selbstverletzungen und Depressionen (TheSomebodytoknow 2012). Das Video fungiert als Bekenntnis von Amanda Todd, Adressierte mediatisierter Missachtung sowie körperlicher Gewalt zu sein. Der Leidensweg von Amanda Todd beginnt bereits einige Monate vor der Veröffentlichung des Videos, als sie ein Webcam-Foto ihres nackten Oberkörpers über die Plattform BlogTV1 an eine, von Amanda Todd als männlich beschriebene, Person versendet, die diese in der Folgezeit nutzt, um weitere 1 | Die Information, dass das Foto über jene Plattform versendet worden ist, stammt nicht aus dem Video, sondern aus weiteren Onlinequellen, wie die Veröffentlichungen der Capper Community oder auch des Online-Angebots der kanadischen Huffington Post (TheDailyCapperNews 2012; Huffingtonpost.ca 2013). Mittlerweile heißt die Plattform BlogTV YouNow, vgl. https://www.younow.com. Auf der Plattform inszenieren sich zumeist Jugendliche. Rechts neben dem Videofenster befindet sich ein Chat-Fenster, dort kann potenziell jede/r kommentieren oder Fragen stellen, die bzw. der auf der Plattform angemeldet ist. Die Plattform zeichnet sich insbesondere in Bezug auf die Herstellung des ›Weiblichen‹ durch eine sexualisierte Kultur der Selbstinszenierung insofern aus, als beispielsweise das In-Szene-Setzen des fragmentierten, teilweise nackten, weiblichen Körpers ein zentrales Motiv der Inszenierung vor der Kamera darstellt.
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Abbildung 1: Still des YouTube-Videos von Amanda Todd, Beginn. Online unter: https:// www.youtube.com/watch?v=vOHXGNx-E7E (21.03.2017).
Nacktaufnahmen zu erpressen. Amanda Todd kommt jener Forderung nicht nach, woraufhin das Bild (teil-)öffentlich wird: Via Facebook erreicht das Bild ihre Eltern und Mitschüler_innen. Was folgt, sind Schmähungen und Beleidigungen – über Facebook, aber auch in der Schule. Nach einem Umzug, der Abstand bringen soll, trifft sich Amanda Todd regelmäßig mit einem Freund, der bereits eine Partnerin hat. Auf jene Liaison, die unter Mitschüler_innen als moralischer Grenzübertritt diskursiviert wird, folgen wiederum Beschimpfungen via Facebook und auf dem Schulhof. Nachdem Amanda Todd im Anschluss versucht, sich durch das Trinken von Bleichmittel das Leben zu nehmen, erreichen sie via Facebook Witze über Bleichmittel und Todeswünsche. Die Ängste verfestigen sich, Amanda Todd verlässt das Haus nicht mehr. Sie schluckt Tabletten und wird wegen einer Überdosis ins Krankenhaus eingeliefert. Sie überlebt, aber die Schmähungen werden weitergeführt. Etwa einen Monat später nimmt Amanda Todd sich das Leben (vgl. ebd.; Kuntz 2012). Den Diffamierungen in sozialen Netzwerken ist noch immer kein Ende gesetzt, sie adressieren Amanda Todd über den Tod hinaus. Nach ihrem Tod wird ihre Geschichte in einer breiten medialen Öffentlichkeit verhandelt (vgl. FAZ.net 2015; CBC NEWS.ca 2016; National Post.com 2016; TheDailyBeast 2017). Mit dieser Erweiterung von Öffentlichkeit verändert sich auch die Geschichte, die uns das Video erzählt: Obwohl die narrative Ebene des Videos unterschiedliche Handlungselemente bzw. situative Ele-
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mente aufführt, konzentriert sich die Debatte im Anschluss an den Tod von Amanda Todd zuvorderst auf den Akt der Erpressung mittels des freizügigen Fotos, auch »sextortion« genannt (TheDailyBeast 2017). Dies hängt nicht zuletzt auch damit zusammen, dass ein juridisch orientierter, maßgeblich staatsrechtlich argumentierender Diskurs die öffentliche Debatte mitkonstituiert, der davon ausgeht, dass der erpresserische Akt die zentrale Straftat darstellt, die es zu ahnden gilt (vgl. ebd.). Ausgehend von dieser Geschichte fokussiert der Beitrag im Folgenden die Frage, wie mediale Formen der Herstellung von Sichtbarkeit öffentlich verhandelt werden und inwiefern jene mit Prozessen der Legitimierung von Anerkennung sowie Missachtung verbunden sind. Sichtbarkeit bzw. Sichtbarmachung verstehe ich aus einer repräsentationskritischen Perspektive als produktives Erzeugungsprinzip, das fortwährend – im Kontext dynamischer Plattformen – aktualisiert wird bzw. werden muss. In einem ersten Schritt wird im Folgenden der Begriff ›mediatisierte Missachtung‹ vorgestellt und im Anschluss das intraaktive Werden von Medientechnologie und Subjekt aufgezeigt. Auf dieser Grundlage wird im Weiteren nach veränderten Anerkennungsordnungen im Kontext digitaler Sichtbarkeitsregimes gefragt, um schließlich digitale Teilöffentlichkeiten als kontingente Sphären zu beschreiben, die Chance und Risiko zugleich darstellen.
›M ediatisierte M issachtung ‹ im kontingenten S pannungsfeld von R e alität und V irtualität Der hier vorliegende Fall ist auch im Kontext der in den letzten Jahren immer lauter gewordenen Debatte um ›Hate Speech‹ im Netz zu betrachten. Jene Debatten zeugen davon, dass Sichtbarkeit im Rahmen spezifischer Teilöffentlichkeiten auch ein Risiko birgt: Identifizierte Normüberschreitungen, insbesondere in Bezug auf die Kategorie Geschlecht, werden nicht selten mittels diffamierender Adressierung sanktioniert und die adressierten Subjekte werden, mit Judith Butler gesprochen, »auf ihren Platz verwiesen« (Butler 2006: 13). Im Folgenden geht es mir daher um das Andere der Anerkennung, das ich ›mediatisierte Missachtung‹ nenne. Zwei der zentralen, bislang offen gebliebenen Fragen in diesem Kontext lauten: Welche Verletzungsmacht ist diffamierenden Adressierungen im Netz inhärent? Handelt es sich bei jenen Adressierungen um einen Gewaltakt oder um den Ausdruck freier Rede? Bislang mangelt es an einer Konzeptualisierung missachtender Adressierungen im Kontext internetbasierter Vernetzung, die erstens dualismuskritisch angelegt ist, so dass die Dualismen Gewalt/Redefreiheit, Diskursivität/Materialität sowie Realität/Virtualität sowie dualistische wie naturalistische Konzeptionen von Geschlecht nicht etwa vorausgesetzt werden, sondern ihre produkti-
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ve Macht zum Gegenstand der Analyse gemacht wird. Die hier vorgeschlagene relationale Perspektivierung arbeitet daran, sich Prozessen der Vereindeutigung zu entziehen, und macht diese zum Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung. Zweitens soll mit der hier vorgestellten Konzeptualisierung mediatisierter Missachtung ein Begriff vorgeschlagen werden, der dazu beiträgt, Praktiken des sogenannten ›Trollens‹, ›Cybermobbings‹ sowie sogenannte ›Shitstorms‹ auf einer Metaebene kritisch diskutieren zu können. Die Notwendigkeit einer dualismuskritischen Perspektive auf das Phänomen mediatisierter Missachtung ergibt sich darüber hinaus nicht zuletzt aus dem Umstand, dass sich aktuelle Debatten zu ›Hate Speech im Netz‹ fast ausschließlich an einem zentralen Dualismus orientieren, und zwar an dem Dualismus von ›Hate Speech‹ auf der einen Seite und ›Free Speech‹ auf der anderen Seite (vgl. Butler 2006). Zentrales Differenzkriterium beider Seiten ist die Frage, welche Verletzungsmacht diffamierenden Zeichen in der Virtualität zugeschrieben werden kann. Handelt es sich um einen unmittelbar ›realen‹ Gewaltakt, der im Augenblick der Äußerung das vollzieht, was er benennt (›Hate Speech‹)? Oder handelt es sich um ›bloße‹ Zeichen, die Ausdruck freier Rede sind und denen keine Verletzungsmacht inhärent ist bzw. man die potenzielle Verletzungsmacht zugunsten des Schutzes der freien Rede in Kauf nehmen muss (Free Speech)? Zwischen diesen beiden argumentativen Lagern verläuft in aktuellen Debatten zum Thema eine Trennlinie, die bei jeder Argumentation stetig produziert und aktualisiert wird (vgl. Eickelmann 2017: 117ff.). Zentral bei dieser performativ hergestellten Trennung ist die Einschätzung des Verhältnisses von Zeichen und ihrer Materialität: Der Diskurs über ›Hate Speech‹ im Netz suggeriert, dass digitale Zeichen und ihre Materialität zusammengehen, d. h. dass diffamierende Adressierung als unmittelbarer Gewaltakt in der Realität konzipiert wird. Die Sphären ›Virtualität‹ und ›Realität‹ werden folglich als deckungsgleich konzipiert. Digitale Zeichensysteme geraten so per se als materielle Phänomene in den Blick, die einen Gewaltakt unmittelbar vollziehen. Insbesondere die aktuellen Debatten zur Juridifzierung der Problematik verdeutlichen, inwiefern jener Diskurs zur Festschreibung semantischer Kontingenz und zur Etablierung klassischer TäterInnen/Opfer-Gegenüberstellungen führt.2 Auf der anderen Seite geht der Diskurs über freie Rede im Netz davon aus, dass es eine radikale Differenz zwischen Zeichen und Materialität gibt, d. h. dass digitale Zeichensysteme in der Fiktionalität angesiedelt werden, was bedeutet, dass sie losgelöst von der Realität existieren (vgl. Esposito 1998: 269ff.). Zeichen im Netz sind dann eben ›nur‹ Zeichen und besitzen keine 2 | Vgl. bspw. die aktuellen Debatten zum Gesetzentwurf zum Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG). Mir geht es nicht darum, einer Abschaffung des Rechtsstaates das Wort zu reden, sondern um eine Sensibilisierung für die produktive Kraft der Rechtsstaatlichkeit.
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Verletzungsmacht. Diese Argumentation, die zuvorderst als Engführung der Debatte betrachtet werden muss, wird insbesondere in jüngster Zeit nicht selten auch dazu genutzt, um mit dem Rekurs auf die Meinungsfreiheit oder die ›Wahrheit‹ diffamierende Adressierungen zu legitimieren. Es deutet sich bereits an, dass jene dem Diskurs eingeschriebenen Dualismen insbesondere aus einer gendersensiblen Perspektive kritisch zu betrachten sind. Was weniger offensichtlich ist und was Judith Butler in ihrer Arbeit zur Excitable Speech bereits herausgearbeitet hat, ist der Umstand, dass es sich hierbei um zwei Seiten einer Medaille handelt, die über einen spezifischen Aspekt miteinander verbunden sind, und zwar das Phantasma der Souveränität (vgl. Deuber-Mankowsky 2013; Eickelmann 2014). Die Idee einer eindeutigen und uneingeschränkten Handlungsgewalt ist dem Begriff der Souveränität insofern inhärent, als mit ihm die Vorstellung befördert wird, frei von Verstrickungen zu sein und stattdessen Staaten, Institutionen, aber auch Individuen als autonom zu begreifen (vgl. Butler 2012: 70ff.). Der Diskurs über ›Hate Speech‹ verortet die unbedingte Handlungsmacht unmittelbar bei den Zeichen selbst, die in die Position gesetzt werden, einen Gewaltakt auszuführen. Der Diskurs über die Redefreiheit hingegen verortet jene souveräne Handlungsmacht bei den Adressierenden, die in die Position gesetzt werden, frei von Verstrickungen zu sein und damit die Freiheit zu haben, ›alles‹ sagen zu dürfen, ohne die Effekte der Adressierungen abwägen zu müssen. Die Betonung der Redefreiheit arbeitet damit auch an einer Restituierung der Souveränitätsmacht bzw. des souveränen Subjekts (vgl. Deuber-Mankowsky 2013: 193). Die Verschränktheit unterschiedlicher Verweisebenen zu perspektivieren, bedeutet entsprechend, sich vom Phantasma der Souveränität zu verabschieden. In den Fokus rückt dann immer ein relationales Werden innerhalb komplexer historischer, politischer, ökonomischer wie medientechnologischer Verwicklungen (vgl. Butler 2014; Barad 2012: 20f.). Diese Perspektivierung erfordert einen anderen Begriff für diffamierende Adressierungen im Netz, der jenseits der Gegenüberstellung von Hassrede und Redefreiheit sowie des souveränen Subjekts operiert und stattdessen die Relationalität und Kontingenz der Verletzungsmacht diffamierender Adressierungen sichtbar macht. Hierzu schlage ich den Begriff ›mediatisierte Missachtung‹ vor, der die beschriebenen Dualismen nicht etwa reproduziert und eine Entscheidung erzwingt, sondern auf die performative Prozesshaftigkeit des Adressierungsgeschehens ebenso verweist wie auf den Umstand, dass diffamierende Adressierungen ihr Ziel durchaus verfehlen können, woraus sich – und das ist zentral – Handlungsspielräume für widerständige Praktiken ergeben: Mediatisierte Missachtung verstehe ich auf dieser Grundlage als
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Jennifer Eickelmann fähigkeit begrenzt. Mediatisierte Missachtung stellt somit eine Bedrohung für Subjekte im existenziellen Spannungsfeld von Realität und Virtualität dar, deren Effektivität nicht im Vorhinein abgeschätzt werden kann. Das Funktionieren der Bedrohung, d. h. ihre performative Effektivität, ist dabei unmittelbar an einen durch Teilöffentlichkeiten im Netz hergestellten Schauplatz der Macht geknüpft (Butler 2006: 25), welcher im Kontext digitaler Hypermedialität von technologischen wie ökonomischen Infrastrukturen ebenso mitbestimmt wird, wie von historisch gewachsenen und performativ hergestellten diskursiven Formationen.« (Eickelmann 2017: 22)
Die Artikulationsformen mediatisierter Missachtung sind vielfältig und erfordern eine Analyse, die spezifische kulturelle Nutzungspraktiken, Genderdiskurse sowie mit ihnen zusammenhängende Moralismen sowie die medien technologische Bedingtheit der spezifischen Teilöffentlichkeiten sowie die Unkontrollierbarkeit digitaler Daten als Interferenzmuster zu begreifen und in ihrem konstitutiven Wechselverhältnis zu betrachten. Das eingangs aufgeworfene Beispiel, über das noch viel mehr zu schreiben wäre, veranschaulicht auf erschreckend eindringliche Art und Weise, dass mediatisierte Missachtung, die ich zuvorderst als machtvolle Konfiguration verstehe, in Gewalt übergehen kann, und zwar genau dann, wenn der zugrundeliegende Kontrollverlust den Adressierten die Handlungsmacht umfassend raubt (vgl. Becker/Eickelmann 2009), so dass der Tod den letzten vermeintlichen Handlungsspielraum markiert. Mediatisierte Missachtung subsummiert diesem Verständnis nach also zuvorderst machtvolle Praktiken. Mit Foucault lässt sich mediatisierte Missachtung entsprechend als »handelnde Einwirkung auf Handeln« (Foucault 2005b: 255) verstehen, nicht aber als Gewalt per se. Prozesse der Subjektivation sind also als machtvolle mediale Praktiken zu verstehen, die Subjekte unterwerfen, aber auch erst hervorbringen (vgl. Butler 2001: 13ff.). Zugleich sind eben jenen Machtbeziehungen immer auch Möglichkeiten zur Resignifikation von Sprache und Subjekt (vgl. Butler 1997: 32f.; Villa 2011: 53) bzw. der Rekonfigura tion von Medientechnologie und Subjekt (vgl. Barad in Dolphijn/van der Tuin 2009) inhärent. Gewaltbeziehungen hingegen »zwingen, biegen, brechen, zerstören« (ebd.). Da es mir aber darum geht, den Möglichkeitsspielraum der Adressierten für widerständige Praktiken zu betonen, ist mediatisierte Missachtung als Machtbeziehung, und nicht als Gewaltbeziehung, zu konzeptualisieren. Dieser Konzeptualisierung von mediatisierter Missachtung liegt eine medientheoretische Erweiterung des performativitätstheoretischen Ansatzes von Judith Butler mithilfe der Ausführungen von Karen Barad zugrunde, die im Folgenden im Fokus stehen soll.
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P erspek tivierung : Z ur I ntr aak tion von S ubjek tivität und M edientechnologie Die Arbeiten Judith Butlers zur »Excitable Speech« bieten eine theoretische Grundlage dafür, den Fragen veränderter Anerkennungsordnungen im Kontext digitaler Sichtbarkeitsregime nachzugehen, insofern an, als sie die konstitutive Rolle der sprachlichen Adressierung betonen (vgl. Butler 2006). Der »benennende Ruf« (ebd.: 15) ist folglich ein zentraler Aspekt von Subjektivierungsprozessen, denn die »Anrede selbst konstituiert das Subjekt innerhalb des möglichen Kreislaufs der Anerkennung oder umgekehrt, außerhalb dieses Kreislaufs, in der Verworfenheit« (ebd.). Der Akt der Interpellation, verstanden als konstitutives Moment, ist bei Butler als Teil von Identitätspolitiken zu verstehen, denen wir – wenn auch nicht ohne Handlungsmöglichkeit – ausgeliefert sind. Adressierungen sind damit für Prozesse der Anerkennung unabdingbar. Im Kontext von Adressierungen via Internetplattformen sind Adressierungsoptionen wie konkrete -praktiken jedoch unweigerlich in ökonomische wie technologische Infrastrukturen sowie die Ästhetik spezifischer Interfaces eingebunden. Die von Butler fokussierte Frage nach der Verletzungsmacht von Sprache erweitert sich damit zu einer Frage nach der Verletzungsmacht multimodaler Zeichensysteme im Kontext des Digitalen. Daraus ergibt sich, dass apparative Bedingungen als konstitutive Akteure mit in die Perspektivierung aufgenommen werden müssen. Insbesondere die Arbeiten von Donna J. Haraway und, in Anlehnung daran, von Karen Barad scheinen für eine Erweiterung des performativitätstheoretischen Ansatzes von Judith Butler gewinnbringend, da mithilfe jener Erweiterung ein Begriffsinstrumentarium genutzt werden kann, das insbesondere auf die medientechnologische Bedingtheit von Subjektivitäten verweist. Die Arbeiten von Karen Barad sind im Feld der Feminist Technoscience zu verorten und werden insbesondere in jüngerer Zeit im Kontext des ›New Materialism‹ breit rezipiert. Barads Konzept des Agentiellen Realismus orientiert sich an der Quantenphysik von Nils Bohr. Im Gegensatz zur Newton’schen Physik, die Materialitäten als passiv konstruiert sowie einem repräsentationalen Wissenschaftsverständnis folgt, geht es Barad mit dem Rekurs auf die Quantenphysik darum, die produktive Kraft von Apparaturen und die wirkmächtige Rolle der Beobachtungsbedingungen herauszuarbeiten. Diese sind bei Barad als konstitutive Aspekte des prozesshaften Werdens von Phänomenen angelegt (vgl. Barad 1998: 98). Anhand unterschiedlicher Laborsituationen und Apparaturen im Kontext der experimentellen Quantenphysik zeigt Barad, dass ganz unterschiedliche Instrumente sowie situative Rahmungen komplexe intraaktive Prozesse mitkonstituieren:
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Jennifer Eickelmann »Und sie sind nicht nur Anordnungen, die Nicht-Menschen sowie Menschen umfassen. Apparate sind vielmehr spezifische materielle Rekonfigurationen der Welt, die nicht bloß in der Zeit entstehen, sondern schrittweise die Raumzeit-Materie als Teil der fortlaufenden dynamischen Kraft des Werdens rekonfigurieren.« (Barad 2012: 24)
Der performativitätstheoretisch angelegte Begriff der materiellen Rekonfiguration verdeutlicht die Untrennbarkeit von Apparaten, Objekten wie Subjekten von Wissenspraktiken, der wechselseitigen Herstellung von Materialitäten, diskursiven Zwängen und Ausschlüssen (vgl. Barad 1998: 96f.). Der für die Arbeiten Barads zentrale Begriff der Intraaktion verweist auf eben jene wechselseitige Verschränktheit unterschiedlicher diskursiv-materieller Praktiken wie Apparate (Barad 2012: 20f.). Ebenso wie bei Butler ist den Arbeiten von Barad eine dualismuskritische Perspektive insofern inhärent, als bei Barad Dualismen Effekte »agentieller Schnitte« sind (ebd.: 34f.). Eine dualistische Unterscheidung ist damit das Resultat von Grenzziehungspraktiken, d. h. agentiellen Schnitten, die Relationalitäten vereinfachen und vereindeutigen: »Apparate vollziehen agentielle Schnitte, die eindeutige Grenzen und Eigenschaften von ›Entitäten‹ innerhalb von Phänomenen hervorbringen, wobei ›Phänomene‹ die ontologische Unzertrennlichkeit von agentiell intraagierenden Bestandteilen sind.« (Barad 2012: 34f.)
Mithilfe dieser Begrifflichkeiten können nun Prozesse der Differenzerzeugung innerhalb einer relational gedachten Welt zum Gegenstand der Analyse gemacht werden. So wird es möglich, die Materialität mediatisierter Missachtung, d. h. ihre apparativen Bedingungen wie Effekte im Kontext digitaler Technologien bzw. Teilöffentlichkeiten sowie Aspekte ihrer sozialen Wirkmächtigkeit, aber auch die körperlich-leiblichen Effekte in Bezug auf adressierte Subjekte aus einer relationalen Perspektive und im Kontext ihrer medientechnologischen Bedingtheit sprachlich zu fassen. Die hier verwendeten Begrifflichkeiten Virtualität und Realität sind hierbei keineswegs als voneinander zu trennende, sondern als miteinander interferierende Sphären zu begreifen. Sie basieren auf den Ausführungen von Elena Esposito, die den Begriff des Virtuellen als relationalen Begriff vorgeschlagen hat, der sich quer zum Dualismus Realität/Fiktion verstanden wissen will. Kontingenz (im Sinne aktualisierter und nicht aktualisierter Möglichkeiten) wird bei Esposito zu einem zentralen Aspekt der Bestimmung des Virtuellen (vgl. Esposito 1998: 269ff.; Esposito 2014: 233, 245). Allerdings sind die Arbeiten von Karen Barad aus einer gendersensiblen und metaphysikkritischen Perspektive nicht unproblematisch. Da Barad ihren relational gedachten Ansatz nicht etwa als Metapher für die Perspektivierung von Phänomenen begreift, sondern davon ausgeht, dass es sich bei intraaktiven
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Prozessen um »fundamentale Bestandteile der ontologischen Beschaffenheit einer prozesshaft gedachten Weltwerdung« (Deuber-Mankowsky 2011: 89) handelt, läuft das Konzept des Agentiellen Realismus Gefahr, einer Re-Naturalisierung der Performativitätstheorie Vorschub zu leisten. Diese Kritik berücksichtigend, hält der hier entwickelte Ansatz an dem Butler’schen Verständnis des Performativen fest und positioniert sich deutlich gegen eine Ontologisierung des Prozesshaften im Sinne einer vermeintlich unhintergehbaren Weltwerdung. Was die Synthetisierung der Arbeiten von Butler und Barad dennoch so gewinnbringend macht, ist die konzeptionelle Möglichkeit, das Butler’sche Körperverständnis, welches sich auf die Produktion menschlicher Subjekte und damit zusammenhängender Grenzziehungsprozesse konzentriert, hin zu einem weiteren Verständnis von Körpermaterie im Kontext medientechnologischer Bedingtheit zu erweitern. So geraten Medienkörper, die weder als unhintergehbar ›menschlich‹, noch als unausweichlich ›technologisch‹ bzw. ›apparativ‹ bezeichnet werden können, sondern von der Verschränktheit unterschiedlicher Verweisungsebenen zeugen, in den Blick. In Anlehnung daran lässt sich das Subjekt Amanda Todd also als Medienkörper beschreiben, dessen Existenz durch medientechnologisch bedingte Praktiken der Anrufung erst konstituiert und gleichermaßen zerstört wird. Methodologisch fußt die Fokussierung auf die Verschränktheit unterschiedlicher Verweise auf einer diffraktiven Lesart von Phänomenen. Barad entfaltet ihren Überlegungen in Anlehnung an die Arbeiten von Donna J. Haraway, die den Begriff Diffraktion als heuristische Folie zur repräsentationskritischen Darstellung wissenschaftlichen Wissens fruchtbar gemacht hat. Diffraktion ist eine Metapher aus der Optik und meint ›Beugung‹. Wenn eine Welle auf ein Hindernis stößt, weicht ebendiese von ihrer ursprünglichen Richtung ab und bildet am Scheitelpunkt eine neue Welle (vgl. Deuber-Mankowsky 2011: 90).3 Zentral an dieser Perspektivierung ist, dass sie eben nicht wie die wohl bekannte Metapher des Spiegels für sich beansprucht, den Gegenstand der Untersuchung abzubilden oder zu rekonstruieren, sondern dass es sich um eine Darstellung von Phänomenen handelt, die sich notwendigerweise von dem unterscheiden muss, was sie darstellt. Die Begriffe Diffraktion und Interferenz erlauben die Darstellung relationaler Verbindungen und Verschränkungen, welche die Abgrenzbarkeit einzelner Verweisungsebenen in Frage stellen und damit für eine performativitätstheoretische Betrachtung der wechselseitigen 3 | Ein Beispiel: Fällt weißes Licht auf eine CD, wirkt die CD als Beugungsgitter. Der Effekt ist, dass das weiße Licht in sein Spektrum aufgefächert wird und die unterschiedlichen Wellenlängen, d.h. Lichtfarben, sichtbar werden. Dieses Spektrum ist das Interferenz- bzw. Beugungsmuster. Die Beugung des weißen Lichts macht also die Interferenz, d.h. die Verschränktheit und Überlagerung der Wellenlängen, erst sichtbar.
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Konstitution von Diskurs und Materie, Realität und Virtualität sowie Gender und Medien nutzbar gemacht werden können. Das hier aufgeworfene Beispiel steht exemplarisch für diese Perspektivierung: Der Fall Amanda Todd veranschaulicht die Notwendigkeit, komplexe Interferenzmuster zu analysieren und die Relationalität von Internet-Plattformen sowie die mit ihnen zusammenhängenden kulturellen Nutzungspraktiken, die Unkontrollierbarkeit digitaler Daten, spezifische Geschlechterkonstruktionen, aber auch den Schulkontext samt sanktionierenden Mitschüler_innen sowie der kanadischen Rechtsstaat und seine Polizei und sich anschließende journalistische Berichte aufzuzeigen.
Teilöffentlichkeiten im N e t z : Z um V erhältnis von A nerkennungsordnungen und S ichtbarkeit Insbesondere im Kontext feministisch orientierter Ansätze ist die Strategie der öffentlichen Sichtbarmachung eng an das Politische geknüpft (vgl. Ahmed 2005; Butler/Athanasiou 2013: 193; Michaelsen/Michalski 2013: 2). Zumeist als öffentliche, verschiebende Wiederholung von Erlebtem verstanden, geht es unter anderem um die Sichtbarmachung »schlechter Gefühle« (Ahmed 2005) sowie von Verletzbarkeit (Butler 2014b: 19) als politisches Handeln. Dass die Herstellung von Sichtbarkeit aus dieser Perspektive zumeist als verschiebendes Wiederholen verstanden wird, kann insofern plausibilisiert werden, als jenen Ansätzen ein repräsentationskritisches Verständnis von Sichtbarkeit inhärent ist. Das bedeutet, dass nicht etwas Seiendes im Sinne der Spiegelmetaphorik abgebildet wird, sondern dass Praktiken der Sichtbarmachung immer auch das vermeintlich Seiende verändern. Die Herstellung von Sichtbarkeit wird entsprechend zu einer Frage der Darstellung, nicht der Abbildung (vgl. DeuberMankowsky 2007: 282). Ausgehend von einem relationalen Verständnis von Subjektivität, geht es bei jenen Forderungen im Spannungsfeld von wissenschaftlicher, künstlerischer und politischer Praxis auf der inhaltlichen Ebene insbesondere um die Sichtbarmachung der Relationalität, d. h. Offenheit, des Subjektseins. Die Affizierbarkeit sowie Verletzbarkeit von Subjektivitäten ergeben sich aus dieser Perspektive, welche die Dezentrierung des Subjekts zum Ausgangspunkt der Überlegungen nimmt, nicht aus einer festgeschriebenen Ontologie des Subjektseins, sondern gerade aus seiner Offenheit, d. h. seiner notwendigen Relationalität (vgl. Ahmed 2014: 64; Butler 2014b: 8). Praktiken der Sichtbarmachung jener Relationalität des Subjektseins geraten aus dieser Perspektivierung als Strategie zur Konstituierung von Intelligibilität in den Blick, was nicht zuletzt das politische Moment eben jener Praktiken markiert. Wenn nun aber das Hochladen des Videos aus dem einführenden Beispiel als eine Strategie der Herstellung von Sichtbarkeit von mediatisierter Missach-
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tung und damit zusammenhängender Verletzbarkeit betrachtet wird, so wird deutlich, dass eben jene Sichtbarkeit eben kein Garant für die Konstituierung von Intelligibilität ist – im Gegenteil: Die durch das Video sichtbar gemachte Verletzbarkeit dient in bestimmten Teilöffentlichkeiten, insbesondere auf den Plattformen 4chan und reddit, im Kontext neoliberaler wie moralisierender Diskurse zur Legitimation erneuter mediatisierter Missachtung. Das Politische der Sichtbarmachung bzw. der Sichtbarkeit ergibt sich aus dem Kampf um Anerkennung im Kontext normativer Ordnungen bzw. diskursiver Regime (vgl. Butler 2014a: 152). Zurückgewiesen zu werden und Missachtung zu erfahren bedeutet dann auch, nicht im Kontext jener normativ verstandenen Konventionen intelligibel zu sein. Im Kontext der Entwicklungen hin zur Allgegenwart internetbasierter Vernetzung stellt sich die Frage nach der Rolle von Sichtbarkeit insofern nochmal komplexer, als Subjektivitäten im Kontext internetbasierter Plattformen ausgehandelt werden und damit unterschiedliche Teilöffentlichkeiten eben jene Sichtbarkeit mitkonstituieren. So werden beispielsweise Inhalte auf spezifischen Plattformen nur dann sichtbar, wenn sie eine bestimmte, quantitativ verstandene, Aufmerksamkeit mittels ›Klicks‹, ›Likes‹ und/oder Kommentierungen bekommen. Einige Teil öffentlichkeiten im Netz zeichnen sich beispielsweise dadurch aus, dass Bilder und/oder Kommentare, die keine aktiven Reaktionen hervorrufen, so weit nach unten rutschen, bis sie praktisch unsichtbar sind (vgl. Mortensen 2016: 9). Inhalte auf Plattformen, die Sichtbarkeiten über die Quantifizierung von Reaktionen herstellen, sind grundlegend darauf angewiesen, Aufmerksamkeit herzustellen, da sie sonst im Dickicht der Datenmassen verschwinden. Dies gilt beispielsweise für sogenannte ›Image Boards‹ bzw. ›Social News Sites‹, wie 4chan oder reddit, die insbesondere als spezifische Teilöffentlichkeiten gelten, die sich längst einen Namen aufgrund besonders »toxischer« (Consalvo 2012) Inhalte, d. h. brutaler Bilder sowie beleidigender und bedrohender Inhalte, gemacht haben.4 Auch in dem hier diskutierten Fall sind die Teilöffentlichkeiten 4chan und reddit ein zentraler Schauplatz der diffamierenden Adressierungen 4 | Besonders deutlich werden diese Diskursivierungen des ›Image Boards‹ 4chan im Zuge der journalistischen Berichterstattungen zum Doppelmord in Herne im März 2017, da der als Täter Identifizierte 19Jährige Fotos der Leichen auf 4chan veröffentlichte. So beschreibt bspw. der Journalist Lars Weisbrod in Anlehnung an die Autorin Angela Nagle die Nutzenden des ›Image Boards‹ als »4chan-Beta-Männer«, die sich durch einen Feminismus bedroht sehen, »der ihnen sexualisierte Gewalt in Computerspielen und Pornografie verbieten will« (Weisbrod 2017). Hier wird zum einen deutlich, inwiefern sich Medialität und Genderentwürfe gegenseitig bedingen und konstituieren sowie zum anderen inwiefern die Komplexität und Heterogenität der Inhalte auf 4chan zugunsten eindeutiger Merkmale aufgegeben wird.
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von Amanda Todd – auch nach ihrem Tod (vgl. Reddit 2012; Vaginal Crouton via Reddit 2012). Die »flächendeckende Topografie des Digitalen« (Adamowsky 2015: 128) macht es daher unabdingbar, die Medialität des Internets bzw. von Teilöffentlichkeiten im Netz als Konstitutiva zu berücksichtigen, die maßgeblich an der (Re-)Konfiguration von Sichtbarkeit und Subjektivität im Spannungsfeld von Realität und Virtualität beteiligt sind. So veranschaulicht das einführende Beispiel auf eindringliche Art und Weise, dass die Schaffung von Aufmerksamkeit mittels netzspezifischer Praktiken zwar zu Sichtbarkeit in unterschiedlichen Teilöffentlichkeiten führen kann, diese aber auch mit mediatisierter Missachtung einhergehen können. Als was das Video sichtbar wird bzw. was das Video vermeintlich repräsentiert, ist nämlich nicht im Vorhinein absehbar. Repräsentationskritisch gedacht lautet die Frage entsprechend also nicht, ob etwas sichtbar (gemacht worden) ist, sondern wie etwas als etwas sichtbar (gemacht worden) ist und welche produktive Macht der Herstellung von Sichtbarkeiten inhärent ist, die das, was sie vorgeben abzubilden, zu allererst erzeugen. Damit zusammenhängend rückt die Frage in den Blick, auf welchen Anerkennungsordnungen jene Prozesse beruhen bzw. ob und inwiefern diese Prozesse der Herstellung von Sichtbarkeiten Anerkennungsordnungen irritieren und verändern können. Denn es soll nicht verschwiegen werden, dass die Ausweitung der Sichtbarkeit des ›Falls‹ Amanda Todd in unterschiedlichen Teilöffentlichkeiten auch zu Prozessen der Solidarisierung mit Adressat_innen mediatisierter Missachtung geführt hat. Damit sind Spezifika von Teilöffentlichkeiten als konstitutives Element der Herstellung von Sichtbarkeit als Erzeugungsprinzip zu benennen.
Z ur A nerkennung gegenseitigen A usgese t z tseins in digitalen Ö ffentlichkeiten Das Beispiel mediatisierter Missachtung hat aufgezeigt, dass die (teil-)öffent liche Sichtbarmachung mediatisierter Missachtung und der hierdurch deutlich werdenden Verletzbarkeit nicht per se als politische Strategie zur Ausweitung des intelligiblen Bereichs von Subjektivität missverstanden werden darf. Das hier diskutierte Beispiel verdeutlicht stattdessen, dass die Herstellung von Sichtbarkeit mediatisierter Missachtung und damit zusammenhängender Verletzbarkeit zu weiterer – aufgrund der Ausweitung der Öffentlichkeit sogar gesteigerter – mediatisierter Missachtung führen kann. Und zwar genau dann, wenn das Video nicht etwa zuvorderst als Sichtbarmachung leidvoller Erfahrungen mediatisierter Missachtung und Verletzbarkeit diskursiviert wird, sondern als Evidenz für die Überschreitung moralischer Geschlechternormen, die wiederum zur Legitimation fortwährender mediatisierter Missachtung funk-
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tionalisiert wird. Prozesse der Sichtbarmachung funktionieren damit nicht unbedingt als resignifizierende bzw. rekonfigurierende Praktiken. Es erfordert vielmehr die Einbeziehung unterschiedlicher kontingenter Kontexte, über die wir nicht umfassend verfügen können. Die Herstellung von Sichtbarkeit ist daher je nach (Teil-)Öffentlichkeit und diskursivem Kontext, die sich jeder Kon trollierbarkeit entziehen, immer auch riskant. Im Fall von Amanda Todd wurde Verletzbarkeit, d. h. die Relationalität des Seins, nicht etwa als grundlegender Aspekt von Subjektivitäten diskursiviert, sondern als individuelle Eigenschaft eines selbstverantwortlichen Individuums, das unmoralisch im Sinne spezifischer Geschlechterkonventionen gehandelt habe: »Amanda Todd - not an inspiration, not a martyr, not a folk hero, just another over privileged white bitch to kill herself over first world slut problems« (I_ROPE_HORSES via Reddit.com 2013). Der Effekt ist in diesem Kontext, dass die Sichtbarmachung der erlebten mediatisierten Missachtung und damit zusammenhängender Verletzbarkeit nicht etwa zu einer Veränderung der zugrundliegenden Anerkennungsordnungen, spezifischer: Geschlechterordnungen, führt, sondern mit dem Verweis auf Moralismen über Weiblichkeit sowie der Betonung einer angeblichen Souveränität der Adressierten argumentiert wird: »Sent her tits out on the internet expecting no repercussions. Fucked some other girl’s boyfriend expecting no repercussions. Made a video talking about how she cuts herself expecting no repercussions. And people sympathize with this girl? Wake up.« (VaginalCrouton via Reddit.com 2012) Der Tod der Adressierten ist aus dieser Diskursivierung heraus nicht nur nicht betrauerbar, sondern erscheint als eine selbst gewählte Entscheidung eines unmoralisch handelnden, schwachen Menschen (vgl. Nex Displosio via Bronies.de 2012). Dennoch: Die Sichtbarmachung von Verletzbarkeit kann dann als Chance betrachtet werden, wenn sie als eine Verletzbarkeit betrachtet wird, welche die grundlegende, d. h. kollektiv geteilte, Fragilität jedweden Daseins offenlegt. Die Herausforderung, sowohl für die wissenschaftliche Auseinandersetzung, aber auch für die öffentliche Diskussion insgesamt, besteht nun darin, das Verständnis von Verletzbarkeit zu ent-individualisieren, so dass Leid als kollektiv geteiltes Leid sichtbar wird (vgl. Michaelsen, zit. n. Michaelsen/Michalski 2013: 2). So betrachtet sind (Teil-)Öffentlichkeiten im Netz als Möglichkeitsräume zu beschreiben, die medialen Entstehungsbedingungen seiner selbst und eines jedweden Seins in den Blick zu bekommen und damit jene Voraussetzungen zu perspektivieren, die Einzelexistenzen übersteigen. Auch wenn die Ausführungen insbesondere auf mediatisierte Missachtung fokussiert haben, zeigt sich im hier vorliegenden Fall, dass mediatisierte Empörung5 im Ganzen sich 5 | Mediatisierte Empörung stellt einen Oberbegriff dar, der sowohl mediatisierte Missachtung als konstitutives Element umfasst, wie auch Praktiken der Solidarisierung (vgl. Eickelmann 2017: 18f.).
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nicht in mediatisierter Missachtung erschöpft. Solidaritätsbekundungen, Kompliz_innenschaften und öffentliche Trauer sind ebenso Teil unterschiedlicher Teilöffentlichkeiten. Ob ein (teil-)öffentliches Ausgesetztsein und die damit zusammenhängende Sichtbarmachung von Verletzbarkeit Anerkennung oder Missachtung zur Folge hat, hängt von der jeweils spezifischen Konfiguration unterschiedlicher Relata ab, die sich jeder Kontrollierbarkeit entziehen. Immer dringlicher werden daher Überlegungen zu einem Begriff relational gedachter Verantwortung sowie gegenseitigen Ausgesetztseins im Kontext der Digitalisierung des Lebens.
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Verletzbarkeit durch Sichtbarkeit? Verhandlungen geschlechterpolitischer Positionen in digitalen Medien Ricarda Drüeke
In und durch digitale Medien sind genderpolitische und feministische Themen sowie die damit verbundenen Personen häufig Ziel von Angriffen (vgl. etwa Drüeke/Pascher/Peil 2018). Aber auch machtvolle feministische Interventionen werden ermöglicht und feministische Aktivist*innen artikulieren sich öffentlich, etwa durch Hashtags und Blogs. Der Beitrag greift in diesem Zusammenhang die Frage nach Möglichkeiten feministischer Praxen im Netz auf, gleichzeitig thematisiert er, dass emanzipatorische Politiken nicht unwidersprochen bleiben – sie treffen auf strukturelle Macht- und Hierarchieverhältnisse und auf vehementen Widerstand. So verspricht Öffentlichkeit zwar die Sichtbarkeit minorisierter Subjektpositionen, gleichzeitig werden durch Sichtbarkeit aber auch Themen und Personen angreif bar und somit verletzbar. Ausgangspunkt dieses Beitrags ist die Überlegung, dass in diesen Auseinandersetzungen deutlich wird, dass mittels öffentlicher Kommunikation Prozesse in Gang gesetzt werden, die für feministischen Aktivismus und Geschlechterdebatten im Netz bedeutsam sind. Diese produzieren sowohl Sichtbarkeit als auch Verletzbarkeit. Gerade die spezifische Medialität des Internets bestimmt über die Möglichkeitsbedingungen von Sichtbarkeit, gleichzeitig steht Sichtbarkeit in einem engen Zusammenhang mit der Frage nach Anerkennbarkeit der sichtbar werdenden Positionierungen. Damit kann Sichtbarkeit auch Verletzbarkeit bedeuten, wenn die Anerkennung verweigert wird. Der Beitrag kreist folglich auch um die Frage »wer zu sehen gibt, in welchem Kontext – und vor allem: wie, d. h., in welcher Form und Struktur zu sehen gegeben wird« (Schaffer 2008: 12). Den theoretischen Ausgangspunkt bildet ein Verständnis von Öffentlichkeiten als Ort der gesellschaftlichen Selbstverständigung, der Teilhabemöglichkeiten eröffnet, aber auch durchzogen ist von Machtverhältnissen. Eine Erweiterung dieses Öffentlichkeitsverständnisses um Sichtbarkeit und Verletzbarkeit und damit auch der konflikthaften
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Dimensionen von Online-Öffentlichkeit wird im Folgenden anhand von drei Beispielen diskutiert: Erstens anhand der Frage von Teilhabe durch feministischen Hashtag-Aktivismus, der sich digitaler Medien bedient, um sexualisierte Gewalt sichtbar zu machen; zweitens anhand der Debatte um die Hashtags #BringBackOurGirls und #IAmMalaja, um aufzuzeigen, wie durch Sichtbarkeit ein postkoloniales Ordnungssystem (re)produziert wird; und drittens anhand antifeministischer und sexistischer Hate Speech, mit der über digitale Medien agierende und damit öffentlich sichtbare Akteur*innen konfrontiert sind und online neue Verletzbarkeiten erfahren. Im Folgenden werden zunächst das zugrunde gelegte Verständnis von Öffentlichkeit ausgeführt und daran anschließend die genannten Fallbeispiele hinsichtlich der Chancen auf Anerkennung und der Risiken von Sichtbarkeit in und durch digitale Medien diskutiert. Argumentiert wird, dass sich in diesen Beispielen verschiedene Formen der Anerkennung aufzeigen lassen, gleichzeitig das, was als anerkennbar gilt, heftig umstritten ist. Denn gerade Hate Speech zielt auf Verletzung und offenbart damit die Verletzbarkeit von Personen.
Ö ffentlichkeiten als O rt gesellschaf tlicher V erhandlungen Unter Bezugnahme auf das Öffentlichkeitsmodell von Elisabeth Klaus (2006) fasse ich Öffentlichkeit nicht als homogenes Gebilde, sondern als pluralistisches Konstrukt auf. Nach Klaus ist Öffentlichkeit ein Prozess, in dem gesellschaftliche Übereinkünfte über Werte und Normen erzielt werden. Dieser Prozess findet auf drei Ebenen statt, die sie als einfach, mittel und komplex bezeichnet und die sich hinsichtlich ihrer Akteur*innen sowie der Kommunikationsformen und -foren unterscheiden. Die Ebene der einfachen Öffentlichkeit wird durch spontane Begegnungen hergestellt und zeichnet sich durch direkte und egalitäre Kommunikationsformen aus, während die mittlere und komplexe Öffentlichkeit weitaus organisiertere Strukturen aufweist und nicht auf wechselseitiger Kommunikation basiert. Die mittlere und insbesondere die komplexe Ebene von Öffentlichkeit sind damit voraussetzungsvoller, sie verfügen über Zugangsvoraussetzungen und stellen eine Unterteilung in verschiedene Rollen der Teilnehmer*innen her. Klaus hebt die Bedeutung der Ebene der einfachen Öffentlichkeit hervor, da gerade dort eine Verhandlung – und damit auch Produktion, Reproduktion und Umdeutung – gesellschaftlicher Werte und Normen stattfindet. Die Pluralität von Öffentlichkeiten hat auch Nancy Fraser (2001) betont und die Rolle von subalternen Öffentlichkeiten für gesellschaftliche Aushandlungsprozesse herausgearbeitet. Dass Aushandlungen in Öffentlichkeiten jedoch
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nicht notwendigerweise rational und deliberativ sind, darauf haben zahlreiche Forscher*innen hingewiesen. Paradigmatisch steht dafür Chantal Mouffe (2007), die den agonistischen Charakter von Öffentlichkeiten herausstreicht, in denen vor allem Konflikte ausgehandelt werden. Der permanente Widerstreit zwischen unterschiedlichen sozialen Positionen ist damit eine Grundlage öffentlicher Aushandlungsprozesse (vgl. Mouffe 2007: 42). Konsens, so Mouffe (2000: 102), sei lediglich »a temporary respite in an ongoing confrontation«. Vorstellungen von Gesellschaft und Politik, von Normen und Werten, werden somit in Öffentlichkeiten ausgehandelt, wobei auch Dissens über die Ausgestaltung bestehen kann. Auch über digitale Plattformen formieren sich Öffentlichkeiten, die sich in ihrer Reichweite, der Zahl der Akteur*innen und den Kommunikationsprozessen unterscheiden. Die technischen Möglichkeiten bestimmen dabei über die Bedingungen der Formierungen von Öffentlichkeiten mit. danah boyd (2008: 125) bezeichnet solche Öffentlichkeiten als »networked publics«, gebildet aus »spaces and audiences that are bound together through technological networks«. Die über sogenannte Social- Media-Anwendungen wie Twitter und Blogs konstituierten Öffentlichkeiten lassen sich insbesondere als einfache Öffentlichkeiten charakterisieren, da sie allgemein1 zugänglich sind, die Kommunikation vergleichsweise voraussetzungslos und zudem häufig durch spontanes Aufeinandertreffen der daran Beteiligten gekennzeichnet ist. Dabei formiert sich zumeist lediglich eine »ad-hoc community« (Bruns/Burgess 2012), die temporär ist und sich auch schnell wieder verflüchtigen kann. Caja Thimm (2017) beschreibt solche einfachen Öffentlichkeiten als »minipublics«, deren Kommunikationsmodi sich an den technischen Voraussetzungen orientieren. Zu bestimmten Ereignissen können »ad-hoc mini-publics« entstehen, wenn etwa eine Debatte zu einem bestimmten Thema viral wird. Diese Öffentlichkeiten zeichnen sich durch kommunikative Intensität aus und formieren sich auf bestimmten Online-Plattformen. Trotz ihrer Flüchtigkeit sind diese Öffentlichkeiten Teil gesellschaftlicher Verhandlungsprozesse über Werte und Normen. Denn gerade in solchen Alltagsöffentlichkeiten werden Verhaltensmuster, Haltungen und Handlungsweisen diskutiert, die diese festigen, modifizieren, aber auch verwerfen können. Dass diese Kommunikationsprozesse mittels technologischer Plattformen wie Twitter aufgrund des kurzen und direkten Austausches vor allem affektive Äußerungen bedingen, macht Zizi Papacharissi (2015) deutlich. Sie beschreibt die digitalisierten Netzwerke, die über Twitter und Foren entstehen, als »affective publics« (ebd.), um herauszustellen, dass sich diese Öffentlichkeiten vor allem um affektive 1 | ›Allgemein zugänglich‹ bezieht sich in diesem Zusammenhang auf den betrachteten Forschungsgegenstand und dadurch in Hinblick auf die Mehrheitsgesellschaft in westlichen Gesellschaften – eine digitale Ungleichheit besteht jedoch in vielerlei Hinsicht.
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Äußerungen herum formieren. In diesen Öffentlichkeiten können feministische und geschlechterpolitische Positionen sichtbar werden. Für die Akteur*innen eröffnen sich dadurch weitere Kommunikationsräume, die zu einer Sichtbarkeit vielfältiger Positionen beitragen können. Gleichzeitig ist jedoch eine Anerkennbarkeit etwa der Akteur*innen und der Themen Voraussetzung für Handlungsfähigkeit. Diese Anerkennbarkeit ist notwendig, um Anerkennung zu erfahren, wie Johanna Schaffer (2008) ausführt. Denn Sichtbarkeit alleine genügt nicht und fehlende Anerkennbarkeit äußert sich insbesondere in und durch digitale Medien in den vehement geführten Auseinandersetzungen um feministische Positionen und in den Angriffen gegen Personen, die Verletzbarkeiten hervorrufen können. Gerade öffentliche Artikulationen im Netz sind immer zugleich Versprechen und Gefahr: Sie eröffnen Teilhabemöglichkeiten und verschaffen minorisierten Themen und Akteur*innen eine Plattform, gleichzeitig können durch diese Sichtbarkeiten Verletzbarkeiten entstehen. Die im Folgenden vorgestellten Fallbeispiele zeigen diese Ambivalenzen von Sichtbarkeit und Verletzbarkeit in OnlineÖffentlichkeiten auf.
G ender und O nline -Ö ffentlichkeiten : D igitale K ommunik ationsr äume und S ichtbarkeit Mit Hashtags wie #aufschrei und weiteren feministischen Hashtags, die Gewalt an Frauen bzw. alltäglichen Sexismus thematisieren, ist es gelungen, Themen durch eine öffentliche Verhandlung sichtbar zu machen, die eine eher untergeordnete Rolle in ›traditionellen‹ Medien spielen. Damit wurden neue Kommunikationsräume für Feminist*innen eröffnet. So wurde unter dem Hashtag #aufschrei, den Anne Wizorek zu Beginn des Jahres 2013 initiierte, über sexualisierte Gewalt diskutiert. Auch die New Yorker Initiative Hollaback! setzt sich seit 2005 – unter anderem mit einem gleichnamigen Hashtag – gegen sexua lisierte Gewalt ein und ist mittlerweile in 32 Ländern aktiv. In Großbritan nien entstand mit The Everyday Sexism Project zunächst eine Webseite, später folgten die Hashtags #shoutingback und #EverydaySexism. Ähnliche Initiativen gab es in Australien mit #destroythejoint und mit #sendeanlat in der Türkei. Darüber hinaus wurde in den Hashtags #whyIstayed und #whyIleft über häusliche Gewalt und den Umgang damit diskutiert. Im Hashtag #mencallmethings werden sexualisierte Anfeindungen und Belästigungen diskutiert und die Situation für Frauen* im Internet kritisch reflektiert (vgl. Megarry 2014: 51). All diesen Hashtags ist gemeinsam, dass sie den Fokus auf Sexismus, sexualisierte Gewalt und Hassverbrechen legen. In den Tweets werden Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt mittels Story telling thematisiert. Diese persönlichen Erfahrungen bilden den zentralen Be-
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standteil der Hashtags, wie etwa Rosemary Clark (2016) in ihrer Analyse von #whyIstayed herausarbeitet. Die Möglichkeit, die eigene Geschichte zu erzählen, lässt auch in öffentlichen Debatten häufig ausgeblendete oder verkürzt dargestellte Themen wie sexualisierte Gewalt und sexistische Strukturen sichtbar werden. In den von Jill P. Dimond et al. (2013) durchgeführten Interviews mit Personen, die bei hollaback ihre Erlebnisse mit sexualisierter Gewalt veröffentlicht haben, wird deutlich, dass die Sprachlosigkeit bei sexualisierten Übergriffen überwunden oder zumindest die Hürden, darüber zu sprechen, gesenkt werden. Sady Doyle, die Initiatorin des Hashtags #YesAllWomen, streicht den politischen Charakter heraus: »When we all speak up, it doesn’t sound like self-pity any more (...). It’s structural oppression« (zit. n. Megarry 2014: 51). Persönliche Erfahrung, so wird auch bei #aufschrei deutlich, ist zugleich mit strukturellen Ungleichheiten und kollektiven (Unrechts-)Erfahrungen bestimmter Gruppen verbunden (vgl. Drüeke/Zobl 2016). Bei #aufschrei beinhal teten viele Tweets sich gegenseitig unterstützende und bekräftigende Kommentare, damit entstand Solidarität unter den Nutzer*innen und gleichzeitig eine aktive Zuhörer*innenschaft (vgl. Dreher 2015; Clark 2016). Rape Culture bedürfe zur Aufrechterhaltung Schweigen, so führen Keller et al. (2016: 12) aus; eine Stimme zu haben und damit Sichtbarkeit für marginalisierte Themen herzustellen, eröffne neue Möglichkeitsräume und könne der vielfach erfahrenen Misogynie begegnen (vgl. auch Kim 2017). Allerdings ist gerade die Sichtbarkeit bei sexualisierter Gewalt ambivalent. Eine Exponiertheit der Themen und Personen kann problematisch sein, wenn damit Zuschreibungen an mögliche ›Opfer‹ verbunden sind. Die Formierung von Öffentlichkeit durch feministische Hashtags bedeutet Sichtbarkeit für feministische Anliegen und für feministischen Aktivismus. An diesen Beispielen zeigt sich vor allem das Versprechen auf Teilhabe von Online-Öffentlichkeiten: So sind es die Akteur*innen selbst, die die eigene Repräsentationen gestalten und sichtbar machen können.
A neignungen , N ormierungen und A ngriffe in und durch digitale M edien Im Folgenden wird diskutiert, inwieweit feministischer Aktivismus im Netz Verhandlungen über Normen hervorruft, aber auch Aneignungen feministischer Themen in und durch digitale Medien deutlich werden. Die Gefahren von Online-Öffentlichkeiten werden anhand zweier Fragestellungen dargestellt: Zum einen anhand der Frage, wer durch die Hashtags spricht und für wen gesprochen wird; zum anderen wird diskutiert, wie Angriffe, die sich gegen Feminist*innen und feministische Themen richten, nachdem für diese Sichtbarkeit öffentlich hergestellt worden ist, Verletzbarkeit bedeuten.
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Aushandlungsprozesse in und durch Hashtags finden innerhalb bestimmter tradierter Wissensordnungen statt und zugleich zeigen die diskursiven Rahmungen Ein- und Ausschlüsse von Personen und Themen. Schaffer (2008: 21) weist darauf hin, dass es entscheidend ist, ob die Positionen der Sichtbarkeit und damit die Repräsentationen selbst bestimmt sind oder durch hegemoniale gesellschaftliche Sichtbarkeitsverhältnisse gerahmt bzw. vereinnahmt werden. In gegenwärtigen feministischen Hasthags, so streicht Helen Berents (2016) heraus, werden auch neokoloniale Rahmungen ersichtlich, die eine Aneignung von Positionen bedeuten können. Als Beispiele benennt sie die Hashtags #IAmMalala und #BringBackOurGirls. Mit dem Hashtag #IAmMalaja wurde die pakistanische Regierung aufgefordert, Gleichberechtigung der Geschlechter vor allem in Sachen Bildung zu erreichen (vgl. Braun 2012). Anteilnahme an der Entführung Hunderter Schülerinnen aus einer Schule in Chibok/Nigeria durch die islamistische Gruppe Boko Haram wurde im Hashtag #BringBackOurGirls ausgedrückt. Diese – in einem westlichen Kontext formierten – Hashtags drücken demnach eine Vereinnahmung aus, weil von »unseren Mädchen« die Rede ist bzw. eine Gleichsetzung durch den Ausdruck »ich bin …« hergestellt wird. Berents (2016) weist darauf hin, dass bereits durch die Formulierung des Hashtag-Namens neokoloniale Bedeutungszuschreibungen ersichtlich werden, da sich der Aktivismus auf eine Rettung der als ›anders‹ Markierten richtet. Rey Chow (2013) hat in Bezug auf Gilles Deleuze diese Art von Sichtbarkeit unter den Begriff der »postkoloniale(n) Sichtbarkeiten« diskutiert. Gerade die massenmediale Aufmerksamkeit bediene sich dieser Muster. So könne zwar einerseits das »aktive Erobern medialer Aufmerksamkeit« dafür genutzt werden, um »angemessene Bilder zu erzeugen und geeignete Geschichten zu verbreiten« (ebd.: 139); gleichzeitig ist mediale Aufmerksamkeit seriell und knüpft damit auch an koloniale Traditionen an. Durch ›I am‹ oder ›Our‹ wird eine Formulierung gewählt, die eine Vereinnahmung ›des Anderen‹ kennzeichnet. Auch Mary Maxfield (2016: 886) streicht heraus, dass bestimmte Nutzungsweisen des Hashtags #BringBackOurGirls »imperial feminist appropriations« darstellen können. Shenila Khoja-Moolji (2015: 349) weist darüber hinaus darauf hin, dass ein solcher Hashtag-Feminismus die komplexen – auch geopolitischen – Ursachen von Gewalt und Konflikten im globalen Süden nicht in den Blick nimmt und eine Re-Artikulation von »long-standing colonial and imperial conceptualizations about Islam, Muslims, and schoolgirls« darstelle. Verkürzt dargestellt werden in den Tweets die einzelnen Geschichten der Schülerinnen sowie der Kontext von #BringBackOurGirls. Berents (2016) sieht in diesen Hashtags die Gefahr eines Fortschreibens der neokolonialen Interventionen des globalen Nordens gegen den globalen Süden, auch wenn die Aufmerksamkeit der (westlichen) Medien für diese beiden Hashtags durchaus positiv sei. Gayatri Chakravorty Spivak (1988) hat in ihrem vielbeachteten Aufsatz Can the subaltern
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speak aufgezeigt, wie westliche Intellektuelle im Sprechen für marginalisierte Gruppen den Deutungsrahmen vorgeben und das Sprechen marginalisierter Gruppen deuten. Forderungen nigerianischer bzw. pakistanischer Frauen* werden von Weißen Feminist*innen des globalen Nordens gedeutet und auf eine bestimmte Weise gerahmt: »saving brown women from brown men« (Spivak 1988: 93). Auch wenn so Solidarität mit globalen Themen und die Unterstützung vielfältiger Initiativen möglich ist, kann dieses ›Sprechen für‹ zu einer Unsichtbarmachung der Forderungen marginalisierter Gruppen beitragen. Darüber hinaus sind Gender und Sexualität immer wieder Teil politischer Auseinandersetzungen (vgl. Hark/Villa 2015). Angriffe auf die Geschlechterforschung und -politik finden sich in zahlreichen gesellschaftlichen Feldern. Antifeministische Kommunikationsformen im Internet sind kein neues Phänomen: So diagnostizierte Susan Herring bereits 1999 eine »rhetoric of online gender-harassment« in Chats und eine stetig zunehmende Anzahl von Trollen in feministischen Online-Foren, die sich abwertend und beleidigend äußern. Auch in weiteren Social-Media-Anwendungen dominieren misogyne Einstellungen (vgl. Jane 2014). Unter Hate Speech werden dabei sprachliche Äußerungen verstanden, die Hass gegen Personen oder Gruppen ausdrücken. Insbesondere die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe steht dabei im Vordergrund der Äußerungen, die von Beleidigungen bis hin zu Gewalt- und Morddrohungen reichen (vgl. Amadeu Antonio Stiftung o. J.). In ihrer Wirkung kann Hate Speech den Kommunikationsverlauf stören und damit eine konstruktive Debatte über Gender-Themen verhindern, aber auch eine gewaltvolle Bedrohung für feministische Akteur*innen darstellen. Hinzu kommt, dass durch die Hybridität digitaler Medien verschiedene Plattformen kombiniert und verschiedene Kanäle für Hassbotschaften benutzt werden können. Durch die Verbindung verschiedener Öffentlichkeiten und Teilöffentlichkeiten erweitern sich auch die Verbreitungswege. In feministischen Hashtags werden sowohl Tweets gepostet, die den Gesprächsverlauf behindern, aber auch zahlreiche Hassbotschaften und Beleidigungen. So wiesen etwa in der zweiten Woche nach der Initiierung bereits 20 % der Tweets bei #aufschrei antifeministische und/oder sexistische Inhalte auf (vgl. Drüeke/Zobl 2016). In diesen Tweets finden sich Relativierungen sexualisierter Gewalt, die Infragestellung der Wissenschaftlichkeit der Gender forschung sowie Beleidigungen und Drohungen. Die Initiatorinnen der Hashtags #YesAllWomen und #YesAllWhiteWoman wurden durch Hate Speech angegriffen und nutzten aufgrund von Drohungen das jeweilige Hashtag nicht mehr (vgl. Rodino-Colocino 2014: 1114). Solche Angriffe behindern eine Weiterführung der Debatte auf der Plattform Twitter und führen dazu, dass dort der Austausch über Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt erschwert und teilweise unmöglich gemacht wird. Auch feministische Blogger*innen sind mit
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persönlichen Angriffen sowie sexistischen, homophoben und rassistischen Kommentaren zu ihren Blogeinträgen konfrontiert. Wenn Blogger*innen namentlich sichtbar – die mädchenmannschaft bloggt, anders als etwa das mädchenblog, unter Klarnamen – und per Mail erreichbar sind, entstehen neue Verletzbarkeiten (vgl. Freudenschuss 2015). Als Reaktionen haben einige Blogger*innen die Seite hatr.org eingerichtet. Dort werden antifeministische und rassistische Kommentare von Blogs gesammelt und – ohne auf den Zusammenhang hinzuweisen – veröffentlicht. Die Blogger*innen haben so die Möglichkeit, die Hasskommentare von ihren Seiten zu löschen – dennoch bleibt ersichtlich, wie häufig diese vorkommen und wie ›normal‹ sie in der Online-Kommunikation geworden sind. So verlieren die Hasskommentare ihren verletzenden Charakter, da die eigentlichen Adressat*innen der Hate Speech nicht mehr erkennbar sind (vgl. Baer 2016: 57). Auf Twitter bleiben allerdings Hasskommentare ebenso sichtbar wie die Angegriffenen und die Aussagen, die sie betreffen. Hauptsächlich, so Jessica Megarry (2014), werden Frauen* angegriffen, wenn ihr Verhalten aus Sicht der antifeministischen Akteur*innen nicht den tradierten Geschlechterrollen entspricht; ihnen wird also eine »anerkennende Sichtbarkeit« verweigert. Denn Repräsentationen im Netz, so führt Jennifer Eickelmann (2014: 2) aus, können Menschen einen anerkennbaren Subjektstatus verleihen und ihnen diesen gleichermaßen entziehen. Hier zeigt sich durch die Anonymität des Netzes eine Distanzlosigkeit, die Androhungen physischer Gewalt ebenso möglich macht wie diffamierende Kampagnen. Die Medialität des Netzes unterstützt es, dass sich Gruppen formieren, die die technischen Eigenschaften nutzen, um online gemeinsam zu agieren. Diese »Hate groups« (vgl. dazu Margolis/Moreno-Riaño 2009: 84) adressieren die Angegriffenen direkt, um scheinbare Übertretungen von Geschlechternormen und Destabilisierungen von hegemonialer Männlichkeit zu sanktionieren. Durch solche Äußerungen und Handlungen, werden – so Butler (1997: 19) – Geschlechtspositionen, die nicht der Norm entsprechen, auf »ihren Platz verwiesen« und darin zeigen sich Normierungsversuche. Denn, so führt auch Florian Pistrol (2016: 250) in Bezug auf Butler aus, »Anerkennung bedeutet damit stets auch, dass bestimmte Seinsmöglichkeiten und Subjektformationen verworfen werden«.
D igitale K ommunik ationsr äume : H er ausforderungen und G renzen An den diskutierten Beispielen zu feministischen Hashtags zeigt sich, dass Sichtbarkeiten im Netz nicht kausal mit politischer Macht im Sinne einer anerkennenden Sichtbarkeit und einem Zugewinn an Definitions- und Handlungsmacht verbunden sind. Aus der von mir dargelegten Perspektive befinden sich
Verlet zbarkeit durch Sichtbarkeit?
technologische Entwicklungen, gesellschaftliche Wert- und Normorientierungen sowie feministische Politik in einem permanenten und aber auch produktiven Spannungsverhältnis. Sichtbarkeit stellt dabei den umkämpften Prozess des Sichtbarwerdens dar. Feministischer Aktivismus bzw. Geschlechterrepräsentationen im Netz werden häufig als Normüberschreitung wahrgenommen und durch Angriffe sanktioniert. Im Netz (aber nicht nur dort) ist anerkennende Sichtbarkeit insbesondere unter der Bedingung der Akzeptanz traditioneller Geschlechterhierarchien bzw. -rollen möglich. Damit muss die Konstituierung von Öffentlichkeiten im Netz auch in Verbindung mit den Politiken der Sichtbarkeit gesehen werden, die neben »anerkennender Sichtbarkeit« (Schaffer 2008) auch Verletzbarkeiten deutlich machen. Dies gilt gleichwohl für alle drei diskutierten Beispiele, wenn auch auf unterschiedlichen Ebenen der Anerkennungs- und Sichtbarkeitspraxen. Darin zeigen sich die Gefahren gesellschaftlicher Selbstverständigungsprozesse und die Notwendigkeit, den von Mouffe (2007: 158) postulierten »konfliktualen Konsens« – d. h. ein Konsens über ethisch-politische Werte der Freiheit und Gleichheit aller, ein Dissens aber über die Interpretation dieser Werte – vehement einzufordern und antagonistische in agonistische Positionen zu transformieren. Kritik zu üben, Anerkennungsstrukturen in Frage zu stellen und letztendlich gesellschaftliche Praxen zu verändern, ist ein fortlaufender Prozess. Denn Sichtbarkeit ist auch immer als eine veränderbare kulturell-politische Praxis zu verstehen, da sich Anerkennbarkeit und Anerkennung verschieben können.
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Infrastrukturen der Un/Sichtbarkeit navigieren? Zur aktivistischen Bearbeitung von Verletzbarkeiten Magdalena Freudenschuss
Anfang der 2000er Jahre entstanden in verschiedenen Städten wie New York oder Zürich Karten, die die Position von Überwachungskameras im öffentlichen Raum dokumentierten (vgl. Spillmann 2011). Sie waren Produkte künstlerisch-aktivistischer Praktiken, die sich mit der Beschaffenheit des öffentlichen Raums und der Rolle sich ausbreitender Überwachungstechniken auseinandersetzten. Solche Aktionen bearbeiten das Un/Sichtbar-Sein von Infrastrukturen und intervenieren in die gesellschaftliche Debatte über gezieltes Sichtbar-Machen. Das Arbeiten mit dem Un/Sichtbar-Sein und Un/Sichtbar-Machen ist, so die Ausgangsthese dieses Beitrags, mitunter auch Bearbeitungsweise(n) und Auseinandersetzungsform(en) mit der eigenen Verletzbarkeit. Verletzbarkeit denke ich dabei im Anschluss an Judith Butler und Isabell Lorey sowohl als existentielles Moment von Subjektivität als auch als kontextuelle Komponente politisch induzierter Prekarität (vgl. Butler 2010; Lorey 2011). Verletzbarkeit ist ein geteiltes Prinzip sozialer Existenz, es verweist auf die grundlegende wechselseitige Abhängigkeit von Menschen als soziale Wesen. Darüber hinaus spielen die jeweiligen politischen Umstände eine zentrale Rolle, um die konkreten Konstellationen von Verletzbarkeit im Sinne einer Prekarität zu verstehen. Die Wandlung europäischer Gesellschaften hin zu »Kontrollgesellschaften« (Deleuze 1990) stellt ein aktuelles Moment solcher gesellschaftspolitischen Umstände dar, die die Verletzbarkeit der Einzelnen sowie von politischen Kollektiven historisch neu strukturieren. Verletzbarkeit ist insofern immer als ein zentraler Modus von Sozialität zu verstehen, der auf soziale Verhältnisse verweist, nicht allein auf ein singuläres (politisches) Subjekt (vgl. Freudenschuss 2015: 55f). Infrastrukturen der Überwachung, wie sie in den eingangs zitierten Projekten kartographiert und damit sichtbar gemacht wurden, sind die häufig unsichtbare Grundlage sich technologisierender Gesellschaften. Aktivistisches Navi-
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gieren zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, aktivistisches Handeln im ambivalenten Spannungsfeld von Anonymität und Identifizierbarkeit, machen technische Infrastrukturen nicht nur zum Gegenstand der eigenen politischen Auseinandersetzung, sondern sind grundlegend auf Infrastrukturen angewiesen. Unter den Bedingungen einer sich ausdehnenden Überwachung ist jedes Navigieren mit den Begrenzungen und Möglichkeiten konfrontiert, die technische Infrastrukturen vorgeben. Jede kontextbedingte Form von Verletzbarkeit ist auch infrastrukturell fundiert. Shannon Mattern spricht im digitalen Kontext von harten und weichen Infrastrukturen: der technischen Hardware einerseits und der Software wie technische Protokolle oder Techniken des Messens andererseits (vgl. Mattern 2016). Mattern betont in ihrem Zugang die normative Bedeutung von Infrastrukturen, sie funktionieren ermöglichend und/oder verhindernd. In diesem Sinne plädiert sie für ein aktives Nutzen von technischen Infrastrukturen als Gerüste für die Konstruktion von Gesellschaft (ebd.). Im vorliegenden Text reflektiere ich einige Aspekte des Zusammenhangs zwischen digitalen Infrastrukturen und Un/Sichtbarkeiten mit Fokus auf die Bearbeitung der eigenen, politisch induzierten Verletzbarkeit. Im Kontext von Digitalisierung und Kontrollgesellschaft geht es dabei immer auch um die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Verhältnissen insgesamt. Ich konzentriere mich hier auf aktivistische Auseinandersetzungen mit den gesellschaftlichen Verhältnissen als taktisches und strategisches Navigieren von Unsichtbarkeiten und Sichtbarkeiten, das in engem Wechselspiel mit den verfügbaren und bedingenden Infrastrukturen steht. Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit verstehe ich als zentrale gesellschaftspolitische Mechanismen im Ringen um Macht. Das Navigieren von und mit Un/Sichtbarkeiten ist dabei keiner bzw. keinem* spezifischen Akteur*in exklusiv vorbehalten. Vielmehr werden im Aushandeln von, im Spielen mit und im strategischen Konstruieren von konkreten Sichtbarkeiten gesellschaftliche Verhältnisse verhandelt und damit gesellschaftliche Wirklichkeit erst hergestellt. Der politische, gesellschaftliche Einsatz, der bei solchen Verhandlungen zur Disposition steht, sind Deutungsmacht und Anerkennung und damit auch das politische und soziale Gewicht der eigenen Position. Mit Butlers Konzeption der existentiellen Verletzbarkeit gedacht, steht darüber hinaus letztlich auch die Möglichkeit der sozialen Existenz selbst auf dem Spiel. Ziel dieses Beitrags ist es, Infrastrukturen als Moment der (theoretischen wie praktischen) Auseinandersetzung mit (den eigenen) Verletzbarkeiten einzuführen und über das Verhältnis aktivistischen Navigierens zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit einerseits und Infrastrukturen andererseits nachzudenken. In vier Schritten diskutiere ich anhand empirischer Beispiele, wie Aktivist*innen Verletzbarkeiten über das Navigieren von Un/Sichtbarkeiten bearbeiten. Erstens nähere ich mich dem Zusammenhang meiner beiden zen-
Infrastrukturen der Un/Sichtbarkeit navigieren?
tralen Begriffe: Verletzbarkeit und Infrastrukturen. Zweitens diskutiere ich digitale Infrastrukturen als vermachtete Strukturen, die ihrerseits spezifische Verletzbarkeiten rahmen, befördern oder auch abfedern. Drittens greife ich einige Verweise darauf auf, dass digitale Infrastrukturen auch aktiv von aktivistischer Seite her bearbeitet werden und in dieser Bearbeitung Verletzbarkeit eine zentrale Rolle spielt. Viertens gehe ich exemplarisch über die Frage des Vertrauens in Technik der affektiven Dimension des Verhältnisses von Verletzbarkeiten und Un/Sichtbarkeiten nach. Für dieses Argument rekurriere ich auf empirisches Material und Ergebnisse aus zwei eigenen Forschungsprojekten: Das erste lief von 2006 bis 2012 zu Diskursen über Prekarisierung an der Humboldt Universität zu Berlin (vgl. Freudenschuss 2013). Im Rahmen einer soziologisch orientierten Diskursanalyse des deutschsprachigen Diskurses um Prekarisierung untersuchte ich mitunter auch aktivistische Praxen. Das zweite startete 2013 (erste Projektphase bis 2015 an der Leuphana Universität Lüneburg) (vgl. Freudenschuss 2017). Im Forschungsprojekt Verletzbarkeiten im Digitalen folgte ich einem reparativ-rekonstruktiven Ansatz, der aus den Narrativen und Praxen von Aktivist*innen die Bedeutung von Verletzbarkeit für Sozialität und Subjektivität in digitalisierten Kulturen herauszuarbeiten ermöglichte. Den hier vorliegenden Text verstehe ich als Suchbewegung zu einer beide Forschungsfelder verbindenden Komponente: den Infrastrukturen. Ich interpretiere die empirischen Beispiele als Hinweise auf gesellschaftliche Tendenzen und verstehe die hier angestellten Überlegungen als Grundlage für weiterführende Untersuchungen.
V erle t zbarkeit und I nfr astruk turen »We are increasingly visible to invisible regimes.« (Natsios/Young 2016b)
Diese Diskrepanz zwischen Sichtbar-Sein und Sehen-Können – aus aktivistischer Perspektive – oder zwischen Sehen und Sich-Ansehen-Lassen – aus Herrschaftsperspektive – ist für die beiden Privacy-Aktivist*innen Deborah Natsios und John Young, zwei in den USA verortete Architekt*innen, zentral über Infrastrukturen vermittelt. Natsios und Young nutzen seit 1996 ihre Plattform Cryptome 1, um die unsichtbaren Infrastrukturen des überwachenden Staates zu veröffentlichen, auszugraben, sichtbar zu machen. Im Ungleichgewicht zwischen Überwachten und Überwachenden lässt sich ein Moment der spezifischen Verletzbarkeit in digitalisierten Zeiten ausmachen. »[C]an smart space 1 | https://www.cryptome.org.
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be democratic public space when speech and acts are ubiquitously recorded and reported? Are apps ›free‹ when they harvest vast troves of personal data without consent? Wi-fi hotspots are notoriously insecure. Smartphones exude communications trails and geolocational clues.« (Natsios/Young 2016b) Individuell wie kollektiv entstehen im Kontext digitalisierter Gesellschaften Verletzbarkeiten im Sinne einer Exponiertheit gegenüber einem mächtigen Subjekt, das über den Zugriff auf und die Kontrolle von Infrastrukturen verfügt. Infrastrukturen werden so als Teil jenes politischen Gefüges erkennbar, das die geteilte existentielle Verletzbarkeit aller Subjekte (vgl. Butler 2010) entlang unterschiedlicher gesellschaftlicher Positionierungen in unterschiedlichem Maße in ihrer Gefährdetheit und Exponiertheit artikuliert. Infrastrukturen der Überwachung sind dabei selbst häufig unsichtbar (vgl. Natsios/Young 2016b). Sie werden nicht zwangsläufig direkt von einem menschlichen Subjekt gesteuert. Algorithmen strukturieren zunehmend unsere Wahrnehmung, sie manövrieren Suchanfragen und Konsumverhalten, werden zu einer neuen Form des Regierens: Die Rechtsphilosophin Antoinette Rouvroy spricht von algorithmischer Gouvernementalität (2011). Die digitalen Infrastrukturen sind mit Handlungsmacht ausgestattet, menschliche Verletzbarkeit buchstabiert sich neu aus. Es geht dabei auch um Verletzbarkeiten, die aus dem affektiven Verhältnis von Mensch und Technik resultieren: Das eigene Vertrauen in den Computer, die Abhängigkeit von den Geräten, birgt das Potential von Enttäuschung und Verletzung, wenn das Versprechen einer funktionierenden Technik nicht eingelöst wird (vgl. Lupton 2000: 108ff.). Die technische Infrastruktur und deren eigene Verletzbarkeit resoniert mit dem Gefühl von Verletzbarkeit: »the feeling of vulnerability, that’s also a huge part of digital insecurity, that people are feeling totally helpless« (Trainer*in Digitale Sicherheit, Deutschland/Irland, 2014). Die Bearbeitung der eigenen Verletzbarkeiten erfolgt in dem jeweiligen gegebenen infrastrukturellen Rahmen oder auch in der Auseinandersetzung mit diesem Rahmen. Ersteres ist für Aktivist*innen relevant, die in ihrer Arbeit beispielsweise auf mediale Infrastrukturen rekurrieren. Die materielle Grundlage der genutzten Medien und ihre Verhandlungsmacht ist dann mitzubedenken. Die materielle Basis von Diskursen kann poststrukturalistisch als zu Strukturen geronnene Diskurse gelesen werden, die ihrerseits die Wirkmächtigkeit einzelner diskursiver Interventionen strukturieren (vgl. Freudenschuss 2013: 93f.). Insofern gilt es auch immer in den Blick zu nehmen, wie die Möglichkeitsbedingungen für ein Navigieren von Un/Sichtbarkeiten für politische Aktivist*innen im medialen Feld überhaupt aussehen, welche Rahmenbedingungen durch die Regeln des Feldes (vgl. Bourdieu 2005) sowie die Infrastrukturen (vgl. Mattern 2016) gesetzt werden und welche Gestaltungsmöglichkeiten durch diese (nicht) zugelassen sind. Gleichzeitig geht es auch hier um die
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Frage nach dem affektiven Moment des Verhältnisses von Handlungsfähigkeit, Gestaltungsmacht und technischen Infrastrukturen. Im Bereich digitaler Sicherheit ist Ermächtigung ein zentrales Stichwort, das sich nicht allein auf die technische Kompetenz, sondern das emotionale Verhältnis zwischen den Teilnehmenden und die von ihnen genutzte (digitale) Technik bezieht: Sie eignen sich neben technischer Kompetenz insbesondere auch das Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten an – so eine Trainer*in/Hacker*in im Interview (Deutschland/USA, 2014). Eine solche ermächtigende, bestärkende Aneignung geht über in die aktive Auseinandersetzung mit den infrastrukturellen Rahmensetzungen hinaus, nämlich dann, wenn Aktivist*innen hinterfragen, wie Infrastrukturen selbst strukturiert sind, und ihren politischen Gegenstand im Kampf um die materielle Basis definieren, worauf ich im übernächsten Abschnitt zurückkommen werde.
V ermachte te I nfr astruk turen Technische Infrastrukturen sind nicht losgelöst von gesellschaftlichen Machtverhältnissen zu betrachten. Im Gegenteil, die Nutzung von medialen Infrastrukturen ist abhängig von der Sprechendenposition und ihrem Verhältnis zum medialen Feld. Wessen Sprechen, wessen Versuch ein Anliegen politisch sichtbar und damit relevant zu machen, als legitim angesehen wird, ist für den Erfolg aktivistischen Handelns zentral. Bourdieus Analyse zur Spezifik des journalistischen Feldes (2005) entspricht sicher nicht mehr der Multiplizierung medialer Plattformen und Arenen, die durch digitale Medien formate stattfindet. Bourdieus Insistieren auf innere Machtlogiken des Feldes ist aber insofern hilfreich, als es die analytische Aufmerksamkeit auf die Diskursproduzent*innen, auf ihr jeweiliges individuelles wie kollektives Kapital und darüber hinaus auf Machtverhältnisse im jeweiligen Feld richtet. So kann abgesteckt werden, wie legitimes Sprechen funktioniert. Das printmediale Feld beantwortet die Frage nach einer legitimen Sprecher*innenposition dabei gänzlich anders als verschiedene Foren im Internet. Gerade für politische Aktivist*innen ist der Zugang zum medialen Feld in seiner klassischen Form häufig schwierig, weil die Zugangsbedingungen streng reglementiert sind. Gesellschaftliche Hierarchien sind in den Feldzugang eingeschrieben. Digitale mediale Räume sind offener im Zugang: Ohne digitale Infrastrukturen, ohne diese medialen Räume und Strukturen wäre beispielsweise die Prekarisierungsbewegung der MayDays2 nicht in derselben Form gewandert. Aus 2 | Die Euro-MayDay-Bewegung nahm 2001 in Mailand mit einer Parade zum 1. Mai ihren Ausgang. Das historische Datum der Arbeiter*innenbewegung wurde aufgegriffen, skandalisiert wurden in den Aktionen und Paraden die zunehmende Zahl prekärer
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einer einzelnen Parade in Mailand 2001 wurde in den nächsten fünf, sechs Jahren eine europaweite, wenn auch auf urbane Zentren und den westlichen Kontinent beschränkte, Bewegung. Die alternativen Medien im Netz fungierten als zentrale Knoten der Sichtbarmachung für die MayDay-Bewegung (vgl. Mattoni 2009), während etablierte (Print-)Medien wenig Raum für alternative Lesarten und Deutungsweisen gaben. Die strukturelle Vermachtung von Printmedien machte diese als Infrastruktur für die Aktivist*innen unattraktiv bis unzugänglich. Das Internet wurde dagegen zu einem zentralen Ort der Vernetzung und Verbreitung von Wissensproduktionen sowohl für aktivistische als auch wissenschaftliche Interventionen zu Prekarisierung (vgl. Neilson/ Rossiter 2008: 52; Mattoni 2009). Gleichzeitig haben sich auch die Hoffnungen auf das Internet als einen Ort jenseits sozialer Ausschlüsse und Hierarchien als uneinlösbare Utopie erwiesen. Zwar funktionieren Online-Räume erfolgreich im Globalen Norden wie im Globalen Süden als Begegnungs- und Sozialisationsorte vor allem für junge Menschen, wie das Beispiel feministischer Organisierung in Indien zeigt (vgl. Keller 2012). Trishima Mitra-Kahn (2012) zeigt aber auch, dass soziale Hierar chien z. B. entlang von Klasse sich auch im Online-Kontext aktualisieren. Von feministischer Seite wird außerdem »das vorherrschend maskulinistische Erbe technologischer Geschichte« (Youngs 2002: 24) als weiteres Moment von in Technologie eingelassenen Machtverhältnissen betont. Gesellschaftliche Machtverhältnisse schreiben sich auch im digitalen Raum fort, vermachtete gesellschaftliche Verhältnisse lösen sich nicht allein im Wechsel der infrastrukturellen Basis auf. Gerade in digitalen Zeiten zielt politischer Aktivismus häufig auf Sichtbarkeiten, die auf massenhafte Mobilisierung setzen. Die Macht der Vielen macht den Online-Aktivismus zu einem zentralen Ort politischen Geschehens. Plattformen werden zur Multiplikation der eigenen Interessen genutzt, zur Sichtbarmachung, Thematisierung, Skandalisierung und Mobilisierung in eigener Sache. Während der Zugang zu diesen medialen Räumen vergleichsweise einfach ist, liegen die Barrieren zur Verbreitung der Inhalte auf anderer Ebene: Es geht nicht mehr vorrangig um die anerkannte Legitimität des bzw. der Sprechenden, in die Technik selbst sind Entscheidungen über Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten eingelagert. Technologien sind ihrerseits politisch aktiv, sie sind eine Form politischen Handelns (vgl. Howe/Nissenbaum 2009: 430), die für die Nutzer*innen nicht immer unmittelbar nachvollziehbar und präsent ist. Digitale Medien sind kein Raum jenseits von Herrschaft, sondern unmittelbar in Herrschaftsverhältnisse eingelassen: »the ›choices‹ operating systems offer limit the visible and the invisible, the imaginable and the unimaginable.« Arbeits- und Lebensverhältnisse, die bis dahin von den traditionellen Akteur*innen wie den Gewerkschaften, aber auch von der Politik weitgehend ignoriert wurden.
Infrastrukturen der Un/Sichtbarkeit navigieren?
(Chun 2006: 20) Software wie auch die Diskurse darum lokalisieren so beispielsweise rassistische Diskriminierung in den Körpern der Betroffenen und konstruieren digitale Infrastrukturen als herrschaftsfrei (vgl. ebd.: 132). Interfaces geben den Rahmen vor, innerhalb dessen gedacht werden kann (vgl. Patelis 2013). Programmierungen reproduzieren gesellschaftliche Dominanzen und Ausschlüsse, wie dies beispielsweise bei Anwendungen der Fall ist, die Gesichtserkennungen nutzen: Die Codes sind auf die Erkennung Weißer Gesichter ausgerichtet (vgl. Buolamwini 2016). So ist die Auseinandersetzung mit den konkreten Infrastrukturen absolut zentral für ein Verstehen der Navigierbarkeit von Un/Sichtbarkeiten: Eigentumsrechte, rechtliche Regulierungen und generalisierte, voreingestellte Sicherheitseinstellungen sind weitere Beispiele dafür, wer was wo sehen kann. Algorithmen werden zunehmend zu eigenständigen Akteuren: So beeinflussen jene von Facebook das Verhalten der Nutzer*innen und wirken damit auch auf soziale und politische Vernetzungen mit ein (vgl. Tufekci 2015: 205f). Algorithmen filtern und arbeiten dabei auf Basis nicht-transparenter Kriterien von Relevanz. Über diese nehmen sie maßgeblich darauf Einfluss, was über den lokalen Horizont hinaus wahrgenommen wird, und damit auch darauf, was zum politisch relevanten Thema oder Ereignis avanciert (ebd.: 213). Das Handlungsfeld sozialer Bewegungen steht so unmittelbar im Zusammenhang mit den technischen Infrastrukturen. Dadurch verschiebt sich die Schlüsselstelle für die Navigierbarkeit von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit von der Ebene der Medienmacher*innen hin zu jenen, die Entscheidungen über die technische Infrastrukturen treffen (vgl. Tufekci 2015). Auch diese*r bzw. diese interviewte Hacker*in verweist auf das entscheidende Gewicht, das die anfänglichen Entscheidungen zur Infrastruktur des Internets bis heute haben: »Computer und Internet wurden als öffentliche Maschinen gebaut, also am Anfang gab es keine Idee von privaten Ordnern. (…) Man hat etwas ins Internet gemacht und jeder in der Welt konnte es angucken. Und dafür war es auch genial. Also das war halt die Idee, dass man miteinander [öffentlich, MF] Sachen sharen könnte (...). Und darauf war die Technologie einfach gebaut. Zum Beispiel könnte man eigentlich peer to peer Verschlüsselung einfach reingebaut haben, aber jetzt ist [diese öffentliche Struktur, MF] die unterste Schicht von allem. Aber man kann [kryptographische Elemente] jetzt nicht in die untere Schicht reinbauen, weil die oberen Schichten schon drauf gebaut wurden.« (Hacker*in, Deutschland/USA, 2014)
Er bzw. *sie hat die infrastrukturellen Grundlage des Internets im Blick. Sie bzw. *er argumentiert, dass dessen Bauprinzipien zu einem Zeitpunkt festgelegt wurden, als die Frage nach Privatheit und privater Nutzung noch gänzlich außerhalb der imaginierten Nutzungsmöglichkeiten lagen. Es wurden aber Codes geschrieben, in die bereits Ausschlüsse eingeschrieben sind,
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weshalb inklusives Programmieren selbst zum politischen Programm werden kann (vgl. Buolamwini 2016). Die infrastrukturellen Rahmenbedingungen sind so unmittelbar mit der Frage nach Verletzbarkeiten verknüpft. (Medien-) Aktivist*innen sind immer wieder mit technischen Grundlagen konfrontiert, die in sich bereits strukturelle Verletzbarkeiten reproduzieren. Die Frage nach dem gezielten Navigieren von Un/Sichtbarkeiten ist hier deutlich eingelassen in die technischen Voraussetzungen und Bedingtheiten.
I nfr astruk turen als Teil politischer S tr ategien In der kritischen aktivistischen Auseinandersetzung mit Infrastrukturen ist Transparenz ein zentraler, wenn auch nicht unumstrittener Wert. Das Sichtbarmachen von Infrastrukturen ist deshalb ein aktivistisches Handlungsfeld. Das Projekt Cryptome versammelt unter dieser Prämisse diverse Leaks und Hintergrundinformationen, die mit digitalen Infrastrukturen in Zusammenhang stehen: »While infrastructures may be described as blackboxed or culturally invisible, we always try to render their inherent politics and interests culturally visible. Our work in support of a democratic society has always tried to equitably expand public goods in the public domain, public sphere and public space. In the information age, this includes Cryptome advocating for information equality and making visible to the public domain the knowledge-based economy’s most blackboxed informational infrastructure: the corrosive apparatus of national security secrecy.« (Natsios/Young 2016a)
Transparenz, die Sichtbarkeit und Zugänglichkeit von Informationen, wird der Intransparenz, der Blackbox hegemonialer Umgangs- und Bauweisen von Infrastrukturen gegenüber gestellt. Der aktivistische Zugang ist zweifach: Zum einen wird versteckte Infrastruktur oder das versteckte Funktionieren von Infrastrukturen der Überwachung offen gelegt. Ein weiteres prominentes Beispiel der letzten Jahre ist die Intervention von Edward Snowden. Whistle blowing und die mediale Aufarbeitung und damit Sichtbarmachung von bis dahin weitgehend ›unsichtbaren‹, unzugänglichen oder auch nur unbelegten Informationen funktionieren als ein Navigieren von Un/Sichtbarkeiten, als politische Strategie des Widerstandes gegen Kontrollregime. Whistleblowing ist gleichzeitig ein Beispiel für die Ambivalenz zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit: Journalist*innen, die die geleakten Informationen aufarbeiten, sind auf Infrastrukturen angewiesen, die eine gezielte Anonymität der Quellen möglich machen. Dieses Navigieren ist in beide Richtungen auf entsprechende technische Grundlagen und das Vertrauen der Akteur*innen in diese angewiesen.
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Zum anderen ist das Schaffen alternativer Infrastrukturen, die auf Sichtbarkeit setzen, selbst eine zentrale aktivistische Strategie. Gerade in Hacker*innenkreisen wird infrastrukturelle Sichtbarkeit oder vielmehr Transparenz zu einem Grundprinzip. Alternative Infrastrukturen beruhen häufig auf dem Prinzip von Open Source, dem offenen Zugang zum Source Code. Open Source stellt sicher, dass Infrastrukturen lesbar hinsichtlich dessen sind, was sie an Möglichkeitsbedingungen und Setzungen mit sich bringen. Über sie wird das Verhältnis zwischen Technik und Aktivist*innen zu einem aktiven, gestaltbaren Verhältnis, das allerdings seinerseits auch in den makropolitischen Kontext von Überwachung eingebettet ist, wie diese*r Hacker bzw. diese Hacker*in die eigene Arbeit beschreibt: »Und seit dem NSA-Skandal gehen wir durch alles, von dem wir vorher gedacht haben, es war sicher, und müssen es uns ein zweites Mal angucken. Hat die NSA doch ein Backdoor da rein programmiert? Die haben das auch bei Linux probiert, da so ein Backdoor reinzukriegen. (…) Man kann oft nicht den Sachen vertrauen, denen man vorher vertraut hat. Da gibt es innerhalb der Hacker-Szene ein großes Hin und Her, worauf man vertrauen kann. (…) [M]an hat eigentlich entdeckt, dass von den Grundschichten des Internets die SSL-Verschlüsselung, dieses Open Source Programm, seit 11 Jahren ein großes Bug drinnen gehabt hat, das es voll unsicher gemacht hat.« (Interview Hacker*in, Deutschland/USA, 2014)
Die Sichtbarkeit und damit Zugänglichkeit der Bauprinzipien digitaler Infra strukturen sollen mitunter den aktivistischen Handlungsspielraum, das gezielte und bewusste Navigieren zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, verbreitern. Es geht dabei auch um die Frage, wer über die Verhältnisse bestimmen kann, wer was sieht und aus diesem Sehen ins politische Handeln wechseln kann. Über die Infrastrukturen (mit)entscheiden zu können, ihre Struktur sehen und bearbeiten zu können, wird damit zu einem zentralen Element im politischen Prozess der Bearbeitung der eigenen Verletzbarkeiten. Diese konkretisieren sich im Verhältnis von aktivistischem Subjekt und technischen Infrastrukturen. Deshalb wird ihre Sichtbarkeit selbst zum politischen Verhandlungsgegenstand, bei dem die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen zur Disposition steht. Machtverhältnisse in Infrastrukturen sichtbar zu machen, ist ein politisches Programm – ob über ein inklusives Programmieren im Sinne des InCodings von Joy Buolamwini (2016) oder über künstlerische Intervention und Gegen-Kartographien wie bei Cryptome: »Reverse engineering forensically extracts, inspects, improves or contests ›design blueprints‹ embedded in manmade systems. Cryptome reverse-engineers the technics and codes hardwired into panoptical information and communications technologies as a way of examining their diagrams of power. (...) Or reversing top-down geopolitical maps
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Magdalena Freudenschuss through countercartographies that favor micro-historical method. It’s also Cryptome’s general approach to the everyday, incremental construction of a public domain library around the inchoate classification of so-called banned documents.« (Natsios/Young 2016b)
Natsios und Young fordern in der Sichtbarmachung versteckter Infrastruk turen deren Machtbasis heraus. Im Versuch des Umdrehens panoptischer Verhältnisse und unter Nutzung eigener Infrastruktur machen sie deutlich, wie politischer Aktivismus, der sich mit Überwachung auseinandersetzt, einen taktischen Umgang mit dem ambivalenten Zusammenhang zwischen Verletzbarkeit und Sichtbarkeit findet.
V ertr auen , Technik und U nsichtbarkeit Der Zusammenhang von Infrastrukturen, Un/Sichtbarkeit und Verletzbarkeit ist, wie bereits an einigen Beispielen benannt, nicht allein auf technischer Ebene zu verorten. Aktivistisches Navigieren zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit ist auch durch Affekte strukturiert. Der (strategische) Umgang mit Technik ist ein maßgeblich affektiver – im Sinne der emotionalen Ermächtigung, wie sie der bzw. *die oben zitierte Trainer*in für digitale Sicherheit angesprochen hat, aber auch im Sinne eines Vertrauensverhältnisses. So bietet für aktivistische Praktiken das Nicht-Gesehen-Werden, das Nicht-Sichtbar-Sein in manchen Fällen eine Form der Sicherheit, die Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Ein*e interviewte Aktivist*in, bzw. Aktivist schildert im Folgenden einen Modus der politischen Organisierung, der auf der Unsichtbarkeit von Verbindungen beruht, auf Kontakten, die im Verborgenen bleiben. Informationen sind zentral für die Verabredungen zur gewaltlosen Intervention in gewaltvolle politische Proteste, gleichzeitig sollen die Quellen geschützt bleiben: »We set up meetings over the phone. But actually sometimes we just do word to mouth meetings, depending on the sensitivity. Like sometimes when we know that some people are organizing violent protests and we want to counter the violent protests we don’t do it over the phone. (...) ›you didn’t hear it from me. I didn’t tell you.‹ That’s the code. So, it’s helpful because if someone knows their identity is protected they will give you the information.« (Aktivist*in, Kenia, 2014)
Das Gefühl des Vertrauens zwischen den involvierten Akteur*innen ermöglicht politisches Handeln und das Schaffen alternativer Sichtbarkeiten im öffentlichen Kontext. Vertrauen ist hier mit der Infrastruktur unmittelbarer Sozialbeziehungen, nicht mit der technischen Infrastruktur verknüpft, eben weil aus Sicht dieser Person über die vorhandenen technischen Infrastruk-
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turen Unsichtbarkeit von den involvierten Akteur*innen nicht verlässlich geschaffen werden kann. Demgegenüber legen andere Aktivist*innen ihr Vertrauen in Technologie, die Unsichtbarkeit schafft: »Also meine richtige Aktivistenarbeit – davon weiß keiner, da weiß ich, dass keiner weiß. Weil man da eine Verschlüsselung benutzt. (…) Natürlich ist das von Angst beeinflusst, da hat es angefangen, aber ... now I feel empowered.« (Hacker*in, Deutschland/ USA, 2014) Die eigene politische Handlungsfähigkeit hängt so auch vom affektiven Verhältnis gegenüber den infrastrukturellen Rahmenbedingungen ab. »Creating secure and supportive spaces for witnessing, for discussion, disagreement and knowledge sharing is an important element of feminist activism for building solidarity and finding a safe place to ›land‹.« (Radloff 2013: 9) ›Relativ sichere‹ Räume (ebd.: 10) sind Voraussetzung für die Entwicklung politischer Strategien nach außen. Die individuelle und kollektive Einschätzung vorhandener Räume und deren Infrastrukturen ist deshalb ausschlaggebend für das eigene Verhalten in diesen Räumen. Die Angst vor Überwachung, zum Beispiel auch von Mailkommunikation, führt mitunter zu Selbstzensur (Protokoll einer Mailkommunikation von Aktivist*innen 2014). In Konsequenz werden Strategien der Unsichtbarkeit oder der Nicht-Kommunikation in Form von technischer Abstinenz gewählt. Der (imaginierte) technische Rahmen von allumfassender Überwachung wirkt sich auf die aktivistische Handlungsfähigkeit in einschränkender Form aus. Neben der Selbsteinschränkung kann die Einschränkung aber auch aus dem Zugang zu Infrastrukturen resultieren, wie Amanda Atwood dies für Zimbabwe am Beispiel einer alternativen Infrastruktur beschreibt: »While these campaigns take advantage of Zimbabwe’s digital infrastructure, they do not reach Zimbabweans at the suitable technological level and do not satisfy users’ desire for anonymity.« (Atwood 2016) Amanda Atwood verortet die Schwierigkeit aktivistischer Kampagnen gegen Korruption, mit Online-Tools Menschen in Zimbabwe zu mobilisieren, auf mehreren Ebenen: Eine davon ist das Bedürfnis nach Anonymität, das darüber nicht abgedeckt wird, eine andere eine Skepsis gegenüber dem potentiellen politischen Einfluss solcher zivilgesellschaftlicher Mobilisierungen (vgl. ebd.). Angst und Zweifel sind affektive Momente, die das Verhältnis von Infrastruktur und Sichtbarkeit als aktivistischer Strategie mitgestalten. Die eigene Anonymisierung in der Hand zu haben, kann als Moment des Machtausgleichs gegenüber unbekannten Risiken oder einem übermächtigen Gegenüber gelesen werden. Anonymität im Netz ist ein Mechanismus, über den Machtverhältnisse verhandelt werden (vgl. Woo 2006: 966). Die infrastrukturelle Machbarkeit stellt damit nur ein Moment in Bezug auf die Navigierbarkeit von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit dar. Technische Infrastrukturen sind ohne den Rückbezug auf Affekte analytisch nicht lesbar: Vertrauen und Angst,
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Misstrauen und das Gefühl von Sicherheit sind eingewoben in jene sozialen Verhältnisse, deren Teil Infrastrukturen auch sind. Infrastrukturen alleine reichen für erfolgreiche politische Arbeit nicht aus (vgl. Atwood 2016), bergen aber die Gefahr, als politisierender Selbstläufer verstanden zu werden. Atwood folgert für Zimbabwe und die Möglichkeiten politischer Mobilisierung im Rückgriff auf digitale Technologie, dass diese von politischer Advocacy-Arbeit begleitet werden muss. Gerade soziale Medien versprechen eine hohe Reichweite und schnellen Erfolg. Zeynep Tufekci (2014) warnt aber davor, dass soziale Medien politisches Handeln infrastrukturell gesehen zu einfach machen, weil jene zeit- und arbeitsaufwändigen Prozesse für den Auf bau aktivistische Infrastrukturen – wie das Kopieren von Flugblättern, das händische Verteilen oder mühsame Verschicken – auch affektive Relevanz hatten und nachhaltigere soziale Bindungen schufen, die langfristig für die Durchsetzungskraft sozialer Bewegungen von zentraler Bedeutung waren. Demnach würden digitale Infrastrukturen die Verletzbarkeit von Aktivist*innen eher erhöhen, denn über ihre strategische Nutzung eine Abfederung oder Bearbeitung zu bieten.
I nfr astruk turen der U n /S ichtbarkeit navigieren ? Das Verhältnis von Aktivismus, Verletzbarkeit und Infrastrukturen unter digitalen Vorzeichen lässt sich als ambivalentes Verhältnis charakterisieren. Un/Sichtbar-Machen ist erstens als Herrschaftsmechanismus verstehbar, aus aktivistischer Perspektive also als Navigiert-Werden: Infrastrukturen der Überwachung schaffen Exponiertheiten, die für politisches Handeln einschränkend wirken können. Digitale Infrastrukturen reproduzieren aber auch Unsichtbarkeiten, indem sie gesellschaftliche Diskriminierungslogiken in Infrastrukturen einschreiben. Aktivistisches Handeln sieht sich hier mit spezifischen, sich wandelnden Bedingtheiten von Verletzbarkeit unter digitalen Vorzeichen konfrontiert. Mit alternativen Infrastrukturen werden zweitens Verletzbarkeiten durch Aktivist*innen bearbeitet: Sie ermöglichen ein gezieltes Navigieren, erlauben sich selbst unsichtbar zu halten, bieten aber auch Raum, Machtverhältnisse, Ungleichheiten und Diskriminierungen sichtbar zu machen, Herrschaftswissen zu verallgemeinern. Diese Ambivalenz der Dynamiken verweist vielleicht mehr als auf ein Navigieren auf ein Aus- und Verhandeln von Un/Sichtbarkeiten, das sowohl technisches als auch affektives Erkennen, Bearbeiten und Aneignung umschließt. Infrastrukturen als politisches, affektives und technisches Terrain gleichzeitig zu verstehen, kann Ansatzpunkt für weiterführende Reflexionen zur Bedeutung von Sichtbarkeiten in Medienkulturen sein.
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Interventionen in Anerkennungs- und Sichtbarkeitsverhältnisse
Tödliches Zu-Sehen-Geben: Sichtbarkeit und Deutungsmacht am Beispiel des Mordes an Lee Rigby Nicole Falkenhayner »For a certain time already I have noted that many people have started actively avoiding photographic or moving -image representation, surreptitiously taking their distance from the lenses of the cameras. […] People have started to actively, and passively, refuse constantly being monitored, recorded, identified, photographed, scanned and taped. Within a fully immersive media landscape, pictorial representation – which was seen as a prerogative and a political privilege for a long time – feels more like a threat.« (Steyerl 2013: 166)
R epr äsentation in der »Z one der gegenseitigen M assenüberwachung « Der allgegenwärtige Gebrauch von Kamera-Apps der Smartphones ist für die oben zitierte Künstlerin und Kulturtheoretikerin Hito Steyerl eine Erweiterung öffentlicher Überwachungsmaßnahmen. Die enorm angewachsene Öffentlichkeit durch die Möglichkeit sofortiger, und potentiell stets globaler Verbreitung von Text-, Bild- und Videomaterial hat zu neuen Konstellationen der Selbstdarstellung – und der Darstellung durch Andere – geführt. Steyerl, deren eigene Kunstprojekte Titel tragen wie How Not to Be Seen (MoMA 2014) und Unsichtbarkeit und Überwachung thematisieren, spitzt diesen Umstand zu, indem sie eine Analogie herstellt zwischen der Sichtbarkeit, die wir als vernetzte Subjekte selbst herstellen, und staatlich legitimierter Allgegenwart von Überwachungstechnologie. Steyerl etabliert in dem oben genannten Kunstwerk einen Zusammenschluss zwischen alltäglicher Dauersichtbarkeit, Über-
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wachung auf den Straßen durch staatliche Kameras und der potentiell tödlichen Sichtbarkeit der Drohnenkriege. Lässt man sich auf diese künstlerische Überspitzung ein, führt eine Analyse ihrer Kunst zu einer grundlegenden Umwertung von normativ aufgeladenen Begriffen wie Sichtbarkeit und Repräsentation. Steyerls Kunst und Texte evozieren den Gedanken, dass Begriffe, die für Deutungsmacht, politische Relevanz und Anerkennung von Subjektpositionen standen, mögliche Bedrohungen für ein liberales Selbstverständnis geworden sind. Dies liegt an dem Umstand, dass digitale Öffentlichkeit zumindest potentiell auch immer eine überwachte Öffentlichkeit ist. Letztlich, könnte man argumentieren, führt Steyerls Analyse des Konnexes von bildlicher Darstellung und Überwachung zurück zum altbekannten Diktum Foucaults aus Überwachen und Strafen, dass in der digitalen Welt eine neue Brisanz erhalten hat: »Sichtbarkeit ist eine Falle« (Foucault 1991: 257). Es ist in diesem Zusammenhang folgerichtig, dass es die Kamera ist, und die Verbindung der Kamera mit hochleistungsfähigen Verbreitungsnetz werken, die für Steyerl die neue Gefahr der Sichtbarkeit besonders verdeutlicht. Auch wenn das Smartphone Bilder wertlos gemacht hat, ist das Bild doch noch immer unmittelbar und affizierend, und potentiell übt es selbst Gewalt aus, entweder auf die Dargestellten oder auf die Betrachtenden (vgl. Waldenfels 2008). Und: Nicht gesehen zu werden ist eigentlich mit der zunehmenden Verschmelzung von ehemals privaten mit potentiell global öffentlichen Räumen schon gar nicht mehr möglich. Die Texte der Künstlerin evozieren eine Zustandsbeschreibung der digitalisierten Gegenwart auf mehreren Ebenen, die miteinander verschränkt sind: Einerseits leben wir in einem Zustand, in dem immer umfassendere Überwachungsregimes stiller Teil unseres Alltags geworden sind – von Überwachungskameras in der U-Bahn zur Fitness-App auf dem Handy zur Drohnenüberwachung im Nahen Osten. Das digitale mediale Dispositiv zwischen professionellen Nachrichtenangeboten und sozialen Medien zeichnet sich durch die Simultaneität der Übertragungsmöglichkeiten und deren potentieller Reichweite aus, und es unterliegt zum Teil nur geringen Zugangsschranken. Damit wird Sichtbarkeit – einst eine gesuchte Ressource, um Teil der öffentlichen Diskussion zu werden – ubiquitär und unter Umständen sogar bedrohlich. Steyerl konstatiert einen Wandel vom Wunsch nach Sichtbarkeit zu einem Wunsch nach dem Verschwinden. Aber ganz so geradlinig, wie Steyerl die Umwertung von Sichtbarkeit als Teilhabe und Sichtbarkeit als Bedrohung darstellt, ist die Situation in unserer überbebilderten und überkommentierten Medienwelt nicht. Sichtbarkeit ist zwar nicht gleichzusetzen mit der Vorstellung von Repräsentation als Teilhabe und Anerkennung, sie ist aber immer noch stark mit diesen Begriffen verwoben – allerdings lange nicht mehr nur als Teil eines egalitären Norm- und Moralgefüges. Durch die digitalen Öffentlichkeiten und
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die vom Dispositiv der Sicherheit geprägte globale Politik der Überwachung entsteht eine Dynamik von overexposure einerseits, und neuen Kämpfen um Deutungshoheit und deren Kontrolle andererseits. Denn die neuen, auch technischen Konstellationen der Öffentlichkeit zeichnen sich auch dadurch aus, dass bestimmte Zugangskontrollen zur öffentlichen Diskussion nicht mehr funktionieren oder unterlaufen werden können. Diese Möglichkeit des Unterlaufens aber problematisiert eine Sichtbarkeit, die sich in die mediale Öffentlichkeit drängt, obwohl ihr in anderen sozialen Anerkennungsordnungen in liberalen Gesellschaften kein Platz zugewiesen ist. An einem Medienereignis aus dem Jahr 2013 lassen sich die unterschiedlichen Ebenen von problematischer Sichtbarkeit – Kontrolle und fehlende Kontrolle, sofortige shareability, Überwachung und Kämpfe um Deutungsmacht – besonders prägnant durchspielen. Es handelt sich um den islamistisch moti vierten Mord an dem britischen Soldaten Lee Rigby. Rigby wurde auf offener Straße in der Londoner Innenstadt zunächst absichtlich überfahren und dann von den beiden Angreifern nahezu enthauptet. Die städtischen Überwachungskameras filmten den Mord und ein Passant wurde von einem der Mörder dazu gebracht, dessen ideologische Rechtfertigungsrede, vorgetragen mit blutverschmierten Händen, mit einem Smartphone zu filmen und sofort ins Netz zu stellen (vgl. Halliday 2013). Das Folgende zeigt, wie es den Mördern gelang, für einen Moment lang sowohl die staatlichen Überwachungskamera anlagen als auch die digital vernetzte Öffentlichkeit zu erobern, und für ihre Zwecke und ihre Deutung zu missbrauchen. Der Fall zeigt die Ermöglichung der Selbstinszenierung der Terroristen durch jene Techniken, die seit dem ›Krieg gegen den Terror‹ als Verteidigung gegen Terroristen verstärkt eingesetzt wurden, wie öffentliche Überwachungskameras sowie die einstmals als Demokratisierung der Sichtbarkeit verstandenen sozialen Medien. Auch die Täter des 11. Septembers spekulierten, wie die meisten Terroristen vor ihnen, auf den Missbrauch von medialer Darstellung. Die Täter in Woolwich aber nutzten gezielt ein mediales Dispositiv, das sich erst seit 2001 entwickelt hat, und mit der politischen Logik des ›Kriegs gegen den Terror‹, zumindest was den Überwachungsaspekt angeht, in Zusammenhang steht. Das Kapitel wird in folgenden Schritten diese Fallstudie hochproblematischer Sichtbarkeit darstellen: Zunächst wird die Situation des Mordes an Lee Rigby umrissen und der Ablauf des Verbrechens wiedergegeben. Daraufhin wird anhand der Analyse des Handyvideos und anderer Aufnahmen von der Tat diskutiert, wie die Täter die mediale Darstellung ihrer Gewalttat selbst inszenierten und ihre Interpretation schneller verbreiten konnten, als die Gatekeeper der traditionellen Medien in der Lage waren, die Tat einzuordnen. In einem weiteren Unterpunkt wendet sich die Analyse den Überwachungskameraaufnahmen zu, die für den Mordprozess rekonstruiert und in der britischen Öffentlichkeit ebenfalls breit rezipiert wurden. Hier erscheinen die Aufnah-
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men vom Mord an Lee Rigby auf spezifische Weise als Kriegsfotografie. Ich beziehe mich hier auf die Ausführungen von Susan Sontag in Das Leiden anderer betrachten (2003). Man kann davon sprechen, dass es den Tätern für einen Moment lang gelang, die Medien des Sicherheitsdispositivs zu kontrollieren. Zusammengefasst sollen diese Teilanalysen zeigen, dass hochproblematische Sichtbarkeiten unsere Gegenwart mitbestimmen, die durch radikale Versuche eines Übergriffs auf Deutungsmacht konstituiert sind. Diese Übergriffe finden innerhalb eines durch Überwachung und Kontrolle geprägten, aber gleichzeitig individuell vernetzen medial-politischen Dispositivs statt. Im Folgenden soll analysiert werden, wie diese für unsere Gegenwart typischen Konstellationen im konkreten Fall ineinandergreifen.
D er M ord an L ee R igby : E ine kurze R ekonstruk tion Am 22. Mai 2013 war der Infanterist Lee Rigby auf dem Rückweg zu seiner Kaserne, den Royal Artillery Barracks im Londoner Stadtteil Woolwich. Er hatte an einer Veranstaltung der Veteranenorganisation Help for Heroes am Tower teilgenommen und, wie auf Überwachungskameraaufnahmen des Arsenal Bahnhofs zu sehen ist, trug er ein Sweatshirt dieser Organisation. Überwachungskameraaufnahmen, die während des Prozesses gegen die Täter von der Polizei veröffentlicht wurden, zeigen auch, wie ihn ein Auto absichtlich überfuhr, als er um 14.10 Uhr die Kreuzung vor seiner Kaserne überquerte (Peachey 2013). Der Fahrer und Beifahrer, zwei junge Männer, stiegen aus und zerrten den schwerverletzten Rigby in die Straßenmitte. Mit einer Axt, einem Messer und einem Hackbeil versuchten sie, ihr Opfer zu enthaupten. Bald war die Straße blockiert, Augenzeugen versuchten, dem Opfer zu helfen. Aber sie und andere Passanten unterhielten sich auch mit den beiden Tätern, die keine Anstalten machten, sich weiter aggressiv zu verhalten oder zu fliehen – und sie twitterten, was geschah. Bereits um 14.20 Uhr erreichten die ersten Gerüchte die Nachrichtenredaktionen. Wie der Guardian-Journalist Vikram Dodd es in einem Dokumentarprogramm über den Fall beschreibt: »es war diese seltsame moderne Mischung aus Tweets, sozialen Medien – ein sehr verwirrendes Bild, zu Beginn« (Crime and Investigation Network 2014). Auf Smartphonebildern vom Tatort sieht man, wie die Mörder sich mit Passanten unterhalten und auf der Straße hin und her laufen (vgl. Halliday 2013). Was Dodd als »diese seltsame Mischung« bezeichnet, die unverifizierten Nachrichten und Bilder, machten den Rigby Mord zu einem starken Beispiel für »Mediatisierung« im Sinne der Verschmelzung von lebensweltlicher Erfahrung mit einer medialen Erfahrung (vgl. Hepp 2013, Lundby 2009). Der Guardian führt das so aus:
Tödliches Zu-Sehen-Geben »In the first British murder to play out live on the internet, horrified onlookers posted minute-by-minute updates as the appalling scene played out in front of them. The full sixteen minutes of the incident – from the moment Rigby was mowed down to the suspects being apprehended by police – was transmitted in real time to the world by smartphonewielding onlookers in Artillery Place, South London.« (Halliday 2013)
Die Mediatisierung ist aber hier nicht die wichtigste Aussage darüber, wie Medien und Alltagsleben in einer Situation verschmelzen, in der wir alle unsere potentielle Überwachungskamera in der Tasche tragen. Denn schon seit dem Erfolg großer Nachrichtensender wie CNN, sind sofortige Übertragung und die mediale Formung von Ereignissen übliche Aspekte der Massenmedien. Der wichtige, für Sichtbarkeit in der digitalen Öffentlichkeit ko-konstitutive Aspekt an diesem Medienereignis ist das Fehlen von Gatekeepern, hier in der Rolle von professionellen JournalistInnen und, bei diesem Ereignis besonders augenfällig, professionellen FotografInnen. Der professionelle Medienbereich scheint hier in seinen Rollen als aufdeckende, interpretierende und zeigende Instanz völlig ausgebootet. Bald nach den ersten Gerüchten steht in den Nachrichtenredaktionen alles still, denn ein Smartphone-Video hat zu zirkulieren begonnen, das einen der Mörder zeigt, die blutverschmierten Hände neben dem Kopf erhoben, und eine Rede haltend, in der er das Verbrechen, das er gerade begangen hat, als einen Racheakt für westliche Kriegshandlungen in muslimischen Staaten bezeichnet. Michael Adebolajo, einer der beiden Täter, hatte einen Augenzeugen gedungen, ihn zu filmen und das Video online zu stellen. Die Rede ist eine typische ›jihadi‹-Legitimierungsrede, wie sie seit langen Jahren von Selbstmord attentätern gehalten und verbreitet werden. Aber dies ist keine zuvor aufgezeichnete Videobotschaft. Man sieht einen Mann mit dem Blut seines Opfers an und der Mordwaffe in den Händen – und das nur Minuten nach seiner Tat, gefilmt von einem Fremden, der zufällig vorbeigekommen war. Hier zeigt das Ereignis den Verlust der Gatekeeperfunktionen der institutionalisierten Massenmedien an. Der Fernsehsender ITV und die Zeitung The Sun kaufen sofort die Aufnahme (vgl. Halliday 2013). ITV strahlt sie zuerst im nationalen Fernsehen aus, in seiner Nachrichtensendung um 18.30 Uhr. Zuvor war das Video online auf dem Internetauftritt von ITV verfügbar gewesen, es führte zum Zusammenbruch der Webseite. Was nun als ideologisch motiviertes Attentat gerahmt wurde ist, versehen mit einer Erklärungsbotschaft von einem der Täter, an ein potentiell globales Publikum gerichtet. Die Mediatisierung, in der der reale Mord zum medialen Produkt der Täter wurde, und der Versuch, die Verbreitung des Ereignisses abzusichern, hatte bereits stattgefunden, als die Polizei am Tatort erschien, die Angreifer niederschoss und verhaftete. Was in der Inszenierung fehlt, sind die
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einstmals ubiquitären Übertragungswagen – die NachrichtenjournalistInnen waren nicht schnell genug für die Instantverbreitung, die Adebolajo verfolgte. Innerhalb der Mischung aus Tweets und sozialen Netzwerken hatte ein Mörder die Möglichkeit ergriffen, seinen Mord und seine Erklärung einem globalen Publikum anzupreisen. Und dies war geschehen inmitten des von Videokameras übersäten London.
D as S martphone -V ideo : I deologischer M ord als I nszenierung von S ichtbarkeit in der Z one der M assenüberwachung Der Umstand, dass die Verbindung zwischen Verbreitung und gatekeeping durch die institutionalisierten Medien in der heutigen Medienökologie gestört ist, spielt hier eine deutlich wichtigere Rolle als der Umstand, dass es sich um Amateuraufnahmen handelt. Amateuraufnahmen können schon seit langem ikonischen Gehalt in einem Medienereignis erreichen. Zu den größten Ikonen im globalen Norden zählen vermutlich die Amateuraufnahmen des Attentates auf John F. Kennedy (vgl. Zelizer 1992). Die Differenz zwischen der Ikonisierung von Amateuraufnahmen eines Attentats aus dem Jahr 1963 und 2013 liegt darin, dass im Jahr 2013 der Attentäter danach verlangte, gefilmt zu werden, und dass diese Aufnahme an Rezipierende übertragen werden konnte, ohne dass ein institutionalisiertes Medienunternehmen und seine Entscheidungsprozesse hierin in irgendeiner Form involviert waren. Als das Video aber aus dem Internet in das Reich Fernsehen überführt wurde, wurde es auch Teil eines anderen Mediendispositivs, in das die Macht von Entscheidungsträgern, Kapital und die Ausgestaltung narrativer Rahmung eingreifen. Diese Veränderungen der Rahmung aber lassen sich erst nachträglich einlesen in das visuelle Material, mit dem der Tod Lee Rigbys der Öffentlichkeit zu sehen gegeben wurde: Denn keine einzige Fotojournalistin oder kein einziger Fotojournalist ist an der Visualität des Mordes beteiligt. Das gesamte Bildmaterial des Ereignisses stammt von Smartphone-Aufnahmen und Überwachungskamerabildern, die von der Polizei zum Teil sofort, zum Teil während des folgenden Prozesses veröffentlicht wurde. Nehmen wir Steyerls eingangs vorgestelltes Bild der Gegenwartsgesellschaft als »Zone der gegenseitigen Massenüberwachung« als Ausgangspunkt, um über die performative Logik dieses Terroraktes zu reflektieren, wird es möglich, Letzteren als den Ausdruck dieser »Zone« und als nur in dieser Zone möglichen Akt zu analysieren. Im oben zitierten Text schreibt Steyerl: »On top of institutional surveillance, people are now also routinely surveilling each other by taking countless images and publishing them in almost real-time.« (2013: 167) Das Medienereignis des Tötens des Lee Rigby kann als ein paradigmatisches Beispiel gesehen werden,
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dass Steyerls Beobachtung nicht nur illustriert, sondern in dem die Zone der totalen medialen Immersion und Ubiquität der Smartphones die dispositive Voraussetzung für den Mord darstellt. Diese Zone, die lokale Räume, lokale Menschen, institutionalisierte Rahmenbedingungen und private Technologien der Bildgebung mit potentiell globaler Öffentlichkeit verbindet, bildet den Hintergrund der Tat von Michael Adebolajo und Michael Adebowale. Sie gab ihnen für einen kurzen Moment einen Deutungsvorsprung. Während in der Zeit der traditionellen Übertragungsmedien Bild und Narrativ simultan auftraten, wenn sich ein Medienereignis durch die Rahmung von professionellen Medienschaffenden formte (vgl. Kunelius/Nossek 2008; Lenger/Nünning 2008; Katz/Liebes 2007), ist dies nicht mehr der Fall: Die Bilder kommen zuerst. Sofortige Übertragungen von katastrophalen und terroristischen, plötzlichen und vor allem ungeplanten Ereignissen haben die alte Rahmung von Medienereignissen als von Medieninstitutionen inszenierte in Frage gestellt (vgl. Kunelius/Nossek 2008; Katz/Liebes 2007). Bilder spielen hierbei eine wichtige, weil affektgeladene Rolle. Sie werden von einem Telefon verschickt von jemandem, der in der Situation zufällig zugegen ist – ein wichtiger Aspekt, eigentlich das Ideal des sogenannten citizen journalism, dessen Ambiguitäten an dieser Stelle nicht diskutiert werden können (vgl. Junger 2014). Das Smartphone-Video als das Medium der Simultaneität gab Adebolajo die Chance, die unmittelbare Berichterstattung seines Verbrechens durch sich selbst zu repräsentieren und eine Interpretation seiner Handlung anzubieten – ein Umstand, der ihn in jihadistischen Kreisen zum Held werden ließ. In der Perspektive der Medienereignisforschung verändert dies grundlegende Annahmen, denn das neue medialisierte Netzwerk verlegt die Deutung der Ereignisse, die früher auf aufwendige Weise professionell rhetorisch und bildlich zu Repräsentation aufbereitet wurden, im wahrsten Sinne des Wortes auf die Straße. Durch die Vermittlung im Echtzeitmodus erhöht sich der Authentizitätsanspruch, der das Ereignis mit einer bedrohlichen Unmittelbarkeit auflädt. Als Medienereignis erscheint der Rigby-Mord fremd, das Geschehnis nimmt eine rohe, scheinbar ungerahmte Qualität an. Aber die Tat war alles andere als ungeformt: Es zeigt sich bei näherer Betrachtung eine Überblendung des Realen (der Tötung), des Performativen (der Rede Adebolajos) und der Übersetzung beider Aspekte in die Sprache der Kamera und der Eilmeldung; die ganze Entwicklung kondensiert in den sechzehn Minuten vom Angriff zur Festnahme. Adebolajo nutzt dieselbe Ästhetisierung extremer realer Gewalt, wie der IS sie in den letzten Jahren häufig benutzt hat. Wenn der Erfolg des Terrors immer zum Teil auf der ästhetischen Extension von Gewalt beruht (vgl. Houen 2002: 5), scheinen die jüngeren islamistischen Terrorgruppierungen diese Ästhetisierung für die medialen Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts perfektioniert zu haben. Zugleich führte die Bildlichkeit des Ereignisses – die extreme Realwirkung, die scheinbare Alltäglichkeit des Hintergrunds der
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Straße in London – dazu, dass die journalistische Repräsentation des RigbyMordes jene typische Kontingenz annahm, die so viele Ereignisse der letzten Jahre zu prägen scheint. Es fehlte die Erfahrung des gemeinsamen Sehens des Ereignisses, und so einer gemeinsamen Erinnerung, genauso wie ein als sinnvoll zu interpretierender Kontext (vgl. Zelizer/Tenenboim-Weinblatt 2014). Vieles von den Videoaufnahmen ist schlicht verwirrend – es passt nicht in die Konventionen der üblichen Berichterstattung über einen terroristischen Mord, in der klar auf die Tat selbst fokussiert würde. Dafür verantwortlich ist die seltsame Mixtur jener Szenen, die die Mörder zu Repräsentationszwecken ausund aufgeführt hatten – den Mord selbst, Adebolajos Rede – und solcher Aufnahmen, die eine unangenehme backstage-Qualität hatten: Aufnahmen, auf denen man die Mörder recht entspannt mit Passanten sprechen sieht, wie sie ihre Motivation erklären, während die malträtierte Leiche des jungen Soldaten direkt neben ihnen liegt. Die Vermischung des Realen und der Inszenierung wird durch diese Aufnahmen überdeutlich, in denen Adebolajo und Adebowale wie Schauspieler in der Drehpause herumstehen, nur um ihre Rollen als zu allem entschlossene Terroristen wieder aufzunehmen, als sie mit gezogenen Waffen ein sich nahendes Polizeiauto angreifen, wie man wiederum auf Überwachungskameraaufnahmen sieht. Es ist diese Mischung aus dem Inszenierten, dem Alltäglichen und dem einfach nur Schrecklichen, die verstärkt wird durch den Umstand, dass all dies entweder auf Smartphone-Videos oder auf Überwachungskameraaufnahmen zu betrachten ist, dass das Ereignis so »überwältigend« machte, wie der Journalist Vikram Dodd in einer Fernseh dokumentation des Falles konstatiert (Crime and Investigation 2014). Es ist deshalb überwältigend, weil die totale, ungerahmte, sofortige Mediatisierung die Entwicklung eines Narrativs, und damit sozialer Sinngebung, für die britische Öffentlichkeit unmöglich machte, es den Tätern aber erlaubte, sich auf brutale Art und Weise Sichtbarkeit zu verschaffen. Die Komparatistin Rey Chow schreibt zur sofortigen Übertragung in der Überwachungsgesellschaft: »What is at stake is no longer the coupling of visibility and incarceration or surveillance, on the one hand, or even simply the deterritorialization and becoming-mobile of technologized images, on the other. Rather, it is the collapse of the time lag between the world and its capture. What happens to memory when images, in which past events are supposedly recorded and preserved, become instantaneous with the actual happenings? When conventional time shifts vanish as a result of the perfecting of the techniques of image-capturing? When time loses its potential to become fugitive or fossilized – in brief, to become anachronistic?« (Chow 2012: 5)
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Ü berwachungsk amer abilder als K riegsfotogr afie Im Mordfall Lee Rigby gab es keine Geheimnisse. Alles war auf Video vorhanden, vom Überfahren des Opfers, den Versuchen der Enthauptung, bis zum Angriff der Täter auf die Polizei und ihre anschließende Verhaftung. Es war nicht nur alles auf Video, weil Zusehende Videos mit ihren Smartphones aufgenommen hatten. Es war auch auf Video, weil die Straßenkreuzung in Woolwich, wie praktisch jede Straßenkreuzung in London, aus jeder Perspektive von Überwachungskameras gefilmt wird. Obwohl diese Form der öffentlichen Überwachung keinen Nutzen hatte, um das Verbrechen an Lee Rigbys Leib und Leben zu verhindern, waren diese Aufnahmen instrumental an dem Umstand beteiligt, dass das Verfahren gegen Rigbys Mörder eines der am schnellsten abgeschlossenen Mordverfahren in der britischen Geschichte war (Crime and Investigation 2014). Am 29. November 2013 wurde das Verfahren aufgenommen und am 26. Februar 2014 waren die Täter verurteilt. Das Verbrechen war vollständig aufgezeichnet. Man hätte es sich als Stummfilm ansehen können, zusammengestellt nur aus den Überwachungskameraaufnahmen, die von der Polizei herausgegeben wurden. Und tatsächlich wurde den Geschworenen eine solche filmische Kompilation im Gerichtssaal gezeigt. Die strenge visuelle Faktualität des Moments als Rigby überfahren wurde, sowie die Versuche, ihm den Kopf abzuschlagen, hinterließen im Gericht einen starken affektiven Eindruck: Mehrere Zeitungen berichteten, dass Geschworene vor Schreck aufgestöhnt hätten (Peachey 2013). Die Bilder, die im Zuge des Verfahrens veröffentlicht wurden, sowie die Texte, die zu diesen Bildern geschrieben wurden, können im Sinne von Susan Sontags Gedanken zur Kriegsfotografie in ihrem Essay Das Leiden anderer betrachten (2003) interpretiert werden. Was durch die Verbreitung der Überwachungskameraaufnahmen und der Smartphone-Bilder zustande kam, ähnelt den aktiven Bemühungen von KriegsfotografInnen, den Krieg »nach Hause« zu bringen, die Sontag beschreibt (2003: 74-75). In ihrem Beispiel aus dem Kontext der Schlacht von Antietam spielt die räumliche Konstellation, die durch Kriegsfotografie entsteht, eine besondere Rolle. In der Logik der Repräsentation von Krieg ist das Schreckliche vorzugsweise fern, es findet ›anderswo‹ statt, und kann dann in Ruhe als Aufnahme in der Galerie betrachtet werden. Diese Distanz ist das Thema eines historischen Textes aus der New York Times, den Sontag analysiert. In diesem Text beschreibt ein moralisierender Sprecher die Unberührtheit der AusstellungsbesucherInnen und entwirft ein fiktives Szenario, in dem die Toten auf die Straßen gelegt werden sollen, um den Leuten die Schrecken des Krieges klar zu machen: »Als die Fotografien von Gardner und O’Sullivan im Oktober 1862, einen Monat nach der Schlacht von Antietam, in Bradys Galerie in Manhattan ausgestellt wurden, schrieb die
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Nicole Falkenhayner New York Times: ›Den Lebenden, die sich auf dem Broadway drängen, mögen die Toten von Antietam ziemlich gleichgültig sein, aber wir glauben, sie würden nicht so sorglos und nicht ganz so munter diese belebte Straße entlangschlendern, wenn man dort direkt vom Schlachtfeld einige bluttriefende Leichen niedergelegt hätte. Da gäbe es ein eifriges Röckeraffen und vorsichtiges Herumgestakse‹.« (Sontag 2003: 74)
Sontag zeigt, wie selbst am historischen Beginn der Kriegsfotografie die Bilder die Betrachtenden mit der unmoralischen Komponente einer solchen Zuschauerschaft konfrontieren. Die ZuschauerInnen erfahren eine Reibung zwischen der eigenen Position und dem ›Anderen‹, das er oder sie im Bild sieht und das das Ferne nur scheinbar nah bringt. Diese Reibung ist heute nicht schwächer als im 19. Jahrhundert und sie wirft Fragen auf: Macht das Sehen der Bilder von Gräueltaten die ZuschauerInnen zu voyeuristischen KomplizInnen? Oder ist es vielmehr unsere Pflicht, uns diesen Bildern als aufgeklärt sein wollende Subjekte auszusetzen? Die wüsten Bilder, die der Bericht von 1862 herauf beschwört, die »bluttriefenden Leichen« auf dem Broadway weisen bereits auf die Gefahr für die öffentliche Stimmung und Emotionen hin, die mit den Bildern von Gräueltaten einhergehen. Um diese Gefahr und die Macht der Bilder zu verdeutlichen, rekapituliert Sontag die Geschichte der Kriegsfotografie. Sie verdeutlicht das Machtspiel, das dem Aufnehmen, Zeigen und Vorenthalten von Bildern von Kriegsgräueln innewohnt, wenn Geschäftsentscheidungen der Massen medien und Geopolitik zusammenkommen. Nach dem Vietnamkrieg, von dem so viel Bildmaterial wie von keinem anderen Krieg veröffentlicht wird, setzt ein verstärktes Umdenken ein, dass auf die Restriktion von Bildern zielt: Im Falklandkrieg 1982 setzen die Briten das erste Mal embedded journalists ein, und dies setzt den Ton für den Umgang mit Bildern aus den Kriegen des 21. Jahrhunderts. Nach Sontag folgt die westliche Bildlogik einer imperialen Ordnung: »Das Leid anderer betrachten« nimmt hier eine doppelte Bedeutung an, denn der oder die Andere, dessen Leid wir betrachten, ist meist zugleich der oder die koloniale Andere. Jeder, der diese Beobachtung anzweifelt, muss sich nur fragen, wie viele sterbende und leidende westliche SoldatInnen man in den Massenmedien in deren Berichterstattung über die Kriege in Irak und Afghanistan in den 2000ern gesehen hat. Beide sind größtenteils unsichtbare Kriege gewesen, wenn es um die Darstellung westlichen Leidens geht. Die technische Entwicklung militärischer bildgebender Aufklärung unterstützt diese Logik, die auf den Tod anderer zielt und das Kriegsgebiet aus großer Höhe und Distanz darstellt – also weit weg, wenn auch extrem hoch aufgelöst. Dies ist die Bildlogik der Drohne. Die Kamera der Drohne – eine fliegende, bewaffnete Erweiterung der zivilen Überwachungskamera – repräsentiert die Orte, die andere des Westens sind, und ihre Bevölkerung, als potentielle Ziele (vgl. Bröckling 2016; Chow 2006).
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Es ist diese imperiale, militarisierte visuelle Logik des Westens, an die sich die Gräuelvideos der Jihadisten richten. Diese Videos sind offene Versuche, die Machstruktur zu verunsichern, in der Geopolitik und Repräsentation zusammenfallen. Die Bilder sollen terrorisieren und ihren Krieg in den Westen tragen, sie sollen die übliche Distanzierung des westlichen Blicks verhindern. Wenn der IS solche Bilder produziert, so hat er immer noch den Nachteil, dass die Ermordungen, etwa von westlichen HelferInnen in Syrien, an ›anderen‹ Orten geschehen. Während nicht der Andere des Westens getötet wird, geschieht doch das Morden an den Orten der Anderen. Mit den Repräsentationen des Rigby-Mordes finden wir eine andere Situation vor: In London geschehen, der Weltstadt, der Metropole, kann der Mord räumlich einfach nicht distanziert werden, deshalb muss die Distanzierung psychologisch geschehen, etwa wenn der Schauspieler Russel Brand die Attentäter als »Irre« bezeichnet, und seinen MitbürgerInnen zuruft, sie mögen den Wahnsinn für die Tat verantwortlich machen anstatt Muslime (vgl. Brand 2013). Damit kritisierte er einerseits Verallgemeinerungen, aber die Brisanz der repräsentativen Symbolik des Verbrechens wird damit – eventuell gewollt – abgetan. Der Effekt der Repräsentation, wenn Großbritannien sich den Mord an Lee Rigby mit Überwachungskameraaufnahmen erzählt, die vor allem während des Prozesses veröffentlicht wurden, ist ein sehr viel gefährlicherer: Diesen Bildern haftet mehr an als Wahnsinn. Für einen kurzen Moment hatten die Mörder erreicht, dass ihr Krieg ›nach Hause‹, also in den Westen gekommen war. Der Terror war individualisiert worden, er war verknüpft mit dem individuellen Leid eines konkreten anderen Menschen, und daher war er so affizierend. Affizierend und erschütternd war der Mord an Lee Rigby auch, weil es den Mördern gelang, genau das zu erreichen, was der Journalist von 1862 nach Sontags Analyse imaginierte: Die Tat machte Lee Rigby zu einem Kriegsopfer und sie legte seine Leiche wörtlich auf den Bordstein der John Wilson Street in London – und es war die Kamera des Kontrolldispositivs mit ihrem Maschinenblick, der Teil der Räumlichkeit Londons geworden ist und ein Bild einfing, das kein ›anständiger‹ menschlicher Profi fotografierender veröffentlicht hätte, mit dem niemand gerne identifiziert werden würde. Der Tod Lee Rigbys verunsicherte die imperiale und koloniale Logik des Sehens von Gräueln indem das Überwachungskamerasystem gekidnappt wurde: Ein hijacking des Überwachungsdispositivs aus symbolischen Gründen – für einen symbolischen Mord. Die Artefakte von Steyerls Zone der Massenüberwachung wurden benutzt, um die Distanz zwischen dem Lokalen und dem Globalen zusammenfallen zu lassen. Gedacht als Instrumente des ›Kriegs gegen den Terror‹, wurden die Überwachungskameras zu Werkzeugen der Terroristen, indem sie deren symbolische Repräsentationskraft verstärkten, und Adebolajos Einschreibung der Kriegszone in die John Wilson Street unterstützten.
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Können also diese Überwachungskameraufnahmen, die die Geschworenen während des Verfahrens zum Aufstöhnen brachten, irgendetwas anderes sein als Kriegsfotografie – vor allem wenn Großbritannien diesen Soldaten als Helden ehrt? Und wenn man diese Aufnahmen als Kriegsfotografie interpretiert, wenn sie die Betrachtenden agitieren, aufheulen lassen, interpretiert man dann nicht genau im Sinne der Täter? Ich versuche nicht, das Argument zu wiederholen, dass das Zeigen von Gräueln von TerroristInnen in deren Hände spielt – natürlich tut es das. Aber worum es geht, wenn wir die Evidenzen der maschinellen Aufnahme der Überwachungskamera sehen, ist, dass wir zu geben müssen, dass, obwohl es sich eben nicht um Bilder aus einer Kriegszone handelt, die Bilder die ›symbolischen Eigenschaften‹ von Kriegsfotografie annehmen und analoge Affekte auslösen. Auch wenn die Überwachungskameraaufnahmen keine so gezielte Performanz waren wie das Smartphone-Video, so mussten Adebojalo und Adebowale als Londoner gewusst haben, dass die Straßenkameras alles was sie taten, aufzeichnen würden. Auf dieser Ebene nutzten sie das städtische Kamerasystem auf genau die Weise, auf die sie in den 2000er Jahren von KünstlerInnen und AntiüberwachungsaktivistInnen genutzt wurden: Als schon fertiges Filmset, die Kameras bereit zur Aufnahme. Im Fall der Überwachungskamerabilder sehen wir einen weiteren Aspekt des Rigby-Mordes, indem overexposure und das hijacken von Deutungsmacht durch die Terroristen zusammenkommen. Durch die Aufnahme und Verbreitung des Smartphone-Videos hatte es Adebolajo geschafft, aktiv die Deutungsschranken der professionellen Medienunternehmen zu überholen, und deren Bildhunger für seine eigenen Zwecke zu missbrauchen: Die Technologie des Smartphones ermöglichte es ihm, der Erste zu sein, der sich sichtbar machte und der seine Interpretation des Geschehenen verbreitete. Aber die affektiven Reaktionen auf die Überwachungskamerabilder zeigen, dass die beiden Terroristen auch den Sicherheitsapparat der Stadt, des Staates und dessen Repräsentationsregimes für die symbolische Aufladung ihrer Tat benutzt haben. Für die, die diese Bilder sahen oder, etwa als Geschworene, sehen mussten, bleibt die Frage: Wenn wir tun, wozu das Entsetzen uns verleitet – in affektiver Ablehnung zusammenkommen, die zeigt, dass der Mord an Lee Rigby so abjekt war wie Kriegsgräuel – folgen wir damit dem Drehbuch der Terroristen? Aber auf welche andere Art können wir menschlich auf diese Bilder reagieren?
H er ausforderungen bedrohender S ichtbarkeit Die hier dargestellte mediale Situierung des Mordes an Lee Rigby verdeutlicht mehrere Aspekte, die in der digitalen Öffentlichkeit in einer spannungsreichen Gleichzeitigkeit auftauchen, und die auch die Dilemmata illustrieren, in denen sich sowohl die klassischen Netzwerke der Massenmedialiserung als auch die
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RezipientInnen als denkende und fühlende AkteurInnen dieser Art von Sichtbarkeit gegenübergestellt sehen. Es handelt sich um eine Gleichzeitigkeit von totaler Sichtbarkeit in einem medialen Dispositiv, das einerseits als Teil eines umfassenden Überwachungsregimes aufgefasst werden kann, das andererseits aber durch die Simultaneität der Übertragungsmöglichkeiten und deren potentieller enormer Reichweite wenigen Zugangsschranken unterliegt. Die Simultaneität der Übertragung befindet sich aber wiederum in einer anderen technischen Konstituierung als in der massenmedialen Live-Übertragung etwa in den 1990er Jahren oder noch zum Zeitpunkt der Anschläge von 9/11, das erste und vielleicht zugleich letzte gerahmte und weltweit gemeinsam rezipierte Großereignis mit enormer geopolitischer Wirkmacht des 21. Jahrhunderts. Anstatt zusammen und zur gleichen Zeit von JournalistInnen zu erfahren, was geschehen war, rezipieren wir heute im Fall eines Ereignisses wie dem Tod von Lee Rigby durch ein Einsickern von vielen kurzen Eilmeldungen und Bildern zunächst individuell, anstatt, wie im Idealbild der Medien ereignisforschung angenommen, gemeinsam vor dem Fernsehbildschirm eine bereits gerahmte Nachrichten-story zu verfolgen – oder, wie im Fall des 11.9., zumindest immer wieder auf nahezu traumatische Art und Weise die gleichen Bilder zu sehen. Gerade das schockierende Erklärungsvideo des Mörders Michael Adebolajo, der sich selbst von einem Passanten filmen lässt und so seine Gräueltat zunächst selbst sichtbar macht, verdeutlicht diesen Umstand, der durch den digitalen technischen Wandel möglich wurde, besonders. Durch diese Eigenschaften digitaler Medien lässt sich auch auf die Veränderungen schließen, die Fragen von Sichtbarkeit und Deutungsmacht betreffen: Durch die simultane, in sich zunächst kleinformatige und vor allem ungerahmte Übertragung, die meist individualisiert auf dem gleichen Gerät erfolgt, das diese Art von Übertragung möglich macht – dem Smartphone –, mangelt es heutigen Medienereignissen oft an der Art kultureller Sinnhaftigkeit, die mit einer Narrativierung und institutionellen Rahmung einhergeht. Dies kann, je nach Interpretation, normativ und moralisch ganz unterschiedlich bewertet werden und multipliziert einerseits die Deutungsmöglichkeiten. Andererseits erschwert die Gemengelage an Informationen die Zuschreibung von Bedeutung. Bilder und Videos nehmen hierbei eine Rolle ein, die sich immer stärker dem Affektiven zuneigt, doch handelt es sich um ein affektives Reagieren, das schwer aus Schock und Staunen herausfindet, und oft nur noch in gemeinsamen (auch oft wiederum digitalen) Trauerreflexen ihren Ausdruck findet, wie etwa in besonderen hashtags. In der Fülle der Meldungen und Bilder, so scheint es, sticht selbst das Schreckliche nur für einen kurzen Moment heraus. Diese Mischung aus starkem Affekt einerseits, und wenig Rahmung andererseits, führt zu einer Sichtbarkeit, die möglicherweise typisch ist für das Leben in einer von Sichtbarkeit und Überwachung geprägten Welt. Der Medientheoretiker Matthew Fuller entdeckt in diesen Relationalitäten von
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Mediensystemen, wie er diese Disposition nennt (Fuller 2005: 147), auch immer die Möglichkeit, mit den Mitteln des Systems gegen es zu arbeiten. Auch das ist eine moralisch offene Bewertung, die aber im dargestellten Fall dann keine mehr sein kann: Adebolajo und Adebowale haben mit ihrem hijacking der Apparate der Zone der gegenseitigen Massenüberwachung eine Gegenaktion geliefert, die in einer grausamen Perversion eines Handelns gegen das System gemündet ist: Im Mord an einem Menschen aus rein symbolischen Gründen, zu Zwecken der Sichtbarkeit. Das seit der Mitte des 20. Jahrhunderts tradierte Idiom der kritischen Gesellschaftswissenschaft sieht sich, genau wie die westlichen Öffentlichkeiten, mit einer Bedeutungsverschiebung konfrontiert. Theorie- und Praxisgebäude wie die British Cultural Studies, aber auch spätere emanzipatorische Strömungen wie die Queer Studies, sind vielfach von der Prämisse ausgegangen, dass es einen Konnex gibt zwischen Sichtbarkeit, Anerkennung und einem letztlich emanzipatorischen, befreienden und demokratisierenden Besetzen des öffentlichen Diskurses durch diese Sichtbarkeit. Betrachten wir aber für die Kamera und die sozialen Medien arrangierte ideologiegeleitete Morde, wie den hier beschriebenen, wird offenbar, wie die gleichen medialen Strategien souverän auch für antiliberale, antidemokratische Zwecke genutzt werden können – dabei aber auch die immer noch bestehenden Asymmetrien zwischen westlichen Blickregimen und seinen Anderen deutlich hervortreten lässt. Die liberalen Öffentlichkeiten, sowohl in Form von Medieninstitutionen als auch in der Form von individuellen RezipientInnen, werden eine Verarbeitungsstrategie finden müssen, um mit diesen neuen Arten von Sichtbarkeit, die bedrohen anstatt zu befreien, umzugehen.
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Vergnügliche Interventionen in digitalen Öffentlichkeiten Eine Diskursanalyse am Beispiel des Hashtag-Protests #distractinglysexy Miriam Stehling
Am 08. Juni 2015 löste der britische Biochemiker und Nobelpreisträger Tim Hunt mit einem nach eigener Aussage scherzhaft gemeinten Kommentar eine Debatte über Sexismus in der Wissenschaft aus. Auf der World Conference of Science Journalists in Seoul äußerte Hunt die folgenden Worte: »Let me tell you about my trouble with girls…three things happen when they are in the lab: You fall in love with them, they fall in love with you, and when you criticize them they cry.« (Shipman 2015: 392) Am 10. Juni 2015 rief The Vagenda Team unter dem Twitter-Namen @VagendaMagazine mit den folgenden Worten zur Beteiligung von Wissenschaftlerinnen1 an dem Protest auf: »Call for all female scientists to upload pictures of themselves at work with the hashtag #distractinglysexy«. Das Online-Magazin The Vagenda ist seit 2012 als feministische Antwort auf traditionelle Frauenzeitschriften im Netz zu finden und wurde von Holly Baxter und Rhiannon Lucy Cosslett mit dem Ziel gegründet, »to rip the piss out of the mainstream female press«2 . Sie erläutern auf ihrer Webseite mit Verweis auf Caitlin Moran, dass sie Humor, und nicht Wut, als die beste Waffe dafür ansehen. In diesem Sinne wurde auch das Hashtag #distractinglysexy (›ablenkend sexy‹) ins Leben gerufen, um mit humorvollen Tweets gegen die Aussagen von Tim Hunt zu protestieren. Zahlreiche Wissenschaftler_innen folgten diesem Aufruf und kommentierten in sozialen Medi1 | An dieser Stelle habe ich bewusst die rein weibliche Form gewählt, da sich der Aufruf des Vagenda-Teams explizit an weibliche Wissenschaftlerinnen (»female scientists«) wendet. Im Folgenden werde ich aber die gendergerechte Form ›Wissenschaftler_innen‹ verwenden. 2 | http://vagendamagazine.com/about/ (03.08.2017).
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en, wie Twitter, Facebook oder Instagram, unter Verwendung des Hashtags #distractinglysexy die Aussage Tim Hunts. Die vielfach geteilten Tweets und Postings waren Auslöser für eine öffentliche Debatte über die Gleichstellung der Geschlechter und Sexismus im Wissenschaftssystem (vgl. ebd.). Die Debatte wurde insbesondere dadurch angeregt, dass in kürzester Zeit mehr als 10.000 Fotos, auf denen sich Wissenschaftler_innen in verschiedenen Arbeitssituationen im Labor präsentierten und diese mit Bezug auf Hunts Aussagen kommentierten, gepostet und geteilt wurden. Diese Art von Tweets lassen sich als Meme verstehen, die über das Hashtag in verschiedenen sozialen Medien überwiegend als Foto-Meme verbreitet wurden, weshalb #distractinglysexy auch als Mem-Hashtag bzw. als virales Mem zu bezeichnen ist (vgl. Bruns et al. 2016). Im Fall von #distractinglysexy wurden vor allem Bilder, meist Selfies und Selbstportraits, geteilt. Allen ist ein thematischer Zusammenhang gemein: Sie reagieren auf ironische Weise auf die Aussagen von Tim Hunt, indem sie Einblicke in den vermeintlich ›realen‹ Arbeitsalltag von Wissenschaftler_innen geben, während der verbale Text einen expliziten Bezug zu Teilen der Aussage Hunts herstellt. Meme bestehen nach Shifman (2014b) aus verschiedenen digitalen Elementen, die nicht nur von mehreren Benutzer_innen geteilt, sondern auch von vielen Akteur_innen erzeugt und verändert werden. Meme sind üblicherweise multimodal, bestehend aus Bildern (oder anderen visuellen Elementen), verbalen Texten und Tags. Sie haben gemeinsame inhaltliche Eigen schaften und sind mit anderen Elementen verknüpft, die zum selben Mem gehören. Meme sind aber nicht nur als einzelne Einheiten zu sehen, sondern über sie können auch kulturelle und gesellschaftliche Gemeinschaften, sowie gleichzeitig die individuellen Stimmen in diesen Gemeinschaften untersucht werden (vgl. Shifman 2014a: 163). Meme können außerdem als Form politischer Partizipation verstanden werden, wenn damit ein (politisches) Anliegen vorgetragen wird, wenn sich Nutzer_innen darüber an einer normativen Debatte beteiligen oder sich darüber äußern, wie man einen besseren Zustand der Gesellschaft, Politik, usw. erreichen kann (vgl. ebd.: 114). In diesem Sinne wird auch das Mem-Hashtag #distractinglysexy als ein politisches Mem und als Form der politischen Partizipation verstanden, indem es auf eine normative Debatte über Sexismus Bezug nimmt und ein feministisches Anliegen, nämlich den Kampf gegen Sexismus und Diskriminierung von Frauen in der Wissenschaft, artikuliert. Solche politischen Anliegen können in Memen »humorvoll verpackt« (ebd.: 114) werden, wie es auch bei #distractinglysexy der Fall ist. Anhand eines Beispiels soll diese humorvolle Verpackung verdeutlicht werden. In einem in der Berichterstattung oft zitierten Tweet mit dem Hashtag #distractinglysexy sieht man eine Wissenschaftlerin in einem Labor, die sich ihre Hände vor das Gesicht hält. Auf dem Tisch vor ihr sieht man einen kleinen Roboter, der ihr Taschentücher reicht. Der Text zu dem Foto liest sich wie folgt: »Cried so much I had to program my robot to hand me tissues #distractinglysexy«
Vergnügliche Inter ventionen in digitalen Öf fentlichkeiten
(Tweet vom 12. Juni 2015). Die offensichtliche Diskrepanz zwischen der Aussage Hunts, auf die im Text des Tweets rekurriert wird, und der Repräsentation einer hochkompetenten Wissenschaftlerin, die Roboter programmiert, bietet eine ironische Lesart an und bereitet sowohl Produzierenden als auch Rezipierenden Vergnügen, das vielfach geteilt wurde. Die Meme, die sich über das Hashtag #distractinglysexy verbreiten, nutzen als Basis ihrer Botschaft die rhetorische Figur der Gegensatz- oder Gegenteil-Ironie (vgl. Groeben/Scheele 1984: 2). Das bedeutet, dass die Person, die das Mem produziert, etwas sagt, aber das Gegenteil meint bzw. etwas anderes sagt, als sie meint. Für das Verstehen von Ironie ist der Kontext entscheidend und auch die Konstellation von Produzent_in und Rezipient_in muss einbezogen werden, um Ironie zu untersuchen (vgl. ebd.: 3). Für den Fall von #distractinglysexy-Memen muss zum einen der Kontext, nämlich Hunts Äußerungen, bekannt sein, zum anderen ist die Ironie nur für ein bestimmtes Publikum ganz oder teilweise transparent, sodass überhaupt eine ironische Lesart entstehen kann. Ziel der Ironie ist es dabei, sich von zitierten Äußerungen – in diesem Fall von den Äußerungen Hunts – zu distanzieren oder die Äußerungen in polemischer Absicht gegen die zitierte Person zu wenden. Ob und wie die Ironie der Meme rezipiert wird, müsste allerdings anhand einer eingehenderen Untersuchung der Rezeption gezeigt werden. Dieser Beitrag fokussiert nicht auf die Analyse der Meme selbst, sondern geht am Beispiel von #distractinglysexy der Frage nach, welche Resonanz über Hashtags initiierte feministische Interventionen in sexistische Diskurse in der massenmedialen Öffentlichkeit erzeugen und ob und wie sie als Interventionen oder sogar Protest anerkannt werden. Im ersten Teil des Beitrags wird die Frage beantwortet, wie Öffentlichkeit(en) über Hashtags hergestellt werden und welche Sichtbarkeiten und Anerkennungsverhältnisse durch solche Interventionen in digitalen Öffentlichkeiten über Hashtags geschaffen werden. Das Hashtag #distractinglysexy wird dann als Hashtag-Aktivismus bzw. genauer Hashtag-Feminismus beschrieben. Es wird darauf eingegangen, welche Rolle Humor und Vergnügen bei der Nutzung und Verbreitung von Hashtags spielen. Im zweiten Teil des Beitrags werden die Ergebnisse einer Analyse der Berichterstattung in deutschen und britischen Medien über #distractinglysexy präsentiert und die Frage untersucht, wie das Mem-Hashtag den Weg in journalistische (online und offline) Medien fand.
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H ashtags als A d - hoc -Ö ffentlichkeiten und feministische I nterventionsmöglichkeit Den Untersuchungsgegenstand dieses Beitrags bilden sogenannte ›Hashtags‹. Indem man das Doppelkreuz-Symbol (›hash‹) nutzt, kann man eine Nachricht in sozialen Medien thematisch verknüpfen (›tag‹). Diese Praktik des Hashtags erlaubt es Nutzer_innen, Konversationen zu bestimmten Themen gezielt zu verfolgen und sich daran zu beteiligen. Ursprünglich vor allem bei Twitter verwendet, werden Hashtags mittlerweile auch in vielen anderen sozialen Medien, wie Instagram, Facebook, usw., genutzt. Hashtags werden für diverse Themen und Gelegenheiten gebraucht, auch für die Herstellung von Ad-hoc-Öffentlichkeiten, insbesondere in Bezug auf formelle und informelle politische Ereignisse (vgl. Bruns/Burgess 2015: 17). Auch das hier diskutierte Beispiel #distractinglysexy begann über Twitter und entwickelte sich über verschiedene soziale Medien hinweg zu einer Ad-hoc-Öffentlichkeit. Ad-hocÖffentlichkeiten sind solche Öffentlichkeiten, die in dem Moment entstehen, in dem sie gebraucht werden (vgl. ebd.: 23). Mit Hashtags kann sehr schnell auf neu entstehende Themen und aktuelle Ereignisse reagiert werden, sodass Ad-hoc-Öffentlichkeiten nicht zwangsläufig von Top-down-Strukturen oder organisationellen Prozessen, wie z. B. bei der Nachrichtenproduktion, abhängig sind. Durch User-Generated-Content über Twitter und andere soziale Medien können Ad-hoc-Öffentlichkeiten in einer sehr kurzen Zeit gebildet werden. Indem Nutzer_innen einen Hashtag gebrauchen, nehmen sie performativ an der Bildung von Öffentlichkeiten teil, denn das Hashtag ist sofort für alle Follower sichtbar und verkündet auf diese Art die Existenz einer Öffentlichkeit (vgl. ebd.). Nicht alle Hashtags sind allerdings solche Ad-hoc-Öffentlichkeiten, denn Hashtags können sich auch erst lange nach einem Ereignis bilden oder auf wiederkehrende Themen im öffentlichen Diskurs rekurrieren. Für das hier analysierte Beispiel #distractinglysexy trifft die Bezeichnung der Ad-hocÖffentlichkeit zu, da das Hashtag als eine unmittelbare Reaktion auf ein Ereignis, in diesem Fall die sexistischen Äußerungen von Hunt, ins Leben gerufen und zahlreich genutzt wurde. Das hier untersuchte Hashtag #distractinglysexy soll weiterhin als ein feminis tischer Hashtag-Aktivismus gekennzeichnet werden. Mit Drüeke (2015: 26) wird feministischer Hashtag-Aktivismus verstanden als Protestartikulationen, die es ermöglichen, gesellschaftliche Normierungsstrategien zu diskutieren und Normen und Werte des Zusammenlebens sowie Zuschreibungen an Männlichkeit und Weiblichkeit zu reflektieren. Gerade Twitter als Plattform zum Teilen von Hashtags kann als eine öffentliche Diskurssphäre für feministische Anliegen dienen, um weitere Öffentlichkeiten zu erreichen (vgl. ebd.: 32). Über das Hashtag #distractinglysexy wurden in einem Zeitraum von Juni 2015 bis Februar 2016 eine Anzahl von über 30.000 Tweets
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gepostet (vgl. Brantner/Lobinger/Stehling 2017, under review). Gerade bei dieser hohen Anzahl an individuellen Stimmen, die sich über das Mem-Hashtag zu einer Gemeinschaft zusammenschließen, werden allerdings auch einige Herausforderungen des Hashtag-Aktivismus deutlich. Wie Drüeke (2015: 2932) beschreibt, zählen zu den Herausforderungen des feministischen HashtagAktivismus u. a. die Heteronormativität der Diskurse, die Vernachlässigung unterschiedlicher Erfahrungen von Frauen und intersektionaler Zusammenhänge, Fragen nach der Inklusivität und der Reproduktion von Ungleichheiten in digitalen Öffentlichkeiten, sowie die möglichen anti-feministischen und sexistischen Reaktionen, Beleidigungen und Bedrohungen. Während letztere bei dem Hashtag #aufschrei durchaus verbreitet waren (vgl. ebd.: 31; s. a. den Beitrag von Drüeke in diesem Band), konnten bei einer Analyse der Tweets von #distractinglysexy keine solchen Reaktionen gefunden werden (vgl. Brantner/ Lobinger/Stehling 2017, under review). Eine mögliche Erklärung hierfür ist erstens die Tatsache, dass es sich bei #distractinglysexy um einen Spezialdiskurs im akademischen Raum handelte, und zweitens, dass über das Hashtag vor allem humorvolle Meme verbreitet wurden, die ggf. weniger antifeministische Reaktionen und Hate Speech hervorrufen als Meme mit ernsten Inhalten. Die Verwendung von Memen für (feministische) Proteste und Aktivismus wurde auch schon in anderen Zusammenhängen untersucht (vgl. z. B. Milner 2013; Drüeke/Zobl 2013; Cumberbatch/Trujillo-Pagán 2016). Nach Milner (2013) ist der Zweck von Foto-Memen das satirische Kommentieren öffentlicher Events, u. a. weil sie schnell produziert und geteilt werden können. Humor und Ironie spielen auch bei #distractinglysexy eine wichtige Rolle. Wenn der Kontext bekannt ist, um die Ironie des Mems zu verstehen, bereitet das Mem den Rezipierenden Vergnügen und – so die These – wird u. a. deshalb vielfach geteilt. In diesem Beitrag sollen die Meme, die über #distractinglysexy geteilt werden, deshalb vor dem Hintergrund von Theorien des Vergnügens betrachtet werden. Vergnügen wird nicht als ein psychologischer Effekt, sondern als eine Reihe an Erfahrungen begriffen, die in den sozialen Beziehungen der Produktion liegt (vgl. O’Connor/Klaus 2000). Dies bedeutet, dass Vergnügen durch spezifische Gefühlsstrukturen hervorgerufen wird, die aber nicht als bloße Manipulationen oder Effekte durch Medientexte begriffen werden können. In den Cultural Studies wird das Konzept des Vergnügens vielmehr verstanden als »Positionierungen, die gesellschaftlich vorgegeben sind, aber als Selbstpositionierungen der Subjekte zugleich Keime des Widerstands in sich tragen« (Klaus 2008: 210). Diese widerständigen Prozesse können sich insbesondere bei Themen, die Geschlecht und Sexismus betreffen, zeigen, weil sich eine Ideologie, wie zum Beispiel die Ideologie der männlichen Überlegenheit in patriarchalen Gesellschaften, u. a. durch Vergnügen verwirklicht und Vergnügen im Kampf um Bedeutungen eine wichtige Kraft darstellt (vgl. ebd.). Durch das Vergnügen, humorvolle und ironische Meme über #distractin-
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glysexy zu teilen und dadurch den sexistischen Äußerungen von Tim Hunt zu entgegnen, können Interventionen in sexistische Ideologien stattfinden. Ang (1985: 20) beschreibt das populäre Vergnügen im Anschluss an Pierre Bourdieu auch als charakterisiert durch die sofortige emotionale oder sinnliche Einbindung (der_des Rezipierenden) in das Objekt des Vergnügens, das bei #distractinglysexy insbesondere darin besteht, die Aussagen Hunts mit seinen eigenen zitierten Worten ins Lächerliche zu ziehen und sich über die Ironie von seinen Äußerungen zu distanzieren. Hierbei ist entscheidend, dass es die Möglichkeit gibt, sich mit dem Objekt, in diesem Fall den Tweets über das Hashtag #distractinglysexy, in irgendeiner Art zu identifizieren und es in den Alltag zu integrieren. Im Fall von #distractinglysexy sind es vor allem Wissen schaftler_innen, die Meme produziert und geteilt haben, weil sich die Aussagen Hunts auf ihre alltägliche Arbeitswelt beziehen. Populäres Vergnügen, wie es über die Tweets reproduziert wird, beruht nach Ang auf dem Vergnügen der Anerkennung im Sinne des Wiedererkennens von bestimmten Gefühlsstrukturen (vgl. ebd.). Diese Identifizierungsmöglichkeiten und die Art des Vergnügens, so lässt sich vermuten, ist auch beim Hashtag #distractinglysexy einer der Gründe für seine Popularität. Das Vergnügen, das durch das humorvolle und ironische Kommentieren von Hunts Aussagen ausgelöst wird, beinhaltet aber auch eine gewisse Ambivalenz. Untersuchungen zeigen beispielsweise, dass Vergnügen zutiefst ambivalent sein kann, weil dabei stereotype Geschlechtervorstellungen gleichzeitig bestätigt und transzendiert werden können (vgl. O’Connor/Klaus 2000). Ironie wird dabei auch als »defensive shield« (Gauntlett 2002: 127) genutzt. Nach dieser These würden Wissenschaftler_innen im Fall von #distractinglysexy Humor und Ironie nutzen, weil sie annehmen, dass eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema zur Ablehnung führen würde – sie würden also die Ironie auch nutzen, um sich vor Angriffen und Ablehnung zu schützen. Hierzu müssten allerdings konkrete Analysen über die Nutzung, Rezeption und Aneignung des Hashtags erfolgen.
S ichtbarkeit und A nerkennung feministischer I nterventionen Mit der Sichtbarkeit der feministischen Interventionen in digitalen Öffentlichkeiten, die durch die Präsenz der zahlreichen Tweets und Retweets3 über die digitalen Plattformen wie Twitter und Instagram hergestellt wird, ist auch die Frage nach der Anerkennung der Interventionen in anderen Öffentlichkeiten verbunden, die ich im Folgenden anhand des Konzepts der anerkennenden 3 | #distractinglysexy verzeichnet im Gegensatz zu anderen Hashtags eine sehr hohe Anzahl an Retweets, nämlich 77 Prozent (vgl. Bruns et al. 2016: 46).
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Sichtbarkeit nach Schaffer (2008) diskutiere. Johanna Schaffer (2008) zeigt, wie der Allgemeinplatz von Sichtbarkeit als positiv besetzte, politische Kategorie dazu führt, solche Ambivalenzen auszublenden, die diese in Bezug auf Anerkennung in sich trägt. Das bedeutet, dass Sichtbarkeit nicht zwangsläufig zu mehr Rechten und politischer/gesellschaftlicher Macht führt (vgl. ebd.: 12). Schaffer erläutert, wie Sichtbarkeit auch die eigentlich kritisierten gesellschaftlichen Verhältnisse von Diskriminierung und Minorisierung reproduzieren kann (vgl. ebd.). Dabei stellt sie heraus, dass eine vorbehaltlose Affirmation von Sichtbarkeit und ihrer scheinbar emanzipatorischen und anti-repressiven Effekte die »Ambivalenzen der Sichtbarkeit ignoriert, indem sie übersieht, dass jegliches Sichtbarwerden immer auch eine Affirmation gegebener Strukturen der Sichtbarkeit und damit genau der kritisierten minorisierenden Logiken bedeutet« (ebd.: 161, Hervorheb. i. O.). Diese Feststellung ist für eine Analyse von #distractinglysexy deshalb wichtig, weil sich die Tweets nur innerhalb heteronormativer Bedingungen kommunizieren und verstehen lassen. Das Vergnügen beim Lesen der Tweets besteht nämlich genau darin, dass Wissenschaftler_innen mit Stereotypisierungen, die ja auch Hunt in seinen Aussagen aufgreift, spielen und diese durch ihre Fotos, in denen sie in professionellen Arbeitszusammenhängen zu sehen sind, auf brechen. Das Zusammenspiel von Text und Foto in den Tweets kann hier vielleicht sogar als »Anerkennung im Konditional« (ebd.: 21) verstanden werden, bei der eine bedingte Form der Anerkennung durch stereotypisierende Darstellungsformen produziert wird. Zu fragen ist deshalb danach, wie uns etwas zu sehen gegeben wird und was darin gleichzeitig als Unsichtbarkeit entsteht (vgl. ebd.). Für eine solche Analyse der Bedingungen von Sichtbarkeit führt Schaffer den Begriff der ›anerkennenden Sichtbarkeit‹ ein, um darauf aufmerksam zu machen, dass eine Forderung nach Sichtbarkeit und sogenannten ›positiven Bildern‹ als Affirmation der eigenen Existenz allein nicht ausreicht. Schaffer schlägt mit dem Begriff der anerkennenden Sichtbarkeit einen »Modus der Sichtbarkeit vor, um eine Weise des Repräsentierens zu bezeichnen, durch die eine Person, eine Sache, ein Kontext mit Wert belehnt wird« (ebd.: 162). Ob dies beim Sichtbarwerden der Subjektpositionen von Wissenschaftler_innen über das Hashtag #distractinglysexy auf der komplexeren Ebene von Öffentlichkeit (vgl. Drüeke/ Klaus 2014) der Fall ist, soll in diesem Beitrag anhand der Untersuchung der Berichterstattung in ausgewählten journalistischen Mainstream-Medien in Deutschland und Großbritannien untersucht werden. Es wird danach gefragt, wie über #distractinglysexy berichtet wird, wer zu Wort kommt und wer wie zu sehen gegeben wird, wie der Hashtag-Protest thematisch gerahmt und ob er als feministische Intervention gedeutet wird.
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M ediale D iskurse über # distractinglysex y : E ine A nalyse der B erichterstat tung in D eutschl and und G rossbritannien Mit einer wissenssoziologischen Diskursanalyse (WDA) nach Keller (2011) wurde die Berichterstattung über #distractinglysexy in ausgewählten Tageszeitungen in Deutschland und Großbritannien untersucht. Bei der WDA geht es nach Keller darum, »Prozesse der sozialen Konstruktion, Objektivation, Kommunikation und Legitimation von Sinn-, d. h. Deutungs- und Handlungsstrukturen auf der Ebene von Institutionen, Organisationen bzw. sozialen (kollektiven) Akteuren zu rekonstruieren und die gesellschaftlichen Wirkungen dieser Prozesse zu analysieren« (ebd.: 59). Die Analyse wurde durch ein dreistufiges Verfahren der Datenauswahl, des Samplings und der Feinanalyse durchgeführt. Die Datenauswahl erfolgte zunächst mit dem Fokus auf sogenannte Mainstream-Medien, insbesondere überregionale Tageszeitungen, in den zwei Ländern Deutschland und Großbritannien. Großbritannien wurde ausgewählt, weil Tim Hunt dort lebt und arbeitet und die Institutionen, von deren Ämtern er zurückgetreten ist, dort ansässig sind. Zusätzlich wurde der deutsche Kontext ausgewählt, um einen Vergleich zu ermöglichen. Deutschland ist deshalb interessant, weil hier zuvor einige feministische Hashtags, wie zum Beispiel #aufschrei, zu öffentlicher Debatte anregten und auch breit im medialen Diskurs sichtbar wurden. Zunächst wurde über die Datenbank LexisNexis mit der Eingabe der Suchbegriffe »#distractinglysexy« und »Tim Hunt« ein erstes grobes Sample für den Zeitraum vom 08. Juni 2015 (der Tag, an dem Hunt auf der Wissenschaftskonferenz in Seoul sprach) und dem 05. Juli 2016 (der Zeitpunkt, an dem das Sample generiert wurde) gezogen, welches mehr als 107 Artikel enthielt. Mit dem Fokus auf überregionale Tageszeitungen und Nachrichtenmagazine inklusive ihrer Online-Ausgaben wurde das Sample reduziert, sodass für die Feinanalyse 31 Artikel aus Großbritannien (aus The Guardian, The Telegraph, Mirror, The Observer, Daily Mail Online) und 16 Artikel aus Deutschland (aus Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Spiegel Online) verwendet wurden. In der Berichterstattung über #distractinglysexy in Deutschland konnten zwei dominante Deutungsmuster identifiziert werden. Einerseits wurde ein Deutungsmuster erkennbar, das Tim Hunt als Betroffenen bzw. Opfer darstellt, indem er durch eine »Welle der Empörung« (Die Welt, 11.6.15), einen »Sturm der Empörung« (Spiegel Online, 12.6.15) bzw. durch einen »Lynchmob« (Die Welt, 15.6.15) zum Rücktritt von seinen Ämtern in verschiedenen Institutionen gezwungen wurde. Die Artikel in diesem Deutungsmuster zeichnen einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Hashtag-Protest und Hunts Rücktritt, obwohl der Aufruf zum Hashtag erst einen Tag nach Hunts
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Rücktritt erfolgte. Dieses Deutungsmuster weist dem Hashtag eine negative Bedeutung zu, indem es als übertrieben und unnötig gekennzeichnet wird. Die Artikel stellen Hunt auf diese Weise als geschädigte Partei oder sogar als Opfer dar. Artikel, die diese Perspektive einnehmen, sind in der Regel bebildert mit Fotos von Tim Hunt, auf denen er in Großaufnahme zu sehen ist. Dies rahmt ihn zusätzlich als den Protagonisten des Hashtags, was den Fokus immer wieder von den Wissenschaftler_innen, d. h. den Produzierenden des Hashtags und Aktivist_innen, hin zu Hunt lenkt. Die Bedeutung der Worte Hunts wird verharmlost, indem sie beispielsweise als »ungeschickte[r] frotzelnde[r] Bemerkungen« (FAZ, 10.7.15) bezeichnet werden. In diesem Deutungsmuster wird eine kritische Haltung gegenüber dem Hashtag-Protest eingenommen, weil Hunt dadurch ›gezwungen‹ wurde, von seinen Ämtern zurückzutreten. Interessanterweise wird auch Hunts Ehefrau auf eine Weise zitiert, um Partei für Hunt zu ergreifen und ihn als ›unschuldig‹ darzustellen. Hunts Ehefrau wird hier als Verteidigerin ihres Mannes eingesetzt, da sie – so die Argumentationslogik der Artikel – als »bekennende Feministin« (FAZ, 16.6.15) niemals mit einem Sexisten verheiratet wäre. Sie dient somit als ›Beweis‹ für seine Unschuld in Sachen Sexismus. In nur einem dieser Artikel wird eine Parallele zu anderen feministischen Interventionen gezogen, in diesem Fall #aufschrei; allerdings wird dies dazu genutzt, um die These zu unterstreichen, dass solche feministischen Hashtag-Proteste Männer zu Opfern machen würden (Brüderle bei #aufschrei, Hunt bei #distractinglysexy). Alle Artikel in diesem Deutungsmuster geben Hunt eine hohe anerkennende Sichtbarkeit (auch über zugehörige Bilder), indem er fast immer wörtlich zitiert wird und Wissenschaftler_innen selbst gar nicht zu Wort kommen. Eine Thematisierung von (strukturellen) Ursachen von Sexismus und Diskriminierung von Frauen in der Wissenschaft bleibt aus. Das zweite dominante Deutungsmuster ist im Gegensatz zum ersten ein die Aktion unterstützendes Deutungsmuster. Das Hashtag #distractinglysexy wird in diesen Artikeln als eine gelungene Aktion interpretiert, durch die Wissenschaftler_innen kreativ und humorvoll in sozialen Medien auf die Äußerungen Hunts reagieren. Es wird viel auf die vergnüglichen Meme, die gepostet und getweetet wurden, eingegangen. Allerdings wird die Aktion nicht als eine (feministische) Intervention wahrgenommen. Obwohl die Artikel die Kreativität und den Humor der Wissenschaftler_innen stark positiv rahmen, kommen auch hier die Wissenschaftler_innen selbst kaum zu Wort, sie werden lediglich über ihre Tweets bzw. Bilder sichtbar. Der Hashtag-Protest wird vor allem als eine kreative und lustige Online-Aktion gesehen. Die Artikel im unterstützenden Deutungsmuster fokussieren vor allem auf die Aktion selbst, ohne dabei auf die politische Botschaft des Hashtags, nämlich das Aufmerksam machen auf den immer noch vorhandenen alltäglichen Sexismus und die
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Diskriminierung von Frauen in der Wissenschaft4, einzugehen. Zum Beispiel schreibt die Süddeutsche Zeitung: »Aber was sagen eigentlich die, über die Hunt da so gestrig gesprochen hat? Nun ja, wenig. Sie zeigen einfach via Twitter, was sie von den Aussagen halten.« (SZ, 12.6.15) Auch wenn diese Sätze in einem positiven Framing gegenüber der Aktion stehen, bergen sie doch eine Ambivalenz gegenüber der Aktion. Dieses Beispiel kann als paradigmatisch für das gesamte Deutungsmuster gesehen werden. Die Artikel befürworten zwar die Aktion und rahmen sie als positiv, jedoch reproduzieren sie lediglich ausgewählte Tweets, ohne sie zu kontextualisieren und ohne Hintergründe zum Anlass der Aktion, nämlich die strukturellen Benachteiligungen von Frauen in der Wissenschaft und den alltäglichen Sexismus, zu erläutern. Im medialen Diskurs in Großbritannien findet sich im Gegensatz zum Diskurs in Deutschland eine größere Bandbreite von Deutungsmustern. Insgesamt konnte festgestellt werden, dass die (feministische) Intervention bzw. der (feministische) Protest über das Hashtag #distractinglysexy im medialen Diskurs in Großbritannien eine größere Rolle spielt als im deutschsprachigen Pressediskurs. Obwohl das Hashtag selbst nicht unbedingt als politisch effektiv eingeschätzt wird, wird es als legitime und notwendige Aktion für den Kampf gegen Sexismus in der Wissenschaft und in anderen Bereichen betrachtet. Das Hashtag wird so als ein humorvolles Mittel zum Kampf gegen Benachteiligung angesehen, die Artikel in diesem Deutungsmuster stellen aber auch heraus, dass die Fakten, die hinter dem Hashtag stehen, nicht für Scherze geeignet sind: »According to the latest evidence, women occupy just 12% of jobs in science, technology and engineering. In research, women earn less, are less likely to be promoted, and win fewer awards to support their work. A third of PhD students are women, but only one in 10 professors. This is not a joking matter (although the #distractinglysexy hashtag did a good job of showing there could be a funny side).« (The Guardian, 30.6.15)
Das dominante Deutungsmuster im britischen Diskurs ist ein unterstützendes gegenüber Frauen in der Wissenschaft und gegenüber dem Kampf gegen Diskriminierung und Sexismus. Die Artikel in diesem Muster betonen »the pressing need for feminist activism in science« (ebd.) und stützen dies mit statistischen Daten, die die Geschlechterungleichheiten in den Wissenschaften belegen. Darüber hinaus wird in diesen Artikeln sehr genau unterschieden zwischen den Frauen, die auf Twitter auf Hunts Kommentare reagierten, und den Institutionen, von denen Hunt zurücktrat und die sich von ihm distanzierten. Diese Artikel argumentieren, dass Hunt »symbolic of a larger problem« 4 | Zu den Ungleichheitsverhältnissen in der Wissenschaft und der Benachteiligung von Frauen vgl. z. B. Beaufaÿs 2004; Shipman 2015.
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(The Guardian, 14.6.15) und dass Sexismus in den Wissenschaften in der Tat ein unterschätztes Problem sei. Einige Artikel bezeichnen die beteiligten Institutionen in Großbritannien sogar als scheinheilig, weil sie einerseits den Rücktritt Hunts glücklich akzeptierten, andererseits weiterhin Strukturen förderten, die Frauen diskriminieren. Zum Beispiel wird kritisiert, dass das University College London auch nach der eindeutigen Distanzierung von Hunts Äußerungen weiterhin den »men’s only club The Garrick« für Arbeitsessen und Empfänge von Gästen nutzt (vgl. Daily Mail Online, 15.7.15). Das Hashtag #distractinglysexy wird in den Artikeln auch als lustig und notwendig beschrieben; die Artikel weisen zusätzlich oft auf die Notwendigkeit eines tatsächlichen Wandels in den Wissenschaften hin und schlagen beispielsweise vor, die Bilder, die von Wissenschaftlerinnen über das Hashtag #distractinglysexy gepostet wurden, als Vorbilder dafür zu nutzen. Ein ähnliches, wenn auch untergeordnetes Deutungsmuster rahmt das Hashtag als eine kreative und beliebte Kampagne, die geistreich und ironisch sei. Ein weiteres Deutungsmuster konzentriert sich auf das Potenzial von Twitter und Hashtags als eine Möglichkeit für die Ermächtigung von Frauen und das Erheben deren Stimmen, um gehört zu werden. Ähnlich wie im deutschen Diskurs, allerdings nicht so dominant, gibt es auch im britischen Diskurs ein Deutungsmuster, das Hunt verteidigt und das Hashtag #distractinglysexy als übertrieben beschreibt. Allerdings unterscheidet sich die Narration des Deutungsmusters in den britischen Artikeln von der im deutschsprachigen Diskurs. Die Personen, die Hunt unterstützen und verteidigen, kommen hier zwar zu Wort und deren Meinung über das Hashtag als »lynch mob« (Mail Online, 20.6.15) wird dargestellt, jedoch bleibt die Interpretation über die Legitimität dieser Haltung für die Leser_innen offen. Dies steht im Gegensatz zu Artikeln im deutschsprachigen Diskurs, die die klare Haltung der Journalist_innen, dass Hunt ›Opfer‹ des Hashtags sei, deutlich zeigen.
V ergnügliche I nterventionen und A mbivalenzen im D iskurs Der Beitrag zeigt, wie humorvolle Meme in Hashtag-Protesten für Interventionen in sexistische Diskurse eingesetzt werden können und auf welche Weisen der Hashtag-Protest in medialen Diskursen sichtbar wird. Die Ergebnisse der Diskursanalyse zeigen, dass die humorvollen Reaktionen vieler Wissenschaftler_innen auf sexistische Kommentare von Tim Hunt, die über das Hashtag #distractinglysexy in digitalen Ad-hoc-Öffentlichkeiten verbreitet wurden, einerseits eine übergreifende vergnügliche Deutung erfuhren. Andererseits zeigt sich, dass in der medialen Berichterstattung ambivalente Deutungsmus-
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ter des Hashtag-Protests zu finden sind. Auf der einen Seite führt die humorvolle Intervention und die Ironie der über das Hashtag verbreiteten Meme in digitalen Öffentlichkeiten zu mehr Aufmerksamkeit für feministische Anliegen und kann als Schutzschild für Wissenschaftler_innen, um sich vor Angriffen und Ablehnung im Netz zu schützen, fungieren. Dies zeigt sich darin, dass in der Analyse der Tweets keine sog. Hass-Kommentare zu finden waren. Auf der anderen Seite führt der Humor und die Ironie der Meme gleichzeitig zu Verkürzungen und Unsichtbarkeit feministischer Forderungen, wie die Analyse der Berichterstattung in der massenmedialen Öffentlichkeit insbesondere in Deutschland zeigt. Wie beispielsweise auch Drüeke und Zobl (2013: 126) in ihrer Untersuchung des Hashtags #aufschrei feststellen, sind frauenpolitische und feministische Inhalte als auch Bedeutungen von Geschlecht immer umkämpft und werden unterschiedlich gedeutet. Wie gezeigt wurde, wird #distractinglysexy in der Medienberichterstattung in Deutschland entweder als witziges Mem wahrgenommen, ohne die Intention und Botschaft der #distractinglysexy-Kampagne zu erwähnen, oder der Hashtag-Protest wird als ›Shitstorm‹ bezeichnet und für die Schädigung von Tim Hunt verantwortlich gemacht. Eine Sichtbarkeit des Themas erfolgt also über vergnügliche Meme, die sowohl in digitalen als auch massenmedialen Öffentlichkeiten Resonanz finden, allerdings bleibt vor allem im deutschsprachigen medialen Diskurs eine anerkennende Sichtbarkeit im Sinne Schaffers aus und der Anlass des feministischen Protests weitestgehend unsichtbar. Selbst eine Anerkennung im Konditional, die in diesem Fall über stereotypisierende Darstellungen von Wissenschaftlerinnen stattfindet, ist im Pressediskurs in Deutschland nicht zu finden. Anders zeigt sich die Sichtbarkeit von feministischen Interventionen im britischen Diskurs. Hier wird der Hashtag-Protest differenzierter behandelt und auch auf die Hintergründe des Protests eingegangen und über strukturelle Ungleichheiten in den Wissenschaften berichtet. Das Hashtag #distractinglysexy wird u. a. auch als ermächtigendes Instrument für Frauen in den Wissenschaften gesehen, das ihnen einen Raum verschaffen kann, um gehört zu werden. Eine mögliche Erklärung für diese sehr positive Rahmung des Protests könnte darin liegen, dass sich #distractinglysexy als eine Ad-hoc-Öffentlichkeit auf Twitter gebildet hat und deshalb nicht zwangsläufig als ›Gefahr‹ für die gesellschaftliche Ordnung angesehen wurde, so wie es bei organisierteren Formen feministischen Protests und Aktivismus oft der Fall ist. Der Humor und die Ironie, die bei den Memen als Schutzschild gegen Angriffe und Ablehnung wirkten und vermutlich auch zur weiten Verbreitung beitrugen, führen dabei allerdings dazu, dass diese Art von Sichtbarkeit auch zur Depolitisierung und Verkürzung des als politisch und gesellschaftlich relevanten Anlasses des Hashtags im medialen Diskurs führen kann und eine Kritik an gesellschaftlichen Diskriminierungs- und Ungleichheitsstrukturen somit erschwert wird.
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Der vorliegende Beitrag zeigt darüber hinaus auf, dass der nationale und kulturelle Kontext eine wichtige Rolle bei der Interpretation und Bedeutungszuschreibung von Hashtag-Protesten spielt. Es wurde gezeigt, dass die dominanten Deutungsmuster in der medialen Berichterstattung in Deutschland und Großbritannien unterschiedlich sind und dass in Großbritannien sehr viel deutlicher und öfter auch der Hintergrund und Anlass des Hashtag-Protestes thematisiert wurde. Eine mögliche Erklärung dafür könnte sein, dass die involvierten Akteur_innen aus Großbritannien kommen (Tim Hunt, das Vagenda-Magazin und die Institutionen University College London und The Royal Society) und das Thema dadurch für die mediale Berichterstattung in Großbritannien größere Relevanz und einen höheren Nachrichtenwert besitzt. Dadurch waren die Bedingungen für eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Thema vielleicht eher gegeben als in Deutschland. Die Analyse der Berichterstattung in Deutschland lässt vermuten, dass das Thema für die deutschen Mainstream-Medien weniger relevant erschien, weil das Ereignis nicht im eigenen Land stattfand. Erstaunlich ist dieses Ergebnis vor allem vor dem Hintergrund der vielfach im massenmedialen Diskurs besprochenen HashtagAktion #aufschrei. Analysen dazu zeigen, dass das Thema Sexismus eine vermehrte Bedeutung im medialen Diskurs gewonnen hat und dass das Thema auch in Zukunft immer wieder verhandelt werden wird (vgl. Gsenger/Thiele 2014). Diese These lässt sich hingegen für den Hashtag-Protest #distractingly sexy im deutschsprachigen Diskurs nicht bestätigen. Zusammenfassend zeigt sich in der Analyse, dass feministische HashtagProteste wie #distractinglysexy sowohl über Grenzen von digitalen Öffent lich keiten als auch Ländergrenzen hinweg sichtbar werden können, die Bedeut ungszuschreibungen und Deutungen aber abhängig vom jeweiligen Interpretationskontext sind. Während im deutschen Diskurs das Muster der Entwertung und Depolitisierung von feministischem Protest (vgl. dazu auch Thomas/Stehling 2015) zu beobachten ist, findet sich im britischen Diskurs eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Anlass des Protests und dessen Ursachen.
Q uellen aus dem M aterialkorpus Die Welt, 11.6.15: o. A. (2015): Frauen im Labor bereiten Männern nur Probleme. Die Welt, 11.06.2015. Die Welt, 15.6.15: Ladipo, Eva (2015): Der Professor, ein Scherz und der Mob. Die Welt, 15.06.2015. FAZ, 10.7.15: Thomas, Gina (2015): Der Professor und die Frauen im Labor. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.07.2015.
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Miriam Stehling
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Please Relax Now: Vika Kirchenbauers Interventionen in Repräsentations- und Rezeptionsregime Skadi Loist
Sichtbarkeit und Anerkennung sind verwoben mit Formen der Repräsentation und Rezeption, mit Sehen und Gesehen-Werden. Das Sehen und GesehenWerden, die Machtstrukturen, die Blickregimen inhärent sind, die Hierarchiegefälle, die in den Positionen des Ansehens und Erkennens und des damit verbundenen Einordnens und Verkennens des ›Anderen‹ angelegt sind, sind elementare, wiederkehrende Themen im Werk von Vika Kirchenbauer. Durch selbstreflexive Textbausteine und den Einsatz von neuen Technologien thematisiert Kirchenbauer die Verantwortung der Künstler*in an dem Zu-SehenGeben im Produktionskontext und lotet Verhältnisse zwischen Publikum, Vorführkontexten und Rezeptionshaltungen neu aus. Vika Kirchenbauer studierte an der Filmhochschule in Babelsberg, verortet sich aber selbst eher als Künstlerin denn als Filmemacherin (vgl. Vetter 2017b). Sie agiert in variierenden Positionen als Autorin, Regisseurin, Künstlerin, Performerin, Musikerin und Kuratorin in verschiedenen Medien (Film, Experimentalfilm, Videoclip, Videoinstallation, Performance, Musik), mit unterschiedlichen Stilen und Techniken. Ihre Arbeiten sind sowohl Teil von, als auch Kritik an den Bereichen des (Experimental-)Films, des Kunstbetriebs und queer-feministischer theoretischer und aktivistischer Kontexte. Ihre Werke sind persönlich, vielschichtig und politisch und von wiederkehrenden Fragen und Themenkomplexen durchzogen. Kirchenbauers Werke versuchen explizit, Normen der Repräsentation zu brechen und in medialen Werken eingeschriebene Machtstrukturen offenzulegen. Ihr Werk arbeitet nicht mit herkömmlichen affirmativen Strategien einer anerkennenden Sichtbarkeit, es ist keine positivistische Repräsentationspolitik, die Sichtbarkeit mit Anerkennung gleichsetzt (vgl. Schaffer 2008). Vielmehr findet ein kontrolliertes und hochgradig reflektiertes, aber immer auch ironisch-humorvolles Infragestellen und Umarbeiten von Blickstrukturen und Kulturdiskursen statt (vgl. Vetter 2017a),
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das eine Kritik an Mechanismen entfaltet, in denen ›Anderssein‹/Queerness oft als das Exotische, das Neue, die Avantgarde in eine hippe Kultur des Mainstreams vereinnahmt und ›eingefaltet‹ wird. Bevor ich mit meiner Analyse der Videoinstallation Please Relax Now zeige, wie Kirchenbauer in Repräsentations- und Rezeptionsregime interveniert, stelle ich zur besseren Einordnung kurz das Spektrum ihrer bisherigen künstlerischen und kuratorischen Arbeit vor. Dabei werden auch die theoretischen Bezugspunkte der ›Opazität‹ und ihr Verhältnis zu Sichtbarkeit und Anerkennung eingeführt.
A kte des Z urückblickens in den A rbeiten von V ik a K irchenbauer Einen guten Einblick in die Themenschwerpunkte ihrer künstlerischen Arbeit sowie die kuratorische Rahmung bieten zwei Filmprogramme, die Vika Kirchenbauer für das Internationale Frauenfilmfestival Dortmund|Köln 2016 in der Kölner Sektion begehrt! unter dem Titel Akte des Zurückblickens / Acts of Looking Back zusammengestellt hat. Im Programmtext, wie auch im kuratorischen Zusammenspiel der ausgesuchten Werke, stellt sie die Verbindung von Macht und Blicken heraus: »Lokale und globale Realitäten in scheinbar völlig unterschiedlichen Bereichen wie der Kunstrezeption, der modernen Kriegsführung, dem Onlinedating, den Überwachungsmechanismen, der Psychiatrie, der Bewegung von Körpern zwischen Nationalstaaten oder der Arbeit in der Erlebnisökonomie werden geprägt vom ›Verstehen‹ des Anderen, vom eigenmächtigen Schürfen nach Wissen über das Andere, mit dem Zweck, Urteile zu fällen oder Vorurteile zu bekräftigen. Der gewaltsame Blick und sein beharrliches einseitiges Starren, wo etablierte Hierarchien durch ebendiesen unerwiderten Blick aufrechterhalten werden, bringen uns zu der Serie von Videoarbeiten mit dem Titel Acts of Looking Back. Es sind Arbeiten, die post-institutionelle Kritik üben, indem sie spielerisch über die Rationalität und das bloße kognitive Urteilen hinausgehen und Affekt, Mehrdeutigkeit und Opazität in den Vordergrund rücken.« (Kirchenbauer 2016: 78)
In den kuratierten Filmprogrammen hat Kirchenbauer mit Please Relax Now und You Are Boring! zwei eigene Werke mit anderen Videoarbeiten ins Verhältnis gesetzt, die sich mit ähnlichen Fragen auseinandersetzen und nach technischen und ästhetischen Lösungen für den Umgang mit dem gewaltvollen Blick und Formen des Zurückblickens suchen. Ein zentrales Thema, das Kirchenbauer in ihren Arbeiten als Referenzpunkt anspricht, ist die widerständige Haltung der »Opazität«, einem Konzept
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des Philosophen und Vertreters postkolonialer Kulturtheorie Édouard Glissant (1997a). Glissant (1928-2011) wuchs in Martinique auf, studierte in Paris Philosophie, Ethnologie und Literatur und setzte sich in seinen sprachphilosophischen, literarischen und poetischen Schriften für die antikolonialistischen Bewegungen ein. Er entwickelte das Konzept der Opazität innerhalb seiner Abhandlungen zu Globalisierung und Globalität, mit dem Ziel einer Stärkung und Anerkennung von Konzepten wie ›Multikulturalität‹, ›Kreolisierung‹ und ›Antillität‹, die auf Konzepte der Sprachentwicklung und den fundamentalen Mechanismen relationaler Praxis, des Spracherwerbs und der Übersetzung zurückgreifen (vgl. Glissant 1997b: 115; Wing 1997). Ein Kernpunkt seiner Forderung eines »Rechtes auf Opazität« (Glissant 1997a: 190) beruht auf der Kritik an einer Logik des Verstehens und Anerkennens, die auf einer Form des Vergleichs und der Beurteilung beruhen und sich auf Reduktion und scheinbare Transparenz (des Vergleichbaren/Gleichmachens) stützen. In der Opazität sieht er die Chance für das Ende des westlichen dualistischen Denkens, in dem das ›Selbst‹ und das ›Andere‹ getrennt sind und immer in einer Hierarchie angeordnet werden. Entsprechend seiner Idee der ›Multikulturalität‹ beschreibt Glissant Opazitäten als koexistierend und konvergierend, wie Gewebe, in denen die Textur/das Gefüge wichtiger ist als die verwobenen Bestandteile (vgl. ebd.: 190). Für Glissant ist das Opake nicht gleichbedeutend mit Obskurität, wenngleich es dies sein und als solches akzeptiert werden kann. Für ihn ist opak, was nicht reduziert werden kann und eine beständige Garantie der Partizipation und Vereinigung bietet (vgl. ebd.: 191). Glissant zufolge ist Opazität eine Form, die Raum für Nichtverstehen und Undurchsichtigkeit schafft und damit eine Form der Anerkennung ermöglicht, die nicht an die reduktionistische Bedingung eines Erkennens, Erfassens oder Gleichmachens geknüpft ist. In Kirchenbauers Texten und künstlerischen Arbeiten finden sich viele Bezüge, die einen Möglichkeitsraum der Opazität und die Idee eines Rechts auf Opazität ausloten und dem Recht auf das Nichtverstanden werden (müssen), einem Recht auf das nicht offensichtlich Zu-Erkennen-Geben nachspüren, den Glissants Texte eröffnen (vgl. u. a. Kunak 2016, Kirchenbauer 2016).1 Einer ihrer ersten Filme Like Rats Leaving a Sinking Ship (2012) thematisiert die problematische Narration, die Transgender-Personen im institutionellen Rahmen – gespannt aus Gesetzen, Psychiater*innen und Krankenkassen – performen müssen, um ihre Identität auszuleben. Auf der Tonebene werden persönliche Erfahrungen durch eingesprochene Erinnerungen und Gedanken 1 | Zuletzt in einem Beitrag zum Odarodle Symposium 14.-16.9.2017 im Schwulen Museum Berlin, in dem sie einen Reading Circle initiierte, in dem neben Glissants Text »For Opacity« auch Texte von Eve Sedgwick, Wendy Brown und Paul Gilroy besprochen wurden (http://www.schwulesmuseum.de/ausstellungen/view/odarodle-sittengeschichteeines-naturmysteriums-1535-2017/) (26.09.2017).
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transportiert und gleichzeitig mit vorgelesenen psychiatrischen Gutachten kontrastiert; auf der visuellen Ebene wird dies mit ambivalenten Bildern in Homevideo-Ästhetik kombiniert. So wird eine intime Nähe hergestellt, gleichzeitig findet aber keine Einordnung des Bildmaterials, z. B. durch Quellenangaben in den Credits, statt, so dass das Material ambivalent bleibt und eine Projektionsfläche für Interpretationen bietet. Auch im Video Please Relax Now (2014), das ich später genauer besprechen werde, finden sich ähnliche Techniken. In einem sehr reduzierten und kontrollierten Bildauf bau wird eine ambivalente Beziehung zu den Zuschauenden aufgebaut. Ähnlich strukturiert ist die Videoinstallation You Are Boring! (2015), in der die Figuren dem Publikum in stilisierten Tableaus in direkter Ansprache mit komplexen ironischen Texten zur Verflechtung von Subkultur, Aneignung und Erlebnisökonomie nahegebracht werden und diese den Zuschauer*innen per 3D-Kameratechnik quasi auf den Leib rücken. Dabei thematisieren diese beiden Arbeiten auch die als passiv verstandene Haltung der konsumierenden Betrachter*innen und kritisieren eine kapitalistische Konsumlogik, in der Erfahrungen und Identitäten in Form von Kunst, Performances und Events als Teil der »Erlebnisökonomie« (Schulze 1992) nicht nur angeboten, sondern vor allem kommodifiziert werden (vgl. Kirchenbauer 2015b). Formen von Agency und Handlungsmacht der Zuschauenden sind inhärenter Teil ihrer Arbeiten, in denen sie auch thematisiert, wie die Produktionsweisen, das gemeinsame Arbeiten, das Zu-SehenGeben funktionieren. Die Erkundung von aktuellen visuellen und technischen Formen findet sich bei Kirchenbauer auch in Textform. In dem Aufsatz Infrared Dreams in Times of Transparency. The Love Life of Drones and other Western Cyborgs, der zusammen mit einer Illustration von Amrei Hofstätter in der Kombination von Poster und Text in der Edition Married Print #1 (2014) erschienen ist, setzt sie sich mit moderner Kriegsführung, mit den technischen Gegebenheiten im Drohnenkrieg und den daran anschließenden technischen, visuellen Logiken der Sichtbarkeit, Überwachung, Transparenz und Virtualität – einer hyperrealen Darstellung – auseinander. Die Beschäftigung mit diesen neuen Überwachungs- und Bildgebungstechnologien schlägt sich dann auch im Einsatz von Infrarot- und Wärmebildkameras späterer Videos und Performances nieder. In zwei Videoclips zum Soundprojekt Cool For You (2016/17) wird die Infrarotkamera-Technologie eingesetzt. In diesen Clips sind durch die Infrarotoptik virtuell erscheinenden Körper in verschiedenen sehr intimen Posen, die Asso ziationen an SM Play Dates evozieren, zu sehen. Intimität, Körper(lichkeit), Macht, Kontrolle, Pleasure und Begehren werden hier auf komplexe Weise aufgerufen. Auch ihre neuesten Arbeiten bleiben diesen Themen treu. Im einminütigen Trailer der 28. Lesbisch Schwulen Filmtage Hamburg International Queer Film Festival schafft Kirchenbauer nach eigener Beschreibung einen
Please Relax Now »Gegenentwurf zu feierlichen und normierenden Bildern queerer Gemeinschaft, indem ein isolierender Vorgang dargestellt wird, welcher oft mit Scham behaftet ist. Mit Hilfe der Wärmebildtechnik wird eine Arbeitsroutine verhandelt, die durch ihre Effekte als eine einvernehmlich freudfreie Prozedur« (Kirchenbauer 2017b),
die aber nicht eindeutig auszumachen ist. Vielleicht handelt es sich um Rasieren oder Epilieren. Für die Welcome Address der Ausstellung »Odarodle – An Imaginary their_ story of naturepeoples, 1535-2017« im Schwulen Museum Berlin hat sie mit Kurator Ashkan Sepahvand wieder das Thema des Zurückblickens aufgenommen. Sie behandeln gemeinsam das Konzept der Ausstellung, das sich zur Aufgabe macht, Museumsgeschichte mit einem postkolonialen Blick aufzurollen und dabei Normen nicht nur kritisch sichtbar zu machen, sondern zu bearbeiten.
P lease rela x now : I nterventionen in B lick-, B egehrens und W ahrnehmungsstruk turen Aus der Vielzahl der Arbeiten Kirchenbauers möchte ich mich im Folgenden auf ihre Videoarbeit Please Relax Now aus dem Jahr 2014 beschränken. Diese Arbeit bietet eine sehr gute Folie, die Kirchenbauers Interventionen in Blick-, Begehrens- und Wahrnehmungsstrukturen sowie Aufführungskontexte sichtbar werden lassen. Das Einkanal-Video ist 12 Minuten lang, es beginnt mit einer ca. 15-sekündigen Weißblende, bevor die Protagonist*in erscheint (siehe Abbildung 1). In direkter Ansprache in englischer Sprache – die nachfolgend in voller Länge abgedruckt ist – spricht die Protagonist*in die Zuschauenden direkt an. Das Video ist ästhetisch sehr einfach aufgebaut. In einer einzigen statischen Kamera position sehen wir die Protagonist*in, die sich selbst als Künstler*in des Videos mit dem Namen ›Vika‹ vorstellt. In Nahaufnahme wird die Protagonist*in vor schwarzem Hintergrund von Kopf bis zum angeschnittenen unbekleideten Schultergürtel gezeigt (siehe Abbildungen 2 und 3). Einziges weiteres visuelles Stilmittel ist die Überblendung: Als die Protagonist*in zur Mitte des Videos vorschlägt, die Beleuchtung zu verdunkeln, um es den Zuschauer*innen angenehmer zu machen, kommt eine Schwarzblende zum Einsatz (Abbildungen 4 und 5), die dann gegen Ende des Stücks zu Weiß wechselt. Es sind weder eine Titelsequenz noch Endcredits vorhanden.
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Abbildung 1: Nach einer anfänglichen Weißblende erscheint das Bild der Protagonist*in. (Videostill, Vika Kirchenbauer, Please Relax Now, 2014. Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin.)
Abbildung 2: Der Augenaufschlag der Protagonist*in Vika macht das feminin wirkende Makeup sichtbar. (Videostill, Vika Kirchenbauer, Please Relax Now, 2014. Mit freund licher Genehmigung der Künstlerin.)
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Abbildung 3: Mit einem frechen Lächeln lädt die Protagonist*in zur (Selbst-)Befriedigung als Teil dieser Kunstperformance ein. (Videostill, Vika Kirchenbauer, Please Relax Now, 2014. Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin.)
Abbildung 4: Die Protagonist*in kündigt an, das Licht für die Zuschauer*innen zu dämpfen. (Videostill, Vika Kirchenbauer, Please Relax Now, 2014. Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin.)
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Abbildung 5: Das Bild wird in der Hälfte des Videos zu Schwarz überblendet. (Videostill, Vika Kirchenbauer, Please Relax Now, 2014. Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin.)
Der Text ist sehr ausgefeilt und spricht verschiedene Affekte und Diskurse an. Die Tatsache, dass für knapp die Hälfte des Videos nur ein rein schwarzes oder weißes Bild zu sehen ist, verstärkt noch die Bedeutung des Textes, der über weite Strecken der Schwarz-/Weißblende aus dem Off zu hören ist. Die Videostills (Abbildungen 1 bis 5) und der Text, der im Soundtrack des Videos zu hören ist, sollen einen Eindruck von der Arbeit liefern, um über das Werk sprechen zu können2: Dear Spectator, Hello. I’m really happy you are here! It’s a pleasure to see you! As we are now together in this situation, let me just very briefly introduce myself: I am the artist behind this little video. You can call me Vika. Okay, now that we’ve established that: why don’t we assume our positions just for a moment? Please relax now, dear spectator! Make yourself comfortable... the seat you sit in is designed for you to feel just right. Lean back! This is going to be a memorable event, orchestrated by me for you. Believe me, you will never forget this. Isn’t this great? Never to forget, forever to remember... With your com2 | An dieser Stelle bedanke ich mich sehr bei Vika Kirchenbauer für die Genehmigung des Abdrucks der Videostills und des Textes.
Please Relax Now mitment, dear spectator, you will be transformed during this piece. Let me just guide you a little first! The deal is: This is an immersive piece. And only through your thorough collaboration will it unfold in its full richness. Only you can give life to the artwork. You will not be a spectator anymore. You’ll become much more than that. You’ll become an integral part of the piece. You will in fact become everything! You will become the artwork! Whenever I walk through a museum, a gallery or any sort of art space, really – some things might be interesting or thought-provoking, sure -, but primarily, I have to admit, I just get very horny. It just really turns me on: do you know what I mean? Can you relate to that experience? Often all I can think of is sex. Whatever I look at really. On numerous occasions I went to the toilet to masturbate. But I’d often wished this sort of reaction was possible within the exhibition space. Well, the reason why I’m talking about this here is because this is your chance to do just that. This space has been created for exactly this to happen. Masturbation! Isn’t this special? Have you ever come in an exhibition space? Or in a cinema even? No? Now you can just do it. It’s part of the piece, no one will look at you strangely… You have absolute permission to touch yourself now. For your comfort I’ve made completely sure that there is no institutional staff in this room policing you in any way. You must understand that we can’t be ›democratic‹ about obtaining our liberty, we must just take it!! And that starts with desire… I installed this territory for you and you are not merely a visitor, you are welcome here, this could be home for you, if you want to! If it’s helpful to you, you can think of this as a space that we’ve just privatised, it’s simply no longer public. So you can just wank off in it. I guarantee you: it is absolutely fine… you little naughty beast. If you still perceive this space to be public, that’s great, too. No problem. Because together we are right now establishing a new law: a new code of liberty. Together let us introduce something that breaks with all the conceptions that have been here before. Isn’t that exciting? I think it’s better if I lower the light for you now, you’ll see it’ll be much better then. [screen goes to black] It’s much nicer, isn’t it? It’s nice to take a break from all those images for a moment, right? And you deserve that! A break… an island for liberty and desire that can be your home… You do deserve this. Don’t be too modest. Okay. Are you ready? This is your opportunity to unleash your desire, your hidden fantasies. Please, let me be your slutty guide! Gently place your hands on your genitals and feel them. Whatever name you find for them, just feel them. Don’t be shy, darling. The room is dark. No one’s watching you. This is an intimate moment with yourself.
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Skadi Loist You do have your hands on your genitals, right? I knew it. Excellent! Touch them, caress them, stroke them softly and close your eyes now. Imagine me sucking your pussy or licking your dick. What does that feel like? Does it feel good? Imagine you’re pressing yourself against my little ass… Hmm, that feels good! Thank you. Don’t stop. Keep it going. Enjoy your little sexy activity. Are you having a good time? I bet you are! Fuck me, I am at your service. Are you getting there? Oh, I bet you are. I like having my face in your crotch. And I want you to come. I want to hear you lose control. Hmm, the art piece is almost ready, isn’t it? Just rub it a bit more. And let’s come to the final step. Oh, almost, you’re almost there…! And now: exhibit yourself to the others! [screen goes to white] Thank you.
Visuelle Medien funktionieren darüber, dass sie Blickstrukturen auf bauen und die Zuschauer*innen so in eine Narration, eine Handlung, eine Inter aktion hineinziehen. Das funktioniert bei Gemälden z. B. über Zentralperspektive, die den Betrachter*innen eine bestimmte Position zuweist, von der aus sie sehen und in Relation zum Bild gesetzt werden. Im klassischen, narrativen Film wird diese Verschaltung über die Kameraführung hergestellt, wobei der Blick von dem der Kameraposition bestimmt wird. So werden die Zuschauenden entweder externe Betrachter*innen einer Szene, oder sie befinden sich dichter an einer Person, wenn die Kamera z. B. in einem Over-Shoulder-Shot relativ dicht am Geschehen platziert ist, oder sie werden in die handelnden Personen versetzt, wenn die Kamera und damit der Zuschauer*innenblick über die Schuss-Gegenschuss-Technik in ihre Position geschaltet werden und ihren Blick übernehmen. All diese Filmtechniken bilden bestimmte Konventionen, die, so hat die frühe feministische Filmtheorie – prominent vertreten mit Laura Mulvey (1975/1994) – argumentiert, auch immer schon geschlechtlich und hierarchisch gedacht sind. Eines der grundlegenden Konzepte Mulveys ist die geschlechtliche narrative Unterscheidung von ›männlichem Blick‹, wenn in alten Spielfilmen der männliche Held die agierende, handlungstreibende Figur ist und ›Spektakel‹, wenn die weibliche Protagonistin dargestellt und über das ›Angesehen-werden (wollen)‹ bestimmt ist. Kirchenbauer interveniert in diese tradierten Formen der Etablierung von Blickstrukturen: Auf den ersten Blick lässt sich diese Struktur vermeintlich
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auch im vorliegenden Video finden. Es ist eine Protagonist*in zu sehen, die nur einen bestimmten Ausschnitt zulässt und so scheinbar zur (sexuellen) Konsumption bereit steht. Auf den zweiten Blick funktioniert die geschlechtsspezifische Einordnung und die Subjektpositionierung der Zuschauenden in heteronormativen Blick-, Identifikations- und Begehrensstrukturen hingegen schon nicht mehr so einfach. Zunächst ist nur eine einzige Kameraeinstellung vorhanden. Die Zuschauenden sind frontal gegenüber der Protagonist*in platziert. Die Protagonist*in blickt sie an, spricht sie an und lädt sie auf der auditiven Ebene ein, teilzunehmen. Die Protagonist*in ist zwar über Makeup und bestimmte Kopf- und Körperhaltungen feminin markiert (siehe Abbildung 2). Aber darüber hinaus sind keine eindeutigen Marker auszumachen. Der Körper ist androgyn inszeniert. Der Bildausschnitt, der am Schulteransatz endet, lässt keine Rückschlüsse durch biologistisch codierte Merkmale wie Brustansatz etc. zu. Die Stimme weist eine gewisse Weichheit, aber auch Brüchigkeit auf und verweigert sich ebenfalls einer klaren binären Einordnung.3 Der Einsatz der englischen Sprache unterstützt bewusst die Verschleierung einer binären Einordnung wie sie in der deutschen Grammatik automatisch einsetzen würde. So lernen wir Vika, »the artist behind this little video«, kennen und nicht den Künstler/die Künstlerin. Die geschlechtliche/gegenderte Positionierung des Gegenübers ist ambivalent. Und auch die Subjektpositionierung der Zuschauenden in Relation zu ihr gerät so potentiell in Bewegung. Das Filmdispositiv mit seinen narrativen Strukturen und Blickkonstellationen wird in der Form der Ansprache gebrochen. Die sogenannte vierte Wand wird durchbrochen. Die direkte Ansprache der Zuschauer*innen macht einen performativen Raum auf. Wie im Theater oder bei einer Performance werden die Zuschauenden direkt involviert und können sich nicht, wie sonst im narrativen Film üblich, einfach zurücklehnen und konsumieren. Es geht um Partizipation und Involvierung: »This is an immersive piece. And only through your thorough collaboration will it unfold into its full richness. Only you can give life to the artwork. You will not be the spectator anymore. You will be much more than that. You will become an integral part of the piece. You will in fact become everything. You will become the artwork.«
Aber nicht nur auf der Ebene von tradierten Blickstrukturen produzieren Kirchen bauers Arbeiten Interventionen; sie interveniert auch in tradierte, heteronormativ codierte Begehrensstukturen. In Please Relax Now werden die Zuschauenden über die direkte Ansprache nicht nur zur Teilnahme eingela3 | Bei der Vorführung des Videos bei verschiedenen Seminarveranstaltungen wurde die Stimme von verschiedenen Zuschauenden je nach eigenem Empfinden als maskulin oder feminin eingeordnet und so die Person und die Lesart unterschiedlich gegendert.
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den, sie sollen vielmehr eine tragende Rolle übernehmen als unerlässlicher Teil des Kunstwerks. Ihnen wird versprochen, dass sie schließlich selbst zum Kunstwerk werden. Die Einladung erfolgt in Form einer persuasiven Ansprache. Die Sprache verweist auf die Logiken der »Erlebnisgesellschaft« (Schulze 1992) oder der Marketing- und Werbesprache (vgl. Schönbach 2016). Dabei wird die Ansprache, wie in einer ironischen Wendung des sex sells, sexuell aufgeladen. Die Kunst/Künstler*in-Figur Vika flirtet sprachlich und körperlich mit den Zuschauenden. Sie vollführt einen aufreizenden Augenaufschlag, leckt sich über die Lippen, lächelt verschmitzt (siehe Abbildung 3). Zu diesen visuellen Codes kommt eine Form des dirty talk hinzu, und im weiteren Verlauf vor allem auch akustische Codes. Sie spricht von sexueller Lust, die (für sie) vom Kunstkontext ausgeht, und lädt ganz unverhohlen zur sexuellen (Selbst-)Befriedigung ein. Die Form der visuellen Darstellung bleibt dabei aber eher subtil. Es werden keine stereotypen Bilder blanker Brüste und suggestive Berührungen gezeigt, wie sie in der nächtlichen Fernsehwerbung für die Sex-Chats oder DatingPlattformen zu sehen sind. Vielmehr wird eine Verbindung und Begehrensstruktur zwischen der Protagonist*in/Künstler*in und dem Zuschauersubjekt aufgebaut: »Together we are establishing right now a new law, a new code of liberty.« Zudem wird die scheinbar eingeschränkte weibliche Position, wie sie nach der alten feministischen filmtheoretischen Lesart angelegt wäre, von einer machtvollen, bedeutungsgebenden Position der Künstler*in gekreuzt. Wir sehen kein Spektakel, keine Person, die angesehen werden will/soll, sondern werden direkt von der Protagonist*in/Künstler*in angesprochen. In einer weiteren Diskursebene wird hier die Logik des Kunstbetriebs aufgerufen, die traditionell mit der Idee des Künstlergenies, der Künstler*in/the artist als bedeutungsgebender Figur, besetzt ist. Diese Person lädt die Zuschauenden ein, erklärt ihnen die Spielregeln und leitet sie an: »Let me just guide you a little first!« Die Persona, die Künstler*in stellt sich selbst mit Namen (Vika) vor. Durch das Benutzen desselben Vornamens wie den der realen Filmemacherin findet eine Überlagerung von Protagonist*in/Figur und realer Person statt. Hier wird ein spielerischer Umgang, ein Überdrehen der Kontexte deutlich. Auch jenseits einer solchen Lesart wird der Kunstbetrieb humoristisch ins Lustvolle gewendet. Die uneindeutige Figur/Person Vika würde im Alltagsleben in der Regel eher eine prekäre, gefährdete Position innehaben, durch Blicke taxiert und als uneindeutige ›andere‹ Person ausgegrenzt und gemaßregelt. Diese ambige Stellung wird hier durch die machtvolle Position von the artist in eine sichere Zone versetzt, in einen Bereich, in dem das Zurückblicken möglich wird. Hier werden die Blicke von Personen einer sozialen Gruppe oder sozialen Hierarchie bzw. in bestimmten institutionellen Settings herausgefordert,
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die im Alltag eine solche Irritation nicht gewohnt sind. Auf diese Weise wird ein potentiell gewaltvolles Angeblickt-Werden, eine gewaltvolle Blickstruktur spielerisch gedreht: Es wird eine Position in Anspruch genommen, die infrage stellt, wer wen anschaut, wer wen anschauen, einordnen und Anerkennung zuteilwerden lassen darf oder als ›Anders‹ und ausgestoßen definieren kann. An dieser Stelle lässt sich das Motiv von Glissants Opazität in Kirchenbauers Arbeit wiederfinden. Die Protagonist*in fordert das Recht ein, opak und damit nicht eindeutig erkennbar zu sein, aber dennoch als vollwertiges Gegenüber wahrgenommen zu werden. Die potentielle Irritation wird durch persuasive Sprache überbrückt. Das von der Künstler*in artikulierte Begehren wird umgelenkt, die Zuschauer*innen werden eingeladen, sich einzulassen, selbst zu berühren und imaginär in Kontakt mit der Künstler*in zu treten. Diese Einladung und Anrufung ist wiederum ambivalent. Denn wie bereits angesprochen bewirkt die uneindeutige Positionierung der Protagonist*in, dass auch die potentielle Verbindung zu ihr nicht klar heteronormativ strukturiert ist, sie also nicht (nur) als weibliche Figur für den männlichen Blick und ein männliches Begehren entworfen wird. Vielmehr werden hier verschiedenste Positionen angeboten. Zum einen werden mindestens zwei Positionen in einem Spektrum markiert »Imagine me sucking your pussy or licking your dick«. In dieser Zuschreibung von weiblich oder männlich konnotierten Subjektpositionen wird auch schon eine bestimmte Anordnung invertiert: Anstelle der gängigen Phrasen »suck your dick« und »lick your pussy«, werden Handlung und Körperteil getauscht. Gleichzeitig wird eine radikale Offenheit für Identitäts- und Begehrensstrukturen in der eigenen Verortung eingeräumt: »place your hands on your genitals and feel them, whatever name you find for them, just feel them«. Auch werden verschiedene Positionierungen suggeriert bzw. angeboten, z. B. indem penetrativer Sex vs. Oralsex suggeriert wird: »Imagine you pressing against my little ass.« Und »I like having my face in your crotch.« Darüber hinaus stellt sich die Frage: wer gibt/wer nimmt, und was? Schließlich setzt eine weitere Form der Intervention ein, die Kirchenbauer in Aufführungs- und Rezeptionsstrukturen ihrer Arbeiten anlegt: Please Relax Now wird in verschiedenen Kontexten vorgeführt. Der Aufführungsort und die Anordnung des Videos in einem bestimmten medialen Dispositiv beeinflussen maßgeblich seinen Rezeptionskontext, die assoziative Rahmung und die Wahrnehmung. Das Video lief auf verschiedenen Filmfestivals, in Galerien und Ausstellungen. Die technische Form entspricht dem Einsatz im Kunstkontext. Beginn und Ende sind durch eine Weißblende gefasst, so dass unproblematisch eine Loop-Vorführung möglich ist. Entgegen Film-/Kino-Konventionen sind weder Titelkarte oder Titelsequenz noch Credits vorhanden. Die verschiedenen Aufführungsorte sind entscheidend für den Rezeptionsprozess. Das Video wird oft als Installation in einer sog. Black Box bzw.
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einem Black Cube gezeigt, also in einem abgedunkelten Raum innerhalb einer Galerie. Es handelt sich also um ein bestimmtes Dispositiv als »die Summe all dessen, was das Verhältnis des Subjekts zu dem jeweiligen Medium regelt« (Thomas 2014: 26). Ein Dispositiv ist filmtheoretisch gesprochen eine spezielle räumliche und strukturelle Anordnung von Zuschauenden/Rezipierenden und Werk (vgl. Aaron 2007; Baudry 1999). Im Dispositiv Black Box entfaltet der Inhalt des Monologs andere Bezüge als beispielsweise im Kino. Wie bereits aufgezeigt, lässt der Kunstkontext Assoziationen von Selbstbefriedigung, Überheblichkeit, elitärer Kunst, kommerziellen Logiken etc. zu. Noch wichtiger ist aber die Anordnung für die Form der Rezeption. In einer Black Box ist ein Bildschirm in einem dunklen Raum platziert. Je nach Länge des Werkes und Zielsetzung der Anordnung kann sich entweder eine Bestuhlung im Raum befinden – zum Teil lassen sich Stühle oder Sitzmöbel verrücken – oder der Raum ist nicht bestuhlt und das Publikum begegnet dem Bildschirm stehend. Eine Black Box, in der das Video im Loop läuft, ermöglicht den Zuschauenden besondere Bewegungsweisen: Sie sind an keine Anfangs- oder Endzeiten gebunden, sie können somit in der Regel zu jeder Zeit den Raum betreten und verlassen. Treten sie beispielsweise in den Raum in der Mitte des Videos ein, so ist die Dramaturgie unter Umständen gebrochen und durch die Anordnung besteht eine geringere Bindung zum Inhalt. Die Zuschauer*innen können den Raum aber auch eher verlassen, wenn der Inhalt unklar oder unangenehm ist. Für die Anwesenden bleibt im dunklen Raum unklar, wer noch dabei ist. Anders verhält es sich im klassischen Kinodispositiv – oder auch im Vorlesungssaal. Dort gibt es jeweils eine feste Bestuhlung, die zur Leinwand angeordnet ist. Die Zuschauenden sind sowohl räumlich immobilisiert als auch zeitlich fixiert, sie können den Raum nicht einfach unbemerkt verlassen, wenn es unangenehm oder peinlich wird – und die Anwesenden nehmen die Zuschauer*innen neben sich wahr. In beiden Kontexten bildet Please Relax Now eine Intervention in die räumlichen Dispositive und die dazu gehörigen Wahrnehmungskontexte. Es wird performativ ein neuer Wahrnehmungsraum geschaffen: »For your comfort, I have made completely sure that there is no institutional staff in this room policing you in any way.« Die Ungestörtheit wird betont. Sie soll einen sicheren Raum schaffen, in dem die Zuschauenden ihre Umgebung vergessen und sich auf das Werk und die intime Verbindung zur Künstler*in einlassen können. Dieser Ansatz wird verstärkt, wenn die Protagonist*in das Licht dimmt und damit die Umwelt explizit ausblenden will. Mit dem Übergang zur Schwarzblende endet auch die Sichtbarkeit, das Sehen und Gesehen-Werden. Die Protagonist*in auf der Leinwand ist nicht mehr zu sehen. Die Zuschauenden sitzen alle im Dunkeln und sehen – im Idealfall – auch ihre potentiellen Nachbar*innen nicht mehr. Es findet eine Vereinzelung und Privatisierung statt – »For your comfort I have made com-
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pletely sure that there is no institutional staff in this room policing you in any way. […] installed this territory for you. […] If it’s helpful to you, you can think of this as a space that we have just privatized« – und eine Fokussierung auf die eigene Wahrnehmung, auf die Beziehung zur Protagonist*in, die nun nur über akustische Cues die Wahrnehmung lenkt: »It’s nice to take a break from all those images for a moment, right? And you deserve that! A break… an island for liberty and desire that can be your home… You do deserve this. Don’t be too modest.« Nachdem die Künstler*in die Zuschauer*innen akustisch auf ein sexuelles Abenteuer mitgenommen hat, wird dieser dunkle, private Raum jäh gebrochen. Die Weißblende taucht den Rezeptionsraum in grelles Licht und gibt die Zuschauer*innen zu sehen. Der Fokus liegt weiterhin auf dem Akt der Rezeption und Wahrnehmung. Please Relax Now arbeitet mit einer ultimativen Umkehrung der Blickstruktur und Begehrenslenkung. Die Blickrichtung dreht sich von einer der Leinwand zugewandten über eine nach innen gekehrten Position hin zu einer Offenlegung zum Höhepunkt »Now exhibit yourself to the others!«. Im Zustand der größten Erregung und der größten Verletzlichkeit – wenn wahrscheinlich nicht real so doch zumindest simuliert, oder partizipativ in der Wahrnehmung hergestellt und akustisch von der Protagonist*in gespiegelt, gibt es eine abrupte visuelle Irritation: die Weißblende. Der ganze Saal ist plötzlich beleuchtet. Das Publikum wird aus der Anonymität der Dunkelheit gerissen und dazu aufgerufen, die Anwesenheit anderer wahrzunehmen, ja, darüber hinaus auch noch aktiv mit ihnen in Kontakt zu treten. Hier bildet sich auch ein Umschlagpunkt von der Arbeit an Blickregimen (über akustische Cues) hin zu einer Arbeit an Rezeptionsräumen und Kollektivität. Es wird wieder eine kollektive Rezeptionsposition angeboten, nachdem zuvor eine Individualisierung und Privatisierung suggeriert und hervorgehoben wurde. Das Video lädt im Verlauf die Zuschauenden ein, sich zu positionieren und diese Angebote reichen von passivem Konsummieren oder aktiviertem Zuschauen über eine Komplizenschaft bis zu einer erweiterten offenen Position im öffentlichen Raum. Am Ende wird die Möglichkeit einer kollektivierenden Zusammenführung verschiedener Zuschauer*innen hergestellt. Eine gemeinsame Rezeption, ein gemeinsamer Raum, gemeinsame Öffentlichkeit und damit auch ein gemeinsames Begehren. Ein utopischer Ort. »Together let us introduce something that breaks with all the conceptions that have been here before. Isn’t it exciting?« Dies ließe sich als queeren Moment, als Nutzbarmachung von Pleasure und Begehren eines Darkrooms für eine neue Struktur und Gemeinschaft lesen.4 Damit wird eine Reflexion über Handlungsräume mit dem Video losgetreten. 4 | Dies verstanden im Sinne eines Anschlusses an den politischen Aufruf in Rosa von Praunheims Agitprop-Film Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation
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Was für mich in eine positiv-utopische Lesart mündet, kann allerdings genauso gut in Irritation oder Aggression umschlagen. Hier zeigt sich die Bedeutung des Rezeptionskontextes. Dabei stellt sich die Frage: Wer sitzt dort, mit welcher Motivation? Wer wird adressiert und für wen bietet dieses Video Einstiegspunkte? Ein Publikum aus dem Kunstkontext, ein Publikum geschult an Experimentalfilmen oder bei queeren Filmfestivals wird sicher mit anderen Erwartungen und Haltungen an ein solches Werk herantreten als Studierende im Rahmen einer Ringvorlesung. Während für die einen ein thematischer Rahmen innerhalb eines kuratierten Festivalprogramms, Identifikationsmomente anhand erkannter subkultureller Codes oder künstlerische Neugier im Galeriekontext den Zugang herstellen können (vgl. Loist 2014, 2015), mag sich bei anderen primär ein Gefühl von Übergriffigkeit, Überforderung und unfreiwilligem Ausgesetztsein gegenüber einer als pornographisch gedeuteten Ansprache einstellen. Die durch das helle Erleuchten des Zuschauer*innenraums erzwungene Interaktion mit den anderen anwesenden Zuschauer*innen führt eine Bewusstwerdung der Unterscheidung von Öffentlichkeit/Privatheit und seines Unterlaufens herbei. Dies führt – ähnlich wie bei gemeinschaftlichen Rezeptionskontexten mit anderen Zuschauenden etwa im Kino – zu einer Verstärkung von Reaktionen und Emotionen, sei es Lachen, Angst oder Scham (vgl. Hanich 2012, 2014). Auch dieser Verstärkungseffekt der kollektiven Wahrnehmung ist besonders relevant für die Art des Videos, das einerseits mit Pleasure und Freude, andererseits auch mit Scham und Tabubrüchen arbeitet. Denn wo Personen mit Affinität zur Kunstszene oder queeren Räumen eine Analogie zum Darkroom begeistert positiv aufnehmen können, mögen andere das Aufrufen von pornographischen Kontexten im öffentlichen Raum als klaren Tabubruch sehen. In jedem Fall schafft Vika Kirchenbauer mit Please Relax Now eine vielschichtige Intervention in Repräsentations- und Rezeptionsregime, auch wenn die Zuschauer*innen am Ende sicher nicht relaxed, vielleicht aber erhellt aus der Vorstellung gehen. In vielen ihrer Arbeiten, allgemein und insbesondere in Please Relax Now, schafft Vika Kirchenbauer Interventionen in Blick- und Rezeptionsregime. Auf der Ebene des Blickes und des Sichtbaren geschieht dies u. a. mit Brüchen wie der direkten Ansprache. Unter Einsatz des Konzepts der Opazität lotet Kirchenbauer die Möglichkeiten einer geschlechtlich uneindeutigen, verführenden Darstellung der Protagonist*in aus. Durch den Eins-/Weißblenden verweigert sie über weite Strecken des Videos das Zu-Sehen-Geben ganz und betont eine Introspektion und Reflexion der eigenen Rezeption, Position und Verstrickung auf Seiten der Zuschauenden. Dabei macht sie sich die von der Instiin der er lebt (1971), der die deutsche Schwulenbewegung maßgeblich mitgeprägt hat: »Raus aus den Toiletten, rein in die Straßen! Freiheit für die Schwulen«.
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tution Kunstbetrieb bereitgestellte und bedeutungsgebend, machtvoll ausgestattete Positionierung der Künstler*in zunutze. Mit diesen Ansätzen wendet Kirchenbauer Formen des Sehens, Gesehen-Werdens und Zu-Sehen-Gebens und hinterfragt damit auch die Positionen von Sichtbarkeit und Anerkennung.
L iter atur Aaron, Michele (2007): Spectatorship. The Power of Looking On. London: Wallflower. Baudry, Jean-Louis (1999): Das Dispositiv. Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks. In: Claus Pias/Joseph Vogl/Lorenz Engell/Oliver Fahle/Britta Neitzel (Hg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard. Stuttgart: DVA, S. 381-404. Glissant, Édouard (1997a): For Opacity. In: Poetics of Relation. Übers. Betsy Wing. Ann Arbor, MI: University of Michigan Press, S. 189-194. Glissant, Édouard (1997b): Transparency and Opacity. In: Poetics of Relation. Übers. Betsy Wing. Ann Arbor, MI: University of Michigan Press, S. 111120. Hanich, Julian (2014): Watching a Film with Others. Towards a Theory of Collective Spectatorship. In: Screen, 55. Jg., H. 3, S. 338-359. Hanich, Julian (2012): Die Publikumserfahrung. Eine Phänomenologie der affektiven Zuschauerbeziehungen im Kino. In: Sandra Poppe (Hg.): Emotionen in Literatur und Film. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 171-191. Kirchenbauer, Vika (2017a): Welcome Address. Artist statement. Online unter: http://www.vk0ms.com/welcome_address.html (25.09.2017). Kirchenbauer, Vika (2017b): Trailer der 28. Lesbisch Schwulen Filmtage Hamburg International Queer Film Festival. Online unter: https://vimeo. com/235140150 (25.09.2017). Kirchenbauer, Vika (2016/17): Cool for You. Musik, Performance, Video. Exzerpte online unter: http://www.vk0ms.com/cool_for_you.html (30.08.2017). Kirchenbauer, Vika (2016): Akte des Zurückblickens | Acts of Looking Back. In: Internationales Frauenfilmfestival Dortmund|Köln. Festivalkatalog. Köln, S. 78-86. Kirchenbauer, Vika (2015a): You are Boring! 3D-Videoinstallation, 14 min. Kirchenbauer, Vika (2015b): You Are Boring! Artist statement. Online unter: http://www.vk0ms.com/you_are_boring.html (30.08.2017). Kirchenbauer, Vika (2014a): Please Relax Now. Einkanal-Video, 12 min. Kirchenbauer, Vika (2014b): Please Relax Now. Artist Statement. Online unter: http://www.vk0ms.com/please_relax_now.html (30.08.2017).
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Angaben zu den Autor_innen und Herausgeber_innen
Brink, Lina, M.A., ist Stipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung und Doktorandin am Institut für Medienwissenschaften an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Seit 2014/15 promoviert sie dort im Rahmen der Nachwuchsforscherinnengruppe »Transkulturelle Öffentlichkeiten und Solidarisierung in gegenwärtigen Medienkulturen« am Lehrstuhl von Prof. Dr. Tanja Thomas. Sie setzt sich in ihrem Projekt »Normen der Anerkennung – Repräsentationen protestierender Frauen« (Arbeitstitel) mit dem deutschen Pressediskurs über Proteste in Ägypten zwischen 2011 und 2014 auseinander. Drüeke, Ricarda, Dr. phil., ist Assistenzprofessorin am Fachbereich Kommunikationswissenschaft der Universität Salzburg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Öffentlichkeitstheorien, Medien und Partizipation sowie Gender Media Studies. Eickelmann, Jennifer, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie an der TU Dortmund und wurde am Institut für Medienwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum promoviert. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören poststrukturalistische Diskurs- und Subjektivationstheorien, Gender Media Studies, Medien- und Kulturtheorien des Digitalen sowie kultursoziologisch orientierte Ungleichheitsforschung und Museumsforschung. In aktuellen Forschungsprojekten beschäftigt sie sich u.a. mit der Scharnierfunktion des Museumspersonals bei der Vermittlung von Kultur. Falkenhayner, Nicole, PD Dr. phil., ist Akademische Rätin am Englischen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der britischen Kulturwissenschaft und Media Studies. Sie hat zur Repräsentationsgeschichte britischer Muslime, zu Kulturen und Ästhetik der Überwachung in Großbritannien, sowie zu fiktionalen Verarbeitungen des backlash gegen den Multikulturalismus und ästhetischer Ideologie des Viktorianismus veröffentlicht. Ihre aktuelle Forschung beschäf-
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tigt sich im Rahmen des Sonderforschungsbereichs »Helden, Heroisierungen, Heroismen« mit Heroisierungen in britischen Fernsehserien der Gegenwart. Figge, Maja, Dr. phil., ist Kultur- und Medienwissenschaftlerin und forscht als Postdoktorandin am DFG-Graduiertenkolleg »Das Wissen der Künste« der Universität der Künste Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Gender, Race und Medien, Critical Whiteness Studies, Postkoloniale Theorie, Film, Geschichte und Erinnerung, politische Gefühle, deutsches und transnationales Kino. Derzeit arbeitet sie an einer Studie zur Verwobenheit filmischer Modernismen anhand der transnationalen Filmbeziehungen zwischen Westeuropa und Indien (1947-1975). Fischer, Gabriele, Prof. Dr. phil., lehrt Soziologie an der Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege der Hochschule Esslingen. Ihre Lehr- und Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Soziale Ungleichheit, Anerkennungstheorie, Arbeit, gender und queer studies sowie Biographieforschung. In ihrer aktuellen Forschung beschäftigt sie sich mit Erinnern, Anerkennung und Gedenkpraktiken im Kontext rechter Gewalt. Freudenschuss, Magdalena, Dr. phil., ist Politologin und promovierte Soziologin und arbeitet als Trainerin in der politischen Bildungsarbeit. 2013 erschien ihre Dissertation »Prekär ist wer? Der Prekarisierungsdiskurs als Arena sozialer Kämpfe«. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind feministische Theorie, Prekarisierungsforschung, Diskursforschung, Verletzbarkeiten sowie Gesellschaftstheorien im Zusammenhang mit Digitalisierung. Grebe, Anna, Dr. phil., hat nach ihrem Studium der Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften an der Universität Konstanz mit einer medienwissen schaftlichen Arbeit zur fotografischen Repräsentation von Behinderung promoviert. Neben Lehraufträgen in Wien, Linz und Valparaíso arbeitet sie als politische Referentin und Medienberaterin und lebt in Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u.a. Disability Studies, Fototheorie, Visual Culture und Partizipationsforschung. Ihre Dissertation über »Fotografische Normalisierung. Behinderung im Fotoarchiv der Stiftung Liebenau« ist 2016 bei transcript erschienen. Grittmann, Elke, Prof. Dr. phil., ist Professorin für Medien und Gesellschaft an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Visuelle Kommunikation/Visuelle Kultur, (Foto-)Journalismus, Medien und Migration, Transnationale und Politische Kommunikation, Gender Media Studies und Journalistische Erinnerungskultur sowie Bildanalyse methoden. Derzeit forscht sie zu Mediendiskursen über Flucht_Migration.
Angaben zu den Autor_innen und Herausgeber_innen
Loist, Skadi, Dr. phil., ist Wissenschaftliche* Mitarbeiter*in und Projekt leiter*in am Institut für Medienforschung der Universität Rostock. Zu den Forschungsschwerpunkten gehören Filmfestivals, globale Filmzirkulation, Media Industry Studies, Diversität und Gendergerechtigkeit in Film- und Medienindustrien, queeres Kino sowie Gender/Queer Media Studies. Michaelsen, Anja, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medienwissenschaft, Ruhr-Universität Bochum. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Gender, Race und Medien, Queer Theory, Affect Studies/ Public Feelings. Ihre Dissertationsschrift Kippbilder der Familie. Ambivalenz und Sentimentalität moderner Adoption in Film und Video ist 2017 bei transcript erschienen. Derzeit arbeitet sie an einer Studie zu queeren und postmigrantischen Strategien des Erinnerns in aktueller Videokunst. Stehling, Miriam, Dr. phil., ist Akademische Rätin a.Z. am Institut für Medien wissenschaft der Eberhard Karls Universität Tübingen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Medienrezeption und -aneignung, Medien und Partizipation, Medienglobalisierung und Transkulturalität, global gehandelte Fernsehformate, Reality TV, sowie Cultural und Gender Studies. In ihrer Habilitation beschäftigt sie sich mit transmedialen Bedeutungen von Protest und Partizipation. Stieglitz, Olaf, Dr. phil., ist Privatdozent am Historischen Institut/Abteilung für Nordamerikanische Geschichte der Universität zu Köln. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Sozial- und Kulturgeschichte der USA sowie die Geschlechter-, Körper- und Sportgeschichte. Sein laufendes Buchprojekt trägt den Arbeitstitel »Modernity in Motion – Visualizing Athletic Bodies, 1890s-1930s«. Thiele, Martina, Dr. disc. pol., ist Professorin am Fachbereich Kommunikations wissenschaft der Universität Salzburg. Sie ist Sprecherin der Doctorate School geschlecht_transkulturell und Vorsitzende des Interdisziplinären Expert_innenrats Gender Studies. Zu ihren Schwerpunkten in Forschung und Lehre zählen Kommunikationstheorien und -geschichte, Öffentlichkeiten, Stereo typen- und Vorurteilsforschung. Thomas, Tanja, Prof. Dr. phil., ist Professorin für Medienwissenschaft mit Schwerpunkt Transformationen der Medienkultur an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören (Kritische) Medien-, Kommunikations- und Kulturtheorien, Mediensoziologie, Feministische Medien- und Kommunikationswissenschaft; Cultural (Media) Studies, Transkulturelle Medienkommunikation und Medienforschung. In aktuellen
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Forschungsprojekten beschäftigt sie sich mit Partizipation und Doing Memory in postmigrantischen Gesellschaften. Wolff, Kaya de, M.A., ist seit 2014/15 Stipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung und Doktorandin am Institut für Medienwissenschaften an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Sie promoviert im Rahmen der Nachwuchsforscherinnengruppe »Transkulturelle Öffentlichkeiten und Solidarisierung in gegenwärtigen Medienkulturen« am Lehrstuhl von Prof. Dr. Tanja Thomas. In ihrem Dissertationsprojekt »Post-/koloniale Erinnerungskämpfe in der gegen wärtigen Medienkultur« (Arbeitstitel) untersucht sie die aktuellen Auseinandersetzungen um die Anerkennung des Herero- und Nama-Genozids in der deutschen Presse-Berichterstattung.
Medienwissenschaft Florian Sprenger, Christoph Engemann (Hg.)
Internet der Dinge Über smarte Objekte, intelligente Umgebungen und die technische Durchdringung der Welt 2015, 400 S., kart., zahlr. Abb. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3046-6 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3046-0 EPUB: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-7328-3046-6
Gundolf S. Freyermuth
Games | Game Design | Game Studies Eine Einführung 2015, 280 S., kart. 17,99 E (DE), 978-3-8376-2982-8 E-Book PDF: 15,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-2982-2
Gundolf S. Freyermuth
Games | Game Design | Game Studies An Introduction (With Contributions by André Czauderna, Nathalie Pozzi and Eric Zimmerman) 2015, 296 p., pb. 19,99 E (DE), 978-3-8376-2983-5 E-Book PDF: 17,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-2983-9
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Medienwissenschaft Thilo Hagendorff
Das Ende der Informationskontrolle Zur Nutzung digitaler Medien jenseits von Privatheit und Datenschutz Januar 2017, 264 S., kart. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3777-9 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3777-3
Carolin Wiedemann
Kritische Kollektivität im Netz Anonymous, Facebook und die Kraft der Affizierung in der Kontrollgesellschaft 2016, 280 S., kart. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3403-7 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3403-1
Ramón Reichert, Annika Richterich, Pablo Abend, Mathias Fuchs, Karin Wenz (eds.)
Digital Culture & Society (DCS) Vol. 2, Issue 2/2016 — Politics of Big Data 2016, 154 p., pb. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3211-8 E-Book PDF: 29,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3211-2
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