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German Pages [350] Year 2013
Wiener Forum für Theologie und Religionswissenschaft
Band 8
Herausgegeben im Auftrag der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien von Karl Baier und Christian Danz
Die Bände des Wiener Forums für Theologie und Religionswissenschaft sind peer-reviewed.
Thomas Krobath / Andrea Lehner-Hartmann / Regina Polak (Hg.)
Anerkennung in religiösen Bildungsprozessen Interdisziplinäre Perspektiven
Diskursschrift für Martin Jäggle
V& R unipress Vienna University Press
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0202-1 ISBN 978-3-8470-0202-4 (E-Book) Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur, der Erzdiözese Wien, des Erzbischöflichen Amtes für Unterricht und Erziehung und der Ordensgemeinschaften Österreichs. 2013, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
Pluralitätsfähige Anerkennung in multireligiösen und interreligiösen Kontexten Stefan Altmeyer Anerkennung zuerst! Theologische Orientierungen für das interreligiöse Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
Johann Reikerstorfer Respekt ist nicht alles. – Zur Dialektik pluralitätsfähiger Anerkennungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25
Hans Gerald Hödl Im Dialog mit den Anderen. Religionswissenschaft im Feld . . . . . . . .
37
Walter Homolka Vom Umgang mit der Differenz – Das „kollektive Gedächtnis“ des Judentums und die Herausforderung religiöser Pluralität . . . . . . . . .
47
Ednan Aslan Religiöse Pluralität als Herausforderung an den islamischen Religionsunterricht in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
53
Vasiliki Mitropoulou Intercultural Model for the Teaching of Religion (with reference to Greece) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
65
6
Inhalt
Silvia Habringer-Hagleitner Mit mehr als Worten. Zur Kultur gegenseitiger Anerkennung in elementaren Bildungseinrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
79
Aspekte identitätsbezogener Anerkennung Ludmila Muchov Anders oder gleich sein? Problem der Identität und die „Kultur der gegenseitigen Anerkennung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
93
Helga Kohler-Spiegel Gesehen werden – gebunden sein. Ein psychologischer Blick auf eine „Kultur der Anerkennung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Helene Miklas / Heribert Bastel Erinnerungslernen – ein Diskurs (nicht nur mit Martin Jäggle) . . . . . . 115
Religionssensible Lernprozesse im Kontext Schule Robert Jackson Religiöse Bildung im Spiegel der europäischen Politik . . . . . . . . . . . 129 Bert Roebben „Einander in der Fremdheit begleiten“. Möglichkeiten und Grenzen einer Spiritual Learning Community . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Andrea Lehner-Hartmann Dem Widerständigen Raum geben. (Religiöses) Lernen jenseits gesellschaftlicher Einpassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Matthias Scharer Lebendige Kommunikation als „Um und Auf“ des Schulgeschehens und differenzsensibler Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Robert Schelander Sensibilität für Pluralität. Pluralität als Herausforderung von Schule und Religionsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Monika Prettenthaler / Wolfgang Weirer Religiös sensibel – konfessionell gebunden – dialogfähig
. . . . . . . . . 197
Inhalt
7
Wolfgang Schönig Es soll jeder irgendwo mit der Religion glücklich werden, die er hat – Denkwürdigkeiten zu Religion und Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Edda Strutzenberger-Reiter Religion in der Schulentwicklung – Perspektiven von ReligionslehrerInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
Grundlegende Anfragen und Impulse zu Anerkennung Ines M. Breinbauer Die große Versuchung der Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Christa Schnabl Anerkennung – Leistung – Gerechtigkeit. Ethische Eckpunkte des Bildungssystems in Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Raoul Kneucker „Menschenantlitz“. Über Gleichheit und Intoleranz . . . . . . . . . . . . 257 Norbert Mette Religiöse Erziehung und Bildung im Kontext der „Geldkultur“ . . . . . . 277 Thomas Krobath Rechtfertigung als Anerkennung. Von der Aktualisierung der Rechtfertigungslehre im Kampf um Anerkennung in der Leistungsgesellschaft zu einer Erneuerung ihres Anliegens in Aufnahme des Anerkennungsdiskurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Regina Polak Anerkennung: Eine Herausforderung für Kirche und Pastoral. Ein Versuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Publikationen von Martin Jäggle zur Thematik . . . . . . . . . . . . . . . 345 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349
Vorwort
Die Bandbreite und Vielzahl der Publikationen der gegenwärtigen Diskurse zum Thema Anerkennung bedeuten als solche noch nicht, dass die damit verbundenen Fragestellungen und Herausforderung auch nur annähernd ausgeschöpft wären. Besonders in den theologischen Disziplinen beginnen die einschlägigen Auseinandersetzungen nach ersten der Aktualität geschuldeten und eher oberflächlichen Rezeptionen erst mit dem Ausloten der vielfältigen Bezüge und damit einhergehender Rekonstruktionsversuche theologischer und fächerübergreifender Denkzusammenhänge sowie deren handlungstheoretischen und praktischen Dimensionen. Dazu möchte der vorliegende Sammelband einen Beitrag leisten. Dieser bezieht sich sowohl auf theologische und religionspädagogische Diskurse, als auch in multidisziplinärer Absicht auf das auf interdisziplinäre Zugänge angewiesene Thema und umkreist es mit philosophischen, pädagogischen, religionswissenschaftlichen und juristischen Reflexionen. Im Zentrum des Konzepts dieser „Diskursschrift“ steht die interdisziplinäre Auseinandersetzung mit exemplarischen Publikationen aus einem bemerkenswerten Projekt an der Universität Wien. Die religionspädagogischen Disziplinen der beiden theologischen Fakultäten haben in ihrer langjährigen Beschäftigung mit Fragen der Schulentwicklung und in Kooperation mit dem Kompetenzzentrum Schulentwicklung an der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien/Krems Konzepte entwickelt und Projekte durchgeführt, die auf eine Kultur der Anerkennung in der Schule abzielen.1 Spiritus rector dieses Unterfangens, das auch zur Initiative „lebens.werte.schule“ geführt hat, ist der bekannte Religionspädagoge Martin Jäggle, der mit dem Studienjahr 2013 seine Tätigkeit als Ordinarius an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien beendet. Dies nehmen wir zum Anlass, die von ihm induzierte religionspädagogische Forschung zu Anerkennung mit einer wissenschaftlichen Diskus1 Zuletzt gebündelt in: Jäggle, Martin/Krobath, Thomas/Stockinger, Helena/Schelander, Robert (Hg.): Kultur der Anerkennung. Würde – Gerechtigkeit – Partizipation für Schulkultur, Schulentwicklung und Religion, Hohengehren 2013.
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Vorwort
sion kritisch zu würdigen und so dem Diskurs um Anerkennung weiterführende Impulse zu eröffnen. Eine Diskursschrift, die in der Form innovativer akademischer Reflexion den Denkansätzen von Martin Jäggle intellektuelle und geistige Anerkennung zollt, scheint uns seinem wissenschaftlichen Eros und Ethos angemessen, würdigt seine Anregungen für Forschung und Lehre und kann, so hoffen wir, – nicht nur ihn – zur Weiterführung und Vertiefung des Anerkennungsdiskurses inspirieren. Im Postulat einer „Kultur der Anerkennung“, dem Martin Jäggle und seine MitarbeiterInnen in den letzten Jahren in unterschiedlichster Form (Publikationen, internationale Konferenzen und Projekte, Lehre, etc. ) eine konkrete Gestalt gegeben haben, bündeln sich beispielhaft differenztheoretische, dialogische, interreligiöse, politische, theologische, pädagogische und schulische Denkwege. Diese bilden den inhaltlichen Fokus der Diskursschrift. Die mitwirkenden AutorInnen haben sich dazu in Anknüpfung an drei ihnen vorgelegte Texte aus dem Forschungsbereich „Kultur der Anerkennung in der Schule“2 jeweils einen inhaltlichen, kontextuellen, fachlichen oder/und methodischen Zugang gewählt, über den sie (mehr oder weniger) explizit die Auseinandersetzung mit Martin Jäggles Denkansätzen zu einer „Kultur der Anerkennung“ aufnehmen: konstruktiv anknüpfend und weiterführend, in Widerrede zu bestimmten Positionen, aus anderen Perspektiven neu ausleuchtend, auf bestimmte Handlungsfelder hin explizierend, etc. Wir danken den AutorInnen des vorliegenden Buches, dass Sie sich auf diese Vorgabe zur Auseinandersetzung eingelassen haben. Die Beiträge beziehen sich auf weitere für den Ansatz einer Kultur der Anerkennung zentrale und sich wechselseitig bedingende und erschließende Begriffe wie Pluralität, Differenz, Fremdheit, Identität, Gerechtigkeit, interreligiöses Lernen, religionssensible Bildung, Kommunikation und Dialog. Kein wie immer geartetes Organisationsprinzip könnte den Beiträgen aufgrund der inneren Reichhaltigkeit ihrer Reflexionsdimensionen gerecht werden. Gleichwohl obliegt den HerausgeberInnen die Aufgabe einer Gliederung der Beiträge mit allen damit verbundenen impliziten Akzentsetzungen und Markierungen. Eine formale Reihung der Beiträge nach fachlicher Zugehörigkeit würde sich nahe legen. Wir haben uns 2 Es handelt sich um die folgenden drei Texte, die die theoretischen Leitbegriffe und -gedanken der Thematik exemplarisch und zugleich markant hervorheben: 1. Wie nimmt Schule kulturelle und religiöse Differenz wahr? In: Porzelt, Burkard/Güth, Ralph (Hg.): Empirische Religionspädagogik. Grundlagen – Zugänge – Aktuelle Projekte, Münster 2000, 119 – 138. 2. Religiöse Pluralität als Herausforderung für Schulentwicklung (2009), in: Jäggle, Martin/ Krobath, Thomas/Schelander, Robert (Hg.): lebens.werte.schule. Religiöse Dimensionen in Schulkultur und Schulentwicklung, Wien 2009, 265 – 280. 3. Jäggle, Martin/Krobath, Thomas: Bildung, Gerechtigkeit und Würde: Kultur der Anerkennung, in: Amt und Gemeinde H.1/ 2010, 51 – 63.
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Vorwort
für den schwierigeren Zugang entschieden, die Beiträge nach jenen anerkennungstheoretischen Gesichtspunkten zu gruppieren, die in ihnen jeweils besonders deutlich werden. Zugleich haben wir sie solchen Themensträngen zugeordnet, die zentrale Aspekte aus den Projekten einer Kultur der Anerkennung in geeigneter Weise hervortreten lassen. Die Verantwortung für das mehr oder weniger gelungene Erkennbarmachen der Beiträge für ihre VerfasserInnen und für die LeserInnen bleibt bei den HerausgeberInnen. Wir hoffen, mit dieser Diskursschrift neuen und wichtigen Anregungen für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der „Kultur der Anerkennung“ Raum zu geben und betrachten dies als jene Form der akademischen Würdigung, die Martin Jäggles wissenschaftlichem Wirken am besten gerecht wird. Wien, im September 2013 Thomas Krobath
Andrea Lehner-Hartmann
Regina Polak
Pluralitätsfähige Anerkennung in multireligiösen und interreligiösen Kontexten
Stefan Altmeyer
Anerkennung zuerst! Theologische Orientierungen für das interreligiöse Lernen
Ein wenig profilierter Schlüsselbegriff ? Derzeit wohl völlig unstrittig ist die Einschätzung, dass die Situation religiöser Pluralität zu einer bildungstheoretischen und -praktischen Schlüsselfrage geworden ist. Seit sich in den Ländern Mitteleuropas im Zuge verstärkter Migrationsbewegungen und deren gesellschaftlicher Folgen eine geschärfte Aufmerksamkeit für die Vielfalt von Religionen und Kulturen entwickelt hat, kommt in diesem Kontext dem interreligiösen Lernen eine zentrale Rolle zu, es gilt als Schlüsselbegriff religiöser Bildung heute – und das nicht nur im Umfeld religionspädagogischer Fachdiskurse1, sondern auch zunehmend in der gesellschaftlichen und politischen Öffentlichkeit2. Allerdings lässt die aktuell zu verzeichnende Fülle praktischer wie theoretischer Publikationen bislang keinen Konsens hinsichtlich der vielen Fragen erkennen, die sich mit diesem Schlüsselbegriff verbinden. So kommt Martin Jäggle in einer Zusammenschau religionsdidaktischer Ansätze zum interreligiösen Lernen zu einem kritischen Urteil: „So ist die Karriere des Begriffs flach, er selbst wenig profiliert und seine zunehmend häufige Verwendung im religionspädagogischen Diskurs nicht verbunden mit einem Fachkonsens über seine Semantik. Es scheint sich eher um eine Metapher für alle Bemühungen zu handeln, angesichts der Realität der Pluralität von Religionen – in welcher Form auch immer – angemessen zu handeln. Dabei wird er ebenso als – neuer – Name für eine Didaktik der Religionen verwendet wie auch als neue Form des religiösen Lernens.“3
Auch gut fünf Jahre später bestätigen aktuelle Einschätzungen dieses ernüchternde Urteil4, das sich durch eine Analyse des Fachdiskurses sogar noch weiter differenzieren lässt. Analysiert man etwa die in den Religionspädagogischen 1 2 3 4
Vgl. Leimgruber 2007.; Tautz 2007 Vgl. exempl. Endres 2010 Jäggle 1/2007, 20 Vgl. die Beiträge von Friedrich Schweitzer und Monika Tautz in: Altmeyer/Bitter/Theis 2013
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Stefan Altmeyer
Beiträgen seit 1999 publizierten Aufsätze auf die Semantik des Lexems „interreligiös“, so zeigt sich in der Tat ein wenig profilierter Sprachgebrauch. Die Übersicht in Tabelle 1 zeigt die Begriffe, die mit dem Suchwort in Verbindung stehen.5 Es fällt auf, dass interreligiöses Lernen mit den Schlüsselbegriffen des gegenwärtigen pädagogischen und bildungspolitischen Diskurses („Standard“, „Kompetenz“) zusammen gebraucht wird, was zwar dessen Aktualität unterstreicht, nicht jedoch eine Qualifizierung in der Sache erkennen lässt. Auch „Verständigung“ signalisiert wohl vor allem das Anliegen, die plurale Realität der „Religionen“ ernst zu nehmen. Einzig „Dialog“ und „Begegnung“ weisen in Richtung eines begründeten Handlungsprofils. Allerdings lassen sich keine Hinweise auf die Herkunft dieser Kategorien erkennen, insbesondere fällt ins Auge, dass jegliche theologische Bezüge fehlen. Wort lernen dialog standard weltreligionen islam verständigung modelle lernprozesse begegnung bildung kompetenz religion/en erziehung
N
Dice-Koeffizient
161 11 6 6 6 5 5 6 6 16 7 23 7
0,154 0,044 0,043 0,042 0,04 0,032 0,028 0,028 0,025 0,023 0,023 0,015 0,015
Tab. 1: Mit dem Adjektiv „interreligiös“ signifikant verknüpfte Begriffe (Korpus RPäB 1999 – 2012)
Man wird also Jäggle zustimmen müssen, wenn er – in Rückgriff auf Hans Zirker – vom interreligiösen Lernen als einem theologisch traditionslosen Begriff spricht, dem über didaktische Modelle hinaus auch hinsichtlich seiner theologischen Begründung Aufmerksamkeit gebührt.6 Diese Problemanzeige möchte ich im Folgenden aufgreifen mit dem Ziel, dem derzeit hoch produktiven Diskurs um „Modelle interreligiöser „Lernprozesse“ einige theologische Orientierungen zur Seite zu stellen. 5 Konkret handelt es sich um die Kollokationspartner (nur Begriffe, Dice>0,01) des Lemmas ,interreligiös‘ (N=228) in einem Wortumfeld von 40 Wörtern. Zum methodischen Vorgehen einer solchen Sprachuntersuchung am Beispiel der religionspädagogischen Fachsprache vgl. Altmeyer 2011 6 Vgl. Jäggle 1/2007, 20. mit Bez. a. Zirker 1998, 51 (aktualisiert online unter : http://duepublico. uni-duisburg-essen.de/servlets/DocumentServlet?id=11131, Zugriff am 17. 12. 2012)
Anerkennung zuerst! Theologische Orientierungen für das interreligiöse Lernen
1.
17
Eine neue theologische Hermeneutik religiöser Pluralität
Mit „Dialog“ und „Begegnung“ sind die Kategorien benannt, die derzeit das Feld des interreligiösen Lernens markieren, das sich in seiner Hauptform, so Stephan Leimgruber, „in dialogischen Begegnungen“7 ereignet. Allerdings zieht dieses „dialogische Begegnungslernen“8 nicht nur eine Reihe von praktischen, sondern auch theoretischen Fragen nach sich. Interreligiöse Lernwege, welche dialogisch sein und daher alle beteiligten Religionen ernst nehmen wollen, setzen eine Reflexion der theologischen Bedingungen voraus, „die ein solches Lernen aus dem Selbstverständnis der jeweiligen Religion möglich, ja notwendig machen.“9 Aus christlicher Sicht gilt es folglich, „den Standpunkt zu klären, mit dem Christinnen und Christen in einen Dialog mit Angehörigen nichtchristlicher Religionen treten können“10. Entsprechende theologische Diskurse scheinen derzeit allerdings in einer Sackgasse zu stecken. Die klassischen religionstheologischen Modelle aus Exklusivismus, Inklusivismus und Pluralismus geraten jeweils in Aporien, denn entweder weichen sie der Wahrheitsfrage aus bzw. führen dazu, zentrale theologische Inhalte zu revidieren (wie in den verschiedenen Varianten des Pluralismus), oder es gelingt ihnen nicht, die unauflösliche Andersheit Andersgläubiger wirklich wertschätzend für deren wie für den eigenen Glauben zu denken (so im Fall von Exklusivismus und Inklusivismus). Diese theoretischen Probleme haben ihre Konsequenzen bis hinein in die Inhalte und Formen interreligiösen Lernens, insofern nämlich die entsprechende modelltheoretische Option häufig auch den religionspädagogischen Zugang bewusst oder unbewusst steuert.11 Um Auswege aus diesem Dilemma bemüht sich seit einigen Jahren die sog. Komparative Theologie, die im deutschsprachigen Raum vor allem von Klaus von Stosch vertreten wird.12 Hier wird versucht, Prämissen, Zielvorstellungen und Methoden eines interreligiösen Dialogs zu begründen, mit denen sich die Widersprüche des modelltheoretischen Denkens vermeiden lassen. Der entscheidende Perspektivenwechsel besteht in einem „Übergang von einer apriorischen Beurteilung religiöser Vielfalt zu ihrer aposteriorischen Würdigung.“13 Theologie verortet sich hier nicht im Vorfeld des interreligiösen Dialogs im 7 8 9 10 11
Leimgruber 2005,128 Ebd. 131 Tautz 2007 [Anm. 1], 80; vgl. Leimgruber 2007 [Anm. 1], 28 Bongardt 22009, 174 Vgl. Jäggle 2007 [Anm. 3], der die modelltheoretischen Spuren der Theologie der Religionen in den didaktischen Ansätzen zum interreligiösen Lernen verlässlich aufspürt. 12 Vgl. von Stosch, Komparative Theologie, 2012. Im Blick auf den Religionsunterricht, nicht zuletzt auch seine organisatorische Form: ders., Pluralität der Religionen, 2012 13 Von Stosch 2012 [Anm. 12], 227
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Stefan Altmeyer
Sinne einer binnenlogischen und globalen Klärung der Dialogvoraussetzungen, sondern versteht sich als Theologie, die „aus dem Dialog heraus“14 entsteht. Dialog ist dann nicht primär ein materiales Ziel von Theologie als vielmehr ihre eigene Vollzugsform. Damit plädiert der komparative Ansatz im Kern für eine neue dialogische Haltung des Theologisierens, die auch für die Frage eines dialogisch orientierten interreligiösen Lernens relevant ist. Diese Dialoghaltung lässt sich durch einige fundamentale Prämissen charakterisieren:15 Zentral ist zunächst die konsequente „Einnahme der Teilnehmerperspektive“16 in dem Sinn, dass Theologie sich als Dialogteilnehmerin versteht, weniger als Beobachterin; Theologie angesichts der Bedingungen pluraler Lebenswelten ist in sich schon als dialogisches Projekt zu entfalten. Die zweite Prämisse liegt in der Anerkennung der „Wahrheitsfähigkeit“17 des Anderen ohne zu fordern, die Wahrheitsfrage a priori zu klären; Theologie angesichts der Pluralität der Denkvoraussetzungen und Sprachspiele erwächst aus einer Haltung doktrinaler bzw. epistemischer Demut bei gleichzeitiger konfessorischer Verbundenheit mit der eigenen Tradition.18 Drittens ist die Anerkennung dessen zu fordern, „dass nur die andere Religion wirklich für sich selbst sprechen“19 kann; Theologie als Dialog räumt dem Selbstverständnis des Anderen in dessen Selbstartikulation möglichst breiten Raum ein, weil sie um die Grenzen des Fremdverstehens weiß. Schließlich fordert Komparative Theologie eine konsequente Prozesshaftigkeit und Offenheit des theologischen Dialogs, so dass die Lebensformen der fremden Religion ernsthaft die eigenen beeinflussen, ja sogar verändern können und Urteile über die Unvereinbarkeit von Glaubenswegen und theologischen Positionen so lange wie möglich offen gehalten werden.20 Möchte man diese Haltung einer Theologie aus dem interreligiösen Dialog heraus zusammenfassen, so lässt sie sich vielleicht in einer kurzen Formel auf den Punkt bringen: Anerkennung zuerst! Komparative Theologie als neue Hermeneutik religiöser Pluralität fordert dazu auf, nicht mehr in den Kategorien von verschiedenen, in sich geschlossenen Theologien zu denken, die im Dialog aufeinandertreffen. Dieses Konzept scheitert daran, dass es die/den Anderen immer schon denken will, bevor es ihr/ihm begegnet, dass es Religion immer als System vor Augen hat statt als kontextuelle Lebensform. Stattdessen gilt es der/ dem Anderen in echter Offenheit zu begegnen und sie/ihn selbst zu Wort 14 15 16 17 18 19 20
Ebd. 212 Vgl. ebd. 155 – 168; vgl. a. Tietz 2009, bes. 317 – 322 Winkler 2009 [Anm. 15] 79 Von Stosch 2012 [Anm. 12], 168 Vgl. ebd. 156 f Tietz 2009 [Anm. 15], 321; vgl. von Stosch 2012 [Anm. 12], 206 Vgl. ebd. 158ff
Anerkennung zuerst! Theologische Orientierungen für das interreligiöse Lernen
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kommen zu lassen, und zwar nicht aus taktischen oder rhetorischen, sondern aus genuin theologischen Gründen. In den Worten von Francis X. Clooney, dem in Harvard lehrenden Vordenker Komparativer Theologie: „Comparative theology, however labyrinthine, can lead us back to our core commitments; the wider learning need not undercut faith’s particularity. It has been my particular commitment to Jesus Christ that energizes most deeply my vision of comparative theological practice as a disclosure of the widest meaning in the most particular instance. If my comparative theology leads anywhere, it should lead (back) to Christ.“21
Der Primat der Anerkennung im interreligiösen Dialog begründet sich hier mit einem christologischen Argument, wie es sich nicht zuletzt das Zweite Vatikanische Konzil zu eigen gemacht hat, wo es heißt, dass Christus „sich in seiner Menschwerdung gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt“ hat (GS 22). Die genuin biblische, insbesondere prophetische Überzeugung, dass sich Gottes Präsenz in der Welt im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen realisiert, findet ihren Höhepunkt in Jesus Christus. Daher ist christlich gesehen der Ort der Gotteserfahrung und der Gottesliebe die Begegnung mit dem Mitmenschen, und zwar mit jedem, unabhängig auch von seiner Religion. Die „Andersheit des anderen [kann gerade] eine Spur der Andersheit Gottes sein“22. Damit verbieten sich aber aus theologischen Gründen alle simplen dualistischen Orientierungen nach dem Muster „Kirche-Welt“, „innen-außen“, „wir-die Anderen“ etc., und die Lebens- und Denkform des Christlichen ist als grundlegend dialogische zu verstehen.23 Die alles entscheidende Frage „Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig oder obdachlos oder nackt oder krank oder im Gefängnis gesehen (…)?“ (Mt 25,44) ist aus christlicher Perspektive auch die Grundfrage des interreligiösen Dialogs und Lernens: Sie impliziert die bedingungslose Grundhaltung der Offenheit gegenüber der/dem Anderen, ohne sie/ ihn für die eigene religiöse Suche instrumentalisieren zu wollen.24 In der berühmten Formel aus Gaudium et Spes (GS 1) hat sie das Konzil zur Kurzformel christlicher Existenz ausgedeutet. Mit „Anerkennung zuerst“ kommt also das theologisch begründete Anliegen zum Ausdruck, das „Eintreten für die eigene Wahrheit und die Ansprüche des anderen“25 miteinander zu verknüpfen und von der konfessionellen Theologie des Dialogs der Religionen zum Dialog der konfessionellen Theologien ver21 Francis X. Clooney 2010, 107 22 Von Stosch 2012 [Anm. 12], 149 23 Zu „Dialog“ als Grundbegriff des Konzils und Wesensbeschreibung der Kirche vgl. Siebenrock 2006 24 Vgl. von Stosch 2012 [Anm. 12], 152 f 25 Ebd. 155
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Stefan Altmeyer
schiedener Religionen zu gelangen. Um diesen Anspruch konkret umsetzen, hat die Komparative Theologie eine eigene Methode entwickelt und anhand zahlreicher Beispiele durchgeführt; folgende methodische Grundsätze lassen sich hervorheben.26 1) Zuwendung zum Einzelfall (Mikrologische Vorgehensweise): Theologischer Dialog der Religionen scheitert, wenn Religionen als ganze in den Blick genommen werden. Stattdessen ist methodisch zu fordern, konkret thematisch anhand ausgewählter Details vorzugehen; 2) Problemorientierung: Die mikrologische Themenfindung soll sich an Fragen orientieren, die sich aus dem tatsächlichen Zusammenleben, den gesellschaftlichen Bedingungen und kontextuell relevanten Problemstellungen ergeben; 3) Vom Eigenen ausgehen und den Blick des Anderen auf das Eigene theologisch einbeziehen: Damit ist gemeint, eine Balance aus Selbst- und Fremdverstehen der Dialogteilnehmer zu realisieren und der Stimme des jeweils Anderen auch für die eigene Selbstvergewisserung Relevanz zuzutrauen; 4) Bezugnahme auf religiöse Praxis, ohne die weder religiöse Überzeugungen richtig verstanden noch der interreligiöse Dialog seinem konkreten „Wahrheitstest“ unterzogen werden kann; 5) Instanz des Dritten als feste Integration einer Überprüfung von außen im Dialogprozess, die nicht durch ein abstraktes Prinzip (etwa „autonome Vernunft“), sondern durch einen konkreten Dritten realisiert werden soll. Die hier beschriebene Grundhaltung der Komparativen Theologie und ihre Methoden lassen erkennen, dass sie selbst wohl kaum als ein abgrenzbares Segment der Theologie, sondern als „eine Querschnittsaufgabe aller theologischen Fächer“27 verstanden werden möchte. Damit liegt ein umfassender Neuansatz vor, der Prämissen, Kriterien und Methoden bereitstellt, auch das interreligiöse Lernen im Religionsunterricht neu zu denken.
2.
Interreligiöses Lernen und „Anerkennung zuerst!“
Die Forderung nach Anerkennung ist im religionsdidaktischen Diskurs nicht neu. Wie Jäggle schon im Jahr 2000 analysiert, durchzieht sie vielmehr „alle Konzepte interkulturellen Lernens, ohne zu begründen, wie dies zu denken, zu verstehen oder möglich wäre.“28 Die Komparative Theologie, so meine These, 26 Vgl. ebd. 193 – 215 27 Ebd. 317 28 Jäggle 2000, 119
Anerkennung zuerst! Theologische Orientierungen für das interreligiöse Lernen
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formuliert eine theologische Antwort auf diese Defizite.29 Ihre Prämissen bieten ein begründetes Modell einer Hermeneutik religiöser Pluralität in Schule und Religionsunterricht, aus dem sich Ziele interreligiöser Lern- und Bildungsprozesse entwickeln lassen. Ihre methodischen Grundsätze stellen begründete Wege zur Verfügung, fremde Religionen auch für interreligiöse Lern- und Bildungsprozesse zu erschließen. Anhand einiger exemplarischer Punkte möchte ich diese These abschließend konkretisieren. – Mikrologisches Vorgehen: Der komparativ-theologischen Einsicht, dass sich eine Religion nicht an sich oder als Ganzes verstehen lässt, ist auch religionsdidaktisch Rechnung zu tragen, denn jeder religionsdidaktische Versuch, eine fremde Religion auf vermeintlich zentrale Lehren oder Praktiken zu „elementarisieren“, ist zum Scheitern verurteilt. Entgegen einer Didaktik der Weltreligionen im engen Sinn, nach der – bis in aktuelle Religionsbücher hinein – nichtchristliche Religionen als ganze in geschlossenen Kapiteln „behandelt“ werden, ist eine konsequente thematische Orientierung zu fordern. Der vergleichende Blick auf eine fremde Religion sollte möglichst immer dann zum Tragen kommen, wenn er aus der Sache heraus motiviert ist. Es wäre sogar denkbar, den Blick „von/nach außen“ zu einem religionsdidaktischen Prinzip zu machen, das religiöses Lernen im Religionsunterricht durchgängig prägt.30 – Selbst- und Fremdverstehen: Ist interreligiöses Lernen thematisch orientiert und kontinuierlich angelegt, wird umso deutlicher, dass es nicht einer harmonisierenden Logik verpflichtet ist. Wer lernt, „die Welt und auch sich selbst mit der Brille der anderen sehen zu können“31, entdeckt neue Gemeinsamkeiten und bleibende Unterschiede. Allein schon die Einsicht, dass verschiedene Perspektiven im interreligiösen Vergleich niemals deckungsgleich sind, ist zwar ein anspruchsvolles aber lohnenswertes Bildungsziel. Wie etwa kommentiert ein jüdischer Gelehrter eine Evangelienperikope; wie erlebt eine muslimische Mitschülerin die Klassenweihnachtsfeier ; zu welchem Ergebnis käme eine Diskussion über die Legalisierung der „Homo-Ehe“ im katholischen, evangelischen oder islamischen Religionsunterricht derselben Schule, und mit welchen Begründungen? Solche Fremdwahrnehmungen provozieren die Frage nach dem Eigenen und lassen, grundsätzlicher noch, die Fremdheit dessen entdecken, was andere als mein Eigenes erkennen und benennen. Gerade die Spannung der Perspektiven ist didaktisch fruchtbar zu machen,
29 Bildungstheoretische Begründungen und Konkretisierungen im Sinne einer ,Pädagogik der Anerkennung‘ wären hier zu ergänzen, müssen aber aus Platzgründen unterbleiben. 30 Vgl. Jäggle 6/2002; Tautz 2007 [Anm. 1], 150 31 Jäggle 2002 [Anm. 30], 408
22
Stefan Altmeyer
um der romantisierenden Verführung zu wehren, sich nur „der Faszination für das Fremde hinzugeben“32. – Problemorientierung: Ergänzend zur sachlogisch begründeten Platzierung interreligiöser Fragestellungen, verweist die komparative Methode zu Recht auf eine Anbindung an Erfahrung. Gerade diese liegt im Blick auf Schule und Religionsunterricht auf der Hand: sei es aufgrund interreligiös gemischter Lerngruppen oder medial hochpräsenter Themen (z. B. „Beschneidung“), sei es bei Schulverpflegung („vegetarisch oder Nicht-Schwein“) oder Sportunterricht. Wo in Schulen mit manifesten Erscheinungsformen religiöser Pluralität und Differenz noch immer nach den Handlungsmustern „Verdrängen“ oder „Delegieren“ umgegangen wird, wird Anerkennung verweigert.33 Sie wären umgekehrt gezielt als mögliche Ausgangspunkte und Aufgaben interreligiöser Lernwege (nicht nur!) im Religionsunterricht aufzunehmen. – Bezug auf religiöse Praxis: Da allerdings in heutigen Lebens- und Schulwelten das, was als „Problem“ religiöser Pluralität wahrnehmbar wird, sehr häufig mit fremd empfundener religiös-kultureller Praxis zu tun hat (Gebet, Fasten, Kleidung etc.), ist auch didaktisch der Blick auf die praktische Dimension religiöser Überzeugungen gefordert. Was insgesamt eine religionsdidaktische Selbstverständlichkeit ist (oder sein sollte), wäre auch im Bereich interreligiösen Lernens konsequent umzusetzen, wobei sich insbesondere Formen ästhetischen Lernens als Zugang anbieten.34 Diesen exemplarischen Konkretisierungen liegt eine theologisch begründete Hermeneutik religiöser Pluralität zugrunde. Entscheidend ist dabei weniger, dass Pluralität als wichtiger Faktor schulischer Bildung wahrgenommen, sondern wie sie in entsprechenden Bildungskonzepten integriert wird. Interreligiöses Lernen aus der Haltung „Anerkennung zuerst“ möchte über die bisherigen hermeneutischen Paradigmen hinausgehen: Eine „Defizithypothese“ („Es gibt Pluralität, aber durch pädagogische Maßnahmen lässt sie sich im Sinne eines Ausgleichs von Defiziten in ein Gesamtbild integrieren.“) verweigert die allen religiösen Orientierungen geschuldete Wertschätzung, aber auch eine exklusive „Differenzhypothese“35 („Pluralität ist durch Bildung nicht aufzuheben, sondern es gilt, das Fremde in seiner Andersheit wahrnehmen zu lernen.“) greift zu kurz: So wichtig es ist, die Verschiedenheit der religiösen Wege wahrzunehmen und anzuerkennen, so darf dies doch nicht die einzige Hermeneutik sein. Offenheit für das Verschiedene und das Gemeinsame sollten sich ergänzen. 32 33 34 35
Von Stosch 2012 [Anm. 12], 250 Vgl. Jäggle 2000, 133ff Vgl. Theis 2010; Tautz 2007 [Anm. 1], 153 f Beide Begriffe: Allemann-Ghionda 1997, 117
Anerkennung zuerst! Theologische Orientierungen für das interreligiöse Lernen
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Zu leicht werden Schüler/innen sonst in die Rolle von „Repräsentanten“ von Gruppen (Muslime, Christen etc.) gedrängt, so dass sie als Subjekte mit der Aufgabe je individueller Identitätsbildung aus dem Blick geraten. Interreligiöses Lernen theologisch ernst genommen, will jede binäre Logik überwinden, ihm geht es im Kern um ein „Verständnis von Religion jenseits der Kategorien ,eigene Religion‘ und ,fremde Religion‘“36.
Literatur Allemann-Ghionda, Cristina: Interkulturelle Bildung, in: ZP.B 36/1997, 107 – 149 Altmeyer, Stefan: „Deine Sprache verrät dich.“ Schlüsselbegriffe der Religionspädagogik im Spiegel ihrer Wissenschaftssprache, in: RPB 66/2011, 31 – 46 Bongardt, Michael: Einführung in die Theologie der Offenbarung, Darmstadt 22009 Clooney, Francis X.: Comparative theology. Deep learning across religious borders, Malden, MA 2010 Endres, Jürgen: Das Konzept des „interkulturellen Dialogs“ bei Europarat, Europäischer Union und UNESCO: eine Bestandsaufnahme, hg. v. Staatssekretariat für Bildung und Forschung SBF, Bern 2010 Jäggle, Martin: Wie nimmt Schule kulturelle und religiöse Differenz wahr?, in: Porzelt Burhard/Güth, Ralph (Hg.): Empirische Religionspädagogik. Grundlagen – Zugänge – Aktuelle Projekte, Münster 2000, 119 – 138 Ders., Interreligiöses Lernen als Unterrichtsprinzip, in: KatBl 127 (6/2002) 406 – 409 Ders., Interreligiöses Lernen – römisch-katholisch, in: VF 52 (1/2007) 19 – 31 Ders., Die Schule – ein Ort interreligiöser Verständigung?, in: Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur (Hg.), „… das ginge eigentlich die ganze Welt etwas an!“ Interreligiöser Dialog an österreichischen Schulen, Wien 2008, 5 – 7 Leimgruber, Stephan: Katholische Perspektiven zum interreligiösen Lernen: Konziliar und inklusivistisch, in: Schreiner, Peter/Sieg, Ursula/Elsenbast, Volker (Hg.), Handbuch Interreligiöses Lernen, Gütersloh 2005, 126 – 133 Ders., Interreligiöses Lernen. Neuausgabe, München 2007 Schweitzer, Friedrich: Die Religion des interreligiösen Lernens. Neue Antinomien einer religionspädagogisch-wissenschaftstheoretischen Grundfrage, in: Altmeyer, Stefan/ Bitter, Gottfried/Theis, Joachim (Hg.): Gretchenfragen religiöser Bildung, Stuttgart 2013 Siebenrock, Roman A. u. a.: Identität und Dialog. Die Gestalt des Gotteszeugnisses heute, in: HThK Vat. II, Bd. 5 (2006) 311 – 379 von Stosch, Klaus: Dialog der Religionen im Religionsunterricht. Plädoyer für eine religionspädagogische Neubesinnung, in: Mette, Norbert/Sellmann, Matthias(Hg.): Religionsunterricht als Ort der Theologie, Freiburg 2012, 325 – 337 36 Martin Jäggle, Die Schule – ein Ort interreligiöser Verständigung?, in: Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur (Hg.), „… das ginge eigentlich die ganze Welt etwas an!“ Interreligiöser Dialog an österreichischen Schulen, Wien 2008, 5 – 7, 6
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Stefan Altmeyer
Ders., Komparative Theologie als Wegweiser in der Welt der Religionen, Paderborn 2012 Tautz, Monika: Interreligiöses Lernen im Religionsunterricht. Menschen und Ethos im Islam und Christentum, Stuttgart 2007 Dies., Welche Rolle spielt die Theologie im interreligiösen Lernen?, in: Altmeyer, Stefan/ Bitter, Gottfried/Theis Joachim (Hg.), Gretchenfragen religiöser Bildung, Stuttgart 2013 Theis, Joachim: Interreligiöses Lernen als ästhetischer Prozess, in: Lames, Gundo/Nober, Stefan/Morgen, Christoph: (Hg.), Psychologisch, pastoral, diakonisch. Praktische Theologie für die Menschen, Trier 2010, 123 – 135 Tietz, Christiane: Dialogkonzepte in der Komparativen Theologie, in: Bernhardt, Reinhold/von Stosch, Klaus (Hg.): Komparative Theologie. Interreligiöse Vergleiche als Weg der Religionstheologie, Zürich 2009, 315 – 338 Winkler, Ulrich: Grundlegungen Komparativer Theologie(n) – Keith Ward und Robert C. Neville, in: Bernhardt, Reinhold/von Stosch, Klaus (Hg.): Komparative Theologie. Interreligiöse Vergleiche als Weg der Religionstheologie, Zürich 2009, 69 – 98 Zirker, Hans: Interreligiöses Lernen aus der Sicht katholischer Kirche und Theologie, in: Rickers, Folkert/Gottwald, Eckart (Hg.): Vom religiösen zum interreligiösen Lernen. Wie Angehörige verschiedener Religionen und Konfessionen lernen. Möglichkeiten und Grenzen interreligiöser Verständigung, Neukirchen-Vluyn 1998, 51 – 69
Johann Reikerstorfer
Respekt ist nicht alles. – Zur Dialektik pluralitätsfähiger Anerkennungspraxis
Der weltanschaulich neutrale Rechtsstaat gehört zu den unverzichtbaren Errungenschaften der politischen Aufklärung Europas, weil er in seiner säkularen Verfasstheit den Bürgern das Zusammenleben in pluralistischen Verhältnissen ermöglicht und schützt. Differenz, Andersheit und Pluralität sind Schlüsselworte zur Kennzeichnung einer Öffentlichkeit, in der Vielfalt nicht bloß wertfrei konstatiert, sondern von vornherein im Horizont eines praktischen Vernunftinteresses verankert bleibt. Martin Jäggle1 bemerkt zurecht: „Zwar wird Pluralität (oft) als beliebige Vielfalt, praktizierter Relativismus oder wertlose Beliebigkeit interpretiert, doch wird dabei übersehen, dass Pluralität nur als ,werthaltige‘ Pluralität gesellschaftlich möglich erscheint, nämlich als eine ,Kultur der gegenseitigen Anerkennung‘ (Ch. Taylor).“2
Der demokratische Verfassungsstaat wird deshalb seinen säkularen wie auch religiösen Bürgern politische Tugenden zur „Eingewöhnung in die Praktiken und Denkweisen einer freiheitlichen politischen Kultur“3 zumuten müssen und ihnen Lernprozesse in der Erprobung dieser wechselseitigen Anerkennung abverlangen. Mit einem bloßen „modus vivendi“ im öffentlichen Pluralismus könnte nicht einmal der liberale Rechtsstaat zufrieden sein, weil er auf eine allen zugängliche vernunftrechtliche Legitimation einer gemeinschaftlichen Lebensform angewiesen ist.4 Eine „säkulare Vernunft“ wird über weltanschauliche Gegensätze hinweg autonom entwickelte Vernunftargumente für eine „gleichberechtigte Mitgliedschaft im Universum vernünftiger Personen“ finden müssen.5 Doch bleibt die Frage, wie sich diese „Mitgliedschaft“ aus Vernunft als 1 Ich widme diesen Beitrag einem Freund, der sich als Theologe in immer neue Kontexte hineinbegibt, um darin auch zu lernen. Geschichte wagen und aus ihr lernen – dieses Wagnis der Nichtidentität ist auch das zentrale Anliegen meines Textes. 2 Jäggle 2009, 269 3 Habermas 2005, 110 4 Habermas. 2009 , 402; zur Kritik am „modus vivendi“ auch 413 5 Vgl. Jürgen Habermas 2009 (s. Anm. 4), 402
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kritisch-veränderndes Potential in die gesellschaftlichen Verhältnisse einzubringen und zu entfalten vermag, um mehr als eine bloß theoretische Behauptung zu sein?6 Diese Theorie-Praxis-Dialektik wäre auch in der Suche nach dem kommunikativen Potential der Anerkennung durchgängig im Auge zu behalten. Denn jenseits „aller Postulate einer abstrakten Gleichheit entscheidet sich die Demokratiefähigkeit einer Gesellschaft am konkreten Umgang mit Verschiedenheit und Minderheiten“.7 Politik und Pädagogik vereint wohl diese praktische Lernperspektive. In dieser Fokussierung rückt auch die Institution „Schule“ als Lern- und Tradierungsraum unserer Gesellschaft ins Blickfeld. Mehr als die Vermittlung spezieller Berufs- und Fachkompetenzen obliegt ihr nämlich die Einübung und Befähigung zu einer „aktive(n) Partizipation an der demokratischen Willensbildung“8 auf engem Raum. Der faktisch in die Schulsituation bei uns eingedrungene weltanschauliche und kulturelle Pluralismus bietet geradezu die Chance für eine „Beteiligung durch Bildung und Bildung durch Beteiligung als Alternative zu den an Auslese und Exklusion orientierten Sozialisierungsmustern“9. Im Folgenden soll vor allem das Christentum mit Zeiterfahrungen konfrontiert werden, die es lernbereit wahrzunehmen und für seine geschichtliche Selbstfindung aufzunehmen gilt. In dem durch die Globalisierungsprozesse dramatisch verschärften Pluralismus der Religions- und Kulturwelten steht es nämlich weltweit vor der Frage, ob und wie es sich in das Ringen um eine aufgeklärte Kommunikationskultur einzubringen und somit vielleicht auch für seine Gottesrede eine wahrheitsfähige Verankerung im „Anerkennungsparadigma“ zu finden vermag. Dieser Herausforderung wäre freilich ein Christentum nicht gewachsen, das sich selbst aus der pluralistischen Öffentlichkeit zurücknimmt und sein Gottesgedächtnis in eine folgenlose Glaubensinnerlichkeit abdrängt, die sich kritiklos mit allen gesellschaftlichen Verhältnissen verträgt. Sucht es aber gegen diesen Hang zur „Selbstprivatisierung“ den universalen Anspruch seiner Gottesrede öffentlich, d. h. vor den Anderen, auch den Andersglaubenden und Nichtglaubenden zu vertreten, besteht dann nicht die Ge6 Diese Option kann sich auch in der kritischen Perspektive von Axel Honneth verorten: „Eine der größten Beschränkungen, unter denen die politische Philosophie der Gegenwart leidet, ist ihre Abkoppelung von der Gesellschaftsanalyse und damit die Fixierung auf rein normative Prinzipien. Nicht, daß es nicht Aufgabe einer Theorie der Gerechtigkeit wäre, normative Regeln zu formulieren, an denen sich die moralische Legitimität der gesellschaftlichen Ordnung bemessen ließe; aber diese Prinzipien werden heute zumeist in Isolation von der Sittlichkeit gegebener Praktiken und Institutionen entworfen, um dann erst sekundär auf die gesellschaftliche Realität ,angewendet‘ zu werden.“ (Honneth 2011, 14) 7 Jäggle/Krobath H1 (2010), 56 8 So K. Stojanov, zit. n. Jäggle/Krobath 2011 (s. Anm. 7), 55 9 Jäggle/Krobath 2009 (s. Anm. 7), 54
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fahr, mit der Botschaft von dem Einen Gott für alle die Anderen zu vereinnahmen und den mühsam erkämpften Religionsfrieden (als Freiheit von und Freiheit zur Religion) zu zerstören oder leichtfertig aufs Spiel zu setzen?10 Wir möchten die Frage nach der Würde der Anderen und ihrer Anerkennung im Horizont einer politischen Theologie verorten und entsprechend bearbeiten.11 Ihr gilt das „Politische“ nicht als Außenbezirk einer undialektisch verstandenen Glaubensinnerlichkeit und nicht als bloße Dimension des Glaubens, sie reklamiert vielmehr zeitsensibel die geschichtlich gewordene Öffentlichkeit für das Ringen um den universalen Anspruch der christlichen Gottesrede. Wie kann Gott in einer weltanschaulich pluralistischen Öffentlichkeit auch ein Gott der Anderen, aller Anderen, der Andersglaubenden ebenso wie der Nichtglaubenden sein, genauer : In welcher Weltwahrnehmung vermag seine Universalität eine kommunikative „Intelligibilität“ zu gewinnen? Ein theologisches „Systemwissen“, in dem das Verhalten zu den Anderen undialektisch einem Theorieanspruch untergeordnet bliebe, würde die im biblischen Gottesgedächtnis eingeschlossene Weltverantwortung verkennen und die in ihm angelegten Impulse für eine Kultur der Anerkennung blockieren. Unsere Frage nach der „Dialektik“ der Anerkennungspraxis will in den Konflikten und Antagonismen der heraufziehenden Weltgesellschaft die kommunikative Kraft der Anerkennung vergewissern und ein zeitloses Verständnis von Anerkennung überwinden, das die Bewährung in der Differenz, in der Andersheit und Fremdheit noch nicht einmal als Problemhorizont und Aufgabe kennt. Zudem könnten – so die Vermutung – mit der geforderten Temporalisierung auch neue Chancen für eine Ursprungserneuerung des Christentums im heutigen Pluralismus der Kulturen und Religionen in den Blick kommen. Entsprechend kritisch sucht dieser Ansatz auch auf die Widersprüche zu reagieren, die sich auf dem Boden und an den Grenzen der Moderne in ihren gesellschaftlichen und geistig-kulturellen Prozessen zeigen.12
1.
Leidsensibles Anerkennungsparadigma
Um sich die Ausgangslage zu verdeutlichen: Die Anderen sind nicht einfachhin „die“ Anderen, es sind konkret die in den Globalisierungsprozessen weltweit bedrohten, die marginalisierten und entwürdigten Anderen. Dass dieses Leid nicht nur soziales Leid der Armut, des Elends und der Unterdrückung meint, sondern auch das Leid kultureller Entwürdigung oder Würdelosigkeit ein10 Dazu Metz 2011, 78 – 81, 39 – 44 11 Vgl. Reikerstorfer 2008 12 Metz 42011, 216
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schließt, kommt uns heute als Erfahrung bedrängend näher. Schon deshalb darf sich die gesuchte Anerkennung nicht in einer unpolitischen oder politisch folgenlosen Affirmation ergehen, weil sie sich in unserer Weltöffentlichkeit nur im Widerstand gegen entwürdigende Verhältnisse, Gegenerfahrungen und Widersprüche kommunikativ bewähren kann. Doch auch dieser Widerstand bliebe solange abstrakt, als er sich nicht an konkreten Fronten entzünden und die Kraft seiner Unterbrechung nicht in bestimmten Veränderungsstrategien suchen wollte. In einer Weltgesellschaft, „in der ,der Mensch‘ immer mehr in den selbstreferentiellen Systemen der Ökonomie, der Technik und ihrer Kultur- und Kommunikationsindustrie verschwindet (und) die Weltpolitik ihren Primat immer mehr an eine Weltwirtschaft mit ihren vom Menschen selbst längst abstrahierenden Marktgesetzen verliert“13, mag schon das Wissen um das Erfordernis einer sich in diesen Herausforderungen konstituierenden und erprobenden Anerkennungspraxis ein erster Orientierungsschritt sein. In diesem umrissenen Problemhorizont soll das im biblischen Gottesgedächtnis eingeschlossene „Leidensgedächtnis“ auf seine intelligible und kommunikative Kraft hin befragt werden. Die geschichtlich tradierte „Hoffnung“ schließt nämlich elementar eine am Leid der Anderen orientierte Erinnerung ein, an der sie sich als Hoffnung entzündet und zugänglich wird.14 Wir lassen uns dabei von der Vermutung leiten, dass im Blick auf die Anerkennungspraxis gerade eine im „Eingedenken fremden Leids“ verwurzelte Anerkennung die Würde der Anderen schöpferisch, d. h. im kritischen Widerstand gegen entwürdigende Angleichungs- und Beherrschungszwänge zur Geltung bringen kann. Obwohl diese Frage auch für die Inkulturation des Christentums von Bedeutung ist, zielt sie hier in erster Linie auf das „jüdisch-christliche“ Erbe Europas in seiner Bedeutung für die Entfaltung einer Anerkennungskultur im weltanschaulichen und kulturellen Pluralismus. Um es thesenartig vorwegzunehmen: Die freiheits- und gerechtigkeitssuchende Vernunft der politischen Aufklärung kann ihr Menschheitsinteresse in pluralistischer Öffentlichkeit konkret nur im Erinnern geschichtlicher Leider13 Vgl. Metz 1997, 203 14 Für das biblische Erinnerungsverständnis kommt zumindest eine doppelte Bedeutung in den Blick, auf die hier aufmerksam gemacht werden soll: Einmal ist die Erinnerung an den geschichtlichen Heilstaten Gottes (auch bis in ihre kultischen Vergegenwärtigungen hinein) orientiert. Zum anderen tritt gerade in dieser Erinnerung eine Form des Eingedenkens hervor, die das Bundesethos kennzeichnet: Ein Eingedenken der Bedrängten, der Beschädigten und Bedürftigen („Fremde“, „Witwen“ und „Waisen“) in erinnerter Befreiung aus der ägyptischen Knechtschaft des Volkes (vgl. Ex 22, 21 – 27; Dtn 10, 17 – 19; 24, 17 ff.). Die Erinnerung von Befreiung aus Fremdheit ist die Wurzel für die Würdigung der Anderen in ihrer Andersheit: Diese Anerkennung gewinnt im „Eingedenken fremden Leids“, das auch die vergangenen Leiden einschließt, ihren universalen Horizont.
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fahrungen und in der Veränderung leiderzeugender Unrechtsverhältnisse durchsetzen. Es gehört zum Zeitindex einer praktischen Vernunft, „in profanen Gemütern ein Bewusstsein für die weltweit verletzte Solidarität, ein Bewusstsein von dem, was fehlt, von dem was zum Himmel schreit, zu wecken und wachzuhalten.“15 Diese negative Erfahrung der Bedrohtheit von Freiheit, von Gerechtigkeit und Frieden vermag einen „negativen Universalismus“ zu umranden, der „die Chance zur Einigkeit im kritischen Widerstand gegen das Grauen und den Terror der Unfreiheit und Ungerechtigkeit“ enthält.16 Diese „negative Vermittlung“ wäre gerade für eine politische Figur der Anerkennung im konfliktträchtigen Nebeneinander der Kulturwelten zu mobilisieren, um Verfeindungszwängen und eskalierenden Gewaltausbrüchen entgegenzuwirken. Eine durch das Leidensgedächtnis unterbrochene, gleichsam dialektisch verzögerte Anerkennung will dem unbedingten Ruf der Anerkennung in der zeitsensiblen Begegnung mit den in ihrer Würde bedrohten Anderen gehorchen. Sie unterbricht die Gleichzeitigkeitsprämissen einer Vernunftmoral, der noch nicht die Heimsuchung durch das Leid der (fremden) Anderen zum Lern- und Bewährungsraum ihres Menschheitsinteresses geworden ist. Die Leidenserinnerung eröffnet als „Eingedenken fremden Leids“ einen universalen Horizont, weil sie den Anderen in ihrer Nichtidentität standzuhalten sucht und so sich dem Verdacht der Vereinnahmung, der Angleichung und Beherrschung entwindet. Eine anamnetisch fundierte Anerkennung bricht den Projektionszwang, durch den wir nicht die Anderen, sondern unseren Bildern von ihnen und darin noch einmal uns selbst begegnen. In dieser selbstkritischen Figur kann für ein säkulares Freiheits- und Autonomieverständnis durchaus die „Prophetie“ der Anderen in ihrer sich entziehenden Andersheit sichtbar werden. Sie gilt es wahrzunehmen, um daraus auch zu lernen. Ihr liegt ein Blick-wechsel zugrunde, in dem sich – via negationis – über die Erfahrung vermisster Anerkennung jene unverrückbaren Maßstäbe aufdrängen, die das praktische Einspruchs- und Widerstandspotential auch gegen vorschnelle Versöhnungen mit Sachzwängen der Märkte und des zweckrationalen Kalküls schärft. Der herausforderende Anblick durch die Anderen begründet in dieser zeitlichen Konkretheit die Verantwortlichkeit für sie und hält sie wach. Doch ist dieser gerechtigkeitssuchende Blick heute gerade durch eine technomorphe Informations- bzw. Kommunikationssprache bedroht, die in ihren Reproduktionen „die Anderen“ in ihrem Anderssein eher nivelliert und vergleichgültigt. Der soziale Raum wird ästhetisch absorbiert, die Reduktion des 15 Habermas 2009, 412 16 Vgl. Metz 1997 zum Ganzen auch 93 f. Dort findet sich auch die gegen das Marx’sche Diktum von den Revolutionen als „Lokomotive der Weltgeschichte“ geäußerte Vermutung von Walter Benjamin, die uns bei den Überlegungen leitet: „Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zug reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse“.
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Anderen auf eine „Oberfläche“ (Z. Baumann) ist in der „Telecity“ technisch garantiert. Wo aber das Menschengedächtnis als Leidensgedächtnis versiegt, wo Apathie und Vergesslichkeit um sich greifen und die Anderen in ihren Vermissungserfahrungen unserem Gesichtskreis entschwinden, vollzieht sich – wie auch immer – die Auflösung des Menschen als eines auch für Andere verantwortlichen Subjekts. Dagegen könnte die Leidenserinnerung ihr kommunikatives Veränderungspotential freisetzen und sowohl einen kulturalistischen Relativismus als auch einen totalitätsverdächtigen Universalismus von innen her überwinden und aus dieser Alternative befreien, weil die Autorität der Leidenden jeder Autoritätskritik standhält und dem Autonomieverständnis freiheitlicher Selbstbestimmung seine Humanität verbürgt. Die leiddurchlässige Sprache dieser Vernunft ist infolgedessen intra- und interkulturell kommunikativer als die Sprache des identifizierenden Begriffs. Ihre Narrative widersetzen sich jeder aneignenden Überführung des Anderen in „das Selbe“ und können die geschichtliche Nichtidentität der Anderen wahren bzw. retten. Schließlich sollte die religionsund kulturkritische Bedeutung der Leidenserinnerung nicht unterschätzt werden, weil sie sich mit einem aufgeklärten Menschenrechtsuniversalismus zu verbinden vermag, der in der Passionsgeschichte der Menschheit jenes Universale erkennt, das auch religiöse und kulturelle Fehlentwicklungen, „Entgleisungen“ oder „Pathologien“ aufdecken und kritisch zur Sprache bringen lässt. „Respekt ist nicht alles“17, wenn eine Kultur der wechselseitigen Anerkennung auch die Bereitschaft einschließt, sich selbst mit den Augen der verletzten Anderen anzusehen und zu beurteilen. Damit wird nicht – im Rückfall hinter die Moderne – ein bestimmtes Gottesverständnis für eine politische Ideologie missbraucht, vielmehr die humanisierende Bedeutung des in ihm eingeschlossenen Eingedenkens zur Geltung gebracht. Seine Kultivierung könnte über Respekt, Akzeptanz und Toleranz hinaus ein kritisch-produktives Bewusstsein erzeugen, das dem konfliktgeladenen Nebeneinander von Religions- und Kulturwelten den Boden der Gewalt und des Hasses entzieht.
17 Diese Wendung hat Jürgen Habermas in einer etwas anderen Akzentuierung verwendet: Ders. 2005, 115
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Das Recht der Person in der Wahrheit – Zur theologischen Würde der Anerkennung
Der für das Anerkennungsparadigma reklamierte Weltblick ist auch für eine verheißungsvolle Gottesrede auf dem Boden und an den Grenzen der Moderne unverzichtbar. Damit kommt die theologische Seite, nämlich die Gottfähigkeit einer verzeitlichten Anerkennungspraxis, eigens in den Blick. Christlicher Glaube verpflichtet immer auf den entgrenzenden Horizont der Anderen, weil sein Gott ein „Menschheitsthema“ ist und nur in diesem Horizont auch universal erläutert werden kann. Nicht die Subsumtion der Person unter ein abstraktes Wahrheitsverständnis, sondern das Recht der Person in der Wahrheit eröffnet und schützt die Prophetie der Anderen, die der christlichen Gottesrede unveräußerlich eingestiftet bleibt.18 Wirkt unsere Gottesrede heute vielleicht deshalb so leer, so verbraucht und trostlos, weil wir uns in ihr so schnell aus den Gefahrenzonen der Geschichte in der Begegnung mit den Anderen zurückziehen und ihrem An-blick auszuweichen suchen? Könnte nicht vielmehr eine Öffnung für die „Zeit der Anderen“, die anerkennend das Recht der Person in der Wahrheit affirmiert, den Zirkel selbstbezüglicher Gottesbilder durchstoßen und in der sperrigen „Alterität“ auch Gott eine geschichtliche Erfahrungsqualität verleihen, die in existentialistischen, personalen oder transzendentalen Hermeneutiken verschlossen bleibt? Wenn nach Ex 33, 18 – 23 Gott unanschaulich bleibt, dann formuliert sich in dieser Unanschaulichkeit via negationis die je größere Verpflichtung auf die Antlitze der Anderen, in denen der biblische Gott geschichtlich erfahrbar werden und erfahrbar bleiben will. Denn in der antlitzsuchenden Begegnung mit den bedrohten Anderen kann sich jetzt schon anfangshaft und gebrochen ein Vor-schein des end-zeitlichen Heils ereignen. Indem Jesus den Kleinen, den Unsichtbaren und Ausgegrenzten ihre Würde in gesellschaftlich verweigerter Anerkennung schöpferisch zueignete, ereignete sich in solchen Unterbrechungen eingespielter Ordnungsverhältnisse die außer-ordentliche („anarchische“) Heilsnähe Gottes unter den Menschen. Schließlich hat er in seiner Leidensgeschichte bis hinein in den Schrei der Gottverlassenheit die Geschichte der Menschen als Passionsgeschichte aufgedeckt und dem Abgrund der Verzweif-
18 Wir versuchen hier eine Forderung des II. Vatikanischen Konzils („Die Wahrheit muss auf eine Weise gesucht werden, die der Würde der menschlichen Person und ihrer sozialen Natur eigen ist“: Dignitatis humanae, art. 3) aufzugreifen, sie aber aus einer personalistischen Verkürzung zu befreien und bis in den Kern des christlichen Gottesgedächtnisses hinein zu verfolgen. Ein dialektisches Anerkennungsverständnis kann auch die Gottesfrage in Gestalt der Theodizeefrage als radikalsten Ausdruck dieser Anerkennung des Rechts der Person in der Wahrheit begreifen.
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lung entrissen. Darin – in diesem Ereignis – gründet das „Eingedenken fremden Leids“ als welthaft zeugnisfähiger Ausdruck der Hoffnung. Gerade inmitten der Globalisierungsprozesse vermag die Kultivierung dieses Eingedenkens heute, so die These, eine Ursprungserneuerung des Christentums unter spätmodernen Verhältnissen verheißungsvoll einzuleiten, – die Erneuerung jenes Ursprungs, in dem Gottes Nähe für die Hoffnungslosen dieser Erde unwiderruflich und die Einheit von Gottesgedächtnis und menschlichem Leidensgedächtnis unauflöslich wurde. Diese Ursprungserneuerung verlangt gegen die Dominanz eines fortschreitenden Vergessens das widerständige, das kontrafaktische und gefährliche Erinnern zur Konstituierung jenes Horizonts, in dem Gott in seiner Unnahbarkeit, seiner Transzendenz und Ferne als verheißungsvolles Menschheitsthema nahe bleibt. In der so dem Vergessen abgerungenen „Alterität“ – und nicht bloß „Intersubjektivität“ – wird im Zerbrechen der eigenen Gottesbilder der Blick auf den Einen Gott frei, der immer auch ein Gott der Anderen ist und als solcher erfahrbar bleiben kann. In einer negativen Dialektik des Eingedenkens eröffnet sich jenes geschichtlich vermittelte Universale, das kein geschichtsloser Vernunftuniversalismus mit seinen Gleichzeitigkeitsoptionen einzuholen oder zu ersetzen vermag. In ihm ist Gott nicht außerhalb oder oberhalb der menschlichen Passionsgeschichte, sondern ein stets bedrohtes Hoffnungsthema in den Abgründen und Widersprüchen der Geschichte. Die von einem universalen Gerechtigkeitsinteresse gespeiste Gottes-frage wäre eine auch in andere Lebenswelten hinein entgrenzbare, d. h. pluralitätsfähige Figur der Gottesrede, weil sie die radikalste Anerkennung der unzerstörbaren Würde der Anderen in ihrer Verletztheit zum Ausdruck bringt. Einer dualistischen Gnosis hingegen, die mit ihrem Axiom von der „heillosen Zeit“ und einem „zeitlosen Heil“ (J. Taubes) die christliche Heilsbotschaft gegen die Abgründe der menschlichen Leidensgeschichte abzuschirmen und möglichst „rein“ zu erhalten sucht, muss nicht nur die Nähe Gottes im „Schrei“ nach seiner endzeitlichen Gerechtigkeit verloren gehen, sondern auch der biblische Stachel für eine gerechtigkeitssuchende Anerkennungskultur unter pluralistischen Verhältnissen. Diese Gottesrede erzwingt mit ihrem „Auf-Gott-zu“ einen end-zeitlichen Horizont, in dem der „Kosmos“ zur Geschichte verzeitlicht wird, die für Gott und Mensch unhintergehbar bleibt. Als das „noch nicht zu Ende gebrachte Geheimnis der Zeit“19 schärft Gott das humane Gedächtnis in seiner geschichtlichen Verantwortung für die Anderen.20 19 Metz 2012 20 Deshalb muss auch die christliche Hoffnung dialektisch in den Widersprüchen der Geschichte vergewissert werden, wenn in ihr nicht die Geschichte als Passionsgeschichte verdrängt und Gott zu einer zeitlosen Wahrheit („Idee“) verdünnt werden soll.
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Eine verzeitlichte Christologie entwindet sich jeder Idealisierung der christologischen Wahrheit und erzwingt die lernbereite Erkundung des göttlichen Willens in einer kontingenten Geschichtswelt. An diese praktische Erkundung kommt keine Verstehenslehre des Christentums heran, die den Anspruch gesellschafts-kritischer Praxis aus sich verdrängt und Wahrheit außerhalb der Theorie-Praxis-Dialektik als Doktrin fixiert. Jesus Christus ist keine zeitlose Wahrheit, er drängt vielmehr als „Ende der Zeit“ (in dieser Konkretisierung des Da-seins Gottes) auf eine Weltverantwortung, in der er als Entzogener die Gegenwart um so mehr bedrängt (Mt 25, 1 – 13). Die durch „Naherwartung“ und „Wiederkunft“ verzeitlichte Christologie fordert und stützt eine leidsensible Anerkennungskultur, während umgekehrt die Verdrängung des end-zeitlichen Horizonts aus der Christologie dieses humane Pathos der christologischen „Wahrheit“ schwächt und als geschichtliche Kraft zum Verschwinden bringt.
3.
Anerkennung – in der Tradierungsgeschichte des Glaubens
Abschließend sei noch eine Facette der „Anerkennung“ angedeutet, die das Lebenszeugnis des Glaubens in der Glaubensgemeinschaft selber betrifft. Nicht zuletzt hat auch dieses Zeugnis in der kulturellen Andersheit der Anderen seine kommunikative Würde und sein Gewicht, sodass die Kirche als „Erinnerungsund Erzählgemeinschaft“ auch wechselseitige Lernprozesse in einem multikulturellen Christentum anstoßen kann. Der Respekt gegenüber der Autorität biographischer Glaubensgeschichten stiftet eine praktische Verbundenheit der Christen untereinander, in der sich der eigene Glaube in der Spur der Anderen hält und darin hoffnungsvoll verankert bleibt (vgl. Hebr 12,1). In die Welt der Religion kann man sich nicht durch bloße Informationen über sie, d. h. in theoretisch-distanzierter Einstellung einfädeln. Das Christentum jedenfalls weiß sich in geschichtlich-konkreten Erinnerungen eines erprobten Zeugniswissens verwurzelt, in dem seine Gründungsgeschichte auf- und weiterlebt. Dieses praktische „Wissen“ unterliegt nicht bloß den Diskursen, es hat gemeinschaftsstiftenden Charakter – mehr noch und tiefer als der identifizierende Begriff. Deshalb wird ein Christentum, das seine Gründungsgeschichte nicht gänzlich historisieren will, auf die Unverzichtbarkeit dieses Erinnerns gerade unter pluralistischen Verhältnissen zurückkommen müssen. Damit ist auch die Frage nach der Einheit der Glaubensgeschichten in ihrer Differenz aufgeworfen und auf ein neues Niveau gestellt. Will man in der Vielfalt dieser Bezeugungen deren innere Einheit verdeutlichen, empfiehlt sich auch hier in heutiger Öffentlichkeit immer mehr das Kriterium der „Nähe“ und „Ferne“ zur Gottespassion Jesu Christi. Nicht eine übergeordnete Einheit begründet und erweist die innere Verbundenheit in der Vielfalt der Glaubenszeugnisse, sondern
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Johann Reikerstorfer
die Erinnerung der messianischen Leidensgeschichte des auferweckten Gekreuzigten. In ihr liegt eine kommunikative Kraft, weil sich in ihr die vielen biographischen Zeugnisse der Christen versammeln, die dieser Gottespassion Jesu nahe waren und es bis heute sind. Und umgekehrt: Diese lebensgeschichtliche Erinnerung ist seine Entgrenzung ins Universale der menschlichen Passionsgeschichte. In dieser „Transzendenz nach unten“ zerbricht die Vorstellung von einem allzu harmonisch-ausgeglichenen oder „rein“ affirmativen Christentum. So bleiben Christen in der konkreten Geschichte ihres Gotteszeugen miteinander verbunden. In dieser Erinnerungsgemeinschaft können Christen zum einen der fortschreitenden Kultur des Vergessens widerstehen, das die Geschichte als Passionsgeschichte im Hang zu ihrer Psychologisierung oder Ästhetisierung verdrängt. Im weltanschaulichen und kulturellen Pluralismus kann diese anamnetisch-narrative Glaubenstradierung dem Christentum zum andern auch ein Profil verleihen, das es davor bewahrt, in sektenhafter Isolierung verheißungslos um sich selbst zu kreisen. Die Frage ist doch nicht, wie sich eine zunächst hermetisch in sich abgeschlossene Glaubensgemeinschaft der Welt gegenüber öffnen kann. Wollte sie dies, käme sie in der möglichst adäquaten Unterscheidung von „religiös“ und „säkular“ eigentlich immer schon zu spät. Denn „Welt“ ragt in ein Christentum hinein, das nichts verklärend überhöht, sondern in den geschichtlichen Widersprüchen um Gott ringt. Es weiß seine eigene Zeugnisgeschichte als Experiment der Hoffnung, dem die Abgründe der menschlichen Leidensgeschichte nicht fremd sind. Wären ihm diese Erfahrungen der Gottespassion nicht selbst vertraut, könnte die Kirche niemals „Heilszeichen“ für die Welt sein. In der christlichen Hoffnung muss deshalb immer auch Platz sein für die Ungetröstetheit einer Sehnsucht, die sich am Eingedenken der Anderen in ihrem Leid entzündet, wenn sie nicht ihren substantiellen Sinn verlieren soll. So kann in der angenommenen Nichtidentität eine kommunikative Atmosphäre entstehen, die den christlichen Glauben mit Andersglaubenden oder Nichtglaubenden verbindet. Die Heimkehr dieses Vermissens und seiner Sprache in das Christentum wäre die gesuchte Brücke zu ihnen hin. Am „Pathos“ dieser Passion und einer dramatisch verschärften Frage nach einer strikt universalen Gerechtigkeit müsste auch einer Religionspädagogik gelegen sein, wenn sie im multikulturellen Kontext jene Verheißungen zeitlich zu erproben sucht, die als Menschheitsverheißungen allen gehören.
Respekt ist nicht alles. – Zur Dialektik pluralitätsfähiger Anerkennungspraxis
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Literatur Habermas, Jürgen: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt am Main 2005 Habermas, Jürgen: Kritik der Vernunft, Philosophische Texte Bd. 5, Frankfurt am Main 2009 Jäggle, Martin/Krobath, Thomas: Bildung, Gerechtigkeit und Würde: Kultur der Anerkennung, in: Amt und Gemeinde, Jg. 61, H. 1 (2010), 51 – 63 Honneth, Axel: Recht auf Freiheit, Frankfurt am Main 2011 Jäggle, Martin: Religiöse Pluralität als Herausforderung für Schulentwicklung, in: Jäggle, Martin/Krobath, Thomas/Schelander, Robert (Hg.): lebens.werte.schule. Religiöse Dimensionen in Schulkultur und Schulentwicklung, Wien – Berlin 2009, 266 – 280 Metz, Johann Baptist: Mystik der offenen Augen. Wenn Spiritualität aufbricht, Freiburg im Breisgau 2011 Metz, Johann Baptist: Zum Begriff der neuen Politischen Theologie 1967 – 1997, Mainz 1997 Metz, Johann Baptist: Memoria passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft (In Zusammenarbeit mit Johann Reikerstorfer), 42011 Metz: Johann Baptist: Gott in Zeit. Vom transzendentalen zum temporalen Denken. Ein Brief, in: Appel, Kurt/Metz, Johann Baptist/Tück, Jan Heiner : Dem Leiden ein Gedächtnis geben. Thesen zu einer anamnetischen Christologie, Göttingen 2012, 485 – 489 Reikerstorfer, Johann: Weltfähiger Glaube. Theologisch-politische Schriften, Münster 2008
Hans Gerald Hödl
Im Dialog mit den Anderen. Religionswissenschaft im Feld1
1.
Religiöser Pluralismus
In der Situation des religiösen Pluralismus wird nicht nur die klassische strukturfunktionalistische Beschreibung der Religion entsprechend der Leitfrage nach der Leistung eines Teilsystems für das Gesamtsystem obsolet, weil es eben das gesamtgesellschaftlich relevante Teilsystem Religion nicht mehr gibt.2 Wenn wir die Rede vom „Pluralismus“ ernst nehmen, wird außer der Vorstellung von einer in sich geschlossenen religiösen Welt auch diejenige von einheitlichen „Weltanschauungsblöcken“3 an sich fraglich. Es könnte uns ja bereits ein detaillierterer Blick in die Religionsgeschichte darüber aufklären, dass man die in diesem Modell vorausgesetzte Einheit der religiösen Sinnwelt in einer gegebenen Gesellschaft nur in Ausnahmefällen antreffen wird, und wenn, dann meist als einen mit (mehr oder minder gewaltsamen) politischen Mitteln herbeigeführten Zustand.4 In vielen Gesellschaften herrsch(t)en kultische Milieus, weder war das christliche Abendland durchgehend christlich geprägt, noch gab es die viel zitierte „mittelalterliche Einheitskultur“ im vollen Sinne5 ; die verschiedenen muslimischen Reiche, die wir in der
1 Dieser Beitrag nimmt Anregungen aus Martin Jäggles Artikel „Religiöse Pluralität als Herausforderung für Schulentwicklung“ (Jäggle 2009) auf und sucht die Konsequenzen der dort dargestellten Situation religiöser Pluralität für die Religionswissenschaft, wenn sie in diesem Feld arbeitet, zu reflektieren. 2 Vgl. Hödl 2007, 267 – 269 3 Wie Jäggle 2009, 265, betont, gehört zur religiösen Pluralität auch „das Phänomen, dass sich Menschen keiner religiösen Tradition zugehörig wissen“, was weiter geht, als die viel diskutierte Frage, ab wann eine „Weltanschauung“ oder eine „Praxis“, die sich selbst nicht explizit als Religion versteht, als „implizite Religion“ (Thomas 2001) gilt. 4 „Homogenität war in der Geschichte Europas nur unter Zwang möglich – und unter Ausblendung, Verdrängung, Vernachlässigung und Diskriminierung von Differenz“ (Jäggle 2009, 266). 5 Auffahrt 1999, 456
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Geschichte finden, hatten ihre je eigenen Arten des Umgangs mit Angehörigen anderer Religionen usw. Weiters zeigt sich dem genaueren historischen Blick die innerreligiöse Vielfalt: so spricht man heute lieber von Christentümern als vom Christentum6 und von Judentümern als vom Judentum.7 Dass die Bezeichnung „Hinduismus“ bestenfalls ein Sammelbegriff für Unterschiedlichstes ist, das nur die Gemeinsamkeit einer (wie immer näher bestimmten) Ursprungsverortung am indischen Subkontinent aufweist und prinzipiell eine aus der Fremdperspektive des Europäers entworfene Kategorie darstellt, ist eine Standardausführung in Einführungswerken in „den Hinduismus“, so dass manche ForscherInnen es sogar bevorzugen, von „Hindu-Religionen“ zu sprechen.8 Mutatis mutandis gilt das auch für „den“ Buddhismus und „den“ Islam, ja es gilt für den Begriff „Weltreligion“ selbst, der diesen Konstrukten ein metasprachliches „Überkonstrukt“ aufsetzt.9 Dass die angesprochene innerreligiöse Vielfalt für die diachrone Betrachtungsweise gilt, wird niemand, der über wenigstens rudimentäre Geschichtskenntnisse verfügt, bezweifeln. Es gilt aber auch jeweils (zu einer gegebenen Zeit an einem gegebenen Ort) für die synchrone Betrachtungsweise.
2.
Methodendiskussion
Auf methodologischem Gebiet hat die skizzierte Situation für die Religionswissenschaft gravierende Folgen, von denen ich hier einige (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) nennen will. Zunächst ist unser Blick für den konstruktiven Charakter der grundlegenden Begriffe des Religionsvergleichs geschärft worden, den Jonathan Z. Smith in einer oft zitierten Formulierung auf den Punkt gebracht hat: „there is no data for religion“10. Die damit insinuierte konstruk6 Ninian Smart etwa entwickelt sein bekanntes Dimensionsmodell, das der Darstellung in „The World’s Religions“ als Grundparadigma dient, nicht nur anhand der inter- sondern auch der innerreligiösen Pluralität und eines seiner Beispiele ist die Vielfalt der Spielarten des Christentums (Smart 1998: 12 f.), wobei er auch die lokalen Ausprägungen einer „innerreligiösen“ Tradition berücksichtigt: „German Lutheranism differs from American; Ukrainian Catholicism from Irish“ (ebd., 13). 7 Vgl. etwa Biale 2002 8 Michaels 2006, 36, nennt „Hinduismus (…)“ einen „(…) Sammelbegriff“ zur Bezeichnung von „Religionen, religiösen Gemeinschaften und sozio-religiösen Systemen“, die durch fünf gemeinsame Kriterien verbunden sind und spricht ausdrücklich von „Hindu-Religionen“ (ebd., 37). Johnson 2009, IX (Preface) definiert das Wort als „a noun of convenience or construction“ (s.a. den Eintrag „Hinduism“, ebd. 141 f.); vgl. Rodrigues 2006, 4 f.; auch von Stietencron 2006 verwendet den Ausdruck „Hindu-Religionen“ (etwa: ebd., 7); dort 7 – 10 findet sich ein historischer Überblick zur Verwendung des Begriffes „Hinduismus“. 9 Vgl. Masuzawa 2005 10 Smith 1982, XI
Im Dialog mit den Anderen. Religionswissenschaft im Feld
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tiv(istisch)e Methodik11 in der Religionsforschung zeigt auch eine Abkehr von den sog. Master-Narratives an: Die geschlossene Erzählung darüber, wie „eine“ Religion funktioniert (Glaube, Riten, Ethik, Handlungsfelder) ist immer von einer bestimmten Position aus konstruiert, der innere Pluralismus zwingt die ReligionswissenschaftlerIn, vom Monolog (der zumeist die Sichtweise der religiösen SpezialistInnen in einer Tradition wiedergibt) zur polylogischen Darstellung überzugehen. Das bedeutet nicht nur Methodenpluralität, wie sie in den meisten Einführungswerken vorgestellt wird und sich in Studienplänen niederschlägt. Wir finden etwa in Titeln wie „Approaches to the Study of Religion“12 eine Bezugnahme auf diese Vielfalt an Forschungsrichtungen, die sich mit Religion beschäftigen. Deren spezifische Perspektiven und Methoden werden dann aber meist nur in Einzelbeiträgen aneinandergereiht. Bei Rodrigues/Harding 2009 wird darüber hinaus die Methodenvielfalt selbst zum Prinzip der Darstellung, indem immer auch die Perspektive, von der aus jeweils gedacht wird (Gemeinschaft, Erfahrung, Wertung und Kritik) mit reflektiert wird. Damit hat man die klassische Darstellungsweise der Religionsphänomenologie – die in der Wende zur Religionsgeschichtsschreibung ad acta gelegt worden ist –, nämlich eine neue „große Erzählung“, die anhand der Leitkategorie des „Heiligen“ entwickelt wird, an die Stelle der einzelnen großen Erzählungen zu setzen, hinter sich gelassen, ebenso aber den reinen historischen Positivismus vermieden, der, wie es Armin Geertz ausgedrückt hat, dazu führen kann, dass ReligionswissenschaftlerInnen SpezialistInnen für Texte sind, die in den Traditionen, denen sie entstammen, nur eine marginale Rolle spielen.13 Freilich sind Religionen „große Erzählungen“, der Religionsphänomenologie ist bloß eine Vermischung von Metasprache und Objektsprache vorzuwerfen. Diese großen Erzählungen werden aber eben nicht einsinnig verstanden; die angesprochene Pluralität besteht gerade darin, dass sie in je individueller Weise Sinnstiftungs- und Orientierungsfunktion erfüllen. Den mit dieser Beobachtung einhergehenden 11 So gerne das zitiert wird, so selten wird auf die weiteren Ausführungen von Smith in seinen einleitenden Bemerkungen zu Imagining Religion eingegangen. Es geht ihm dort weniger um eine Definition von Religion, als um Methodologie. Er erläutert den Sinn seiner Aussage sehr genau: Seine pointierte Formulierung meint demnach, dass es vor der akademischen Beschäftigung mit dem Objekt „Religion“ in unserem heutigen Sinn dieses gar nicht gäbe. Vielmehr diene die Kategorie nur den analytischen Zwecken des Forschers und sei nur durch die von ihm unternommenen Vergleiche und Verallgemeinerungen entstanden. Aus diesem Grund müsse der vergleichende Religionswissenschaftler sehr bewusst und reflektiert mit dem zugrundeliegenden Material umgehen. Die Wahl der richtigen Beispiele sei die zentrale Anforderung für einen solchen Vergleich. Die Kriterien, die Smith dafür nennt, sind gründliche Kenntnis des Datenmaterials und der Geschichte seiner Interpretation und das In-Beziehung-Setzen des gewählten Beispiels zu einer zentralen Frage, Methode oder Theorie in der Religionsforschung mit dem Ziel ihrer Evaluierung. 12 Vgl. etwa Connolly 1999 13 Geertz 1997, 69
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Perspektivenwechsel hat vielleicht zuerst die feministische Religionsforschung bzw. die Genderforschung eingefordert, mit dem erkenntnisleitenden Prinzip, dass „der homo religiosus nicht deckungsgleich ist mit dem vir religious, sondern in gleicher Weise auch die femina religiosa umfasst“14
3.
Hinwendung zum Feld
Dem ist freilich hinzuzufügen, dass es den vir religiosus genauso wenig gibt wie die femina religiosa, zumindest für den Blick derjenigen ReligionswissenschaftlerInnen, die sich von der von Jonathan Z. Smith beschriebenen Konstruktion des abstrakten Forschungsgegenstandes Religion abwenden und sich der Erforschung der gelebten Religionen in ihren je individuellen Vollzügen zuwenden.15 Dies ist in der Religionswissenschaft, insofern sie die reine Orientierung am Leitmedium Text aufgegeben hat und sich nicht mehr als bloß historisch-textwissenschaftliche Disziplin versteht, in den letzten Jahrzehnten auch geschehen, meist unter Titeln wie „angewandte“ oder „praktische Religionswissenschaft“.16 Damit gewinnt die Religionswissenschaft natürlich auch an gesellschaftlicher Relevanz, wobei es hier nicht um ein Entweder/Oder zwischen religionsgeschichtlicher Expertise und qualitativer Forschungsmethodik geht. Dass auf das durch verstärkte öffentliche Präsenz von religiösen Diskursen – die paradoxerweise eine Folge der Pluralisierung des religiösen Segmentes darstellen kann – bedingte verstärkte Interesse an der Erforschung der Ansichten, Beweggründe und Ziele von Religionen auch durch Untersuchungen zur aktuellen religiösen Situation geantwortet wird, die ForscherInnen mit soliden religionsgeschichtlichen Kenntnissen involvieren, ist ein verständliches Anliegen, sozusagen die andere Seite an dem zitierten Satz von Armin Geertz: wie sollte sich jemand in einem religiösen Kontext bewegen, dessen Geschichte, Parteiungen, Hauptrichtungen usw. ihm/ihr nicht bekannt sind?17 Hier interessiert vor allem, dass klassischerweise qualitative Methoden als Proprium der Religionsethnologie gelten, einem wichtigen Feld der Religionswissenschaft18, sodass 14 Heller 2000, 258 15 Es ist hier nicht der Ort, zu diskutieren, inwieweit der Ansatz von Smith in diese Richtung trägt oder nicht. 16 Vgl. etwa Klöcker/Tworuschka 2008; Friedli 2007; Schmiedel 2007; 2008; Reiss 2007 spricht von „anwendungsorientierter Religionswissenschaft“. 17 Es ist hier auch nicht der Ort, zu diskutieren, wie sehr vorherige Kenntnis des Feldes die Forschungsarbeit in Richtung auf „Bestätigungsforschung“ hin lenken kann – in der qualitativen Forschungsmethodik gehört jedenfalls die Selbstreflexion der eigenen Rolle im Feld zu den zentralen Anforderungen (vgl. Jorgensen 1989, 79 f.; Charmaz 2006, 18 f.; Knoblauch 2003, 95 f.; Przyborski/Wohlrab Sahr 2010, 58 – 62). 18 So zählen auch einige Ethnologen lt. Michaels 1997 zu den „Klassikern der Religionswis-
Im Dialog mit den Anderen. Religionswissenschaft im Feld
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deren Anwendung auf „die eigene Gesellschaft“ als „Religionsethnographie“ zu gelten habe, wie das Hubert Knoblauch insinuiert.19 Religionsethnologische Relevanz heute bestimmt sich aber weniger aus dem bei Malinowski genannten Forschungsinteresse „zu einer neuen Sicht der Eingeborenen zu gelangen“20, wozu man, so Frazer, wie der polnische Pionier der Feldforschung als „Eingeborener unter Eingeborenen“ leben sollte21, sodass die Anwendung auf die eigene Gesellschaft nun eben einfach den „Eingeborenen nebenan“ unter die Lupe nimmt, mit dem in der eigentlichen Eingeborenenuntersuchung entwickelten Methodenrepertoire der teilnehmenden Beobachtung, qualitativer Interviews usw. Nach Bettina E. Schmidt geht es religionsethnologischer Arbeit in heutigen säkularen Gesellschaften vielmehr darum, zu verstehen, wie in einer globalisiert-„entgrenzten“ Welt Grenzen und damit ethnische, religiöse usw. Identitäten konstruiert werden.22 Nicht Erforschung des religiösen Lebens der aus dem kolonialen Blick konstruierten „Anderen“ – ein im methodologischen Diskurs der Kulturanthropologie gründlich dekonstruiertes Anliegen –, sondern zu verstehen, wie ethnische und religiöse Identitäten in den pluralen Gesellschaften der globalisierten Welt konstruiert werden, scheint demnach das zentrale Anliegen der Religionsethnologie von heute zu sein.
4.
Im Dialog mit den Anderen
Was bedeutet das hinwiederum für die Situation, in der durch „Trennung von Kirche und Staat“ darauf verzichtet wird, die religiöse Einheit des Staates gewaltsam durchzusetzen, folglich die jeweilige „Vereinheitlichung“ einer Tradition den Traditionen selbst überlassen wird? Was bedeutet das für den „Dialog der Religionen“ innerhalb der von Martin Jäggle eingeforderten Kultur der Anerkennung? Was bedeutet es für religionswissenschaftliche Forschung in diesem Feld? Zunächst: wer ist hier „der/die Andere“? In der klassischen Religionsethnologie hat es, vor allem in Auseinandersetzung mit dem Werk von Clifford Geertz, eine lange Diskussion über die „ethnographische Repräsentation“ gegeben23, in der unter anderem darauf abgehoben worden ist, wer denn der Autor des ethnographischen Textes ist. Einer der Brennpunkte dieser Diskussion ist eine
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senschaft“, neben den „Lehnstuhlethnologen“ Tylor und Frazer Randulph R. Marrett, Bronislaw K. Malinowski, Edward E. Evans-Pritchard, Victor Turner. Vgl. den Untertitel von Knoblauch 2003 Malinowski 2001, 15 Frazer in Malinowski 2001, 7 Vgl. Schmidt 2008, 180 – 186 Vgl. dazu z. B. Berg/Fuchs 1999; Gottowik 1997
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Formulierung von Clifford Geertz, wonach die „Kultur eines Volkes (…) ein Ensemble von Texten“ sei und der Ethnograph sich bemühe, diese „über die Schultern derjenigen, für die sie eigentlich gedacht sind, zu lesen“24. Dieser monologische Prozess der Textualisierung25 bringt ein asymmetrisches Verhältnis zwischen Ethnographen und Ethnographierten mit sich, über das Geertz interessanter Weise selbst reflektiert26, wenn er von der „moral asymmetry of the fieldwork situation“ spricht27, die er allerdings eher als ein unhintergehbares Faktum darstellt. Darin scheint erstens ein grundlegendes Problem der Malinowskischen Forderung, „als Eingeborener unter Eingeborener“ zu leben, auf, das Clifford auf die Formulierung gebracht hat, die „teilnehmende Beobachtung“ stelle ein ständiges Hin- und Herlavieren zwischen dem „Inneren“ und dem „Äußeren“ dar.28 Die Formulierungen von Geertz, die die Distanz zwischen EthnographIn und Ethnographierten betonen, sind wohl aus dem Bewusstsein geschrieben, dass die EthnographIn nie völlig zur „Eingeborenen“ werden kann. Dieser Vorgang, in der anglophonen Welt als „going native“ bekannt29, wird in der deutschsprachigen Literatur zuweilen mit dem Begriff „Verkafferung“ bezeichnet30, der die Spuren rassistischer Denkweise offenlegt, die sich in dieser Art, „Feldforschung“ zu betreiben, finden. Es ist daher zweitens diesem Ansatz gegenüber ein dialogisches Verständnis der ethnographischen Arbeit eingefordert worden, das die beschriebenen „Anderen“ nicht als Gegenstand eines Textes über eine Kultur, sondern als MitautorInnen dieses Textes ansieht.31 Wenn wir das auf die Situation der Erforschung gelebter Religiosität in unserer heutigen pluralen Gesellschaft umlegen, so sind die Anderen, auf die ReligionsforscherInnen im Feld treffen, zuerst die AutorInnen ihrer jeweiligen religiösen Identitäten. Als solche werden sie in den Blick genommen; ihre religiösen Identitäten in den Blick zu bekommen wird ohne eine grundlegende Kultur der Anerkennung nicht möglich sein. Darin liegt auch einer der Gründe, warum Ausdrücke wie „angewandte“, „anwendungsorientierte“ oder auch „praktische“ Religionswissenschaft eigentlich zu kurz greifen. In ihnen ist immer noch impliziert, dass es zuerst eine theoretische Anstrengung gibt, die dann in der oder auf die Praxis angewandt wird. Damit wird der dialogische Prozess der Feldforschung ausgeblendet, bzw. verkürzt dargestellt. Es geht dabei 24 25 26 27 28 29
Geertz 1983, 259; vgl Gottowik 1997, 278 Clifford 1999b, 215 Geertz 2000, 33 ff. Geertz 2000, 33 Clifford 1999a, 126 Vgl. die Diskussion bei Bettina Schmidt, 72 – 78, die der einseitigen Ablehnung dieses Prozesses den Gewinn für die ethnographische Forschung, den der Insiderstandpunkt bringen kann, gegenüberstellt. 30 Knoblauch 2003, 96 ff. 31 Vgl. etwa Clifford 1999a, 136 – 139
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zunächst auch nicht um die bekannte Tatsache, dass der Forscher keine Tarnkappe aufzusetzen vermag und somit unwillkürlich das Feld verändert und um Strategien, das dadurch erzeugte Geräusch möglichst weg zu filtern. Es geht darum, dass die Beforschten Subjekte ihrer jeweiligen religiösen Sinnstiftungen und der Art und Weise, wie sie diese leben, sind. Nimmt man die Rede von den in sich pluralen religiösen Welten ernst und die Tatsache in den Blick, dass im säkularen Staat die Vereinheitlichung von Traditionen den Traditionen selbst überlassen ist und positive Religionsfreiheit auch die eigenständige Suche nach religiöser Identität einschließt, wird ein Umstand klar, der sicherlich auch auf die Gesellschaften, die sozusagen die „klassischen“ Gegenstände ethnographischer Repräsentation darstellen, zutrifft, in unserer pluralen Welt aber noch deutlicher vor Augen tritt: die Konstruktion der eigenen Identität – anderes gesagt: der „Prozess, in dem Menschen nach Selbstvergewisserung, Konsistenz und Kohärenz suchen“32, ist immer ein Grenzziehen und Grenzziehen ist immer auch ein Ausverhandeln von Grenzen, das freilich mehr oder minder gewaltsam geschehen kann. In diesem Bereich sind Konflikte nicht nur quasi vorprogrammiert, sondern wird Identität per definitionem nicht konfliktfrei gefunden und damit die Konstruktion der eigenen religiösen Identität nicht konfliktfrei ablaufen. Das gilt nicht nur an den Grenzen zwischen religiösen Traditionen, sondern auch innerhalb dieser, wie etwa Debatten zwischen „liberalen“ und „konservativen“ KatholikInnen zeigen. Zum Konfliktfeld „religiöse Identität“ gehört aber auch die Art und Weise, in der Religionen in der Öffentlichkeit thematisiert werden. Darin wird nicht zuletzt ausverhandelt, was eine innerhalb der Rahmenbedingungen des säkularen Staates anerkannte religiöse Identität ist und wo die Grenzen zwischen positiver Religionsfreiheit und religiösen Überzeugungen und Praktiken liegen, die mit den von allen geteilten Grundwerten (der civil religion) nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen sind (man denke an die Beschneidungsdebatte). Das zeigt, dass die Stimme von AtheistInnen und GegnerInnen der Religion in diesem Feld eine wichtige Rolle spielt. Wenn nun aber gilt, dass „Konflikte (…) notwendig“ sind und „Chancen eröffnen“ können, sodass „nicht primär ihre Vermeidung (…), sondern (…) ein angemessener Umgang mit ihnen“ anzustreben ist33, hat das auch Auswirkung auf die Rolle der ReligionswissenschaftlerInnen, die im skizzierten Feld pluraler Religiosität arbeiten, in dem, als Mittel des angemessenen Umgangs mit Konflikten, Dialoge geführt werden müssen. Dialog der Religionen heißt in diesem Kontext aber nicht nur Dialog von einzelnen RepräsentantInnen von Religionen, die sich gegenseitig ihrer Wertschätzung versichern (so wichtig dies als Vorbildfunktion sein kann), sondern Verständigung an den und über die oben 32 Jäggle 2009, 277 33 Jäggle 2009, 267
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skizzierten Konfliktlinien hinweg. Verständigung bedarf des Wissens über die Anderen. Die Anderen in diesem Feld sind nun ganz verschiedene Menschen, die in mehr oder minder je eigener Weise Selbstvergewisserung, Konsistenz und Kohärenz suchen. Seit langem besteht die Diskussion darüber, ob ReligionswissenschaftlerInnen sich am Dialog der Religionen beteiligen sollen oder auch nur können.34 ReligionswissenschaftlerInnen können gerade aufgrund ihrer „nichttheologischen“ Bindung als unverfängliche Vermittler in diesem Gebiet auftreten.35 Im oben dargestellten Forschungsfeld werden sie aber, schon aus methodologischen Gründen, in neuer Hinsicht mit der insider/outsider Problematik konfrontiert. Kann die Forschende ein Equilibrium gegenüber den verschiedenen Stimmen halten, ist es denn in diesem Kontext überhaupt möglich, „allen alles zu werden“ und dann noch von irgendeiner der beteiligten Gruppen ernst genommen zu werden? Ein Beispiel wäre etwa, zu versuchen, zwischen atheistisch orientierten GegnerInnen ritueller Beschneidung und orthodoxen Rabbinern zu vermitteln. Den Konflikt wird die ReligionswissenschaftlerIn nicht lösen, das ist auch nicht ihre Aufgabe, das können nur die beteiligten Personen selbst. Welche Rolle kann die ForscherIn aber einnehmen, um weder als verdächtiger outsider wahrgenommen zu werden, noch zum insider der Gruppe zu werden und damit zum outsider aller anderen? Hier könnte das von Graham Harvey für das insider/outsider Problem vorgeschlagene Lösungsmodell schlagend werden. Ausgehend vom Prinzip der Gastlichkeit bei den Maori hat er die Rolle des Gastes als dritte Möglichkeit zwischen outsider und insider vorgeschlagen. Es handelt sich um einen Prozess der Anerkennung, der ein zumindest zeitweiliges Wir ermöglicht, ohne einen Gruppenbeitritt zu fordern. In diesem Prinzip ist ja sogar die Option enthalten, einem Feind Gastfreundschaft zu gewähren – eine Anregung für den interreligiösen Dialog, in dem der jeweilige Anspruch auf Universalität nicht aufgegeben werden muss. Harvey stellt seinen Forschungsansatz zusammenfassend in folgender Weise dar : „Guesthood is no longer about ,others‘ (…) since the host-guest relationship includes ,us‘, and because it is predicated on the host’s sovereign power to initiate and/or reject potential guests. This third position that is neither „subjective native“ nor „objective outsider“ has always been a possibility (…).“36
34 So schon Werblowsky 1959; Überblick zur Diskussion bei Schmiedel 2007 und Schmiedel 2008. 35 Es ist zumindest meine Erfahrung mit manchen religiösen Gruppen, die in einem konfliktiven Verhältnis zu Mainstream-Religionen stehen, dass die neutrale religionswissenschaftliche Position anerkannt und geschätzt wird und auch beim „Feldzugang“ hilft. 36 Harvey 2003, 142 f.
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Dazu muss man natürlich wissen oder herauskriegen, welche Prozeduren in einer gegebenen Gruppe benutzt werden, um aus „Fremden“ „Gäste“ zu machen. ReligionswissenschaftlerInnen sollten über das entsprechende Wissen verfügen. Natürlich ist darin auch enthalten, dass die ForscherIn akzeptieren muss, wenn ihr jemand die Gastfreundschaft verweigert.
Literatur Auffahrt, Christoph: Mittelalter, in: Auffahrt, Christoph/Bernard,Jutta/Mohr, Hubert (Hg.): Metzler Lexikon Religion. Gegenwart – Alltag – Medien, Band 2, Stuttgart – Weimar 1999, 454 – 457 Berg, Eberhard/Fuchs, Martin (Hg.): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt am Main 31999 Biale, Davin (Hg.): Cultures of the Jews. A New History, New York 2002 Charmaz, Cathy : Constructing Grounded Theory. A Practical Guide Through Qualitative Data Analysis, Los Angeles e.a. 2006 Clifford, James: Über ethnographische Autorität, in: Berg/Fuchs 31999(a), 109 – 157 Clifford, James: Über ethnographische Allegorie, in: Berg/Fuchs 31999(b), 200 – 239 Connolly, Peter (Hg.): Approaches to the Study of Religion, London, 1999 Friedli, Richard: Angewandte Religionswissenschaft, in: Yousefi e.a. 2007, 79 – 94 Geertz, Armin W.: Hermeneutics in Ethnography. Lessons for the Study of Religion, in: Klimkeit, Hans-Joachim (Hg.): Vergleichen und Verstehen in der Religionswissenschaft. Vorträge der Jahrestagung der DVRG vom 4. bis 6. Oktober 1995 in Bonn, Wiesbaden 1997, 53 – 70 Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt am Main 1987 Geertz, Clifford: Available Light. Anthropological Reflections on Philosophical Topics, Princeton – Oxford 2000 Gottowik, Volker : Konstruktionen des Anderen. Clifford Geertz und die Krise der ethnographischen Repräsentation, Berlin 1997 Graham Harvey : Guesthood as Ethical Decolonising Research Method, in: Numen 50 (2003), 125 – 146 Heller, Birgit: Frau. Religionswissenschaftlich, in: Betz, Hans Dieter (e.a.): Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Band 3, Tübingen 42000, 258 Hödl, Hans Gerald: Religion als „Global Player“, Globalisierung als “Religion“, in: Faschingeder, Gerald/Six, Clemens (Hg.): Religion und Entwicklung. Wechselwirkungen in Staat und Gesellschaft, Wien 2007, 265 – 277 Jäggle, Martin: Religiöse Pluralität als Herausforderung für Schulentwicklung, in: Jäggle, Martin/Krobath, Thomas/Schelander, Robert (Hg., unter Mitwirkung von Edda Strutzenberger und Heribert Bastel): lebens.werte.schule. Religiöse Dimensionen in Schulkultur und Schulentwicklung, Wien – Berlin 2009, 265 – 280 Johnson, William J.: A Dictionary of Hinduism, Oxford 2009
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Klöcker, Michael/Tworuschka, Udo (Hg.): Praktische Religionswissenschaft. Ein Handbuch für Studium und Beruf, Weimar – Wien 2008 Knoblauch, Hubert: Qualitative Religionsforschung. Religionsethnographie in der eigenen Gesellschaft. Paderborn 2003 Malinowski, Bronislaw: Argonauten des westlichen Pazifik. Ein Bericht über Unternehmungen und Abenteuer der Eingeborenen in den Inselwelten von Melanesisch-Neuguinea. Mit einem Vorwort von James G. Frazer. Aus dem Englischen von Heinrich Ludwig Herdt. Herausgegeben von Fritz Kramer. Frankfurt am Main 2001 (Engl. Erstausgabe 1922) Masuzawa, Tomoko: The Invention of World Religions. Or, How European Universalism Was Preserved in the Language of Pluralism, Chicago – London 2005 Michaels, Axel (Hg.): Klassiker der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade, Darmstadt 1997 Michaels, Axel: Der Hinduismus. Geschichte und Gegenwart, München 2006 Przyborski, Aglaja/Wohlrab-Sahr, Monika: Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch, München 32010 Reiss, Wolfram: Anwendungsorientierte Religionswissenschaft, in: Yousefi e.a. 2007, 289 – 306 Rodrigues, Hillary : Introducing Hinduism, Oxon – New York 2006 Hillary Rodrigues/John S, Harding, Introduction to the Study of Religion, Oxon – New York 2009 Schmidt, Bettina E.: Einführung in die Religionsethnologie. Ideen und Konzepte. Berlin 2008 Schmiedel, Michael A.: Der interreligiöse Dialog als Aufgabe einer angewandten Religionswissenschaft, in: Yousefi e.a. 2007, 307 – 318 Schmiedel, Michael A.: Interreligiöser Dialog als Aufgabe angewandter Religionswissenschaft, in: Klöcker/Tworuschka 2008, 228 – 237 Smart, Ninian: The World’s Religions, Cambridge e.a. 1999 Smith, Jonathan Z.: Imagining Religion. From Babylon to Jamestown, Chicago-London 1981 von Stietencron, Heinrich: Der Hinduismus, München 2008 Thomas, Günther : Implizite Religion. Theoriegeschichtliche und theoretische Untersuchungen zum Problem ihrer Identifikation, Würzburg, 2001 Werblowsky, R. J. Zwi: On the Role of Comparative Religion in Promoting Mutual Understanding, in: The Hibbert Journal 58 (1959), 30 – 35 Yousefi, Hamid Reza e.a. (Hg.): Wege zur Religionswissenschaft. Eine interkulturelle Orientierung. Aspekte, Grundprobleme, Ergänzende Perspektiven, Nordhausen 2007
Walter Homolka
Vom Umgang mit der Differenz – Das „kollektive Gedächtnis“ des Judentums und die Herausforderung religiöser Pluralität
Seit einigen Monaten war ich mit der Herausgabe einer Sammlung aus der jüdischen Gebetstradition beschäftigt1. Ein niederländischer Kollege meinte dazu leicht abschätzig: ein Buch – ob das nicht etwas altmodisch sei. Heute könne man doch auf dem Computer für jeden Gottesdienst Texte maßschneidern, aus vielen Alternativen auswählen, hier etwas anreichern und da etwas weglassen. Der Rabbiner wie in Lafers Fernsehküche: kundiger Rezepteur, mit ausgefahrenen Geschmacksnerven und spitzen Fingern ein Trendmahl aus geistigen Ingredienzien bereitend, das dann der Gemeinde je neu aufgetischt würde. Gebetserlebnis als Surfen durch die spirituellen Kanäle digitaler Religion? Gott fragte Adam: „Wo bist Du?“ Was heißt das? Die Heilige Schrift ist ewig: Jede Zeit, jede Generation und jeder Mensch sind in ihr beschlossen. Darum fragt Gott eigentlich jeden Menschen zu jeder Zeit: „Wo bist Du in Deiner Welt?“ (Rabbi Schneur Salman aus Reussen)
Der Prozess religiöser Innovation ist ja im Prinzip nichts Schlechtes. In seinem Talmudkommentar schreibt der im 14. Jahrhundert wirkende Rabbi Jom Tow ben Avraham Ischbilly aus Sevilla, „Ritba“ genannt, zu Eruwin 13 b: „Als Mose auf die Höhe stieg, um die Tora in Empfang zu nehmen, wurden ihm im Zusammenhang mit einer jeden Sache 49 Gründe gezeigt, warum es erlaubt sein sollte und 49 Gründe, warum es verboten sein sollte. Als Mose den Heiligen – Gepriesen sei er! – um endgültige Entscheidungen bat, wurde ihm gesagt, dass derartige Entscheidungen den Weisen Israels in jeder einzelnen Generation vorbehalten seien und dass die Entscheidungen, die sie dann jeweils träfen, die gültigen Entscheidungen seien.“2
Dem Menschen wird also bei der Offenbarung des Willens Gottes offensichtlich ein hohes Maß an Mitwirkung gegeben. Der andauernde Prozess menschlicher Interpretation wird so zum stetigen Offenbarungsprozess, der weit über das 1 Homolka 2011 2 Romain/Homolka 1999, 23
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Walter Homolka
einmalige Sinaigeschehen hinausgeht. Wir können verborgene Wahrheiten und Ansichten entdecken, es entstehen Neuerungen, durch die ich als menschlicher Interpret zum Mitschöpfer werde. „Glaube“ erhält so für mich einen ganz hohen Plausibilitätsgrad. Er wird zu einer spannenden Entdeckungsreise auf dem Weg, als Jude den Willen Gottes zu erfassen. Sondere Dich nicht von der Gemeinde ab und glaube nicht für Dich allein. (Rabbi Hillel)
Trotz dieses hohen Grades individueller Einsicht und Entscheidungsfähigkeit des Einzelnen im Judentum ist das Gemeinschaftsmoment wesentlich: sei es Religions- oder Schicksalsgemeinschaft. Und Gemeinschaft braucht Merkzeichen. Sie stellen das erkennbar Bleibende dar, das ein Gotteserlebnis an das andere knüpft. Wir sind, wer wir sind, durch diejenigen, mit denen wir in Beziehung stehen. Darum würde jüdisches Gemeindegebet aufhören, jüdisch zu sein, wenn der Gottesdienst von morgen vollkommen anders wäre als der Gottesdienst von heute, von gestern, von vor hundert oder von vor tausend Jahren. Es wäre ein Einbruch in das „kollektive Gedächtnis“ des Judentums. Jüdische Identität ist trotz alledem ständig im Fluss. Sie drückt sich als Beziehung aus: zwischen dem Denken der Vergangenheit, der Selbstvergewisserung der eigenen religiösen Gemeinschaft und den Herausforderungen des heraufziehenden Jahrhunderts. Judentum im 21. Jahrhundert muss also den Brückenschlag leisten zwischen dem Althergebrachten, dem Festgelegten und dem Bleibenden auf der einen Seite und dem notwendigen Wandel, der Aktualisierung, dem Schöpferischen auf der anderen. Mit der „Wahrheit“ ist es so eine Sache. Das zeigt die folgende Geschichte: „R. Abba sagte im Namen Sˇemu¦ls: Drei Jahre stritten die Schule Sˇammajs und die Schule Hillels: eine sagte, die Halakha sei nach ihr zu entscheiden. Da ertönte eine Hallstimme und sprach: [Die Worte] der einen und der anderen sind Worte des lebendigen Gottes; jedoch ist die Halakha nach der Schule Hillels zu entscheiden. – Wenn aber [die Worte] der einen und der anderen Worte des lebendigen Gottes sind, weshalb war es der Schule Hillels beschieden, dass die Halakha nach ihr entschieden wurde? – Weil sie verträglich und bescheiden war, und sowohl ihre eigene Ansicht als auch die der Schule Sˇammajs studierte; noch mehr sie setzte sogar die Worte der Schule Sˇammajs vor ihre eigenen.“3
Den anderen mitbedenken in seiner eigenen Ansicht, und die eigene Meinung nicht absolut setzen: das sind die Schlüssel zur Wahrheit in einem pluralen Sinn. Wer nicht jeden Tag etwas erneuert, zeigt, dass er auch nichts Altes hat. (Rabbi Ahron aus Karlin) 3 bT, Eruwin 13b. Zitiert nach: Der Babylonische Talmud 1980 – 1981
Vom Umgang mit der Differenz
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Seit der Aufklärung hat sich das Judentum in mindestens vier religiöse Grundrichtungen entwickelt. Vor zehn Jahren machten bei einer Umfrage in den USA nur noch 10 % ihr Häkchen bei orthodox, 26 % deklarierten sich als konservativ, 38 % als liberal, und 20 % bezeichneten sich als „irgendwie jüdisch“, also quasi als säkulare Juden (National Jewish Population Survey der United Jewish Communities 2000/01). Damit ist der frühere absolute Wahrheitsanspruch von Tradition längst einer mehrdeutigen Beschreibung letztgültiger Wirklichkeiten gewichen. Und global gesehen stehen wir im 21. Jahrhundert vor einem universalen Marktplatz religiöser Möglichkeiten, die medial weltweit verbunden sind. Der Säkularismus gehört dazu. Rabbi Levi sagte: Gott erscheint für Israel wie ein Bild, auf dem überall viele Gesichter zu sehen sind. Tausende Menschen betrachten es, und es sieht jeden von ihnen an. (Pesikta de RavKahana 12,25)
Aber : „Wer heute Pluralität reflektiert, muss sich auch mit dem Problem des Fundamentalismus auseinandersetzen“4 Im Grunde ist damit die Frage angeschnitten: Was verleiht mir geistige Identität – innerhalb einer Gemeinschaft und im Gegensatz zu einer anderen? Es kann keinen Zweifel geben, dass wir – beginnend mit der Aufklärung vor über zweihundert Jahren – in eine Phase eingetreten sind, die von einem dramatischen Wandel aller Bedingungen des Daseins gekennzeichnet ist – das religiöse Bewusstsein nicht ausgenommen. Nur so erkläre ich mir, mit welcher Hingebung oft an traditionellen Glaubensmustern festgehalten wird, um sich im Schoß althergebrachter Gewissheiten zu bergen. Der Modernisierungsschub seit der Aufklärung befreit nicht nur, er ruft Panik in uns hervor, aus der die Gegenaufklärung ihre Kraft schöpfen kann. Individuell gesehen ist die Bereitschaft von jeher groß, das Projekt Zukunft abzubrechen und in die Sicherheit des Fundamentalismus abzudriften: „Wenn Menschen nach dem Verlust der Gewissheit (certitudo) auf Sicherheit (securitas) setzen, kann es zu dieser gefährlichen Entwicklung kommen. Dabei ersetzt Sicherheit (securitas) nicht Gewissheit (certidudo), noch kann Sicherheit Gewissheit schaffen.“5 Die Berliner Neu-Orthodoxen, die mit der Schinkenstulle in der Hand für den Schulchan Aruch schwärmen! (Rabbiner Ludwig Philippson, 1811 – 1889)
Neben der Flucht durch Fundamentalisierung besteht die Gefahr des Synkretismus. Das Religiöse beginnt sich zu verselbständigen und loszulösen aus dem institutionellen Rahmen. Religion heute ist oft gekennzeichnet von einer Ver4 Jäggle 2009, 268 5 Jäggle 2009, 268
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Walter Homolka
flüchtigung ins Private und einem stillschweigenden Misstrauensvotum gegenüber der scheinbaren Unentbehrlichkeit religiöser Autorität. Hier lauert die Gefahr der Vermischung aller möglichen Sinnstiftungsangebote vom ökologischen Mystizismus über die Spiritualität des New Age bis hin zum TherapieOkkultismus mit traditionellen Elementen und Symbolen nicht nur des Judentums, sondern auch der anderen Weltreligionen. Das Judentum des 21. Jahrhunderts steht aus meiner Beobachtung weniger am Scheideweg zwischen Säkularismus und Religion. Die Kernfrage wird lauten: Finden wir einen Weg zwischen Fundamentalismus und Synkretismus, zwischen Isolation und Assimilation? Judentum, das hinter die Aufklärung zurück will, gleicht einem Salto mortale in die Welt des Schulchan Aruch. (Rabbiner Ignaz Maybaum)
Ein programmatischer Denker des Judentums, Rabbiner Leo Baeck (1873 – 1956) hat für mich sehr gut formuliert, was das Ziel unseres Lebenswegs sein sollte: Gerechtigkeit. Diese aber wird durch Werke und Leistungen, durch Pflichterfüllung und das Ringen um das Gebot erlangt. Denn das Judentum soll mir nicht ein gutes Gewissen schenken, sondern das Gewissen in einen ständigen Zustand der Unruhe und Herausforderung versetzen. Als Jude muss man fähig sein und entschlossen, jeder geschöpflichen Macht Widerstand anzusagen und zu leisten, wenn es gilt, die Gerechtigkeit zu verteidigen. Mit der Orientierung auf die sittliche Tat tritt die Frage nach der geglaubten „Wahrheit“ im Judentum in den Hintergrund. „Der Jude ist aufgefordert, den Sprung der Tat zu wagen, nicht so sehr den Sprung des Denkens.“6 In der aktiven Suche nach Gerechtigkeit zeige ich als Jude Treue zum eigenen Ursprung, Treue zu den Schriften vergangener jüdischer Erfahrung, Treue zu den maßgeblichen Elementen, die das Judentum wesentlich und existentiell ausmachen und Treue gegenüber der „Wahrheit“, die in meinem eigenen Traditionsgut verborgen ist und immer wieder an neue Generationen überliefert wird. Für Jüdinnen und Juden im 21. Jahrhundert wird die Suche nach der eigenen und spezifischen „Wahrheit“ zu einem Auftrag, an der Veränderung der Welt zum Guten hin aktiv mitzuwirken. Dieser Auftrag schlägt eine Brücke zwischen der säkularen Welt und uns, die wir uns als Juden in ihr wiederfinden. Von ganz entscheidender Bedeutung wird sein, Dialogfähigkeit zu gewinnen, die das eigene jüdische Fundament durch die Begegnung und die Erfahrung mit dem anderen festigt und stärkt. In der offenen Gesellschaft von heute werden wir nur dann zu einem profilierten und erfolgreichen Miteinander gelangen, wenn wir Juden unseren eigenen geistigen Standpunkt in der Auseinandersetzung mit 6 Heschel 1980, 218
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unserer geistigen Umwelt gewinnen. Die Frage „Wer bin ich?“ kann nur im Zusammenhang mit der Frage beantwortet werden „Wer ist der andere?“ „In der pluralistischen Gesellschaft wird Identität zur Metapher für den Prozess, in dem Menschen nach Selbstvergewisserung, Konsistenz und Kohärenz suchen. Erfahrung und Interaktion mit der Vielfalt lassen das ,Identitätsgewebe‘ entstehen.“7
Dazu müssen wir die Grammatik und das Zeichensystem unseres eigenen Herkommens beherrschen und Lesbarkeit unseres „kollektiven Gedächtnisses“8 in der Zukunft garantieren. Aber wir müssen auch damit fertig werden, dass Pluralismus bedeutet, mit der Koexistenz unterschiedlicher Lesarten fertig zu werden: innerhalb des Judentums und im Wettstreit unterschiedlicher Weltanschauungen. Der Wiener Religionspädagoge Martin Jäggle hat deutlich gemacht, dass der Schule eine bedeutende Aufgabe im Management dieses Wettbewerbs zukommt. Diese Koexistenz unterschiedlicher Lesarten sollte uns Juden nicht aus der Bahn werfen, die wir uns vielleicht als exklusiv betrachten, aber ohne jeden Ausschließlichkeitsanspruch. Denn im Midrasch Schemot Rabba V.9 wird von Rabbi Jochanan berichtet: ihm zufolge habe Gottes Stimme sich am Sinai erst in sieben Stimmen und dann in 70 Sprachen geteilt – damit alle Völker außerhalb des Bundes Anteil bekommen an dem, was zu Israel und in Israel gesagt wurde. Das wiederum impliziert, dass das Offenbarungserlebnis als Schritt zur geistigen Befreiung allen Menschen gleichermaßen zuteil werden soll. Wer sich diesem Pluralismus als grundsätzlicher Lebenshaltung öffnet, geht durch manche Finsternis der Unwägbarkeit. Ist Toleranz allerdings zu glatt, gewinnt Gleichgültigkeit die Oberhand.9 Zu konstruktiver Toleranz ist aber nur der fähig, der durch die Lebenskunst des Dialogs seine eigene, jüdische Identität geschärft hat. Keine Identität ohne Begegnung, keine Begegnung ohne Identität. Dabei bietet die Identität des anderen gleichzeitig die Möglichkeit der Begegnung mit mir selbst. Deshalb ist vor allem anderen wichtig, dass wir die Identität anderer Weltanschauungen und Geisteshaltungen ehren und anerkennen. Pluralität erscheint als „werthaltige“ Pluralität gesellschaftlich nur dann möglich, wenn es zu einer „Kultur der gegenseitigen Anerkennung“10 führt. Gott liebt die Gerechten. Warum? Weil ihre Tugend nichts Ererbtes ist. Selbst ein Heide kann aber ein Gerechter werden. Denn die Gerechten kommen nicht aus einem bestimmten Stamm, sie haben sich diesen Vorzug erworben. (Midrasch Tehillim zu Psalm 146,8) 7 8 9 10
Jäggle 2009, 277 Ebd. Jäggle 2009, 275 Taylor 1992. Jäggle 2009, 269
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Walter Homolka
Wir müssen davon Abstand nehmen, den je anderen abwerben oder überzeugen zu wollen. Wir müssen lernen, Rechthaberei abzulegen. Nur so werden wir lernen, mit den Augen des Anderen verstehen zu lernen. Das gute, alte jüdische Gebetbuch als Traditionsspeicher und Katechismus wird dabei seinen Platz und seine Bedeutung behaupten können. Judentum heute muss nicht technisch aufrüsten oder Trendsetter werden. Es wird nicht durch einen Konsens allgemeiner religiöser Erregung ersetzt, sozusagen als Stimmungsaufheller Bestandteil unserer Gefühlshygiene, quasi als spiritueller Ecstasy-Kick. Stattdessen werden wir aus dem Schatz unserer Tradition weiterhin Anhaltspunkte gewinnen können, wie wir unser Leben verantwortlich gestalten sollen. Wir brauchen solche Merkzeichen aus der Vergangenheit, denn aus der Spannung von Kontinuität und Wandel entsteht ein geistiges Klima, das uns eigenständige Wege in die Zukunft weist. Das Judentum als Religions- und Schicksalsgemeinschaft bleibt auch in einer Welt des Relativismus zukunftsfähig: durch die Besinnung auf den eigenen ethischen Standpunkt vor dem Horizont der Moderne und durch den festen Willen zur Kooperation, auch angesichts offensichtlicher Differenz zwischen den Religionen und Weltanschauungen. Martin Jäggle hat in seinem Denken deutlich gemacht: Pluralität ist in ihrem Kern Differenz. Deshalb ist das Erlernen des Umgangs mit Differenz für unsere heutige Existenz als religiöse Individuen entscheidend.11 Ich glaube an die Zukunft.– Sei er auch noch so fern, der Tag wird doch kommen, an dem man nach Frieden strebt und eine Nation die andere segnet. (Saul Tschernikowsky)
Literatur Heschel, Abraham J.: Gott sucht den Menschen – Eine Philosophie des Judentums, Neukirchen-Vluyn 1980 Homolka, Walter (Hg.): Frieden in Fülle komme vom Himmel: Die schönsten Gebete des Judentums, Wien 2011 Jäggle, Martin: Religiöse Pluralität als Herausforderung für Schulentwicklung, in: Jäggle, Martin et.al.: lebens.werte.schule. Religiöse Dimensionen in Schulkultur und Schulentwicklung, Wien – Berlin 2009, 268 Romain, Jonathan/Homolka, Walter : Progressives Judentum – Leben und Lehre, München 1999 Taylor, Charles: Multiculturalism and „The Politics of Recognition“. Princeton 1992 Der Babylonische Talmud. Neu übertr. durch Lazarus Goldschmidt. 3. Aufl. Nachdr. der 2. Aufl. Jüdischer Verlag, 1980 – 1981 11 Jäggle 2009, 271
Ednan Aslan
Religiöse Pluralität als Herausforderung an den islamischen Religionsunterricht in Europa
Seit der Entstehung des Islam im 7. Jahrhundert, galt eine seiner wesentlichen weltanschaulichen Anstrengungen der Bestimmung des Verhältnisses zu den anderen monotheistischen Religionen: Aus seinem Selbstverständnis als die letzte göttliche Offenbarung und damit die Vollendung und Besiegelung der Entwicklung der jüdischen und der christlichen Religion heraus sah er sich gezwungen, auf die Zweifel und die Kritik von Christen und Juden einzugehen, um die eigene Stellung rational begründen zu können. Im Koran findet man sehr viele Stellen, die auf solche Zweifel und Kritik Bezug nehmen und die theologischen Positionen der verschiedenen Religionen eingehend würdigen. Nun vollzog sich die Auseinandersetzung mit Nichtmuslimen stets vor einem bestimmten historischen Hintergrund bzw. in einem bestimmten Kontext – so werden im Koran die essentiellen Grundlagen der christlichen und jüdischen Glaubenslehre unter bestimmten Aspekten entschieden abgelehnt, während andernorts1 die besondere Stellung dieser Religionen hervorgehoben2 und zum Dialog mit dem Islam aufgerufen wird3 –, sodass sich aus dem Koran eine eindeutige, bis in die Gegenwart gültige Einstellung des Islam gegenüber den anderen Religionen nicht ableiten lässt. Dasselbe gilt für die zweite Quelle der islamischen Theologie, die als „Sunna“ bezeichnete prophetische Tradition: Auch die darin enthaltenen Aussagen des Propheten müssen unter Berücksichtigung des jeweiligen Entstehungskontexts interpretiert werden, können also ebenso wenig für universale, endgültige Schlussfolgerungen bezüglich des Verhältnisses zwischen Islam und den anderen Religionen herangezogen werden. Darin aber liegt der eigentliche Grund für die im innerislamischen Diskurs geführten heftigen Dispute über die Stellung der Religionen bzw. Pluralität im Islam.
1 Koran: 5/72; 9/30 2 Koran: 3/113, 115; 5/69 3 Koran: 3/64
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1.
Ednan Aslan
Pluralität und islamische Theologie
Die intensiven Begegnungen mit der europäischen Kultur und Religion im Zuge der globalen Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit, haben der Beschäftigung mit religiöser Pluralität im Islam besonderen Schwung verliehen. Das Problem des Verhältnisses zwischen den Religionen stellte sich nicht mehr als ein aus dem Weltverständnis von Gelehrten hervorgegangenes abstrakt-theologisches Konstrukt dar, sondern als die konkrete Aufgabe eines jeden gläubigen Menschen – in dem Sinn, als es nun galt, sich in selbstkritischer Reflexion der Frage nach der Gerechtigkeit Gottes den Gläubigen anderer Religionen gegenüber zuzuwenden. Eine führende Rolle in dieser kritischen Auseinandersetzung mit der klassischen islamischen Theologie kam im Westen lebenden muslimischen Theologen und Intellektuellen zu. Sie warfen die – in der Tat berechtigte – Frage auf, ob die Darstellung der Juden und Christen im Koran unreflektiert übernommen werden könne bzw. ob diese Darstellung Juden und Christen auch heute noch ausreichend beschreibe und eine für alle Ewigkeit universelle Geltung habe. Einer der Hauptexponenten dieser Debatte ist der in den USA lebende muslimische Denker Seyyed Hussein Nasr, er verglich die Wahrheitsansprüche der Religionen mit verschiedenen in sich geschlossenen Sonnensystemen in ein und demselben Universum: „In fact, if there is one really new and significant dimension to the religious and spiritual life of man today, it is this presence of other worlds of sacred form and meaning not as archaeological or historical facts and phenomena but as religious reality. It is this necessity of living within one solar system and abiding by its laws yet knowing that there are other solar systems and even, by participation, coming to know something of their rhythms and harmonies, thereby gaining a vision of the haunting beauty of each one as a planetary system which is the planetary system for those living within it. It is to be illuminated by the Sun of one’s own planetary system and still to come to know through the remarkable power of intelligence, to know by anticipation and without ‘being there’ that each solar system has its own sun, which again is both a sun and the Sun, for how can the sun which rises every morning and illuminates our world be other than the Sun itself ?“4
Nach Nasr ist die Wahrheit zwar absolut und unumstößlich, die Form und die Sprache, in der sie sich offenbart, können jedoch unterschiedlich sein und sogar Widersprüche aufweisen. Die Worte, mit denen die Wahrheit den Menschen nähergebracht werden soll, müssen an deren jeweiliges kulturelles Normensystem anknüpfen – gerade deswegen aber ist nicht Vereinheitlichung, sondern Vielfalt eine Selbstverständlichkeit. 4 Nasr 1989, 252
Religiöse Pluralität als Herausforderung an den islamischen Religionsunterricht
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Was jedoch alle Religionen – bei aller Unterschiedlichkeit der einzelnen Theologien – eint, ist das Versprechen der transzendentalen Erlösung. Diese fundamentale Einigkeit wahrzunehmen und überhaupt zu ertragen ist dem möglich, der über spirituelle Reife verfügt. Für ihn gibt es nur den einen Gott, der sich in den verschiedenen Kulturen anlässlich verschiedener historischer Begebenheiten auf mannigfaltige Weise offenbart hat. Und diese Einigkeit kann durch keinerlei äußerliche Differenzen zerstört werden. Die Menschen, die durch die Sonne ihrer Propheten geleitet werden, sind auf dem richtigen Weg und werden nicht traurig sein. Sie haben ihren festen Platz, ihre Orientierung im Leben – so, wie die Planeten eines Sonnensystems durch das Gesetz der Massenanziehung, das durch die Schwerkraft der Sonne wirkt, in ihren Bahnen gehalten werden. Die von Nasr vertretene Position wird vom Gegenwartstheologen und ehemaligen Präsidenten des Amtes für religiöse Angelegenheiten der Türkei Süleyman Ates geteilt – auch er argumentiert, dass die Barmherzigkeit Gerechtigkeit Gottes allen Menschen zuteil wird.5 Ein weiterer türkischer Theologe, Fetullah Gülen, spricht den koranischen Darstellungen von Juden und Christen Verbindlichkeit ab, indem er auf die Historizität des Korans hinweist.6 Konträr dazu finden sich Stimmen – wie jene von Hayrettin Karaman7 oder dem syrischen Theologen Sabuni8 –, die die religiöse Pluralität ablehnen und strikt darauf beharren, dass der Islam der Träger der universellen Wahrheit sei bzw. die diejenigen, die in der religiösen Pluralität keinen Widerspruch zum Willen Gottes erkennen, als Häretiker bezeichnen.9 Während also die Menschen bzw. die Theologen in den islamischen Ländern wohl noch lange in einem innerislamischen Diskurs über religiöse Pluralität im Islam engagiert sein werden, stehen jene Muslime, die in christlich geprägten, pluralen und säkularen Ländern leben, vor der Aufgabe, ihre Lebensverhältnisse im Einklang mit Verhältnissen zu gestalten, die sich von jenen in ihren Heimatländern fundamental unterscheiden.
5 6 7 8 9
Ates, 1989 Gülen, Fetullah Karaman Al Sabuni Unter anderem beruhen die Argumente dieser Theologien auf der Ayah im Koran: „Kämpft gegen diejenigen, die nicht an Allah und nicht an den Jüngsten Tag glauben und nicht verbieten, was Allah und Sein Gesandter verboten haben, und nicht die Religion der Wahrheit befolgen – von denjenigen, denen die Schrift gegeben wurde, bis sie den Tribut aus der Hand entrichten und gefügig sind!“ (Koran: 9:29)
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2.
Ednan Aslan
Muslime in Europa und religiöse Pluralität
Seit Beginn der Arbeitsmigration in den 60er Jahren sind die Muslime mit Erfahrungen konfrontiert, die sie aus ihren Herkunftsländern nicht kennen. Für die Einwanderer nach Europa bestehen die neuartigen Herausforderungen vor allem darin, sich als Minderheit in einer pluralistischen Gesellschaft zu bewähren, an ihr zu partizipieren und sich als Teil dieser Gesellschaft zu identifizieren. In der Geschichte des Islam gab es verschiedene Gesellschaftsmodelle, in denen unterschiedliche Kulturen und Religionen umgekehrt als Minderheiten unter durch den Islam legitimierten Regeln zusammenlebten. Es existierten auch theologische Konzepte, die den vorübergehenden Aufenthalt von Muslimen in einer nicht islamisch geprägten Gesellschaft regelten. Der dauerhafte Verbleib in einer pluralistisch-christlich geprägten Gesellschaft als der neuen Heimat stellt die islamische Theologie nun vor eine neuartige Situation – für die klassische Jurisprudenz birgt dieser Umstand vor allem eine die Zukunft der Muslime gefährdende Assimilation. Sie macht geltend, dass der innere Friede nur durch eine ganzheitliche islamische Lebensweise in einer rein islamischen Gesellschaft gewährleistet werden könne, da andernfalls das Gewissen aufgrund allzu vieler Kompromisse zu sehr belastet werde. Nun leben die Muslime aber in einer Gesellschaft, die ihre Impulse und ihre Dynamik und folglich auch ihre Regeln längst nicht mehr nur aus dem Glauben bezieht, und daher sind sie aufgerufen, ihre Religion entsprechend neu zu definieren. Dies setzt einen intensiven Diskussionsprozess voraus, geht es hierbei doch um nicht weniger als darum, der Religion einen neuen Stellenwert im Leben einzuräumen. In diesem Prozess kommt der Erziehung muslimischer Kinder insofern eine besondere Bedeutung zu, als diese gewährleisten soll, dass die hier heranwachsende Generation sich mit ihrer neuen Heimat identifizieren kann – ohne das Gefühl einer inneren Verbundenheit kann man der Gesellschaft nicht wirklich dienlich sein. Die islamische Erziehung hat die Aufgabe, den Kindern in einem offenen Dialog diese Notwendigkeit nahezubringen und so dazu beizutragen, eine europäische Identität in einer säkularen, pluralistischen Gesellschaft mit der eigenen Tradition zu versöhnen. Es muss den Muslimen gelingen, das europäische Element in die religiöse Erziehung zu integrieren – mit dem Ziel, sich vom Rand in die Mitte der Gesellschaft zu bewegen.
Religiöse Pluralität als Herausforderung an den islamischen Religionsunterricht
3.
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Der Umgang mit religiöser Pluralität als religionspädagogische Aufgabe
Die Muslime, die nach Europa kamen und hier auch ihre Zukunft sehen, haben aus ihrer Heimat eine bestimmte Vorstellung von ihrer Religion mitgebracht. Die hier tätigen muslimischen Organisationen wurden nicht gegründet, um das religiöse Leben mit Blick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit zu formen – im Gegenteil wurden sie damit betraut, die Kultur und Religion der Heimatländer mit ihren dogmatischen Strukturen zu hüten, ja zu konservieren. Sowohl Moscheevereine als auch Koranschulen hatten allein die Aufgabe, in einer dergestalt hergestellten Schutzatmosphäre die traditionelle Lehre weiterzugeben – ungeachtet ihres fehlenden Lebensbezugs. Erst infolge der Einführung des islamischen Religionsunterrichtes an den öffentlichen Schulen in verschiedenen europäischen Staaten sah sich die islamische Theologie genötigt, über die Grenzen ihrer Organisationen hinaus zu blicken und sich auch Fragen anzunehmen, die innerhalb der Moscheevereine keinen Platz hatten. So begannen die geistlichen Instanzen, sich allmählich von ihrer historischen Umgangsweise mit dem Koran zu lösen und ihre heiligen Texte angesichts der vielfältigen Lebensbedingungen der Muslime in Europa kritisch zu hinterfragen. Als wesentliche Momente gelten dabei die Anerkennung von religiöser Pluralität als Normalfall und die Wahrnehmung der Religion als „diskursiven Gegenstand“, um vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund die eigene Theologie neu zu definieren. Mit Blick auf diese Erfordernisse dürften die Muslime noch einen nicht gerade einfachen Weg vor sich haben.10 Im Folgenden sollen einige der Haupthindernisse, die der Anerkennung der religiösen Pluralität Europas im Wege stehen, angesprochen werden.
3.1
Koran und Gegenwartsbezug
Der Koran ist in einem Dialog zwischen Gott und den Menschen entstanden. Demnach hat Gott das Gespräch mit den Menschen gesucht, ihren Fragen Gehör geschenkt und ihnen Antwort gegeben. Die Offenbarung („Wahy“) ist somit eine Rechtleitung, die den Menschen in seiner Ganzheit wahrnimmt und ihn im Rahmen der durch seine Sprache, seine Kultur und seinen Verstand geformten Lebenswelt anspricht. Im Koran haben die Fragen der Menschen genau so viel Gewicht und Bedeutung wie die Antworten Gottes.11 10 Jäggle 2009, 23 11 Siehe Koran: 3/181, 58/1, 2/189, 215/219, 17/85, 18/83
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Ednan Aslan
„Wenn man die Rhetorik des Koran einzig und allein auf das Wort Gottes reduziert; wenn man den Koran also explizit als Rede Gottes versteht, der als einziger Sprecher zu seinen Zuhörern spricht, liegt man falsch. Der Koran in seiner Gesamtheit ist das Zeugnis einer Kommunikation zwischen dem Göttlichen und den Menschen. Darum ist sogar streng genommen der Begriff ,Diskurs‘ dem des Textes vorzuziehen. Um ganz exakt zu sein, sollte man sagen: Der Koran ist eine Komposition aus diversen Diskursen.“12
Leider hat eine dogmatische Fortentwicklung des Islam diese lebendige Beziehung zwischen Gott und den Menschen stark beeinträchtigt. Die unnachgiebige Forderung, formalistischen Kriterien zu gehorchen, hat den Menschen den Mut genommen, sich mit ihren existenziellen Fragen direkt an Gott zu wenden.13 Von der islamischen Religionspädagogik als der gesellschaftlichen Trägerin der islamischen Theologie wird es daher ebenfalls zu leisten sein, den Koran in einem neuen Kontext, unter Einbeziehung der Fragen, die sich den Muslimen hinsichtlich ihrer Kultur und Sprache heute aufdrängen, zu interpretieren und die verkrustete, zum Kult erstarrte Kommunikation mit Gott wiederzubeleben.
3.1.1 Religiöse Pluralität und Koran Die Stellung, die den Religionen im Koran zugewiesen wird, widerspiegelt die Situation der Christen und Juden in einem bestimmten historischen Kontext, der die Verhältnisse außerhalb der arabischen Halbinsel nicht berücksichtigt und nicht berücksichtigen konnte, weil Gott, um sich unmittelbar verständlich zu machen, die Menschen in ihrer Sprache und mit Bezug auf das für sie gültige Weltbild und Wahrnehmungsfeld anspricht. Der Koran ist weder ein Buch der Philosophie noch der Geschichte, geschweige denn erhebt er naturwissenschaftlichen Anspruch – sein Anliegen ist es, den Menschen moralische Führung und Orientierung zu bieten. Daher ist es unzulässig, die Botschaft des Korans – sei es wörtlich oder sachlich – aus ihrem Entstehungskontext herauszureißen und einer sich auf globaler Ebene immer mannigfaltiger gestaltenden religiösen Landschaft entgegenzuhalten. Die theologischen Positionen der Kirchen und der inzwischen hinzugekommenen, völlig neuen Religionsgemeinschaften entsprechen nicht mehr den Lebensverhältnissen der religiösen Gemeinschaften des 7. Jahrhunderts. Ein Vergleich zwischen den Aussagen der Kirche – und hier stellt sich die Frage, welcher Kirche – des 21. Jahrhunderts und jenen der Christen des 7. Jahrhunderts lässt deutliche Unterschiede erkennen, die auch ihren theologischen Dogmen verhaftete Muslime nicht ignorieren können. 12 Abu Zaid 2008, 66 13 Vgl. Güler 2002
Religiöse Pluralität als Herausforderung an den islamischen Religionsunterricht
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„Mit Hochachtung betrachtet die Kirche auch die Muslime, die den alleinigen Gott anbeten, den lebendigen und in sich seienden, barmherzigen und allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde, der zu den Menschen gesprochen hat. Sie mühen sich, auch seinen verborgenen Ratschlüssen sich mit ganzer Seele zu unterwerfen, so wie Abraham sich Gott unterworfen hat, auf den der islamische Glaube sich gerne beruft. Jesus, den sie allerdings nicht als Gott anerkennen, verehren sie doch als Propheten, und sie ehren seine jungfräuliche Mutter Maria, die sie bisweilen auch in Frömmigkeit anrufen. Überdies erwarten sie den Tag des Gerichtes, an dem Gott alle Menschen auferweckt und ihnen vergilt. Deshalb legen sie Wert auf sittliche Lebenshaltung und verehren Gott besonders durch Gebet, Almosen und Fasten. Da es jedoch im Laufe der Jahrhunderte zu manchen Zwistigkeiten und Feindschaften zwischen Christen und Muslimen kam, ermahnt die Heilige Synode alle, das Vergangene beiseite zu lassen, sich aufrichtig um gegenseitiges Verstehen zu bemühen und gemeinsam einzutreten für Schutz und Förderung der sozialen Gerechtigkeit, der sittlichen Güter und nicht zuletzt des Friedens und der Freiheit für alle Menschen.“14
Nicht nur an dieser Passage wird deutlich, dass das koranische Verständnis von der religiösen Pluralität im Lichte der veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse heraus neu verstanden werden muss – tatsächlich entspräche dies dem Wesen des Korans, insofern nämlich, als so die Kommunikation zwischen Gott und den Menschen belebt würde. Den Koran zu verstehen heißt, ihn schöpferisch auf die Gegenwart anzuwenden.15 Und dabei gilt es stets im Auge zu behalten, dass sämtliche im Koran definierten Ziele immer dem Höheren dienen. So meint auch Fazlur Rahman, dass die Muslime den offensichtlichen Wandel in der Gesellschaft nicht ignorieren und verbissen auf den Wortlaut des Korans deuten könnten. Den Koran auf seine wörtliche Bedeutung zu reduzieren, so Rahman, käme der Zerstörung seiner sozialen und moralischen Ziele gleich.16 Am islamischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen wird sich erweisen, wieweit es auf Grundlage des Korans möglich ist, die Vielfalt gegenwärtiger nichtmuslimischer Lebensformen positiv wahrzunehmen und mit ihnen in einen Dialog zu treten. Nach dem von der Religionspädagogik vertretenen Theologieverständnis kommt es vor allem darauf an, das muslimische Leben immer wieder vor dem Hintergrund sich verändernder gesellschaftlicher Verhältnisse zu reflektieren – und dabei sollen die Fragen, Themen und Probleme, die sich den Muslimen heute stellen, theologisch nicht weniger gewürdigt werden als die Fragen der Menschen im 7. Jahrhundert. Die islamische Religionspädagogik als neue Disziplin innerhalb der islamischen Theologie scheint mir der einzige Ort zu sein, an dem die islamische 14 Erklärung Nostra aetate über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, in: http://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vatii_decl_19651028_nostra-aetate_ge.html (Zugriff am 21. 12. 2012) 15 Vgl. Gülen, Fetullah 16 Rahman 1990, 96
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Ednan Aslan
Theologie auf die Lebenswelt der Muslime bzw. die sich daraus für sie ergebenden Fragen eingehen kann und an dem ein Brückenschlag zwischen dem Kern und Anspruch der Offenbarung und der muslimischen Lebenswelt in Europa möglich ist.
3.2
Religiöse Pluralität und Sunna des Propheten
Ein weiterer Ansatzpunkt für die islamische Religionspädagogik in Europa ist ein Hadith-Verständnis, das die Aussagen des Propheten aus einem lebendigen Prozess herausreißt und diese dann als Grundlage für die islamische Normenlehre betrachtet. „Hadith“ bedeutet wörtlich „Geschichte“, „Tradierung“, „Überlieferung“ oder aber auch „Nachricht“. Als eigene Disziplin etablierte sich die Hadith-Wissenschaft erst nach dem Ableben des Propheten Muhammed, da dieser zu Lebzeiten das Niederschreiben seiner Worte verbot, um zu verhindern, dass das Menschenwort auf gleicher Höhe mit dem Gotteswort, also dem Koran, zu stehen kommt. Nach dem Ableben des Propheten hatten es die Muslime mit einer im Laufe der Zeit zustande gekommenen, außerordentlich großen Zahl an ihm zugeschriebenen Hadithen zu tun. Es kumulierten sich da Aussprüche, so zahlreich, dass ein Menschenleben nicht ausgereicht hätte, sie zur Kenntnis zu nehmen. Hierin lag der Grund für die Entstehung der Hadith-Wissenschaft, die sich sehr kritisch mit diesen Überlieferungen auseinandersetzte und ihre Zahl auf ein Minimum reduzierte. Die Hadithe, die als Aussage des Propheten gelten, wurden nach strengen wissenschaftlichen Kriterien ausgewählt und können auch weiteren wissenschaftlichen Verfahren unterzogen werden. Es ist daher nicht unproblematisch, die gegenwärtige Entwicklung der Menschheit mit Bezug auf die Hadithe zu deuten. Für die erste Generation der Muslime waren nicht des Propheten Worte, sondern Sinn und Zweck seiner Aussagen oder Handlungen Grundlage ihres Handelns. Wenn der Prophet mit dem Finger in eine Richtung deutete, blickte man in diese Richtung und nicht auf den Finger. Es wurde nicht darüber disputiert, in welchem Winkel der Arm gebeugt, wie lang der Finger war und wie lange und in welchen exakten Koordinaten der Prophet in eine Richtung wies, wie das bis heute Brauch ist. Es herrschte also ein viel freierer und unbefangener Umgang mit der Tradition des Propheten, war man sich doch deren lebendigen Bezugs zur Gesellschaft bewusst. Dass diese Aussagen unveränderliche Gesetzesgrundlagen für spätere Generationen wurden, entspricht also keineswegs dem Sinn der prophetischen Tradition. Die teils überempfindlichen Reaktionen der Muslime in der Gegenwart auf kritische Äußerungen zur Person Muhammed sind unter anderem auch
Religiöse Pluralität als Herausforderung an den islamischen Religionsunterricht
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darauf zurückzuführen, dass eine Mehrheit die Botschaft des Propheten auf bestimmte Aussagen oder gar auf ein Bild von ihm reduzieren und dieses verfestigen will. Die Entwicklung eines lebendiges Sunna-Verständnisses und damit die Wahrnehmung religiöser Pluralität im Sinne der prophetischen Botschaft setzt die Neustrukturierung des traditionellen Hadith-Verständnisses im Lichte aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse seitens der islamischen Theologie voraus. Eine solide theologische Verankerung der Muslime in der Gesellschaft der Gegenwart wird nicht möglich sein, solange man sich der religiösen und kulturellen Pluralität in der modernen Gesellschaft aus dem Blickwinkel der kriegerischen und feudalen Spannungsverhältnisse im Hedschas des 7. Jahrhunderts nähert. Dabei wäre eine zeitgemäße Betrachtungsweise keineswegs ein Bruch mit der islamischen Tradition – bereits der berühmteste Gelehrte des sunnitischen Islam, Abu Hanifa, wusste die Aussagen des Propheten in einem bestimmten Kontext zu deuten, und tatsächlich weigerte er sich, nach dem Wortlaut der Hadithe zu handeln.17 Wenn nun die islamische Religionspädagogik in Europa daran geht, die Aussagen des Propheten aus der innerislamischen Isolation herauszuführen, um sie mit einem der Lebenswelt der jungen Menschen gemäßen Geist zu erfüllen, stellt sie die Autorität des Propheten nicht nur nicht in Frage, sondern trägt dazu bei, dass seine Botschaft ihre authentische und dynamische Bedeutung wiedergewinnt.
3.3
Religiöse Pluralität und muslimische Organisationen
Was die muslimischen Organisationen betrifft, die die Gesellschaft aus der Opferrolle heraus betrachten und zur Abwehrhaltung neigen, so werden auch sie sich der religiösen Pluralität in der säkularen Gesellschaft zu stellen und sich auf den Dialog mit den Religionen einzulassen haben. Denn so verständlich die Gründe für diese ihre Haltung sein mögen – wie die Zukunft der Muslime und der islamischen Theologie in Europa aussieht, sollte nicht von ihr abhängen. Eine theologische Autorität, die von einer großen Organisation in Europa gerne gelesen und zitiert wird, bringt die Angst der Muslime ohne Umschweife und ehrlich zum Ausdruck:
17 Jundi 1983, 47
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Ednan Aslan
„Einige Muslime in der Gegenwart überschreiten ihre Grenzen im Bezug auf den Dialog. Im Namen des Dialoges und der Toleranz machen solche Muslime unberechtigte Zugeständnisse. Die Juden und Christen lehnen den Islam als wahre Religion ab und können die Muslime nicht als Vertreter der wahren Religion akzeptieren. Vor Gott ist der Islam die einzig wahre Religion. Wer eine andere Religion als den Islam annimmt, wird kein Heil finden (…) In der 1400jährigen Geschichte des Islam ist es noch nicht zu einer solchen abscheulichen Erneuerung (Bid’a) gekommen.“18
So also gestaltet sich der Alltag der Muslime im Spannungsfeld zwischen einer pluralen gesellschaftlichen Wirklichkeit und einer Theologie, die – in Ignoranz dieser Lebenswelt – die Muslime dazu motiviert bzw. anhält, in religiöser Isolation zu leben. Von vielen islamischen Organisationen wird der Dialog als Selbstdarstellung des Islam aus bestimmten theologischen Positionen heraus oder gar als Einladung zum Islam verstanden. Ein Infragestellen der eigenen traditionell-theologischen Positionen oder zumindest die Bereitschaft, in einen Dialog einzutreten, scheint die theologischen und intellektuellen Kompetenzen der in Europa lebenden Muslime derzeit noch zu überfordern. Von im Ausland rekrutierten Imamen und SeelsorgerInnen ist freilich kaum zu erwarten, dass sie die Fragen, die von jungen Menschen an sie herangetragen werden und die für sie von existenzieller Bedeutung sind, verstehen – wird solchen, den Alltag der jungen Menschen in Schule und Gesellschaft betreffenden, Fragen doch keine große Bedeutung beigemessen. Dies aber führt dazu, dass viele Jugendliche, die Koranschulen oder Wochenendschulen besuchen, den Mut verlieren, die Widersprüche, die sich zwischen ihrem Glauben und der Gesellschaft auftun, zu klären. Die wachsende Kluft zwischen Religion und Alltag verursacht oftmals Konflikte, die die Zukunft und das seelische Wohlergehen dieser Menschen nachhaltig beeinträchtigen.
3.4
Digital Ummah als neue Heimat für die Muslime
Ein nicht zu unterschätzender Umstand, der der Akzeptanz Europas als Heimat der religiösen Pluralität zuwiderläuft, ist die wachsende internationale Vernetzung der muslimischen Jugendlichen durch das Internet. Die digitale Teilhabe an einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten erlaubt es ihnen, sich von der Gesellschaft zu distanzieren und sich ihrer Verantwortung zu entziehen. Die wachsende Anzahl von Fatwa-Seiten und anderer Internetforen bietet eine neue Möglichkeit des Diskurses im Cyberspace, der am Rand der Gesellschaft geführt wird. 18 Eygi
Religiöse Pluralität als Herausforderung an den islamischen Religionsunterricht
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Allmählich ersetzen die neu entstehenden Lernformen die traditionellen Lernorte der jungen Menschen. Die Funktion der Klassenräume tritt immer mehr in den Hintergrund angesichts des breiten Angebots an unterschiedlichsten digitalen Lernmöglichkeiten, oft vermittelt durch selbsternannte FatwaGurus.19 Die Muslime Europas, die sich in der Opferrolle wähnen und ständig mit sozialen Benachteiligungen konfrontiert werden, sind für solche Angebote sehr anfällig. Auch in dieser Hinsicht ist die islamische Religionspädagogik gefordert, die Fragen der Menschen, die sie in einer innerislamischen Gemeinde nicht stellen können/dürfen, ernst zu nehmen und sie zu einer selbstbewussten, freien und aufrichtigen Kommunikation mit Gott zu ermutigen.
4.
Resümee
Die Einwanderung nach Europa hat die Muslime vor die Notwendigkeit gestellt, mit der in der neuen Heimat vorgefundenen kulturellen, religiösen und weltanschaulichen Pluralität so umzugehen, dass die Wahrung ihrer eigenen Identität die Achtung anderer Identitäten nicht ausschließt und auch sie selbst in ihrer Andersartigkeit Akzeptanz finden. Die Fähigkeit, sich zur Pluralität zu bekennen setzt die Bereitschaft voraus, die eigene Geschichte in einem neuen Kontext kritisch zu hinterfragen und sich gegebenenfalls von traditionellen theologischen Kategorien zu lösen. Sich allein durch die eigene Religion zu definieren kann nicht zielführend sein, will man als Mitglied der Gesellschaft anerkannt und verstanden werden. In einem Land zu leben und immerzu von einer anderen, idealen Gesellschaft zu träumen produziert unendliche Widersprüche, die es insbesondere Kindern und Jugendlichen schwer macht, sich in der Gesellschaft zurecht zu finden. In diesem Prozess der Kontextualisierung des Islam kommt der islamischen Religionspädagogik die besondere Aufgabe zu, die Theologie, die die Muslime zu schützen versucht, vom Standpunkt einer pluralistischen Gesellschaft mit Fragen zu konfrontieren, die diese Theologie aus ihrer eigenen Geschichte nicht kennt, auf die sie aber eine Antwort finden muss. Dabei mögen sich für die Muslime manche Hindernisse auftun. Findet sich jedoch der entsprechende Wille, sind diese sicherlich zu überwinden, und dann entsteht vielleicht auch so etwas wie eine Theologie der Befreiung.
19 Vgl. el-Nawawy 2009
64
Ednan Aslan
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Vasiliki Mitropoulou
Intercultural Model for the Teaching of Religion (with reference to Greece)
1.
Introduction to Intercultural Education
Intercultural education as applied in schools could be the answer to the daily coexistence in the same room – and/or even the same desk – of pupils coming from different countries. In this direction the curricula created for this purpose could be an excellent guide.1 Thus, intercultural education has the ability to move flexibly among the various cultures and could provide an excellent framework for the effective teaching of diverse children, with different nationality, language, religion. According to Agostino Portera (2008) “intercultural education” and “intercultural pedagogy” can be considered the best answer to face “globalization and merging of different languages, religions, cultural behaviors and ways of thinking”. As he stresses, “An intercultural perspective in education is more dynamic (…)” because “otherness or strangeness is not seen only as a danger (…) but as a possibility for enrichment and for personal and social growth”.2 Following Agostino Portera’s remark, intercultural education can be perceived as a dynamic interaction, taking place on two levels: the different pupils’ attitudes and behavior, and (b) in depth, among their different cultures. According to Martin Jäggle et al. (2009) religious pluralism can also function as dynamism, but only when it is recognized.3 As such it can promote critical thought, self-consciousness, acceptance of the “other”, the different – where, the “other” is any other human being, as person, as “plision” (neighbor), as creature of God in His image (“kat’ eikona”). God created the world with plurality in every aspect (land, plants, and living creatures). Let’s take for example the animals, the white and the brown bear. They have different colours, they have different food habits, they live at different places. Do we consider one of them superior or 1 Georgogoiannis 2008, 31 – 41 2 MacPherson 2010, 271 – 286 3 Jäggle/Krobath/Schelander 2009, 23 – 60; 274
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inferior to the other? What about the birds? Why then do we do it with the other human beings that are also creatures of God? Diversity enriches the cultures. In such a climate of thinking the differences in language, religion, ethnicity are totally acceptable and welcome. In this sense diversity, as Martin Jäggle et al. (2009) state, is the normal and not the opposite. This could help us face the diversity not as a disorder of normal, but as a social and individual reality.4 Intercultural education offers new pedagogical and teaching ways/methods that will give ideas to promote communication, mutual knowledge and understanding, mutual sensitivity and respect among pupils coming from different cultural origins. Thus, it plays a major role in schools and for the coexistence of the minorities with the indigenous in a climate of collaboration with the “other” in peace and love.5 Following the above mentioned, Eleni Kanakidou and Voula Papagianni (1998) conclude that intercultural education is based on the belief that all people are equal, considers all cultural and linguistic differences as an enrichment which should be included in the Curricula, promotes equality of opportunities to all, opposes and fights any kind of discrimination.6 More specifically, intercultural education as stated in the Greek Curricula for Intercultural Education, in the Government Paper $ 124/14 – 6-1996, must take into consideration: – The difficulties the “other” pupils (immigrants) are confronted with in schools. – The organizing of structures and methods for the teaching of the language of the receiving country to the immigrants, at a short time, so that they can be integrated more quickly in the educational system. – That the immigrants have the same opportunities in education as the indigenous pupils. – The offering of equal opportunities to the immigrants both in school and their social environment. – The abolishment of all discrimination and the promotion of equality, mutual understanding, mutual acceptance, and solidarity among all citizens of the receiving country. – The conduct of researches, according to their results, to suggest methods and solutions to the above issues.7
4 5 6 7
Jäggle/Krobath/Schelander 2009, 273 Ziogou/Mpesi 2010, 53 – 63 Kanakidou/Papagianni 1998, 16 – 17 Mparos/Lanafi 2008, 42 – 66
Intercultural Model for the Teaching of Religion (with reference to Greece)
2.
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Principles of Intercultural Education
The principles of intercultural education as stated in the curricula refer to ways of helping the pupils form a life attitude towards cultural equality, which will regulate their lives both in school and in society.8 This attitude cannot be learnt and applied only in the school environment, but also in the social environment, because it includes all “pedagogical principles which regulate the life of all people living in a society, who have different views, attitudes, mentality, and behavior”.9 The principles referred to in the curricula aim also to the coexistence and the collaboration with the “other”, the “different”10 by cultivating the pupils’ attitudes of understanding, acceptance, tolerance, respect, and recognition of their cultural identity. Such a life attitude also creates respect of the human rights.11 Michael Damanakis (1997) supports the following axioms of intercultural approach which were considered important for handling diversity in schools: 1) equality of importance of all cultures and civilizations 2) equality of their cultural heritage 3) equal opportunities provided in school.12 Helmut Essinger (1988)13 suggests four basic principles of intercultural education: (a) empathy (b) solidarity (c) respect of cultural diversity (d) extinction of the nationalistic way of thinking in regard to national stereotypes and prejudices. James Banks14(1995) proposes 5 basic dimensions of the multicultural education: (a) introduction in the lessons of the curricula elements from different civilizations (b) a research for the ways of constructing knowledge and the influences they accept by the cultural cases and reports, views and prejudices. (c) a reduction of the prejudices and cultivation of more democratic attitudes and values to the students (d) creation of opportunities for equal swokij^ en]king of all students (e) strengthening and organizing the “school culture” so that different racial, national or social groups can feel educationally equal.15 In the the Final Report of Council of Europe16(Project No 7) the following results are referred to as basic characteristics of intercultural education: – Its field is the immediate experience of children in the host country
8 9 10 11 12 13 14 15 16
Lagos 2004, 51 Kanakidou/Papagianni 1998, 15 – 16 Ziogou/Mpesi, 2010, 54 Ibid. 54 Lagos 2004, 53 Essinger 1999, 50; Gkovaris 2004, 178 Banks 1997 Lagos 2004, 49 Project No 7, 1986, 18
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– It provokes mutual influence between the cultures of the countries of origin and the host country – It causes re-examining and reviewing the socio-centered and national-centered criteria of the school. – It is a medium for the evaluation of the chances in life and for the achievement of the major possible social and economical integration.
3.
Aims of Intercultural Education
Main aim of intercultural education is to provide equal opportunities both, in education and in society, which can be achieved through intervention in order to remove stereotypes, prejudices, racism and discrimination. Respect of the personality of the child and his/her cultural identity are the prime aim: – to develop a positive attitude towards diversity and multiculturalism – to be sensitive for the needs of the children coming from different civilizations – to develop, through empathy, social skills – mostly those of communication, self-esteem and responsibility – to form life attitudes to reflect a spirit of collectivity and solidarity. – to cultivate tolerance and the acceptance of diversity – to accept themselves and the “others” – to become conscious and respect the individuality and diversity of each one.17 In Eleni Kanakidou and Voula Papagianni (1998) study are stated four basic principles and aims of intercultural education: 1. Positive views for the differences among cultures 2. Solidarity 3. Respect for the other cultures as equal 4. Education in peace However, in most countries intercultural education is perceived as homogenization of the immigrants and their assimilation by the dominant culture.18
17 Fiogou/Mpesi 2010, 55 – 58 18 Lekkas/Larketou 2008, 85 f.
Intercultural Model for the Teaching of Religion (with reference to Greece)
4.
69
Intercultural Education in Greek Schools
In the beginning of the 90’s Greece accepted a mass wave of economic immigrants, political refugees and repatriates. Those were added to the other previously existing minorities, e. g. the Muslims of Thrace and the Roma. School as a basic institution of socialization had to change by overcoming its monolingual and mono-cultural orientation as expressed in curricula, schoolbooks and education policy. At that time there were founded the so-called Reception classes, Tutorial classes and Reception schools for repatriates aiming at quick integration of the students into the regular classrooms of Primary and Secondary education. Under the Law 2413/96 (Government Paper) the Reception classes and Tutorial classes were modernized, the Institute for the Education of Homogeny (Repatriated) and Intercultural Education was founded. Their priority was the effective integration of repatriated and foreign students into the Greek educational system via educational and teaching means. Their aim was to promote the Greek education of the repatriated and the design of new curricula for persons with cultural peculiarities which would ensure the harmonious co-existence of all students, their equal learning opportunities and their social integration and thus forwarding educational models which would not allow students’ segregation. In 1996, there were issued the Greek Curricula (Government Paper $ 124/ 14 – 6-1996) for Intercultural Education. In their aims was stated that intercultural education: – should be incorporated (as much as possible) in all the subjects/courses of school education – should develop all scientific subjects which can be included in the courses of school education – should write down the historical course and evolution from 1960 to the present – should state questions referring to its further evolution, which is defined not only by the past, but also by new issues deriving both from new social and cultural conditions and from rapid changes in technology, economy, globalization, moving of populations resulting in new situations as they bring in contact people with different characteristics, mentalities and cultures. – should state the ways with which to contribute to the evolution of the modern man, which is the creation of conditions for the incorporation of the foreign students into the school of the receiving country but also of all the immigrants into her society. Intercultural schools are applied with the same curricula as the state schools, which are adapted to the specific educational, social, cultural or educational
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needs of their students by the issue of the Law 2413/96 Article 34 (Government Paper) and OGG 124 A/17. 6. 1996. Main aims are: – The social integration of Repatriated, Foreign, Roma, Muslim students – Their contribution to form students capable of managing the intercultural reality and to benefit from it – The organization and operation of schools, which can provide education to young students with educational, social, cultural or teaching particularities
5.
Intercultural Education Models
The teaching models of intercultural education contribute to raising awareness among pupils towards diversity, aiming also to change their attitudes and behavior to their classmates coming from different religions, cultures and backgrounds.19 Issues of racial and cultural diversity and racism demand particular challenges for effective teaching and learning in diverse theological classrooms, require students in each small group to become familiar with the ecclesial, racial and cultural heritages represented in it. James Banks (1991, 2001), as mentioned in Phyllis Bo-Yuen Ngai’s (2004) study, proposes a multicultural model with two aspects of curriculum design and implementation. One aspect refers to the curriculum for leaders and teachers and states that their prime aim is “to inspire students to reflect on their own cultural heritage and then to move gradually to other kinds of socio-cultural differences”. The other aspect refers to transformation as core content of the pupils’ curricula and thus, he proposes, “an interdisciplinary conceptual approach to curriculum design and implementation”.20 Milton Bennett (2004) proposes the Developmental Model of Intercultural Sensitivity (DMIS), which refers to any form of diversity and differences among individuals. The model has six stages: the first three stages are ethnocentric (an individual’s culture is perceived as central in relation to the others). The latter three stages are ethno relative (an individual’s culture is perceived within the context of the cultures of the others).21 Intercultural education can also be applied with an education model. Each model includes a variety of subjects which can be supported by Intercultural Education. The Educational Models for Intercultural Education are considered as follows:22 19 20 21 22
Deakins 2009, 209 Ngai, 2004, 321 – 333; 209 VanHook: http://ecap.crc.illinois.edu/pubs/katzsym/vanhook.pdf Lekkas/Larketou 2008, 81 – 88; Lparos/Lanafi 2008, 42 – 66
Intercultural Model for the Teaching of Religion (with reference to Greece)
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The Assimilation Model This model supports that all students, regardless their national and cultural origin, must gain knowledge and abilities that will allow them to participate in the common national culture. The only way to achieve this is that the immigrant children learn – as soon as possible – the language of the host country and her national culture (the learning of their own language is neglected) (“cultural assimilation”). The Integration Model The model of integration permits the acceptance of cultural diversity of the immigrant groups as long as it does not prevent their integration or puts in danger the cultural principles of the dominant society. Respect and tolerance of the cultural diversity refer to religious beliefs, customs, traditions, music, and festivities etc. which do not consist in any basic element of the society. In education more detailed curricula provide for the more effective integration of the foreigners into school and society. The Multicultural Model It considers that the social coherence is promoted with the recognition of the cultural particularities of the immigrant groups and the forming of a social frame, within which all cultures will coexist and develop, without putting in danger unity and coherence. In education the necessity that immigrant children know their national culture and tradition is recognized to require equal educational opportunities. Thus the curricula take into consideration the language and cultural activities of the immigrants. A possible danger is the creation of prejudices and stereotypes. The Antiracist Model It focuses on the institutions and the structures of the society and stresses the need of their reviewing to ensure the same opportunities for all (natives and immigrants) and extinguish any racial discrimination. The aims are: equality in education, justice, emancipation and liberation from the racist prototypes. The Intercultural Model The intercultural model takes primarily in consideration the necessity of interaction and mutual collaboration between individuals (from any group, either local or immigrant). It aims for the creation of open societies that will be characterized by equality, tolerance, mutual understanding and mutual acceptance. In education, schools could be a mould of cultures, cultivating critical thinking in the children.
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6.
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Intercultural education and religious education
In the White Bible of the European Union the intercultural perspective of all school subjects and particularly of Religion is stressed, which can, through the knowledge of all religions in the world, promote understanding and elimination of prejudice among peoples.23 As stated, in the Greek Curricula (Government Paper, 13/03/2003, v. A’) one of the aims of religious education is to “promote a sense of respect toward the ‘other’/the different, solidarity, tolerance, empathy (in the form of unlimited love) towards the ‘other’, the neighbor (‘plision’), respect to the ‘other’ and to other religions, and coexistence in peace (…)”
thus promoting “mutual understanding”. Religious education does not promote only the transfer of knowledge (e. g. on world religions) but also for the cultivation of life attitudes and ethical values in pupils (e. g. empathy, critical attitude towards stereotypes, tolerance towards diversity, mutual respect and understanding). Under this view, intercultural religious education promotes inter-culture. Intercultural religious education promotes the objective knowledge of the religions of the “others” and the differences among them. Thus, it can be referred to as a lesson cultural, ecumenical and ethical with both cognitive and religious contents and respect for the local religious traditions.24 In the books of Religion used in schools many cultural elements aiming for the introduction of the children into the school and the social environment are included. In religious education the “other” is projected as neighbor (“plision”) (Math. 19,19), a “brother” ($ Cor. 12,27, Gal. 3,26 – 28). So the students can become conscious that the acceptance of the foreigner is not an obligation or obedience to rules but comes from love. In this spirit, Religious education teaches that all human beings are children of God and promotes the attitude that the “other” is an icon of God and promotes this attitude towards the “others” and carries the Christian message of love and respect towards diversity and its acceptance.25 We love all our fellowmen (irrespective of their religion, color, race, nationality, language, culture) in the same way as God loves us.26 Martin Jäggle (2000) agrees that Religious Education is considered problematic in schools (especially in Primary Education) and one of the most difficult objects for the implementation of Intercultural education.27 And this is so, 23 24 25 26 27
Joukounaras-Liagkis 2010, 569 – 578 Ibid. 576 Pepes 2010, 588 Taylor 1997, 169 Jäggle 2000, 136
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since religious education can influence at a great degree the attitudes and the beliefs of children. The teaching of religious education should give religion the position and the importance that it has, as an important part of a cultural tradition.28 Religious education in teaching can take examples from the daily life of the pupils and can promote a feeling of love, solidarity, respect, tolerance. In this way, teaching becomes more interesting because it will be connected with the personal experiences of the pupils. It is strongly believed that religious education can contribute to the extinction of racism and prejudices in schools and in society. To prove this, two surveys were conducted in schools with foreign children from other religions. In one research the children answered to the question “Are you friends with the children that believe only in the same God as you?” The foreigners answered: YES 75 % and NO 25 %. To the question “Are you friends only with children that believe in a different God from yours”: YES 91,7 % and NO 8,3 %. And to the questions: (i) “How important is it to you to be friend with children that believe only in the same God as you?”, they answered: Very much – Much: 43,5 %, little – enough: 10,2 % and not at all: 38,5 % and (ii) “How important is it to you to be friend with children that believe in a different God from yours” Very Much-Much: 37,5 % Enough – Little 17,5 %, Very Little: 5 % Not at All 30 %.29 In the other survey the students answered the questions: “Do you participate in common activities, such as playing during intervals, with children that belong to another religion?”; the answers were: Very 42,2 %, Enough 25,9 %, Little 10 %, Neither Agree Nor Disagree 4,6 %, Not at All 15,3 %. “In Religious Education the students become conscious that boys and girls of every colour and race, rich or poor, Christians and not are brothers, and children of the one caring father?” Very 60,6 %, Enough 23,3 %, Little 8,8 %, Neither Agree nor Disagree 4,4 %, Not at all 2,9 %. The results show that the difference of cultures, languages and the way of life do not contain any danger for the cultural identity of an individual and that the teacher of Religious Education can contribute to the extinction of prejudice and racism and foster the pupils’ attitude that every person, independently of race, colour, language, nationality and religion, has his own unique personality which must be respected by all.30
28 Janakidou/Papagianni 1998, 66 29 Mpaltatzis/Tsoukanaridis/Mpaltatzi 2010, 600 – 611; 592 – 595 30 Lpaltatzis/Kakarounta/Lpaltatzi 2010, 613 – 623; 621 – 622
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7.
Intercultural Model for Religious Education. Suggestion of a Teaching Approach
A model that we propose for the intercultural teaching asks for a new project method. The teaching procedure of a project has an initiative that comes from the pupils themselves. Within the frames of a project the pupils seek, notice and investigate a topic/issue that interests them. They themselves organize their activities, they collect, evaluate, elaborate and present the information. This active involvement contributes to the development of skills and attitudes which will help them define their behavior in today’s rapidly changing society. Each group taking part in a project looks after the following actions: decision on the topic they will deal with, programming the course of their actions, taking action aiming to fulfill their goals. Our teaching suggestion is about the planning and development of a project for the pupils of the 6th grade of Primary Education with intercultural approach. The priorities we set are: activation of the pupils, intercultural approach of knowledge, integration and promotion of ICT during teaching procedure.31 Most important to us is that the students develop alternative strategies for problem solving, to state ideas and check them, to find their mistakes, to learn to trust their own judgment.32 The aim of the lesson is that the pupils know the main characteristics of the orthodox Christian churches, the Catholic churches, the Protestant churches, the synagogues, the mosques, so as to be able, when they see one of them to recognize its characteristics and to which religion or denomination it belongs to. The model for the teaching of this unit with project can follow these four phases: 1. Initiative. The first unit should unfold the experience of the topic. It can be the visit to an orthodox church due to a festivity. Then the pupils define the intercultural issues that are integrated in the topic. The teacher can show (more) pictures or webpages from the internet. 2. Planning of the programme. In the second unit the pupils will work in groups at school, evaluating the material that they brought from their homes/outside. 3. Implementation of the programme. During the third unit the pupils together with their teacher pay visits to an orthodox church, a catholic cathedral, a protestant church, a synagogue and a mosque (to as many as there are in their city). There the pupils will see and interpret all they have been taught theo-
31 Frey 1988 32 Raptis/Rapti1999, 48
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retically in school class. They also take photos in order to use them for their presentations. 4. Presentation of work. The fourth unit is dedicated to the pupils’ presentation of results, conclusions of their research, followed by their evaluation with exercises and educational games. Such a teaching approach is expected to motivate the pupils to accept each other, to collaborate, offer and receive help from pupils with other religious beliefs, without any prejudices, but with interest for the symbols of their religion (such as the church).
8.
Summarising
In short, intercultural education should include religious education, because as shown above, it can play an active and important role in intercultural education. It can help pupils become conscious that the deeper meaning of intercultural religious education is coexistence, coherence, regard for ethical values, respect for the other as a genuine person, tolerance, and sensitivity to contemporary social issues. We believe that projects in religious education can be the best method for intercultural teaching, because it activates and motivates the pupils. More specifically, it raises their interest, they learn to collaborate in equal environments, they show their skills from within their diversity, a democratic framework for equal participation is created, and they discover a larger field for expression.
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Vasiliki Mitropoulou
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Silvia Habringer-Hagleitner
Mit mehr als Worten. Zur Kultur gegenseitiger Anerkennung in elementaren Bildungseinrichtungen
Vorbemerkung Martin Jäggle versteht Religionspädagogik als systemkritisches, politisch waches Unterfangen, welches die Lehre des christlichen Glaubens nicht von dem Ruf nach Gerechtigkeit trennen kann. „Fragen der Bildung sind zugleich soziale Fragen und betreffen die Grundlagen unserer demokratischen Gesellschaftsform: den Zusammenhalt der Menschen in der Gesellschaft, Beteiligung, Solidarität und Gewaltfreiheit.“1 Gemeinsam mit Marianne Heimbach-Steims fordert er für den Bildungsdiskurs eine „Sozialethik der Bildung“ ein, welche in der Folge Bildungsgerechtigkeit für alle in Österreich lebenden Kinder, vor allem auch solche mit sogenanntem Migrationshintergrund nach sich zieht.2 Das Bedürfnis nach Bildungsgerechtigkeit für die ganz jungen Kinder unserer Gesellschaft führten mich zu einem Forschungsprojekt, in dem ich der Frage nachging, wie sich die jüdisch-christliche Botschaft gegenwärtig in die öffentlichen, von Multikulturalität und Multireligiosität geprägten elementarpädagogischen Einrichtungen diakonisch einbringen kann.3 Eine Antwort findet sich in der Erarbeitung einer Kultur wechselseitiger Anerkennung, wie sie Martin Jäggle im Anschluss an Charles Taylor und Paulo Suess begreift: Ausgehend von der Einsicht, dass Pluralität und Diversität in gegenwärtigen Lerngruppen zur Normalität gehören, braucht es eine Kommunikationshaltung, welche eine „Kultur der gegenseitigen Anerkennung“ ermöglicht. Es gehe nicht nur um die Anerkennung der Anderen durch die Einen, sondern um die gegenseitige Anerkennung aller.4 Ich gehe nun der Frage nach, wie sich eine solche Kultur gegenseitiger Anerkennung in elementaren Bildungseinrichtungen entwickeln kann und welche 1 2 3 4
Jäggle/Krobath 1/2010, 55 Vgl. ebd. Vgl. Habringer-Hagleitner 2006 Vgl. Jäggle 2009, 269
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pädagogischen Grundhaltungen und didaktischen Schritte dafür hilfreich sein können.
1.
Kultur der Anerkennung bei jungen Kindern – Erfahrungen aus einer Feldforschungsarbeit in einem städtischen Kindergarten
Für meine Feldforschungsarbeit im Rahmen meiner Habilitation wählte ich einen öffentlichen städtischen Kindergarten, der zu einem überwiegenden Teil von Kindern mit Migrationshintergrund besucht wird. Konkret werde ich einer Gruppe mit 20 Kindern zugeteilt, von denen nur eines Deutsch als Erstsprache hat, die anderen Kinder sprechen türkisch, serbokroatisch und albanisch. Als ich den ersten Tag in die Gruppe komme, ist die gruppenführende Pädagogin mit einigen Kindern in der Küche, um mit ihnen Kürbissuppe für das Kürbisfest zu kochen. Die im Kindergarten angestellte Integrationspädagogin, welche selber aus einer serbokroatischen Migrationsfamilie stammt, begrüßt mich kurz. Dann wendet sie sich einem Mädchen zu. Ich betrete den Gruppenraum, sehe, wie die Kinder in verschiedenen kleinen Gruppen miteinander spielen und höre die verschiedenen Sprachen. Ich werde den Kindern nicht vorgestellt, sondern bin einfach plötzlich im Raum. Die Integrationspädagogin deutet auf eine Gruppe von drei Jungen, die ein Sachbilderbuch anschauen, und meint, dass sie schon Deutsch können. Ich gehe zu den Buben, frage, ob ich mit ihnen das Buch anschauen soll. Ich nenne meinen Namen, aber sie reagieren ablehnend und drehen sich weg. So setze ich mich auf eine Bank und schaue den Kindern zu, mein Unbehagen steigt und ich fühle mich fremd. Nach etwa sieben Minuten kommt Ina5, ein zartes, blasses Mädchen auf mich zu. Ich sage „Hallo. Wie heißt du?“, sie antwortet nicht, sie kann offenbar noch nicht Deutsch. Sie nimmt meine Hand und beginnt mit dem Rosenquarzband an meinem Arm zu spielen. Es entsteht zwischen uns ein heiteres Händespiel. Wir lachen leise. Ich freue mich über ihre Kontaktaufnahme, fühle mich plötzlich ein Stück wahrgenommen und in die Gruppe geholt. Ina hat den Bann für mich gebrochen. Kurz darauf kommt Endrit mit einem Bäume-Brettspiel, erklärt es mir, indem er auf die Figuren deutet und vorzeigt, wie es geht. Ich spiele mit ihm. Andere kommen dazu und ab diesem Zeitpunkt akzeptieren mich die Kinder als Spielpartnerin und nehmen mich in den folgenden Tagen häufig als solche in Anspruch. In der Reflexion wurde mir deutlich, dass es ausgerechnet Ina war, die mein Gefühl der Fremdheit offenbar sensibel wahrgenommen und aufgelöst hatte. Ina 5 Die Namen der Kinder und Pädagoginnen wurden geändert.
Mit mehr als Worten
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war in der Gruppe ein sehr stilles, fast scheues Kind, das oft – vor allem bei den gemeinsamen Feiermahlzeiten – nicht mitmachen wollte und ohne mitzuessen dabei saß. Sie hatte nur punktuell Anschluss zu anderen Kindern und es schien mir zunehmend, als fühlte sie sich fremd und allein. Sie hatte serbokroatisch als Erstsprache und konnte nur wenige deutsche Wörter, aber sie fand einen Weg mir mitzuteilen, dass sie mich wahrgenommen und etwas Interessantes an mir gefunden hatte, weshalb sie neugierig das Spiel mit dem Armband begann. Ohne Worte, dafür umso mehr mit unseren Händen, kamen wir in Kontakt; es war eine intensive Form der körperlichen Wahrnehmung, die mir das Gefühl von Anerkannt-Werden gab. Ina war die erste, die mir die Rolle der Mitspielenden zuwies, die anderen folgten ihr. Was ich mit Ina in dieser ersten Stunde meiner teilnehmenden Beobachtung an nonverbaler Kommunikationsfähigkeit bei den Kindern erfuhr, wiederholte sich die Tage darauf immer wieder. Da die Kinder noch nicht gut Deutsch konnten und ich meinerseits ihre Sprachen nicht beherrschte, gingen sie in Körperkontakt zu mir. Sie nahmen mich bei der Hand und zeigten mir, was sie gezeichnet oder gebaut hatten. Die Mädchen begrüßten mich mit Umarmungen oder setzten sich auf meinen Schoß und spielten mit meinen Haaren. Einmal tanzte Marisa vor mir auf und ab, um mir zu zeigen, wie gut sie sich bewegen konnte. Die Kinder gaben ihrer Sehnsucht nach Anerkennung und GesehenWerden nonverbal Ausdruck und ich konnte ihnen darauf verbal und nonverbal antworten. Die Kultur der gegenseitigen Anerkennung, die schon junge Kinder beherrschen, ist allerdings nicht auf Knopfdruck abzurufen. Sie ist an einige Voraussetzungen geknüpft – wie das obige Beispiel der vorangehenden Ablehnung durch die drei Jungen zeigt. Für die Jungen war ich zuerst noch eine Fremde, die ihnen nicht vorgestellt wurde, mit der sie nichts anfangen konnten und nichts zu tun haben wollten. Sie genügten sich selbst und brachten fürs Erste auch keine Neugierde oder Offenheit für mich auf. Sie brauchten zum einen Zeit, die Fremde zu beobachten und zum anderen offenbar auch eine gewisse Rollenzuschreibung, was nun mit der Fremden anzufangen wäre. Ina wurde neugierig auf mich, weil ich einfach nur dasaß und nichts tat und weil sie dieses Rosenquarzarmband faszinierte. Es war ihr ein Anreiz, auf mich zuzugehen. Jenseits der trennenden Unterschiede wie etwa der verschiedenen Sprachen konnte sich auf Grund ihrer Neugierde eine gemeinsame Freude am Spiel mit dem Armband und den Händen entwickeln. Die Erfahrungen aus meiner teilnehmenden Beobachtung lassen folgende These zu: Wer in elementaren Bildungseinrichtungen an einer Kultur gegenseitiger Anerkennung arbeiten will, kann davon ausgehen, dass Mädchen und Buben bereits Grundkompetenzen dafür mitbringen und selber an einer solchen Kultur höchst interessiert sind. Trotz der gemeinhin geltenden Überzeugung, dass Kooperation und Kommunikation zwischen Gleichen leichter gelinge, lässt
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sich auch in heterogenen Gruppen vor aller Intervention der PädagogInnen Kommunikation und Kooperation beobachten. Was aber sind die anthropologischen Voraussetzungen für diese uns grundgelegte Kompetenz trotz unserer Unterschiedlichkeiten in Kommunikation, ja sogar Dialog treten zu können?
2.
Heterogenität und Differenz als erste Beziehungserfahrung
Der italienische Pädiater Milani-Comparetti verweist zu dieser Frage in seinen Studien auf den existentiell bestimmenden Ausgangspunkt jeder Lebensgeschichte: den Dialog zwischen Mutter/Vater und kleinem Kind. Dieser findet zwischen in entscheidenden Punkten unterschiedlichen Menschen statt, da Erwachsene und sehr kleine Kinder auf völlig verschiedene Weise ihren Part im Dialog artikulieren6. Dieser Dialog kann nicht ohne Anerkennung des Menschseins und der Befriedigungs- und Glücksansprüche beider Seiten gelingen. Auf Grund der Differenz der Situationen und Bedürfnisse beider Seiten kann die Beziehung zwischen Mutter oder Vater und Kind nicht in Begriffen der Gleichheit charakterisiert werden. Es ist kaum eine größere Differenz zwischen Menschen denkbar, als die zwischen Mutter bzw. Vater und sehr kleinem Kind. Zugleich aber kann genau diese Beziehung einer erwachsenen Person zu einem Säugling eine der intensivsten und nahesten Beziehungen im menschlichen Leben überhaupt sein. Verständigung wird gelebt trotz Differenzen in Bezug auf Sprachkompetenz, Lebensphasen, Bedürfnissen und Weltsicht. In diesem frühen Dialog zwischen Eltern und Säugling wird Anerkennung zu einem großen Teil nonverbal vermittelt, weshalb wir später auch auf diese Kommunikationskompetenz zurückgreifen können. „Um Menschen zu werden, müssen wir von denen anerkannt werden, die uns als Kleinkinder versorgen.“ (Jessica Benjamin) Solche Anerkennung ist Anerkennung der Einzigartigkeit eines jeden Kindes sowie seiner Abgegrenztheit und Besonderheit als Kind, durch die es sich von den Erwachsenen, die es versorgen, ganz und gar unterscheidet. Auch wenn wir am Lebensanfang die Anerkennung am dringendsten brauchen, ist unser Lebensglück in allen Altersstufen von Anerkennung abhängig – gerade auch in heterogenen Gruppen. Kinder wie Erwachsene brauchen eine Gruppenatmosphäre, ein Kommunikationsklima, welches diese Kultur wachsen lässt. Die Frage ist nun, wie sich eine solche Atmosphäre in elementaren Bildungseinrichtungen entwickelt werden kann. Ich greife dazu einige Aspekte der Pädagogik der Vielfalt7 heraus und beschreibe, wie sie sich in der Elementarpädagogik verwirklichen lassen. 6 Vgl. Prengel 32006, 57 7 Vgl. ebd.
Mit mehr als Worten
3.
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Aspekte einer Pädagogik der Vielfalt
Das Konzept einer Pädagogik der Vielfalt, wie sie Annedore Prengel schon in den 1990er Jahren entwickelt hat, will die Heterogenität von Menschen in ihren individuellen und kollektiven Lebensweisen nicht harmonisierend glätten, dafür aber fragen, wie Kooperationen, Beziehungen und Kommunikation zwischen den Verschiedenen gestaltet werden kann. Prengel nimmt Bezug auf die Pluralitätsphilosophien von Jean Francois Lyotard und Wolfgang Welsch, welche ein einengendes Einheits-Denken mit offenen Vielheitskonzepten und der Rede von der radikalen Pluralität zu überwinden suchen. „Bewusstheit der Unvollständigkeit und Vorläufigkeit, ja Neugierde für das Unbekannte sind die bewegenden Gründe für die Prozeßhaftigkeit der Pluralität, die um ihre ständige Veränderung weiß, ohne ein festes Ziel angeben zu wollen.“8
Um Heterogenität und Pluralität in zwischenmenschlichen Beziehungen konstruktiv leben zu können, braucht es nach Prengel über die philosophischen Denkmodelle hinaus das ethische Prinzip der Anerkennung. Die Autorin zitiert dazu Axel Honneth, welcher drei Formen von Anerkennung unterscheidet: emotionale Achtung (Liebe), rechtliche Anerkennung sich selbst und anderen gegenüber (gleiche Rechte) und wechselseitige Anerkennung zwischen soziokulturell unterschiedlich individuierten Personen (Solidarität bzw. egalitäre Differenz). Es geht dabei auch um die Anerkennung inkommensurabler Erlebnisweisen, die in ihrer Wahrheit nicht ineinander aufgehen. „Die anzuerkennenden Menschen sollen hier nicht mehr als ,Menschen überhaupt‘, sondern in ihrer historisch konkreten Einzigartigkeit und Besonderheit anerkannt werden.“9 Prengel definiert Pädagogik der Vielfalt als eine „Pädagogik der intersubjektiven Anerkennung zwischen gleichberechtigten Verschiedenen“10 und stellt die Frage, wie intersubjektive Anerkennung durch Bildung gestaltet sein könnte. Dazu formuliert sie 17 Thesen, von denen im Folgenden einige genannt werden.
3.1
Selbstachtung und Anerkennung der Anderen
„Ich bin nicht du und ich weiß Dich nicht“ – diesen diversitätsbewussten Ausspruch nimmt Annedore Prengel leitmotivisch auf. Das Bildungsziel der Selbstachtung schließt mich und die Anderen ein. Selbstachtung und Aner8 Ebd. 51 9 Ebd. 61 10 Ebd. 62
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kennung der Anderen gehen hervor aus einer Haltung des Respekts, die das gleiche Recht auf Lebensglück für die Verschiedenen gelten lässt. Sowohl der Bereitschaft zur Selbstentwertung und Selbstunterwerfung, als auch zur Überheblichkeit, Unterdrückung und Gewalt gegen andere steht dieses Prinzip entgegen.11 Eine Atmosphäre der Selbstachtung und Anerkennung der Anderen lässt sich in elementarpädagogischen Bildungsprozessen zuerst einmal durch das Vorbildhandeln der PädagogInnen erwirken. PädagogInnen, die einen wertschätzenden Umgang mit allen Kindern pflegen, fördern damit die Selbstachtung der Kinder wie die Achtung der Anderen. Ebenso lernen die Kinder am Beispiel des Umgangs der PädagogInnen untereinander. Wenn die beteiligten PädagogInnen in einer Gruppe ihre Unterschiedlichkeit und Vielfältigkeit bzgl. Kompetenzen, Vorlieben etc. offen und wertschätzend einbringen, dann ermutigen sie damit auch die Kinder zu ihrer Individualität zu stehen, sich über die eigene Besonderheit zu freuen und auf das, was andere können, wissen und wollen, neugierig zu sein. Leitmotivisch könnte folgender Satz dafür wirken: „Zu mir stehen und euch sehen!“ Voraussetzung für die Anerkennung der Anderen ist die Wahrnehmung der Anderen in ihrer Unterschiedlichkeit zu mir. Wertschätzendes Sichtbarmachen der Unterschiede ist der Beginn einer Kultur gegenseitiger Anerkennung. In Bildungseinrichtungen wird schon bei der Einschreibung der Kinder deutlich, wie diversitätssensibel die Einrichtung tatsächlich ist. Kindergärten, die betonen, interkulturell arbeiten und friedenspolitisch wirksam werden zu wollen, gleichzeitig aber die Frage etwa nach den Religionszugehörigkeiten der Kinder aussparen, können ihrem eigenen Anspruch nicht gerecht werden. Eine Kultur gegenseitiger Anerkennung setzt eine ganzheitliche Wahrnehmungskultur voraus und diese schließt die Religion bzw. Religionsfreiheit des anderen mit ein. Was Martin Jäggle für die Schulen feststellt, gilt auch für die elementarpädagogischen Einrichtungen: „Religiöse Diversität ist, weil zumeist ausgeblendet, das Nadelöhr des Diversitätsdiskurses. Auch zum interkulturellen Lernen muss dazu gesagt werden: ,Das Fremdeste am Fremden ist seine Religion‘“.12 Eine Kultur der Anerkennung in elementaren Bildungseinrichtungen beginnt im nonverbalen und symbolischen Bereich. Sie drückt sich auch im Organisationsmanagement und in den institutionseigenen Kulturen aus: Ein für junge Kinder sensibler Punkt ist z. B. die Essenskultur im Kindergarten. Mit dem Essen verbinden Kinder frühe intime Erfahrungen aus ihrer Herkunftsfamilie, die unmittelbar körperliche Erfahrungen sind. Gemeinsames Essen stiftet Gemeinschaft, aber weil jedes Kind individuelle Vorerfahrungen mit Essenskultur hat, kann in diesem Punkt Fremdheit und Anders-Sein 11 Vgl. ebd. 186 12 Jäggle/Krobath 1/2010, 60
Mit mehr als Worten
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schmerzvoll erfahren werden. Beim Essen im Kindergarten erleben die Kinder körpernah, ob sie in ihrer Einzigartigkeit und Kultur anerkannt werden oder nicht. Martin Jäggle schreibt dazu: „Über die Frage des persönlichen Geschmacks hinaus finden nur gesundheitliche Kriterien eine breitere gesellschaftliche Akzeptanz. Und doch gibt es kulturelle und religiöse Essenstraditionen, (…) deren Respektierung für die einzelnen Kinder von einer großen Bedeutung sind. Die Respektierung oder Ignorierung dieser Traditionen kann entscheidend sein für die Akzeptanz oder Nichtakzeptanz des jeweiligen Kindes und der Traditionen, die für es bedeutungsvoll sind.“13
Will eine elementarpädagogische Einrichtung eine Atmosphäre gegenseitiger Anerkennung aufbauen, so muss sie also schon bei der Einschreibung der Kinder nach den kulturellen und religiösen Traditionen der Kinder fragen und in der hausinternen Esskultur darauf Rücksicht nehmen. Dies ist in Österreich leider noch immer keine Selbstverständlichkeit.
3.2
Kennenlernen der Anderen
Gemeinsamkeit kann entstehen, wenn die Haltung der Anerkennung von Getrenntheit und Einmaligkeit der Einzelnen das Gruppenklima bestimmt. „Die Aufmerksamkeit einer jeden, eines jeden für die eigene Besonderheit weckt die Fähigkeit, auch der Besonderheit der Anderen gewahr zu werden.“14 Neugierde, der Wunsch, kennenlernen zu wollen, lässt die Einmaligkeit der Einzelnen bestehen und versucht, sie in ihrer Eigendynamik zu begreifen. Gemeinsamkeit in heterogenen Gruppen wird nicht erreicht durch Angleichung der Verschiedenen aneinander oder an eine übergeordnete Vorgabe, sondern durch Kontakt, durch Selbstmitteilung und Anteilnahme an Mitteilungen der anderen: durch zuhören, zuschauen, mitfühlen. Dafür sensible ElementarpädagogInnen werden hier gezielte Interventionen setzen, um mit den Mädchen und Buben bewusst die Vielfalt der Gruppe zu erarbeiten. Sei es durch Lieder aus den verschiedenen Sprachgruppen oder Religionen, sei es dadurch, dass im Morgenkreis den Kindern regelmäßig die Möglichkeit gegeben wird, von ihren wichtigsten Erlebnissen zu berichten oder den anderen etwas zu zeigen, was sie von zu Hause mitgebracht haben, das ihnen sehr wertvoll ist. Wenn verbale Selbstmitteilung und Anteilnahme an sprachliche Grenzen gerät, ist sie umso mehr auf nonverbale, gestisch-mimische und bildliche Signale angewiesen. Die Buntheit der Gruppe kann bspw. durch Familienfotos oder Bilder/Zeichnungen von Lieblingsgegenständen der Mädchen und Buben dargestellt werden. Diese Visuali13 Jäggle 2000, 127 14 Prengel 32006, 186
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Silvia Habringer-Hagleitner
sierungen können den Kindern in der Folge Anregung für Gespräche über ihre Unterschiedlichkeiten und ihre verschiedenen Familien sein. Sind in einer Gruppe Kinder mit unterschiedlichen Erstsprachen, so ist es hilfreich und vertrauensfördernd, Begrüßungsformeln und einfache Worte aus allen Sprachen im Gruppenraum sichtbar aufzuhängen und zu üben. Auf Grund ihrer natürlichen Neugier und Offenheit lernen Kinder gerne solche Formeln aus den Sprachen ihrer KindergartenkollegInnen.
3.3
Entwicklungen zwischen Verschiedenen
Wenn verschiedene Menschen einander kennenlernen, eröffnen sich neue Handlungsperspektiven. Die Begegnung mit Anderen, die etwas anderes können, ist eine wichtige Herausforderung für kognitives und emotionales Wachstum. So kann etwa die Anwesenheit eines schwerstbehinderten Kindes, das vor allem durch Körperkontakt in Beziehung zu anderen tritt, körperkontaktscheue Kinder zum Streicheln und zu Zärtlichkeit veranlassen.15 Verschiedenheit erleben Kindergartenkinder auch zwischen den Geschlechtern. So war in dem von mir besuchten städtischen Kindergarten die Bauecke ausschließlich von den Buben frequentiert. Den Mädchen blieb dieser Lernraum wie durch ein ungeschriebenes Gesetz verschlossen und ich fragte mich, wie sich das ändern ließe. Eines Tages, als die Bauecke gerade frei war und ich Abwechslung zu den vielen Memory-Spielen brauchte, beschloss ich, dahin zu gehen und mit dem Konstruktionsmaterial zu experimentieren. Alina folgte mir sofort und spielte mit. Kurz darauf kamen Marisa und Talha. Auch der ruhige Arlind schloss sich an, den ich bis dahin noch nie in der Bauecke gesehen hatte. Ich baute einen Tunnel, Arlind und Alina schoben Autos durch. Währenddessen begann Marisa zu singen: „Heute ist Silvia da und spielt mit uns und das ist schön!“ – sie drückte aus, was ich gerade empfand. Der Sinn meiner nonverbalen Interaktion bestand darin, zu zeigen, dass alle – auch die Mädchen – das Recht haben, in der Bauecke zu spielen. Zum anderen konnte ich den Mädchen vorleben, dass es für Frauen sehr interessant sein kann, mit Konstruktionsmaterial zu bauen und damit ihren Handlungsspielraum zu vergrößern. Ich arbeitete hier bewusst mit meiner Differenz zu den Mädchen, die bis dahin das ungeschriebene Gesetz die Bauecke sei nur für bestimmte Buben da, nicht weiter problematisierten. Ich achtete in diesem Moment auf mich selbst und meine Lust, meinen Aktionsradius im Gruppenraum zu vergrößern und die Mädchen konnten sich davon anregen lassen. 15 Ebd. 187
Mit mehr als Worten
3.4
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Kollektivität: Gemeinsamkeit zwischen Menschen mit ähnlichen Erfahrungen
In einer Pädagogik der Vielfalt wird nicht nur auf Selbstachtung und Anerkennung Anderer im Hinblick auf Einzelne Wert gelegt, sondern auch im Hinblick auf Gruppen von Einzelnen mit gemeinsamen Erfahrungen. Wenn Einzelne beim Zuhören und Miteinander-Reden entdecken „das habe ich auch schon erlebt“ oder „das kenne ich auch bei mir“ so erschließt dieses Wiederkennen im Anderen neue Dimensionen der Selbst- und Welterkenntnis. Die Anerkennung kollektiver Verschiedenheit zwischen Gruppen innerhalb der Lerngruppe ist ein wesentlicher Aspekt einer Pädagogik der Vielfalt. In der Folge wird diesen Gruppen Raum gewährt, sich zu zeigen, zu entwickeln und zu verändern und sich gegebenenfalls auch wieder aufzulösen. Temporärer Gruppenbildung zwischen Mädchen, zwischen Jungen, zwischen Kindern aus dem gleichen Kulturkreis wird daher in der Elementarpädagogik bewusst Raum gegeben und von den Kindern gerne genützt.16 Allerdings wird zumeist noch zu wenig im Gespräch mit den Kindern darauf eingegangen. Frageimpulse wie „Was wir muslimischen Jungs am liebsten gemeinsam spielen“, „Was uns muslimischen Mädchen heute am meisten Spaß gemacht hat“, „Was uns in der Piratenbande heute gefallen hat“ etc. könnten helfen, die temporäre Gruppenbildung bewusst zu machen und die Unterschiedlichkeiten zu benennen.
3.5
Innerpsychische Heterogenität
Ein sehr wichtiger Aspekt für die konstruktive Gestaltung von Heterogenität in Gruppen ist die Wahrnehmungsförderung in Bezug auf die innerpsychische Heterogenität aller Beteiligten. Neben der Aufmerksamkeit für bereits bekannte Seiten der eigenen Persönlichkeit wird die Aufmerksamkeit auch auf verdrängte Gefühle, Bedürfnisse, Sehnsüchte und Eigenschaften gelenkt: Das Gewahrwerden und Achten all dieser widersprüchlichen und abgelehnten Seiten der eigenen Persönlichkeit ist die Kehrseite des Kennenlernens und Achtens der Anderen. Um diese innerpsychische Heterogenität später einmal reflektierend beschreiben zu können, braucht es in der Elementarpädagogik eine intensive Wahrnehmungsschulung. Pädagoginnen erarbeiten beispielsweise mit den Kindern die unterschiedlichen Gefühle und wie diese ausgedrückt werden können. Dies hilft den Mädchen und Buben, die Bandbreite aller Gefühle in sich zu wahrzunehmen und zeigen zu können. In ihren frei gestalteten Rollenspielen 16 Vgl. ebd. 188 f
88
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erproben Kinder selber immer wieder ihre Vielseitigkeit. Da wird der laute Junge plötzlich zu einem kleinen Baby, das von der Mama versorgt wird. Der anschmiegsame, zärtliche Junge spielt dagegen mit Feuereifer den wild kämpfenden Ritter. In ihren Rollenspielen setzen sich Kinder mit ihren Schattenseiten, ihren vielfältigen psychischen Anteilen auseinander, weshalb sie genügend freien Raum für diese Spiele benötigen.
3.6
Begrenztheit und Trauerarbeit
Im Kontakt mit Anderen werden auch die Grenzen der Verständigungsmöglichkeit, das Getrenntsein vom Anderen und der Schmerz in Bezug auf die eigenen Begrenzungen erfahren. Eine Pädagogik der Vielfalt nimmt diese Realitäten wahr und gibt ihnen Raum in bewusster Trauerarbeit. „Nur so kann sie der Illusion widerstehen, mit der Vielfalt menschliche Begrenztheit überwinden zu können. Es ist aber nicht möglich, Leid- und Grenzerfahrungen ungeschehen machen zu können. Möglich ist die Akzeptanz der lebensgeschichtlich erfahrenen ethnozentrischen, geschlechtsspezifischen und behindernden Begrenztheiten im riskanten, schwierigen und schmerzlichen Prozeß der Trauerarbeit.“17
Ich habe während meiner Feldforschungsarbeit die schmerzliche Begrenztheit vor allem durch die fehlende verbale Verständigungsmöglichkeit erfahren. Täglich erlebte ich Situationen, in denen die Kinder und ich uns an einem bestimmten Punkt verbal nicht mehr verstehen konnten. So wollte mir etwa die viereinhalbjährige Talha von ihrem kleinen Bruder erzählen, der ins Krankenhaus musste, doch schon bald brach sie ihre Erzählung ab, weil ihr die Worte fehlten, weil sie meine Fragen dazu nicht verstand. Einmal als ich mich mit den türkisch-sprechenden Mädchen Melda und Sati unterhalte, wiederhole ich fragend ein türkisches Wort. Wir schauten uns hilflos an, sie konnten es mir nicht erklären. Die sechsjährige Marisa, die bereits gut Deutsch sprach, selber aber Serbokroatisch als Erstsprache hatte, versuchte uns weiterzuhelfen, musste dann aber auch aufgeben. Ich hatte in dieser und vielen anderen Situationen den Eindruck, dass auch die Kinder unter diesen Sprachgrenzen litten.
3.7
Aufmerksamkeit für gesellschaftliche und ökonomische Bedingungen
Die Heterogenität von Gruppen entsteht auch durch die divergierenden gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen, unter denen die Kinder ihre 17 Ebd. 190
Mit mehr als Worten
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Lebensaufgaben zu bewältigen haben. Eine Pädagogik der Vielfalt sensibilisiert für diese Unterschiede und arbeitet an einer ökonomischen und politischen Demokratisierung. „Die Umverteilung der vorhandenen ökonomischen Ressourcen zugunsten der ökonomisch benachteiligten Bevölkerungsgruppen und Staaten ist eine Voraussetzung zur Entfaltung von Vielfalt.“18 Mit diesem Aspekt sind die PädagogInnen und die Erhalter der Bildungseinrichtungen herausgefordert, politisch und gesellschaftskritisch Stellung zu beziehen und bessere Bedingungen einzufordern. Es ist kein Zufall, dass Kindergärten in ärmeren Stadtvierteln weniger gut ausgestattet sind als in gutbürgerlichen Bezirken. Bildungsgerechtigkeit zieht aber nach sich, dass eine Pädagogin in einem ärmeren Stadtviertel beispielsweise das benötigte Montessorimaterial ebenso vom zuständigen Erhalter finanziert bekommt wie die Kollegin im benachbarten gut situierten Viertel. PädagogInnen haben das Recht und die Pflicht für die ihnen anvertrauten Kinder die bestmögliche Grundausstattung von Räumen und Spielmaterialien sowie ausreichend pädagogisches Personal zu fordern.
3.8
Zum Identitätsbegriff einer Pädagogik der Vielfalt
Zwischen einander fremden sozialen oder kulturellen Gruppen entsteht dann keine kommunikative Annäherung, wenn die Gruppen von totalisierenden Identitätsbegriffen ausgehen und ihre Abscheu und ihren Ekel den Anderen gegenüber in der verachtenden Haltung des „Wir“ und „Die da“ artikulieren. Der von Erik Erikson eingeführte Begriff der totalisierenden Identität bezeichnet ein Selbstverständnis, das durch Abspaltung und Abgrenzung entsteht: ich bin Europäer, weil ich kein Afrikaner bin, ich bin Mann, weil ich keine Frau bin, ich bin sozial bessergestellt, weil ich nicht Harz 4-Empfänger bin, ich bin erwachsen, weil ich kein Kind mehr bin. Demgegenüber beschreibt er eine „Identität der Ganzheit“, welche für neuere pädagogische Modelle die Grundlage bildet.19 Der Ganzheitsmodus von Identität entsteht durch die Inklusion vieler Identifikationen: „Although an European I am also human and therefore I include the African. Although male, I am conscious of my femininity. As an adult, childhood is still within me.“20 Der englische Religionspädagoge John Hull plädiert für ein Gleichgewicht von beiden Identitätskonzeptionen und für das individuelle Ausbalancieren und Osziliieren zwischen ihnen. Das Kennenlernen verschiedener Kulturen und Weltsichten würde bei Kindern keineswegs zu einer 18 Ebd. 192 19 Vgl. Dommel 2007, 201 20 Ebd.
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Auflösung oder Verwässerung ihrer jeweiligen kulturellen Identität führen, sondern im Gegenteil eher dazu verhelfen, das Bewusstsein dafür zu vertiefen.21 Dazu ein abschließendes Beispiel: Eine Studentin spricht in einem Caritaskindergarten, der interreligiös arbeitet, mit den Kindern über deren Gottesbilder. Auch der fünfjährige Oquthan stellt ihr sein Bild vor und sagt dazu: „Gott ist ganz oben und wir sind ganz unten, wenn du stirbst, fliegst du zu Jesus, aber ich gehe zu Allah.“22
Literatur Dommel, Christa: Religions-Bildung im Kindergarten in Deutschland und England. Vergleichende Bildungsforschung für frühkindliche Pädagogik aus religionswissenschaftlicher Perspektive, Frankfurt am Main – London 2007 Habringer-Hagleitner, Silvia: Zusammenleben im Kindergarten. Modelle religionspädagogischer Praxis, Stuttgart 2006 Jäggle, Martin/Krobath, Thomas: Bildung, Gerechtigkeit und Würde: Kultur der Anerkennung. Ein Beitrag zum Schulentwicklungsdiskurs in Österreich, in: Amt und Gemeinde 61(1/2010), 51 – 63 Jäggle, Martin: Religiöse Pluralität als Herausforderung für Schulentwicklung, in: Jäggle, Martin/Krobath, Thomas/Schelander, Robert (Hg.): lebens.werte.schule. Religiöse Dimensionen in Schulkultur und Schulentwicklung, Wien – Berlin 2009, 265 – 280 Jäggle, Martin: Wie nimmt Schule kulturelle und religiöse Differenz wahr?, In: Porzelt, Burkhard/Güth, Ralph (Hg.): Empirische Religionspädagogik. Grundlagen – Zugänge – Aktuelle Projekte, Münster 2000, 119 – 138 Prengel, Annedore: Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik, Wiesbaden 32006 Minoos Sorkhkamal Zadeh, Gottesbilder und Gottesvorstellungen von Kindern in einem multikulturellen Kindergarten. Darstellung, Analyse und Schlussfolgerungen für interreligiöse Bildung im Elementarbereich, unveröff. Seminararbeit, Linz 2012
21 Vgl. ebd. 201 f 22 Sorkhkamal Zadeh 2012, 26
Aspekte identitätsbezogener Anerkennung
Ludmila Muchov
Anders oder gleich sein? Problem der Identität und die „Kultur der gegenseitigen Anerkennung“
1.
Einleitung: Abgrenzung des Problems
„Die Forderung nach Anerkennung der ,Anderen‘ durchzieht alle Konzepte interkulturellen Lernens, ohne zu begründen, wie dies zu denken, zu verstehen oder möglich wäre“, stellt Martin Jäggle im Artikel „Wie nimmt Schule kulturelle und religiöse Differenz wahr?“1 fest. In demselben Artikel stellt Martin Jäggle mit Hinweis auf Hannah Arendt die Frage: Anders oder gleich sein? Er erkennt in der so gestellten Frage eine Reduktion, die das Problem ausschließlich als Problem jener Leute versteht, die in der Majoritätsgesellschaft als „Andere“ erscheinen2. „Identität überhaupt kann erst im Bewusstsein der Differenz entstehen“3 : Die Menschen, die sich von uns unterscheiden, bilden demnach den gesellschaftlichen Kontext mit, in dem wir selbst erst Fragen nach unserer eigenen Authentizität und Autonomie, also nach der eigenen Identität, stellen können. Nach Martin Jäggle ist die Aufgabe der Schule, eine Kultur der gegenseitigen Anerkennung zu fördern und zu entwickeln, nicht nur eine moralische, sondern auch eine theoretische Forderung, die das Bedürfnis berücksichtigt, sich selbst in der Kommunikation mit den Menschen zu verstehen, die anders denken, fühlen und handeln. Dieser Bedarf der Selbstverständigung ist also ein Argument, mit dem Martin Jäggle die Forderung nach der Entwicklung einer Kultur der gegenseitigen Anerkennung im Rahmen des interkulturellen Lernens in der Schule begründet, und er fügt hinzu: „Dieses interkulturelle Lernen hat eine religiöse Dimension, wenn Religion unersetzlich für den normalisierenden Umgang mit dem Außeralltäglichen im Alltag ist (…). Solange die religiöse Sprache inspirierende, ja unaufgebbare semantische Gehalte mit sich führt (…)“4 1 2 3 4
Jäggle 2000 Ebd., 119 Jäggle zitiert Volker Drehsen (1994, 63): ebd., 119 – 120 Jäggle zitiert Dietlind Fischer u. a. (1966,60): ebd., 121
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Ludmila Muchová
Ich möchte mit meinem Artikel zum Diskurs „Kultur der gegenseitigen Anerkennung“ beitragen, indem ich versuche, diese Begründung von Martin Jäggle einer kritischen Sicht aus der Perspektive der tschechischen Kultur zu unterziehen, die im Vergleich zu seinem Land Österreich auch „anders“ ist, obwohl sich beide Länder geographisch sehr nahe sind, inmitten von Europa. Ich möchte besonders der Frage nachgehen, ob „das tschechische Anderssein“ auch die Argumente für das interreligiöse Lernen im Bereich der öffentlichen Schule beeinflusst. Und schließlich frage ich, wie diese Argumentation dem durch das Schulsystem repräsentierten Staat und der römisch-katholischen Kirche zugänglich ist.
2.
Das „Anderssein“ der tschechischen Kultur angesichts der inspirierenden Kraft der Religion in der Kultur
Dass die Tschechische Republik zu den Ländern mit den niedrigsten Prozentsätzen der Menschen gehört, die sich zu einer Religion bekennen, ist ausreichend bekannt. Diese Tatsache selbst sagt aber nur wenig darüber aus, ob die Religion, konkret das Christentum, als Inspiration für die Kultur angesehen wird, die von der Gesellschaft als beitragend und bereichernd wahrgenommen wird. Dass dies in der Tschechischen Republik eher nicht der Fall ist, kann man an einem ungewöhnlichen Phänomen untersuchen: Etwa ein Drittel der menschlichen Todesfälle ist in Tschechien mit keinem öffentlichen Ritual des Abschieds von Seiten der Familienangehörigen verbunden. Soziologen nennen für diese Erscheinung mehrere Gründe. Der erste Grund ist historisch. Bis zur Wende des 19. und 20. Jahrhunderts waren Begräbnisse in Tschechien eine Äußerung des religiösen Glaubens und mit einer bestimmten Kirche verbunden. Sie boten dem Trauern bei Verlust einer nahen Person einen festen Rahmen, in dem den Verstorbenen die letzte Ehre erwiesen wurde und die Hinterbliebenen die Möglichkeit des psychischen Lösens und die Beteuerung der Hoffnung auf das Treffen mit dem Verstorbenen im Leben jenseits des Todes bekamen. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts brachte im Zuge der humanistischen Bewegung die Möglichkeit einer neuen Form des Begräbnisses durch Einäscherung, die später das kommunistische Regime als Zwang gegenüber den christlichen Kirchen benützte. Das alles führte dazu, dass 85 % der Begräbnisse in Tschechien heute einen säkularen, nicht religiösen Charakter haben. Ein großer Teil der tschechischen Gesellschaft drückt so ihre vage Haltung zum Glauben an das Leben nach dem Tod und die gegenkirchliche Einstellung aus. Charakteristisch für säkulare Begräbnisse ist, dass sie anonym, formal, routinemäßig und unüber-
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zeugend ablaufen und sich vor allem durch die Absenz von Hoffnung auszeichnen. Weitere Gründe sind soziologischer Art. Der Zuwachs an Individualismus beeinflusst beispielsweise die Bereitschaft eines breiteren Umkreises des Verstorbenen, am Begräbnis teilzunehmen. Mit dem Verschieben des Prozesses des Sterbens in gesundheitliche Institutionen und mit der Tabuisierung des Todes steht auch der psychologische Grund der Ablehnung eines öffentlichen Begräbnisses in Zusammenhang: die Angst vor der psychischen Belastung, die mit dieser Situation verbunden ist. Die Menschen wollen die intensive Trauer meiden, die mit dem Abschied zusammenhängt; weiters wird die offene Äußerung der Trauer in der Öffentlichkeit als Schwäche angesehen. Weitere Gründe sind ökonomischer Natur: Im Zusammenhang mit der Sinnlosigkeit des säkularen Rituals scheinen den Menschen die Kosten eines Begräbnisses eine unnötige Investition zu sein.5 Die säkularen Rituale werden z. B. durch Familientreffen, Veröffentlichung einer Erinnerung im Internet usw. ersetzt. Manchmal gibt es auch überhaupt kein Bedürfnis nach Ersatz. Dies erweckt den Anschein, dass die Ablehnung der religiösen Inspiration in der tschechischen Gesellschaft zu rationalem, effektivem Handeln führt, das sich in privatisierten, individualisierten und minimalisierten Weisen des Abschiednehmens von ihren verstorbenen Angehörigen ausdrückt. Es bleibt also fraglich, ob die Menschen für den Umgang mit dem Außeralltäglichen im Alltag die traditionelle Religion unbedingt brauchen. Dass dem nicht so ist, zeigt ein anderes Beispiel, das wieder mit dem Sterben in Tschechien verbunden ist. An manchen Stellen an Straßen und Autobahnen kann man kleine Grabmale oder Grabsteine mit Blumen und Fotografien von Menschen sehen, die hier zum Opfer eines Verkehrsunfalls wurden. Die Hinterbliebenen besuchen diese Stellen regelmäßig und sorgen für sie. Der Brauch nahm in den letzten Jahrzehnten so stark zu, dass er selbst allen Argumenten widersteht, die auf die Gefahr durch die vorbeifahrenden Autos hinweisen. In einem Land, wo in den Friedhöfen die traditionellen christlichen Gräber verschwinden, ist es ein Zeichen einer neuen, sehr starken symbolischen Form, die einen unerwarteten, unglücklichen und sinnlosen Tod vergegenständlicht und ihm Bedeutung verleiht. Dass tiefe geistliche Erfahrungen auch ohne christliche Interpretationen auskommen, bestätigt sich regelmäßig in den Seminararbeiten meiner Studierenden. Exemplarisch sei die Erfahrung einer Studentin mit der Begegnung eines ihr nahen, unheilbar kranken Menschen gewählt:
5 Vgl. zum Beispiel Nesˇporov, Reflexe smrti a pohrˇebn obrˇady v soucˇasn¦ cˇesk¦ spolecˇnosti. Disertacˇn prce obhjen na Fakulteˇ humanitnch studi UK v Praze 2008. Zit. nach Michaela Kostelnkov, Absence pohrˇebnch obrˇadu˚ : prˇpadov studie z Brna, Brno 2012, diplomov prce [on-line], dostupn¦ na http://is.muni.cz/th/273439/fss_m/?lang=en (Zugriff am 12. 01. 2013)
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„Und ich habe ihn angeschaut und dann, in der absoluten Stille, fesselte mein inneres Gehör ein steigender Wind (…) und in mir entzündete sich ein Funken – ich weiß nicht woher er gekommen ist, ich weiß nicht, wer ihn gesendet hat, er wurde aus dem Nichts entzündet. Mit jedem größeren und größeren Windstoß war auch mein Glaube größer und größer. (…) Der Glaube an das kranke Kind, an eine höhere Gerechtigkeit, auch der Glaube in mir – der Glaube, dass es kein Ende ist, dass die Genesung kommt!“
Die Studentin beschrieb zwei theologische Begriffe: Glaube und Hoffnung, ohne dass sie dafür einen christlichen Interpretationsrahmen benötigte. Kann man Argumente für die Förderung der Kultur der gegenseitigen Anerkennung im interreligiösen Dialog auch in einer Gesellschaft, finden, in der die Menschen die Religion und ihr Angebot der Hilfe zur Bewältigung außeralltäglicher Situationen im Alltag ablehnen? Versuchen wir es.
3.
Bildung der Identität: Argument für das interreligiöse Lernen im Bereich der öffentlichen Schule?6
Das Wort „id-entita“ ist lateinischen Ursprungs und lässt sich frei übersetzen mit „das, was ist“. Wir können uns immer nur mit jemandem oder mit etwas identifizieren. Was bedeutet jedoch, eine eigene Identität zu haben? Können wir uns mit uns selbst identifizieren? Die Psychologie sieht daher zwei Fragen als zentral an: „Wer bin ich?“ und „Wohin gehöre ich?“ Wenn wir uns bemühen, beide Fragen wahrhaftig zu beantworten und dies befriedigend gelingt, dann gelangen wir an den Kern unserer eigenen Identität. Der tschechische Psychologe Vladimr Sm¦kal unterscheidet insgesamt drei Identitätsaspekte nach den Bereichen, in denen wir uns bewegen: Zunächst betrifft die psychophysiologische Identität das innerliche Erleben unseres eigenen Körpers. Die soziale Identität sieht auf die Rollen des Menschen, die dieser einnimmt. Man bewertet hier vor allem, wie es im Leben gelang oder gelingt, sich in kleine soziale Gruppen einzugliedern, einen Lebenspartner zu finden und ein Arbeitsleben aufzubauen, das den eigenen Interessen und Möglichkeiten entspricht. Die persönliche Identität folgt dann aus den beiden oben genannten Identitäten. Sie ergibt sich daraus, wie wir uns mit unserem Körper „zusammengelebt“ haben, und wie wir uns in der Welt unserer mitmenschlichen Beziehungen fühlen. Daraus folgen Selbstbewusstsein, Selbsteinschätzung und Selbstvertrauen.7 6 Die folgende Überlegung ist eine knapper Auzug aus den Überlegungen in Muchov 2011, 9 – 60 7 Vgl. Sm¦kal 2009, 344
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Die Identität ist nicht etwas Unveränderliches. Sie ist das Ergebnis eines langen Prozesses der Individualisierung, den jeder Mensch in jedem Augenblick seines Lebens in einer bestimmten Länge und in einer bestimmten Form hinter sich hat. Ob dieser Prozess gut verläuft, beweist die Fähigkeit zur Autonomie. Dies ist die Fähigkeit, nach eigenen Regeln zu leben, weit definiert – unabhängig von den Ansichten, den Gefühlen, den Werten und dem Willen unserer Umgebung. Das ist eine sehr schwierige Anforderung, wenn wir bedenken, dass unsere Identität unter anderem darin besteht, wie wir Teil verschiedener sozialer Beziehungen werden. Diese Aufgabe nicht zu bewältigen, kann für einen Erwachsenen bedeuten, nie fähig zu sein, sein Leben ohne ständige Hilfe eines anderen Menschen zu schaffen; dass er sich in den Ansichten oder Werten anderer Menschen „auflöst“, oder in umgekehrter Weise, dass er sich von anderen Menschen isolieren wird. Psychologen machen in diesem Zusammenhang auf zwei Typen von Menschen aufmerksam: Diejenigen, die sich eher auf ihr innerliches Erleben konzentrieren, und diejenigen, die eher außenorientiert leben. Als Menschen sind wir in Bezug auf den Typ selbstverständlich unterschiedlich. Während der Eine dazu neigt, sich in die Tiefe des eigenen Inneren zu senken, neigt ein anderer wieder selbstverständlich dazu, sich mit mitmenschlichen Beziehungen und mit der Beziehung zur Welt befassen. Sensibilität zu beiden Welten zu kultivieren, ist Inhalt des Individualisierungsprozesses, dank dessen man zu einer reifen persönlichen Identität gelangt.8 Man nimmt sich selbst gegenüber eine bewertende Einstellung ein, weil man ein großes Bedürfnis nach Selbstachtung hat. Nur derjenige, der sich selbst schätzen kann, hat ein Gefühl von eigener Würde. Unsere eigene Würde basiert vor allem auf unserer Beziehung zur Welt. Aufgrund der Tatsache, dass wir in der Welt um uns herum viel geschafft haben oder viel schaffen, sind wir auch der Wertschätzung anderer würdig – und wir können deshalb uns selbst auch schätzen, wir haben so Würde erhalten. Uns selbst schätzen können wir auch wegen unserer inneren Harmonie und wegen unseres eigenen inneren Reichtums. Hier kommt also auch die Welt des inneren, geistlichen Lebens des Menschen und die Verbundenheit mit der Welt um ihn herum ins Spiel.9 Wenn wir das Postulat der Persönlichkeitspsychologie über die geistliche Mitte des Menschen ernst nehmen, die sich zwar im Laufe des Lebens in einer sozialen Gruppe ausbildet, die aber Elemente der Beständigkeit und Stärke aufweist, dann verstehen wir auch die Autoren, die dieser Mitte die Anwesenheit von Lebenswerten zuschreiben, die sie als „Wahrheiten“ formulieren und die dem Zwang der von anderen Menschen vertretenen Wahrheiten und Werte 8 Vgl. Sm¦kal 2009, 345 9 Das Christentum leitet die Menschenwürde von der universellen Tatsache der Schaffung des Menschen von Gott und von der Ausrichtung des Menschen zum Heil ab.
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widerstehen. Diese werden zwar nur als Informationen wahrgenommen, aber an der Peripherie unseres kognitiven Systems bilden sie selbstständige Zentren. Der tschechische Philosoph Martin Palecˇek erklärt damit die Bereitschaft mancher tschechischer Christen, den katholischen Glauben zu bekennen und zugleich dem Glauben z. B. aus den östlichen Religionen nicht zu widersprechen. Im Laufe der Zeit können andere Glaubensvorstellungen jedoch in Konflikt mit den zentralen Lebenswahrheiten des Menschen geraten. Diese Situation beschreibt Peter Ludwig Berger nach Martin Palecˇek als Streit mit dem Anderssein, dessen Ergebnis „kognitiver Missklang“ ist: eine schmerzhafte Uneinigkeit zwischen dem eigenen kognitiven System und mit den eindringenden Symbolen. Berger macht aufmerksam, dass diese Uneinigkeit vor allem glaubende Menschen in der gegenwärtigen Kulturpluralität erleben, denn sie begegnen in der Gesellschaft, die nicht mehr eine „glaubende Gesellschaft“ ist, einem Missklang zwischen dem, woran sie glauben, und dem, was andere unerschütterlich behaupten. Die Pluralität bildet so nach P. Berger einen permanenten Zustand der Unsicherheit in Bezug darauf, was man glaubt und wie man leben soll.10 Neben dem „kognitiven Missklang“ machen Sozialpsychologen darauf aufmerksam, dass auch für die kollektive Identität vor allem jene Elemente wichtig sind, mit denen die Person oder die ganze Gemeinschaft die Anerkennung und Ehre der anderen „verdient“ oder „fordert“, auf denen ihr Stolz, ihre Würde und ihre Ehre basieren.11 Über die Identifikation mit einer bestimmten Gruppe zeigen wir auch, wie wir im Leben handeln. Wir verhalten uns also z. B. als Christen anders als Nichtchristen, wie wir unsere Festtage gestalten, wie wir an den religiösen Feiern teilnehmen, usw. Wir halten uns also nicht nur für jemand anderen, sondern wir verhalten uns im Rahmen dieses unseres Gefühls anders.12 Alle bisher beschriebenen Kennzeichen der Identität haben ihren Ausgangpunkt in der traditionellen Auffassung des sog. „starken Konzepts der Identität“. Dies geht unter anderem von der Überzeugung aus, dass die Identität des Menschen auf einer starken Zugehörigkeit zu einer homogenen Gruppe basiert. Dieses Bewusstsein der Zugehörigkeit bildet strenge Grenzen zwischen „wir“ und „den anderen“.13 Gegenwärtig werden jedoch in der Soziologie schwache Identitätskonzeptionen diskutiert, die mit dem Element der Stabilität und Beständigkeit nicht mehr rechnen, während dies früher als ein wesentliches Element von Identität galt. In diesen Theorien wird die Identität eher als Aushandlungsprozess be10 11 12 13
Vgl. Palecˇek 2002, 13 Vgl. Bacˇov 2008, 109 Vgl. ebd., 111 Vgl. Rogers Brubaker, Frederick Cooper, zitiert nach Bacˇov 2008, 109
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schrieben, der nicht stabil ist, zufällig ist, zersplittert, konstruiert und vereinbart ist. Deshalb spricht man immer häufiger nicht von Identität, sondern von Identifikation, damit klar wird, mit wem oder womit sich die Menschen gerade identifizieren. Ein anderer Begriff ist „Gruppenzugehörigkeit“, der bezeichnet, mit welcher konkreten Gruppe sich der Mensch identifiziert.14 Der tschechische Soziologe Dusˇan Luzˇny´ spricht in diesem Zusammenhang von der sog. flüssigen Identität: „In einer Zeit wachsender Flexibilisierung und des Verfalls von allen festen Mustern, (…) wäre es illusionär zu vermuten, dass die Identität des Einzelnen fest und stabil ist. In der heutigen Welt gewinnt der Einzelne die Identität weder mit der Geburt und durch ihre Aneignung, noch lernt er diese gewonnene Identität zu stärken und sie in einem festen Zustand zu erhalten. Der Einzelne eignet sich eher die Fähigkeiten an, wie er die erlernten Verhaltensmuster, die Werte und Vorstellungen möglichst schnell wechseln kann. Er lernt nicht, wie er die Identität stärken sollte, sondern wie er sie wechseln könnte.“15
Dusˇan Luzˇny´ beschreibt auch die Angstgefühle der gegenwärtigen Menschen, die in ihnen die Notwendigkeit hervorrufen, aus vielen Möglichkeiten immer auswählen zu müssen. Der Mensch wird zwar dadurch zu einem selbsttätigen Akteur seines Lebens, aber er muss für sich selbst entscheiden. So sinkt der Einfluss von Gruppen, deren Mitglied er ist. Wenn diese Gruppen Trägerinnen von bedeutenden Traditionen und Werten sind (was große Religionen zweifellos erfüllen), sinkt so auch ihre Bedeutung. Der Mensch zahlt dafür einen großen Preis und in Konfrontation mit der komplizierten und bedrohlichen Welt leidet er auch an Unsicherheit und Angst. Man kann sehen, dass sowohl die starken als auch die schwachen Theorien von Identität ähnliche negative Folgen beschreiben, die die gegenwärtige Pluralitätsgesellschaft für das Leben der Einzelnen und der Mitglieder von kleineren oder größeren sozialen Gruppen hat: Unsicherheit und Angst. Die Negativität dieser menschlichen Gefühle ist auf Basis der Psychologie nicht schwierig zu beschreiben. Klassisch ist in diesem Sinne die Theorie von Abraham Harold Maslow. Unter die grundlegenden psychischen Bedürfnisse reiht dieser Autor das Bedürfnis nach Geborgenheit, das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einer Gruppe und das Bedürfnis nach Anerkennung, die dem Menschen psychisches Behagen ermöglichen und die Entwicklung der Persönlichkeit sicherstellen. Wenn also eine Gruppe in der sie umgebenden gesellschaftlichen Atmosphäre keine Anerkennung und Akzeptanz erlebt, muss dies notwendig in Spannung zur Befriedigung von grundlegenden Bedürfnissen ihrer Mitglieder erschei14 Vgl. Bacˇov 2008,112 15 Luzˇny´ 2010, 32 – 33 (Übers. aus dem Tschechischen, L.M.)
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nen.16 Selbst wenn sich Mitglieder mit einer Gruppe stark identifizieren, kann sich das Gefühl der Geborgenheit, Akzeptanz und Anerkennung als schwierig erweisen, wenn man die Existenz der Gruppe als etwas Oberflächliches und schnell Wechselbares empfindet. Der tschechische Theologe Tomsˇ Halk weist in diesem Zusammenhang auf die Entwicklung der tschechischen Kirche während des Kommunismus und in der Zeit danach hin. In einigen Gebieten hatte die Kirche die Form der Volkskirche, die vom Widerstand gegen ihre Verfolger und aus der Hoffnung auf die Rückkehr nach der Zeit vor der Verfolgung lebte. Nach der Wende 1989 zeigte sich sehr schnell, dass eine solche Rückkehr nicht möglich ist. Hier lässt sich die Reaktion beobachten, sich hinter einer starken Mauer verschließen zu wollen, so als ob es möglich wäre, sich die Existenz einer prämodernen Kultur vormachen zu können. Die Kirche wandte ihre Aufmerksamkeit ausschließlich auf ihr Innerstes mit der deutlichen Bemühung, eine „parallele Kultur“ zu bilden. Eine Bezugnahme zur Umwelt, wenn sie schon irgendwie erfolgen sollte, geschah nur mit Abneigung und dem Gefühl der Überordnung. Deutlich sind dabei Erscheinungen des militanten Fundamentalismus. Tomsˇ Halk nennt eine solche Mentalität die „Mentalität des Ghettos“.17 Eine ähnliche Tendenz habe ich aber auch auf der „anderen Seite“ festgestellt: Bei der Adoleszenten-Generation, die sich 2010 in dem bekannten tschechischen Tagesblatt Mlad fronta dnes zum Problem der Aktualität der Religion für die Gesellschaft am Anfang des 21. Jahrhunderts äußerte, zeigten sich in den Überlegungen der jungen Menschen oft Elemente von Exklusivismus, die ab und zu auch mit militanten Haltungen einhergingen.18 Ich habe zwei entgegengesetzte Tendenzen in der tschechischen Gesellschaft in Hinblick auf die Bildung und Entwicklung einer gesunden persönlichen und Gruppen-Identität vorgestellt: die „flüssige Identität“, die die Grenzen zwischen den verschiedenen Gruppen auflöst und gleichzeitig das Bewusstsein für ihre Bedeutung senkt, und die „Ghetto-Identität“, die eine hermetische Grenze zwischen „wir“ und „den Anderen“ zieht, mit der kämpferischen Tendenz, den „Anderen“ ihren Wert vorzuenthalten oder ihn zumindest zu senken. Keine dieser Identitätskonzeptionen bringt jedoch dem Menschen die notwendige Erleichterung in der Unsicherheit und Angst, die die unübersehbare Pluralitätssituation in der Gesellschaft mit sich bringt.
16 Vgl. Drapela 1997, 138 – 141 17 Vgl. Tomsˇ Halk, Krˇestˇanstv v Evropeˇ na pocˇtku nov¦ho stolet[on-line]. Dostupn¦ na: http://www.halik.cz/clanky/krestanstvi_evropa_stoleti.php (Zugriff am 19. 1. 2013) 18 Mehr in Muchov 2011, 86 – 90
Problem der Identität und die „Kultur der gegenseitigen Anerkennung“
4.
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Betrifft dieses Problem die Bildungsaufgabe der Schule?
Das Nationalprogramm zur Entwicklung der Bildung in Tschechien definiert explizit, in welchem Sinne diese Frage positiv zu beantworten ist. Nach diesem Programm müssen die Ziele der Bildung sowohl von den individuellen als auch von den gesellschaftlichen Bedürfnissen abgeleitet werden. Hinsichtlich der Entwicklung der menschlichen Individualität wird das Ziel vor allem in der Pflege der physischen und psychischen Gesundheit der Schüler/innen gesehen. Als Ziele in Bezug auf die Gesellschaft werden dann vor allem „Vermittlung der historisch entstandenen Kultur der Gesellschaft“, der sie dient und „(…) Erhalten und Entwicklung der nationalen, sprachlichen und kulturellen Identität“ genannt. Ein anderes wichtiges Ziel ist die „Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhaltes“, die sich „(…) in der Erziehung zu Menschenrechten und Multikulturalität“ zeigt. Betont wird vor allem die Bedeutung der objektiven sachlichen Informationen. Der Sinn ist dabei die Entwicklung der gegenseitigen Verständigung und des Zusammenhaltens. Von den Minderheiten, auf die sich Bildungsbemühungen konzentrieren, werden nur nationale Minderheiten (vor allem jüdische, Roma und deutsche Minderheiten) genannt.19 Wenn wir die interreligiöse Bildung für einen Bestandteil der interkulturellen Bildung halten, dann können wir analog schließen, dass die Entwicklung einer „Kultur der gegenseitigen Anerkennung“ in Bezug auf Religion die Bildungsaufgabe der Schule ist. Insbesondere deshalb, weil sich der Staat dazu verpflichtet, im Rahmen der Schule die physische und psychische Gesundheit der Persönlichkeiten der Schüler zu entwickeln, und für die Entwicklung des gesellschaftlichen Zusammenhaltens zu sorgen. In einer Gesellschaft, die sich der Inspirationskraft der Religion für die eigene Kultur nicht bewusst ist, kann das Interesse an der Entwicklung des gesellschaftlichen Zusammenhalts zwischen der Mehrheitsgesellschaft und den Minderheiten ein Ausgangpunkt sein, an dem eine mögliche Inspiration beginnt, als Religion gesucht und anerkannt zu sein.
5.
Abschluss
In meinem Beitrag versuchte ich am Beispiel der Tschechischen Republik zu zeigen, wie schwierig es sein kann, die Gründe, die für eine Entwicklung der „Kultur der gegenseitigen Anerkennung“, aus den Ideen der Autoren der „westlichen Welt“ abgeleitet, in die Kultur der „östlichen Welt“ zu implementieren. Ich versuchte, ausgehend von den Humanwissenschaften, eine Argu19 Ministerstvo sˇkolstv 2001, 14
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mentation zu entwickeln, die aufzeigt, dass das Schulsystem z. B. in Tschechien eine solche Argumentation, wie sie eine „Kultur der Anerkennung“ verfolgt, respektiert jedoch in Bezug auf andere Minderheiten als religiöse. Ich bin mir dessen bewusst, dass die Einteilung Europas in „Ost-“ und „Westwelt“ Ausdruck meiner eigenen kognitiven Einstellung ist, die von meiner Autobiographie beeinflusst wurde, und meine Überlegungen von daher nur eine begrenzte Gültigkeit haben. Der Gedanke von Martin Jäggle, im interreligiösen Lernen die Möglichkeit zu entdecken, sich selbst in der Kommunikation mit den Menschen zu verstehen, die anders denken, fühlen und handeln,– wurde so, wie ich hoffe, nebenbei vertieft.
Literatur Bacˇov, Viera: Identita v sociln psychologii, in Vy´ rost, Jozef/Slameˇnk, Ivan (Hg.): Sociln psychologie. 2. prˇepracovan¦ a rozsˇrˇen¦ vydn, Praha 2008 Drapela, Victor J.: Prˇehled teori osobnosti, Praha 1997 Halk, Tomsˇ : Krˇestˇanstv v Evropeˇ na pocˇtku nov¦ho stolet[on-line]. Dostupn¦ na: http://www.halik.cz/clanky/krestanstvi_evropa_stoleti.php (Zugriff am 19. 01. 2013) Jäggle, Martin: Wie nimmt Schule kulturelle und religiöse Differenz wahr?, in: Porzelt, Burkard/Güth, Ralph (Hrsg.): Empirische Religionspädagogik, Grundlagen – Zugänge – Aktuelle Projekte, Münster 2000 Kostelnkov, Michaela: Absence pohrˇebnch obrˇadu˚ : prˇpadov studie z Brna, Brno 2012, diplomov prce [on-line], dostupn¦ na. http://is.muni.cz/th/273439/fss_m/?lang=en (Zugriff am 12. 01. 2013) Ministerstvo ˇskolstv, mldezˇe a teˇlovy´chovy, Bl kniha. Nrodn program rozvoje ˇ esk¦ republice, Praha 2001 vzdeˇlvn v C ˇ ´ ˇ Luzny, Dusan: Nbozˇenstv, globalizace a (de)sekularizace, in Luzˇny´, David/Vclavk, David: Individualizace nbozˇenstv a identita. Poznmky k soucˇasn¦ sociologii nbozˇenstv, Praha 2010 Muchov, Ludmila: Budete my´mi sveˇdky. Dialogick¦ rozvjen krˇestˇansk¦ identity ve sveˇtonzoroveˇ pluralitn spolecˇnosti – pedagogick vy´zva, Brno 2011 Nakonecˇny´, Milan: Psychologie osobnosti, Praha 2009 Palecˇek, Martin: Kulturn identita a jej ohrozˇenost, Hradec Krlov¦ 2002 Sm¦kal, Vladimr : Pozvn do psychologie osobnosti: cˇloveˇk v zrcadle veˇdom a jednn, Brno 2009
Helga Kohler-Spiegel
Gesehen werden – gebunden sein. Ein psychologischer Blick auf eine „Kultur der Anerkennung“
Die Entwicklung einer „Kultur der Anerkennung“ bzw. einer „Kultur wechselseitiger Anerkennung“ war und ist zentrales Anliegen von Martin Jäggle.1 Spannend ist, auch aus psychologischer Perspektive zu verstehen, was in der frühen Begleitung von Kindern beachtet werden muss, damit Bindung, Empathie und Anerkennung im Menschen wachsen können.
1.
Gefühle lernen
Die Säuglingsforschung bestätigt, was Mütter und Väter im Kontakt direkt wahrnehmen können: Säuglinge haben Freude daran, Affektausdrücke zu imitieren und die eigene Wirksamkeit zu erleben.2 Im Zusammenspiel mit Bezugspersonen3 kann das Kind lernen, dass eigene und fremde Gefühle verlässlich zueinander passen und dass es darauf Einfluss nehmen kann – oder dass es genau darin irritiert wird.4 Auch überschaubare Erfahrungen mit negativen Affekten sind notwendig, damit das Kind seine Fähigkeit zur Selbstregulierung entwickeln kann. Wenn ein überschaubares Bedürfnis des Kindes nicht befriedigt werden kann, wenn z. B. ein Kind kurz auf die Mutter oder eine andere Bezugsperson warten muss, lernt das Kind schrittweise, die damit verbundene Frustration zu ertragen; zugleich lernt es, eigene Möglichkeiten zu entwickeln, mit der Frustration umzugehen. Wichtig dabei ist, dass diese Erfahrungen mit
1 Sehr exemplarisch: Jäggle 2009, 269 f; Jäggle 2000, 120ff; Jäggle/Krobath 1/2010, 66ff 2 Vgl. sehr exemplarisch zum Folgenden: Oerter/Montada 82008; Wicki 2010; Auch: Sander 2009; vgl. Lelord/Andr¦ 2005; Mees 1997, 324 – 344; Largo 2010; Largo 2009 3 Es sei gleich hier erwähnt, dass „Mutter“ bzw. „Vater“ als Konkretisierung von „Bezugsperson“ verstanden ist und im gesamten Text flexibel verwendet ist. 4 Vgl. exemplarisch für ein eigenes Thema: Mentzos 1984; Und seitens der Resilienzforschung, stellvertretend für die Frage, welche Faktoren Einfluss haben, dass Kinder trotz widriger Umstände sich psychisch stabil entwickeln können: Welter-Enderlin/Hildenbrand 2008
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sogenannten „negativen Affekten“ überschaubar und für das Kind steuerbar bleiben. Auf dieser Affektsozialisation bauen Interaktionsformen zwischen Bezugsperson und Kind auf: Wenn sich z. B. ein Kind krabbelnd von der Mutter entfernt und zugleich, vor allem in unvertrauten Situationen, die Nähe, die „Affektabstimmung“ mit der Mutter braucht: „Dabei begleitet z. B. die Mutter die Aktivitäten des Kleinkindes mit Lautäußerungen, die dem Rhythmus der Bewegungen des Kindes folgen. Ohne Abstimmung versiegt die Aktivität des Kindes. Beim ,social referencing‘ (Emde, 1983) beobachtet das spielende Kind gezielt den Affekt der Mutter, wenn ihm seine Situation unklar ist, und gleicht seinen Gefühlsausdruck dem der Mutter an, was natürlich auch seine Unternehmungslust beeinflusst.“5
Im Umgang mit einem Säugling versuchen erwachsene Bezugspersonen, die Empfindungen des Babys zu erfassen – oder füllen die Lücken im Verstehen durch eigene Bilder. Wenn ich z. B. den Eindruck habe, ich höre Wut im Weinen des Babys, dann reagiere ich anders als wenn ich Schmerzen heraushöre.6 „Für das Gelingen des Signalaustausches, des wechselseitigen Verstehens und Aufeinander-Eingehens zwischen Mutter und Säugling spielt ein besonderes, erst kürzlich entdecktes Nervenzell-System des Gehirns eine entscheidende Rolle: Das Gehirn besitzt Nervenzell-Netzwerke, die darauf spezialisiert sind, bei anderen Menschen wahrgenommene Signale so abzuspeichern, dass sie selbst nacherlebt und reproduziert werden können. Die Nervenzellen dieses von Giacomo Rizzolatti entdeckten Systems werden als ,Spiegel-Nervenzellen‘ (,mirror neurons‘) bezeichnet. Dass der Säugling mütterliche Signale ,spiegelt‘, z. B. versucht, bestimmte Gesichtsausdrücke oder Laute zu imitieren, war aus der beobachtenden Säuglingsforschung schon längere Zeit bekannt. Die Entdeckungen Rizzolattis scheinen die erstaunliche, kurz nach der Geburt einsetzende Fähigkeit des Säuglings, empfangene Signale aufzunehmen und durch Imitation zurückzuspiegeln, nun aber auch neurobiologisch erklären zu können.“7
Die Bedeutung der „vollständigen Einfühlung“ wird unterschiedlich bewertet, sicher ist, betont Martin Dornes, dass es bereits beim Säugling die Erfahrung ermöglicht, „daß innere Zustände keine privaten Ereignisse sind, sondern soziale und Beziehungsangelegenheiten.“8 Es ermöglicht die Erfahrung, dass andere sehen, was ich fühle, dass ich in meinem Gefühlszustand wahrgenommen und anerkannt bin. Gefühlszustände, die kaum oder nicht wahrgenommen und anerkannt werden, werden kontrolliert, reduziert und prägen sich weniger aus. Der Säugling lernt, Signale von innen (aus dem Körper) und von außen (aus 5 6 7 8
Baumgart 31997, 278 Vgl. Stern 102010 Bauer 72006, 64 f. vgl. Bauer 2005 Dornes 1993, 159
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der Umwelt) zu verstehen, indem „die aus dem eigenen Körpermilieu kommenden Signale im Gehirn des Säuglings mit Signalen und Handlungen der Mutter bzw. der Bezugsperson verknüpft werden. Deren Reaktionen verleihen, wenn sie angemessen und für den Säugling problemlösend sind, den unspezifischen Empfindungen des Säuglings sozusagen rückwirkend eine ,Bedeutung‘. Erst die der jeweiligen Situation angepassten Reaktionen der Mutter stellen die Empfindungen des Säuglings in einen Verständniszusammenhang.“9 Diese frühen Muster entwickeln sich über Blickkontakt mit dem Baby mit passender Affektabstimmung, über das Verbalisieren, d. h. über Ankündigen und Kommentieren der Handlungszusammenhänge, über die wechselseitige Fein-Abstimmung in der Interaktion, in der Berührung und im Körperkontakt. Das Baby lernt dadurch auf kognitiver Ebene, dass sein Verhalten eine Reaktion der Mutter, des Vaters bzw. der primären Bezugsperson verursacht bzw. herbeiführt, dass es vorhersehbare Zusammenhänge zwischen Ereignissen gibt, was die Welt durchschaubar, steuerbar und sicher macht. Es lernt emotional, dass die Bezugsperson ihre Reaktion auf den Erregungszustand des Babys abstimmt und diesen reguliert, das Baby erlebt, dass seine Gefühle verstanden werden, dass es Trost spendet, wenn man die eigenen Gefühle mitteilt und teilt.10
2.
Sicher gebunden sein
Von Beginn des Lebens an, auch pränatal, ist der Mensch auf Dialog hin bezogen. „Begegnung“ basiert auf frühen Erfahrungen und Mustern und ruft diese zugleich immer wieder ab: John Bowlby11 fasste Bindung als ein „primäres Motivationssystem“, einen eigenständigen Prozess in der Entwicklung.12 Mit Mary Ainsworth kann gesagt werden: Attachement ist „die besondere Beziehung eines Kindes zu seinen Eltern oder Personen, die es beständig betreuen“13. Es ist ein „imaginäres Band, das in den Gefühlen einer Person verankert ist und das sie über Raum und Zeit hinweg an eine andere Person, die als stärker und weiser empfunden wird, bindet.“14 Es ist ein Grundbedürfnis, um Sicherheit zu erlangen, sich zu orientieren, um Angst zu mindern, und auch z. B. Werte zu vermitteln. Zustand und Qualität der individuellen Bindungen können nach Bowlby in 9 10 11 12 13
Bauer 2006, 68 Vgl. exemplarisch Diem-Wille 2007 Vgl. exemplarisch Bowlby 2010 Vgl. Holmes 2002, 86ff Zit. nach Grossmann/Grossmann 52012, 29; Vgl. Grossmann/Grossmann 22009; Spangler/ Zimmermann 42002 14 Zit. nach Grossmann/Grossmann 2012, 72
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sichere Bindung und unsichere Bindung unterteilt werden, „unsicher gebunden“ wird beim Kind weiter differenziert in: unsicher vermeidend und unsicher ambivalent. Desorganisiert gebunden bildet den vierten Bindungstyp, der später ergänzt wurde.15 Bindungsverhalten wird gezeigt, wenn Gefahr für den Erhalt der Bindung besteht. Eine tatsächliche oder drohende Trennung von der Bindungsfigur löst das Bindungsverhalten aus, also das Bemühen einer Person, eine andere in Beziehung zu bringen und zu halten. Es wird beendet oder gelindert durch Nähe, die, abhängig von der Bedrohung, von Sichtkontakt über körperliche Nähe und besänftigende Worte ohne Berührungen bis zu engen Umarmungen und Liebkosungen reichen kann. Bindungstheorie ist, so könnte man sagen, eine räumliche Theorie: Wenn ich einem geliebten Menschen nahe bin, fühle ich mich gut; wenn ich weit weg bin, habe ich Angst, bin traurig oder einsam. Bindung wird vermittelt durch Sehen, Hören und Halten; gehalten zu werden und die Haut des anderen auf meiner zu spüren, vermittelt das Gefühl, das letztlich in Nähe und Entspannung endet. Diese körperlichen Erfahrungen werden später auch symbolisiert und können dadurch verinnerlicht abgerufen werden. Wir haben „ein Modell von Welt“, in dem das Selbst und wichtige andere Menschen sowie ihre Beziehungen untereinander repräsentiert sind. So wächst sichere Bindung, das heißt auch, sich sicher und geschützt zu fühlen.
3.
Einen inneren Raum entwickeln
Für die psychische Entwicklung Bedeutsames geschieht im Übergangsbereich von der symbiotischen Zweieinheit mit der Mutter (bzw. Bezugsperson), also von der Phase, in der der Säugling das Ich und Nicht-Ich noch nicht unterscheidet – in die Getrenntheit der eigenen Persönlichkeit.16 Die Art und Weise, wie das Kind den Verlust des Gefühls des Einsseins mit der Mutter verarbeitet und Lösungsmöglichkeiten zum „Überleben“ zwischen Eigenständigkeit und Geborgenheit findet, ist ein prägendes Grundmuster. Während in den ersten beiden Lebensmonaten eines Neugeborenen vom 15 Eine andere Einteilung der Bindungsmuster erläutert Bernhard Grom (Grom 32007, 51 f) mit Bezug auf Bartholomew und Horowitz (1991): „(1) Sicher, von der Bezugsperson akzeptiert zu sein. (2) Präokkupiert, mit dem Wunsch nach enger Beziehung und der Angst, abgelehnt zu werden. (3) Ängstlich-vermeidend, also die Nähe zur Bezugsperson wünschend und gleichzeitig ablehnend aus Furcht, von ihr verletzt oder abhängig zu werden. (4) Distanziert-vermeidend, mit dem Willen, von niemandem abhängig zu sein.“ 16 Vgl. Mahler 1993
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„auftauchenden Selbstempfinden“ gesprochen wird, tritt bis zum 7.–9. Lebensmonat das „Kernselbstempfinden“ in den Vordergrund: „Gemeinsamkeitserlebnisse mit dem anderen sind möglich, und in diesem Zeitraum auch reichlich vorhanden, aber in ihnen gehen die gefühlten Grenzen zwischen Selbst und Objekt im Normalfall nicht verloren, sondern bleiben intakt.“17 In der Phase des subjektiven Selbstempfindens (bis zum 15.–18. Lebensmonat) lernt der Säugling, dass es „Andere“ gibt, dass die eigenen Zustände und die von Anderen „teilbar“ sind, mitfühlbar und mitteilbar. Getrennt zu sein und sich doch zu überschneiden, verschieden zu sein und sich doch berühren und begegnen und miteinander kommunizieren zu können – das sind wichtige Entwicklungsschritte, bis das Kind das verbale Selbstempfinden entwickeln kann, das nie abgeschlossen ist. Das Kind beginnt, nicht nur Gefühle und Zustände zu erleben, sondern kann mit Hilfe von Sprache und Symbolen kommunizieren.18 Äußere Erfahrungen und innere Repräsentationen werden so miteinander verknüpft, dass äußere Objekte verinnerlicht werden, sodass sie innere Repräsentanzen bilden und diese innerlich bewahrt werden können, auch wenn sie äußerlich nicht (mehr) da sind. Was so kompliziert klingt, heißt z. B.: Wir können „Tisch“ denken, auch wenn kein Tisch da ist, wir können uns einen „Tisch“ vorstellen, auch wenn äußerlich keiner vorhanden ist. Wir können an „Liebe“ denken und sie auch empfinden, auch wenn der geliebte Mensch tausende Kilometer entfernt oder bereits verstorben ist. Wir können Dinge, Erfahrungen, Gefühle nach innen nehmen und dort bewahren, wir können uns diese wieder bewusst machen und in sie eintauchen. Dabei spielt die „Mutter“, d. h. die primäre Bezugsperson bzw. die primären Bezugspersonen, eine besondere Rolle. Im Übergangsbereich von der Zweieinheit mit der „Mutter“ in die Getrenntheit der eigenen Persönlichkeit, der eigenen Individualität, entsteht diese Fähigkeit, einen inneren Raum zu entwickeln. Bereits Babys bringen Interaktionskompetenz mit, wie sie schrittweise diesen Verlust des Gefühls des Einsseins mit der „Mutter“ verarbeiten. So lernt ein Kind im frühen Alter, dass die Bezugsperson da ist und zugleich nicht da sein muss, dass ein so genanntes „Übergangsobjekt“ hilft, mit diesen Gefühlen umzugehen. Teddybär, Schmusekissen, Schnuller können helfen, diese Spannung zwischen dem Wunsch, nicht allein zu sein, und dem Wunsch, auch allein und eigenständig zu sein, auszuhalten. Dann, im weiteren Lernprozess, werden Gefühle damit gestalt- und erinnerbar. Ein Kind lernt, Gefühle wieder zu erkennen und zu ihnen zurückzukehren, z. B. wenn es den Teddybär oder das Schmusekissen in die Hand nimmt, oder beim Nachtgebet, im Spiel, bei Ritualen. Allmählich können wir diese Übergangsobjekte verinnerlichen, ich brauche den Teddybär 17 Dornes 1993, 80 18 Vgl. Streeck 2000
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nicht mehr in der Hand zu halten, um zu wissen, dass ich nicht alleine bin. Ich brauche keinen Teddybär, um zu wissen, dass ich mit einem Menschen verbunden bin, auch wenn wir getrennt sind, dass – um es auch religiös zu formulieren – „Gott“ erfahrbar ist, auch wenn ich Gott nicht sehe.19 „Michael Meaney fand heraus, dass die liebevolle Zuwendung der Mutter im Säugling zu bleibenden, dauerhaften Veränderungen an Genen führt, welche im Körper die biologische Stressreaktion steuern. Durch liebevolle Zuwendung der primären Bezugsperson werden im Säugling biochemische Strukturen verändert, die eine Art Hülle um das Gen herum bilden. (…) Beim Säugling ist das Gen betroffen, welches in der Lage ist, im Körper Angst und Stress zu dämpfen. Mütterliche Zuwendung hat also zur Folge, dass es im Körper des Kindes zu Veränderungen an Genen kommt, was zur Konsequenz hat, dass der Organismus des Kindes dauerhaft gegen überschießende Angst- oder Stressreaktionen geschützt ist.“20
Beziehungserfahrungen haben also Einfluss auf die Mikrostrukturen des Gehirns, diese verändern sich lebenslänglich, je nachdem was wir erleben oder tun, „use-dependent plasticity“ wird dies genannt. Stabile Bindungserfahrungen prägen ebenso wie Gewalterfahrungen. Joachim Bauer sagt zusammenfassend – im Positiven: „Eine der Hauptbotschaften der modernen Neurobiologie ist: Das wirksamste Medikament (Heilmittel) für den Menschen ist der andere Mensch. (…) Jeder Mensch hinterlässt beim anderen Menschen in der Interaktion, v. a. wenn wir intensiv zusammen sind und miteinander umgehen, eine Art biologischen Fingerabdruck im Gedächtnis des Körpers.“21
Ein faszinierender Gedanke, wenn es um eine „Kultur gegenseitiger Anerkennung“ geht. Es regt an, in der Erinnerung den Menschen nochmals zu begegnen, die im eigenen Leben wichtig waren, die einen „Fingerabdruck“ in unserem Gedächtnis des Körpers hinterlassen haben. Und ein schöner Gedanke, vor allem die Menschen im eigenen Leben zu erinnern, die uns zugewandt waren, die uns mit ihrer Zuwendung gegen überschießende Angst und Stress geschützt haben und nach wie vor schützen. Auch Erfahrungen mit Religion gehören zu diesem „Fingerabdruck“ – in der Unterschiedlichkeit des individuellen Erlebens. Gerald Hüther zeigt, dass aufgrund bildgebender Verfahren verstanden werden kann, wie im Gehirn aus primitiven Verschaltungsmustern durch stabilisierende (und durch destabilisierende) Einflüsse komplexe Verschaltungsmuster werden. Nervenzellen unterhalten sich über Synapsen, die Verschaltungen verändern sich durch Botenstoffe, Lernen und Erfahrungen führen zu 19 Exemplarisch vgl. Kuld 2001 20 Bauer, das Gedächtnis, 2006, 17 f 21 Ebd.
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chemischen Reaktionen, diese lagern sich in (neuen) Verknüpfungen der Synapsen im Gehirn ab. Die Nervenzellen sind also offen und damit störanfällig. Eine Störung des emotionalen Gleichgewichts geschieht durch „trigger“ (Anstoß, Auslöseimpuls), das sind vor allem: psychosoziale Konflikte, Verlust von psychosozialer Unterstützung und Verlust von psychosozialer Kompetenz. Das erleben auch Tiere, nur beim Menschen konnte nachgewiesen werden, dass allein die Vorstellung dieser Stressfaktoren, die bloße Vorstellung eines solchen Konfliktes ausreicht, um im Gehirn dieselbe Reaktion auszulösen wie das Faktum selbst. Vertrauen in die vorgestellten Kräfte, diesen „Schatz an inneren Bildern“ hat nur der Mensch zur Verfügung.22
4.
Glauben in jüdisch-christlicher Tradition
Lebensfördernder Glaube verstärkt und unterstützt die frühen Bindungen, Glaube ist geprägt von der Sehnsucht nach oder der Angst vor Bindung, das hier dargestellte Verständnis von Bindung hat dies deutlich gezeigt. Jüdisch-christliche Tradition beschreibt die Beziehung zwischen Gott und dem Menschen häufig mit den Bildern von Bindung, Beziehung und Begegnung. „religio“ meint „sich rückbinden“, „glauben“ heißt in der hebräischen Wurzel „festhalten“ und beschreibt die Bewegung des kleinen Kindes, wenn es sich in einer unsicheren Situation am Rockzipfel, an den Hosenbeinen seiner primären Bezugspersonen, meist Mama oder Papa, festhält. Sich rückbinden, sich festhalten – Bindungsverhalten kann gerade in unsicheren Momenten aktiviert werden, Mary Ainsworth’s Verständnis von Bindung mit den verschiedenen Bindungstypen gilt auch im Blick auf Religiosität und Glaube.23 Die jüdische und christliche Bibel selbst redet vom Leben – und sie redet von Liebe und all den Gefährdungen von Liebe, sie redet von Angst und Freude und Mut und Ohnmacht… – wenn es um die Erfahrungen des Menschen mit Gott geht. Die Bibel spricht von Gott als JHWH – „Ich bin bei Dir. Ich bin da, als der ich da sein werde.“ – das ist das Zentrum, das ist der Name Gottes, ein Bindungsangebot: JHWH. Gott begleitet, richtet auf, ruft heraus und weckt zum Leben. In einem (anonym überlieferten) Text für 9-jährige Kinder heißt es: Sag es mir // Sag es, wenn ich mich verkriechen möchte, / wenn ich meine Familie nicht sehen mag, / wenn ich genug habe von der Schule. // Sag: Ich bin bei dir. // Sag es, wenn die schlimmen Träume kommen, / wenn ich in der Nacht aufschrecke, / wenn ich am Morgen nicht aufstehen mag // Sag: Ich bin bei dir. // Sag 22 Vgl. Hüther, 22005. Hüther 2004 23 Vgl. insgesamt: Kohler-Spiegel 2008
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es, wenn mein Herz klopft, / wenn ich die Nähe der Eltern suche, / wenn ich vor mich hinträume. // Sag: Ich bin bei dir. // (…) Sag es immer : / Ich bin bei dir.24 Am Beginn und am Ende des Weges Jesu steht die Botschaft des „Ich bin bei dir“: Bei Jesu Geburt verkünden Engel die sichtbare Seite Gottes: „Fürchtet euch nicht, habt keine Angst“, am Grab nach Jesu Tod verkünden Engel: „Fürchtet euch nicht, habt keine Angst“, die ersten Worte des Auferstandenen an die Jüngerinnen und Jünger lauten: „Schalom. Fürchtet euch nicht“. Dies ist die Botschaft von Weihnachten und von Ostern. Der Gott der Bibel verspricht den Menschen kein einfaches und unkompliziertes, auch kein leidfreies Leben, aber ein begleitetes Leben, ein Leben mit etwas weniger Angst: „Ich werde da sein, als der ich da sein werde. Also – ihr braucht euch nicht zu fürchten…“
5.
Eine Einladung zur „wechselseitigen Anerkennung“
Der kurze Einblick in Aspekte psychischer Entwicklung zeigt die Bedeutung der frühen Erfahrungen für den Menschen. Das Gegenüber, die andere Person, das „Du“ ist notwendig, um – im Spiegel – sich selbst wahrnehmen zu können. Der Mensch braucht Resonanz. Resonanz bezeichnet in Physik und Musik das Mitschwingen oder Mittönen eines Körpers in den Schwingungen eines anderen Körpers. Übertragen meint es die Gesamtheit von Äußerungen und Reaktionen, „die durch etwas hervorgerufen worden sind und sich darauf beziehen“25, also Widerhall, Zustimmung. Resonanz geben meint also, ein Kind, eine anderen Person emotional zu beantworten, auf die Empfindungen, Stimmungen, Gedanken zu reagieren und mitzuschwingen mit dem Gegenüber.26 Dafür braucht es die innere Bereitschaft und die Fähigkeit, achtsam zu sein und der anderen Person innerlich Raum zu geben. In der Empathie stimmen wir uns auf die Erfahrungen eines anderen Menschen und auf seine/ihre Welt ein, ohne ganz aufzugehen in dieser Welt. Wir „pendeln“ zwischen der Wahrnehmung für uns selbst und für die andere Person. Ich spüre, wie es der anderen Person geht, ohne zu vergessen, wie es mir selbst geht. Ich mache nicht die Erfahrung einer anderen Person zu meiner eigenen, ich versuche nur zu verstehen, wie sich diese Erfahrung für die andere Person anfühlt…27 So einander zu beantworten, einander nicht alleine zu lassen mit den jeweils eigenen Empfindungen, Stimmungen, Gedanken ist eine zutiefst christliche Grundhaltung, 24 Anonym überliefert, zit. nach Kohler-Spiegel 2010, 154 25 Duden online: http://www.duden.de/rechtschreibung/Resonanz (Zugriff am 23. 4. 2013, 11.00 Uhr) 26 Vgl. Ogden 1995 27 Vgl. Schwaber 1995
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wie sie sich in den Schriften des Neuen Testaments als zentrale Haltung Jesu28 zeigt. Theologisch gesprochen wird in dieser Erfahrung von „Resonanz“, von „Beantwortetwerden“ durch Jesus (und in der Nachfolge durch Christinnen und Christen) die „Resonanz“, das „Beantwortetwerden“ durch JHWH sichtbar. Dieses Wesensmerkmal Gottes wird zentral in Ex 3,1 – 12 überliefert und durch die hebräische und christliche Bibel hindurch bestätigt. Da Christinnen und Christen in der Nachfolge eingeladen sind, sich „gegenseitig anzuerkennen“, einander Resonanz zu geben, und besonders die Menschen zu beantworten, die wenig gesehen werden, sind Grundhaltungen wie Achtsamkeit und Offenheit zentral. Es braucht aber auch Sprache für diese Empfindungen, für Freude und Trauer und Glück und Ohnmacht und Angst und Liebe. Gemäß der neutestamentlichen Überlieferung ist „Liebe“ das zentrale Erkennungszeichen der Christinnen und Christen. Neben zahlreichen anderen Erkennungszeichen (z. B. die liturgischen Rituale) ist es diese „Liebe“, d. h. einander beantworten, auf einander eingehen und einander Resonanz geben, die Christinnen und Christen möglich ist, weil JHWH selbst antwortet: “Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen, und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört. Ich kenne ihr Leid (…)“ (Ex 3,7)29
Literatur Bauer, Joachim: Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone, Hamburg 2005 Bauer, Joachim: Das Gedächtnis des Körpers. Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern, München 72006 Bauer, Joachim: Das Gedächtnis des Körpers. Vortrag am 18. November 2005 in Dornbirn/ A, in: Studioheft 45, hrsg. vom ORF Radio Vorarlberg, Frühjahr 2006, 14 – 25 Baumgart, Matthias: Säuglings- und Kleinkindforschung, in: Mertens, Wolfgang (Hg.): Schlüsselbegriffe der Psychoanalyse, Stuttgart 31997, 275 – 282 Bowlby, John: Bindung als sichere Basis. Grundlagen und Anwendung der Bindungstheorie, München 2010 Diem-Wille, Gertraud: Die frühen Lebensjahre. Psychoanalytische Entwicklungstheorie nach Freud, Klein und Bion, Stuttgart 2007 Dornes, Martin: Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen, Frankfurt am Main 1993 Grom, Bernhard: Religionspsychologie, München 32007 28 Vgl. Limbeck 2003; Roloff 2000 29 Dieses Wahrnehmen als wechselseitige Anerkennung im Kontext religiösen Lernens, vor allem im Kontext von Schule, immer wieder zu durchdenken und einzufordern, war und ist zentrales Anliegen von Martin Jäggle.
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Grossmann, Karin/Grossmann, Klaus E.: Bindungen – das Gefüge psychischer Sicherheit, Stuttgart 52012 Grossmann, Karin/Grossmann, Klaus E. (Hg.): Bindung und menschliche Entwicklung. John Bowlby, Mary Ainsworth und die Grundlagen der Bindungstheorie, Stuttgart 2 2009 Holmes, Jeremy : John Bowlby und die Bindungstheorie, München – Basel 2002 Hüther, Gerald: Die Macht der inneren Bilder. Wie Visionen das Gehirn, den Menschen und die Welt verändern, Göttingen 22005 Hüther, Gerald: Neurobiologische Erkenntnisse und ihre Nutzung für die Psychotherapie. Vortrag bei den Lindauer Psychotherapietagen, Lindau 2004 Jäggle, Martin: Religiöse Pluralität als Herausforderung für Schulentwicklung, in: Jäggle, Martin/Krobath, Thomas/Schelander, Robert (Hg.): lebens.wert.schule. Religiöse Dimensionen in Schulkultur und Schulentwicklung, Wien – Berlin, 265 – 280 Jäggle, Martin: Wie nimmt Schule kulturelle und religiöse Differenz wahr? Grundsätzliche Vorbemerkungen und Einblick in ein Forschungsprojekt in Wien, in: Porzelt, Burkhard/Güth, Ralph (Hg.): Empirische Religionspädagogik. Grundlagen – Zugänge – Aktuelle Projekte, Münster 2000, 119 – 138 Jäggle, Martin/Krobath, Thomas: Bildung, Gerechtigkeit und Würde. Kultur der Anerkennung, in: Amt und Gemeinde H.1/2010, 51 – 63. Kohler-Spiegel, Helga: Erfahrungen des Heiligen. Religion lernen und lehren, München 2008 Kohler-Spiegel, Helga: Über uns selbst hinaus… Bindungserfahrungen und Religion, in: Kalcher Anna Maria/Lauermann, Karin (Hg.): Kompetent für die Welt. Bindung – Autonomie – Solidarität, Tagungsband der 59. Internationalen Pädagogischen Werktagung Salzburg, Wien 2010, 143 – 161 Kuld, Lothar : Das Entscheidende ist unsichtbar. Wie Kinder und Jugendliche Religion verstehen, München 2001 Largo, Remo: Babyjahre. Entwicklung und Erziehung in den ersten vier Jahren, München 2010 Largo, Remo: Kinderjahre. Die Individualität des Kindes als erzieherische Herausforderung, München 2009 Lelord Francois/Andr¦, Christophe: Die Macht der Emotionen und wie sie unseren Alltag bestimmen, München 2005 Limbeck, Meinrad: Christus Jesus. Der Weg seines Lebens. Ein Modell, Stuttgart 2003 Mahler, Margret u. a.: Die psychische Geburt des Menschen. Symbiose und Individuum, Frankfurt am Main 1993 Mees, Ulrich: Emotion, in: Straub, Jürgen/Kempf, Wilhelm/Werbik, Hans (Hg.): Psychologie. Eine Einführung, Grundlagen, Methoden, Perspektiven, München 1997, 324 – 344 Mentzos, Starvos: Neurotische Konfliktverarbeitung. Einführung in die psychoanalytische Neurosenlehre unter Berücksichtigung neuer Perspektiven, Frankfurt am Main 1984 Ogden, Thomas H.: Frühe Formen des Erlebens, Wien 1995 Oerter, Rolf/Montada, Leo (Hg.): Entwicklungspsychologie, Weinheim 82008 Roloff, Jürgen: Jesus, München 2000
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Sander, Louis W.: Die Entwicklung des Säuglings, das Werden der Person und die Entstehung des Bewusstseins, Stuttgart 2009 Schwaber, Evelyne A.: Empathie: Eine Form analytischen Zuhörens, in: Forum der Psychoanalyse, Heft 11/1995, 160 – 183 Spangler, Gottfried/Zimmermann, Peter (Hg.): Die Bindungstheorie. Grundlagen, Forschung und Anwendung, Stuttgart 42002 Stern, Daniel: Die Lebenserfahrung des Säuglings, Stuttgart 102010 Streeck, Ulrich: Szenische Darstellung, nichtsprachliche Interaktion und Enactments im therapeutischen Prozeß, in: Streeck, Ulrich (Hg.): Erinnern, agieren und inszenieren. Enactements und szenische Darstellungen im therapeutischen Prozeß, Göttingen 2000, 13 – 55 Welter-Enderlin, Rosmarie/Hildenbrand, Bruno (Hg.): Resilienz – Gedeihen trotz widriger Umstände, Heidelberg 2008 Wicki, Werner : Entwicklungspsychologie, München 2010 Duden online: http://www.duden.de/rechtschreibung/Resonanz (Zugriff am 23. 4. 2013, 11.00 Uhr)
Helene Miklas / Heribert Bastel
Erinnerungslernen – ein Diskurs (nicht nur mit Martin Jäggle)
Einleitung Gespräche mit Martin Jäggle sind oft von einer besonderen Qualität geprägt: Gedanken entwickeln sich schnell und überraschende Wendungen wechseln sich mit Vertrautem ab. Es sind Gelegenheiten, eigene neue Ideen einzubringen und sie werden von ihm neugierig und wertschätzend aufgenommen. Die Freude am Diskurs leuchtet dabei aus seinen Augen und spricht auch aus den beredten Gesten seiner Hände. Welche Form wäre also besser geeignet als ein Dialog, bei dem sich die beiden AutorInnen gleichsam wie auf einem Weg peripatetisch wandernd Gedanken machen zu einem Schwerpunktthema, das in seinem Oevre immer wieder auftaucht? Es handelt sich um den Leitgedanken, Differenz als Ausgangspunkt und damit gleichzeitig als Aufgabe zu sehen1, damit eine Kultur der Anerkennung gelernt werden kann. Was bedeutet dies, so fragen sich beide, in einem Kontext von Erinnerung und Erinnerungslernen? Engt ein Erinnern nicht ein und macht Differenz per se unmöglich? Narrative Erfahrungselemente spielen dabei – wie es in Martin Jäggles Diskursen üblich ist – eine gebührende Rolle. Helene Miklas: „The creator God is nothing for me“, so sagt es mein englischer Frisör beim Haareschneiden. Die Aussage kommt unterwartet, schließlich fragte ich durchaus horizontal nach dem „spirit of Christmas“ in der englischen Kultur, möglicherweise geprägt von etwas sentimentalen Erinnerungen an den bekehrten Scrooge aus dem Christmas Carol des in England so verehrten Charles Dickens. Viele Zeichen von Wohltätigkeit sind nämlich in diesen Tagen vor Weihnachten an allen Ecken von Penzance in Cornwall zu sehen und es interessiert, wie im ausgeprägt säkularisierten Großbritannien das Weihnachtsfest im Kontext von Erinnerung bedacht wird. Die Aussage des Frisörs verbindet in 1 Vgl. dazu Jäggle 2000, 119
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einem typisch postmodernen Sprachspiel noch vorhandenes Wissen um die großen Erzählungen und säkularisierte Individualität miteinander2. Doch ich frage weiter. Worin sei denn die so deutlich sichtbare Wohltätigkeit begründet? Sie sei logisch, so meint der Frisör. Die einzelnen Institutionen würden eine hervorragende Arbeit leisten und gehörten damit unterstützt. Und die Bedeutung von Weihnachten selbst? Die Sonnenwende müsse doch gefeiert werden. Durch die Jahrhunderte hätte sie die Menschen zum Feiern angeregt und sie wäre sozusagen fast evolutionär im Menschen vorhanden, spürbar in Körper, Geist und Seele. Erinnern ist laut diesem Gespräch in der Natur des Menschen angelegt. Und das Feiern der Feste ist ein zyklisches, immer wiederkommendes Ritual – in scheinbar problemloser Selbstverständlichkeit gepaart mit dem Konsumgedanken. Ich frage dich nun, was eine solche Aussage für ein Erinnern bedeutet, Heribert. Verändert dies nicht alle Maßstäbe, da Erinnerung in einem subjektiven Erleben aufgelöst wird? Heribert Bastel: Zuerst einmal: Wir können gar nicht „Nicht-erinnern“, es gehört einfach zum menschlichen Leben dazu, ebenso wie das Vergessen. Erinnern ist eine menschliche Fähigkeit, eine anthropologische Konstante3. Es ist selbstverständlicher Teil menschlichen Lebens, erst bei Krankheiten wie Demenz wird bewusst, was dieses für das Miteinander-Kommunizieren-Können, was dies für die Lebensbewältigung bedeutet. Es ist doch ebenso auffallend, wenn durch Traumata Menschen in ihrer Erinnerung verstrickt und dadurch in ihrer Wahrnehmung und Lebensführung eingeschränkt sind. Neurobiologische Forschungen zeigen, wie das Gedächtnis strukturiert ist, wie unterschiedlich Menschen sich erinnern können, aber auch wie sie Erinnerungen abrufen.4 Also: Menschen erinnern, ob sie wollen oder nicht. Mit Laubach lässt sich die Frage jedoch zuspitzen auf die Fragestellung des „Warum“. Dies verweist gleichzeitig auf das „Was“ der Erinnerung und ist davon nicht zu trennen. Daher ist es interessant, warum und was wir vergessen und warum und was wir erinnern. Helene Miklas: Das heißt also: Erinnern gehört zur Struktur des menschlichen Denkens. Aber es bleibt subjektives Erleben.
2 Vgl. dazu Lyotard 1982, 87 3 Vgl. dazu Laubach 2001, 185 4 Vgl dazu Welzer/Markowitsch 2006
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Heribert Bastel: Zunächst ja. Etwas im Gedächtnis behalten heißt, diesem Bedeutung zuzumessen, etwas zu verinnerlichen, weil es mir bzw. in meinem Lebenskontext wichtig geworden ist. Im deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm wird hingewiesen auf die Bedeutung von: inne werden und innern5. Zunächst ist Erinnern ein subjektiver Akt, also ein Subjekt akzeptiert (oft unbewusst), dass Vergangenes für seine Gegenwart und Zukunft Sinn in sich birgt und daher wichtig ist, weiter wirken zu lassen. Diese Erinnerung ist eingebunden in den gesellschaftlichen Kontext des Subjekts, in kollektive Geschichten und Erzählungen, in die Vergangenheit eines Staates. Aleida Assmann fasst dies konkret zusammen: „Die neue Gedächtnisforschung begann mit der Einsicht, dass nicht nur Individuen sich erinnern, sondern auch Gruppen, Gesellschaften und Nationen. Erinnern und Vergessen wurden als ein wichtiger Aspekt sowohl des sozialen Zusammenlebens als auch der Politik erkannt. Erinnerung an die gemeinsame Geschichte spielt, wie viele nationale Gedenkanlässe bezeugen, eine große Rolle auch für die politische Zugehörigkeit der Nachgeborenen. Während das individuelle Gedächtnis an die kurze Zeitspanne eines Menschenlebens gebunden ist und mit diesem vergeht, ist das generationenübergreifende kulturelle Langzeitgedächtnis durch Medien, Institutionen und Riten gestützt. Für Individuen wie Kollektive gilt eine ähnliche Logik des Erinnerns: Man hebt die Ereignisse hervor, die die eigene Person aufwerten und ignoriert alles, was ein positives Selbstbild in Frage stellen könnte.“6
Ich erinnere mich dabei an eine Studienreise nach Westrumänien, bei der der Generalvikar der katholischen Diözese Timis‚ oara in seiner Ansprache über die Geschichte des Landes den Satz sprach: „… zur Zeit, als Westrumänien von Österreich erobert und besetzt wurde…“ Dies überraschte mich, denn in der eigenen Darstellung im Geschichtsunterricht ist von Österreich als Besatzungsmacht kaum die Rede gewesen. Und es versetzte mich in ein neues Denken. Erinnern kann also nie ein rein subjektives Erleben sein, sondern es ist eingebunden in den größeren Kontext von Kultur und Kollektivem. Hast du nicht selbst in den verschiedenen Kulturen erfahren, dass mit Erinnerung unterschiedlich umgegangen wird? Helene Miklas: Ja, hier gibt es manchmal richtige eye-openers. Um deine Frage zu beantworten, greife ich ebenfalls auf ein Zitat von Aleida Assmann zurück:
5 http://woerterbuchnetz.de/DWB/?sigle=DWB& mode=Vernetzung& lemid=GE07745 (Zugriff am 3. 12. 2012) 6 Assmann: http://www.goethe.de/ins/ru/lp/kul/dur/eri/kol/de7000483.htm (Zugriff am 3. 11. 2012)
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„Jeder Mensch ist in seiner Altersstufe von bestimmten historischen Schlüsselerfahrungen geprägt, und ob man dies will oder nicht, teilt man mit der Jahrgangskohorte gewisse Überzeugungen, Haltungen, Weltbilder, gesellschaftliche Wertmaßstäbe und kulturelle Bedeutungsmuster … eine einmal geprägte Generationsidentität ist nicht mehr veränderbar“7.
In den Niederlanden lebten und atmeten wir als Kinder und Jugendliche innerhalb der fest geschlossenen Gruppe der Reformierten unreflektiert unsere Geschichte. Sie war Wahrheit und Wirklichkeit in einem. Ganz selbstverständlich standen wir dabei in der großen Geschichte des neuen Bundes Gottes mit Seinem Volk, zu dem die Reformierten in ganz besonderem Maße auserkoren waren – und gleichzeitig waren wir Teil der großen vaterländischen Geschichte des Widerstandes im 16. und 17. Jahrhundert. Der achtzigjährige (Glaubens) Krieg gegen die Spanier (dass dieser etwas mit den Habsburgern zu tun hatte, führte später zu einem ersten Meinungsstreit mit meinem österreichischen Gatten) war wie gestern gegenwärtig und wurde durch die Kinder- und Jugendbücher, die von der damaligen Zeit handelten, noch präsenter8. Dies gab eine feste und unzerrüttbare Identität. Die Geschichte des Zweiten Weltkrieges mit seinem Schrecken jedoch wurde nicht artikuliert, obwohl sie tiefe Spuren in unserer eigenen Familie hinterlassen hatte. Sie lag wohl noch zu nahe: „Triumph und Trauma schließen einander aus, das eine verdrängt das andere, bringt es zum Verschwinden, lässt es vergessen“9, schreibt wiederum Aleida Assmann. Heribert Bastel: Und später – als du in Deutschland gearbeitet hast und nach Österreich gekommen bist? Wie wurde hier Erinnerung gelebt? Helene Miklas: In Frankfurt/Main erlebte ich die hoch politisierte Bildungsdebatte Ende der sechziger Jahre hautnah mit. Scharf bildungskritisch rechneten die StudentInnen unter dem Motto: „Unter den Talaren, Muff von tausend Jahren“10 mit den alten Ideologien ab. Österreich war wieder ein ganz anderes Kapitel. Hier herrschte 1976 noch der alte „Opfermythos“ vor, der dazu führte, dass mehrere Widersprüche in das Geschichtsbild integriert werden mussten, eine Diskussion, die immer noch andauert11. 7 8 9 10 11
Assmann 2006, 26 Zur Geschichtsaufarbeitung der Reformierten Kirche: Amelink 2001 Assmann 2006, 17 Gudjons 2007, 136 Vgl. dazu Pelinka 2012, 73ff oder auch Utgaard, der in seiner großen Untersuchung der österreichischen Schulbücher die Linie wie folgt zusammenfasst: „By emphasizing themes of Heimat (homeland), Landschaft (landscape), culture, Catholicism and work, school mate-
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Es stimmt: Historische Schlüsselerfahrungen prägen die einzelnen Identitäten. Sie verstärken förmlich die Subjektivität und führen dabei nur zu leicht in neue und unkritische Theorien. Und diese blenden – und hier bin ich bei der Ausgangsfrage unseres Artikels – Differenz aus, denn ohne nach links und rechts zu schauen, wird zielorientiert ein gerader Weg gegangen. Raum für ein „Anderssein“ ist nicht vorhanden. Um Differenz zu sehen, bedarf es wohl des balancierten Umgangs mit einem Spannungsfeld: Einerseits die Einbettung in die eigene Kultur, andererseits der kritisch-systemische Blick. Thomas Laubach schreibt in Anlehnung an Kant, dass autonomes Handeln nur möglich ist, „(…) wenn sie auch die Dimension der Erinnerung integriert. (…) Erinnerung ist vielmehr auch deshalb die Bedingung umfassender Freiheit, weil sie erst ermöglicht, all die heteronomen Zusammenhänge aufzudecken, in denen sich Leben, Urteilen und Handeln vollzieht. Erst der Vergleich zwischen einst, jetzt und bald ermöglicht Autonomie im Vollsinn.“12
Und darum meine nächste Frage an dich, Heribert: Martin Jäggle zitiert in seiner Schrift „Wie nimmt Schule kulturelle und religiöse Differenz wahr?“ Volker Drehsen, der fragt: „Können Formen des Umgangs mit dem Fremden, dem Fremden die Fremdheit belassen, nicht nur aus ethischem Respekt vor dem Anderssein des Anderen, an dem erst das eigene So-Sein erkannt zu werden vermag, sondern auch aus dem konstitutionstheoretischen Grund heraus, dass Identität überhaupt erst im Bewusstsein der Differenz entstehen kann, die eine Voraussetzung jeder sachgemäßen und produktiven Anverwandlungen (sic) des Fremden darstellt?“13.
Wie kann so erinnert werden, dass Identität gefördert und Differenz als bereichernd wahrgenommen wird? Heribert Bastel: Im Erinnern entdecke ich zumindest drei Komponenten. Erstens ist Erinnern gemeinschaftsfördernd. Mit anderen erinnere ich mich an gemeinsame Zeiten, an freudvolle und leidvolle Begebenheiten, die wir gemeinsam erfahren haben, oder wo ich zumindest annehme, dass der andere Interesse an dieser Erinnerung hat und mir zuhören will. Das ist unbedingt identitätsfördernd. Selbst wenn ich allein mich erinnere, verbinden mich diese Gedanken unabhängig von Zeit und Ort mit diesen Menschen, Räumen und Zeiten. Damit verbindet sich ein zweiter Aspekt, in der Erinnerung – sowohl im Denken als auch im Erzählen wird Zeit rials emphasized the uniqueness of Austria. This supported the ,Austria-as-victim‘ myth and gave school officials the means they needed to make sense of those turbulent years.“ (Utgaard 2003, 27) 12 Laubach 2001, 196 13 Zit. nach Jäggle 2000, 119
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überwunden; was vergangen war, wird Gegenwart – ich erlebe mich zwischen den Zeiten. Dies kann Identität fördern, aber auch gefährden, insbesondere im pathologischen Bereich, wenn Menschen in der Vergangenheit hängen bleiben und nicht mehr differenzieren können. Aber diese – meine – Erinnerung, die ich mit bestimmten Menschen teile, unterscheidet mich. Ich bin einerseits nicht mehr der, der ich früher war, d. h. auch in der Erinnerung ist ein eigenes Fremderleben, andererseits bin ich mit anderen Menschen zusammen, die andere Erfahrungen gemacht haben, die vielleicht aus einer anderen Kultur kommen. Diese Begegnung steht immer in zweifacher Gefährdung. Entweder wird sie gar nicht zugelassen (Abschottung) oder das Fremde wird aufgesaugt – z. B. durch Anpassung des Fremden an das Vorherrschende, durch Integration des Fremden in das eigene Leben (Übernahme von Verhaltensweisen; Verweigerung, das Fremde, fremd sein zu lassen). Hingegen soll – und da greife ich das Zitat von Drehsen noch einmal auf – ein Umgang mit dem Fremden gefunden werden, die „dem Fremden die Fremdheit belässt“14 und gleichzeitig darin die Chance sieht, sich selbst ohne Verleugnung des je Eigenen durch das Fremde neu wahrzunehmen. Nur so kann eine neue hermeneutische Kultur der Anerkennung der Anderen in ihrem Anderssein angestrebt werden, die gleichzeitig allen Beteiligten eine neue Chance bietet, die komplexe Fähigkeit des positiven Wahrnehmens von Differenz in einer neuen und dynamischen Weise zu lernen. Helene Miklas: Das leuchtet ein – und zeigt aber andererseits, dass es sich hier um eine hohe Kompetenz handelt, die angeeignet werden muss, um mich selbst in einer schillernden Form von Eigenheit und Fremdheit wahrzunehmen und das Fremde ebenfalls als fremd und schillernd anzuerkennen. Heribert Bastel: Letztlich befähigt diese Kompetenz zu einer neuen Art des Umgangs mit Individualität. „Am Anfang steht nicht die Einheit einer eigenen Lebensform, auch keine Pluralität persönlicher und kultureller Lebensformen, in denen die Einheit sich lediglich vervielfältigt, sondern am Anfang steht die Differenz.“15 Diese Differenz wird aber gleichzeitig auch als Mischung erfahren mit dem Eigenen; so ist Fremdes und Eigenes verflochten, wobei das Fremde aber immer fremd bleibt. „Fremdheit als Unzugänglichkeit und Nichtzugehörigkeit sprengt alle Vermittlungs- und Aneignungsversuche.“16 Waldenfels betont hier in der Tra14 Ebd. 15 Waldenfels 2006, 117 16 Ebd. 125
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dition von Levinas, Lacan und anderen die Figur des „Dritten“, diese steht für „Regeln, Ordnungen, Gesetze, die es erlauben, etwas als etwas, jemanden als jemanden anzusprechen und zu behandeln.“17, als Lenker, als Schlichter, als Dolmetscher, als Modell. In diesem Sinne könnten Erinnerungen die Rolle des „Dritten“ übernehmen und einen Raum der wechselseitigen Anerkennung entstehen lassen. Notwendig wird dabei eine Kultur der Kommunikation, die einen gleichberechtigten Diskurs ermöglicht, der der Verschiedenheit der Erinnerungen und damit der Verschiedenheit der Menschen gerecht wird. Nun kommt es aber zu einer entscheidenden Frage. Jürgen Manemann charakterisiert die Gesellschaft als eine ohne Gedächtnis.18 Alles müsse neu werden, zumindest anders. Traditionen verlieren ihren Wert. Der Kulturkritiker Postman kritisierte schon 1999, dass der Welt die großen Erzählungen abhandengekommen sind.19 Manemann zeigt dies an Beispielen von neuen Formen der (sinnlosen) Gewalt, der zunehmenden Anzahl von Suiziden, an der Sinnlosigkeit, an der viele leiden. Erinnern im gesellschaftlichen Kontext hat an Wert verloren. Mit dem Verlust der Vergangenheit kämpft die Gesellschaft aber mit dem Verlust der Zukunft, es bleibt nur die Gegenwart, die alles erfüllen muss. Die Vision einer Zukunft ist aber eng verbunden mit einer reflexiven Erinnerungskultur. Also – was soll erinnert werden und welche Aufgabe kommt dabei Religion(en) zu? Helene Miklas: Was erinnert werden soll, kann ja ganz unterschiedlich sein – in allen Kulturen und für alle Individuen. Wir haben auch bereits ausgearbeitet, dass das Wie des Erinnerns ein Spannungsfeld sein muss, das immer wieder neu überprüft gehört. Die Aufgabe von Religion allerdings ist eine ganz wichtige. Denn ihr Ausgangspunkt (und ich konzentriere mich jetzt auf die christliche Religion) ist ja das Erinnern – sie lebt aus dem Erinnern. Das Erinnern verbindet Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und gibt alles Geschehen in einem großen Bogen Bedeutung und Sinn für jede Person. Doch ist unsere christliche Religion, wie wohl jede Religion, durch ihren eigenen Bezug zur Erinnerung gefährdet, denn Erinnerung, wie wir es ausgearbeitet haben, kann eine besonders leidenschaftliche Identität schaffen, die durch ihre Exklusivität das Fremde per se ausschließt. Dies erfüllt mich momentan mit Sorge, wenn ich unsere christlichen (Volks-) Kirchen anschaue. Sie sind nicht einladend, sondern äußern sich weitgehend als bewahrende, exklusive Kreise, die sehr damit beschäftigt sind, sich selbst zu 17 Ebd. 126 18 Vgl. dazu Manemann 2008, 21ff 19 Vgl. dazu Postman 1999
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versorgen. Das Fremde wird nicht aufgenommen, ja, möglicherweise nicht einmal wahrgenommen. Öffnung nach außen geschieht in einem festen Rahmen, z. B. in den diakonischen Einrichtungen. Innerlich aber kreisen die Kirchen um sich, um ihre Erinnerung und Tradition, und sie tun dies manchmal mit ängstlicher Beschränktheit. „The cello, dialogueing with itself“, so sprach neulich ein Ansager lobend über die Ausführung einer Bach-Cellosonate. Was dort aber als ein Qualitätszeichen gilt, wird in der Kirche zunehmend zum Problem. Kirchenfremde finden kaum mehr Zugang zu ihr. Die Erinnerungen an die Gotteserfahrungen in der biblischen Geschichte sind bei sehr vielen nicht mehr lebendig und es wird seitens der Kirchen kaum realisiert, wie weit die Säkularisierung wirklich fortgeschritten ist. Ist es aber nicht gerade das Fremde, das unsere christliche Religion braucht, um sich auf ihre Wurzeln zu besinnen? Soll sie sich nicht immer wieder daran erinnern, wie fremd die Gotteserfahrungen in ihrer Existenzialität immer gewesen sind? Menschen erschraken, fürchteten sich, sie waren fasziniert, sie brachen dadurch auf. Immer aber war es das Unerwartete, das in einer seltsamen Art und Weise sowohl fremd als auch anschlussfähig zugleich war. Was von Levinas und Lacan als „Figur des Dritten“ bezeichnet wird, muss für die christliche Religion in der Personifizierung des dreieinigen Gottes besonders ernst genommen werden. Dies zwingt ein christliches Erinnern zur Offenheit, zu einem kontinuierlichen Perspektivenwechsel, bei dem das Fremde konstitutiv wird für Erfahrungen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Differenz ist dabei also Ausgangslage und Aufgabe zugleich für eine Kultur der Anerkennung, die das Fremde fremd sein lassen muss – wobei ich hier wieder bei der Ausgangsfrage des Artikels wäre. Es spitzt sich nun, Heribert, auf die Frage zu: Was bedeutet dieses komplexe Gefüge von Erinnerung und Fremdheit für die religionspädagogische Arbeit? Sie hat Martin Jäggle stets bewegt und bewegt ihn immer noch. Heribert Bastel: Diese Frage kann beantwortet werden im Kontext einer Didaktik der Erinnerung, wie Schäfer sie formuliert20. Er greift in seinen Überlegungen auf die Bildungstheorie Theodor Litts zurück und verbindet diese mit einer kritischen Theorie der Gesellschaft, ohne die seines Erachtens keine Humanität möglich ist: „Es gilt hier nicht nur analytisch die dialektische Verwobenheit von subjektivem und kollektivem Gedächtnis zu untersuchen, sondern die Humanität der in diesem Verhältnis wirksam werdenden Machtstruktur. Was in den Fokus zu rücken hat, ist eine Kritik aktueller Erinnerungspraxen nach Maßgabe einer humanistischen Vernunft, 20 Vgl. Schäfer 2009
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und das heißt zum einen nach Maßgabe dessen, was weniger menschliches Leiden produzierte und verstetigte und zum anderen nach Maßgabe der optimalen Entwicklung aller menschlichen Fähigkeiten bei den Heranwachsenden.“21
Das Ziel ist laut Knigge dabei die „Bildung reflektierten Geschichtsbewusstseins als Resultat begreifen wollender Auseinandersetzung sowohl mit Quellen und Überresten, als auch – an sie rückgekoppeltem – Durcharbeiten historischer Erinnerungen. Zukunft gewinnt Erinnerung nicht durch Erinnerungsübertragung, sondern durch ihre Erschließung als historische Quelle und als Lerngegenstand.“22
Erst auf Grundlage dieser Auseinandersetzung kann nach Konzepten und Praktiken politischen und gesellschaftlichen Gegenhandelns gefragt werden. Knigge fordert damit ebenfalls eine Geschichte der Zivilität, die historisch verankert ist, einen kritisch-rationalen Umgang mit Überlieferung fördert und eine demokratische Kultur sowie reflexive Identität als Voraussetzung solidarischer Bewältigung anzielt. Die Aufgabe besteht darin, „erinnernde Zugänge zu kulturell elementaren Punkten in der Vergangenheit aus ihrer Gegenwärtigkeit zu eröffnen, diese aber durch die gleichzeitige Vermittlung der kontingenten Perspektivität jeder sozialen Erinnerungspraxis auch wieder zu relativieren, um der heranwachsenden Generation nicht eine bestimmte Erinnerungshaltung zu Vergangenem aufzuoktroyieren, sondern sie in den Stand zu setzen, aus dem Bewusstsein der kontingenten Perspektivität von Erinnerung heraus selbsttätig neue Zugänge zu Vergangenem aufschließen zu können.“23 Helene Miklas: Mir scheint, dass diese Ansätze zu einer Didaktik der Erinnerung religionspädagogisch erst reflektiert und erarbeitet werden müssen. Heribert Bastel: Hier ist Metz’ Definition, dass die kürzeste Beschreibung von Religion Unterbrechung ist, grundlegend. Denn auch in einer religionspädagogischen Didaktik der Erinnerung muss diese Selbstverständlichkeit unterbrochen werden. Das Kontinuum von Geschichte, Gegenwart und Zukunft wird damit in Frage gestellt und nach den Wurzeln des „Wozu, Warum und Wohin des Erinnerns“ gefragt. Gerade im theologischen Kontext darf eine Didaktik des Erinnerungslernens nicht reduziert werden auf kognitionspsychologische, neurologische, kulturtheoretische und psychotherapeutische Erkenntnisse. Wenn oben die „Figur des 21 Ebd. 200 22 Knigge 2010, 14 23 Schäfer 2009, 202
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Dritten“ im Anschluss an Lacan ins Gespräch eingebracht wurde, muss in diesem Zusammenhang bedacht werden, was und wer dieser „Dritte“ im Erinnern darstellt. Dufour warnt vor einem Menschen, der sich nur den Gesetzen der Natur unterwirft. „Indem der Markt alle[n] übergeordneten Wert zunichte macht, dereguliert, fabriziert er langsam, aber sicher einen ,neuen Menschen‘, der keine Urteilsfähigkeit mehr besitzt (…)“24 Er beschreibt die Notwendigkeit eines „Großen Anderen“, den der Mensch benötigt als Garant der Erfüllung seines Menschseins. „In dieser zweiten Natur finden sich Götter, Erzählungen, Grammatikregeln. Sie wendet sich allen möglichen Dingen in der Welt zu (…), betrifft aber auch die in die Zukunft gerichtete Aktivität des Menschen sowie Gesetze, Prinzipien, Werte.“25 Dufour plädiert dabei nicht für eine philosophische Begründung der christlichen Religion, sondern fordert auf, nach Kriterien, gleichsam nach einem Garanten zu suchen, der ein Menschsein ermöglicht. Unterbrechung bedeutet nun, diese Frage nach der Erfüllung der Sehnsucht zu stellen, auch die Normen und Selbstverständlichkeiten unserer individuellen und gesellschaftlichen (kollektiven) Erinnerung zu hinterfragen. Damit werden Lernprozesse in der Schule angesprochen, die die Thematik des Was, Warum und Wozu des Erinnerns betreffen. Erst dann kann anamnetisches Lernen die „Geschichte vergegenwärtigen, bedenken, um begangene Fehler zu erkennen, daraus Konsequenzen zu ziehen und zu neuem Handeln befreit zu werden“26 im Sinne einer Kultur der gegenseitigen Anerkennung, weil ein gemeinsamer Lernprozess von Lehrenden und Lernenden stattfindet. Gleichzeitig mit dieser Frage des Erinnerns wird im religionspädagogischen Lernprozess die Frage nach Gott virulent. Benedikt XVI. formuliert diese Frage in seiner Rede in Auschwitz: „Warum hast du geschwiegen? Warum konntest du dies alles dulden?“27 Dieser Schrei nach Gott ist zugleich der Schrei des Menschen nach Verstehen und sicheren Antworten. Auschwitz verhindert einfache Lösungen der Theodizeefrage, „der Schrei nach Gott gehört zum mystischen Hintergrund der Christentums – bis aller Hunger und Durst nach der großen Gerechtigkeit gestillt sein wird in jener Auferweckung der Toten, (…)“28 Damit wird der Schrei nach Gott aber auch zum Schrei nach dem Menschen. In Auschwitz (und nicht nur dort) wurde und wird erlebbar, wozu der Mensch fähig ist. Metz spricht von der „gefährlichen Erinnerung“. Im Kontext eines Bildungsprozesses, der die Konstruktionsleistung der Jugendlichen in ihrer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und ihrer eigenen Erfahrungen ernst nimmt und daher auch einen Beitrag zum eigenen Selbstverständnis (Identi24 25 26 27 28
http://www.taz.de/1/archiv/archiv/?dig=2005/04/15/a0071 (Zugriff am 26. 1. 2013) Ebd. Leimgruber 2010, 366 Benedikt XVI 2006, 9 Metz 2006, in: Benedikt XVI 2006, 54
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tätslernen) leistet, können alte Weltbilder, Selbstverständlichkeiten und Machtstrukturen hinterfragt werden, neue Möglichkeiten entdeckt und neue Werte eingeübt werden. Eine anamnetische Kultur möchte Widerstand gegen das Vergessen wecken, einer Gewöhnung an Katastrophen widersprechen und Veränderung ermöglichen.29 Helene Miklas: Einfach scheint mir dieser Prozess von Erinnerung und Anerkennung aber nicht zu sein. Es spitzt sich für mich auf einen komplexen Vermittlungsprozess zu, bei dem eine hohe Kompetenz im Aushalten und Fruchtbarmachen von Widersprüchlichkeit und Komplexität angestrebt werden muss. Heribert Bastel: Erinnerungen können widersprüchlich sein, schmerzen, mit Vorwürfen behaftet sein, Hilflosigkeit hervorrufen. Daher ist Vertrauen notwendig, dass diese nicht missbraucht werden, dass Verschiedenheit bestehen bleiben kann, ja noch stärker, dass diese Verschiedenheit eine Chance darstellt, aneinander zu lernen. Erinnerung – individuell und auch kollektiv – in der Schule benötigt eine Kultur der Anerkennung. Die vielen Geschichten der Vernichtung belegen, wie schwer der Mensch sich tut, mit Verschiedenheit umzugehen. Insoweit bietet Schule einen Lernraum, oder, Martin Jäggle zum Abschluss zitierend: „Die Herausforderung der Schule, das Zusammenleben einer größer werdenden Heterogenität zu gestalten, braucht neue Formen des Miteinanders verschiedener kultureller und religiöser Beheimatungen und sozialer Herkünfte. Nicht das Vereinheitlichen fördert eine gute Schulkultur, sondern Diversität als Ressource wahrzunehmen, ist im Schulentwicklungsdiskurs angesagt, besonders auch religiöse Diversität.“30
Möge diese Komplexität von Differenz in einer Vermittlungsdidaktik der Zukunft einen guten Platz finden.
Literatur Amelink, Agnes: „De gereformeerden“, Amsterdam 2001 Assman, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006 Benedikt XVI: Wo war Gott? Die Rede in Auschwitz, Freiburg 2006 Gudjons, Herbert: Neue Unterrichtskultur – veränderte Lehrerrolle, Bad Heilbrunn 2007 Jäggle, Martin: Wie nimmt Schule kulturelle und religiöse Differenz wahr?, in: Porzelt 29 Leimgruber 2010, 366 30 Jäggle/Krobath 2010, 56
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Burkhard/Güth Ralph (Hg.): Empirische Religionspädagogik – Grundlagen – Zugänge – Aktuelle Projekte, Reihe: Empirische Theologie, Hrsg. v. d.Ven, Johannes A./Ziebertz Hans-Georg/Bucher, Anton, Band 7, Münster – Hamburg – London 2000 Jäggle, Martin/Krobath, Thomas: Bildung, Gerechtigkeit und Würde; Kultur der Anerkennung, in: Amt und Gemeinde 61, Heft 1, Wien 2010, Evangelischer Presseverband Knigge, Volkhard: Zur Zukunft der Erinnerung, APuZ 25 – 26, Bundeszentrale für Politische Bildung 2010, 14 Laubach, Thomas: Warum erinnern?, in: Fuchs, Ottmar/Boschki, Reinhold/Frede-Wenger, Britta (Hg): Zugänge zur Erinnerung, Bedingungen anamnetischer Erfahrung Studien zur subjektorientierten Erinnerungsarbeit, Reihe: Tübinger Perspektiven zur Pastoraltheologie und Religionspädagogik, Bd. 5, Münster 2001 Leimgruber, Stephan: Erinnerungsgeleitetes Lernen, in: Hilger, Georg ua. (Hg): Religionsdidaktik, München 62010, 366 Lyotard, Jean-Francois: Das Postmoderne Wissen, Wien 1982 Manemann, Jürgen: Erinnern – Basiskategorie einer Theologie nach Auschwitz, in: Schwendemann, Wilhelm/Boschki, Reinhold (Hg): Vier Generationen nach Auschwitz, Berlin 2008 Metz, Johann B.: Auschwitz: unverzichtbarer Ortstermin einer christlichen Gottesrede, in: Benedikt XVI, Wo war Gott? Die Rede in Auschwitz, Freiburg 2006 Pelinka, Anton: Die Wahrnehmung der Shoah in Österreich, in: Halmer, Maria/Pelinka Anton/Semlitsch, Karl.: Was bleibt von der Shoah? Kontext, Praxis, Nachwirkungen, Wien 2012 Postman, Neil: Die zweite Aufklärung, Berlin 1999 Schäfer, Christoph: Didaktik der Erinnerung, Münster 2009 Utgaard, Peter : Remembering and forgetting Nazism: Education, national identity and the victim myth in postwar Austria, Oxford and New York 2003 Waldenfels, Bernhard: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt 2006 Welzer, Harald/Markowitsch, Hans J. (Hg): Warum Menschen sich erinnern können, Stuttgart 2006
Internetseiten http://woerterbuchnetz.de/DWB/?sigle=DWB& mode=Vernetzung& lemid=GE07745 (letzter Zugriff am 3. 12. 2012) Assmann, Aleida: http://www.goethe.de/ins/ru/lp/kul/dur/eri/kol/de7000483.htm (letzter Zugriff am 3. 11. 2012) http://www.taz.de/1/archiv/archiv/?dig=2005/04/15/a0071 (Zugriff am 26. 1. 2013)
Religionssensible Lernprozesse im Kontext Schule
Robert Jackson
Religiöse Bildung im Spiegel der europäischen Politik
1.
Einleitung
Das Studium der Religionen im öffentlichen Raum der Schule ist in letzter Zeit zu einem wichtigen Thema innerhalb Europas und auf breiterer internationaler Ebene geworden. Dies hängt zum Teil mit der weltweiten Aufmerksamkeit zusammen, die der Religion als Ergebnis der Ereignisse des 11. Septembers 2001 gegeben wird. Argumente für politische Maßnahmen, die das Studium der religiösen Vielfalt im Bildungswesen fördern, wurden jedoch weit vor dem 11. September vorangetrieben. In einer internationalen Organisation, dem Europarat (CoE), wurde die Umsetzung einer politischen Maßnahme verzögert, weil man sich weigerte, einen so komplexen und kontroversen Bereich anzusprechen, der die unterschiedlichen Situationen im Verhältnis von Religion und Staat innerhalb der Mitgliedsstaaten reflektiert. Eine weitere Verzögerung bewirkte der Widerstand, Religion als eine Form des öffentlichen Diskurses anzuerkennen. Wie in einem Dokument des Europarates festgestellt wurde, dienten die Anschläge auf das World Trade Center und auf andere Ziele im September 2001 als ein „Weckruf“, der die Angelegenheit direkt zum Thema einflussreicher, internationaler Organisationen machte.1 Ich werde zunächst die Initiativen, die von wichtigen internationalen Einrichtungen ergriffen wurden, anführen. Hierzu zählen die Vereinten Nationen (VN, einschließlich der UNESCO), die Europäische Union (und die Europäische Kommission), der Europarat und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSCE), die die Entwicklung der Studien über Religionen (und religiöse Überzeugungen) im Bildungswesen unterstützt haben. Der Hauptanstoß für diese Initiativen besteht aus einer Mischung, die die Achtung der Menschenrechte im öffentlichen Lebensbereich (durch Entwicklung von Toleranz und Respekt der Religions- und Glaubensfreiheit) mit der Förderung des sozialen Zusammenhaltes durch die Bekämpfung von Ignoranz und Ent1 Council of Europe 2002
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wicklung von Verständnis und Toleranz für Verschiedenheit vereint. Daran anschließend werde ich eine grobe Übersicht über die bestehenden Bestimmungen in Europa in Bezug auf „religiöse Bildung“ (die in verschiedenen nationalen Bildungssystemen unterschiedlich verstanden wird) geben. Dabei werde ich auch auf Spannungen zwischen bestimmten Konzepten religiöser Bildung und dem konkreten Religionsunterricht eingehen. Zum Schluss plädiere ich dafür, religiöse Bildung in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit und in der Schule immer wieder zur Sprache kommen zu lassen.
2.
Die Vereinten Nationen und UNESCO
Die Vereinten Nationen (VN) sind eine globale Vereinigung von Staaten, deren Ziele die Vereinfachung der Zusammenarbeit im Völkerrecht, in der internationalen Sicherheit, in der wirtschaftlichen Entwicklung, im sozialen Fortschritt und in Menschenrechtsfragen sind. Vor den Ereignissen des 11. Septembers im Jahr 2001, wurde die International Consultative Conference on School Education in Relation to Freedom of Religion, Tolerance and Non-Discrimination unter der Schirmherrschaft des damaligen Sonderberichterstatters für Religions- oder Glaubensfreiheit der Vereinten Nationen, Abdelfattah Amor, abgehalten. Im Endbericht dieser Konferenz wurde die Meinung geäußert, dass Bildung, insbesondere Schulbildung, zur Förderung von Toleranz und Achtung vor Religions- und Glaubensfreiheit beitragen soll. Die Empfehlungen des Berichts beinhalteten die Stärkung einer diskriminierungsfreien Perspektive in der Bildung und die Stärkung von Wissen in Beziehung auf Glaubens- oder Religionsfreiheit.2 Das Dokument beeinflusste eine Vielzahl von Initiativen einschließlich die Arbeit der Oslo Coalition on Freedom of Religion or Belief durch ihr Programm zu „Teaching for Tolerance“.3 Die Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) war lange im Bereich der Menschenrechte und der interkulturellen Bildung tätig. Im Jahr 1974 übernahm die UNESCO-Generalkonferenz Vorschläge, die die Bildung zur internationalen Verständigung, Kooperation, Frieden und Bildung in Bezug auf die Menschenrechte und Grundfreiheiten betrafen und die Arbeit in diesem Bereich geprägt haben. Das Dakar Framework for Action (2000 – 2015) bildet dazu die Grundlage für die Prioritätensetzung der 2 Final Document of the International Consultative Conference on School Education in Relation to Freedom of Religion or Belief, Tolerance and Non-Discrimination, Commission on Human Rights, Report by Mr.Abdelfattah Amor, Special Rapporteur on freedom of religion or belief, Executive summary, 14 March 2002, E/CN.4/2002/73; Siehe auch Larsen/Plesner, 2002, 12 – 13 3 http://www. oslocoalition.org/t4 t.php (Zugriff am 29. Jänner 2013); vgl. Jackson/McKenna 2005; Kaymakcan/Leirvik 2007; Larsen/Plesner 2002
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UNESCO. Es bezieht sich direkt auf die Rolle der Schulen bei der Förderung des Verständnisses zwischen religiösen Gruppen und betont die Bedeutung von staatlichen Institutionen bei der Entwicklung von Partnerschaften mit religiösen Gruppen in pädagogischen Kontexten.4 Zudem zielt das ,Inter-religious Dialogue Programme‘ der UNESCO darauf ab, Verständnis zwischen Religionen oder Weltanschauungen zu fördern und Bildung auf dem Gebiet des interreligiösen Dialogs durch die Veröffentlichung von didaktischen Materialien zu unterstützen. Um auf die Vereinten Nationen im Allgemeinen zurückzukommen: im Jahr 2005 startete der Generalsekretär der Vereinten Nationen eine Initiative, welche von den Premierministern von Spanien und der Türkei mitfinanziert wurde, für eine Alliance of Civilizations als Antwort auf Huntingtons Idee des Clash of Civilizations. Der Generalsekretär gründete eine Gruppe von herausragenden Leuten, die die Aufgabe hatten, praktische Empfehlungen zu entwickeln, um der Auffassung des Clash of Civilization entgegenzuwirken. Der Bericht (vorgestellt im November 2006) beinhaltet folgende Empfehlung: „Education systems, including religious schools, must provide students with a mutual respect and understanding for the diverse religious beliefs, practices and cultures in the world“.5 Als Grund für die feindliche Haltung gegenüber Religionen wird Ignoranz angesehen; mit der Entwicklung geeigneter Unterrichtsmaterialen soll dem entgegengewirkt werden. Diese Empfehlung beeinflusste die Entscheidung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Richtlinien für den Unterricht über Religionen und Weltanschauungen zum Einsatz in den teilnehmenden Staaten zu entwickeln. (Siehe unten)
3.
Europäische Institutionen
3.1
Europäische Union (EU) und Europäische Kommission
Im Jahr 2005 verabschiedete der Rat der Europäischen Union (Staatsoberhäupter und der Präsident der Europäischen Kommission) einen Beschluss über die Handlungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten der Bildungssysteme angesichts von Rassismus und Xenophobie, welcher die Bedeutung betont, Un4 Vgl. The Dakar Framework for Action, Education for All: Meeting Our Collective Commitments, adopted by the World Education Forum, Dakar, Senegal, 26 – 28 April 2000, http:// unesdoc.unesco.org/images/0012/001211/121147e.pdf (Zugriff am 29. Jänner 2013) 5 Report of the High Level Group of the Alliance of Civilizations, 13 November 2006, Chapter VI, para. 6.8, zu finden unter http://www.unaoc.org/repository/HLG_Report.pdf (Zugriff am 29. Jänner 2013)
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terrichtsmaterialien, die Europas kulturelle, ethnische und religiöse Vielfalt reflektieren, zu nutzen.6 Die damalige Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia), jetzt die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (European Union Agency for Fundamental Rights FRA), veröffentlichte eine Vielzahl von Berichten über Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in der EU, die Empfehlungen zur Förderung von interreligiösen Dialogen durch Bildung enthielten.7 Die vielleicht wichtigste und neueste Initiative, die von der Europäischen Kommission angeboten wird, ist die Unterstützung der Europäischen Kommission bei der Forschung zu Religionen und Bildung. Durch das 6 Framework Programme unterstützt die Europäische Kommission die Forschung zu verschiedenen Unterrichtsmethoden über Religionen und Weltanschauungen, die den Dialog fördern und Konflikte zur Sprache bringen. Das Projekt hat den Namen „Religion in Education: A contribution to dialogue or a factor of conflict in transforming societies of European Countries?“ (REDCo). Der Forschungsvorschlag wurde als Teil des EU Framework 6: „Citizens and governance in a knowledge-based society“ als Forschungsbereich unter Forschungspriorität 7: „New forms of citizenship and cultural identities“ eingereicht. Das Projekt wurde entwickelt, um zum Abschnitt 7.2.1 „Values and religions in Europe“ beizutragen. Das Hauptziel des Projektes war, die Potentiale und Grenzen von Religion in Bildungsbereichen ausgewählter europäischer Regionen und Ländern aufzuzeigen und zu vergleichen. Es brachte Wissenschaftler von neun Universitäten in Deutschland (2), Norwegen, den Niederlanden, Frankreich, Spanien, Estland und der Russischen Föderation zusammen. Das Projekt beabsichtigte Ansätze und Strategien zu identifizieren, die aufzeigen, wie Religion im Bildungsbereich den Dialog im Kontext der europäischen Entwicklung fördert. Die Arbeit des Projektes beinhaltete eine Reihe von einzelnen nationalen Studien8, einen Überblick auf europäischer Ebene9, europaweite Studien (einschließlich qualitativer und quantitativer Studien über die Einstellung von Jugendlichen zum Studium der Religionen in der Schule)10 und vergleichende Studien11. Das Pro6 Response of Educational Systems to the Problem of Racism, Resolution of the Council [of the European Union], 23 October 1995, Official Journal C 312 of 23. 11. 1995, zu finden unter http://europa.eu/legislation_summaries/other/c10413_en.htm (Zugriff am 29. Jänner 2013) 7 See, for instance, the report EUMC, Muslims in the European Union: Discrimination and Islamophobia, (EUMC, Vienna, December 2006), http://fra.europa.eu/en/publication/2012/ muslims-european-union-discrimination-and-islamophobia (Zugriff am 25. Februar 2013) 8 E.g. Ipgrave et al. 2009; Schihalejev 2010 9 Jackson et al. 2007 10 Knauth et al. 2008; Valk et al. 2009 11 E.g. ter Avest et al. 2009
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jekt startete im März 2006 und endete im Februar 2009.12 Das Projektteam arbeitet weiterhin an einer quantitativen Folgestudie zusammen, die im Laufe des Jahres 2013 beendet werden soll. Das Projekt hat ebenso eine Plattform für zukünftige europäische Forschung im Bereich von Religionen und Bildung zur Verfügung gestellt. Zusätzlich erwähnt werden sollte TRES (Teaching Religion in a multicultural European Society), ein europäisches Netzwerk von akademischen Institutionen und anderen professionellen Organisationen, die sich mit dem Lehren von Religion beschäftigen. Die teilnehmenden Länder sind die 27 Länder der EU zuzüglich der Türkei, Island, Norwegen und der Schweiz. TRES setzt sich damit auseinander, wie Lernen und Lehren im Bereich Religion durch die multireligiöse und multikulturelle Natur der Gesellschaften in Europa geprägt werden und mit den verschiedenen institutionellen und sozialen Formen der Übermittlung von Religion. In der ersten Periode der Forschung (TRES 1, 2005 – 2008) war eines der Hauptthemen die „Multicultural situations and religious education in school“. Im Jahr 2007 nahmen 3.500 Lehrerinnen und Lehrer in 16 europäischen Ländern an der interkulturellen Studie „Teaching Religion in a multicultural Europe“ teil. Die empirische Studie erforschte existierende Unterrichtsverfahren in Religion und Theologie. Die Ergebnisse erfassten verschiedene Ansätze, Strategien und Denkweisen in Bezug auf den Religionsunterricht in einem multikulturellen Kontext13.
3.2
Europarat
Die Bedeutungen der Religions- und Glaubensfreiheit und die Bildung zu Toleranz sind in den Dokumenten des Europarates verankert, in Artikel 9 der „Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms“ und in Artikel 12 der „Framework Convention for the Protection of National Minorities“. Dennoch ist der Europarat erst nach dem 11. September 2001 direkt an der Entwicklung von Ideen für den Umgang mit Religion im Kontext des Bildungswesens aktiv geworden. Zwei Hauptinitiativen wurden ergriffen, eine innerhalb des damaligen Direktorats IV (Bildung, Kultur und kulturelles Erbe, Jugend und Sport) mit der Arbeit an der interkulturellen Bildung, und eine andere unter der Schirmherrschaft des damaligen Beauftragten für Menschenrechte. Innerhalb des Europarates ist allmählich ein Bewusstsein für interkulturelle 12 Vgl. http://www.redco.uni-hamburg.de/web/3480//3481/index.html (Zugriff am 4. Jänner 2013) 13 Ziebertz/Riegel 2009
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Bildung entstanden, die darauf abzielt, Kompetenzen und Einstellungen zu entwickeln, welche Individuen befähigen, die Rechte des Anderen zu akzeptieren, Fähigkeiten für ein kritisches Einfühlungsvermögen zu entwickeln und den Dialog mit Menschen, die einen anderen Hintergrund haben, zu fördern (Council of Europe 2002). Dieser Ansatz wurde in Projekten und in Fächern wie Geschichte und Bildung zur demokratischen Staatsbürgerschaft entwickelt. Religion erhielt dabei aber keine Aufmerksamkeit, sondern wurde aus verschiedenen Gründen vermieden. Zum einen wegen der unterschiedlichen Verhältnisse zwischen Staat und Religion innerhalb Europas und der Vielfalt gegenwärtiger Arrangements in den Mitgliedsstaaten hinsichtlich der Position von Religion in der Schule (man denke an die zahlreichen Beispiele, in denen religiöse Konflikte eine Rolle spielen), zum anderen, weil der Rat als öffentliche Organisation Neutralität in Bezug auf die Meinungsäußerungen zu Religion bewahren muss. Die Gräueltaten des 11. September 2001 lösten auf der politischen Ebene eine Änderung von politischen Maßnahmen aus. Im Ministerkomitee reagierte der Europarat darauf, dass es gelte, in die Sicherung der fundamentalen Werte und in die Demokratie zu investieren. In Bezug auf das Zweitgenannte bestätigte der damalige Generalsekretär, Walter Schwimmer, dass der interkulturelle und interreligiöse Dialog zu einem zentralen Thema für den Rat werden würde. Er schlug vor „(…) action to promote a better understanding between cultural and/ or religious communities through school education, on the basis of shared principles of ethics and democratic citizenship.“14 Der 11. September wurde damit zu einem Symbol für das Studium der Religion. Eine neue Priorität für die europäische öffentliche Politik. Diese Priorität war eigentlich eine Erweiterung der bisherigen Bemühungen, Rassismus zu bekämpfen und die Demokratiepolitik innerhalb des Rates zu fördern, die in einer Vereinbarung 1993 bei einem Gipfeltreffen in Wien vereinbart worden war. Der Rat hatte jedoch „(…) no overall intercultural concept, strategy or recent normative text capable of easy extension specifically to cover religious diversity as well“ und erkannte, dass „existing activities do not deal with issues of religion in education“. Der Rat zog daraus den Schluss, dass „a new activity is required; and the importance and complexity of the subject indicate making it a full-scale project“.15 Anfang 2002 bildete der Rat einen Arbeitsausschuss. Dieser Ausschuss sollte zunächst die Rahmenbedingungen erkunden, bevor ein Projekt ins Leben gerufen wird, das Methoden und Ansätze für die Integration der Religionswissenschaften in die interkulturelle Bildung vorschlägt. Die zentrale Vorausset14 Council of Europe 2002 15 Council of Europe 2002
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zung dafür, Religion als ein europaweites Thema in Bildung einzubeziehen, war, dass trotz unterschiedlicher Ansichten über Religion auf persönlicher und gesellschaftlicher Ebene, sich alle darauf einigen konnten, Religion als eine „kulturelle Tatsache“ (cultural fact) anzusehen und Wissen über Religion auf dieser Ebene als überaus wichtig für eine gute Gemeinschaft und persönliche Beziehungen zu erachten. Daher erscheint Religion als ein legitimes Anliegen für die öffentliche Politik. Dies war kein Versuch, Religion auf Kultur zu reduzieren, sondern die Erkenntnis, dass die Anerkennung der Anwesenheit von Religionen in der Gesellschaft der kleinste gemeinsame Nenner war, mit dem alle europäischen Länder in einem schulischen Kontext arbeiten konnten. Die Vorschläge des Arbeitsausschusses, die nach einer Diskussion auf dem Forum für interkulturelle Bildung, religiöse Vielfalt und Dialog in Straßburg im September 2002 folgten, wurden vom Ministerrat in modifizierter Form übernommen. Die europäischen Sachverständigen auf dem Gebiet der religiösen und interkulturellen Bildung trafen sich im Juni 2003 in Paris, um die wichtigsten Aspekte in Bezug auf religiöse Vielfalt und interkulturelle Bildung zu identifizieren, die didaktischen Schlussfolgerungen zu prüfen und politische Empfehlungen für die Kultusministerkonferenz zu interkultureller Bildung, die im November 2003 in Athen stattfand, zu machen. Einige der interkulturellen Pädagogen hatten bei diesem Treffen anfänglich Zweifel im Bezug auf die Ziele des Religionsunterrichts, die von den Sachverständigen erarbeitet wurden. Es wurde klar, dass viele aufgrund ihrer akademischen Spezialisation und ihres nationalen Fokus keine Ahnung von der Arbeit der anderen hatten. Es gab vor allem Unwissenheit hinsichtlich der Arbeit an offenen und unparteiischen Ansätzen zum Studium der Religionen in der Schule. Erst als im Rahmen der interkulturellen Pädagogik ein Verständnis für die Idee einer unparteiischen Präsentation von Religionen entwickelt wurde, war ein echter Dialog möglich und es folgte eine ertragreiche Zusammenarbeit. Es setzte sich die Ansicht durch, dass, unabhängig vom jeweiligen Staatssystem, Kinder im Rahmen ihrer interkulturellen Ausbildung die Möglichkeit erhalten sollten, Wissen über religiöse und kulturelle Vielfalt zu erwerben. Die Kultusministerkonferenz, die 2003 in Athen stattgefunden hat, befürwortete das Projekt.16 Jene Angelegenheiten, die in Beziehung zu dem Projekt standen, wurden auf einer Konferenz für Entscheidungsträger in der Bildungspolitik, Fachleute und Repräsentanten der Zivilgesellschaft diskutiert. Diese Konferenz fand im Juni 2004 in Oslo statt (Council of Europe 2004). Der Rat benannte anschließend eine Gruppe von Sachverständigen in reli16 Für weitere Informationen siehe The Europe of Cultural Co-operation. Download unter http://www. coe.int/t/e/cultural_co-operation/education/intercultural_education/overview.asp (Zugriff am 29. Jänner 2013)
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giöser und interkultureller Bildung, die zusammenarbeiten sollten, um ein Nachschlagewerk für Pädagogen, Verwaltungs- und politische Entscheidungsträger zu erarbeiten, das sich mit Situationen religiöser Vielfalt, theoretischen Perspektiven, Schlüsselbegriffen, pädagogischen Methoden und allgemeineren Fragen zu religiöser Vielfalt in der Schule (einschließlich Schulverwaltung und dem Management in europäischen Schulen) auseinandersetzt.17 Der Lenkungsausschuss für Bildung legte dem Ministerrat auch einen Vorschlag, basierend auf dem Ansatz des Projektes, für das Management der religiösen Vielfalt in Schulen vor. Das Ziel des ministeriellen Vorschlags (Council of Europe 2008) war es, sicherzustellen, dass die Regierungen die religiöse Dimension der interkulturellen Bildung im Bereich der Bildungspolitik berücksichtigen. Dies soll in Form von klaren pädagogischen Prinzipien und Zielen, Maßnahmen, insbesondere offenes Lernen und Eingliederungsstrategien sowie der beruflichen Entwicklung von Lehrkräften durch adäquate Trainingsmaßnahmen geschehen. Aber das wichtigste war, dass der Ministerrat der politischen Empfehlung, dass alle Mitgliedsstaaten das unvoreingenommene Studium der Religionen in den Lehrplan ihrer Schulen aufnehmen sollen, zugestimmt hat18. Empfehlungen im Namen des Ministerrates zum Management von religiöser und Überzeugungsvielfalt in Schulen wurden von einem Team, das extra für diesen Anlass zusammen gebracht wurde, basierend auf dem Ansatz des Projektes, entworfen. Die ministeriellen Empfehlungen wurden vom Ministerrat im Dezember 2006 übernommen. Sie enthalten eine Reihe von Grundsätzen, die von allen Mitgliedsstaaten genutzt werden können. Die Empfehlungen können als Hilfsmittel dienen, um Politik in den Bereichen citizenship education zu diskutieren. Die grundlegenden Bestimmungen in den Empfehlungen enthalten die Ansicht, dass der interkulturelle Dialog in seinen Dimensionen von religiösen bis nichtreligiösen Überzeugungen eine essentielle Voraussetzung für die Entwicklung von Toleranz und einer Kultur des Zusammenlebens (culture of ,iving together‘) und für die Anerkennung der verschiedenen Identitäten auf Basis der Menschenrechte ist. Die Ziele der Empfehlungen beinhalten: – die Entwicklung einer toleranten Haltung und die Achtung vor dem Recht, einen bestimmten Glauben zu haben, (…) die innewohnende Würde und die Grundfreiheiten jedes Menschen anzuerkennen – die Sensibilität für die Vielfalt der Religionen und nichtreligiösen Überzeugungen als Element, welches zur Stärkung von Europa beiträgt, zu fördern – sicherzustellen, dass die Lehre über die Vielfalt der Religionen und nicht17 Keast 2007 18 Council of Europe 2008
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religiösen Überzeugungen mit den Zielen der demokratiepolitischen Bildung, den Menschenrechten und der Achtung der Würde eines jeden Menschen übereinstimmt – die Kommunikation und den Dialog zwischen Menschen mit unterschiedlich kulturellem, religiösem und nichtreligiösem Hintergrund zu fördern Die Bildungsvoraussetzungen beinhalten: – Sensibilität gegenüber der Würde jedes Menschen – Anerkennung der Menschenrechte als Werte, die über religiöse und kulturelle Vielfalt hinaus anzuwenden sind – Kommunikation zwischen Individuen und die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, um eine Umgebung zu schaffen, in der gegenseitiges Vertrauen und Verständnis gefördert werden – Kooperatives Lernen, in dem Völker mit unterschiedlichen Traditionen inbegriffen sind und daran teilnehmen können – Bereitstellung eines sicheren Lernraumes, in dem die eigene Meinung frei geäußert werden kann, ohne dass man Angst haben muss, verurteilt oder verspottet zu werden Im Hinblick auf die LehrerInnenausbildung werden die Mitgliedsstaaten gebeten: – LehrerInnen mit der Ausbildung und den Mitteln auszustatten, die sie brauchen, um sich relevante Lehr- und Lernmethoden anzueignen. Ziel: Entwicklung von Fähigkeiten, die zum Lehren von Religion und nichtreligiösen Überzeugungen gebraucht werden – Eine Ausbildung anzubieten, die objektiv und unvoreingenommen ist – Die Entwicklung von Methoden des Lehrens und Lernens, die eine Erziehung zur demokratischen Beteiligung auf lokaler, regionaler, nationaler und internationaler Ebene ermöglichen – Ermutigung zu Multiperspektivität durch Schulungen, verschiedene Standpunkte im Lernen und Lehren berücksichtigen Damit ist sowohl der interkulturelle als auch der menschenrechtliche Ethos des Dokuments eindeutig. Der Verfasser dieses Aufsatzes hat sich, im Namen eines Ausschusses, welcher vom Europarat und dem ,European Wergeland Center‘ gebildet wurde, damit beschäftigt ein Dokument zu schreiben, welches EntscheidungsträgerInnen, Schulen und AusbildnerInnen von LehrerInnen innerhalb Europas dabei helfen soll, diese Empfehlungen ihrem eigenen nationalen oder subnationalen Kontext anzupassen.
138 3.3
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Das europäische Wergeland Center
Eine zweite Initiative, die innerhalb des Europarates gemacht wurde, wurde vom damaligen Kommissar für Menschenrechte, Alvaro Gil-Robles, gesetzt. Gil-Robles veranlasste eine Reihe von jährlichen Treffen, zu denen VertreterInnen der Religionen in Europa, AkademikerInnen und PolitikerInnen der Mitgliedsstaaten kamen, um die Rolle von religiösen Institutionen für die Förderung der Menschenrechte und die Bewältigung von sozialen Angelegenheiten, zu diskutieren. Diese Treffen begannen im Jahr 2000, eine Aufmerksamkeit für religiöse Bildung erfolgte auf den Sitzungen in Malta (2004) und Kasan in Russland (2006). Auf dem Treffen in Malta wurde die Möglichkeit diskutiert, ein Grundsatzprogramm für den Religionsunterricht in allen Mitgliedsstaaten zu etablieren und es wurde über den Bau eines Centers für religiöse Bildung, das sich auf die Menschenrechte spezialisiert, nachgedacht.19 Die Empfehlungen des MaltaTreffens wurden 2005 von der Parlamentarischen Versammlung aufgegriffen, welche wiederum dem Ministerrat Empfehlungen gab, die auch die Bereitstellung von allgemeinen, anpassungsfähigen Studienmodulen für Grund- und weiterführende Schulen, von Erst- und Fortbildung für LehrerInnen in Religionswissenschaften und die Errichtung eines europäischen Lehrerausbildungszentrums für vergleichende Religionswissenschaften einschlossen. Alle diese Maßnahmen verfolgen das Ziel der Verständnisförderung. Das Treffen, das in Kasan, Russland, (22 – 23.02.06) stattfand, setzte die Diskussion fort.20 Die Empfehlungen, die 2005 von der Parlamentarischen Versammlung gegeben wurden, wurden am 24. Mai 2006 vom Ministerrat diskutiert. Die Minister begrüßten die Empfehlungen prinzipiell. Sie stellten sie jedoch in den Kontext verschiedener Grundsatzerklärungen, die in Bezug zur Entwicklung von interkulturellen Dialogen (in und über Europa hinaus) einschließlich der religiösen Dimension stehen. Die Aufmerksamkeit wurde vor allem auf das Projekt des Rates zu interkultureller Bildung und religiöser Vielfalt (s. o.) gelenkt, insbe-
19 McGrady 2006 20 Im Abschluss des Reports zu dem Treffen steht: „In the majority of Council of Europe member states the new generations do not even receive an education in their own religious heritage, much less that of others. For this reason, it had previously been suggested to establish an Institute capable of contributing to the development of teaching programmes, methods and materials in the member states. At the same time this Institute would serve as a research centre on these matters. It should also be a training centre for instructors, a meeting place and a forum for dialogue and exchange. Course content should be defined in close collaboration with representatives of the different religions traditionally present in Europe“ (Anon 2006)
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sondere auf die Veröffentlichung21, die Unvoreingenommenheit, Aufgeschlossenheit und einen kritischen Ansatz anregt. Obwohl nicht explizit darauf hingewiesen wurde, betrachtete der Ministerrat die Empfehlungen der Parlamentarischen Versammlung, die sich lediglich auf die Lehre der Religionen bezogen, als nicht umfangreich genug, um ein europäisches Center zu errichten. Der Vorsitzende des Bildungslenkungsausschusses wiederholte das Interesse des Rates daran, ein Kompetenzzentrum für die Ausbildung von Lehrpersonal im Rat der europäischen Kompetenzbereiche, wie demokratiepolitische Bildung, Menschenrechte und interkulturelle Bildung, zu errichten. Daraufhin wurde eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben, welche die Errichtung eines solchen interdisziplinären Centers empfahl.22 Anschließend fügte eine große internationale Konferenz über „Dialog der Kulturen und Interreligiöse Zusammenarbeit“ (Dialogue of Cultures and Inter-Faith Co-operation) (the Volga Forum) in ihrer Abschlusserklärung eine Aussage ein, welche die Unterstützung für das Projekt zusichert „aiming at setting up, in the framework of the Council of Europe, a pole of excellence on human rights and democratic citizenship education, taking into account the religious dimension“.23 In Zusammenarbeit und mit finanzieller Unterstützung der norwegischen Regierung wurde das Wergeland Center (EWC) erbaut und im Jahr 2008 offiziell eröffnet. Das Wergeland Center, das sich mit Forschung, Informationsaustausch und der Ausbildung von PädagogInnen innerhalb Europas auseinandersetzt, ist mittlerweile gut etabliert und hat eine viel genutzte Website (http://www.theewc.org/).
4.
Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSCE)
Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSCE) (früher Verhandlung von Helsinki) besteht aus 56 teilnehmenden Ländern, darunter befinden sich die meisten europäischen Länder zuzüglich Kanada und den USA. 21 Keast 2007 22 Der gegenwärtige Autor wurde beauftragt eine Machbarkeitsstudie durchzuführen, welche dem Bildungslenkungsausschuss des Europarates am 19. Oktober 2006 vorgestellt wurde. 23 Die Konferenz wurde in Nizhniy Novgorod in Russland vom 7. bis 9. September 2006 unter der Schirmherrschaft des Ministeriums für regionale Entwicklung der Russischen Föderation, des Interreligiösen Rates von Russland und dem Europarat gehalten. Das Zitat ist aus der Volga Forum Erklärung, das Abschlussdokument der Internationalen Konferenz Dialogue of Cultures and Inter-Faith Cooperation, Paragraph 4. https://wcd.coe.int/ViewDoc.jsp?id=1035325& Site=COE (Zugriff am 25. Februar 2013).
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Die Organisation befasst sich damit, Maßstäbe in den Bereichen militärische Sicherheit, wirtschaftliche und umweltpolitische Zusammenarbeit, Konfliktlösung und Menschenrechtsfragen zu setzen. In Bezug auf die Menschenrechte arbeitet das Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR) der OSZE in Bereichen der Wahlbeobachtung, der demokratischen Entwicklung, der Menschenrechte (einschließlich des Rechts der Religions- und Glaubensfreiheit), der Toleranz und Diskriminierungsverbote und des Gesetzes. Das Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte ist gut positioniert, um den Dialog und das Verständnis zwischen verschiedenen Religionen und Weltanschauungen fördern und Empfehlungen für die Bildungspolitik abgeben zu können. Die Gruppe, die zusammengebracht wurde, um die Toledo Guiding Principles on Teaching about Religions and Beliefs in Public Schools24 zu entwickeln, besteht aus Mitgliedern des Advisory Council of Experts on Freedom of Religion or Belief des Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte.25 Dazu gehörten Vertreter des internationalen Rechts (die die Erfahrung mitbrachten, sich mit Rechtsfragen bezüglich der Ausübung der Religionsfreiheit auseinanderzusetzen), der Bildung und Sozialwissenschaften. Zusätzliche Sachverständige im Bereich von Religion, Bildung und Pädagogik wurden dazu geholt, um bei den Vorbereitungen für die Richtlinien zu assistieren. In der Gruppe waren unterschiedliche religiöse und nichtreligiöse Positionen vertreten, sodass gewährleistet war, dass die Perspektiven der unterschiedlichen Religions- und Glaubensgemeinschaften in Betracht gezogen wurden, dass die Richtlinien ausgeglichen und inklusiv formuliert wurden. Die Toledo Guiding Principles wurden am 28. November 2007 in Madrid verabschiedet. Sie enthalten Kapitel zu den Menschenrechten und zum Lehren über Religionen und Weltanschauungen, zur Vorbereitung der Lehrpläne, zur Lehrerausbildung und zur Achtung der Rechte bei der Umsetzung von Kursen im Unterricht über Religionen und Weltanschauungen. Die Zielsetzungen der Toledo Guiding Principles sind folgende: „The Toledo Guiding Principles have been prepared in order to contribute to an improved understanding of the world’s increasing religious diversity and the growing presence of religion in the public sphere. Their rationale is based on two core principles: first, that there is positive value in teaching that emphasizes respect for everyone’s right to freedom of religion and belief, and second, that teaching about religions and beliefs can reduce harmful misunderstandings and stereotypes.“
24 OSCE 2007 25 Die Verbindung zu Toledo kommt daher, dass das erste Redaktionstreffen im Mai 2007 in Toledo stattgefunden hat.
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„The primary purpose of the Toledo Guiding Principles is to assist OSCE participating States whenever they choose to promote the study and knowledge about religions and beliefs in schools, particularly as a tool to enhance religious freedom. The Principles focus solely on the educational approach that seeks to provide teaching about different religions and beliefs as distinguished from instruction in a specific religion or belief. They also aim to offer criteria that should be considered when and wherever teaching about religions and beliefs takes place (OSCE 2007: 11 – 12).“
5.
Religiöse Bildung in Europa: das aktuelle Bild
Wir haben gesehen, dass es einen sehr starken Impuls für die europäischen Länder gibt, politische Maßnahmen zu initiieren, die die Lehre über Religionen und Weltanschauungen in europäischen Schulen einführen. Dieser Impuls wurde von zwischenstaatlichen Organen, wie den Vereinten Nationen, dem Europarat, der Europäischen Kommission und der Organisation für Sicherheit und Kooperation in Europa, abgeleitet. Um neue mögliche politische Initiativen mit der gegenwärtigen Praxis und den zukünftigen Entwicklungen zu verknüpfen, müssen wir den Bereich der politischen Maßnahmen für das Studium der Religionen in den verschiedenen europäischen Ländern überprüfen. Eine solche Überprüfung zeigt, dass die Rolle von Religion im Kontext von Bildung in den einzelnen europäischen Ländern sehr unterschiedlich angesehen wird.26 Diese Erkenntnis zu den vielfältigen politischen Maßnahmen lässt sich aus verschiedenen Perspektiven betrachten. Man könnte beispielsweise zwischen den verschiedenen Arten, in denen die einzelnen Länder Religion innerhalb ihrer Bildungssysteme verankern und dementsprechende politischen Maßnahmen entwickeln, unterscheiden. Es gibt konfessionelle Systeme (confessional systems), in denen die Glaubensgemeinschaften die Verantwortung für die religiöse Bildung übernehmen. In Deutschland beispielsweise haben die Kirchen eine Aufsichtsverantwortung über die religiöse Bildung, aber innerhalb des verfassungsmäßig vorgegebenen Rahmens von Gleichberechtigung und Gleichbehandlung. In den Niederlanden wiederum können Schulen die jeweilige Religion ihres Trägers lehren. Und in der Slowakei lehren die Schulen, was als Staatsreligion anerkannt wird. In einigen Fällen, wie in Polen, ist religiöse Bildung ein optionales Fach, welches von Insidern, gemäß den Lehren der Konfessionsgemeinschaften (hauptsächlich römisch-katholisch), gelehrt wird. Die Kompetenzen der LehrerInnen werden von der verantwortlichen Kirche in Übereinstimmung mit dem Ministerium für nationale Bildung und Sport (Ministry of National Education 26 Kodelja/Bassler 2004; Kuyk et al. 2007; Schreiner 2002; Willaime/Mathieu 2005
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and Sport) festgelegt27. Dann gibt es nicht-konfessionelle Systeme, in denen Glaubensgemeinschaften keine Funktion im öffentlichen Bildungswesen haben. So gibt es in Frankreich kein Fach, das sich speziell dem Studium der Religion widmet und jede Behandlung von Religion in Fächern wie Geschichte, Französisch oder Philosophie, muss rein informativ ausgerichtet sein.28 Schweden bietet ein anderes Beispiel von nicht-konfessioneller religiöser Bildung. Glaubensgemeinschaften sind nicht direkt beteiligt. Das Fach wird aber (anders als in Frankreich) als eng verbunden mit der persönlichen Entwicklung von jungen Leuten betrachtet29. Gemischte Systeme finden wir in England und Wales, wo die Mehrheit von vollständig öffentlich finanzierten Schulen eine objektive Form von religiöser Bildung haben, während sogenannte state-funded voluntary aided schools die Religion ihres Trägers unterrichten können30. Manchmal wird eine Unterscheidung zwischen „learning about, from and in religion“ getroffen.31 Ein „learning in religion“ tritt auf, wenn eine einzige religiöse Tradition von Insidern gelehrt wird. Damit wird oft das Ziel verbunden, die SchülerInnen in einer bestimmten Religion zu sozialisieren oder ihr Engagement für diese Religion zu stärken. Ein „learning about religion“ dagegen nutzt veranschaulichende und historische Methoden, bezweckt jedoch weder den religiösen Glauben zu fördern, noch ihn zu untergraben. „Learning from religion“ verlangt von den Schülern, über verschiedene Antworten zu religiösen und moralischen Angelegenheiten nachzudenken, um einen eigenen Standpunkt zu Religion und Werten zu entwickeln. Gemäß dieser Klassifikation wäre das italienische System ein Beispiel für Bildung „in religion“32, das System in Estland würde Bildung „about religion“ darstellen33, während das englische Gemeindeschulsystem (community school system) eine Bildung „about and from religion“ verbinden würde.34 Quer durch all diese Ansätze sind verschiedene Ansichten über Kindheit und Autonomie und unterschiedliche Meinungen über die Rolle des Lehrers, die in den Traditionen des Bildungswesens bestimmter Länder gefunden werden können, vertreten. Zudem kann jeder Ansatz für ideologische Zwecke manipulieren. Manche Ansätze zu „Bildung in Religion“ können einen großen Beitrag zur Handlungsfähigkeit und Autonomie von Kinder leisten. Andere wiederum können sehr autoritär sein. Im Fall von „Bildung über Religion(en)“ kann es 27 28 29 30 31 32 33 34
Eurydice 2006 Estivalezes 2005,2006 Larsson 2002 Jackson 2007; Jackson/O’Grady 2007 Hull 2002 Gandolfo-Censi 2000 Valk 2000; Schihalejev 2010 QCA 2004
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passieren, dass bestimmte nicht intendierte Überzeugungen entstehen. So wird darauf hingewiesen, dass das Thema der angeblich nicht-konfessionellen Kultur der Religionen (culture of religions) in der Russischen Föderation tatsächlich Orthodoxie und Nationalismus fördert.35 Es ist wichtig, dass die allgemeinen Vorstellungen der Vereinten Nationen und die politischen Maßnahmen zur Lehre über Religionen, die vom Europarat und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa entwickelt worden sind, in einen engen Dialog mit aktuellen nationalen politischen Maßnahmen auf dem ganzen Kontinent gebracht werden. Die erste regionale Debatte über „die religiösen Dimensionen der interkulturellen Bildung“ (gehalten vom 8. – 9. Oktober 2007 in Athen) tat genau das. Die Debatte verbreitete die Ergebnisse des Projekts und brachte sie mit den aktuellen politischen Maßnahmen in ausgewählten Mitgliedstaaten in Verbindung. Die Konferenz brachte auch wichtige Mitglieder des Schreibteams des Projekts, welches vom Europarat initiiert wurde, mit Verfassern der „Toledo Guiding Principles on Teaching about Religions and Beliefs in Public Schools“ und wichtigen Forschern des REDCo Projektes zusammen.
6.
Religiöser Diskurs im öffentlichen Bereich
Wie bereits oben erwähnt, war einer der Gründe, warum der Europarat sich nicht direkt mit dem Thema der Religionen innerhalb des öffentlichen Bildungswesen beschäftigte, die vorherrschende Überzeugung, dass Fragen der Religion nicht in den Bereich öffentlicher Institutionen gehören. Diese Ansicht ist nahe der von lacit¦, der radikalen Trennung von Kirche und Staat, wie es in der französischen Politik und im französischen Gesetz verankert ist. Hierbei wird vom Staat gefordert, in religiösen Angelegenheiten neutral zu bleiben, aber die freie Ausübung von Gottesdiensten und die Organisation von religiösen Institutionen zu garantieren. Der Sozialtheoretiker Jürgen Habermas bringt einen Denkansatz ein, der die einfache Unterscheidung von öffentlich und privat überschreitet.36 Er unterscheidet zwischen dem formalen öffentlich/politischen Bereich, der aus Parlamenten, Gerichten, Ministerien, etc. besteht und dem informellen öffentlich/politischen Bereich, welcher für einen geeigneten Ort der Kommunikation zwischen religiösen und nichtreligiösen Menschen gehalten wird. Während nach Habermas politische Institutionen im Hinblick auf das Thema Religion neutral bleiben sollten, sollen religiöse Sprache und Argumente auf dem Level des Diskurses zwischen säkularen und religiösen Bürgern (und zwischen Bürgern 35 Willems 2007 36 Habermas 2006
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verschiedener religiöser Überzeugungen) genutzt werden sollten. Im Prinzip wird Verständnis durch Kommunikation oder Dialog entwickelt. Habermas ist der Meinung, dass es den gläubigen Menschen selbst überlassen ist, ihre Sprache und die Werte, die sie damit assoziieren, anderen im Dialog an geeigneten Orten innerhalb des informellen öffentlichen/politischen Bereiches zu erklären. Durch solch eine Kommunikation können säkulare Menschen von gläubigen Menschen etwas über Werte lernen, während gläubige Menschen lernen könnten, ihre Sprache auf bedeutungsvolle Weise im Kontext der späten Moderne auszudrücken. Was Habermas hier theoretisch vorbringt, findet eine Übereinstimmung in den Änderungen der politischen Maßnahmen, wie sie in den zwischenstaatlichen Organisationen mittlerweile erfolgt sind. Außerdem finden sich einige Hinweise dazu, wie sich ihre politischen Initiativen verfahrensmäßig und pädagogisch operationalisieren lassen. In dieser Hinsicht würde ich damit argumentieren, dass die aus öffentlichen Mitteln finanzierten Schulen ein Mikrokosmos des informell öffentlich/politischen Bereichs und somit ein durchaus angemessener Ort für die Bildung über Religion sind, sofern gewisse Bedingungen und Schutzmaßnahmen erfüllt sind. Die Argumente der zwischenstaatlichen Organisationen, die hauptsächlich auf den Menschenrechten und gesellschaftlichem Zusammenhalt basieren, bieten eine Reihe von Gründen für das Lehren und Lernen von Religion im öffentlichen Bildungswesen. Sie gehen jedoch nicht darüber hinaus. Sie vermitteln die generelle Vorstellung, dass der Prozess der Politikgestaltung und die Entwicklung des Lehrplans inklusiv und dialogisch sein sollen. Sie erwarten, dass Organisationen, die Lehrpläne verfassen, verschiedene Interessengruppen einbeziehen (zum Beispiel PädagogInnen, RepräsentantInnen religiöser Gruppen und akademische Fachkräfte) und dass Lehrpläne und Unterricht auf Objektivität und Fairness in der Repräsentation verschiedener Positionen zielen sollten. Habermas‘ Argument führt uns jedoch weiter, in dem es vorschlägt, dass Bürger mit unterschiedlichen Hintergründen interagieren, einander zuhören und sich mit der Position des anderen auseinandersetzen sollen, um Verständnis zu entwickeln und am Demokratisierungsprozess teilzunehmen. Wenn die öffentliche Schule ein Mikrokosmos des informellen öffentlich/politischen Bereichs ist, müssen innerhalb der Schule Vorbereitungen getroffen werden, die diese Form der Kommunikation fördern. Dies würde den Ethos der Schule und den Blick auf die Beziehungen innerhalb der Schule und mit Außenstehenden (insbesondere die Haltung der Schule zu sozialer Vielfalt) und ihre pädagogischen Ansätze beinhalten. Sowohl Vorgehensweise als auch pädagogische Methoden müssen die Kommunikation zwischen Menschen mit unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlichen Überzeugungen fördern.37 37 Jackson 2004
Religiöse Bildung im Spiegel der europäischen Politik
7.
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Fazit
Es gibt ein erkennbares Interesse von internationalen und europäischen zwischenstaatlichen Institutionen für die Kenntnisnahme von und die Auseinandersetzung mit Religion und Weltanschauungen in öffentlich finanzierten Schulen. Vorschläge zu politischen Maßnahmen und Richtlinien für Organisationen werden von Regierungen und PädagogInnen in Bezug zu den gegenwärtigen, recht unterschiedlichen, Regelungen für religiöse Bildung in Betracht gezogen. Bei der Übernahme von neuen politischen Maßnahmen in die Praxis müssen PädagogInnen den Gebrauch geeigneter pädagogischer Methoden berücksichtigen. Schließlich sollte auch die Bedeutung der Religionswissenschaften als akademischer Bereich genannt werden. Obwohl fachlich nicht ausgebildete LehrerInnen mit zusätzlichen Ausbildungsmaßnahmen unterstützt werden können, ist eine Versorgung mit Fachleuten in den Religionswissenschaften innerhalb des Lehrberufs in allen Ländern nötig: diese sollen das Lernen und Lehren über Religionen wissenschaftlich unterstützen. Diese Fachleute werden gebraucht, damit sie ihr Fachwissen zur Entwicklung von LehrerInnenbildung und Lehrplänen beitragen können.
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Robert Jackson
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Bert Roebben
„Einander in der Fremdheit begleiten“. Möglichkeiten und Grenzen einer Spiritual Learning Community
Kinder und Jugendliche haben das unveräußerliche Recht, Teil einer Lerngemeinschaft zu sein. Niemand kann alleine lernen. Bildung ist immer ein gemeinsames Unternehmen. Das Konzept der spiritual learning community (SLC), welches in diesem Beitrag vorgestellt wird, basiert auf den Ideen von Martin Buber und John Dewey aus den 1930er Jahren. Die kulturelle und religiöse Vielfalt der heutigen Zeit regen Erziehung und Bildung dazu an, die narrativkommunikative und spirituelle Dimension des Lernens zu überdenken. Überlegungen aus der philosophischen Pädagogik und Religionspädagogik und Erfahrungen mit Studierenden in der Lehramtsausbildung in Dortmund und Wien zeigen den Horizont dieser Reflexionen auf. Es sind insbesondere die Arbeiten von und der Kontakt mit meinem Kollegen und Freund Martin Jäggle, die mich für die Notwendigkeit der SLC für eine qualitative Schulentwicklung in der Zukunft sensibilisiert haben.1
1.
Historische Einführung: von Buber und Dewey lernen
Tief in der Krisensituation der 1930er Jahre entspringen auf beiden Seiten des Atlantiks Visionen einer neuen Humanität. Genauer gesagt, die Philosophen der Bildung, als intellektuelle Spitze, artikulieren die kontroversen Erfahrungen der ökonomischen und politischen Krise und suchen neue Wege. John Dewey hält an der Yale Universität seine Terry Lectures, die 1934 in A Common Faith veröffentlicht wurden2 und Martin Buber hält 1935 seinen Vortrag „Bildung und Weltanschauung“ in der jüdischen Volkshochschule in Frankfurt am Main. Beide sind von der Tatsache überzeugt, dass der Mythos der „Gleichschaltung“, verkörpert durch den aufkommenden Nazismus in Deutschland, aber auch 1 Den Titel dieses Aufsatzes habe ich von Martin Jäggle entlehnt – siehe Jäggle 2009, 267. Ich benutze übrigens diesen Text als Bezugstext für meine Überlegungen. 2 Dewey 1934
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durch traditionelle Religionen und Ideologien, der grundlegenden Einzigartigkeit und Verletzlichkeit des Menschen Unrecht tut, was dazu führt, dass ein learning in difference unmöglich ist. Eine neue communitas werde dringend benötigt, so Buber und Dewey, um Widerstand gegen die gesellschaftlich-politischen Kräfte, die das Leben von Individuen und Gemeinschaften zerstören, zu leisten. Diese neue Kommunalität kann aus der intersubjektiven Begegnung und dem Dialog entstehen. Durch Kommunikation kann sich unity-in-diversity und truth-in-searching ergeben und jede/r kann sich bewusst machen, dass er/sie einen Beitrag zu dieser Einzigartigkeit und Wahrheit, diesem common faith leisten kann. Martin Buber meint, „es gilt nicht ,Toleranz‘ zu üben, sondern Vergegenwärtigung der Wurzelgemeinschaft und der Verzweigungen; es gilt nicht den Stamm so zu erfahren und zu erleben (hier steht das oft fragwürdige Wort zu Recht), dass man auch erlebt, wo und wie die anderen Äste abspringen und hinschießen, so wirklich wie der eigene. Es gilt nicht eine formelhafte Scheinverständigung auf einer Minimalbasis, sondern Wissen um das Wahrheitsverständnis von drüben, um des anderen Realverhältnis zur Wahrheit; nicht ,Neutralität‘, sondern Solidarität, lebendiges Füreinanderstehn, und Mutualität, lebendige Wechselwirkung. Nicht Verwischung der Grenzen zwischen den Bünden, Kreisen und Parteien, sondern gemeinschaftliche Erkenntnis der gemeinsamen Wirklichkeit und gemeinschaftliche Erprobung der gemeinsamen Verantwortung. Vitale Dissoziierung ist die Krankheit der Völker in unserer Zeit, die durch die zusammenpressende Aktion nur scheinbar zu heilen ist.“3
Auf der anderen Seite des Ozeans behauptet John Dewey, dass, wenn sich die Menschen von den Zwängen der Religionen und Ideologien befreien und sich einfallsreicher auf eine Begegnung „von Angesicht zu Angesicht“ und eine Verwirklichung ihrer gemeinsamen Ziele konzentrieren würden, neue Energie für die Realisierung einer wahrhaft besseren Welt aufkommen könnte. Zusammen leben und lernen ist ein wesentlicher Bestandteil von Deweys Idee. Niemand kann alleine lernen. Dieser Prozess hat, nach Dewey, eine spirituelle Natur und könnte als immanente Mystik bezeichnet werden. „In einer Zeit der Zersplitterung besteht ein dringendes Bedürfnis nach einer solchen Idee. Sie kann Interessen und Energien, die jetzt in alle Richtungen zerstreut sind, vereinheitlichen: sie das Handeln anleiten und die Wärme der Emotion und das Licht der Intelligenz erzeugen. Ob man diese Einheit, die im Denken und Handeln operativ ist, den Namen ,Gott‘ gibt, ist eine Frage der individuellen Entscheidung. Aber die Funktion einer solchen funktionierenden Einheit des Idealen und des Wirklichen scheint mir identisch mit der Kraft zu sein, die tatsächlich dem Begriff Gottes in allen Religionen beigemessen worden ist, die einen spirituellen Inhalt haben: und eine klare Idee jener Funktion scheint mir gegenwärtig dringend nötig.“4 3 Buber 81995 4 Dewey 2004, 266
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In diesem Aufsatz wiege ich die „Dringlichkeit“ der visionären Reflexionen von Buber und Dewey in den Zeitraum zwischen den Weltkriegen ab und rekonstruiere ihren Einfluss auf die heutige Erziehung und Bildung. Dieser Beitrag hat keine historische Intention,5 er konzentriert sich stattdessen auf die aufkommenden pädagogischen Ideen, die sowohl damals als auch heute von höchster Relevanz sind. In diesem Kontext stelle ich im zweiten Teil das Konzept der SLC vor und zeige damit den narrativ-kommunikativen und spirituellen Charakter eines jeden Lernprozesses auf – Dimensionen, die in Schulen, Jugendarbeit und Erwachsenenbildung bewusst gestärkt werden können. Im dritten und letzten Teil konkretisiere ich, im Rahmen eines vergleichenden Seminars zu interreligiösem Lernen, welches in der Lehramtsausbildung der Universitäten Dortmund (Deutschland) und Wien (Österreich) stattgefunden hat, das Konzept der SLC.
2.
Systematische Rekonstruktion: eine Definition auf dem Prüfstand
Niemand kann alleine lernen. Lernen ist ein gemeinsames Unternehmen. Um dem Weg des Geheimnisses meiner Existenz zu folgen, um die Komplexität meiner Identität als Projekt des Lebens zu verstehen, brauche ich die Begegnung mit anderen. „In the presence of the other“6 lerne ich, wer ich bin. Indem ich meine Geschichte erzähle, teste ich sie. Ich höre mir die Antwort zu meiner Geschichte von anderen an und positioniere mich schließlich in der Begegnung mit beiden.7 Identitätsbildung geschieht immer in der narratio, die grundsätzlich intersubjektiv ist. Die Erzählung einer Geschichte bietet immer die Möglichkeit einer Alternative, die Möglichkeit, dass es auch anders sein könnte. Dies wird über den Umweg der Geschichte eines anderen (physisch oder symbolisch gegenwärtig z. B. durch Literatur) repräsentiert. „Apprendre se raconter, c’est aussi apprendre se raconter autrement“, so Paul Ricœur.8 Gemeinschaft ist der Nährboden für diese gegenseitige narratio, für den gegenseitigen Lernprozess, welcher als Identitätsbildung oder „Humanisierung“ bezeichnet werden kann.9 In einem modernen Bildungsdiskurs, der sich auf die Kompetenz des output des Einzelnen konzentriert, wird der narrativ-kommunikative Prozess des Lernens vernachlässigt. Die Erkenntnis dieser Tatsache, dass lernen immer ein gemein5 6 7 8 9
Vgl. resp. Faber 1962 und Lanser-van der Velde/Miedema 2005 Vgl. Boys 2008 Vgl. Roebben, Scholen voor het leven, 2011, 43 – 60 Ricœur 2004, 152 Vgl. Roebben, Das Abenteuer, 2012
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sames Unternehmen ist, etwas, dass in der Lernumgebung des Geschichtenerzählens geschieht, ist das erste Element der SLC. Das zweite Element bezieht sich nahtlos auf das Erste. Lernen tritt dadurch auf, dass man sich einem Fremden öffnet. Dieses „Ausgesetzt-Sein“ ist wesentlich. Ohne Konfrontation, ohne Politur kann der Diamant der Bildung nicht funkeln. Um auf der Welt zu handeln und zu urteilen, um meinen Beitrag in der Welt sicher zu stellen, muss ich mich Andersartigkeit und Fremdheit aussetzen.10 Diese Öffnung, die einen verwundbar macht, sollte nach dem niederländischen Bildungsphilosophen Ger Biesta, weder instrumentell noch ontologisch-substantiell, sondern existentiell verstanden werden. Es geht nicht um exotische Fremdartigkeit, um auf die Gründung oder Erfindung meiner eigenen Geschichte besser vorbereitet zu sein. Dies würde bedeuten, dass wir „only,need‘ others in order to find out and make clear how we are different from them – how my identity is unique – but once this has become clear we wouldn’t need others anymore. Our relationship with others would therefore remain instrumental.“11
Unsere Einzigartigkeit liegt in der Antwort, die wir formulieren; oder anders, die wir im Ausgesetzt-Sein zu anderen Menschen „erleben“ (so Martin Buber). Meine Einzigartigkeit entsteht, wenn ich gebeten werde auf den Imperativ eines anderen zu antworten und dabei meine Verantwortung übernehme. In diesem speziellen Moment der Öffnung erlebe und formuliere ich meine persönliche Antwort. Ich werde ein einzigartiges „ich“ in der Begegnung mit den Anderen. „Uniqueness, then, ceases to be an ontological notion – it is not about what we possess or are in terms of identity – but becomes an essential notion that has to do with the ways in which we are exposed to others, are singled out by them.“12
Bildung sollte für die Kultivierung dieser faszinierenden Interaktion zwischen universaler Verantwortung und persönlicher Einzigartigkeit Raum schaffen. Die flämischen Bildungsphilosophen Masschelein und Simons haben mehrmals auf die dringende Notwendigkeit eines sozialen Diskurses dieser fundamental relationalen Dimension der Bildung aufmerksam gemacht.13 In einem Beitrag über die Zukunft der Universität als Nährboden für Lerngemeinschaften argumentieren sie: „Strategies of immunisation are those attempts to regulate and organise the relation with the outside in order to prevent the outside from entering one’s life or one’s organisation (…). These are the strategies that prevent a com-munitas, where people are exposed to each other and to things, from coming into being. Immunisation, thus, is 10 11 12 13
Biesta 2011 Ebd. 315 Ebd. 316 (Kursivierung BR) Masschelein/Simons 2003
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the ongoing fight against direct exposure or attachment. Detachment, then, is a state of immunity. What we would like to argue here is that universities could be regarded precisely as those places that embrace ,strategies of exposure‘ or com-munisation instead of ,strategies of immunisation‘ (…).“14
Dieser Ansatz impliziert Platz für Begegnung und Dialog, für Konflikte und Kompromisse. Dies ist kein leichter Ansatz. Auch in neuen kritischen Lernansätzen wie education for democratic citizenship und human rights education kann ein erhebliches Anliegen (concern, so Biesta, z. B. ein Konflikt oder ein Meinungsunterschied) unberücksichtigt bleiben, weil es keine wesentliche Sorge gibt; aufgrund einer netten aber leeren Toleranz ist man sich der Tatsache, dass der/die andere in seinem/ihrem eigenen „Realverhältnis zur Wahrheit“ (so Martin Buber) steht und dass diese von meiner eigenen abweichen kann, nicht genügend bewusst. Konflikte können durch eine soft tolerance leicht ignoriert werden, der hard concern wird aufgrunddessen aber nicht notwendigerweise gelöst.15 Die Praxis der Unterscheidung, die Kunst der distinctio, ist daher ein zentrales Element der SLC. Der niederländische Theologe Kees Waaijman sagt, dass der Grund der distinctio darin liegt, mit anderen eine gemeinsame Gesprächsbasis zu finden. Argumente zu nutzen, bedeutet letztendlich an die Taten und Worte, die dabei helfen die Relativität des eigenen Interesses und der eigenen Wahrnehmung zu überschreiten, zu appellieren; es bedeutet an ein gemeinsames Interesse zu appellieren – a common faith.16 In Übereinstimmung mit der Arbeit von Theo Sundermeier sehen die deutschen Religionspädagogen Muth und Sajak17 die distinctio als angemessene Begegnung mit der Trennwand, mit dem distinctivum, bei der sich zwei Parteien treffen und über ihr Anliegen, ihre Unterschiede und Ähnlichkeiten, über das was sie verletzt und was sie im Prozess der Reibung aufregt und wärmt, reden. Das dritte Element der SLC ist Spiritualität. Ich betrachte dies sowohl als Habitus, als eine notwendige fundamentale Einstellung innerhalb der Lerngemeinschaft, als auch als Fokus, Konzentration auf Spiritualität als Inhalt. Die existenzielle Erfahrung ein geöffneter Mensch zu sein, verletzlich und einzigartig in seinem/ihrem Ausgesetzt-Sein, ist in der SLC von zentraler Bedeutung.18 All dies basiert auf einem spätmodernen Konzept von Spiritualität mit dem Hauptmerkmal der Selbsttranzendenz19 : obwohl ich mein Leben mit wichtigen Kompetenzen und Talenten ausstatte, kann ich nicht das Fundament meiner 14 15 16 17 18 19
Simons/Masschelein 2009, 213 Gearon 2006 Geurts 2012, 25 Muth/Sajak 2010, 29 – 30 Roebben, Living and learning, 2012 Vgl. Joas 2004 und Zondervan 2008
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eigenen Existenz sein. Letztlich kann ich nicht einmal das Geheimnis meines eigenen Lebens verstehen. Ich kann nur suchen und erfassen, Sprachspiele erforschen, mein Leben durch Inspiration von Kunst, Religion, Literatur, Sport, usw. kreativ integrieren und verdichten. Dies ist Selbsttranszendenz, oder in den Worten der nordamerikanischen Theologin Sandra Schneiders: „the conscious involvement in the project of life-integration through self-transcendence towards the ultimate value one perceives.“20 In diesem Habitus sind de-centration (das Zentrum außerhalb von sich selbst platzieren) und de-dication (sich selbst der Andersartigkeit und Fremdheit des anderen zuwenden) zentrale Merkmale. In dem oben genannten Beitrag ist John Dewey davon überzeugt, dass diese fundamentale Haltung von spiritueller Natur ist. Seiner Meinung nach bietet diese Einstellung eine humanistische und pragmatische Gemeinsamkeit, um religiöse und nichtreligiöse Menschen in einer säkularisierten Welt, in ihrer Suche nach einem gemeinsamen Glauben zu verbinden, und sie von falschen, übernatürlichen Ideologien zu befreien. Dewey sagt: „[Diese] Veränderung befähigt den Menschen, diejenigen Elemente der natürlichen Bedingungen auszuwählen, die genutzt werden können, um die Herrschaft der Ideale zu unterstützen und zu erweitern. In dem Maße, in dem wir aufhören, vom Glauben an das Übernatürliche abhängig zu sein, wird die Selektion über sich selbst aufgeklärt und die Entscheidung kann zugunsten von Idealen getroffen werden, deren inhärente Beziehungen auf Bedingungen und Konsequenzen verstanden werden. Wären die naturalistischen Grundlagen und Auswirkungen von Religion begriffen, würden aus den Geburtswehen der Krise in der Religion die religiösen Elemente im Leben hervorgehen. Man würde erkennen, dass die Religion ihren natürlichen Platz in jedem Aspekt jener menschlichen Erfahrung hat, die sich mit der Einschätzung von Möglichkeiten, mit dem emotionalen Angerührtsein von noch nicht realisierten Möglichkeiten und mit allen Handlungen zugunsten ihrer Realisierung befasst. Alles, was in der menschlichen Erfahrung von Bedeutung ist, fällt in diesen Rahmen.“21
In anderen Worten: SLC gibt Menschen die Möglichkeit in einer konfessionsund religionsüberschreitenden Weise, die spirituelle Dimension des Zusammenlebens-in-Verschiedenheit zu artikulieren und neuen Sinn und neue Orientierung in ihrer gemeinsamen Herangehensweise an die Sorgen der Gesellschaft zu finden. Einzelne Weltanschauungen sind von diesem Ansatz nicht ausgeschlossen, sondern können die Mitglieder mit neuer motivierender Energie versorgen.
20 Schneiders 2003, 166 21 Dewey 2004, 270 – 271
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3.
Exemplarische Konkretisierung: interreligiöses Lernen in der Lehramtsbildung
3.1.
Der spirituelle Habitus: lernen in Gastfreundschaft
Martin Buber berichtet in seinen „Autobiographischen Fragmenten“ über eine Erfahrung, die ihn sehr berührt hat. In der polnischen Schule in Lemberg (heute L’viv) in Galizien, das damalige östliche Ende des österreichisch-ungarischen Reiches, wurde er als jüdischer Junge viele Jahre dazu gezwungen, schweigend an den religiösen Riten der Katholiken teilzunehmen. Er berichtet: „Die Schule hieß ,Franz-Josefs-Gymnasium‘. Die Unterrichts- und Umgangssprache war das Polnische, aber die Atmosphäre war jene uns jetzt fast unhistorisch anmutende, die zwischen den Völkerschaften der österreichisch-ungarischen Monarchie herrschte oder zu herrschen schien: gegenseitige Verträglichkeit ohne gegenseitiges Verständnis. Die Schüler waren zum weitaus größten Teil Polen, dazu kam eine kleine jüdische Minderheit (die Ruthenen hatten ihre eigenen Schulen); persönlich kam man gut miteinander aus, aber die beiden Gemeinschaften als solche wussten fast nichts voneinander. Vor 8 Uhr morgens mussten alle Schüler versammelt sein. Um 8 Uhr ertönte das Klingelzeichen; einer der Lehrer trat ein und bestieg das Katheder, über dem an der Wand sich ein großes Kruzifix erhob. Im selben Augenblick standen alle Schüler in ihren Bänken auf. Der Lehrer und die polnischen Schüler bekreuzigten sich, er sprach die Dreifaltigkeitsformel und sie sprachen sie ihm nach, dann beteten sie laut mitsammen. Bis man sich wieder setzen durfte, standen wir Juden unbeweglich da, die Augen gesenkt. Ich habe schon angedeutet, dass es in unserer Schule keinen spürbaren Judenhass gab; ich kann mich kaum an einen Lehrer erinnern, der nicht tolerant war oder doch als tolerant gelten wollte. Aber auf mich wirkte das pflichtmäßige tägliche Stehen im tönenden Raum der Fremdandacht schlimmer, als ein Akt der Unduldsamkeit hätte wirken können. Gezwungene Gäste; als Ding teilnehmen müssen an einem sakralen Vorgang, an dem kein Quentchen meiner Person teilnehmen konnte und wollte; und dies acht Jahre lang Morgen um Morgen: das hat sich der Lebenssubstanz des Knaben eingeprägt.“22
Dieses autobiographische Fragment schildert wortgewandt die philosophische Reflexion Bubers am Anfang dieses Artikels. Buber warnt seine Leser vor einer „gegenseitigen Verträglichkeit ohne gegenseitiges Verständnis“, die Menschen einander angleicht und ihre gegenseitigen existentiellen Unterschiede ignoriert. Diese Anpassung bedeutet gleichzeitig Ausgrenzung. Die Freiheit sich selbst zu unterscheiden wird vernachlässigt. Der Raum, ein „Gast in Freiheit“ zu werden, ist verschlossen. Als jüdischer Junge sieht Martin Buber sich selbst als „gezwungener Gast“. Frei zu leben und zu lernen in der Gegenwart eines anderen wird verweigert. Gleichgültigkeit auf der einen Seite oder Extremismus auf der 22 Buber 1963, 5 – 6 (Kursivierung BR)
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anderen Seite sind das Resultat einer solchen Lernsituation. Buber erinnert sich noch genau an die Situation. Er ist einige Jahre später in der Lage, diese Erfahrung auf der Metaebene in seine Philosophie über Intersubjektivität zu integrieren. Die Geschichte Bubers bezieht sich auf den Aspekt der Verletzlichkeit der SLC. Freiheit ist unentbehrlich für ein Lernen in Begegnung. Martin Buber und seine Mitschüler wurden für viele Jahre zur Teilnahme an religiösen Riten der Katholiken gezwungen und es war ihnen nicht erlaubt anders zu sein. Auch in einer Situation, zu der man als Fremder eingeladen wird, um seine Geschichte zu erzählen, kann es Gleichschaltung, aber eben auch Ausgrenzung geben. Im Niederländischen wird Gastfreundschaft mit gastvrijheid übersetzt: der Gast sollte als wahrhaft freie Person betrachtet werden, als ein Freund. Ohne diese Voraussetzung wäre ein „Zusammensein in Verschiedenheit“ nicht möglich, wäre es nicht möglich „einander in der Fremdheit zu begleiten“23, könnte man den Anderen nicht in einer „sprachlichen Gastfreundschaft“24 empfangen und ihn/sie im aufregenden Spiel von Gleichheit und Andersartigkeit herumführen. Derjenige/Diejenige, der/die erlebt, ein „gezwungener Gast“ zu sein, und nicht die Möglichkeit bekommt, anders zu sein, kann das Angebot der Gastfreundschaft nicht voll und ganz genießen. Es gibt empirische Belege, die beweisen, dass die eben genannte Situation auch innerhalb des schulischen Kontexts zu finden ist. Junge Menschen, die dazu eingeladen werden, ihren Glauben in einer anderen homogenen Konfessionsgruppe zu bezeugen, fühlen sich unbehaglich: sie wollen keine Repräsentanten ihrer Religion sein, sie haben Angst aufgrund ihres Glaubens diskriminiert zu werden und sie finden es schmerzhaft mit Stereotypen ihrer Religion identifiziert zu werden.25 Auch Muth und Sajak26 stehen aus diesen Gründen dem deutschen Konfessionssystem der religiösen Bildung kritisch gegenüber, wenn „Gäste“ aus anderen Konfessionen eingeladen werden, einfach um den konfessionellen Prozess interreligiös zu unterbrechen. Heutzutage brauchen junge Menschen jedoch andere religiöse Stimmen. Bei anderen Anlässen27 habe ich für Lernprozesse plädiert, bei denen der Informationspol (lernen über) und der Kommunikationspol (lernen von) – in der Gegenwart des religiös Anderen – nicht bei formeller Freundlichkeit und Instrumentalisierung der Religion des anderen für den eigenen Zweck stehen bleiben sollte. Lernprozesse sollten vielmehr das Bewusstsein stärken und erneuern und dazu führen, dass die faktischen Unterschiede, die jede/r TeilnehmerIn mitbringt, der/die an dem 23 24 25 26 27
Jäggle 2009, 267 Moyaert 2011, 89, unter Bezugnahme auf Paul Ricœur Moulin 2011 Muth/Sajak 2010, 30 – 31 Roebben, Religionspädagogik, 2011, 151 – 154
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Gespräch teilnimmt, erkannt und anerkannt werden (lernen im/durch). Dies soll sowohl auf der kognitiven als auch auf der affektiven Ebene geschehen. Diese Unterschiede „zu definieren und zu dignifieren“ ist das Ergebnis eines Begegnungslernens. Durch die Öffnung in der Begegnung mit anderen, werden Menschen ausgesondert (singled out)28 – um sich durch und für andere selbst erneut zu finden.
3.2
Der spirituelle Fokus: interreligiöses Lernen
Gegenseitige Gastfreundschaft ist das Stichwort, das den Habitus der SLC kennzeichnet: indem man sich von sich selbst entfernt (de-centration), widmet man sich einem anderen (de-dication). Im interreligiösen Dialog wird dieser Habitus als Fokus thematisiert. Im interreligiösen Lernen sprechen junge Menschen, die zu verschiedenen religiösen und nicht-religiösen Überzeugungen oder Weltanschauungen gehören, über grundlegende Fragen des Lebens. Wechselseitige Information und Kommunikation – wie bereits zuvor diskutiert wurde – sind sehr wichtig. Dennoch sollte die intersubjektive Begegnung in Verschiedenheit letztendlich das Ziel sein. Junge Menschen treffen sich auf der Straße und auf dem Schulhof und stoßen dort im wahrsten Sinne des Wortes aufeinander.29 Der Klassenraum ist daher der beste Ort, diese Fragen anzusprechen. Die langjährige Erfahrung mit multi faith education in England machte Fachleute darauf aufmerksam, dass Kinder und junge Menschen nicht nur über Religion und religiöse Vielfalt reden sollten, um den sozialen Zusammenhalt zu verbessern, sondern dass sie die besondere Grammatik, die „language and the wider symbolic patterns“ von Religion und Weltanschauungen lernen, verstehen und wertschätzen sollen. Diese Unterhaltung kann zu einer gesteigerten „self awareness“30 führen: wo stehe ich in dieser Begegnung und was kann ich meinem Gegenüber bieten? Der englische Religionspädagoge Jeff Astley argumentiert wie folgt: „What they [= young people] need is a religious response to other faiths, rather than some improved rational reflection on their own position in the ultimate order of truths about reality. That is why current emphases on ,humility‘ and ,hospitality‘ often seem to hit the mark; whereas debates over the (theo)logical limits of tolerance and religious relativism leave people cold, because the debates are themselves cold.“31
28 29 30 31
Vgl. Biesta 2011 Vgl. Ter Avest 2009 Jackson 2004, 139 passim Astley 2012, 257
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Und er führt fort: „The really significant religious dialogue for the learner is not that between the religions. It is the dialogue between, on the one hand, that individual himself or herself, with his or her own worldview; and, on the other hand, the variety of beliefs, values, and spiritual and moral practices of the plural world around them, especially where it takes on a religious form. If religions are fundamentally soteriologically oriented cultures, this educational dialogue is in principle open to developing into a salvific dialogue. It is therefore bound to lay the student open to risk (…) the risk of religious embrace.“32
Astley ist sich sicher, dass die Idee des interspirituellen Lernprozesses (Fokus) zu einer neuen Form der intersubjektiven Begegnung (Habitus) führen kann. Der flämische Religionspädagoge Herman Lombaerts bestätigt diese Ansicht: „For interreligious learning to make sense, in view of interreligious dialogue, it should forsake its merely ,functional‘ goals (studying and comparing the respective doctrines, exploring and adjusting rituals and prayers, etc.). Rather, it needs to cultivate an overall climate of gratuity, of disinterest, and of practicing interreligious dialogue for its own sake as a religious act.“33
Überspitzt ausgedrückt: Der Fokus des interreligiösen Lernens, präziser : des Lernens in der Gegenwart des religiös Anderen, kann dem spirituellen und narrativ-kommunikativen Habitus eines jeden modernen Lernprozesses, zu dem Buber und Dewey Bezug genommen haben, eine spannende Ausrichtung und neue Intensität verleihen.
3.3
Die Umsetzung des spirituellen Habitus und Fokus: Bericht über ein Seminar
Im Wintersemester 2012/2013 habe ich ein Didaktikseminar zum Thema Interreligiöses Lernen für StudentInnen in der Lehramtsbildung der Universitäten Dortmund und Wien gegeben. Die StudentInnen sollten in kleinen SLC, bestehend aus sechs TeilnehmerInnen, zusammen arbeiten. Ziel war es in den Kleingruppen zu reflektieren und sich auf ein religiöses Thema (hier die Theodizee oder die Beziehung zwischen Gott und menschlichem Leiden) zu fokussieren, um den spirituellen Habitus der SLC zu verstehen. In Dortmund war die Gruppe von StudentInnen, die an dem Seminar teilgenommen haben, heterogen (katholisch und evangelisch), in Wien war sie homogen (katholisch). Beide Gruppen, in Dortmund und in Wien, haben jedoch festgestellt, dass die gegenwärtige Erfahrung believing without belonging die spirituelle Identität der 32 Ebd. 259 33 Lombaerts 2007, 82 – 83
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Studenten stärker prägt, als deren Zugehörigkeit zu einer bestimmten Konfession. In beiden Gruppen war die Atmosphäre durchweg positiv und konstruktiv, aufgrund der Tatsache, dass die „inter“-Dimension des interreligiösen Lernens die ganze Zeit über evaluiert worden ist. Im Rückblick auf das Seminar kann ich, indem ich über die Möglichkeiten und Grenzen und das Forschungspotenzial (z. B. durch action research) des Seminars nachdenke, die folgenden sieben Forschungsaspekte erkennen: a) Die Grundidee des Seminars wurde stark durch die Fenstermetapher von Raimon Panikkar beeinflusst.34 Pannikkar sieht den interreligiösen Dialog als eine Form von Kommunikation, bei dem Menschen Geschichten ihrer eigenen spirituellen Erfahrung erzählen. Sie erzählen sich gegenseitig, was sie sehen, wenn sie durch ihr eigenes Fenster schauen. Sie müssen ihre Fensterscheibe sauber halten, damit sie ihre Geschichten aussagekräftig erzählen können. Und sie sollten darauf vorbereitet sein, sich anzuhören, was andere durch ihre Fenster sehen, oder vorgeben zu sehen. In anderen Worten: Sie müssen sich der einzigartigen „Fenstererfahrung“ der anderen anvertrauen können. Diese Grundidee hatte einen starken Einfluss auf die Teilnehmer des Seminars. b) Es wurde schnell deutlich, dass Vielfalt nicht bedeutet, der einen oder anderen Religion anzugehören, sondern dass Vielfalt mit interpersonellen Unterschieden in Zusammenhang steht und in die Begegnung mit anderen Menschen eingebaut ist. Auch in konfessionell homogenen Gruppen – so weit diese heutzutage noch existieren – muss man interne Pluralität bestätigen.35 In einer Gesellschaft, in der die Meistererzählungen verschwunden sind und wo Gefahren von neuen Möglichkeiten einer „zusammenpressenden Aktion“36 in der Markt- und Medienkonformität auftauchen, ist die Frage einer existentiellen Verkörperung in kleinen, persönlichen Geschichten von entscheidender Bedeutung. Der Dialog, der in der SLC bewusst erarbeitet wurde, kann Menschen auf diese neue Realität aufmerksam machen und sie dafür ausstatten. c) Um den schwierigen spirituellen Fokus auf die Theodizee zu konkretisieren, wurde der Roman „Hiob: Roman eines einfachen Mannes“ von Joseph Roth37 als literarische Verdichtung genutzt. Die StudentInnen konnten ganz in die Semantik und den Inhalt der Geschichte eintauchen, um Worte für ihre eigenen Erfahrungen und Gedanken zu erhalten. Oft ist ein mentaler Umweg
34 35 36 37
Panikkar, The Window Muth/Sajak 2010, 30 Buber 1995, 58 München 2002 [orig. Ausgabe 1930]
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über die fiktive Geschichte eines anderen Buches oder Films hilfreich und nötig, um über heikle Fragen des Lebens überhaupt reden zu können. d) Es war erstaunlich zu sehen, dass konfessionelle Grenzen verschwimmen, wenn die Themen in der SLC einen universal menschlichen Bezug, wie menschliches Leiden und die Frage nach der Existenz Gottes, haben. Die StudentInnen in der konfessionell gemischten Gruppe in Dortmund haben oft geäußert, dass in ihren Unterhaltungen über Leid die dogmatischen Unterschiede zwischen katholischen und evangelischen TeilnehmerInnen kaum genannt wurden. Persönliche Erfahrungen und Reflexionen, die die konfessionellen Grenzen überschreiten, haben anscheinend einen größeren Einfluss als kirchliche Lehre. e) Wie bereits mit der Geschichte von Martin Buber gezeigt wurde, impliziert ein Lernen in der Gegenwart des anderen Freiheit, einen hermeneutischen Raum, in dem man frei denken und handeln kann. Die TeilnehmerInnen haben in der SLC einen Raum erfahren, in dem sie neue Gedanken testen und entdecken konnten und andere zu diesen neu entdeckten und getesteten Erfahrungen von Andersartigkeit – zu dieser Erfahrung-der-eigenenFremdheit – einladen konnten. Wird dieser hermeneutische Ort garantiert, wenn die Menschen sich gegenseitig erlauben „in the suburbs of language“38 (in Dortmund und Wien übrigens didaktisch durch Bibliodrama aufgedeckt) zu verweilen, entstehen neue und freie Ideen. Wenn es keinen Bedarf mehr gibt, andere zu überzeugen oder zu bekehren, wird ein neuer Raum für einen selbstkritischen und befreienden Ansatz zur eigenen Tradition geöffnet39 (zum Beispiel für die Art und Weise, wie die eigene Glaubensgemeinschaft mit den Spannungen zwischen göttlicher und menschlicher Handlung in der Theodizee umgeht). Moderne theologische Bewegungen, wie Kinderund Jugendtheologie, sind als God talk auf diese theologisch befreienden Dynamiken aufgebaut.40 f) Spirituelle Erzählung und Kommunikation brauchen nicht nur Raum, sondern auch Zeit. Die TeilnehmerInnen der SLC haben mehrmals nach mehr Kommunikationsmöglichkeiten gefragt. Dies zeigt die Notwendigkeit einer pädagogischen „Verlangsamung“ in der Schule heute.41 Die vielen komplexen Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen, aber auch von TheologiestudentInnen, mit moralischer und religiöser Diversität sind, aus meiner Sicht, nicht zu vereinbaren mit der hohen Geschwindigkeit in heutigen
38 39 40 41
Ludwig Wittgenstein, zitiert von Ipgrave 2009, 68 Vgl. Dumestre 1995 Vgl. resp. Ipgrave 2009 und Schlag/Schweitzer 2011 Vgl. Roebben, Religionspädagogik, 2011, 77 – 78, und Roebben, Living and learning, 2012, 1178
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Schulen. Um Andersartigkeit auf eine kritisch-produktive Weise zu verstehen, brauchen junge Menschen mehr an „echter Lernzeit“.42 Dies impliziert, dass Inhalte verlangsamt und prozesshaft thematisiert, durchgeführt, reflektiert und evaluiert werden. g) Eines der bestehenden Trugbilder in Bezug auf interreligiöses Lernen ist, dass jeder/jede TeilnehmerIn gut informiert und vorbereitet ist und sich immer gut benimmt, dass – mit anderen Worten – im Diskurs alles reibungslos läuft. Dies ist meist nicht der Fall. Viele Hindernisse können den Weg zu einem ertragreichen Dialog blockieren. Teilnehmer/innen können sich von der Andersartigkeit der anderen bedroht fühlen. Sie können vermeiden, den „Glaubenssprung“ in das Gespräch zu wagen, da sie fühlen, dass der Raum zum Lernen nicht sicher für Vielfalt ist. Es kann auch so sein, dass sie die Unsicherheit von zu vielen Fragen und zu wenig inhaltliche Klarheit nicht aushalten. TeilnehmerInnen können beginnen, sich gegenseitig offen oder verdeckt zu mobben, als eine Form moralischer und religiöser Selbstverteidigung. Es versteht sich von selbst, dass die SLC dann „a bridge too far“ ist. Dies könnte jedoch überwunden werden, wenn man weiter geht und neue Wege der Begegnung erkundet. Andererseits ist es bereits eine Leistung, dass Menschen, die so unterschiedlich sind, sich treffen und reden und überhaupt miteinander gehen können.
4.
Fazit
In diesem Beitrag habe ich die epochalen Reflexionen von Martin Buber und John Dewey für den aktuellen Bildungskontext mit seinem erhöhten Pluralitätsbewusstsein interpretiert und konkretisiert. Der existentielle Ansatz der SLC scheint ein hoffnungsvoller Beitrag zur Realisierung der pädagogischen Visionen von Buber und Dewey zu sein. Dass dieser Ansatz auch tatsächlich funktioniert, habe ich mit Martin Jäggle im Rahmen der Durchführung der europäischen IP-Seminare in Wien (2001), Thessaloniki (2002), Freiburg (2003), Tilburg (2006) und Wien-Prag (2007) persönlich erfahren können. Von Martin Jäggle habe ich gelernt wie man in Bildungsprozessen Differenzen aushalten kann, nicht „nur um den Preis der Gleich-Gültigkeit“,43 sondern wie man sie erneut als Ressourcen benutzen kann. Für ihn wurde gerade in diesem Bereich das Projekt Europa – maximum diversity on minimum space44 – immer neu und konkret authentifiziert. Es freut mich, dass ich dabei war, dass ich dies „in der 42 Vgl. Meyer 62009, 39 – 46 43 Jäggle 2006, 41 44 Kundera 2007
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Gegenwart“ von Martin Jäggle lernen durfte. Es gibt ein Habermas-Zitat, das dieser sehr liebt und womit ich hier gerne abschließe: „(…) Ohne eine philosophische Transformation irgendeiner der großen Weltreligionen könnte eines Tages dieses semantische Potential [der Humanität, BR] unzugänglich werden; dieses muss jede Generation von neuem erschließen, wenn nicht noch der Rest des intersubjektiv geteilten Selbstverständnis, welches einen humanen Umgang miteinander ermöglicht, zerfallen soll. Jeder muss in allem, was Menschenantlitz trägt, sich wiedererkennen können.“45
In dieser immer neu zu erlebenden Fremdheit dürfen wir einander begleiten und beheimaten.
Literatur Afdal, Geir : Researching Religious Education as Social Practice, Münster 2010 Astley, Jeff: ATheological Reflection on the Nature of Religious Truth, in: ders. et al. (eds.), Teaching Religion, Teaching Truth. Theoretical and Empirical Perspectives, Oxford et al. 2012, 241 – 262 Baart, Andries/Vosman, Frans: Een lerende gemeenschap „ethiek“ van geestelijk verzorgers, in: Tijdschrift voor Geestelijke Verzorging 9 (2006), 38 – 50 Biesta, Ger : Philosophy, Exposure, and Children: How to Resist the Instrumentalisation of Philosophy in Education?, in: Journal of Philosophy of Education 45 (2011), 305 – 319 Boys, Mary C.: Learning in the presence of the other, in: Religious Education 103 (2008), 502 – 506 Buber, Martin: Autobiographische Fragmente, in: Schilpp, P.A./Friedman M. (Hg.), Martin Buber (Philosophen des 20. Jahrhunderts), Stuttgart 1963, 1 – 34 Buber, Martin: Reden über Erziehung, Heidelberg 81995 Dewey, John: A Common Faith, New Haven 1934 Dewey, John: Ein allgemeiner Glaube, in: ders., Erfahrung, Erkenntnis und Wert, Frankfurt am Main 2004, 229 – 292 Dumestre, Marcel J.: Postfundamentalism and the Christian intentional learning community, in: Religious Education 90 (1995), 190 – 206 Faber, Werner : Das dialogische Prinzip Martin Bubers und das erzieherische Verha¨ ltnis, Ratingen 1962 Gearon, Liam: The teaching of human rights in religious education: The case of genocide, in: Bates, Dennis/Durka, Gloria/Schweitzer, Friedrich (eds.): Education, Religion and Society. Essays in Honour of John M. Hull, London – New York 2006, 71 – 82 Geurts, Thom: Losmaken en trekkracht. De spiritualiteit van ongebonden spiritualiteit. Ontmoeting met Kees Waaijman, in: Narthex. Tijdschrift voor levensbeschouwing en educatie 12 (2012) 4, 21 – 26
45 Habermas 1992, 23
Möglichkeiten und Grenzen einer Spiritual Learning Community
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Andrea Lehner-Hartmann
Dem Widerständigen Raum geben. (Religiöses) Lernen jenseits gesellschaftlicher Einpassung
Mit und an Vielfalt leben lernen lässt sich als zentrales Motiv im Denken Martin Jäggles ausweisen. Kulturelle wie religiöse Pluralität sieht er als Ressource im Miteinanderleben und -lernen und nicht als Problemanzeige, wie es für gegenwärtige gesellschaftliche Diskurse oft charakteristisch ist. Fernab eines idealisierenden Verständnisses geht es nicht nur um einen harmonischen Zugewinn an Erkenntnis und ein vorurteilsfreies besseres Miteinander, sondern um die Herausforderung an der Differenz zu lernen,1 – bis hin zur radikalen Infragestellung eigener Einsichten und Überzeugungen. Die Anerkennung von Differenz, die als Ursache von Konflikten aber noch mehr als Ressource von neuen Denkmöglichkeiten angesehen werden kann, charakterisiert das Denken Jäggles sowohl hinsichtlich der Gestaltung individueller Lernprozesse als auch hinsichtlich der Schulentwicklung. Das Lernen an Differenz stellt an das Organisieren von Lernprozessen mit Blick auf das Individuum und die Organisation Schule besondere Herausforderungen. Dem Umgang mit dem Widerständigen, der hier näher in den Blick genommen werden soll, kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu.
1.
Gesellschaftliche Erwartungen und ihre Widerstände
Schulisches Lernen in heutiger Gesellschaft ist äußerst unterschiedlichen Erwartungen unterworfen2 : es soll Menschen in die Kulturtechniken einführen, damit sie am gesellschaftlichen Leben teilhaben können, sie für die Berufswelt fit machen, für ein Studium an der Universität bestmöglich vorbereiten, in die Haltung lebenslangen Lernens einführen, komplexe politische und wirtschaft1 Jäggle 2009, 275 2 Nach Ludwig Pongratz kommt der Schule die Funktion der Qualifikation, der Integration und der Selektion zu. Sie steht somit im Spannungsverhältnis von Integration und Widerstand. Sie soll sowohl die Integration in die Gesellschaft sicherstellen und gleichzeitig zu kritischer Reflexivität befähigen. (Pongratz 2010, 28ff)
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liche Zusammenhänge durchschauen lassen, kompetent mit medialen und technischen Anforderungen umgehen lernen, befähigen, einen Beitrag zur Konfliktbewältigung im Kleinen wie im Großen leisten zu können, für den internationalen Schulleistungsvergleich bestmöglich positionieren u.v.a.m. Dahinter steht die Absicht, den/die Einzelne leistungsfähig zu machen und zu halten. Gegenwärtig gibt es über den deutschsprachigen und europäischen Raum hinaus Bemühungen, durch eine Verschiebung von der Inhaltsorientierung schulischen Lernens hin zu einer Kompetenzorientierung für diese unterschiedlichen Anforderungen bestmöglich zu rüsten3. Diesen formierenden Bestrebungen scheinen sich aber bestimmte Tatsachen und unterschiedliche Widerstandsformen entgegenzustellen. Zunächst ist dabei auf die Gruppe der SchulabbrecherInnen4, der Analphabetismusgefährdeten und manifesten AnalphabetInnen5 und die damit verbundenen Folgen deren eingeschränkter Teilhabe an Arbeitsmarkt und gesellschaftlichem Leben zu verweisen. Auch die Praxis der Verabreichung von Schmerzmitteln6, Beruhigungsmitteln und Ritalin zeigt an, dass den Leistungsanforderungen auf normalem Wege nicht immer entsprochen werden kann7, sondern nur dadurch, dass die Empfindungen des Körpers durch psychopharmazeutische Substanzen überlistet werden und er somit leistungsfähig gehalten wird. Eine weitere Form des Widerstandes wird deutlich in der Abneigung und Abwehr, sich mit bestimmten Themen auseinanderzusetzen. Niemand investiert gerne Zeit in die Beschäftigung mit Dingen, die subjektiv als langweilig empfunden werden oder die einem die Grausamkeiten und Ohnmacht von Geschehnissen, wie historischen oder aktuellen Gewalttaten, vor Augen führen. 3 Den HerausgeberInnen des Handbuchs Kompetenzorientierten Unterrichts zufolge zielt der Erwerb von Kompetenzen darauf ab, „den Aufbau von nachhaltigem Wissen sowie nachhaltigen Fertigkeiten und Fähigkeiten zu fördern, die in der Lebenswelt flexibel genutzt werden können.“ (Paechter/Stock/Schmölzer-Eibinger/Slepcevic-Zach/Weirer 2012, 9) 4 Vgl. Nairz-Wirth/Meschnig/Gitschthaler 2010; SchülerInnen, die die Schule abbrechen, schildern diesen Schritt zunächst als Befreiung vom Druck der Schule und den Erwachsenen. (Nairz-Wirth/Meschnig/Gitschthaler 2010, 36) 5 Vgl. Nationaler Bildungsbericht 2012, insbes. 130 – 157 6 Die Gewohnheit, dass Kindern und Jugendlichen bei Schmerzzuständen oder psychischen Problemen Medikamente verabreicht werden, bzw. sie diese selbst einnehmen, nimmt zu. (HBSC-Studie 2011, 51) Vor allem bei Kopf- und Bauchschmerzen wird gern zur „Kopfwehtablette“ gegriffen (vgl. Du/Knopf 2009, 606 und HBSC-Studie 2011, 52 f) 7 Wenngleich im Zuge der Moderne sich der Gesundheitszustand der Kinder und Jugendlichen kontinuierlich verbessert hat, lässt sich in den letzten Jahren eine Abbremsung bzw. Rückläufigkeit dieser Entwicklung und ein Wandel im Krankheitsspektrum ausmachen. Waren es früher vor allem Infektionskrankheiten, so sind es heute vermehrt chronische Krankheiten, wie z. B. Allergien, psychische und psychosomatische Beschwerden sowie Verhaltensauffälligkeiten (ADHS), die bei Kindern und Jugendlichen diagnostiziert werden. (HBSC-Studie 2011, 19)
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Dabei muss Abneigung gar nicht aus den persönlichen Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen resultieren, sondern kann aus ihren sozialen Kontexten mitgebracht sein, wie beispielsweise die Abneigung und Abwehr, sich mit anderen Meinungen oder bestimmten Menschengruppen auseinanderzusetzen. Abwehrformen dieser Art lassen sich aber weder aberziehen noch wegargumentieren. Widerstand entwickelt sich auch dort, wo Menschen keinen Willen zum (Weiter)lernen entwickeln können, weil sie durch demütigende Lernsituationen – von MitschülerInnen oder LehrerInnen – am Lernen behindert werden. Und Widerstand kann sich ebenso regen, wenn Inhalte, Fragen oder Geschichten existenziell an Grenzen führen, wie es beispielsweise bei biografischem, insbesondere auch religiösem Lernen zu Fragen von Sinn, Leid oder Tod der Fall sein kann.
2.
Widerständiges als Lernverweigerung oder als Lernanzeiger?
Entwickeln Kinder Widerstände, sich mit bestimmten Inhalten und Fragen auseinanderzusetzen oder bestimmte Fertigkeiten zu erlernen, wird dies oft sehr einseitig als Lernverweigerung angesehen. Widerstand als Lernverweigerung zu interpretieren heißt dann, Einzelne als lernunwillig, lernunfähig zu betrachten. Dies entspräche durchaus einer vorherrschenden Ansicht, wonach jeder kann, der will. Lenkt man die Aufmerksamkeit aber auf die Umstände, die Bedingungen und Inhalte, die den Widerstand hervorrufen, dann ließe er sich auch als besonderer Lernanzeiger verstehen, der auf ein notwendiges Lernen an Differenz verweist. Man wird entdecken, dass Inhalte überfordern, weil sie nicht altersadäquat sind oder nicht dem individuellen Lerntempo entsprechen; dass Verstehensanschlüsse nicht (mehr) gegeben sind, weil beispielsweise die verwendeten Bilder, Gegenstände der Alltagswelt von Kindern nicht entsprechen; oder dass die Auseinandersetzung mit bestimmten Themen und Problemen eine Nachdenkpause benötigt, in der man sich einer Sache nicht nur oberflächlich widmet, sondern in sie vertiefend und verweilend eintaucht. Unter dieser Perspektive lassen sich im Widerständigen besondere Lernherausforderungen und Lernchancen entdecken, die aber mit der gegenwärtigen normierenden Praxis schulischen Lernens nicht kompatibel sind. Widerstände bieten nicht nur Lernanlässe für die Lernenden, sondern gleichfalls für die Lehrenden und die Bildungsinstitutionen. An den Reaktionen von Kindern und Jugendlichen spiegeln sich gesellschaftliche Entwicklungen deutlich wider. Dass sie an manchen Punkten des Lernens und den sich darin äußernden gesellschaftlichen Ansprüchen gegenüber Ermüdungserscheinungen zeigen, mag ein Anzeichen dafür sein, dass die Leistungsgesellschaft ihren
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toten Punkt erreicht hat und sich immer stärker zu einer „Müdigkeitsgesellschaft“ (Han) hin entwickelt. Nach Han lässt sich dies an den ausgeprägten Leitkrankheiten des beginnenden 21. Jahrhunderts ablesen, die er konkret mit ADHS, Depressionen, Borderline-Persönlichkeitsstörungen oder Burn-Out benennt.8 Diese Krankheiten machen besonders vor den Schultoren nicht Halt. Die Maxime, den Menschen zu einer Leistungsmaschine zu stilisieren, die störungsfrei zu funktionieren und ihre Leistung zu maximieren hat, bewirkt exzessive Müdigkeit und Erschöpfung.9 „Diese psychischen Zustände sind gerade für eine Welt charakteristisch, die arm an Negativität ist und die dafür von einem Übermaß an Positivität beherrscht ist. (…) Der Exzess der Leistungssteigerung führt zum Infarkt der Seele.“10
Diese Form der Müdigkeit als Erschöpfungsmüdigkeit macht unfähig, etwas zu tun. Sie ist eine Müdigkeit der positiven Potenz, weil sie an etwas gebunden bleibt. Als solche ist sie eine Alleinmüdigkeit, die vereinzelnd und isolierend wirkt. „Die Müdigkeit, die inspiriert, ist eine Müdigkeit der negativen Potenz, nämlich des nicht-zu.“11 Sie beinhaltet die Möglichkeit, Nein zu sagen. Es ist eine heilende Müdigkeit, die dem sich selbst ausbeutenden Leistungssubjekt12 un8 Han 82013 9 Han 82013, 56 f 10 Han 82013, 57; Unter Positivität versteht Han ein entgrenztes Können (vgl. das sprichwörtlich gewordene „Yes, we can“), das das Sollen der Disziplinargesellschaft ablöst. Nicht mehr Verbot und Gebot dominieren, sondern Projekt, Initiative und Motivation. Die Positivität des Könnens wird als effizienter erachtet als die Negativität des Sollens. So erweist sich das Leistungssubjekt auch als produktiver als das Gehorsamssubjekt. Das Sollen verschwindet jedoch nicht, sondern wird in die Disziplin des Leistungssubjekts verlegt. Somit besteht zwischen Sollen und Können kein Bruch, sondern Kontinuität (Han 82013, 20 f). Eine zunehmende Positivisierung der Gesellschaft führt nach Han dazu, dass (Negativ)Gefühle wie Angst und Trauer, die auf einer Negativität beruhen, geschwächt werden. Eine gänzliche Abwesenheit von Negativität birgt die Gefahr, dass sich das Denken in ein Rechnen verwandelt. „Der Computer rechnet womöglich deshalb schneller als das menschliche Gehirn und nimmt ohne jede Abstoßung Unmengen von Daten auf, weil er frei von jeder Andersheit ist. Er ist eine Positivmaschine. Gerade wegen seines autistischen Selbstbezugs, wegen der fehlenden Negativität bringt der idiot savant jene Leistungen hervor, zu denen nur eine Rechenmaschine fähig wäre. Im Zuge jener allgemeinen Positivierung der Welt verwandeln sich sowohl der Mensch als auch die Gesellschaft in eine autistische Leistungsmaschine.“ (Han 82013, 45) 11 Han 82013, 62 12 Han verortet im Leistungssubjekt den Zusammenfall von Freiheit und Zwang. „Das Leistungssubjekt ist frei von äußerer Herrschaftsinstanz, die es zur Arbeit zwingen oder gar ausbeuten würde. Es ist Herr und Souverän seiner selbst. So ist es niemandem bzw. nur sich selbst unterworfen. Darin unterscheidet es sich vom Gehorsamssubjekt. Der Wegfall der Herrschaftsinstanz führt nicht zur Freiheit. Er lässt vielmehr Freiheit und Zwang zusammenfallen. So überlässt sich das Leistungssubjekt der zwingenden Freiheit oder dem freien Zwang zur Maximierung der Leistung. Der Exzess der Arbeit und Leistung verschärft sich zu einer Selbstausbeutung, denn sie geht mit dem Gefühl der Freiheit einher. Der Ausbeutende
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tätige Ruhe und Langeweile abzwingt. Diese Müdigkeit der negativen Potenz ist kein Zustand, in dem alle Sinne ermatten würden, sondern die zu einer besonderen Gelassenheit, einem gelassenen Nicht-Tun befähigen; eine Müdigkeit, die berührt und berühren lässt und das Ich auf die Welt hin wieder durchlässig macht. Sie macht ein Verweilen erst möglich.13 In dieser Perspektive einer heilsamen Müdigkeit gilt es, Widerstand weder als Verweigerungshaltung allein in der Verantwortung des Lernenden zu sehen noch ihn vorschnell beseitigen zu sollen, sondern mit ihm zu denken und zu arbeiten. Widerstand zeigt an, dass etwas nicht verstanden wird, dass etwas nicht in Ordnung ist oder dass die Leistungserwartungen überfordernd sind. Er kann vor allem den Lehrenden wie den Bildungsinstitutionen zu lernen geben. Weniger dadurch, dass hektisch nach immer neuen Angeboten und Techniken gesucht wird, sondern dass dem Zögern, Unterbrechen, Verweigern, Verlangsamen, Trödeln eine eigene Dignität zuerkannt wird.14 In einer leistungsorientierten Gesellschaft mutet dies zunächst irritierend an. Besinnt man sich aber auf einen Wesenszug von Schule, der sich mit Muße charakterisieren lässt, dann erhält diese Überlegung durchaus rettend-bewahrenden Charakter in Bezug auf schulisches Lernen. Religiösem Lernen kommt dabei eine besondere Rolle zu.15 Dem Nachdenken über Gott und Welt entspricht weniger ein produktorientiertes Vorgehen als ein langsames Sehen und versenkendes Lauschen. Eine Antwort auf die Frage nach Gott lässt sich nicht befriedigend „googlen“, sie lässt sich auch schwer in Referatsform abhandeln. Der Frage kann man sich stellen oder nicht. In sie kann man sich nur nachdenkend versenken oder sie erlangt keine Bedeutung.16 In sie kann man sich existenziell verlieren, aber nicht um sich
13 14 15
16
ist gleichzeitig der Ausgebeutete. Täter und Opfer sind nicht mehr unterscheidbar.“ (Han 8 2013, 24; vgl. auch 37 f) Han 82013, 58 f Vgl. dazu die Reflexionen von Käte Meyer-Drawe zum hochtourigen Lerner insbes. MeyerDrawe 2008, 131 – 136 Hans Analysen seiner Müdigkeitsgesellschaft sind durchwachsen mit Hinweisen auf Religion (en). So ist für ihn auch der Sabbat der „Tag des nicht-zu, ein Tag, der befreit ist von jedem um-zu, um mit Heidegger zu sprechen, von jeder Sorge. Es handelt sich um eine Zwischenzeit. Nach seiner Schöpfung erklärte Gott den siebten Tag für heilig. Heilig ist also nicht der Tag des um-zu, sondern der Tag des nicht-zu, ein Tag, an dem der Gebrauch des Unbrauchbaren möglich wäre. Es ist der Tag der Müdigkeit. Die Zwischenzeit ist eine Zeit ohne Arbeit, eine Spielzeit (…)“ Han 82013, 62 Dieses Ansinnen des nachdenkenden Versenkens in die Gottesfrage lässt sich didaktisch gut mit dem Ansatz des Philosophierens und Theologisierens mit Kindern und Jugendlichen verfolgen. Hier wird konzeptionell zu fassen versucht, dass wesentlich die Fragen in die Tiefe führen und nicht die vorgefertigten Antworten und dass Argumentieren nicht das Erheben über andere zum Ziel hat, sondern das Ergründen einer Sache unter Einbeziehung möglichst unterschiedlicher Perspektiven. (exemplarisch sei hier verwiesen auf Freudenberger-Lötz 2007; Freudenberger-Lötz 2012; Schlag/Schweitzer/Bucher sowie die Jahrbücher für Kindertheologie)
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solipsistisch wiederzufinden17 oder zu vereinsamen, sondern um dem fremden Anderen, der auch der ganz Andere sein kann, zu begegnen. Verweilendes, vertiefendes Lernen durchbricht Anpassung und Einpassung, weil sich mit einem klaren Ergebnis oder einem messbaren Lernfortschritt nicht rechnen lässt. Widerstand in seinen unterschiedlichen aktiven bis passiven Formen kann somit zu einem besonderen Lernanzeiger werden, der um seiner prophetischen Kraft willen – auch wenn er im Falle ausgrenzenden Verhaltens bedrohliche Züge enthalten kann – weder gebrochen, noch vorschnell domestizierend-integrierend aufgelöst werden darf. Widerstand unterbricht zunächst: Routinen, Planungen, angestrebte Ziele, erwartetes Verhalten, gewohnte Denkmuster etc. und verweist auf die Notwendigkeit des Nachdenkens über die Sinnhaftigkeit von Zielen und Plänen, über die Empfindungen und Beziehungen sowie über die Bedürfnisse der Lernenden.
3.
Widerstand und Anerkennungsdiskurs
Schulisches Lernen, das als kumulatives, fortschreitendes Lernen konzipiert ist, fügt sich gut in ein kompetitives Leistungsdenken ein. Nachdenken wird dann leicht als Störung identifiziert, weil es verzögert und damit Zeitpläne durcheinander bringt und angezielte Stoffmengen gefährdet. Wenn Martin Jäggle von einer „Anerkennung vor jeder Leistung“18 spricht, dann kommt damit eine Haltung zum Vorschein, die Kinder und Jugendliche zunächst in ihrem So-Sein wahrnehmen und nicht nach dem Geleisteten beurteilen möchte. Im Anschluss an Charles Taylors „Kultur der Anerkennung“ sowie mit Rekurs auf den Anerkennungsdiskurs Axel Honneths wird Anerkennung nicht nur als pädagogische Haltung, sondern auch als Systemqualität vorgestellt. Dass der Anerkennungsdiskurs im Kontext der Religionspädagogik geführt 17 So sieht auch Rudolf Englert jene individualisierenden, funktionalisierenden Sichtweisen von Bildung als kritisch an, die sich durch eine immer stärker werdende Berufsbezogenheit und Marktorientierung von einer inhaltlich gehaltvollen Zielsetzung verabschiedet haben und nach der Maxime handeln: „Jede/r lebt in seiner eigenen Welt, jede/r macht sich sein eigenes Bild von der Wirklichkeit, jede/r lernt nur, was ihr/ihm für den Umgang mit ihrer/ seiner Welt nützlich erscheint (…)“ (Englert 2007, 178) Demgegenüber macht er den Gedanken von Bildung stark, die in der Fähigkeit besteht, „etwas, das funktioniert (,What works‘), gleichwohl höchst fragwürdig finden und auf die systemischen Voraussetzungen seiner Funktionalität befragen zu können. Mag sein, dass jemand, der in dieser Weise nach dem Sinn und der Berechtigung ihm vorgegebener Zwecke zu fragen gelernt hat, tatsächlich etwas ,komplizierter‘ erscheint als andere, die einfach dem Gesichtspunkt der Viabilität folgen und genau so modernitäts-, markt- und individualitätsgläubig sind, wie dies heute vielfach von ihnen erwartet wird. Aber in diesem Sinne ist Kompliziertheit ein Kennzeichen von Bildung.“ (Englert 2007, 179) 18 Jäggle 3/2008, 4 f
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wird, verdankt sich wesentlich auch den Impulsen von Martin Jäggle.19 Diese Impulse weiterführend, soll hier das Augenmerk vor allem auf das Widerständige gelenkt werden. Überblickt man die in den letzten Jahren intensiviert geführten pädagogischen Anerkennungsdiskurse, so fällt auf, dass der Begriff der Anerkennung vorrangig mit Wertschätzung konnotiert wird. Im pädagogischen Mainstream ist Anerkennung dadurch als normativ aufgeladenes Konzept verortet. Dies birgt in der Praxis die Gefahr, dass Denk- und Handlungsweisen, die nicht als wertschätzend gelten, ausgegrenzt und übersehen werden. Wenn Widerstände gegenüber dem normativen Konzept von Anerkennung nicht zugelassen werden, dann drängen sich auch Fragen auf: Blendet die Einengung auf positive, respektvolle Handlungen nicht „die Möglichkeit einer Verkennung des Anerkannten in der – noch so positiv gemeinten – Anerkennung selbst“20 aus? Braucht es nicht zunächst auch skeptischen Widerstand, um nicht ungewollt falschen Annahmen zu erliegen? Anerkennung beschreibt ein intersubjektives Geschehen, das sich dadurch konstituiert, dass A jemand oder etwas (B) als jemand oder etwas (C) (an)erkennt. Dies impliziert aber, dass B sich der Anerkennung durch A unterwirft und dass in der Anerkennung als C möglicherweise asymmetrische Zuschreibungen auf bestimmte Rollen, Funktionen, Eigenschaften erfolgen, die in identitäre Festschreibungen münden können. Beispielsweise kann die Anerkennung als muslimisches Mädchen andere Rollen und Selbstdefinitionen als Sportlerin, Musikerin, Klassenkameradin, Freundin in den Hintergrund treten lassen. Die Verschränkung von islamischer Religion mit Geschlecht – die durchaus wertschätzend gemeint sein kann – erhält aufgrund der gesellschaftlich vorhandenen Diskurse zu Islam und Frau als exotisch, bedrohlich, rückständig, nicht einschätzbar, etc. eine Dominanz, die sich sowohl der Bestimmung der Anerkannten als auch der Anerkennenden entziehen können. So kann nicht nur das Verwehren von Anerkennung, sondern auch das Gewähren von Anerkennung Schaden zufügen, weil „Anerkennung selbst immer auch das herstellt und einsetzt, was sie anerkennt, und insofern den anderen oder die andere allererst auch dazu macht, als wen sie ihn oder sie anerkennt.“21 Im Hinblick auf die pädagogische Praxis drängen sich 19 Vgl. Jäggle/Krobath/Schelander 2009 und Jäggle/Krobath/Stockinger/Schelander 2013 20 Balzer/Ricken 2010, 53 21 Balzer/Ricken 2010, 60; vgl. auch Castro Varela/Mecheril 2010, 97ff „Eine pädagogische Anerkennungspraxis, die sich affirmativ auf den Subjektstatus der Individuen einer postkolonialen Migrationsgesellschaft bezieht, bezieht sich indirekt auch immer affirmativ auf die in dieser Gesellschaft geltenden formellen und informellen Machtverhältnisse, die diese Identitäten hervorbringen. Pädagogisches Handeln, das ,Migrant/innen‘ als ,Migrant/innen‘ anerkennt und die Bedingungen der Möglichkeit der Produktion der Anderen nicht beleuchtet, bestätigt insofern nolens volens das Schema, das zwischen ,Migrant/innen‘ und ,Nicht-Migrant/innen‘ und ,Fremden‘ und ,Nicht-Fremden‘ unterscheidet. Die Paradoxie, die hier anklingt, besteht darin, dass Handlungsmacht und -vermögen an Anerkennungs-
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folgende Fragen auf, die es lohnt, in Zukunft noch eingehender in den Fokus zu nehmen: Wie kann mit einer Pädagogik der Anerkennung oder dem Etablieren einer „Kultur der Anerkennung“ gewährleistet werden, dass Anerkennung nicht zur Festschreibung mutiert, dass anerkennende Zuschreibungen auch abgelehnt werden können und dass die Mechanismen von Macht und Unterwerfung22 nicht übersehen werden?
4.
Anerkennung als Balance von Widersprüchen
Dabei gilt es wohl zu beachten, dass dem pädagogischen Handeln unter den gegebenen institutionellen Rahmenbedingungen „Widersprüche konstitutiv eingeschrieben sind“, die auch daraus resultieren, „dass pädagogisches Handeln ein Entwicklung zugleich ermöglichendes und regulierendes, ein zugleich bestätigendes und negierendes, ein zugleich belohnendes und sanktionierendes Handeln, ein Handeln nicht nur für und mit anderen, sondern auch gegen andere ist.“23
Damit ist ein Aspekt pädagogischen Handelns angesprochen, der überlegen lässt, ob der pädagogische, sehr stark moralisch geprägte, Diskurs zu Anerkennung nicht dahingehend zu verändern ist, stärker deskriptiv-analysierend die unterschiedlichen Phänomenbereiche von Anerkennung einzuholen, um erkennen zu können, wie Anerkennung konstituiert wird. Dazu bedarf es einer Weitung des vielfach nur affirmativ anzutreffenden Verständnisses von Anerkennung. Anerkennung kommt dann nicht nur im Sinne von Wertschätzung oder als fehlende Anerkennung in den Blick, sondern umfasst ebenso Phänomenbereiche, wie Missbilligung, Entwertung, Gleichgültigkeit und Unsichtbarkeit.24 In einer erweiterten Verstehensperspektive muss in Schulen nicht erst eine „Kultur der Anerkennung“ implementiert werden, sondern sie ist als immer schon vorhandene zu verstehen. Zu fragen ist dann nach den konkreten Praktiken der Anerkennung, die Auskunft geben über die Formen des Zusammenlebens, des Lernens, der Selbstwahrnehmung und der Wahrnehmung Anderer, verhältnisse geknüpft ist, Anerkennung aber den inferioren Status der Anderen bestätigt. Sobald der und die Migrationsandere erkannt und geachtet wird, findet eine Festschreibung der Anderen als Andere statt, während gleichzeitig Machtverhältnisse unbeleuchtet bleiben.“ (Castro Varela/Mecheril 2010, 101) 22 Vgl. dazu ausführlicher die weiterführenden Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit der Autoritätsfrage in Schäfer/Thompson 2009 23 Balzer/Ricken 2010, 55 24 Balzer/Ricken 2010, 74; Auch der Verachtete wird von anderen in einer bestimmten Position und Zuschreibung anerkannt.
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des befreienden, beängstigten oder auch abwehrenden, abwertenden Umgangs mit Pluralität.
5.
Eine Pädagogik des Sehens entwickeln
Diese Sichtweise aufgreifend wäre der pädagogische Fokus nicht nur auf das “richtige“ Handeln sondern zuallererst auf das Sehen zu richten. Eine Pädagogik des Sehens, wie Han sie im Anschluss an Nietzsche vorstellt, bedeutet „,dem Auge die Ruhe, die Geduld, das An-sich-herankommen-lassen angewöhnen‘, d. h. das Auge zur tiefen und kontemplativen Aufmerksamkeit, zu einem langen und langsamen Blick befähigen.“25 Während pädagogische Bemühungen im Kontext Schule zunächst Maß und Orientierung an gesellschaftlich erwünschten Verhaltensweisen, bestimmten Wertvorstellungen, politisch korrekten Umgangsformen, geforderten Handlungsnotwendigkeiten etc. nehmen, könnte eine „Pädagogik des Sehens“ diesen Prozess des Hineinsozialisierens in bestimmte Sicht- und Verhaltensweisen zumindest unterbrechen und/oder verlangsamen. Ein bewusstes Hinschauen und Sehen steht in Spannung zu einem – gerade angesichts pluraler Angebote – ständig neu geforderten Agieren und Reagieren. Sehen-lernen bedeutet dann vielmehr, zu lernen, dass nicht auf jeden Reiz sofort reagiert wird, sondern dem Reiz Widerstand geleistet wird, ihm ein Nein entgegengesetzt werden kann. „Sofort reagieren und jedem Impuls folgen sei bereits eine Krankheit, ein Niedergang, ein Symptom der Erschöpfung.“, hält Han Nietzsche zitierend fest.26 Dieses verweilende Sehen lässt sich nicht als passives Offen-sein für alles, was geschieht, verstehen. Es leistet diesen Reizen vielmehr Widerstand. „Es ist eine Illusion zu glauben, je aktiver man werde, desto freier sei man. (…) Die pure Aktivität verlängert nur das bereits Vorhandene. Eine wirkliche Wendung zum Anderen setzt die Negativität der Unterbrechung voraus.“27
Nicht sofort zu wissen, was man will, wer man ist, wer man sein will, wie der andere einzuschätzen ist, was zu tun ist – oft diagnostiziert als Orientierungslosigkeit angesichts der vielfältigen Möglichkeiten und des Zwangs zur Wahl –, dieses Zögern, dieses Sich-nicht-entscheiden-Können und -Wollen als Ausdruck bereits erschöpfter oder auch heilsamer Müdigkeit sind als bedeutsame Lernanzeiger zu identifizieren. Sie verleihen der Zeit des verlangsamenden, sich versenkenden und darin sich und andere entdecken könnenden Dazwischen 25 Han 82013, 41 26 Han 82013, 42 27 Han 82013, 42
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Bedeutsamkeit. So können Lernverweigerung aus Überforderung, das Offenhalten von Entscheidungen oder die Ignoranz gegenüber moralisch noch so gut begründbaren Zielen und Forderungen die Chance eröffnen, genauer hinzusehen und dem Sinn des Seins und Handelns auf den Grund zu gehen. Zudeckende Aktivität hingegen prolongieren Überforderung, Entscheidungsunfähigkeit oder Anerkennungsverweigerung.
6.
Verlernen und Umlernen
Unterbrechen und Verweilen lassen zudem auch deutlich werden, wo bisheriges Wissen, Verhalten und Handeln nicht mehr ausreichen und ein Verlernen oder Umlernen erforderlich werden. Der Prozess des Verlernens und Umlernens beginnt in diesem Zwischenraum, im Dazwischen von Bisherigem und Zukünftigem. Während das bisher Erlernte nicht mehr trägt und taugt, ist im Prozess des Ver- und Umlernens neue Erkenntnis noch nicht vorhanden. Verlernen und Umlernen sind dabei nicht mit Vergessen zu verwechseln. Während Vergessen als Produkt erschöpfter Müdigkeit angesehen werden kann und Verlust intendiert, lässt sich Um- und Verlernen im Bereich der heilsamen Müdigkeit ansiedeln mit der Perspektive, die Dinge anders sehen zu können und zu dürfen. Es ist dies ein zutiefst aktives Befreien von bisherigen Sicht- und Handlungsweisen und von einem angehäuften Wissen, das seinen Sinn verloren hat. Der Prozess des Um- und Verlernens steht in der Spannung des Nicht-mehr und Noch-nicht. Religiöses Lernen lässt sich hierin nicht zuletzt deswegen gut verorten, weil es in seiner Annäherung an den Unbegreifbaren und das Unfassbare in diesem Raum des Dazwischen verortet ist und bisherige Gewissheiten zutiefst erschüttert oder zumindest anfrägt. Es widersetzt sich einem schnellen An- und Dazulernen und findet im kontemplativen Versenken seinen tiefsten Ausdruck, sodass sich der Mensch in seiner Beziehung zu anderen und zu Gott/dem Göttlichen neu sehen lernt.28 Lernen in einer pluralen Welt, der Fragen der Verunsicherung, der Fremdheit und Entfremdung inhärent sind, lässt sich weniger als lineares Dazulernen, auch nicht auf moralischer Ebene charakterisieren, sondern vielmehr als Prozess des Um- und Verlernens. Nicht möglichst viel Wissen über andere Kulturen, andere Menschen, globale Prozesse, neueste Entwicklungen, korrektes Verhalten etc. gilt es anzuhäufen, sondern dem Widerständigen ist Raum zu geben, damit 28 vgl. dazu auch Bert Roebben, der religiöses Lernen im Bild des Reisens als Pilger im Unterschied zum gierig konsumierenden Touristen zu beschreiben versucht und mit Sinnentdeckung in Abgrenzung zur Sinngebung eine Perspektive heutigen Religionsunterrichts vorstellt. (Roebben 2011, 85 – 88). Vgl. auch die inspirierenden Gedanken zu Prozessor und Prozession in Hans Analysen zur Beschleunigungsgesellschaft (Han 22012, bes. 51 – 54)
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Prozesse des Um- und Verlernens angestoßen werden können. In diesem Sinne lässt sich eine Kultur der Anerkennung weit über ein moralisches Postulat hinaus als jeweilige Diskurs- und Handlungspraxis ansehen, die im Widerständigen einen Lernimpuls entdecken kann, der vor jedem Agieren zunächst ein Sehen und Verweilen erzwingt. „Die Beachtung der Widerfahrnis, des Widerstands und des Irrtums, die Korrektur wie auch die Sedierung eines neuen Erfahrungshorizonts bringen mit sich, dass das Lernen von Erfahrung(srahmen) zu Erfahrung(srahmen) führt, ohne dass intentional sichergestellt und gewährleistet werden kann, dass letzterer eine Höherentwicklung des ersteren ist.“29
Ein genaues Hinsehen und Wahrnehmen von Differenz zu Anderen, Anderem und sich selbst bewahrt vor der Illusion eines letztgültig einholbaren Wissens über die Welt und ihrer Bemächtigung. Anerkennung geschieht auch über das Verkennen des/der Anderen. Dass Dazulernen in erster Linie als Um- und Verlernen zu konzipieren ist, ist der Tatsache geschuldet, dass ein Sehen und Verweilen nicht die Reduktion von Komplexität, sondern eine Annäherung an diese zum Ziel hat. Widerstand verhindert nicht die Annäherung an die Komplexität des Lebens, sondern ist ein Lernanzeiger dafür, dass sie geschehen kann, wenn dem Widerständigen Raum gegeben wird.
Literatur Balzer, Nicole/Ricken, Norbert: Anerkennung als pädagogisches Problem – Markierungen im erziehungswissenschaftlichen Diskurs, in: Schäfer, Alfred/Thompson, Christiane (Hg.): Anerkennung. Pädagogik – Perspektiven, Paderborn 2010, 35 – 87 Bruneforth, Michael/Lassnig, Lorenz (Hg.): Nationaler Bildungsbericht Österreich 2012. Band 1. Das Schulsystem im Siegel von Daten und Indikatoren, Graz 2012 Castro Varela, Mara do Mar/Mecheril, Paul: Anerkennung als erziehungswissenschaftliche Referenz? Herrschaftskritische und identitätsskeptische Anmerkungen, in: Schäfer, Alfred/Thompson, Christiane (Hg.): Anerkennung. Pädagogik – Perspektiven, Padernborn 2010, 89 – 118 Du, Yong/Knopf, Hildtraud: Self-medication among children and adolescents in Germany : results of the National Health Survey for Children and Adolescents (KiGGS), in: British Journal of Clinical Pharmacology 2009, 599 – 608 (http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2780285/pdf/bcp0068 – 0599.pdf; Zugriff am 13. 5. 2013) Englert, Rudolf: Religionspädagogische Grundfragen. Anstöße zur Urteilsbildung, Stuttgart 2007 Freudenberger-Lötz, Petra: Theologische Gespräche mit Kindern. Untersuchungen zur 29 Göhlich 2007, 198
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Andrea Lehner-Hartmann
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Matthias Scharer
Lebendige Kommunikation als „Um und Auf“ des Schulgeschehens und differenzsensibler Bildung
Kommunikation nimmt in den gegenständlichen Aufsätzen von M. Jäggle – soweit ich sehe – keinen besonderen Platz ein. Dennoch taucht der Begriff im Zusammenhang mit zentralen Fragestellungen auf, die M. Jäggle bewegen: – „Das Um und Auf von Schulentwicklung ist (…) Kommunikation.“1 – Die „Schule des gemeinsamen Lernens an Unterschieden mündet in die Entwicklung nichtdiskriminierender Kommunikation“2. – Welche Formen der Kommunikation zwischen Schülerlnnen, LehrerInnen und Schulpartnerlnnen lassen vertrauensvolle Beziehungen entstehen?3 – Mit einem Zitat von H. G. Ziebertz fordert Jäggle schließlich: „Kommunikation [ist] als Weg der Einheitsstiftung und Wahrheitsfindung theologisch und pädagogisch zu entfalten“4. Was Jäggle/Krobath für die Schulentwicklung konstatieren, dass deren „Um und Auf“ Kommunikation sei, gilt für das Schulgeschehen insgesamt und speziell auch für eine differenzsensible Bildung, die meinem geschätzten Kollegen ein großes Anliegen ist, mit dem ich mich identifiziere. So will ich in diesem Festschriftbeitrag einige zentrale Anliegen M. Jäggles im Kontext „Lebendiger Kommunikation“ verorten. Dabei leiten mich jene Perspektiven, die ich aus dem Ansatz Lebendigen Lernens nach Ruth C. Cohn5, aus damit kompatiblen Kommunikationskonzepten und aus kommunikativ-theologischen Aspekten6 gewinne, ohne diese Konzepte im Rahmen dieses limitierten Aufsatzes entsprechend darstellen zu können. Um Qualitätskriterien für eine Kommunikation, die ein gutes (Schul-)Leben für alle Beteiligten ermöglicht und eine differenzsen1 2 3 4 5 6
Jäggle/Krobath (2010), 56 Jäggle/Krobath 2010, 58 Jäggle/Krobath 2010, 62 Jäggle, Religiöse Pluralität 2009, 272. Zitat aus: Ziebertz 1995, 91 Vgl. u. a. Schneider-Landolf/Spielmann/Zitterbarth 2009 Vgl. u. a. Scharer/Hilberath 22003. Forschungskreis Kommunikative Theologie 2007. Scharer/ Hinze/Hilberath 2010
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Matthias Scharer
sible Bildung unterstützt, herausarbeiten zu können, bedarf es zunächst einer Vergewisserung, was mit Kommunikation, speziell mit „Lebendiger Kommunikation“, gemeint bzw. nicht gemeint ist. Lebendige Kommunikation verstehe ich als Basis einer differenzsensiblen Bildung durch „nichtdiskriminierende Kommunikation“, die „vertrauensvolle Beziehungen“ entstehen lässt und pädagogisch wie auch theologisch begründbar ist.
1.
Schule und Bildung im ambivalenten spätmodernen Kommunikationskontext
Schule und Bildung vollziehen sich in unterschiedlichen Interaktionszusammenhängen7, welche im Idealfall sinnstiftendes und kompetenzförderndes8 Lernen von Kindern und Jugendlichen und eine lebensfördernde Schulkultur zum Ziel haben. Die Interaktionszusammenhänge sind miteinander vernetzt und beeinflussen sich wechselseitig. An die wichtigsten sei erinnert: – Die Interaktion zwischen LehrerInnen und SchülerInnen, die im Vordergrund schulischer Bildung steht. – Die Interaktion zwischen SchülerInnen untereinander und LehrerInnen untereinander mit ihren je spezifischen und hochdifferenzierten Dynamiken. – Die Interaktion zwischen Schulleitung und LehrerInnen sowie Schulleitung und SchülerInnen und jeweils auch umgekehrt, Verwaltungs- und Servicepersonal eingeschlossen. – Die z. T. institutionalisierte (Schulgemeinschaftsausschuss), großteils aber informelle, Interaktion der am System Schule primär Beteiligten (SchülerInnen, LehrerInnen, Schulleitung) zwischen Eltern und anderen Personen und Institutionen (z. B. Organe der Schulaufsicht), die am Schulleben sekundär beteiligt sind, und den am Schulleben primär Beteiligten. Die entscheidende Frage ist, welche Gestalt von Kommunikation in den bestehenden Interaktionsräumen des hochkomplexen Netzwerks Schule dominiert. Kommunikation ist zunächst ein „Allerweltsbegriff“9, der speziell im spät7 Der Begriff „Interaktion“ wird hier in einem offenen Sinn für alle möglichen Bezüge zwischen Menschen und Menschengruppen in Systemen, aber auch zu „Gegenständen“ innerhalb und außerhalb des Schulgeschehens verwendet. Im Unterschied dazu verstehe ich Kommunikation und speziell „lebendige“ Kommunikation als qualifizierte Interaktion, die gewissen Kriterien entspricht. 8 Die Kompetenzdebatte in der (Religions-)Pädagogik ist sehr umfangreich und kann hier nicht geführt werden. Zu meiner diesbezüglichen Positionierung verweise ich auf: Scharer, 2010 9 Vgl. Apel 2005; In diesem Artikel wird auf Botho Strauß verwiesen, der das Wort „kommunizieren“ als das Unwort des Zeitalters bezeichnet. „[Die] ganze Artenvielfalt unserer Re-
Lebendige Kommunikation als „Um und Auf“ des Schulgeschehens
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modernen Bildungskontext eng an das Verständnis der sogenannten Informations- und Wissensgesellschaft10 gekoppelt ist, sodass oft auch von einer Kommunikationsgesellschaft11 gesprochen wird. Der Begriff Kommunikationsgesellschaft bezieht sich ausschließlich auf die Informations- und Kommunikationsleistungen elektronischer Medien. Zwischenmenschliche Kommunikation, deren Gestaltung im differenzierten Netzwerk Schule noch immer eine entscheidende Rolle spielt, kommt nicht in den Blick. Dies ist umso dramatischer, als speziell das Web 2.0 und die damit eröffneten virtuellen Kommunikationswelten, die Kommunikation der „Digital Natives“, die in der Regel die Kinder und Jugendlichen sind, gegenüber den „Digital Immigrants“12, zu denen noch immer die Mehrzahl der LehrerInnen gehört, entscheidend verändert. Wenn man spätmodern auf Kommunikation setzt, dann meint man in der Regel, dass in technisch-medialer Hinsicht effektiver kommuniziert wird. In einer Wissensund Kommunikationsgesellschaft wird erwartet, dass Wissen mit Hilfe moderner technischer Medien schneller produziert und weitergegeben werden kann. Generell kann man sagen, dass die modernen Kommunikationsmedien eine schier grenzenlose Ausweitung der Kommunikationsvielfalt ermöglichen, ohne dass damit unbedingt eine Verbesserung der Kommunikationsqualität im Sinne humaner zwischenmenschlicher Verständigung oder Akzeptanz des Anderen verbunden sein muss. Neuere Forschungen zeigen allerdings, dass sich die Begungen und Absichten fallen der Ödnis und der Monotonie eines soziotechnischen Begriffs zum Opfer.“ „Kommunizieren“ versteht er daher als ein „brutales Müllschluckerwort“, das auf ein reduktionistisches Menschenbild hinweist. 10 Der Begriff der Wissensgesellschaft beherrscht die Diskussion um die Zukunft der Industriegesellschaften. Das Konzept „Wissensgesellschaft“ ist äußerst erfolgreich und hat Einzug in politische, wirtschaftliche, wissenschaftliche und massenmediale Diskurse gehalten. Neben Arbeit und Kapital gilt Wissen als die dritte Ressource der Wohlstandswertschöpfung, die im Unterschied zu den erstgenannten Ressourcen mit Hilfe der Informationstechnologien auf sich selbst angewandt und damit (scheinbar) unerschöpflich gemacht werden kann. Die Europäische Union setzt auf das Konzept der Wissensgesellschaft, die u. a. durch „Lebenslanges Lernen“ ihrer Mitglieder Wettbewerbsvorteile im globalen Markt bringen soll. Vgl. u. a. Bergsdorf, 2006; Mit der selbstverständlichen Verwendung des Begriffs Wissensgesellschaft verstärkt sich auch die Kritik daran. Vgl. u. a. Bittlingmayer/Bauer 2006; Liessmann 2011 11 Vgl. u. a. Münch 1991; Münch 1995; Die Verwendung des Kommunikationsbegriffs im Kontext der Leistungen der elektronischen Medien führt inzwischen auch zur Behandlung traditioneller Gegenstände in den Sprachwissenschaften unter dieser Perspektive. Sprachgeschichte wird zur Geschichte der Programmierung und Kodierung von Informationen; Kulturgeschichte wird zur Geschichte der Veränderung kommunikativer Systeme durch die Nutzung neuer Speicher- und Kodiersysteme. Bill Gates bietet die Weiterentwicklung der Informationstechnik als Dienst an einer humanen Gesellschaft an: Gates 1995; Auch im Hinblick auf die scheinbare Selbstverständlichkeit der Kommunikationsgesellschaft gibt es inzwischen überraschende kritische Auseinandersetzungen: Klenk/Pross 1998; Schnider 2001 12 Von „Digital Natives und Immigrants“ spricht u. a. H. Moser in: Moser 2008, 44
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fürchtungen der 90iger Jahre, Kinder und Jugendliche würden ausschließlich in virtuelle Räume flüchten, um den Alltagskonflikten zu entgehen, nicht bewahrheitet haben. In der Regel greifen virtuelle und reale Kommunikationsräume immer selbstverständlicher ineinander. Dennoch kann selbst die Forderung nach dem Erwerb sozialer Kompetenzen zum Bumerang werden, wenn „sich verständlicher mitteilen und besser zuhören“ nur mehr unter dem werbewirksamen Schlagwort „effektiv kommunizieren“13 verkauft wird. Kommunikation wird zur Bildungssoftware, die am Markt der scheinbar unbegrenzten Güter immer teurer eingekauft und verkauft wird. Dass gelingende Kommunikation nicht einfach herstellbar ist, so hilfreich zu ihrer Unterstützung auch geeignete Lernprozesse und Medien sein mögen, gerät immer mehr aus dem Blick. Der Kontext totaler Kommunikation etwa im Sinne der EU-Parole vom „Lebenslangen Lernen“ kann totalitäre Züge annehmen, wenn das Nichtmachbare und Geschenkhafte, das jeglicher menschlichen Kommunikation eingeschrieben ist, völlig aus dem Bewusstsein gerät und das Machbare und Herstellbare das alleinige Daseinsrecht gewinnt.
2.
Lebendige Kommunikation im spätmodernen, globalisierten Kommunikationskontext
Menschliche Kommunikation fällt nicht vom Himmel. Ihr Verständnis und ihre Praxis sind auch nicht einfach aus der biblischen Offenbarung und kirchlichen Tradition oder aus anderen religiösen Traditionen ableitbar. Was wir unter Kommunikation verstehen und wie wir sie jeweils gestalten, muss immer wieder neu reflektiert und ausgehandelt werden. Dazu ist eine kritische Auseinandersetzung mit gängigen Kommunikationskonzepten unumgänglich. Eine Kommunikationskonzeption, die einerseits gedankliche und begriffliche Klarheit schafft und andererseits eine Art Handlungsentwurf für eine performative Kommunikationspraxis ausweist, zeigt sich nach F. W. Kron als „symbolisch repräsentierter Zusammenhang“14. H. Reiser folgend stellt das Konzept der Themenzentrierten Interaktion Ruth C. Cohns einen solchen symbolisch repräsentierten Zusammenhang dar : Das TZI-Konzept inkludiert eine „langfristige, übergreifende, gedankliche Zusammenfassung und Handlungsorientierung (…) Das Selbstverständnis und die Selbstdarstellung von TZI ist von großer Offenheit für philosophische, sozial- und humanwissenschaftliche Theorien geprägt“15. Mit der Rezeption von TZI kreieren wir ein spezifisches 13 Shipside 2009 14 Kron 1999, 78 15 Reiser 2009, 210
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Konzept kommunikativen Handelns, das auf Selbstverantwortung, Freiheit, wechselseitige Verständigung und Anerkennung und eine entsprechende Konflikt- und Friedenskultur, mit der Intention „Lebendigen Lernens“ zwischen unterschiedlichen Menschen und Menschengruppen16, ausgerichtet ist. Analog zur Unterscheidung von „lebendigem“ und „totem“ Lernen können wir auch von einer „lebendigen“, auf das gute Leben für alle ausgerichteten, und einer „toten“ Kommunikation sprechen, wenn das vieldimensionale und vielsinnige Interaktionsgeschehen lebendiger Kommunikation auf die Eindimensionalität und Einsinnigkeit – technisch perfektionierter – Informationsübertragung reduziert wird. Dass dabei ein entscheidendes Kriterium Lebendiger Kommunikation verloren geht, zeigt ein Ansatz, der m.A. dem Denken M. Jäggles und seiner Rezeption der Anerkennungsphilosophie von Ch. Taylor17 sehr nahe kommt.
3.
Anerkennen und Erkennen als Kriterien Lebendiger Kommunikation (Paul Ricœur)18
Es geht um die posthum unter dem Titel „Wege der Anerkennung“19 erschienenen Reflexionen von Paul Ricœur. Der französische Philosoph, den wir als einen „kommunikativen Universalgelehrten“ bezeichnen können, unternimmt einen Dreischritt, der im Untertitel „Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein“ zum Ausdruck kommt. Aus einer breiten philosophischen Auseinandersetzung heraus erkennt Ricœur, dass das französische Wort „reconnatre“ eine konsequente innere Entwicklung aufdeckt, „die vom aktivischen zum passivischen Gebrauch führt“20. Erkennen als Akt drückt den Anspruch aus, das Feld der Bedeutungen intellektuell zu beherrschen. Die Bitte um Anerkennung, am anderen Ende der Bedeutungen, „drückt eine Erwartung aus, die nur als wechselseitige Anerkennung befriedigt werden kann, ob diese nun ein unerreichbarer Traum bleibt oder Verfahren und Institutionen fordert, die die Anerkennung auf die politische Ebene heben.“ Letztlich geht es auf allen drei Ebenen um unsere Identität, und auf der dritten erreicht die Frage der Identität
16 Die ersten TZI-Workshops leitete R. Cohn an den Stadträndern von New York in der Situation aggressiver Apartheit mit schwarzen und weißen Eltern und LehrerInnen. 17 Jäggle, Pluralitätsfähiger Umgang, 2009, 69 – 70 18 Der folgende Text ist großteils dem neuen Grundlagenband Kommunikative Theologie entnommen: Hilberath/Scharer 2012. für diesen Abschnitt hat J. Hilberath den Entwurf erstellt. 19 Ricœur 2006 20 Ricœur 2006, 39
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eine Art Höhepunkt: „was nach Anerkannt werden verlangt, ist doch unsere ureigenste Identität, die, die uns zu dem macht, was wir sind.“21 Auf diesem Hintergrund beschreibt Ricœur folgende Schwerpunktverlagerung in der Geschichte der europäischen Erkenntnismetaphysik: Zunächst dominiert die Subjekt-Objekt-Beziehung (Ich-Es); (an)erkennen heißt, etwas als etwas identifizieren, z. B. „das ist ein Buch“. Die Frage, woher das erkennende Subjekt die Kriterien von Wahrheit und Gewissheit hat, führte in einem zweiten Stadium zur Hinwendung zum Subjekt. Dafür steht der mit Descartes in Verbindung gebrachte berühmte Satz „Ich denke, also bin ich“. Nicht nur in erkenntnistheoretischer, sondern auch in ethischer Hinsicht ist das Subjekt auf sich selbst zurückgeworfen – in eine Verantwortung hinein, die es letztlich, wie die Geschichte des neuzeitlichen Subjektes zeigt, nicht zu tragen vermag. Für Ricœur ist entscheidend, dass sich die Verhältnisse radikal ändern, wenn das mir begegnende Andere, ein Anderer, nicht mehr ein Objekt, sondern ein Subjekt ist. Ricœur folgt allerdings nicht der Levinasschen Umkehrung der Asymmetrie, in der nun der Andere dominiert. Er plädiert vielmehr für eine gegenseitige Anerkennung. In diesem Sinn kann Ricœur den Weg vom einen zum anderen Ende der Bahn als „Kette“ mit folgenden Gliedern beschreiben: annehmen – für wahr halten – einräumen – gestehen – verpflichtet sein – danken. Die Zuordnung zu den drei Schritten lässt sich in folgender Weise vornehmen: – annehmen, für wahr halten: das ist das Stadium des Erkennens als Identifizieren eines Objekts; – einräumen, gestehen: das ist die Epoche des ethisch verantwortlichen und seiner Schuld bewussten Subjekts, des Ich; – dem Anderen verpflichtet sein und danken: als Folge der wechselseitigen Anerkennung. Hinsichtlich der Reichweite der Kommunikation zeigt sich im Anschluss an Ricœur, der seine Abhandlung bewusst nicht mit „Theorie der Anerkennung“, sondern mit „Wege der Anerkennung“ überschreibt: Eine – auch theologisch relevante – Philosophie der Erkenntnis muss die Bedeutung der Veränderung berücksichtigen, und zwar einer Veränderung, die Missverstehen und Nichtverstehen zur Folge haben kann. „Wahrheitsgewissheit“ ist weder vom (transzendentalen) Subjekt her noch vom Wir her zu erreichen. Sie wird sich nur fragmentarisch, vorübergehend als geschenkte „einstellen“. An die Stelle von Gewissheit tritt Verlässlichkeit, die – selbst da nicht ohne Zweifel und Verzweiflung – allein in der Gottesbeziehung, das heißt: in Gottes Beziehung zu uns,
21 Ricœur 2006, 42
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gegeben sein kann. Im Verhältnis zur Verlässlichkeit der Anerkennung ist die Gewissheit der Erkennung, ja auch der Selbsterkennung, sekundär. Von daher wird verständlich, dass Ricœur Versprechen und Verzeihen als entscheidende Kommunikationsvollzüge ansieht. Versprechen und Verzeihen sind Sprechakte und kommunikative Handlungsvollzüge zugleich. Weil das Ich versprechen kann, gibt es eine Identität über den momentanen Zeitpunkt hinaus. Weil das Ich nicht immer seine Versprechen auch einlöst, bedarf es des Verzeihens. Das gilt für die Ich-Du-Beziehung ebenso wie für das größere Wir. „Schließlich wären noch die Versprechen, deren Urheber ich bin, in den Umkreis der Versprechen zu stellen, deren Nutznießer ich war und noch bin. Das sind nicht nur die gemeinschaftsstiftenden Versprechen, deren Paradigma die Verheißung an Abraham ist, sondern auch jene Reihe von Versprechen, in die ganze Kulturen und bestimmte Epochen ihre Bestrebungen und Träume projiziert haben, Versprechen übrigens, von denen viele nicht gehalten wurden. Auch diese setze ich fort und stehe in ihrer Schuld.“22
Die These, auf die Ricœur zusteuert, beschreibt er selbst vorausblickend so: „Bei der Rekonstruktion des Themas Anerkennung (…) wird mich also die Idee leiten, dass Hegel auf Hobbes’ Herausforderung antwortet und dass das Verlangen nach Anerkennung bei ihm den Platz einnimmt, den in Hobbes’ Auffassung vom Naturzustand die Furcht vor dem gewaltsamen Tod innehat (…). Diese Versuche werden so weit getrieben, dass schließlich die Idee des Kampfes [um Anerkennung] selbst in Zweifel steht, und das wird mir Gelegenheit geben, die Hypothese zu entwickeln, dass sich der Kampf um Anerkennung im unglücklichen Bewusstsein verlöre, wenn es den Menschen nicht gegeben wäre, im Zeremoniell der gegenseitigen Gabe tatsächlich eine wenn auch symbolische Erfahrung wechselseitiger Anerkennung zu machen.“23
Das geschieht, wo gegeben wird, ohne auf eine Gegengabe zu schielen. Die Gegenseitigkeit der Anerkennung ist also nicht die Wechselseitigkeit im Bereich von Wirtschaft (Warentausch) oder Rechtsprechung („Aug’ um Auge“). Sie wird vielmehr in einem kommunikativen Akt eigener Art vollzogen, ihr sprachlicher Ausdruck ist weder gesetzhaft noch begrifflich, sondern metaphorisch, der zentrale Sprechakt ist der des Dankens.
22 Ricœur 2006, 173 23 Ricœur 2006, 196
184
4.
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Differenzierte und dynamische Interrelation der Kommunikationsfaktoren bzw. -dimensionen
Wenn wir nun zu jenem Kommunikationskonzept zurückkehren, das für Lebendiges Kommunizieren Pate steht, dann fällt auf: Für Lebendige Kommunikation nach dem TZI-Ansatz gilt, dass die wesentlichen Faktoren, welche Kommunikation ausmachen24, in einer differenzierten und dynamischen Interrelation zueinander stehen und sich nur theoretisch voneinander trennen lassen. Mit P. Ricœur wird aber auch R. Cohns Warnung plausibel, dass die rein technische Verknüpfung der TZI-Faktoren, ohne die Haltung der in den TZIAxiomen und Postulaten ausgedrückten Anthropologie und Ethik, „zu einem Zündholz im Heuschober“ werden könnte. Demnach geht es nicht in erster Linie darum zu verstehen, welche Faktoren Kommunikation bestimmen und wie sie funktioniert. Jede, den Habitus wechselseitiger Anerkennung negierende oder von den anthropologischen Grundannahmen abgeschnittene, Kommunikationstechnik führt in die Falle tödlicher Kommunikation. Nur zu wissen, wer (Subjekt), mit wem (partikulares Wir), was (sogenanntes Es), in welchem Kontext (Globe), mit welchen Medien und durch welche Modi (Themen, Strukturen) kommuniziert, wie das pragmatische Kommunikationstheorien nahelegen, ist zu wenig. Wer im Kommunizieren mit (fremden und in gewisser Hinsicht immer fremd bleibenden) Anderen sich nicht bewusst ist, dass jeder Mensch als autonomes und gleichzeitig bezogenes Subjekt gleich wichtig und wertvoll ist und Verantwortung im Rahmen begrenzter Freiheit, die ausweitbar ist, übernehmen kann, begnügt sich mit einer Kommunikationsgestalt, die dem Anspruch nicht gerecht werden würde, das „Um und Auf“ von Schule und differenzsensibler Bildung zu sein. In generativen Themen als Grundgestalt menschlicher Kommunikation zentrieren sich die genannten Faktoren, Grundannahmen und Haltungen; sie werden symbolisiert bzw. versprachlicht. Themen stellen den spezifischen Fokus eines menschlichen Kommunikationsgeschehens dar, das sinnstiftend und bedeutsam ist. Das (formulierte) Thema als Fokus der Interaktion/Kommunikation spielt in der TZI-Kommunikation eine entscheidende Rolle. Es steht in der Mitte und zentriert die anderen Elemente. Die folgende Skizze macht die Zusammenhänge deutlich.
24 Diese beschreibt modellhaft: Breuer 1974, 35. zit. und rezipiert in: Arens 2007, 61
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5.
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Der offene Horizont
Es war bereits mehrmals davon die Rede, dass Kommunikation, die auf gutes Leben für alle (in der Schule) ausgerichtet ist, nicht einfach technisch oder didaktisch-methodisch herstellbar ist. Am ehesten spüren Menschen – auch nicht religiöse – in der Liebeskommunikation, als einer der dichtesten Kommunikationsweisen, weil der Mensch sozusagen mit Leib und Seele einbezogen ist, dass es in der Kommunikation um „mehr als alles“ geht: Mehr als das, was Menschen durch Können und Wollen verfügbar ist. Das ist übrigens eine Grundeinsicht, die in einer pluralen religiösen Situation, wie wir sie heute in der Regel an Schulen vorfinden und wie sie M. Jäggle immer wieder beschreibt, als gemeinsame Erfahrung über die Religionen und Weltanschauungen hinweg, thematisiert werden kann. Kommunikation öffnet also, wenn sie nicht in tödlicher Einlinigkeit der Informationsweitergabe verkommt, sondern lebendig, vielsinnig und Sinn stiftend ist, einen offenen Horizont auf das bzw. den hin, der – nach christlicher Auffassung als trinitarischer Gott – in sich Beziehung/lebendige Kommunikation ist und sich in einer solchen, in Menschengestalt, mitteilt.
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Literatur Apel, Friedmar : Der kodierte Mensch. Das Unwort des Zeitalters, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. 2. 2005, Nr. 33, N2 Arens, Edmund: Gottesverständigung. Eine kommunikative Religionstheologie, Freiburg im Breisgau 2007 Bergsdorf, Wolfgang: Herausforderungen der Wissensgesellschaft. Themen & Kontroversen, München 2006 Bittlingmayer, Uwe H./Bauer, Ullrich (Hg.): Die „Wissensgesellschaft“. Mythos, Ideologie oder Realität?, Wiesbaden 12006 Breuer, Dieter (1974): Einführung in die pragmatische Texttheorie, München 1974 Forschungskreis Kommunikative Theologie: Kommunikative Theologie. Selbstvergewisserung unserer Kultur des Theologietreibens, Wien 2007 Gates, Bill (1995): Der Weg nach vorn. Die Zukunft der Informationsgesellschaft, Hamburg 31995 Hilberath, Jochen/Scharer, Matthias: Kommunikative Theologie. Grundlagen – Erfahrungen – Klärungen. (Kommunikative Theologie, Bd. 15), Ostfilden 2012 Jäggle, Martin/Krobath, Thomas: Bildung, Gerechtigkeit und Würde: Kultur der Anerkennung. In: Amt und Gemeinde 61 (1), Wien 2010, 51 – 63 Jäggle, Martin: Religiöse Pluralität als Herausforderung für die Schulentwicklung, in: Jäggle, Martin/Krobath, Thomas/Schelander, Robert (Hg.): lebens.werte.schule. Religiöse Dimensionen in Schulkultur und Schulentwicklung, Wien – Berlin 2009, 265 – 280 Jäggle, Martin: Pluralitätsfähiger Umgang mit den Anforderungen an den Religionsunterricht, in: Österreichisches Religionspädagogisches Forum 17, 2009, 54 – 57 Klenk, Dominik/Pross, Harry :(1998): „Gegenwartsverlust“ in der Kommunikationsgesellschaft. Anstösse zu einer dialogischen Ethik der (Massen)Kommunikation mit Martin Buber und zwei Gespräche mit Harry Pross, Münster 1998 Kron, Friedrich W. (1999): Wissenschaftstheorie für Pädagogen, München, Basel 1999 Liessmann, Konrad Paul: Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft, 5. Aufl. München 52011 Moser, Heinz: Einführung in die Netzdidaktik. Lehren und Lernen in der Wissensgesellschaft, Baltmannsweiler, Zürich 2008 Münch, Richard: Dialektik der Kommunikationsgesellschaft, Frankfurt am Main 1991. Münch, Richard (1995): Dynamik der Kommunikationsgesellschaft, Frankfurt am Main 11995 Reiser, Helmut (2009): TZI als professionelles pädagogisches Konzept, in: SchneiderLandolf, Mina/Spielmann, Jochen/Zitterbarth, Walter (Hg.): Handbuch Themenzentrierte Interaktion (TZI). 3 Tab, Göttingen 2009, 209 – 212 Ricœur, Paul (2006): Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, Frankfurt am Main 2006 Scharer, Matthias/Hilberath, Bernd Jochen: Kommunikative Theologie. Eine Grundlegung, Mainz 22003 Scharer, Matthias/Hinze, Bradford E./Hilberath, Bernd Jochen (Hg.): Kommunikative Theologie: Zugänge – Auseinandersetzungen – Ausdifferenzierungen / Communicative Theology : Approaches – Discussions – Differentiation. Wien u. a. 2010
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Scharer, Matthias: Wenn das Herz am Output hängt. Kommunikativ-theologische und religionsdidaktische Überlegungen zu Bildungsstandards und Kompetenzorientierung in Religion, in: Österreichisches Religionspädagogisches Forum 18, 2010, 16 – 26 Schnider, Tanja: Paradoxa in der Entwicklung der Kommunikationsgesellschaft. Warum durch qualitative Defizite von Interaktivität und Körperlichkeit in den gesellschaftlichen Kommunikationsstrukturen trotz oder gerade wegen globaler informationstechnischer Vernetzung und massenmedialer Diskurse kein kommunikativ reicheres Leben erzielt wird, Frankfurt am Main 2001 Shipside, Steve: Effektiv kommunizieren. Wie Sie sich verständlicher mitteilen und besser zuhören, Offenbach 2009 Ziebertz, Hans Georg: Religiöse Identitätsfindung durch interreligiöse Lernprozesse, in: Religionspädagogische Beiträge 36/1995, 83 – 106
Robert Schelander
Sensibilität für Pluralität. Pluralität als Herausforderung von Schule und Religionsunterricht
Im folgenden Artikel greife ich einen Gesprächsfaden auf, den Martin Jäggle immer wieder – mit unterschiedlicher Begrifflichkeit – ins Spiel gebracht hat: Sensibilität für die Pluralität von Religion(en). Mir steht dabei insbesondere sein Referat bei der Tagung des Arbeitskreises für Religionspädagogik im Mai 2011 in Innsbruck vor Augen. So manche damals vorgebrachte These begleitet mich weiterhin.1 Martin Jäggle forderte für die Religionspädagogik konsequent die Diversitätsperspektive ein. Um das Gespräch mit Martin Jäggle für LeserInnen nicht voraussetzungslos zu beginnen und in seinem Dialogcharakter nachvollziehbar zu machen, beziehe ich mich dabei auf seinen Artikel „Religiöse Pluralität als Herausforderung für Schulentwicklung“ in dem Dokumentationsband zum ersten Kongress der Initiative lebens.werte.schule, welcher ein schönes Ergebnis der fruchtbaren Zusammenarbeit – für die ich sehr dankbar bin – ist.2 Der Begriff der Pluralität hat in jüngster Zeit auch in der Religionspädagogik eine erstaunliche Karriere gemacht3. Pluralität wird als Kennzeichen gegenwärtiger Gesellschaft, als Ausdruck des didaktischen Konzeptionenpluralismus oder der Mehrperspektivität religionspädagogischer Forschungsansätze verstanden. Pluralität ist selbst vielfältig zu verstehen. In dem besagten Referat setzt Jäggle bei jungen Menschen in (religiösen) Bildungsprozessen an und kritisiert eine pädagogische Praxis, welche unter Verweis auf eine abstrakte Gleichheitsforderung tatsächliche Diversität übersieht und alle Menschen „über einen Kamm schert“. Sein Artikel zur Schulentwicklung setzt ebenfalls beim Phänomen der Pluralität und ihrer Herausforderung für die gegenwärtige Gesellschaft 1 Mit diesem Artikel erinnere ich zugleich an die vielen Gespräche und den guten Dialog im überkonfessionellen und – mittlerweile durch die Beteiligung von Vertretern der islamischen Religionspädagogik – interreligiösen Kreis. Der Dialogcharakter dieses Treffens der Arbeitsgemeinschaft kam auch in dem Koreferat von Matthias Scharer – als kongenialen Widerpart dieser Tagung – zum Ausdruck. 2 Jäggle 2009 3 Vgl. Englert/Schwab/Schweitzer 2012
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an: „Die humane Qualität einer Gesellschaft zeigt sich in ihrem Umgang mit Vielfalt.“4 Gegenüber einer harmonistisch vereinnahmenden Aufnahme des Begriffs bringt er wichtige Differenzierungen an: Pluralität hat einen individuellen und einen sozialen Aspekt und sie kann sowohl innerhalb einer sozialen Gruppe, wie beispielsweise der Kirche gefunden werden, als auch in den Außenbeziehungen eine Rolle spielen. Die Vielfalt der Religionen, aber auch die Vielfalt innerhalb einer bestimmten Religion ist hier zu berücksichtigen. Diese Vielfalt stellt das gesellschaftliche Zusammenleben vor Herausforderungen. „(Religiöse) Pluralität bedeutet nicht Idylle, sondern ist vielleicht nur dort keine Quelle von Konflikten, wo Religion gänzlich privatisiert, Religionen gesellschaftlich gleichgültig und letztlich bedeutungslos geworden wären.“5 Im Konfliktpotential von Religion liegt eine naheliegende politische Option und Versuchung: religiöse Äußerungen aus dem öffentlichen Ort zu verbannen. Eine Sicht, welche das Zusammentreffen von Religionen nur in ihrer spirituellen Dimension wahrnimmt, blendet das gegebene Konfliktpotential6 ebenso aus, wie die Frage nach den politisch-gesellschaftlichen Strukturen und damit nach den Herrschafts- und Ohnmachtsverhältnissen. Für Martin Jäggle ergibt sich daher aus der Situation der religiösen Pluralität, welche ja nicht überall in gleicher Weise und im gleichen Maße gegeben ist – sofern man sie nicht mit den vorhin genannten Strategien spiritualisiert und neutralisiert oder verschwinden lässt – eine wichtige gesellschaftliche Bildungsaufgabe. Es ist aber nicht nur die „problembehaftete“ Seite der Religion, welche sie zur Bildungsaufgabe werden lässt, Religion ist auch – hier bezieht sich Jäggle u. a. auf den Philosophen Jürgen Habermas – eine wichtige „Sinnressource“, welche im gesellschaftlichen Diskurs gehört werden sollte. Gegenüber einer laizistischen Position, welche an die negative Seite des Grundrechts auf Religionsfreiheit anschließt, betont Jäggle die Formen „positiver Religionsfreiheit“, welche im europäischen Kontext ausgebildet worden sind.
1.
Pluralität und Anerkennung
Eine zweite wichtige Ergänzung gegenüber einer leichtfertigen Rede von Pluralität bringt Martin Jäggle ein, wenn er auf Bedingungen zu sprechen kommt, unter denen Vielfalt überhaupt erst sichtbar werden kann. Pluralität ist nicht einfach da! Es braucht Voraussetzungen, damit sie wahrgenommen werden 4 Jäggle 2009, 266 5 Jäggle 2009, 267 6 „Konflikte sind notwendig und können Chancen eröffnen. Auch deswegen ist nicht primär ihre Vermeidung anzustreben, sondern primär ein angemessener Umgang mit ihnen.“ Jäggle 2009, 267
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kann. Meiner Erinnerung nach hat sich Martin Jäggle in Innsbruck stark gegen eine Grundhaltung abgegrenzt, welche sich einer abstrakten Gleichheitsforderung verdankt. Um Vielfalt wahrzunehmen, dürfen eben nicht alle Menschen über einen Kamm geschoren werden. Tatsächlich liegt die Gefahr der Gleichheitsperspektive darin, Menschen zu normieren, nur bestimmte Aspekte ihrer komplexen Person wahrzunehmen und anzuerkennen: nämlich jene Aspekte, in denen sie gleich sind. Diese Haltung entspricht andererseits einer undifferenzierten Diversitätsperspektive (alle Menschen sind verschieden), welche übersieht, dass Menschen auf unterschiedliche Weise verschieden sind. Die Gleichheitsperspektive hat ihre Berechtigung (nicht nur historisch gesehen!) und gut dialektisch gilt es, Pluralität in einem spannungsvollen Zueinander von Gleichheit und Diversität zu verstehen. In dem erwähnten Artikel geht Jäggle einen Schritt weiter und greift dazu einen Begriff auf, welcher in jüngerer Zeit auch in der Pädagogik immer wichtiger geworden ist, nämlich „Anerkennung“. Dass Pluralität wahrgenommen werden kann, so Martin Jäggle, verdanke sich einer Werthaltung: „der Kultur der gegenseitigen Anerkennung“. Meines Erachtens verdient es festgehalten zu werden, dass nicht erst die Formen des Umgangs mit Pluralität das Thema Anerkennung evozieren, sondern eine Kultur der Anerkennung schon für die Möglichkeiten der gesellschaftlichen Präsenz und (medialen) Öffentlichkeit eine entscheidende Rolle spielt. „Die Verweigerung von Öffentlichkeit ist eine nachhaltige Form der Verweigerung von Anerkennung“7. Erst die gegenseitige Anerkennung gibt Pluralität eine Chance und eröffnet das Feld des wechselseitigen miteinander Umgehens. Pluralität so verstanden ist dann nicht (nur) eine soziale Tatsache, sondern verdankt sich einem Wert: Pluralität ist nur als werthaltige Pluralität möglich8.
2.
Anerkennung und Differenz
Pluralität verdankt sich einem Differenzierungsvorgang. Um das je Besondere anzuerkennen, muss es vom Anderen unterschieden werden. Martin Jäggle hat immer wieder dazu aufgefordert, die Institution Schule im Hinblick auf solche Differenzierungsfähigkeit zu prüfen. „Eine gute Schule ist daran zu erkennen, wie sie kulturelle und religiöse Pluralität wahrnimmt.“9 Freilich fällt seine 7 Jäggle 2009, 270 8 „Zwar wird Pluralität als beliebige Vielfalt, praktizierter Relativismus oder wertlose Beliebigkeit interpretiert, doch wird dabei übersehen, dass Pluralität nur als ,werthaltige‘ Pluralität gesellschaftlich möglich erscheint, nämlich als eine ,Kultur der gegenseitigen Anerkennung‘.“ Jäggle 2009, 269 9 Jäggle 2009, 273
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Analyse des Ist-Zustandes nicht positiv aus, er ortet hier ein Defizit gegenwärtiger Schulen: „Die Schule neigt dazu, Differenz und besonders religiöse Differenz zu privatisieren, zu verdrängen oder auszublenden (…)“.10 Dieser Befund, für den auch empirische Daten vorliegen11, ruft nach erklärenden Analysen. Zum einen sehe ich hier eine grundlegende Spannung, mit welcher Schule als Institution von Anfang an konfrontiert ist: Selektion von homogenen Ausgangsvoraussetzungen (z. B. Jahrgangsklassen, Leistungsstufen, auch Konfessionalität …) und zugleich Berücksichtigung des pädagogischen Prinzips der (inneren) Differenzierung unter Ausrichtung an den individuellen Lernbedingungen. Diese Spannung ist pädagogisch auszuhalten.12 Wer differenziert, schafft damit auch Voraussetzungen für Diskriminierung. Jedoch gilt umgekehrt, wer nicht unterscheidet, diskriminiert auch. Eine formale Gleichbehandlung benachteiligt aufgrund der Besonderheit des Einzelnen. Martin Jäggle sieht dies als mögliches Handlungsmotiv für eine Zurückdrängung von Religion an Schulen: „Aus Sorge, junge Menschen könnten diskriminiert werden, vermeiden manche Lehrer/innen die Thematisierung von (religiöser) Differenz, andere wiederum sehen in der Integration von (religiöser) Differenz in den Raum der Schule eine Bedrohung des Schulfriedens.“13
Für österreichische Verhältnisse mag dazukommen, dass die Institution Schule auf Grund des schulgesetzlichen Rahmens nur wenige Möglichkeiten hat, produktiv mit diesen pluralen religiösen Voraussetzungen umzugehen. Die religiösen Aspekte der Bildungsaufgabe werden einem außerschulischen Handlungspartner, nämlich der Kirche, zugewiesen. Der Bildungsbereich Religion wird durch das Schulfach Religion, für welches rechtlich „die Kirchen und Religionsgesellschaften“ zuständig sind14, abgedeckt. Schließlich ist hier, wie schon vorhin, das pädagogisch wichtige Anliegen einer Inklusion zu nennen, welches sich in einer verkürzenden Variante bzw. mit ganzheitlichen oder holistischen Ansätzen gegen Differenzierung wendet bzw. Differenz zum Verschwinden zu bringen versucht. „Wird das Ziel verfolgt, 10 Jäggle 2009, 271 11 Jäggle, 2000 12 Martin Jäggle ist in seiner Sicht, Differenz auch als Ressource für die Schule und Chance und Bedingung für Lernerfahrungen zu sehen, als „Ermöglichungsgrund“ für Lernprozesse und nicht nur als „ein Problem, dass vielleicht zu lösen wäre“ (Jäggle 2009, 274) zuzustimmen. Freilich sind auch die positiven und berücksichtigungswürdigen Überlegungen, welche hinter den didaktischen Bemühungen um Homogenität (Alter, Entwicklung, Leistung …) stehen, anzuerkennen. Diese stehen in einer Spannung zueinander, welche nicht einseitig aufzulösen ist. 13 Jäggle 2009, 271 14 „Der Religionsunterricht wird durch die betreffende gesetzlich anerkannte Kirche oder Religionsgemeinschaft besorgt, geleitet und unmittelbar beaufsichtigt.“ Religionsunterrichtsgesetz 1949, § 2
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Differenz(en) aufzuheben, wird auch Anerkennung verweigert.“15 Der häufig verwendete pädagogische Satz: „Normal ist es, verschieden zu sein“ kann (muss aber nicht) ein solches Verständnis von Undifferenziertheit implizieren und verweist damit auf das Spannungsverhältnis von Anerkennung und Differenz, mit welchem wir es hier zu tun haben.
3.
Religionssensible Bildung
Aus dieser Situationsanalyse erwächst eine Bildungsaufgabe. Pluralität, auch religiöse Pluralität, bringt mit sich das Spannungsvolle, das Konkurrierende und Konfliktträchtige16 und nicht nur die „bunte Blumenwiese“. Die Ermöglichung und Einübung von Verständigung ist daher ein vordringliches Ziel der schulischen Bildung. Religiöse Pluralität erfordert eine Verständigungsaufgabe, an der sich Schule beteiligen muss, indem sie Schüler und Schülerinnen zu Kommunikation über religiöse (und nicht-religiöse) Haltungen ermächtigt und zu religiöser Verständigung befähigt.17 Jäggle fordert für Schulen daher einen „Ansatz von religionssensibler Bildung“. Dabei ist zuerst eine Hürde zu überwinden. In jenen europäischen Ländern, in welchen der Religionsunterricht konfessionell organisiert ist, scheint das „Problem“ der religiösen Pluralität gelöst, indem religiöse Bildung dem jeweiligen konfessionsspezifischen Religionsunterricht zugewiesen wird. Das Thema religiöse Pluralität erscheint dann als ein Thema, welches innerhalb des monokonfessionellen Religionsunterrichts zu behandeln ist. Vereinzelt wird die mangelnde religionsplurale (ökumenische, interreligiöse, religionsdialogische) Ausrichtung aktueller religionsunterrichtlicher Konzeptionen beklagt bzw. dieser religionsplurale Horizont eingefordert. Wenn die Institution Schule erkennt, dass mit dem Angebot des Schulfaches Religion die religiöse Bildungsaufgabe für sie selbst nicht erledigt ist, wird diese Verständigungsaufgabe im Hinblick auf religiöse Pluralität in ihrem vollen Umfang sichtbar. Jedoch auch der konfessionelle Religionsunterricht muss sich befragen lassen, inwieweit er zu dieser gesamtschulischen Aufgabe in ausreichendem Maße beiträgt, indem er zum Beispiel religiöse Pluralität bei seinen SchülerInnen im eigenen Unterricht wahrnimmt. 15 Jäggle 2009, 273 16 Dieser Prozess der Begegnung ist nicht „harmlos“. Religion ist ein Thema das an Tabus anrührt. Jäggle gebraucht den Vergleich mit der Sexualitätsthematik. „Die Unfähigkeit, religiöse Fragen angemessen zu bearbeiten, lässt offensichtlich manchen nur einen aggressiven oder obszönen Zugang offen.“ Jäggle 2009, 276 17 Jäggle weist immer wieder darauf hin wie hier der Schule eine Aufgabe erwächst die sie ernst nehmen muss: „Wie nimmt die Schule religiöse Pluralität wahr?“ Jäggle 2009, 274
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Übernimmt der konfessionelle Religionsunterricht (bzw. seine Akteure) die durch das Religionsunterrichtsrecht scheinbar vorgegebene Sicht, dass wir es in den jeweiligen Religionsklassen mit einer religiös homogenen Ausgangslage zu tun haben? Wieweit ist konfessioneller Religionsunterricht sensibel für plurale Religionsverhältnisse in seiner eigenen Praxis und nicht nur – ebenfalls eine wesentliche Aufgabe – im Gespräch mit anderen Konfessionen und Religionen außerhalb der Lerngruppe? Wenn (religiöse) Pluralität ein Kennzeichen der schulischen Situation ist, welche Konsequenzen hat dies für religionsdidaktische Konzepte? Paul Michael Zulehner spricht von einer „Verbuntung der Kirche“ bzw. der religiösen Landschaft auch innerhalb der eigenen Konfession. Muss nicht am Beginn jeden religiösen Lernens zuallererst die Klärung dieser religiösen Ausgangsvoraussetzungen stehen? Ja mehr noch, religiöses Lernen im Religionsunterricht sich auch in seiner Zielsetzung an dieser religiösen Gemengelage der SchülerInnen ausrichten? Damit stellt sich aber auch die Frage, wie kirchliche Bildungsinstitutionen mit religiöser Pluralität umgehen. Mit dem Stichwort „religionssensible Erziehung“ hat sich seit einigen Jahren im Bereich der katholischen Jugendpastoral ein Ansatz herausgebildet, welcher ursprünglich in der Jugendhilfe/Heimerziehung entwickelt wurde. Was tun, wenn die primär zuständige Vermittlungsinstanz religiöser Erziehung, die Familie, als Möglichkeit ausfällt? Den Institutionen und den ErzieherInnen erwächst hier eine neue Aufgabe der religiösen Erziehung, welche sowohl vom Subjekt und seinem Anspruch auf Religion als auch vom öffentlichen Bildungsauftrag her begründet wird. „Religionssensible Erziehung bezeichnet eine Pädagogik, die Achtsamkeit, Feinfühligkeit, Behutsamkeit und Respekt gegenüber dem subjektiven wie öffentlichen – Phänomen der Religion aufbringt und einfühlsam die explizite wie implizite Religion von Kindern und Jugendlichen wahrnimmt, wertschätzt, herausfordert und begleitet.“18
An diesen beiden Beispielen wird die doppelte Zielrichtung deutlich, welche mit dem Stichwort religionssensibel (besser religionensensibel) ins Spiel gebracht wird. Religionspädagogische Bildungsvorgänge müssen in Zukunft ein Sensorium dafür entwickeln, welche Vielfalt an religiösen Einstellungen und biographischen Bezügen in den Lerngruppen, aber auch bei einzelnen SchülerInnen selbst, vorhanden sind und diese konstruktiv für Lernprozesse nutzen. Andererseits sollen SchülerInnen selbst religionensensibel werden. Sie sollen die Fähigkeit entwickeln, sensibel religiöse Phänomene wahrzunehmen und sich darüber zu verständigen. 18 Lechner 2013, 1. Vgl. Lechner/Gabriel 2011
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Literatur Englert, Rudolf/Schwab, Ulrich/Schweitzer, Friedrich: Welche Religionspädagogik ist pluralitätsfähig? Strittige Punkte und weiterführende Perspektiven, Freiburg im Breisgau – Wien u. a. 2012 Jäggle, Martin: Religiöse Pluralität als Herausforderung für Schulentwicklung, in: Jäggle, Martin/Krobath, Thomas/Schelander, Robert (Hg.): lebens.werte.schule. Religiöse Dimensionen in Schulkultur und Schulentwicklung, Wien – Berlin 2009, 265 – 279 Jäggle, Martin: Wie nimmt Schule kulturelle und religiöse Differenz wahr? Grundsätzliche Vorbemerkungen und Einblick in ein Forschungsprojekt in Wien, in: Porzelt, Burkhard/Güth, Ralph (Hg.): Empirische Religionspädagogik. Grundlagen – Zugänge – Aktuelle Projekte, Münster 2000, 119 – 138 Lechner, Martin: Religionssensible Erziehung, in: jugendsozialarbeit nord 120 (März 2013) 1 – 3 Lechner, Martin/Gabriel, Angelika (Hg.): Brennpunkte. Religionssensible Erziehung in der Praxis, München 2011
Monika Prettenthaler / Wolfgang Weirer
Religiös sensibel – konfessionell gebunden – dialogfähig
1.
Worum geht es?
Im Rahmen der Vorbereitung zur neuen, standardisierten und kompetenzorientierten Reifeprüfung an AHS wurde seitens des bm:ukk eine interreligiöse und interkonfessionelle Arbeitsgruppe eingerichtet. Deren Aufgabe war es – wie auch die aller anderen Unterrichtsfächer der AHS-Oberstufe –, auf Grundlage der Handreichung für die mündliche Reifeprüfung1 einen ergänzenden Leitfaden zu erstellen, der Kompetenzen benennt, die im Fach Religion erworben werden können und exemplarische, an den bestehenden Lehrplanzielen orientierte Themen sowie Aufgabenstellungen für die mündliche Reifeprüfung enthält. In diesem Beitrag haben wir – Monika Prettenthaler als universitäre Religionsdidaktikerin in der ministeriellen Arbeitsgruppe und Wolfgang Weirer als „außenstehender“ Religionsdidaktiker – uns in ein Gespräch begeben. Das Ergebnis der Arbeit sowie der Entstehungsprozess des Leitfadens werden hier einer fachwissenschaftlichen Reflexion unterzogen, die den Fokus darauf legt, die darin verborgenen, unterschiedlichen Dimensionen einer „Kultur der Anerkennung“ sichtbar und nachvollziehbar zu machen. Der Leitfaden Religion2 benennt Kompetenzen, „die von den Schüler/innen im Religionsunterricht aller genannten gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften erworben und in der Reifeprüfung überprüft werden können. Darüber hinaus trägt der konfessionelle Religionsunterricht mit den anderen schulischen Fächern dazu bei, dass sich Schüler/innen überfachliche Kompetenzen wie z. B. personale, soziale und methodische Kompetenzen sowie hermeneutische und ästhetische Kompetenzen aneignen. 1 Diese Handreichung steht als Download zur Verfügung: http://www.bmukk.gv.at/medienpool/22837/reifepruefung_ahs_mrp.pdf. 2 Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur (Hg.), Die kompetenzorientierte Reifeprüfung aus Religion. Grundlagen, exemplarische Themenbereiche und Aufgabenstellungen, Wien 2012; verfügbar als Download: http://www.bmukk.gv.at/medienpool/22989/reifepruefung_ahs_lfrel.pdf.
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Ein Spezifikum des Religionsunterrichts – unabhängig von seiner konfessionellen Prägung – ist die Offenheit, dass er neben operationalisierbaren und überprüfbaren Inhalten auch Lernprozessen Raum gibt, die nicht zu testen und letztlich unverfügbar sind. Gerade in einem deutlich kompetenzorientierten Religionsunterricht wird diesem Faktum entsprochen, denn für ,ihr Aufwachsen brauchen Kinder und Jugendliche Erfahrungen und Begegnungen, Einsichten und Anstöße, die sich nicht operationalisieren oder messen lassen.‘3 Die Zuordnung der einzelnen Kompetenzen des allgemeinen Teils zu den fünf Abschnitten ist eine Strukturierungshilfe. Andere Zuordnungen sind durchaus möglich. Die Kompetenzen entsprechen den Intentionen der verschiedenen Lehrpläne für den Religionsunterricht. (…)“
Wahrnehmungskompetenz – Die Schüler/innen sind in der Lage, sich selbst, ihr Lebensumfeld und die Welt mit ihren Chancen, Problemen, Grenzen und Entwicklungsmöglichkeiten offen und differenziert wahrzunehmen und diese Wahrnehmung zum Ausdruck zu bringen. – Sie können religiös bedeutsame Phänomene wahrnehmen. Sie (er)kennen und verstehen Sprach-, Kommunikations- und Gestaltungsformen, die für das religiöse Selbst- und Weltverständnis charakteristisch sind. – Sie erkennen die vielfältigen Dimensionen religiösen Denkens und Handelns und reflektieren die unterschiedlichen Zugänge zur Religion sowie verschiedene Ausdrucksformen von Spiritualität. Religiöse Sach- und Darstellungskompetenz – Die Schüler/innen können die zentrale Botschaft, die Grundbegriffe, die Aussagen der wichtigsten Texte bzw. Lehren, sowie entscheidende Phasen und geschichtliche Schlüsselereignisse ihrer Religion/Konfession4 wiedergeben und deuten. Sie können in der Fülle des Einzelnen religionsspezifische bzw. theologische Leitmotive entdecken. – Sie sind in der Lage, zwischen verschiedenen kulturellen Ausprägungen ihrer Religion zu differenzieren, deren Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede zu erkennen und sensibel darzustellen. – Sie können Grundformen religiöser Praxis (z. B. Rituale bzw. religiöse Riten und Feiern) in ihrer allgemeinen und persönlichen Bedeutung beschreiben und reflektieren.
3 Schweitzer 2004, 241 4 … bzw. jene(r) Konfession oder Religionsgemeinschaft, deren Religionsunterricht sie besucht haben.
Religiös sensibel – konfessionell gebunden – dialogfähig
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Interkulturelle und interreligiöse Kompetenz – Die Schüler/innen können eigene religiöse Vorstellungen auf Grund der zentralen Deutungsmuster ihrer Religion reflektieren. – Sie können wichtige Grundlagen anderer Religionen/Konfessionen/Weltanschauungen darlegen. – Sie sind in der Lage, die zentralen Deutungsmuster ihrer Religion mit den Deutungsmustern anderer religiöser Traditionen/Weltanschauungen/Weltbilder in Beziehung zu setzen. – Auf Basis ihres Wissens und der erworbenen dialogischen Grundhaltung sind die Schüler/innen in der Lage, in der (religions)pluralen Gesellschaft mit Angehörigen anderer Kulturen, Konfessionen und Religionen respektvoll zu kommunizieren. Ethische Deutungs- und Urteilskompetenz – Die Schüler/innen können verschiedene (religiös fundierte) Modelle ethischen Handelns beschreiben und beurteilen. – Sie sind fähig, auf der Basis religiöser Grundwerte zu ethischen Konflikten sowie den damit verbundenen gesellschaftlichen Diskursen Stellung zu nehmen. Lebensweltliche Anwendungskompetenz – Die Schüler/innen sind fähig, die zentrale Botschaft und die Deutungsmuster ihrer Religion als relevant für das Leben des/der Einzelnen und das Leben in der Gemeinschaft aufzuzeigen und zu würdigen. – Sie sind in der Lage, in (inter)kulturellen und ethischen Herausforderungen unserer Welt Handlungsoptionen zu entwickeln und zu begründen, sowie Möglichkeiten von eigenem verantwortlichem Handeln zu beschreiben. – Sie können einen verantwortlichen Umgang mit Mensch und Natur darlegen.“5 Eine Besonderheit und Novität der vorliegenden Handreichung liegt in der Tatsache, dass hier als Fundament für ein gemeinsames „Rahmenverständnis“ von Religionsunterricht ein Kompetenzmodell bzw. ein Kompetenzenkatalog entwickelt wurde, das für alle „Religionsunterrichte“ in Österreich bzw. für die Reifeprüfung in Religion zutrifft. Dieses Modell wurde nicht von einer übergeordneten Instanz oder einer Konfession/Religion „dekretiert“, sondern in einem differenzierten inhaltlichen Auseinandersetzungsprozess erarbeitet. Erstmals gibt es daher in Österreich einen Text, der sich nicht auf den Religionsunterricht
5 Reifeprüfung aus Religion [Anm. 409], 9 – 11
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einer konkreten Konfession oder Religionsgesellschaft, sondern auf den Religionsunterricht an sich in der österreichischen Schulwirklichkeit bezieht. Es handelt sich nicht um ein harmonisierendes Modell, sondern vielmehr um ein konfessionell profiliertes und ausdifferenziertes, indem auf der Grundlage des gemeinsamen Kompetenzmodells religions- und konfessionsspezifische exemplarische Themenbereiche und kompetenzorientierte Aufgabenstellungen für die Reifeprüfung erarbeitet wurden.6 Zugleich ist wahrzunehmen, dass das gemeinsame Kompetenzmodell keine Grundlage für einen „konfessionsübergreifenden“ Religionsunterricht darstellt, sondern lediglich einen Rahmen, der inhaltlich zu füllen ist. Das gemeinsame Anliegen eines qualitativ hochwertigen Religionsunterrichtes in Österreich steht deutlich wahrnehmbar über konfessionell und religionsspezifisch isolierten Interessen.
2.
Herausforderungen?
Was waren die besonderen Herausforderungen und was die positivsten Erfahrungen im Rahmen dieses interreligiösen und ökumenischen Prozesses? Herausforderungen gab es auf mehreren Ebenen. Die bildungspolitische Ebene: Die Arbeitsgruppe wurde vom Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur eingerichtet und ist zwar größtenteils personell von den Religionsgesellschaften und Kirchen beschickt worden, die einzelnen Vertreter/innen hatten aber seitens der Religionsgemeinschaften keinen ausgewiesenen Auftrag. Es gab daher zu Beginn große Unsicherheit über den Status dieser Gruppe. Umdenken war notwendig: Wenn das Ministerium einerseits der gesellschaftlichen Entwicklung Rechnung tragen möchte, andererseits dem konfessionellen Status der Religionsunterrichts gerecht werden will, bedeutete das für die Arbeitsgruppe, sich auf eine noch nie dagewesene Erfahrung der interreligiösen und interkonfessionellen Zusammenarbeit auf mittlerer Ebene einzulassen – mit dem Wissen, dass das Ergebnis auch auf den bildungspolitischen Diskurs zum Status des konfessionellen Religionsunterrichts in Österreich Auswirkungen hat. Die inhaltliche Ebene: Hier war zuerst vor allem die Ungleichzeitigkeit auf mehreren Ebenen herausfordernd. „Kompetenzorientierung“ war manchen Mitgliedern noch kein Begriff, andere hatten bereits einen ausführlichen Reflexionsprozess hinter sich oder standen mitten in der Erarbeitung von kompetenzorientierten Lehrplänen. Zwei Konfessionen hatten bereits (zumindest vorläufige) interne Kompetenzmodelle entwickelt. Zudem ist die personelle 6 Vgl. Fiechter-Alber/Krammer/Ebmer/Marschalek 2012
Religiös sensibel – konfessionell gebunden – dialogfähig
201
(und institutionelle) Ausstattung im Hinblick auf den schulischen Religionsunterricht aufgrund des unausgewogenen Größenverhältnisses der Religionsgemeinschaften in Österreich sehr unterschiedlich … Die gruppendynamische Ebene: Personen aus unterschiedlichen weltanschaulichen Perspektiven, die einander nicht kannten, sollten ergebnisorientiert in einem Bereich miteinander arbeiten, wo es – zumindest auf der Ebene – noch kaum diesbezügliche Erfahrungen gibt und ein ministeriell verordnetes und pädagogisch wirksames Dokument erstellen. Die Frage „Kann/darf das gehen?“ stand zu Beginn sehr mächtig im Raum. Die Einigung darauf, dass es sich bei der Arbeit in dieser Gruppe um ein Experiment handelt und die Gruppe, indem sie an der übertragenen Aufgabenstellung arbeitet und sondiert, inwiefern das Ziel erreicht werden kann – aber auch die Offenheit für ein mögliches Nicht-Gelingen –, hat die Gruppe arbeitsfähig gemacht. Dass die einzelnen Mitglieder zwar unsicher, aber gewillt waren, dass das Experiment gelingt, hat dann zum vorliegenden Ergebnis geführt. Als weiterer wesentlicher Beitrag zum Ergebnis, aber auch als Ausweis einer gelebten Kultur der Anerkennung, kann etwa das Arbeitsklima verstanden werden. „Ich habe die Teilnehmer/innen der Arbeitsgruppe als sehr gleichberechtigt erlebt, obwohl von den verschiedenen Religionen/Konfessionen verschieden viele Delegierte anwesend waren. Egal ob es fünf Delegierte waren oder nur einer : alle konnten sich gleichermaßen einbringen, es gab keine Dominanzen.“7
Was bedeutet die Tatsache der gemeinsamen Arbeit und des gemeinsamen Fundaments in Bezug auf den Religionsunterricht im Hinblick auf die Zukunft? Im Grunde hat Zukunft schon begonnen: Es wird in einer multireligiösen/konfessionellen Gruppe im Bereich der Semestrierung und Kompetenzorientierung der Religionslehrpläne für die AHS Oberstufe weitergearbeitet. Diese Gruppe wurde wieder vom Ministerium ernannt – die Beschickung erfolgte diesmal in einem transparenten Rücksprache- und Nominierungsprozess mit den jeweiligen Leitungsorganen der Religionsgesellschaften und Kirchen. Es wird unter Einbeziehung des im Hinblick auf die Reifeprüfung formulierten Kompetenzenkataloges ein Kompetenzmodell entwickelt, das zum Einen dem fachwissenschaftlichen Diskurs entspricht und zum Anderen für die – z. T. bereits unabhängig voneinander entwickelten – religions- und konfessionsspezifischen Modelle anschlussfähig ist.
7 Fiechter-Alber/Krammer/Ebmer/Marschalek 2012, 58
202
3.
Monika Prettenthaler / Wolfgang Weirer
Konfessionalität und Interreligiosität?
Im europäischen Raum gibt es neben dem konfessionellen Religionsunterricht, wie er in Österreich verankert ist, eine Reihe anderer Modelle.8 Das gilt einerseits für die Praxis des schulischen Unterrichts, wie es z. B. in Hamburg oder Berlin der Fall ist9, oder auch für die Erprobung konfessionell-kooperativen Religionsunterrichtes in Baden-Württemberg10. Andererseits gilt dies auch für religionsdidaktische Konzeptionen, wie sie etwa durch Bert Roebben vorgelegt wurden.11 Roebben differenziert angesichts der religiösen Pluralität zwischen multi-, inter- und intrareligiösem Lernen (Learning about religion / Learning from religion / Learning in/through religion). Was bedeutet die Kooperation zwischen Verantwortlichen für den Religionsunterricht verschiedener Konfessionen und Religionen für die gegenwärtige und zukünftige Konzeption des Religionsunterrichtes in Österreich? Grundsätzlich sind durch die Arbeit und das Ergebnis sowohl die einzigartige österreichische Situation als auch die Zukunftsfähigkeit des österreichischen Modells eines konfessionellen Religionsunterrichts für alle gesetzlich anerkannten Religionsgesellschaften neu bewusst geworden. Von Anfang an war in der Arbeitsgruppe wichtig, „dass das spezifische Profil jeder einzelnen Konfession/Religion unbedingt erhalten und sichtbar bleiben muss.“12 Wenn konfessionell und inhaltlich unterschiedliche „Religionsunterrichte“ gemeinsame Kompetenzen ausweisen können, kann das als deutlicher Hinweis gewertet werden, wie weit entfernt heute der konfessionelle Religionsunterricht von einer ihm oft vorgeworfenen „Indoktrination“ ist und, dass gerade das „Lernen in Religion“ religiöse Kompetenz – im Reifeprüfungsleitfaden in verschiedenen Dimensionen beschrieben – fördern kann. Insgesamt gestaltete sich die Arbeit in der Gruppe sowohl als Prozess des Lernens miteinander als auch als Lernen voneinander – und es ist auch bewusst geworden, dass unterschiedliche Modi des Fremdverstehens13 nicht nur voneinander abgrenzbare Möglichkeiten sind, andere und anderes mit dem Eigenen in Beziehung zu setzen, sondern dass die möglichen Verstehensweisen einander in der Praxis auch ergänzen können. Auf der Basis einer gemeinsamen Grundlage – die Gruppenmitglieder sind religiös sensibel und konfessionell gebunden – waren die vier Modi in den verschiedenen Arbeitsphasen präsent:
8 9 10 11 12 13
Vgl. dazu die Übersicht in: Schreiner, 1/2005 Vgl. Willems 2/2012; Häusler, 1/2007; Doedens/Weiße, 1/2007 Vgl. Pemsel-Maier/Weinhardt/Weinhardt 2011 Roebben 2009 Protokoll des ersten Arbeitsgruppentreffens vom 16. Juni 2011, 4 Vgl. dazu beispielsweise: Schäffter 1991; König 5/1999
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203
– Verstehen durch Einordnung, wenn andere Zugänge als Resonanzboden des Eigenen gesehen wurden. – Verstehen durch Abgrenzung, wenn das Andere als Gegenbild des Eigenen verstanden wurde. – Verstehen durch Aneignung, wenn die Überlegungen, die in anderen Konfessionen/Religionen bereits angestellt worden waren, als Bereicherung für das Eigene gesehen werden konnten. – Verstehen durch Anerkennung, wenn und weil die Sichtweisen der anderen Religionen/Konfessionen als Komplement des Eigenen verstanden wurden und in einer oszillierenden Diskusbewegung neue Formen einer tragfähigen Gemeinsamkeit entdeckt werden konnte, die es aber dennoch ermöglicht, das bleibend Andere und Fremde als Anderes zu belassen. Die Zusammenarbeit zwischen den Konfessionen und Religionsgemeinschaften im Blick auf den Religionsunterricht lässt Anderes verstehen und Eigenes in neuem Licht sehen. Gemeinsamkeiten des Religionsunterrichtes in Österreich werden etwa durch den formulierten Kompetenzenkatalog deutlich, zugleich aber auch die je eigenen konfessions- und religionsspezifischen Ausprägungen der einzelnen „Religionsunterrichte“. Inwiefern wird durch diese Zusammenarbeit auf der Ebene der Verantwortlichen die Konfessionalität des Religionsunterrichtes in Österreich gestärkt, und inwiefern ist in Zukunft an einen gemeinsam verantworteten „Religionsunterricht für alle“ zu denken? Ein zentrales Motiv der Konfessionalität wird gestärkt – aber nicht in ausgrenzender Weise, sondern im oben genannten Sinn: gerade, weil religiöse Kompetenz nicht auf einer Metaebene bzw. im nur kognitiven Bereich erlangt werden kann. Es war der Gruppe – gerade in Abgrenzung zu einer Religionskunde, die Kompetenzen auf einer ganz anderen Ebene vermittelt – sehr wichtig: Konfessioneller Religionsunterricht macht aufgrund des Stellenwerts den Leben, Glaube und Weltanschauung in seinem Rahmen hat, religiös und ethisch kompetent – unabhängig von seiner inhaltlichen Schwerpunktsetzung.
4.
Kompetenzorientierung als Chance?
Der Bezug auf formale Kompetenzen ermöglicht offenbar die Verständigung über einen gemeinsamen Rahmen für die mündliche Reifeprüfung in Religion – und damit auch über einen Qualifikationsrahmen für das Fach Religion. Welchen Stellenwert hat die Vorgabe, dass die mündliche Reifeprüfung kompetenzorientiert zu gestalten ist, für den Auseinandersetzungsprozess gehabt, der zur vorliegenden Handreichung geführt hat? Durch die Kompetenzorientierung ist dieser Prozess überhaupt erst möglich
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geworden – weil die einzelnen Kirchen und Religionsgesellschaften im Bereich der Kompetenzen gemeinsame Anliegen und Zielsetzungen im Bereich dessen, was Schüler/innen auf formaler Ebene können, wissen und wollen, die Gemeinsamkeiten entdecken und ausweisen können – ohne dass sie dadurch oder damit ihr je eigenes konfessionelles und inhaltliches Profil aufgeben. Besonders fällt auch auf, dass der fünfte Kompetenzbereich lediglich die lebensweltliche Anwendung, nicht jedoch, wie zu erwarten gewesen wäre, die Partizipation ins Auge nimmt. Es geht beim vorliegenden Kompetenzkatalog um Kompetenzen, die im Rahmen der mündlichen Reifeprüfung ausgewiesen werden können müssen – daher ist hier der Bereich der Partizipation (begründete (Nicht-) Teilhabe an religiöser und gesellschaftlicher Praxis) ausgespart.14 Manche Begriffe, die aus bisherigen Kompetenzrastern, -katalogen und -modellen für den Religionsunterricht vertraut waren, findet man im Kompetenzmodell der Handreichung nicht, so kommt etwa „Gott“ als Begriff nicht vor, wird „theologisch“ sehr zurückhaltend verwendet. Wie war es möglich, gemeinsame Sprachregelungen, die für alle „passen“, zu finden und zugleich die Besonderheiten und Eigenarten der jeweiligen Konfession bzw. Religionsgesellschaft nicht zu verleugnen? Hier war ein intensiver inhaltlicher Diskurs gefragt, der von der Grundhaltung „Anerkennung der Anderen und Respekt vor dem Anderen“ geprägt war. Um einzelne Begriffe wurde richtiggehend gerungen, so stellte sich heraus, dass vermeintlich selbstverständliche Begriffe in der einen Religion/Konfession von anderen gar nicht verstanden werden. Das Wort „theologisch“ kann beispielsweise im Hinblick auf den Buddhismus nicht verwendet werden, das Wort „Lebensäußerungen“ scheint nur im evangelischen Kontext verständlich zu sein, „religiöses Orientierungswissen“ hingegen hat im katholischen Zusammenhang eine spezifische Bedeutung.15 Insgesamt ist die vorliegende Handreichung gekennzeichnet von einer Balance zwischen der Wahrung des jeweils identitätsstiftenden „Eigenen“ der entsprechenden Religionsgesellschaft/Konfession und der konstruktiven und zugleich behutsamen wertschätzenden Auseinandersetzung mit dem „Anderen“ der anderen Religionen und Konfessionen. Religiöse Pluralität im Kontext der österreichischen Schulwirklichkeit wurde durch den Prozess der interkonfessionell und interreligiös zusammengesetzten Arbeitsgruppe zuerst als Herausforderung verstanden, zugleich aber als Ressource. „Dies ist aber nur möglich, wenn religiöse Pluralität Anerkennung findet. Vielfalt ist grundsätzlich nicht ein Problem, das vielleicht zu lösen wäre, sondern Kennzeichen einer Situation, in 14 Vgl. das Kompetenzmodell des Comenius-Institutes, in: Obst 22009, 99 15 Vgl. Fiechter-Alber/Krammer/Ebmer/Marschalek 2012, 58
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der es zu handeln gilt.“16 Religiöse Vielfalt auf der Grundlage gegenseitiger Anerkennung zur Ressource werden zu lassen setzt voraus, sich diese Pluralität in allen Details zuerst bewusst zu machen. „Pluralität als Lernchance wird erschwert oder verhindert, wenn Differenz nicht sichtbar wird oder werden darf, wenn Differenz keine (öffentliche) Anerkennung hat, wenn alles gleich-gültig, Differenz also wert-los ist.“17 Religiöse Pluralität wird allerdings nicht nur durch die Vielfalt von Konfessionen und Religionen, die in Österreich Religionsunterricht anbieten, konstituiert, sondern auch durch religiöse Vielfalt innerhalb der jeweiligen Konfession/Religionsgemeinschaft bzw. durch religiöse Individualisierung. Auch diese Realität ist explizit zu thematisieren, will man der realen Situation des Religionsunterrichtes gerecht werden. Diese Haltung entspricht einem konstruktiven Umgang mit den von Rudolf Englert wahrgenommenen Spannungsfeldern und Entscheidungssituationen einer pluralitätsfähigen Religionspädagogik, die sich zwischen Pluralität und Gleichförmigkeit, zwischen Diffusion und Abgrenzung, zwischen Affirmation und Konfrontation, zwischen Bedürfnisorientierung und Bedürfniskritik und zwischen starkem und schwachem Wahrheitsanspruch bewegen.18 Genau durch diese Spannungsfelder dürfte auch die Weiterarbeit der interkonfessionellen und interreligiösen Arbeitsgruppe in Bezug auf den österreichischen Religionsunterricht gekennzeichnet sein. Die wirklichen Fragen aus diesen Spannungsfeldern werden aber wohl erst in der schulischen Praxis entstehen, wie etwa: Wie trennscharf sind die einzelnen „Religionsunterrichte“ voneinander zu unterscheiden und wo liegen die Gemeinsamkeiten, ohne in nivellierende Gleichförmigkeit zu geraten? Welche Rolle spielt der Wahrheitsanspruch etwa des katholischen Glaubens in einem Religionsunterricht, der Schüler/innen kompetent machen will, die „zentralen Deutungsmuster ihrer Religion mit den Deutungsmustern anderer religiöser Traditionen/Weltanschauungen in Beziehung zu setzen“, auf der Grundlage einer „dialogischen Grundhaltung“ „mit Angehörigen anderer Kulturen, Konfessionen und Religionen respektvoll zu kommunizieren“? In der Formulierung von Kompetenzen, die im Religionsunterricht erworben werden können, zeigt sich sehr konkret der Unterschied, aber auch der Zusammenhang von Kompetenzen und Inhalten. Kompetenzen beschreiben Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten der Schüler/innen, die durch die Auseinandersetzung mit Inhalten bzw. an diesen Inhalten erworben werden. Aus dieser Sicht erklärt sich, warum die Einigung auf Kompetenzen im intensiven gemeinsamen Arbeitsprozess möglich war, und zugleich das je eigene 16 Jäggle 2009, 274 17 Ebd. 275 18 Englert 2012
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inhaltliche Profil nicht vernachlässigt werden musste – im Gegenteil: die Kompetenzen machen das Gemeinsame sichtbar, ohne das je Eigene aufzugeben. Deutlich wird durch diesen Prozess auch, dass die Entwicklung von Kompetenzmodellen in einer Situation (religiöser) Pluralität nur „von unten“ funktioniert und nicht durch die Vorgabe und das Abarbeiten von/an Modellen „von oben“. Wie oft in der Praxis zeigt der Entstehungsprozess des gemeinsamen Kompetenzenkatalogs, dass es neben dem antithetischem „Entweder-oder“ auch ein Drittes, nämlich ein „Sowohl-als-auch“ gibt: Weder der vorgegebene zeitliche Rahmen noch die unterschiedlichen Voraussetzungen bezüglich Auseinandersetzung mit dem Perspektivenwechsel, den die Kompetenzorientierung bedingt, ermöglichten es, spezifische Kompetenzen zu modellieren. Umgekehrt war auch die Übernahme eines der bereits vorhandenen Kompetenzmodelle für den Religionsunterricht19 nicht sinnvoll, da die diesbezüglichen Zugänge und Voraussetzungen der einzelnen Religionsgesellschaften und Konfessionen – wie oben beschrieben – zu unterschiedlich waren. Dennoch haben gerade zwei vorhandene Modelle im Erarbeitungsprozess eine wichtige Funktion bekommen, indem durch sie deutlich wurde, wie verschiedene Dimensionen religiöser Kompetenz beschrieben werden können, ohne dadurch konkrete und verschiedene Inhalte des Religionsunterrichts der einzelnen Religionen/Konfessionen einzuengen und zu vereinheitlichen.20 Zuerst wurde in der Arbeitsgruppe das Modell zur Differenzierung von religiöser Kompetenz von Ulrich Hemel21 diskutiert, wonach sich religiöse Kompetenz in religiöser Sensibilität, religiöser Ausdrucksfähigkeit, religiöser Inhaltlichkeit, religiöser Kommunikation und religiösem Ausdrucksverhalten bzw. religiös motivierter Lebensgestaltung zeigt. Im Gespräch wurde deutlich, dass in diesem Modell der gesamte Bereich der ethisch-moralischen Begründungsfähigkeit fehlt bzw. dass es um einen Kompetenzbereich erweitert werden müsste, der den Beitrag des Religionsunterrichts zur Stärkung der religiösen Identität im Blick hat. Einen zweiten Zugang stellten die Kompetenzdimensionen für den Religionsunterricht dar, wie sie Rudolf Englert22 beschrieben hat: Die Bereiche religiöses Orientierungswissen, theologische Frage- und Argumentationsfähigkeit, spirituelles Wahrnehmungund Ausdrucksvermögen, ethische Begründungsfähigkeit und lebensweltliche Applikationsfähigkeit wurden in der Arbeitsgruppe ebenso diskutiert und angefragt. Mehrfach wurde in der Diskussion auch auf andere mögliche Strukturen von Kompetenzmodellen hingewiesen. 19 20 21 22
Vgl. Prettenthaler 3/2011 Vgl. dazu Protokoll [Anm. 11], 5 – 6 Vgl. Hemel 1988 Vgl. Rudolf Englert 2007, 20
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Abschließend halten wir als zentrale Erkenntnis fest: Kompetenzorientierung bietet über den konkreten Unterricht hinaus die Chance, Vertrautes neu in den Blick zu nehmen. Konfessioneller Religionsunterricht gewinnt durch die Benennung gemeinsamer Kompetenzen, ohne die je eigenen Inhalte aufzugeben, ein deutliches Profil. Dieses hat das Potential, die Position des Religionsunterrichtes insgesamt im bildungspolitischen Diskurs der Gegenwart zu stärken.
Literatur Doedens, Folkert/Weiße, Wolfram: Religion unterrichten in Hamburg, in: Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 6 (1/2007), 50 – 67 Englert, Rudolf: Religiöse Bildung in Zeiten individualisierter Religiosität. Probleme und Chancen, in: Englert, Rudolf/Schwab, Ulrich/Schweitzer, Friedrich/Ziebertz HansGeorg (Hg.): Welche Religionspädagogik ist pluralitätsfähig? Kontroversen um einen Leitbegriff, Freiburg im Breisgau 2012 Englert, Rudolf: Bildungsstandards für Religion. Was eigentlich wissen sollte wer formulieren wollte, in: Sajak, Clauß Peter (Hg.): Bildungsstandards für den Religionsunterricht – und nun? Berlin 2007, 9 – 28 Fiechter-Alber, Elmar/Krammer, Kurt/Ebmer, Gisela/Marschalek, Petra: Die Handreichung „Neue Reifeprüfung Religion an AHS“. Nur formale Pflichterfüllung oder interreligiöse Vision, in: ÖRF 20 (2012), 57 – 59 Häusler, Ulrike: Religion unterrichten in Berlin, in: Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 6 (1/2007), 25 – 49 Hemel, Ulrich: Ziele religiöser Erziehung, Frankfurt am Main 1988 Jäggle, Martin: Religiöse Pluralität als Herausforderung für Schulentwicklung, in: Jäggle, Martin/Krobath, Thomas/Schelander, Robert (Hg.): lebens.werte.schule. Religiöse Dimensionen in Schulkultur und Schulentwicklung, Wien – Berlin 2009, 265 – 280 König, Klaus: Fremdes verstehen lernen. Zwischen Abgrenzung und Anerkennung, in: KBl 124 (1999), 299 – 304 Obst, Gabriele: Kompetenzorientiertes Lehren und Lernen im Religionsunterricht, Göttingen 22009 Pemsel-Maier, Sabine/Weinhardt, Joachim/Weinhardt, Marc: Konfessionell-kooperativer Religionsunterricht als Herausforderung. Eine empirische Studie zu einem Pilotprojekt im Lehramtsstudium, Stuttgart 2011 Prettenthaler, Monika: Von Bereichen, Dimensionen und Kompetenzen. Eine Zusammenschau von Kompetenzmodellen für den Religionsunterricht, in: CPB 124 (3/2011), 134 – 139 Roebben, Bert: Seeking Sense in the City : European Perspectives on Religious Education, Münster 2009 Schäffter, Ortfried: Modi des Fremdverstehens. Deutungsmuster im Umgang mit Fremdheit, in: ders., Das Fremde, Opladen 1991, 11 – 14 Schreiner, Peter : Religionsunterricht in Europa. Ein Überblick zur Situation in den 45 Staaten des Europarates, in: Forum Religion (1/2005), 19 – 21
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Willems, Joachim: Interreligiöses Lernen im Berliner Religions-, Weltanschauungs- und Ethikunterricht, in: Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 11 (2/2012), 51 – 80
Internetquellen http://www.bmukk.gv.at/medienpool/22837/reifepruefung_ahs_mrp.pdf http://www.bmukk.gv.at/medienpool/22989/reifepruefung_a
Wolfgang Schönig
Es soll jeder irgendwo mit der Religion glücklich werden, die er hat1 – Denkwürdigkeiten zu Religion und Schule
Auf den ersten Blick mag die Äußerung der in der Überschrift zitierten Lehrerin auf Zustimmung treffen, weil sie ein Bewusstsein von der Vielfalt von Konfessionen und religiösen Orientierungen in der modernen Schule voraussetzt und Toleranz signalisiert. Ein Jeder soll die Möglichkeit haben, seinem religiösen und/oder konfessionellen Bekenntnis nachzugehen! Die Verordnung einer „einzig wahren Religion“ durch die Kirche ist – zumindest im europäischen Raum – vorbei. Wer könnte der Äußerung der Lehrerin also nicht zustimmen? Wäre da nicht durch die adverbiale Bestimmung „irgendwo“ eine Konnotation, die Zweifel weckt. Die Zustimmung zur Pluralität von Religion wird durch diese Formulierung relativiert, ja partiell zurückgenommen und der Gleichgültigkeit anheimgestellt: Solange uns eure Religion in der Schule nicht (organisatorische, curriculare, disziplinäre) Probleme bereitet, ist sie uns Schulleuten einerlei. Mit dieser Problemanzeige ist ein besonderes wissenschaftliches Interesse Martin Jäggles berührt. Eine Durchsicht seines Werkverzeichnisses zeigt, dass er die Frage nach der religiösen Bildung in einer interkulturellen und religiös pluralen modernen Schule seit vielen Jahren mit hoher Kontinuität und Aufmerksamkeit aufgreift. Mehr noch: Er denkt auch an jene Schülerinnen und Schüler, die keine Religion „haben“, die zwar ihre religiösen Fragen auf die eine oder andere Art in die Schule mitbringen, aber zugleich konfessionell heimatlos sind – nicht gebunden an religiöse Gemeinschaft und Tradition und auf ihre Sinnfragen zurückgeworfen. „Religiöse Pluralität bedeutet sowohl die Präsenz verschiedener Konfessionen und Religionen“, sagt er und fügt hinzu, „als auch das Phänomen, dass sich Menschen keiner religiösen Tradition zugehörig wissen (…)“2. Vor welchen Aufgaben steht die Schule in einer Migrationsgesellschaft, wenn sie ein inklusives Bildungsverständnis vertritt, d. h. wenn sie ein 1 So äußert sich eine Lehrerin, die Martin Jäggle in einer empirischen Interviewstudie, durchgeführt gemeinsam mit drei weiteren Lehrenden und Studierenden an sieben Volksschulen Wiens, befragt hat (vgl. Jäggle 2000; 129) 2 Jäggle 2009, 265
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konstruktives Verhältnis im Umgang mit Verschiedenheit sucht und jedem Schüler zu seinem Recht verhelfen will? Die Frage zielt auch auf eine Schulentwicklung, die sich die „Kultur der Anerkennung“3 auf ihre Fahnen schreibt, ohne auch nur annähernd die benötigte Unterstützung von der Pädagogik als Wissenschaft zu erhalten.
1.
Schulpädagogik und Religion – eine Leerstelle im wissenschaftlichen Diskurs
Martin Jäggles Analysen der Bildungssituation in der durch eine heterogene Schülerschaft geprägten Schule legen ein doppeltes Problem offen. Zum Einen stößt Jäggle auf die „Religionsblindheit und Organisationsblindheit in der Schule“4. Offenbar hat die Schule als Organisation ein erhebliches Problem damit, kulturelle und religiöse Vielfalt als Bereicherung des Lernens zu verstehen und offensiv für die Entfaltung einer differenzsensiblen Schulkultur einzutreten. Diversität scheint nicht zu einer auf Exklusivität der Schule bauende Systemlogik zu passen. Wo kulturelle und religiöse Pluralität nicht als Störfall der reibungslosen Schulorganisation erfahren wird, wird sie zur Privatangelegenheit eines jeden Einzelnen degradiert. Diese Ignoranz des Systems schlägt gleichsam bis auf die Handlungskonzepte der Lehrkräfte durch. „Verschieben“, „Ausklammern“, Ignorieren und die Gleichbehandlung aller trotz unübersehbarer Merkmalsunterschiede5 sind die Symptome einer gelernten und tief sitzenden Differenz-Unempfindsamkeit der Lehrerinnen und Lehrer. Zum Anderen stellt Jäggle den „Ausfall von Religion als Thema der Pädagogik“, ja sogar die „Blindheit für religiöse Differenz im Kontext kultureller Differenz“ fest6. In der Tat lässt sich mit Doris Knab ein Prozess des „Verschwinden[s] von Religion aus dem Horizont der Erziehungswissenschaft“ feststellen.7 In den einschlägigen Handbüchern der Erziehungswissenschaft erscheint „Religion“ unter „Fachdidaktik“, „abgespalten vom schul- und bildungstheoretischen Diskurs“8. So scheinen die Fragen der religiösen Bildung nach wie vor eine Domäne der Religionspädagogik zu sein, umgekehrt ist „Religion aber immer weniger Thema von Schul- und Bildungstheorie“9. Für Friedrich Schweitzer ist diese Entwick3 4 5 6 7 8 9
Jäggle/Krobath 2010, 58 Jäggle/Krobath 2010, 56 Jäggle 2000, 131 Ebd. 120 Knab 1995, 62 Ebd. Ebd.
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lung kein Zufall, wenn auch „historisch verständlich“10, denn die Erziehungswissenschaft entwickelte sich auf dem Pfad der Säkularisierung – mit „abträglichen Folgen“11. Eine Ausnahme ist der in geisteswissenschaftlicher Tradition stehende Wolfgang Klafki mit einem elaborierten Konzept der Allgemeinbildung.12 Er macht den Bildungserfolg des Subjekts davon abhängig, dass es sich mit den „zentralen Problemen der gemeinsamen Gegenwart und der voraussehbaren Zukunft“13 in einer Weise befasst hat, dass die Bereitschaft zur Lösung dieser „epochaltypischen Schlüsselprobleme“ entstanden ist. Interessant ist, dass Klafki einen Katalog solcher Schlüsselprobleme vorgelegt hat, in dem freilich anfangs die Themen „Religion“ und „Kultur“ noch fehlen. Erst 1998 hat Klafki – wohl unter dem Einfluss von Religionspädagogen bzw. Theologen – ein Schlüsselproblem und eine Aufgabe ergänzt: „Das Problem der oft spannungsreichen Begegnungen zwischen verschiedenen Kulturen, Ethnien, Religionen und damit die Aufgabe multikultureller bzw. interkultureller und interreligiöser Erziehung.“ (Klafki 1998, 145) Eine breite Rezeption fanden Klafkis Brückenschläge wiederum nicht. Ansonsten finden sich bis in die Gegenwart hinein kaum Bemühungen seitens der Erziehungswissenschaft, der Religion den ihr gebührenden Platz in Theorie und Praxis einzuräumen. Martin Jäggle und Thomas Krobath (2009) machen in diesem Zusammenhang auf die mehrteilige „Neue Theorie der Schule“ des renommierten Schultheoretikers und Bildungsforschers Helmut Fend aufmerksam, der trotz seiner struktur-funktionalen Theorieausrichtung spekulative Begriffe wie „Beseelung der Schule“ oder „pädagogische Spiritualität“ ins Spiel bringt.14 Bereits zwei Jahre zuvor hatte Fend seine alte Theorie der Schule des Jahres 1980 um eine handlungstheoretische Perspektive erweitert, indem er den vier Funktionen der Schule gleichsam spiegelbildlich vier sog. „individuelle Funktionen“ gegenüberstellt.15 Unter ihnen ist auch die „Kulturelle Teilhabe und Identität“. Sie soll durch die Schule hergestellt werden, damit junge Menschen in die Lage versetzt werden, auf der Grundlage der eigenen kulturellen Identität mit unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen friedvoll zusammenleben zu können. Ein Ziel, das Fend betont, ist die „Beheimatung“ der nachwachsenden Generation in einer Kultur.16 Pädagogisch gewendet wird dieses Leitmotiv freilich nicht. Auch das inzwischen allseits bekannte und viel diskutierte Konzept der „Modi der Weltaneignung“ von Jürgen Baumert, Leiter des Max-Planck-Instituts für 10 11 12 13 14 15 16
Schweitzer 2003, 171 Ebd. Klafki 1985 Klafki 1985, 17 Fend 2008, 213ff Fend 2006 Fend 2006, 50ff
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Bildungsforschung, Berlin, lässt die übliche Ignoranz hinter sich, wenn es eigens „Probleme konstitutiver Rationalität in Gestalt von Religion und Philosophie“ und damit „den reflexiven Umgang mit der Frage nach den letzten Gründen und nach dem Sinn des Lebens“ anspricht.17 Von einem Wissenschaftler, der erklärtermaßen eine struktur-funktionale Sicht auf die Schule hat, ist freilich nicht zu erwarten, dass er seine Programmatik bildungstheoretisch ausbuchstabiert. So bricht auch dieses Konzept just an jener Stelle ab, wo es pädagogisch interessant wird. Man kann sich insgesamt des Eindrucks schwer erwehren, dass das Interesse der Erziehungswissenschaft am Thema „Kultur und Religion“ nur in dem Maße geweckt wird, wie die multiethnische, -kulturelle und -religiöse moderne Gesellschaft ein nicht zu übersehendes Konfliktpotenzial freisetzt. Deshalb fragt sich, wie vor diesem Hintergrund Allgemeinbildung und religiöse Bildung näher bestimmt werden können.
2.
Religion und Allgemeinbildung
Dass die Schule einen Bildungsauftrag zu erfüllen hat, sei vorausgesetzt. Allerdings kann ein der Aufklärung und dem Neuhumanismus verpflichtetes Bildungsverständnis nicht mehr als selbstverständlich angesehen werden. Seit dem Beginn der Umstellung der staatlichen Steuerungsphilosophie von der Inputzur Outputsteuerung etabliert sich – in der Bevölkerung kaum bemerkt, aber von definitionsmächtigen Erziehungswissenschaftlern forciert – ein neues Bildungsverständnis, das einem Traditionsbruch gleichkommt.18 Der Bildungsbegriff wird inzwischen inflationär gebraucht, muss für alles herhalten, was nur annähernd etwas mit dem personalen Wachstum des jungen Menschen zu tun hat: Methodenkompetenz und flexibles Verhalten, Multitasking-Fähigkeit und Präsentationskompetenz, Selbstorganisation und lebenslanges Lernen… Mit Bologna, Lissabon und Berlin ist ein neues Bildungsregime installiert worden, das Bildung im konventionellen Sinne auf dem Altar der Ökonomie opfert.19 Die Etablierung von Bildungsstandards und Kompetenzanforderungen im Einklang mit vielfältigen Formen der Evaluation sorgt vielerorts für eine Vereinheitlichung der Leistungs- und Könnensanforderungen. Wo sich jedoch Vereinheitlichung zulasten der umfassenden Entfaltung des Heranwachsenden durchsetzt und Bildung in den Dienst des internationalen Bildungswettbewerbs genommen wird, verkommt sie zur Ware. Es versteht sich von selbst, dass Martin Jäggle sich gegen eine „standardisierte 17 Baumert 2008, 17 18 vgl. Schönig 2009, 2010 19 Pongratz 2009
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Schule“ wendet, aus der die Förderung von Urteilskraft, Reflexivität und Identitätsbildung verdrängt wird: „Wo nicht oder zu wenig nachgedacht wird, ist keine Bildung möglich. Eine Schule, die nur beantwortbare Fragen zulässt, verrät das Anliegen der Bildung.“20 Die Schule ist dazu da, das persönliche innere Wachstum eines jeden Einzelnen bestmöglich zu unterstützen! Und dies schließt den Dialog über jene Fragen junger Menschen ein, die über das Faktische und das funktional Nutzbare hinausgehen. Gleichwohl tun wir uns schwer damit, den Zusammenhang von Bildung und Religion präzise zu kennzeichnen. Bemühungen dazu finden sich selbstredend auf Seiten der Religionspädagogen/Theologen, weniger auf Seiten der Schulpädagogen.21 Auch hier zeigt sich der Befund, dass ein Dialog zwischen den Disziplinen zu dieser Thematik kaum stattfindet und die Forschungsergebnisse auf disparaten Ebenen liegen. Martin Jäggle gehört zu den wenigen, die offensiv auf die Schulpädagogik zugehen. Es lohnt sich, einige Schlaglichter auf die Ergebnisse des Diskurses zu werfen und dabei die Position der deutschen Bischöfe zu berücksichtigen. Interessant ist, dass es prominente Autoren gibt, die Religion nicht außerhalb von Allgemeinbildung, sondern als deren Bestandteil, zumindest aber in deren Kontext verorten. In der Auseinandersetzung mit Friedrich E. Schleiermacher (1768 – 1834) kommt Dietrich Benner – als Pädagoge – zu dem Schluss, dass Religion „ein unverzichtbarer Bereich und eine zentrale Dimension menschlichen Handelns und insofern auch der Bildung ist“22. Noch entschiedener ist die Position von Joachim Kunstmann. Er sieht religiöse Bildung als substanziell für Allgemeinbildung an, wenn er festhält, dass religiöse Bildung „weit mehr als nur ein Teilbereich der Bildung [ist]; entfaltete und reflektierte Religiosität ist ein grundlegendes Merkmal von Bildung (…)“23. Bemerkenswert ist, dass Kunstmann mit der entfalteten und reflektierten Religiosität ein Qualitätsmerkmal einführt, gleichsam ein Konstituens von Bildung. Damit schützt er Bildung vor religiöser Beliebigkeit oder gar vor Fundamentalismus. Auf den Religionsunterricht gewendet spricht Rudolf Englert deutlich an, dass es „im Religionsunterricht bei aller gebotenen Offenheit nicht darum gehen [kann], sämtliche heute vorfindlichen Erscheinungsformen von Religion unterschiedslos als respektablen Ausdruck ,echter‘ Bedürfnisse und subjektiven Überzeugt-Seins gelten zu lassen“24.
20 21 22 23 24
Jäggle 2009, 277 vgl. die ausgezeichnete Systematisierung bei Kristina Roth 2012 Benner 2004, 56 Kunstmann 2006, 162; Hervorh. im Original Englert 2004, 90
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Das Konzept der Bildung lässt also bloße Gefühlsduselei, Sektierertum und „private“ Religion nicht zu. Darin zeigt sich ein grundlegendes Merkmal von Bildung überhaupt: die reflektierte kritische Auseinandersetzung mit der Welt. Dieser Gedanke findet sich auch in dem viel rezipierten Erklärungsmodell zur Religiosität von Ulrich Hemel wieder25, wahrscheinlich das erste Modell dieser Art. Hemel legt mit fünf Dimensionen von Religiosität dar, wie sich Religion überhaupt im Menschen entwickelt und zu einem unverzichtbaren Moment von Bildung wird. Darüber hinaus sucht Hemel in jüngerer Zeit den Anschluss an Kompetenzmodelle, wenn er von „religiöser Kompetenz“ spricht. Freilich folgt er nicht einem vulgären Kompetenzverständnis, wie es landläufig vorherrscht. Er warnt vielmehr vor einer „semantischen Karriere“ des Kompetenzbegriffs und vor einem „Omnibus-Begriff“, der „zunehmend inhaltsleerer und deutungsoffener“ geworden ist26. Für diese Kompetenz hält er die Bezeichnung „Kompetenz 2“ bereit. Religiöse Kompetenz müsse sich stattdessen auf „das Ganze der Persönlichkeit“ beziehen27.Sie „öffnet sich insoweit dem umfassenden Bildungs- und Erziehungsziel ,Lebenskompetenz‘, welche evaluierbare Fähigkeiten und Fertigkeiten ebenso wie einen ausgebildeten Persönlichkeitskern umfasst, der jenseits funktionaler Erwartungen eine gewisse Widerstandskraft gegenüber den erfreulichen und den belastenden Wechselfällen des Lebens umfasst. Aus meiner Sicht könnte ,Lebenskompetenz‘ das Globalziel von Schule sein; Religiöse Kompetenz zahlt auf sie ein“28.
Bildungstheoretisch gesehen finden sich in den dargelegten Bildungsauffassungen unübersehbare Parallelen mit derjenigen der katholischen Amtskirche in der BRD. Unter Rückgriff auf die Texte „Gravissimum educationis“ und „Gaudium et spes“ des Zweiten Vatikanum hat Erzbischof Dr. Robert Zollitsch auf dem 6. Bundeskongress Katholische Schulen am 13. Mai 2011 in München die christliche Bildungsvorstellung unterstrichen und zugleich auf die Ziele kirchlichen Engagements im Bereich von Bildung und Erziehung hingewiesen. Er betont das „vorbehaltlose Angenommensein [des jungen Menschen, W. Sch.] als Person vor jeder Leistung“29 und die „Förderung des von Gott um seiner selbst willen geschaffenen Menschen in seinen persönlichen menschlichen Anlagen“30. Die „Befreiung des Menschen“ zu „personaler Freiheit“ wird dabei nicht allein als spezifische Aufgabe der Katholischen Schule, sondern als „zen25 26 27 28 29
Hemel 1986 Hemel 2011, 4 Ebd. Ebd. 5; Hervorh. im Original www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/presse/2011 – 067a-Bundekongress_ Katholische_Schule, 4 (Zugriff am 16. 04. 2012) 30 Ebd. 3
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trale Botschaft des christlichen Erlösungsglaubens“31 schlechthin gesehen. Ohne ein „Bezogensein auf den Mitmenschen“ und eine Erziehung zur „Verantwortung in der Gemeinschaft“32 könne ein solcher Anspruch nicht eingelöst werden. Bildung in dieser Perspektive ist der selbstlose Dienst der Kirche am Menschen. Er gilt der Sorge um die vollständige Entfaltung des Menschen zu sich selbst. Mit dieser Position wird nicht nur der Verzweckung des Menschen (durch die Schule) widersprochen, sondern zugleich auch das kirchliche Engagement in der Schule über den Religionsunterricht hinaus begründet, z. B. für die Schulpastoral33. Angesichts dieser Befunde stellt sich freilich die Frage, wie das von Jäggle immer wieder favorisierte Thema der religiösen Pluralität vertreten werden kann. Christoph Scheilke hält fest, dass die beste Verteidigung des säkularen Rechtsstaates darin besteht, die Religionsfreiheit offensiv zur Geltung zu bringen. Bildung, so Scheilke, ist generell ohne Bezug auf Religion – und mehr noch im multireligiösen Kontext: ohne Bezug auf Religionen nicht zu gewinnen: „Je näher man dabei an den Lebensfragen der Kinder ansetzt, desto besser, desto weiter ist auch der Horizont gespannt und umso weniger kann christliche, jüdische, muslimische oder eine andere Religion, vor allem aber die individuelle Religion jedes Einzelnen, dabei ausgespart – und als Kehrseite: absolut gesetzt – werden.“34
Religiöse Bildung im multireligiösen Kontext ist dann darauf angewiesen, das Unterscheidende nicht etwa abzuschleifen, sondern als konstitutives Moment für die Bildungsprozesse zu nutzen. Jegliche Gleichmacherei und „neutrale“ Behandlung der religiösen Unterschiede führt hingegen zwangsläufig zur Zerstörung der je spezifischen Identität von Religionen. Deshalb, so sagt es Clauß Peter Sajak, ist es von fundamentaler Bedeutung, „einen Prozess des Austauschs und Verstehens zu initiieren, der das Andere, Fremde und Rätselhafte stehen lässt, es aber durch Kommunikation und Austausch zu erschließen versucht“35. Dass dies weitreichende Implikationen auch für den Religionsunterricht hat, liegt auf der Hand36.
31 32 33 34 35 36
Ebd. Ebd. 5 Vgl. Roth 2012 Scheilke 2008, 102 Sajak 2006, 75 Vgl. Jäggle 2006
216
3.
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Schulentwicklung: auf dem Weg zu einer inklusiven Schulkultur
Die Qualität religiöser Bildung im multikulturellen Kontext ist für Martin Jäggle nicht ohne Schulentwicklung zu haben. Denn „religiöse Fragen“, so sagt es Doris Knab, „melden sich nicht ,diszipliniert‘ im Doppelsinn des Wortes, und man kann sie nicht einfach als am falschen Ort oder zur falschen Zeit gestellt zurückweisen“37. Die Sinnfragen junger Menschen sind also mehr als die Angelegenheit eines eigens für „das Religiöse“ eingerichteten Unterrichtsfachs, des Religionsunterrichts. Sie berühren den Unterricht und das Schulleben im Ganzen. Deshalb ist es Jäggles Anliegen, die Schule als Organisation so zu gestalten, dass sie ein Erfahrungsfeld für Menschen unterschiedlicher sozialer, kultureller und religiöser Herkunft werden kann: „Unsere Intention ist eine Schulentwicklung für eine Kultur der Anerkennung.“38. Damit wird der konstruktive Umgang mit den verschiedenen Formen von Pluralität zum Markenzeichen einer guten Schule erklärt. Jäggle spitzt seine Überlegungen mit Bezug auf seine bildungstheoretischen Überlegungen weiter zu, wenn er die folgenden, wohl eher rhetorisch gemeinten Fragen aufwirft: „Aber womit kann die öffentliche Schule gerade heute begründen, sich nicht mit Religion auseinanderzusetzen, nicht in ihrem Schulprogramm, nicht in ihrer Schulentwicklung? Und wie kann sie dies mit dem Recht auf Bildung vereinbaren?“39
Jäggle legt also einen organisationethischen Maßstab für Schulqualität an, der sich an der Anerkennungsgerechtigkeit ausrichtet. Das bedeutet auch, dass sämtliche institutionelle Mechanismen, die die Selbstachtung des Einzelnen verletzen können, bekämpft werden müssen. Zu nennen wäre beispielsweise die Vorrangstellung des Leistungsprinzips vor der Würde des einzelnen Schülers40. Man muss in Martin Jäggles Schriften nicht lange suchen, um eine nähere Bestimmung von Schulqualität zu finden. Schule in Jäggles Sinn ist ein Ort der Begegnung und des Dialogs. Sie ist zudem eine „entschleunigte Schule“, die sich Zeit nimmt, um den Lebensfragen junger Menschen auf den Grund zu gehen. Dieses Schulverständnis ist getragen von der Erkenntnis, „dass es Zeiten und Orte der Unterbrechung braucht, des Innehaltens, der kollektiven Nachdenklichkeit, der organisationalen Selbstverständigung, an der die Betroffenen beteiligt sind“41. Es lässt aufhorchen, dass dieses Grundverständnis von Schule dank der Be37 38 39 40 41
Knab 1995, 70 Jäggle/Krobath 2010, 56 Jäggle 2009, 273 Vgl. Jäggle/Krobath 2010 Jäggle/Krobath 2009, 35
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217
mühungen von Martin Jäggle und Thomas Krobath Einzug in die Lehrerausbildung der Universität Wien gehalten hat. Seit 2004 gibt es das Seminarangebot „Theorie und Praxis der Schulentwicklung und Religion“, das sich an Lehramtsstudierende aller Fächer, auch der Religionspädagogik, wendet. Es bleibt dort allerdings nicht beim Theoretisieren, denn Lehrkräfte und Studierende führen gemeinsam Evaluationsprojekte in Schulen durch. Dadurch wird ein erheblicher Teil des Studiums zu einem forschenden Lernen, das die Studierenden auf die Dimensionen einer religionssensiblen Schulkultur und Schulentwicklung einstimmt42. Es ist zu wünschen, dass dieses einzigartige Projekt auch andere Universitäten inspiriert.
Literatur Baumert, Jürgen: Was soll man unter Bildung verstehen? Eine analytische Perspektive, in: Die Deutsche Schule, 100. Jg., H. 1, 2008, 16 – 21 Benner, Dietrich: Bildung und Religion. Überlegungen zu ihrem problematischen Verhältnis und zu den Aufgaben eines öffentlichen Religionsunterrichts heute, in: Battke, Achim/Fitzner, Thilo/Isak, Rainer/Lochmann, Ullrich (Hg.): Schulentwicklung – Religion – Religionsunterricht, Freiburg u. a. 2002, 51 – 70 Englert, Rudolf : Religionspädagogik in der Schule, in: Schweitzer, Friedrich/Schlag, Thomas (Hg.): Religionspädagogik im 21. Jahrhundert, Freiburg im Breisgau 2004 Fend, Helmut: Neue Theorie der Schule. Einführung in das Verstehen von Bildungssystemen, Wiesbaden 2006 Fend, Helmut: Schule gestalten. Systemsteuerung, Schulentwicklung und Unterrichtsqualität, Wiesbaden 2008 Hemel, Ulrich: Religionspädagogik im Kontext von Theologie und Kirche, Düsseldorf 1986 Hemel, Ulrich: Religiöse Kompetenz und Lebenskompetenz. Religionsunterricht, Religiöse Kompetenz, kompetenzorientierte Lehrpläne und der persönliche Lebensentwurf junger Menschen, Unveröff. Manuskript, vorgetragen auf der Religionspädagogischen Jahreskonferenz des RPZ in Freising am 9. Juli 2011 Jäggle, Martin: Wie nimmt Schule kulturelle und religiöse Differenz wahr?, in: Porzelt, Burkard/Güth, Ralph (Hg.): Empirische Religionspädagogik. Grundlagen – Zugänge – aktuelle Projekte, Münster – Hamburg – London 2000, 119 – 138 Jäggle, Martin: Der christliche Religionsunterricht und die Anderen, in: KBl 131 (2006) 131 – 134 Jäggle, Martin: Religiöse Pluralität als Herausforderung der Schulentwicklung, in: Jäggle, Martin/Krobath, Thomas/Schelander, Robert (Hg.): lebens.werte.schule. Religiöse Dimensionen in Schulkultur und Schulentwicklung, Münster, Wien – Berlin 2009, 265 – 280 Jäggle, Martin/Krobath, Thomas: Schulentwicklung für eine Kultur der Anerkennung. 42 Vgl. Krobath/Jäggle 2010
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Wolfgang Schönig
Pädagogische, organisationsethische und religionspädagogische Akzente, in: Jäggle, Martin/Krobath, Thomas/Schelander, Robert (Hg.): lebens.werte.schule. Religiöse Dimensionen in Schulkultur und Schulentwicklung, Wien – Berlin 2009, 23 – 60 Jäggle, Martin/Krobath, Thomas: Bildung, Gerechtigkeit und Würde. Kultur der Anerkennung, in: Amt und Gemeinde, H. 1 (2010) 51 – 63 Jäggle, Martin/Krobath, Thomas/Schelander, Robert (Hg.): lebens.werte.schule. Religiöse Dimensionen in Schulkultur und Schulentwicklung. Wien – Berlin 2009 Klafki, Wolfgang: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik, Weinheim, Basel 1985 Klafki, Wolfgang: Schlüsselqualifikationen/Allgemeinbildung – Konsequenzen für Schulstrukturen, in: Braun, Karl-Heinz (Hg.): Schule mit Zukunft. Bildungspolitische Empfehlungen und Expertisen der Enquete-Kommission des Landtages von SachsenAnhalt, Opladen 1998, 145 – 208 Knab, Doris: Religion im Blickfeld der Schule, in: Jahrbuch für Religionspädagogik, Bd.12. (1995), 57 – 71 Krobath, Thomas/Jäggle, Martin: Evaluation auf gleicher Augenhöhe. Reflexion auf Schulentwicklung im Dialog zwischen LehrerInnen und LehramtsstudentInnen, in: Schönig, Wolfgang/Baltruschat, Astrid/Klenk, Gerald (Hg.): Dimensionen pädagogisch akzentuierter Schulevaluation, Baltmannsweiler 2010, 167 – 187 Pongratz, Ludwig A.: Bildung im Bermuda-Dreieck: Bologna – Lissabon – Berlin, Eine Kritik der Bildungsreform, Paderborn u. a., 2009 Roth, Kristina: Sinnhorizonte christlich gestalteter Schule. Dissertation an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt 2012 Sajak, Clauß Peter : Interreligiöses Lernen – Herausforderung für den Religionsunterricht, in: Rendle, Ludwig (Hg.): Mehr als reden über Religion, Donauwörth 2006, 73 – 83 Scheilke, Christoph: „Religion“ ist für schulische Bildung heute erst recht unabdingbar, in: Glaser, Edith/Maurer, Susanne/Schönig, Wolfgang (Hg.): Immer einen Schritt voraus! Doris Knab als Reformerin – Anliegen, Aufgaben, Wirkungsgeschichte, Baltmannsweiler 2008, 95 – 102 Schönig, Wolfgang: Die moderne Schule im Spannungsfeld von Diversität und Standardisierung, in: Jäggle, Martin/Krobath, Thomas/Schelander, Robert (Hg.): lebens.werte. schule. Religiöse Dimensionen in Schulkultur und Schulentwicklung, Wien – Berlin 2009, 61 – 81 Schönig, Wolfgang: Glaubwürdigkeitstests oder : Schultheoretische und bildungstheoretische Überlegungen zum pädagogischen Reduktionismus der Schulevaluation, in: Schönig, Wolfgang/Baltruschat, Astrid/Klenk, Gerald (Hg.): Dimensionen pädagogisch akzentuierter Schulevaluation, Baltmannsweiler 2010, 61 – 84 Schönig, Wolfgang/Baltruschat, Astrid/Klenk, Gerald (Hg.): Dimensionen pädagogisch akzentuierter Schulevaluation, Baltmannsweiler 2010 Schweitzer, Friedrich: Pädagogik und Religion. Eine Einführung, Stuttgart 2003
Edda Strutzenberger-Reiter
Religion in der Schulentwicklung – Perspektiven von ReligionslehrerInnen
Martin Jäggle hat vor allem in den letzten Jahren auf die Bedeutung von Religion und religiöser Pluralität in der Schulentwicklung aufmerksam gemacht1 und gab mir dadurch einen Anstoß für die Fragestellung meiner Dissertation. Sie sucht Antworten auf die Frage, welche Bedeutung Religion und religiöse Pluralität in der Schulentwicklung haben. Religion und religiöse Pluralität an den Schulen werden im religionspädagogischen Diskurs als ein immer wichtiger werdender Faktor dargestellt, allerdings gibt es kaum empirische Untersuchungen dahingehend, wie die am Schulleben beteiligten Personen dieses Phänomen wahrnehmen2. Ich wählte daher einen qualitativ-empirischen Zugang, um diese Lücke zu füllen und die Beteiligten selbst zur Sprache kommen zu lassen. Im Folgenden gebe ich einen Einblick in diese Forschungsarbeit und präsentiere die wichtigsten Ergebnisse der empirischen Untersuchung. Dafür begründe ich in einem ersten Schritt die gemeinsame Thematisierung von Religion und Schulentwicklung und lege mein Verständnis von Schulentwicklung dar (1). Im Anschluss daran gehe ich auf die Grundlagen der dokumentarischen Methode ein und rekurriere auf die wichtigsten Forschungsergebnisse (2).
1.
Der Zusammenhang zwischen Religion und Schulentwicklung
1.1
Wahrnehmungen
Mit der Frage, welche Bedeutung Religion in der Schulentwicklung zukommt, wird ein Themenkomplex aufgegriffen, der gerade in den letzten Jahren vermehrt öffentliche Aufmerksamkeit fand. Die mediale Thematisierung der Be1 Vgl.: Jäggle 2009 2 Jäggle/Krobath/Schelander, 2009, 11 – 22
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Edda Strutzenberger-Reiter
ziehung zwischen Religion und Schule ist mit dem sogenannten „Kruzifixurteil“ des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im November 2009 neu aufgeflammt.3 Vor diesem Hintergrund fand auch in Österreich eine kontroversielle Debatte darüber statt, inwiefern religiöse Symbole an öffentlichen Bildungseinrichtungen einen Platz haben4. Hier wird die Forderung nach einem Kreuzverbot in Schulen meist mit der Frage nach religiöser Pluralität verbunden, die wiederum in einem undifferenzierten Mechanismus mit „Konflikten“ gleichgesetzt wird.5 Angehörige von Minderheitenreligionen, im konkreten des Islam, werden unter den Generalverdacht des Fundamentalismus und damit einhergehender Gewalt gestellt, gelebte Religiosität zu einem Störfaktor erklärt, den es um des friedlichen Zusammenlebens in der Schule willen möglichst zu verdrängen gilt. Der Zusammenhang zwischen (religiöser) Pluralität, Gewalt und Konflikt wird augenscheinlich. Doch ist das tatsächlich so? Führt (religiöse) Pluralität automatisch zu Konflikten und gefährdet die Ausübung und Wahrnehmung von Religion an Schulen den Schulfrieden? Hier erfolgt meiner Ansicht nach eine verkürzte Darstellung und Wahrnehmung von Religion, die durch eine wissenschaftlich begründete Perspektive zu erweitern ist.
1.2
Religion: ein relevantes Thema in der Schulentwicklung
Die Beschäftigung mit dem Thema Religion und Schule kann Irritationen und Sorge auslösen, die vor allem der Angst vor der Vereinnahmung von Schule durch Kirche und Religion geschuldet ist. Diese Sorge ist aufgrund der immer wiederkehrenden Schlagzeilen und der historischen Entwicklungen verständlich6. Es geht hier nach Martin Jäggle aber nicht darum, die säkulare Schule religiös aufzuladen oder durch kirchliche Interessen (wieder) zu vereinnahmen7, sondern darum, in einer religiös pluralen Gesellschaft nach der Bedeutung und dem Stellenwert von Religion in der Schule, im Schulleben und in der Schul3 Vgl.: http://derstandard.at/1256743926197/Urteil-Kruzifixe-in-Italiens-Schulen-widersprechen-Religionsfreiheit (Zugriff am 16. 01. 2012); Mit diesem Urteil wurde das Anbringen von Kreuzen an öffentlichen Schulen in Italien mit der Begründung verboten, dass sie die Religionsfreiheit der SchülerInnen verletzen würden. Am 18. 3. 2011 hat der EGMR dieses Urteil revidiert. http://derstandard.at/1297820817099/EGMR-gibt-Italien-im-Kruzifix-Streit-Recht (Zugriff am 13. 2. 2013) 4 http://derstandard.at/1297820539899/VfGH-Kreuz-im-Kindergarten-nicht-verfassungswidrig (Zugriff am 16. 01. 2012) 5 Der Kirchenhistoriker Hermann Hold stellt bspw. die Frage, ob das Kreuz angesichts eines „zunehmend aggressiven Zusammentreffen[s] von Kulturen“ (http://www.nachrichten.at/ oberoesterreich/art4,288643; Zugriff am 6. 11. 2009) noch adäquat sei. 6 Vgl.: Strutzenberger, lebens.werte.schule, 2010, 71 7 Vgl.: Jäggle/Krobath 2009, 49
Religion in der Schulentwicklung – Perspektiven von ReligionslehrerInnen
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entwicklung zu fragen. Er und Thomas Krobath begründen diese Frage auch damit, dass in der Schule, um zukunftsfähig zu sein, gemeinsam an Unterschieden gelernt werden müsse – unter der Voraussetzung, dass nichtdiskriminierende Kommunikationsformen dafür grundgelegt werden8. Gerade in einer von religiöser Pluralität geprägten Situation gilt es, interreligiöses Lernen umzusetzen, Unterschiede und Differenzerfahrungen im religiösen Bereich zu thematisieren und auf Gemeinsames zu verweisen. SchülerInnen benötigen auch und gerade im Umgang mit Religion Pluralitätskompetenz, wenn ein friedliches gesellschaftliches Miteinander verwirklicht werden soll. Martin Jäggle u. a. verweisen dementsprechend darauf, dass durch die Thematisierung von Religion in Schulentwicklungsprozessen auch auf die Relevanz von demokratischen Grundlagen des Zusammenlebens verwiesen wird9. Es geht hier also nicht darum, andere in ihrer Freiheit einzugrenzen und ihnen die je eigenen Überzeugungen aufzuoktroyieren, sondern darum, ausgehend von einem Menschenbild der Würde und der Anerkennung des/der Anderen Grundsätze zu finden, die für alle trag- und lebbar sind, und Kompetenzen zu erlangen, die ein Zusammenleben in der Diversität einer Gemeinschaft ermöglichen10. Leitend für diese Überlegungen ist ein Verständnis von Religion, das sie als eine Dimension des Lebens vor Ort wahrnimmt und das sie entsprechend einem weiten Verständnis von Religion11 in unterschiedlichen Bereichen als einen relevanten Faktor ansieht. So kommt Religion in ihrer anthropologischen Dimension durch die SchülerInnen und LehrerInnen mit ihren existenziellen Fragen und religiösen Bedürfnissen in den Blick. Diesem Bedürfnis tragen bspw. die Einrichtung von Reflexionsräumen und Orten der Begegnung Rechnung. Aus phänomenologischer Perspektive kann darauf geachtet werden, welche Formen des Ausdrucks von Religion in der Schule ihren Platz haben, wie in der Frage, ob sie in öffentlichen Dokumenten sichtbar wird, aber auch in der Gestaltung des Jahreskreises und in der Form, wie religiöse Erfahrungen ermöglicht werden. Hierunter fallen ebenso die Gestaltung des Beziehungs- und Kommunikationsgeschehens und die Art der Zusammenarbeit. Funktional gesehen ist damit zu rechnen, dass Religion ein relevanter Faktor in der Krisenbewältigung und im Umgang mit Kontingenz ist. Hier kann aber auch auf die unterschiedlichen Dienstleistungen, die Religion in der Gesellschaft anbietet, hingewiesen werden. Dem materialen Verständnis entsprechen vor allem die Themen, die im Unterricht behandelt werden, die aber
8 9 10 11
Vgl. ebd. 56 Vgl. Jäggle/Krobath/Schelander 2009, 11 Vgl. Strutzenberger, Gender und Religion, 2010, 52 Vgl.: Porzelt, 2009, 45 – 108
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Edda Strutzenberger-Reiter
durchaus Wirkkraft darüber hinaus haben können.12 Mit diesem weiten Verständnis von Religion kann sie also in den verschiedenen Dimensionen des Schullebens eine Rolle spielen. Daraus wiederum ergibt sich die Verknüpfung mit Schulentwicklung, wenn es in ihr darum geht, ein friedvolles Miteinander und eine gerechte und nichtdiskriminierende Schulkultur Realität werden zu lassen.
1.3
Zum Verständnis von Schulentwicklung
Schulentwicklung ist eng verbunden mit dem Konzept der Organisationsentwicklung und übernimmt unter anderem das organisationale Denken von ihr. Organisationsentwicklung ist ein dynamischer Ansatz, der auf der Annahme sich fortlaufend entwickelnder Strukturen und lernfähiger handelnder Individuen basiert. Organisationen werden dabei als lebendig betrachtet, insofern sie durch das Handeln der Subjekte in Bewegung bleiben, Strukturen nicht starr und unveränderbar wahrgenommen werden, sondern in dynamischen und interessengeleiteten Prozessen gestaltet werden können. So ist Organisationsentwicklung mit Hans-Günter Rolff auch als ein Lernprozess von Menschen und Organisationen zu verstehen13. Schulen sind nicht technokratisch zu entwickeln und zu gestalten, da es im Kern darum geht, pädagogische Prozesse zu realisieren, welche auf sozialen Interaktionen und der Bildungsproduktion in komplexen Lern- und Lehrsituationen beruhen14. Diese Annahmen finden sich auch in der Definition des Erziehungswissenschaftlers Wolfgang Schönig wieder : „Schulentwicklung im Sinne der Entwicklung der einzelnen Schule ist das Bemühen der an der Schule Beteiligten, das Lernen, Arbeiten und Leben in der Schule systematisch, zielgerichtet und kontinuierlich zu verbessern. Dazu werden die wesentlichen Orientierungsgrößen des Handelns in der Schule gemeinsam geprüft, die Ziele geklärt, die überfachliche Kooperation der Lehrer und Lehrerinnen gesichert und die Leistungen der Schule als Ganzer an pädagogischen Standards ausgewiesen.“15
Schulentwicklung wird also nicht als eine additive Größe zum schon bestehenden Schulalltag verstanden, sondern sie stellt ein konsistentes Programm dar, in dem alle Handlungsbereiche der Schule, im Sinne der Organisations12 Eine genauere Darstellung des Verständnisses von Religion und welche Konsequenzen dieses für die Schulentwicklung hat, finden sich in: Strutzenberger 2012, 42 – 83 13 Rolff 2010, 29 – 36 14 Holtappels/Rolff 2010, 76 15 Schönig 2002, 261
Religion in der Schulentwicklung – Perspektiven von ReligionslehrerInnen
223
entwicklung, aufeinander abgestimmt sind16. Sie findet dabei unter zwei Prämissen statt: der organisatorischen Struktur von Schule und der pädagogischen Antworten auf die Herausforderungen der heutigen Zeit17. Hier erfolgt wiederum die Rückkoppelung an die Thematisierung von Religion: Es gilt Antworten auf religiöse Pluralität als eine der großen Herausforderungen heute zu geben, die nicht allein im Religionsunterricht gefunden werden können. Schulentwicklung kann dabei ein Instrument sein, mithilfe dessen sich die Schule selbst als pluralitätsfähig erweist. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen fand die empirische Untersuchung meiner Dissertation statt. Ich wählte dafür die dokumentarische Methode.
2.
Ein empirisch-qualitativer Zugang
2.1
Grundlagen der dokumentarischen Methode
Ralf Bohnsack zufolge ist das Ziel der dokumentarischen Methode die Rekonstruktion von Lebensorientierungen und Relevanzsystemen der Forschungssubjekte18. Grundlegend dafür ist die Unterscheidung zwischen kommunikativem und konjunktivem Wissen, wobei sich ersteres auf explizites Wissen der Forschungssubjekte bezieht und zweites auf implizite Wissensformen – darunter wird jenes Wissen verstanden, über das die handelnden Personen zwar verfügen, welches sie aber schwer explizieren können. Dieses implizite Wissen ergibt sich aufgrund einer gemeinsam geteilten Praxis von Menschen in ihren unterschiedlichen Lebenskontexten und ist demnach mit milieuspezifischen Bedeutungen versehen. In der dokumentarischen Methode geht es nun darum, dieses implizite Wissen und seine jeweilige Bedeutung zu explizieren.19 In Anschluss an die Differenzierung zwischen konjunktivem und kommunikativem Wissen können nach Arnd-Michael Nohl zwei verschiedene Sinnebenen20 in den Äußerungen von Menschen gefunden werden: der immanente Sinngehalt und der Dokumentsinn. Auf der Ebene des immanenten Sinngehalts kommen zum einen Motive und Absichten der ErzählerInnen zum Vorschein, zum anderen aber auch eine allgemeine Bedeutung eines Textinhalts oder einer Handlung21. Im Dokumentsinn hingegen geht es darum, die geschilderte Erfahrung als Dokument einer Orientierung, die eine Erfahrung strukturiert, zu 16 17 18 19 20 21
Vgl. ebd. 261 f Vgl. Strutzenberger 2010, 42 Vgl. Bohnsack 62007, 32 Bohnsack/Nentwig-Gesemann/Nohl 22007, 9 – 12 Nohl beruft sich hier auf: Mannheim 1964, 91 – 154 Vgl.: Nohl 2009, 8
224
Edda Strutzenberger-Reiter
rekonstruieren. Hier wird die Herstellungsweise, wie ein Text und die Handlung, von der er berichtet, aufgebaut ist und in welchem Rahmen ein Thema abgehandelt wird, relevant22. Es geht in der Analyse in der dokumentarischen Methode also darum, zu rekonstruieren, wie eine Äußerung zustande kommt und anhand welcher Orientierungsrahmen ein Thema behandelt wird23. Für meine Forschungsarbeit heißt das, dass sich die InterviewpartnerInnen bezüglich der Frage nach der Bedeutung von Religion in Schulentwicklungsprozessen an konjunktiven Erfahrungsräumen orientieren. Gerade ihr implizites Wissen und seine Orientierungsfunktion sind für die Forschung von großer Relevanz, da es Auskunft darüber geben kann, ob und wie die vielfältigen Phänomene „gelebter Religion“24 in Schule und Schulentwicklung aus ihrer Sicht vorhanden sind.
2.2.
Die Ergebnisse der empirischen Forschung
Die Grundlage der Beantwortung der im ersten Teil genannten Fragebereiche bieten die Transkripte jener qualitativen Interviews, die ich mit acht katholischen ReligionslehrerInnen – fünf Frauen und drei Männer, die in Wien an einer allgemeinbildenden höheren Schule (AHS) unterrichten und in unterschiedlicher Form an Schulentwicklungsprozessen beteiligt sind bzw. waren – durchgeführt habe. Sie wurden von mir zu ihrer Wahrnehmung von Religion in der Schulentwicklung, über ihre Art der Beteiligung, über ihre Funktionen und Kompetenzen, die sie in die Schulentwicklung innehaben bzw. einbringen, über ihre Vorstellungen einer guten Schule und über ihre Erwartungen an den Schulentwicklungsprozess befragt. Die Erkenntnisse sind als erste vorsichtige Interpretationen zu werten, denn jede empirische Forschung wirft auch neue Fragen auf25 und ihre jeweiligen Ergebnisse bedürfen einer diskursiven Weiterentwicklung. 2.2.1 Religion als das „Unterrichtsfach Katholische Religion“ Aufgrund der Forschungsergebnisse aus einer Studie von Andreas Feige und Werner Tzscheetzsch, die offenlegten, dass ReligionslehrerInnen in den Sekundarstufen des Gymnasiums die Sensibilisierung für Dimensionen des Religiösen überhaupt und das damit verbundene theologische Wissen in den Vor22 23 24 25
Vgl. ebd. 9 Vgl. Bohnsack/Nentwig-Gesemann/Nohl 2007, 15 Heimbrock/Meyer 2007 Vgl. Bucher/Miklas, 2005, 208
Religion in der Schulentwicklung – Perspektiven von ReligionslehrerInnen
225
dergrund stellen26 und aufgrund der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Religionsbegriff ging ich davon aus, dass den befragten LehrerInnen die Frage nach Religion allgemein wichtig ist und sie daher auch eine Sensibilität für religiöse Dimensionen in Schule und Schulentwicklung mitbringen würden. Diese Annahmen wurden nicht bestätigt, die außerunterrichtliche Dimension von Religion thematisierten die LehrerInnen kaum und fast immer, wenn es um „Religion“ ging, nahmen die InterviewpartnerInnen auf das „Unterrichtsfach Religion“ Bezug. Das Interessante dabei ist allerdings, dass fast alle befragten ReligionslehrerInnen über den Unterricht hinaus religiöse Angebote umsetzen. So erzählten sie davon, dass sie bspw. interreligiöse Feiern und Gottesdienste organisieren oder Sozialprojekte durchführen. Genau solche Aktivitäten würden theoretisch gesehen unter den Begriff Religion fallen, in der Praxis der LehrerInnen scheint dies nicht der Fall zu sein. Das ist zum einen mit Blick auf die Expertise der ReligionspädagogInnen überraschend und irritierend, zum anderen ist es vor dem Hintergrund verständlich, dass der Zusammenhang zwischen Schule und Religion kaum thematisiert wird. Dieses Verständnis von Religion als das Unterrichtsfach verweist m. E. auch auf den Lebenskontext der LehrerInnen und die Logik des Systems Schule: Sie wird als anhand der Fächerverteilungen und entlang der Fächergrenzen organisiert verstanden. Religion als ein Faktor, der darüber hinaus eine Rolle spielt, würde der Logik dieses Systems widersprechen, für Irritationen sorgen und wird daher nicht explizit. Dieses Ergebnis spricht aber auch dafür, dass die ReligionslehrerInnen sehr achtsam mit dem Phänomen Religion umgehen und sich gegen jegliche Vereinnahmungstendenzen aussprechen. 2.2.2 Ein umstrittener Status Ein weiteres zentrales Ergebnis der empirischen Forschung bezieht sich m. E. auf die Ausgangslage, welche die Teilnahme von ReligionslehrerInnen an Schulentwicklungsprozessen bestimmt. Hier entstand ein disparates Bild, das sich vor allem um die Frage eines etwaigen Sonderstatus von ReligionslehrerInnen im System Schule dreht. Ihre Situation ergibt sich der schulischen Systemlogik entsprechend auch aus der Stellung des Religionsunterrichts in der Schule, wobei die Ansichten über diese Position variieren. So betonen einige der InterviewpartnerInnen, dass sie über einen gleichen Status wie alle anderen LehrerInnen in der Schule verfügen. Eine Interviewpartnerin formuliert das so: „Ich habe mich nie als Religionslehrerin als eine Lehrerin zweiter Klasse gefühlt.“ (Interview G, Z. 278). Andere InterviewpartnerInnen nehmen aber auch immer wieder Bezug darauf, dass sich der Religionsunterricht beispielsweise 26 Vgl. Feige/Tzscheetzsch 2005, 19 f
226
Edda Strutzenberger-Reiter
anhand von gelungenen Leistungen der SchülerInnen bei der Matura erst beweisen müsse: „Die Vorstellung der Kollegen ist auch oft so eben der Religionsunterricht, das ist halt so ein bisschen zeichnen, malen, basteln. Und wann man dann bei der Matura schöne Sachen abliefert sozusagen oder die Schüler das einfach wunderbar rüberkriegen, dann kriegt das Fach einfach einen höheren Stellenwert.“ (Interview C, Z. 71)
Das Kennzeichen der Lage von ReligionslehrerInnen an den Schulen ist eine Ambivalenz, die m. E. auf die diverse Wahrnehmung des Faches in der Schule zurückzuführen ist. Einerseits ist es ein Anliegen der Interviewten, als selbstverständliche Mitglieder der Schule wahrgenommen zu werden, andererseits müssen sie sich gegenüber der im impliziten Wissen verankerten Hierarchie der Fächer positionieren, was für Einzelne ein Ringen um Anerkennung bedeuten und die Teilnahme an Schulentwicklungsprozessen erschweren kann. Bringt man diese Erkenntnis in Bezug zur Literatur, so wird dort oft die potenzielle Schlechterstellung der ReligionslehrerInnen in der Schule thematisiert. HansGeorg Ziebertz et al. bspw. stellen in ihrer Untersuchung „Religiöse Signaturen heute“27 fest, dass sich ReligionslehrerInnen tendenziell in einer Situation wiederfinden, in der sie sich gegen eine pauschal abwehrende oder indifferente Stimmung durchsetzen müssen28. Auch Bernd Schröder thematisiert diese Schwierigkeit und führt aus, dass sich die Lehrenden aufgrund der Marginalisierung von Religion, eines öffentlichen Klimas der Religionsfeindlichkeit und einer Heimatlosigkeit in den Kirchengemeinden in der Schule als minderwertig und ihren KollegInnen unterlegen erfahren können29. Diese Unterlegenheit kommt in den Interviews kaum vor, vielmehr wird der Status der ReligionslehrerInnen differenziert bearbeitet. 2.2.3 Strukturelle Schwierigkeiten mit religiöser Pluralität Einen weiteren großen Themenbereich bildete die Frage danach, wie Pluralität in der Schule und Schulentwicklung wahrgenommen werden. Der Befund diesbezüglich ist mit Blick auf die Schulentwicklung desillusionierend. In keiner der von mir untersuchten Schulen und ihrer Entwicklungsprozesse ist Pluralität ein Thema, welches explizit bearbeitet wird. Als einzige Reaktion auf stattfindende Pluralisierungsprozesse schilderten die InterviewpartnerInnen die Einführung des islamischen Religionsunterrichts, die sie auf der einen Seite positiv aufnehmen, auf der anderen Seite wiederum sorgt genau das für eine Segregation der Angehörigen unterschiedlicher Religionsgesellschaften. 27 Vgl. Ziebertz/Kalbheim/Riegel 2003 28 Vgl. ebd. 85 29 Schröder 2009, 97 f
Religion in der Schulentwicklung – Perspektiven von ReligionslehrerInnen
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Die ReligionslehrerInnen selbst sehen sich allerdings in der Verantwortung, interreligiöses Lernen umzusetzen und in diesem Bereich ihren Beitrag zu leisten. Fast alle der Interviewten äußern von sich aus, dass sie sich einen intensiveren Kontakt mit VertreterInnen anderer Religionsgesellschaften wünschen würden, dieser aber strukturell erschwert wird: „Also heuer ist er (der islam. Religionslehrer, Anm.) glaub ich Freitagnachmittag da und er ist dann die Konferenzen nicht so oft da, ahm. Also ich kenne mich im Islam ganz gut aus und, würde manchmal gern eventuell auch religionsübergreifend was machen. Aber ich kenne ihn noch zu wenig, dass ich da wirklich, ja, da sind wir noch nicht so ins Gespräch gekommen.“ (Interview C. Z. 132 – 141).
In Bezug auf die strukturellen Schwierigkeiten wird auch der Ruf nach mehr Unterstützung von Seiten der Kirchenleitungen laut, denn interreligiöse Zusammenarbeit beruht im Moment auf der Initiative Einzelner und kommt, so sie nicht strukturell abgesichert ist und sich beide Seiten mit gleichem Arbeitsaufwand einbringen können, schnell an ihre Grenzen: „Und da denk ich mir, da haben wirklich die Kirchen und Religionsgemeinschaften eine schwere Verantwortung.“ (Interview F, Z. 814 – 816). Für Schulentwicklungsprozesse und die Wahrnehmung von religiöser Pluralität darin wird hier sichtbar, dass erst grundlegende Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen, die eine Zusammenarbeit überhaupt ermöglichen. Die als negativ empfundene Einstellung der Gesellschaft gegenüber Pluralität, die in schlechten Rahmenbedingungen für einen aktiven Umgang mit ihr ihren Niederschlag findet, wird auch im impliziten Wissen der ReligionslehrerInnen deutlich und strukturelle Schwierigkeiten werden als Hinderungsgrund für eine interreligiöse Zusammenarbeit erörtert. Hier wird sichtbar, dass die allgemeine Ignoranz von Pluralität an Schulen ein wirkmächtiges Instrument ist, um Fragen der Vielfalt auszublenden und Kooperationen auf dieser Ebene zu verhindern. Insofern spiegelt sich die gesellschaftliche Wahrnehmung von Pluralität als Problemfall in den schulischen Strukturen wider.
2.2.4 Wissenschaftlicher Ertrag der Arbeit Der wissenschaftliche Ertrag meiner Forschungsarbeit sollte eine systematische Zusammenschau der Themen Schulentwicklung und Religion leisten. Dafür ging ich in einem ersten, theoretisch fundierten Teil darauf ein, wie dieser Zusammenhang überhaupt gedacht werden kann. Als eine zentrale Erkenntnis blieb hier – auch in Anschluss an Martin Jäggle30 – dass Religion in der Schule in unterschiedlichen Dimensionen präsent sein kann. Empirisch begründet ist 30 Vgl.: Jäggle, 2009
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Edda Strutzenberger-Reiter
diese Annahme allerdings differenziert zu betrachten. Die befragten ReligionslehrerInnen rekurrieren mit ihrem Begriff von Religion zwar immer auf das Unterrichtsfach Religion, zeigen aber implizit andere Dimensionen von Religion in der Schule auf, wie bspw. innerhalb der Themen ihrer Projekte. Hier gilt es, zu fragen, warum dem so ist und ob und inwiefern es für die ReligionslehrerInnen überhaupt wünschenswert ist, Religion in all ihren unterschiedlichen Dimensionen an der Schule aktiv zu thematisieren. ReligionspädagogInnen stehen hier vor der Herausforderung, – so sie es wollen – religionssensible Wahrnehmungen und Perspektiven anzubieten und für die Schule fruchtbar zu machen, ohne sie diesem System aufzuoktroyieren. Die empirische Vorgehensweise dieser Arbeit erwies sich insofern als ergiebig, da durch sie Einblicke in die Berufsrealität der befragten ReligionslehrerInnen und ihre Relevanzsetzungen möglich wurden. So wurde ein erster Zugang zur Thematik eröffnet, der durch andere Forschungsdesigns noch ergänzt werden könnte. Die Beschränkung auf die Ebene der LehrerInnen bspw. war forschungspraktischen Gründen geschuldet, es wäre noch von Interesse, andere Gruppen zu beteiligen, wie die SchülerInnen oder Eltern. Hier würden sich Fallstudien zur weiteren Erforschung des Themengebiets nahelegen. Gleichzeitig war es Ziel meiner Arbeit, sensibilisierend für die verschiedenen möglichen Dimensionen von Religion und religiöser Pluralität in der Schule wirksam zu werden. Den Beitrag, den die Religionspädagogik mit ihrer spezifischen Perspektive auf Schulentwicklungsprozesse einbringen kann, liegt m. E. in einem ersten Schritt vor allem in dieser Funktion. Es gilt, schon in der Ausbildung der LehrerInnen, nicht nur der ReligionslehrerInnen, die Wahrnehmungsfähigkeit für die Dimensionen von Religion und religiöser Pluralität zu fördern, sodass die vor Ort vorhandenen Anforderungen und Implikationen auch in den Schulentwicklungsprozess eingebunden werden können. Die Frage nach dem Umgang mit Religion in Schulentwicklungsprozessen kann nicht verallgemeinert werden, vielmehr geht es darum, unterschiedliche Bedürfnisse, schon vorhandene Angebote, etc. wahrzunehmen und als Ressource in die Schulentwicklung aufzunehmen, ohne die Religionsfreiheit der Einzelnen einzuschränken. Die Ergebnisse können als ein Anstoß für die Weiterführung von der Frage Martin Jäggles nach Religion und religiöser Pluralität in der Schule verstanden werden: Wie können ReligionspädagogInnen heute Deutungskompetenzen für Religion erwerben? Wo erfolgt eine Sensibilisierung für religiöse Dimensionen in der Welt von heute? Welche Möglichkeiten haben die zukünftigen LehrerInnen, diversitäts- und pluralitätskompetent zu werden? Inwiefern ermöglichen die ausbildenden Institutionen interreligiöse Kontakte unter den Studierenden bzw. mit VertreterInnen anderer Religionen? Wie werden die angehenden LehrerInnen auf den Umgang mit religiöser Pluralität vorbereitet? Es sind
Religion in der Schulentwicklung – Perspektiven von ReligionslehrerInnen
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Fragen, die heute mehr denn je einer Antwort bedürfen, wollen Theologie und Religionspädagogik zukunftsfähig sein.
Literatur Bohnsack, Ralf: Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden, Opladen 62007 Bohnsack, Ralf/Nentwig-Gesemann, Iris/Nohl, Arnd-Michae: Einleitung: Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis, in: diess. (Hg.), Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Grundlagen qualitativer Sozialforschung, Wiesbaden 22007, 9 – 27 Feige, Andreas/Tzscheetzsch, Werner : Christlicher Religionsunterricht im religionsneutralen Staat. Unterrichtliche Zielvorstellungen und religiöses Selbstverständnis von ev. und kath. Religionslehrerinnen und -lehrern in Baden-Württemberg. Eine empirischrepräsentative Befragung, Stuttgart 2005 Bucher, Anton/Miklas, Helene (Hg.): Zwischen Berufung und Frust. Die Befindlichkeit von katholischen und evangelischen ReligionslehrerInnen in Österreich, Wien 2005 Heimbrock, Hans-Günter/Meyer, Peter : Einleitung: Im Anfang ist das Staunen, in: Dinter, Astrid/Heimbrock, Hans-Günter/Söderblom, Kerstin (Hg): Einführung in die empirische Theologie. Gelebte Religion erforschen, Göttingen 2007 Holtappels, Heinz Günter/Rolff, Hans-Günter : Einführung: Theorien der Schulentwicklung, in: Bohl, Thorsten/Helsper, Werner/Holtappels, Hans-Günter/Schelle, Carla (Hg.): Handbuch Schulentwicklung, Bad Heilbrunn 2010, 73 – 79 Jäggle, Martin: Religiöse Pluralität als Herausforderung für Schulentwicklung, in: Jäggle, Martin/Krobath, Thomas/Schelander, Robert (Hg.): lebens.werte.schule. Religiöse Dimensionen in Schulkultur und Schulentwicklung, Wien – Berlin 2009, 265 – 280 Jäggle, Martin/Krobath, Thomas/Schelander, Robert: Religiöse Dimensionen in der Schule. Vom scheinbaren Randthema zu zentralen Fragen der Schulentwicklung, in: diess. (Hg.): lebens.werte.schule. Religiöse Dimensionen in Schulkultur und Schulentwicklung. Wien – Berlin 2009, 11 – 22 Jäggle, Martin/Krobath, Thomas: Schulentwicklung für eine Kultur der Anerkennung. Pädagogische, organisationsethische und religionspädagogische Akzente, in: Jäggle, Martin/Krobath, Thomas/Schelander, Robert (Hg.): lebens.werte.schule. Religiöse Dimensionen in Schulkultur und Schulentwicklung, Wien – Berlin 2009, 23 – 60 Mannheim, Karl: Beiträge zur Theorie der Weltanschauungsinterpretation, in: ders.: Wissenssoziologie, Neuwied 1964, S. 91 – 154 Nohl, Arnd-Michael: Interview und dokumentarische Methode. Anleitungen für die Forschungspraxis, Wiesbaden 2009 Porzelt, Burkard: Grundlegung religiöses Lernen, Bad Heilbrunn 2009 Rolff, Hans-Günter : Schulentwicklung als Trias von Organisations-, Unterrichts- und Personalentwicklung, in: Bohl, Thorsten/Helsper, Werner/Holtappels, Hans-Günter/ Schelle, Carla (Hg.): Handbuch Schulentwicklung, Bad Heilbrunn 2010, 29 – 36 Schönig, Wolfgang: Schulentwicklung. Über eine „terminologische Nebelbombe“ und das „Religiöse“ im Schulkonzept, in: Battke, Achim/Fitzner, Thilo/Isak, Rainer/Lochmann,
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Edda Strutzenberger-Reiter
Ullrich (Hg.): Schulentwicklung – Religion – Religionsunterricht. Profil und Chance von Religion in der Zukunft der Schule, Freiburg im Breisgau 2002, 259 – 273 Schröder, Bernd: Religiöse Dimensionen in Schulkultur und Schulentwicklung, in: Jäggle, Martin/Krobath, Thomas/Schelander, Robert (Hg.): lebens.werte.schule. Religiöse Dimensionen in Schulkultur und Schulentwicklung, Wien – Berlin 2009, 83 – 109 Strutzenberger, Edda: lebens.werte.schule. Religiöse Dimensionen in Schulkultur und Schulentwicklung, in: Warwas, Julia/Sembill, Detlef (Hg.): Schule zwischen Effizienzkriterien und Sinnfragen, Hohengehren 2010, 71 – 95 Strutzenberger, Edda: Gender und Religion. Neue Perspektiven der Schulentwicklung, Saarbrücken 2010 Strutzenberger, Edda: „Dass Religion auch hier mitspielt…“. Zur Bedeutung von Religion in der Schulentwicklung. Eine empirische Studie. Unv. Diss. Universität Wien 2012 Ziebertz, Hans-Georg/Kalbheim, Boris/Riegel, Ulrich: Religiöse Signaturen heute. Ein religionspädagogischer empirischer Beitrag zur empirischen Jugendforschung, Freiburg im Breisgau 2003
Grundlegende Anfragen und Impulse zu Anerkennung
Ines M. Breinbauer
Die große Versuchung der Anerkennung1
1.
Anerkennung als rational nicht einholbarer Grund rationaler Selbstvergewisserung
Dass der Mensch ohne soziale Beziehungen, genauer : ohne die Erfahrung des Angenommen-Seins, buchstäblich nicht existieren kann, gilt spätestens seit den systematischen Untersuchungen von Ren¦ Spitz zu Entwicklungsprozessen von Heimkindern in der Zunft der Pädagogen als anerkannt. Die Erkenntnis ist desto bemerkenswerter, als sie als grundsätzlicher Einspruch gegen das neuzeitlich tradierte Selbstverständnis verstanden werden muss, wonach das Ich das ursprüngliche Prinzip des Wollens und des Handelns sei2. Nimmt man die Einsicht ernst, dass unser Verhältnis zu uns selbst grundsätzlich nicht unabhängig von anderen entwickelt werden kann, dann hat dies radikalere Konsequenzen für die Konstitution von Pädagogik als bislang bedacht3. Dann werden z. B., wie auch von der Psychoanalytischen Pädagogik herausgestellt, frühe „Beziehungsgeschichten“ zum voraus laufenden Grund rationaler Selbstvergewisserung; Schäfer4 nennt ihn einen „über-determinierenden“, weil rational nicht einholbaren Grund. Die Implikationen aber müssten ganz andere sein als jene, die man überall dort antrifft, wo Anerkennung als normatives Prinzip pädagogischen Handelns postuliert wird: Während Anerkennung bei Honneth5 wie bei einigen seiner Adepten in der Pädagogik6 einer gelingenden Identitätsbildung dienen
1 Die Formulierung ist von Hannah Arendt am Ende ihrer Dankrede für die Zuerkennung des Sonning-Preises 1975, der wichtigsten dänische Auszeichnung für kulturelle Leistungen, verwendet worden; sie drückt damit die widersprüchlichen Gefühle angesichts dieser Anerkennung aus, weil sie Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung als widerstreitend erlebt; den Hinweis verdanke ich Nicole Balzer (2007, 49 f.) 2 Nach Kant die Bedingung der Möglichkeit der Autonomie 3 Vgl. dazu auch Ricken 2006, 223 f. 4 Schäfer 2010, 10 5 Vgl. Honneth 2003b, 206, 209 6 Z.B. Hafeneger/Henkenborg/Scherr 2002
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soll7, mithin als notwendige Voraussetzung dafür gilt, „eine Person zu werden, die über die Fähigkeit zu autonomer Selbstbestimmung verfügt“8, impliziert der Blick auf die primäre soziale Verwobenheit unserer Entwicklung eine uneinholbare Unverfügbarkeit des eigenen Selbst, mit der Konsequenz, „dass man über die eigene Identität, über das, was man jenseits sozial definierter Positionen ist, nur sehr begrenzt verfügen kann, weil man nicht über alle Bestimmungsgründe des eigenen Selbst (…) verfügen kann“9. Die gegenwärtige Inflation der Rede von Anerkennung in politischen und sozialphilosophischen Zusammenhängen und die ungebrochen positive Konnotation vor allem in der pädagogischen Rezeption10 tragen, wie dies häufig bei bereitwillig für pädagogische Zwecke adaptierten Begriffen und Theorien der Fall ist11, die Gefahr in sich, dass die „Logik des Anerkennens“ verkannt wird, zumal dann, wenn in manchen pädagogischen „Anwendungsfeldern“ Anerkennung wie ein pädagogisches Mittel eingesetzt wird um bestimmte Zwecke zu erreichen. Wenn bzw. insofern Anerkennung auf „die intersubjektive Struktur unserer relationalen Existenz“12 verweist, die – als Bedingtheit, Angewiesenheit oder auch Verantwortlichkeit – weder zeitlich überwindbar noch prinzipiell aufhebbar ist13, wäre die Etablierung von Anerkennung als ein normatives Postulat für pädagogische Praxis entbehrlich. Sie müsste dann nicht verhandelt werden als ein Mittel, über das verfügt oder das vorenthalten werden kann14, sondern es müsste (nur) daran erinnert werden, dass Anerkennung durchgängiges Medium der Praxis ist, „in dem sich pädagogisches Handeln, ob es will oder nicht, vollzieht“15. Die Entfaltung der intersubjektiven Struktur müsste dann freilich auch die Ambivalenz des Anerkennens offen legen, die darin liegt, dass Anerkennung immer sowohl der Selbstvergewisserung und Bestätigung des Ichs dient, es dadurch aber (auch) hervorbringt (zumal dann, weil/wenn sie nicht (nur) auf ein bereits konstituiertes Subjekt trifft, wie dies auch Hannah Arendt in der Wendung von der „großen Versuchung der Anerkennung“ zum 7 Die Logik „durch Selbstachtung zu Identitätsbildung“ steckt auch in einer der „Kritischen Fragen“, die Jäggle/Krobath (2010) an die Schule stellen (vgl. Jäggle/Krobath 2010, 58) 8 Honneth 2003a, 326 9 Schäfer 2005, 40 f. 10 Zu der freilich auch Honneth Anlass gibt, wenn er den unzweideutig positiven Charakter von Anerkennung betont (vgl. Balzer 2007, 54) 11 Ein älteres Beispiel ist die Rezeption der Kritischen Theorie in der Kritisch-emanzipatorischen Pädagogik (vgl. u. a. Sahmel 1988), ein jüngeres die Foucault-Rezeption in der Pädagogik (vgl. u. a. Ricken/Rieger-Ladich 2004) 12 Ricken 2006, 223 13 Ebd. 14 So z. B. in Zusammenhang der (gesellschaftlichen) Diagnose einer „Anerkennungskrise“ (Ziehe) oder eines „Anerkennungszerfalls“ (Heitmeyer) und in jenen disziplinären Feldern, die mit „Differenz“ beschäftigt sind (vgl. Balzer 2007, 55) 15 Ebd.
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Ausdruck bringt)16. Gerade im Umfeld von Schule läge es auch nahe dessen eingedenk zu sein, „dass Anerkennender und Anzuerkennender nicht einfach Partner des anderen in freiem Austausch sind, sondern innerhalb von Ordnungen Positionen innehaben“17. Nicole Balzer (2007) stellt daher auch „Die doppelte Bedeutung der Anerkennung“ ins Zentrum ihrer Abhandlung, wodurch auch ihre Relation zu Gerechtigkeit und Macht sichtbar wird. Unter Bezug auf Judith Butler und Pierre Bourdieu kann das Phänomen der Anerkennung insofern als Machtproblematik einsichtig werden, als „dem Streben nach Anerkennung immer auch ein Streben nach Distinktion wie nach Bestätigung der Distinktion gewährleistenden (symbolischen) Macht zugrunde liegt“18. Die Macht Anerkennung zu verleihen ist dann auch eine Macht, ein Subjekt „der Indifferenz und Bedeutungslosigkeit“19 zu entreißen und ihm dadurch das Gefühl des eigenen Daseins zu geben. Mit Butler wäre zu ergänzen, dass diese Bestätigung des Subjekts, die zugleich auch eine Konstituierung des Subjekts bedeutet, sich nicht in einer abgeschlossenen Dyade vollzieht, sondern „auch von der sozialen Dimension der Normativität abhängt, die den Schauplatz der Anerkennung beherrscht“20. Im Rahmen der grundlagentheoretischen Bildungsforschung21 gibt es seit einigen Jahren einen elaborierten Diskurs zur „Logik des Anerkennens“ und den daraus zu ziehenden pädagogischen Folgerungen. Er muss sich vor allem gegen die gegenwärtig dominante Tendenz abgrenzen, „Anerkennung“ als ein bloß normatives Orientierungskonzept auszulegen22. Ich nehme einige Anregungen aus diesem analytischen Diskurs auf, um im Sinne einer „Diskursschrift“ an Überlegungen Martin Jäggles anzuknüpfen, teilweise auf Differenzen hinzuweisen, bisweilen zu präzisieren. Es soll insbesondere dem begründenden Zusammenhang von Anerkennung und Gerechtigkeit etwas genauer nachgegangen werden, als dies in dem Beitrag von Jäggle/Krobath über „Bildung, Gerechtigkeit und Würde“ (2010) möglich war. Leider kann aus Platzgründen nicht zugleich
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Vgl. Balzer 2007, 60 Ebd. Ebd. Bourdieu 2005, 77 zit. nach Balzer 2007, 61 Butler 2003, 34 Im Unterschied zur empirischen Bildungsforschung, vgl. Bellmann 2011 Balzer/Ricken (2010) tun dies z. B. dadurch, dass sie vier Lesarten von Anerkennung entfalten, die verschiedene Dimensionen des Anerkennungsproblems markieren (Anerkennung als moralisch-ethische Kategorie; Anerkennung als eine kulturell-politische Problematik; Anerkennung als Konstitutions- und Machtproblematik; Anerkennung als Adressierungsproblematik). Damit verlassen sie den Weg einer bloß normativen Fassung zu Gunsten eines analytischen Verständnisses von Anerkennung, einschließlich der Entfaltung der jeweiligen pädagogischen Bedeutung.
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auf das Denken der Differenz und die etwas harmonisierte Machtproblematik eingegangen werden.
2.
Pädagogik der Empathie als Ausweg aus der Problematik identifizierender Anerkennung?
Anerkennung, genauer: „Kultur der Anerkennung“ steht im Zentrum eines programmatisch tendierenden Beitrages von Martin Jäggle und Thomas Krobath (2010). Mit „Kultur der Anerkennung“, so ist schon eingangs erkennbar, wird eine Antwort gegeben auf die durch „PISA“ sichtbar gewordenen, aber durch Messung von Kompetenzen nicht lösbaren Mängel des Schulsystems, insbesondere angesichts der durch Migrationsgesellschaft und Diversität gegebenen Herausforderungen. Die Herausforderung liegt darin, dass „bildungsgerechte Schulentwicklung“ in Frage steht, wenn die „implizite ,Religion‘ der Leistungsgesellschaft“23 Bildung zur Bewältigung von Prüfungen verkümmern lässt, weil nur noch das relevant ist, „was vor dem Tribunal der Messbarkeit Stand hält“24. Auch wenn zutreffend und in Übereinstimmung mit einschlägiger Forschungsliteratur25 die Implikation dieser „Transformation von Bildung“ aufgezeigt wird, dass nämlich Kinder mit Migrationshintergrund und aus sozial benachteiligten Schichten unter die Räder geraten26, so ist doch nicht auf ersten Blick zu erkennen, warum eine „Kultur der Anerkennung“, in der man „ohne Angst verschieden sein kann“27, geeignet sein soll Herkunftsbenachteiligungen zu überwinden und zu mehr Bildungsgerechtigkeit beizutragen. Ebenso missverständlich kann es sein, für Schulentwicklungsprozesse im Dienste der Demokratisierung von Schule oder der Gestaltung von Prozessen demokratischen Lernens zu plädieren, wenn nicht plausibel gemacht werden kann, was deren Beitrag zur Schaffung von Bildungsgerechtigkeit sein kann. Auch wenn damit eine „Schulkultur der Demütigung“28, überwunden werden kann, und für das Zutreffen dieser Diagnose fehlt es nicht an Belegen29, setzt sich das Plädoyer für
Jäggle/Krobath 2010, 54 Ebd. Vgl. Baumert u. a. 2001, 379 – 402 So gesehen könnte es eine bildungspolitisch kluge Strategie sein, durch Förderung von SchülerInnen aus Familien mit unterprivilegierten sozioökonomischem Status und Migrationshintergrund eine bessere Stellung in der internationalen Rangliste anzustreben. Das wäre aber ein strategisches und kein anerkennungstheoretisches Argument. 27 Ebd. 56 28 Ebd. 57 29 Vgl. Tilmann Jörg Kammler: Anerkennung und Gewalt an Schulen: Eine evidenzbasierte und theoriegeleitete Interventionsstudie im Praxistest. (Dissertation an der Fakultät für
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„eine Pädagogik der Empathie, der Empfindsamkeit, der Zuwendung“30 eher dem Verdacht der „Kuschelpädagogik“ aus, als dass sie glaubhaft machen könnte, damit einen Weg zu mehr Bildungsgerechtigkeit einzuleiten31. Erst allmählich wird deutlich, dass mit der Kultur der Anerkennung, für die Jäggle/Krobath (2010) plädieren, die prioritäre Wahrnehmung von SchülerInnen als LeistungsträgerInnen unterlaufen werden soll. „Kultur der Anerkennung vor jeder Leistung“ ist gewissermaßen die Gegenbewegung zur heutigen Leistungsideologie32. Das sei der „grundsätzlich leistungsunabhängigen Würde aller Menschen“33 geschuldet. Damit wird, so könnte man meinen, an eine Selbstverständlichkeit der traditionellen, z. B. prinzipienwissenschaftlichen Pädagogik (Petzelt, Heitger) angeknüpft, würde das Plädoyer dafür, den Schülerinnen und Schülern ein „Bewusstsein ihres unverfügbar vorgegebenen Wertes zu vermitteln“34 nicht unversehens mit dem Hintergedanken verknüpft, dass eben dadurch „Lust an Leistung und am Erfolg“ geweckt werde35. Ungeachtet dieses Lapsus, der den ungebrochenen normativen und damit auch Macht-Hintergrund durchscheinen lässt, vor dem die „Kultur der Anerkennung“ spielt, bleibt mit dem Austausch „Anerkennung als Leistungsträger“ durch „Anerkennung vor jeder Leistung“ unverändert der Leistungsgedanken der zentrale Referenzpunkt36. Wäre es nicht der Leistungsgedanke, könnte es auch ein anderer, meist unthematisch bleibender normativer Horizont sein, in Hinblick auf welchen Anerkennung ausgesprochen wird. „Mit Anerkennung ist die zentrale Frage berührt, als wer jemand von wem und vor wem wie angesprochen und adressiert wird und zu wem er/sie dadurch vor welchem (normativen) Horizont sprachlich bzw. materiell etablierter Geltungen gemacht wird;
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Gesellschaftswissenschaften und Philosophie an der Philipps-Universität Marburg 2010) Wiesbaden 2013 Anhelm (2009), zitiert nach Jäggle/Krobath 2010, 61 Das zitierte Plädoyer des Politologen Anhelm kann ja nicht einmal glaubhaft machen, warum eine Pädagogik der Empathie (usw.)und „nur sie“ „erziehen“ (in distinktem Wortsinn) sollte; was „die gültigen sozialen Normen“ sind, und wie eine „Pädagogik der Empathie usw.“ zu deren Kritik und Weiterentwicklung beitragen kann. Ganz abgesehen kann es nicht im Sinne der Autoren sein, Anerkennung nur als Empathie, Empfindsamkeit und Zuwendung zu fassen, – wo bliebe denn die kognitive Wertschätzung und ggfs. erforderliche Versagung? Ebd. 61 Ebd. 63 Ebd. 62 Ebd. In anderen Zusammenhängen begegnen Überlegungen zum Anerkennen von „Menschen mit besonderen Bedürfnissen“ – auch hier wird der „Gegenstand“ der Anerkennung vorweg identifizierend objektiviert; zahlreiche Bücher zur Behindertenpädagogik arbeiten sich an der Frage ab, ob nicht die Etikettierung „Behinderung“ eigentlich erst konstituiert (vgl. Eberwein 1996, 17). Einen Ausweg könnte radikale Kritik am Identitätsdenken darstellen, mit der Konsequenz einer nichtidentifizierenden Anerkennung des Anderen/Fremden (vgl. Maschelein/Wimmer 1996)
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bezieht man dann auch mögliche Antworten mit ein, dann lassen sich diese analog dazu als Gegenadressierungen verstehen, in denen ihrerseits andere wieder als jemand angesprochen und – qua Verschiebung bzw. Akzeptanz etablierter Normen – zu jemandem gemacht werden.“37
„Eine Organisationskultur der Anerkennung“38 mag man postulieren, und man mag ihr zuschreiben, offen zu sein für die Sinnfrage, für die Dimension des Religiösen usw, wie im zitierten Beitrag ausgeführt. Aber es stellt sich die Frage, ob das mehr sein kann als, freundlich gesagt, eine Don Quichotterie, schärfer : eine Naivität, die unter Verkennung des gesellschaftlichen Wettbewerbs einen sozialen Schonraum praktiziert, der SchülerInnen aus bildungsfernen Schichten und mit Migrationshintergrund einmal mehr über ihre gesellschaftliche NichtZugehörigkeit täuscht. Gleichsam eine typische Pädagogisierung der Anerkennungsthematik bei nahezu unveränderter politischer Ausgrenzung, wie es Paul Mecheril (2005) für Deutschland feststellt, wo die Weigerung politischer Entscheidungsträger, die Migrationsrealität anzuerkennen, lange den gesellschaftlichen Umgang mit Migration bestimmt habe, und daher auch heute jene Praxen bestimme, in denen „Ausländer“, „Migrantinnen“, „Menschen mit Migrationshintergrund“ als Fremde und „eigentlich nicht Zugehörige“ konstruiert und behandelt würden. Wie kann begründet werden, dass sie zur Schaffung von mehr Bildungsgerechtigkeit beitragen kann?
3.
Anerkennungsgerechtigkeit als (theoretisches) Konzept der Ermöglichung von Bildungsgerechtigkeit
Die Frage nötigt etwas genauer auszuholen. Eine Antwort kann man bei Krassimir Stojanov finden und bei seinem Konzept der Ermöglichung von Bildungsgerechtigkeit durch „Schaffung von herkunftstranszendierenden (Schul-) lebensformen“39. Es ist in der Tat die Anerkennungsgerechtigkeit (und nicht z. B. Verteilungsgerechtigkeit oder Teilhabegerechtigkeit), der Stojanov die Chance einräumt, Bildungsgerechtigkeit zu ermöglichen, indem Interaktionsstrukturen im Bildungswesen institutionalisiert werden, die ausdrücklich die partikularen Herkunftslimitierungen zu überschreiten ermutigen. Um das zu erläutern geht Stojanov auf den „üblichen“ bildungspolitischen Diskurs über Bildungsgerechtigkeit zurück. Dieser, respektive die dort anzutreffenden zentralen Auffassungen von Bildungsgerechtigkeit als Chancengleichheit, sei in zwei einander widersprechenden Intuitionen eingerastet. Einerseits sei die Intuition alltags37 Balzer/Ricken 2010, 73 38 Jäggle/Krobath 2010, 62 39 Stojanov 2007, 41
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weltlich weit verbreitet, dass Herkunftsabhängigkeit von Schulbildung Ausdruck von Ungerechtigkeiten im Bildungswesen sei; andererseits gebe es die Gegenauffassung, dass nur „die formelle Ermöglichung und faire Belohnung von tatsächlich erbrachten Leistungen der SchülerInnen und nicht ihre biographischen Hintergründe Gegenstand von Gerechtigkeit seien“40. Stojanov diskutiert das Modell der Verteilungsgerechtigkeit und Modelle der Teilhabegerechtigkeit, und erkennt bei diesen Modellen, dass sie von Annahmen ausgehen, die für den Sonderfall herkunftsbezogener Ungleichheiten nicht zutreffen: Die Anwendbarkeit des distributiven Konzepts auf Schulbildung stößt auf die Schwierigkeit, dass individuell-autonome Wahl bei jenen, deren individuelle Autonomie im Rahmen schulischer Interaktionen erst ermöglicht werden sollen, nicht schon vorausgesetzt werden kann. Das Teilhabemodell setzt voraus, dass die Mitglieder einer gerechten Gesellschaft schon über ein nicht zu unterschreitendes Minimum an Fähigkeiten der Partizipation verfügen. Anerkennungsgerechtigkeit hingegen nimmt Gleichheit, genauer : „moralische Gleichheit der Achtung aller Personen“41, als intrinsischen Wert in ein komplexes normatives Gerechtigkeitsmodell auf. Gerechtigkeit besteht dann in einer bestimmten Qualität von Sozialbeziehungen, die sich u. a. daran bemisst, inwieweit dieses egalitäre Prinzip gelebt wird. Das Prinzip der „moralischen Gleichheit der Achtung aller Personen“ „bedeutet zunächst, dass alle Menschen das Potential zur individuellen Autonomie besitzen, dessen Entwicklung nicht eine Frage nach einer paternalistischen Umverteilung von teilbaren Gütern zugunsten der von ihrer Natur oder von ihrer Geburt her Benachteiligten ist, sondern eine Frage nach Abbau sozialer Unterdrückung und Ausgrenzung und nach Schaffung von Lebensformen, in denen sich die Akteure wechselseitig als Personen mit gleichem moralischen Wert achten.“42 Der institutionelle Hebel wäre demnach, in Übereinstimmung mit dem Konzept der Anerkennungsgerechtigkeit von Axel Honneth, „nicht die Verteilung von freiheitsverbürgenden Gütern, sondern die Herbeiführung einer bestimmten Qualität von Sozialbeziehungen“43. Krassimir Stojanov hat in seiner Habilitationsschrift (2006) breit ausgeführt, dass sich die Wertschätzung vor allem auf die Fähigkeit des Individuums bezieht, „seine persönlichen und unverwechselbaren, biographisch eingebetteten Eigenschaften und Kompetenzen so zu artikulieren, dass sie als ein potentieller Beitrag und/ oder eine Bereicherung für die Gesamtgesellschaft gelten können“44. Er trifft sich in seinen Überlegungen mit Jäggle/Krobath 2010, dass Erfahrungen mit schulischen Interaktionsstrukturen, die durch Respekt und Wertschätzung ge40 41 42 43 44
Stojanov 2007, 32 f. Gosepath 2004, 13, zit. nach Stojanov 2007, 42 Stojanov 2007, 42, unter Bezug auf Elisabeth Anderson 2000 Ebd. Stojanov 2007, 42, unter Bezug auf Elisabeth Anderson 2000
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kennzeichnet sind, grundlegende „Ressourcen“ freisetzen können, so „dass alle an diesen Strukturen beteiligten Kinder und Jugendlichen die Limitierungen und Vorformungen ihrer partikularen familiären Sozialisation – und letztlich ihrer Herkunft – überschreiten können“45. Welcher Art ist nun das „Wissen“ um dieses „Potential“ von Respekt und Wertschätzung als (empirische?) Bedingungen der Möglichkeit der Überschreitung von Herkunftslimitierung? Es reiht sich ein in die Reihe beachtenswerter prinzipienwissenschaftlicher Pädagogiken, die aus grundsätzlichen anthropologischen Erwägungen Überlegungen zur Gestalt förderlicher pädagogischer Interaktionen ableiten, überschreitet diese aber insofern, als die Anerkennungspraxis nicht (nur) im personalen Bezug, sondern als Kultur der Organisation gelebt werden soll. Das reizt dazu anzuregen, dass die „Wirksamkeit“ auch empirisch nachgewiesen werden möge, freilich mit einem weiten Verständnis von Empirie, damit nicht die Methode das Missverständnis begünstigt, dass Anerkennung ihren Zweck als technisches Vehikel zur nachweislichen Verbesserung der Ausschöpfung von Ressourcen findet. Denn das hieße auch hinter die oben angedeutete analytische Differenzierung des Begriffs zurück zu fallen. Die Implantierung einer „Kultur der Anerkennung“ muss dann wohl auch mit einer differenzierten theoretischen Ansprechbarkeit derer, die sie leben sollen, rechnen können.
Literatur Altrichter, Herbert: Schulentwicklung: Widersprüche unter neuen Bedingungen, in: Pädagogik 58, H.3, 2006, 6 – 10 Balzer, Nicole: Die doppelte Bedeutung der Anerkennung. Anmerkungen zum Zusammenhang von Anerkennung, Macht und Gerechtigkeit, in: Wimmer, Michael/Reichenbach, Roland/Pongratz, Ludwig (Hg.): Gerechtigkeit und Bildung, Paderborn 2007, 49 – 75 Balzer, Nicole/Ricken, Norbert: Anerkennung als pädagogisches Problem – Markierungen im erziehungswissenschaftlichen Diskurs, in: Schäfer, Alfred/Thompson, Christiane (Hg.): Anerkennung, Paderborn 2010, 35 – 87 Baumert, Jürgen u. a. (Deutsches PISA-Konsortium): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich, Opladen 2000 Bellmann, Johannes: Jenseits von Reflexionstheorie und Sozialtechnologie. Forschungsperspektiven Allgemeiner Erziehungswissenschaft, in: Johannes Bellmann/Thomas Müller (Hg.): Wissen, was wirkt, Wiesbaden 2011, 197 – 214 Benner, Dietrich: Allgemeine Pädagogik. Eine systematisch-problemgeschichtliche Ein-
45 Stojanov 2007, 43
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führung in die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns, Weinheim – München 2011 Butler, Judith: Kritik der ethischen Gewalt. Adorno-Vorlesungen 2002, Frankfurt am Main 2003 Eberwein, Hans (Hg.): Einführung in die Integrationspädagogik. Interdisziplinäre Zugangsweisen sowie Aspekte universitärer Ausbildung von Lehrern und Diplompädagogen, Weinheim 1996 Hafeneger, Benno/Henkenborg, Peter/Scherr, Albert (Hg.): Pädagogik der Anerkennung. Grundlagen, Konzepte, Praxisfelder, Schwalbach/T. 2002 Honneth, Axel: Nachwort. Der Grund der Anerkennung. Eine Erwiderung auf kritische Rückfragen, in: Ders.: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte (erweiterte Ausgabe), Frankfurt am Main 2003a, 303 – 341 Honneth, Axel: Umverteilung als Anerkennung. Eine Erwiderung auf Nancy Fraser, in: Fraser, Nancy/Honneth, Axel: Umverteilung oder Anerkennung? Eine politischphilosophische Kontroverse, Frankfurt am Main 2003b, 129 – 224 Jäggle, Martin: Wie nimmt Schule kulturelle und religiöse Differenz wahr?, in: Porzelt, Burkard/Güth, Ralph (Hg.): Empirische Religionspädagogik. Grundlagen – Zugänge – Aktuelle Projekte, Münster 2000, 119 – 138 Jäggle, Martin/Krobath, Thomas: Bildung, Gerechtigkeit und Würde: Kultur der Anerkennung, in: Amt und Gemeinde H.1/2010, 51 – 63 Kammler, Tillmann Jörg: Anerkennung und Gewalt an Schulen: Eine evidenzbasierte und theoriegeleitete Interventionsstudie im Praxistest. (Dissertation an der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften und Philosophie an der Philipps-Universität Marburg 2010), Wiesbaden 2013 Masschelein, Jan/Wimmer, Michael: Alterität – Pluralität – Gerechtigkeit. Randgänge der Pädagogik, Sankt Augustin, Leuven 1996 Mecheril, Paul: Pädagogik der Anerkennung. Eine programmatische Kritik, in: Hamburger, Franz/Badawia, Terek/Hummrich, Merle (Hg.): Migration und Bildung: Über das Verhältnis von Anerkennung und Zumutung in der Einwanderungsgesellschaft, Wiesbaden 2005, 311 – 328 Ricken, Norbert/Rieger-Ladich, Markus (Hg.): Michel Foucault: Pädagogische Lektüren, Wiesbaden 2004 Ricken, Norbert: Erziehung und Anerkennung, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, H.2/2006, 215 – 230 Sahmel, Karl-Heinz: Die Kritische Theorie: Bruchstücke, Würzburg 1988 Schäfer, Alfred: Einführung in die Erziehungsphilosophie, Weinheim – Basel 2005 Schäfer, Alfred/Thompson, Christiane (Hg.): Anerkennung, Paderborn 2010 Spitz, Ren¦: Vom Säugling zum Kleinkind. Naturgeschichte der Mutter-Kind-Beziehung im ersten Lebensjahr. (Englische Erstausgabe: The First Year of Life, 1965), Stuttgart 2005 Stojanov, Krassimir : Bildung und Anerkennung. Soziale Voraussetzungen von SelbstEntwicklung und Welt-Erschließung, Wiesbaden 2006 Stojanov, Krassimir : Bildungsgerechtigkeit im Spannungsfeld zwischen Verteilungs-, Teilhabe und Anerkennungsgerechtigkeit, in: Wimmer, Michael/Reichenbach, Roland/ Pongratz, Ludwig (Hg.): Gerechtigkeit und Bildung, Paderborn 2007, 29 – 48
Christa Schnabl
Anerkennung – Leistung – Gerechtigkeit. Ethische Eckpunkte des Bildungssystems in Diskussion
Martin Jäggles Publikationen zur Weiterentwicklung der Religionspädagogik sind u. a. davon geprägt, dass sie „Grundsätzliches“ ansprechen. Martin Jäggle fragt und sucht nach der Richtung, in die es gehen soll. Dabei bezieht er auch PhilosophInnen, EthikerInnen und Richtungsweisende in diese Überlegungen mit ein. Im Unterschied zur Fachdiskussion im engeren Sinn geht es ihm immer auch um die Frage, ob wir am richtigen Weg sind und in welche Richtung es gehen soll. In diesem Zusammenhang tritt Martin Jäggle in einem sehr am Grundsätzlichen orientierten Beitrag1 für eine „Kultur der Anerkennung“ im Bildungsbereich, insbesondere in der Schulentwicklung, ein. Diese Anerkennung manifestiert sich im moralischen Respekt und in der sozialen Wertschätzung, die Schülerinnen und Schülern entgegengebracht wird2 und sie richtet sich v. a. gegen Effekte der Selektion, die gerade dem österreichischen Schulwesen von verschiedenen Seiten (inkl. von internationalen Studien) immer wieder attestiert werden. Die angesprochene Selektion, gegen die sich Martin Jäggle wendet, bezieht sich auf zwei Hauptursachen, die faktisch häufig in eins fließen, nämlich auf die Selektion durch die Herkunft (familiärer Hintergrund, Migrationskultur, soziale Schicht) sowie auf eine Selektion, die sich einseitig auf allgemeine Leistungsstandards bezieht und damit die eigentlichen Subjekte von Bildungsprozessen, die SchülerInnen nämlich, aus den Augen verliert. Demgegenüber vertritt Martin Jäggle eine am Modell der Anerkennungsgerechtigkeit angelehnte Vorstellung von Bildungsgerechtigkeit „als Schaffung von herkunftstranszendierenden (Schul-) Lebensformen“3. Eine gute Schule entwickelt Formen der Anerkennung von Verschiedenheit im Rahmen einer Pädagogik der Empathie, Empfindsamkeit und Zuwendung; gestaltet Schule als einen 1 Jäggle/Krobath 2010 2 Ebd. 55 f. 3 Vgl. Ebd. 55 der diese Formulierung von Krassimir Stojamov übernimmt, vgl. Stojamov 2007, 41
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Christa Schnabl
Ort der umfassenden Bildung und der Menschwerdung auf der Basis einer personbezogenen Anerkennung zunächst vor jeder Leistung. Gerade auf diesem Fundament der personalen Anerkennung, so wird es bei Jäggle nebenbei noch angedeutet, eröffnet sich ein Raum für Entfaltungsmöglichkeiten von SchülerInnen, der seinerseits das Erbringen von (mitunter sogar ungeahnten) Leistungen umfasst4. Martin Jäggles Plädoyer für eine anerkennungsfundierte Schule bzw. Schulentwicklung ist pädagogisch nachvollziehbar und ethisch gut begründbar. Sie sollte, so Jäggle, selbst in der Organisationskultur der Schule zum Ausdruck kommen, da sie dem Prinzip einer grundsätzlich leistungsunabhängigen Würde aller Menschen im Horizont einer Organisationskultur der Anerkennung vor jeder Leistung entspricht. Dieses Konzept lässt allerdings auch einige Andockstellen offen, die hier näher beleuchtet und mit ersten Fragen angedeutet werden sollen: Kann das Bildungssystem insgesamt auf diesem Fundament aufbauen? Welche ergänzenden Prinzipien wären dann zu verankern? Bedarf es unterschiedlicher Intensitätsgrade der Anerkennung, je nach Alter und Bildungsstufe der Kinder/ Jugendlichen? Wie wird der Gedanke der Leistung in dieses System dann eingeschrieben? Sind Person- und Leistungsorientierung wirklich zwei so unterschiedliche ethische Pole? Wie fügen sich Aspekte der gerechten Systemgestaltung ein? In diesem Artikel5 soll es um Verbindungen zwischen einer „Kultur der Anerkennung“ und diesem Ansatz möglicherweise auf den ersten Blick scheinbar entgegenstehenden Begriffen wie „Leistung“ und „Autorität“ gehen, um dem gemeinsamen Anliegen einer gerechten Schule, die die Kinder und Jugendlichen sowohl in ihrer Individualität als auch in ihrer Leistungsfähigkeit und -bereitschaft ernst nimmt und anerkennt, näher zu kommen. Zunächst soll der Begriff der „Anerkennung“ genauer differenziert werden, um anschließend explizit auf Anerkennung in asymmetrischen Beziehungsgefügen wie jenen der pädagogischen Beziehung eingehen zu können und die damit verbundene Verantwortung näher zu analysieren. Um dies zu verdeutlichen wird der Autoritätsbegriff Hannah Arendts hilfreich sein. Des Weiteren soll danach gefragt werden, wie der Leistungsbegriff mit einer „Kultur der Anerkennung“ zusammengebracht werden könnte. Schlussendlich wird noch ein Blick auf – von Seiten der Pädagogik mitunter pejorativ konnotierte – bildungsökonomische Betrachtungsweisen mit dem Fokus auf Gerechtigkeit folgen. Das Ziel dieses Beitrags insgesamt ist es, das Konzept einer „Kultur der Anerkennung“ mit den drei Aspekten Asymmetrie der Anerkennung, Leistung 4 Jäggle/Krobath 2010, 61 f. 5 Dieser Beitrag entstand unter Mitwirkung von Maria Ladenhauf und Melanie Dittrich.
Ethische Eckpunkte des Bildungssystems in Diskussion
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und Gerechtigkeit als Zielvorstellung anspruchsvoller bildungsökonomischer Analysen anzureichern und diese zu integrieren. Damit werden Andockstellen im Rahmen einer Anerkennungslogik sichtbar gemacht, die verhindern, dass Anerkennung einseitig appellativ-idealistisch interpretiert wird.
1.
Anerkennung und Autorität
1.1
Von welcher „Anerkennung“ sprechen wir eigentlich? – Eine kurze Begriffsklärung
Zunächst soll es darum gehen, den Begriff der Anerkennung im Kontext des pädagogischen Bereichs zu spezifizieren. In Martin Jäggles Veröffentlichungen taucht Anerkennung mehrmals auf, einerseits in politisch-gesellschaftlichen Kontexten (etwa wenn es um die Anerkennung religiöser Vielfalt und Differenz in der Schule oder um die Verweigerung von Öffentlichkeit aufgrund einer anderen Religion/Kultur/Tradition geht6), andererseits in spezifisch pädagogischen Konstellationen (wenn es sich etwa um die Relation von Anerkennung und Leistung handelt7). Hier erscheint es sinnvoll, genauer hinzuschauen und diese zwei grundlegend unterschiedlich zu interpretierenden Anerkennungsbegriffe noch genauer zu konturieren. Die verschiedenen Aspekte des Begriffs klingen bereits an, wenn Martin Jäggle einen Einwand von Paulo Suess im Sinne einer „Option für die (ethnisch) Anderen“ bringt: Es gehe nicht um die Anerkennung „der Anderen“ durch „die Einen“, sondern um die gegenseitige Anerkennung aller8. Hier ist ganz klar eine „wechselseitige“ Anerkennung (also „auf Augenhöhe“), eine Anerkennung unter grundsätzlich Gleichberechtigten zu verstehen. Susanne Dungs faltet in ihrer Dissertation9 den Anerkennungsbegriff in eben diese beiden (und zwei weitere, für dieses Thema jedoch weniger relevante) unterschiedlichen Logiken auf: Sie unterscheidet u. a. eine „Ethik wechselseitigen Anerkennens“ (in der Tradition von Hegel) und eine „Ethik asymmetrischen Anerkennens“ (im Gefolge von L¦vinas). Wechselseitig anerkennen können sich nur grundsätzlich „Gleiche“, mögen sie sich auch noch so sehr unterscheiden. In asymmetrischen Beziehungen kommt man mit einem solchen Begriff der „wechselseitigen Anerkennung“ jedoch bald an eine Grenze, da das solchen Kontexten (z. B. sämtlichen Care- und Bildungskontexten) innewohnende Asymmetrieverhältnis 6 7 8 9
Vgl. Jäggle 2009 Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. 269, sowie Jäggle 2000, 120 Dungs 2006
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Christa Schnabl
unberücksichtigt bleibt. Auch Charles Taylors Pluralismuskonzept mit seiner Forderung gegenseitiger Anerkennung funktioniert auf der Basis von Kultur und Gesellschaft (etwa im Sinne einer „Politik der Anerkennung“ kultureller Differenzen), weniger jedoch in irreduzibel asymmetrischen Bezugssystemen. Eine allzu schnelle Übertragung des Anerkennungsbegriffs von politisch-gesellschaftlichen auf pädagogische Kontexte verwischt diese Unterscheidung, da das „Anderssein“ zwischen LehrerInnen und SchülerInnen von vornherein eine irreduzible Asymmetrie beinhaltet. Zwar ist dieses Verkennen oder Ausblenden von Asymmetrie durchaus verständlich, schließlich werden asymmetrische Beziehungen schnell mit Hierarchie, Verantwortung für andere leicht mit Paternalismus in Verbindung gebracht.10 Übersieht man diese Asymmetrie jedoch, wirkt der Anerkennungsbegriff zwar appellativ attraktiv, bleibt in der Substanz aber wirkungslos.
1.2
Asymmetrische Beziehungsgefüge und Anerkennung
Wenn nun von „Anerkennung“ im Sinne eines personenbezogenen Ansatzes die Rede ist, gilt es dabei einige Aspekte näher zu beleuchten. Zunächst ist grundsätzlich festzuhalten, dass die Anerkennung der Personwürde als sozialethisches Grundprinzip alle Institutionen des gesellschaftlichen Zusammenlebens sowie die Beziehungen von Menschen untereinander prägt und kennzeichnet. Als normativer Eckpunkt der christlichen Soziallehre sowie der modernen demokratischen Rechtsstaatlichkeit sollte dieses Grundprinzip das gesellschaftliche Institutionengefüge fundieren und daher auch das Bildungssystem formen. Dies gilt umso expliziter und stärker, als die Anerkennung nicht nur ein Grundprinzip der Bezüge unter Gleichen auf der Basis symmetrischer wechselseitiger Anerkennung darstellt, sondern darüber hinaus Anerkennung die Wachstumsvoraussetzung des Hineinwachsens der „Neuankömmlinge“ (Hannah Arendt) in die Welt darstellt. Um ein angemessenes Selbstverhältnis entwickeln zu können, bedürfen Kinder und Jugendliche der artikulierten Anerkennung in Form von Zuwendung, Bejahung, Empathie, Förderung, Resonanz und Feedback. Dafür ist nicht nur das gesellschaftliche Subsystem der Schule, sondern substantiell auch jenes der Familie, der Verwandtschaft etc. zuständig. Je jünger die Kinder sind, umso stärker bedarf es des Ausdrucks der individuell personalen Anerkennung im Beziehungsgefüge mit den Kindern, in dem Eltern sowie Betreuungspersonen und LehrerInnen (Mit-)Verantwortung tragen. Man könnte sagen, dass im Rahmen eines asymmetrischen Verhältnisses von Erwachsenen zu Kindern zur sozialethisch begründeten Anerkennung als 10 Vgl. Schnabl 2005, 178
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Grundpfeiler des gesellschaftlichen Ordnungsgefüges die personal-individuelle Anerkennung zur Ausbildung eines angemessenen Selbstverhältnisses und Personbewusstseins hinzutritt. Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang jedoch auch, dass der zweite, der pädagogisch/anthropologische Aspekt asymmetrischer Anerkennung gegenüber „Neuankömmlingen“ mit zunehmendem Alter aufgrund der erfolgten Entwicklung eines je spezifischen Selbstverhältnisses in den Hintergrund tritt, wenngleich es schwer sein dürfte, konkrete Altersgrenzen dafür festzulegen. Der Prozess verläuft individuell sehr unterschiedlich und hängt sowohl von der Persönlichkeit des Kindes wie von den Rahmenbedingungen des Umfelds ab. Zudem sind erreichte Entwicklungsstufen nicht automatisch gesichert; familiäre Ereignisse wie Scheidungen, Krankheiten oder Todesfälle stellen mitunter Verunsicherungen dar, die wiederum ein Mehr an personaler Zuwendung und Anerkennung notwendig machen. Im Grunde wohnt sämtlichen pädagogischen Kontexten aufgrund des Bildungsvorsprungs ein gewisses Asymmetrieverhältnis inne, auch etwa in der Erwachsenenbildung. Allerdings tritt hier aufgrund der völlig anders gelagerten Autonomiefähigkeit ein fundamentaler Unterschied zu Tage: In einem ansonsten ausgewogenen Gegenseitigkeitsverhältnis, also zwischen prinzipiell „Gleichen“, gibt es zwar immer wieder – schon allein aufgrund der Arbeitsteilung in modernen Gesellschaften – „aktuell asymmetrisches Handeln“11 und damit gewisse „Abhängigkeiten“ untereinander, allerdings eben innerhalb eines grundsätzlich auf Gegenseitigkeit beruhenden Verhältnisses. Darin liegt der fundamentale Unterschied zur „unvermeidlichen Abhängigkeit“12, die für asymmetrische (also aufgrund der unterschiedlichen Autonomiefähigkeit nicht prinzipiell auf gleicher Ebene stattfindende) Beziehungsgefüge charakteristisch ist. Man könnte hier von einem fundamentalen Abhängigsein als „Naturgegebenheit“ bestimmter Lebenssituationen sprechen. Dieses asymmetrische Verhältnis von Erwachsenen zu Kindern evoziert die Frage nach der spezifischen Form von Verantwortung unter diesen Rahmenbedingungen. In diesem Zusammenhang spielt nun der altmodisch wirkende Begriff der Autorität eine Rolle, der hier mit Bezug auf Hannah Arendt erläutert werden soll. Hannah Arendt hat sich – gegen den Strom der Zeit in den 1950er und 1960er Jahren – mit dem Verständnis von Autorität als Folge eines asymmetrischen Beziehungsgefüges auseinander gesetzt und darauf hingewiesen, dass in der breiten Diskussion um Autorität der Sinn dieser oft missverstanden wird. Sie wundert sich, dass „der Zweifel an der Legitimität von Autorität auch nicht vor derjenigen Halt gemacht hat, die anscheinend von der Natur selbst vorgezeichnet ist, nämlich der Autorität der 11 Ebd. 66 12 Ebd. 448
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Christa Schnabl
Eltern über die Kinder, und allgemeiner : der Älteren über die Jüngeren, oder spezieller : der Lehrer über die Schüler.“13
Ihrer pointiert kritischen Beobachtung nach läuft das darauf hinaus, dass selbst „Eltern ihren Kindern gegenüber die Verantwortung für die Welt, in die sie sie hineingezeugt und hineingeboren haben, nicht mehr übernehmen“14 wollen. Für sie (H.A.) gehört Autorität dennoch geradezu konstitutiv zum asymmetrischen Verhältnis zwischen Eltern und Kindern bzw. Lehrern und Schülern im Sinne des verantwortlichen Hineinführens der nachwachsenden Generation in die Welt.
1.3
Autoritätsverlust als Kennzeichen der Zeit
Heute taucht – in verändertem Kontext – die Frage nach der Autorität abermals auf: Eine kurze Onlinerecherche nach aktuellen Titeln in der Erziehungs(ratgeber)literatur ergibt erstaunlich viele Erscheinungen der letzten paar Jahre zu diesem Stichwort. Der Wunsch nach (gewaltfreier) Autorität ist offensichtlich vorhanden und virulent. Wie kann aber der Autoritätsbegriff mit einer „Kultur der Anerkennung“ in Zusammenklang gebracht werden? Hannah Arendts spezifisches Autoritätsverständnis trennt den Begriff der Autorität klar von „Macht“ und „Gewalt“ und versteht ihn von seiner etymologischen Bedeutung aus dem Lateinischen her : Das Wort „auctoritas“ wird abgeleitet vom Verb „augere“, das mit „mehren“, „vermehren“ oder „wachsen lassen“ übersetzt werden kann.15 Ein solches Autoritätsverständnis kann durchaus als Nährboden für eine „Kultur der Anerkennung“ betrachtet werden, da hier eine Konzentration auf die Subjekte und deren Lernprozesse, sowie ein Ernstnehmen der Individualität jedes einzelnen Kindes stattfindet.16 Dabei darf „Anerkennung“ jedoch nicht als „Gleichberechtigung“ in dem Sinn verstanden werden, dass naturgegebene Unterschiede zwischen Erwachsenen und Kindern nivelliert werden sollen. Vielmehr geht es um das Ernstnehmen der Verantwortung, die die Kinder nicht sich selbst überlassen kann: Erziehung kann nicht auf Autorität verzichten, da sie es mit in die Welt Hineinwachsenden zu tun hat. Bildungskontexte (wie auch sämtliche andere Care/Fürsorge-Situationen17) werden stets von einer solchen Asymmetrie geprägt sein: SchülerInnen werden in gewisser Weise immer von den Lehrpersonen abhängig sein und geprägt werden (positiv/neutral/negativ/ 13 14 15 16 17
Arendt 1957, 122 Ebd. 124 Vgl. Ebd. 153 Schnabl 2011, 73 Vgl. Schnabl 2011, 68
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ambivalent,…), da diese ein Mehr an Wissen, Erfahrung und Kompetenz mitbringen – auch wenn Bildungskontexte selbstverständlich auch reziproke Momente aufweisen. So erhalten LehrerInnen durchaus auch von Seiten ihrer SchülerInnen Anerkennung, Dankbarkeit etc. zurück.18 Wie Hannah Arendt betont, sind Autorität und Freiheit keineswegs Gegensätze; und mit einem Autoritätsverlust gehe auch keineswegs automatisch ein Freiheitsgewinn einher.19 Anerkennung geht dabei jedem Handeln als Autorität voraus. Im pädagogischen Zusammenhang gesprochen: Erst wenn die Kinder als solche anerkannt werden, d. h. Respekt und Wertschätzung erfahren, können Erwachsene „autoritär“ im Sinne Hannah Arendts bzw. als Autorität handeln. Anerkennung stellt sozusagen eine Voraussetzung für (sowie eine Folge von) Autorität in diesem Sinne dar. Autorität bezeichnet den Aspekt der asymmetrischen Verantwortung, der den Erwachsenen (von den Kindern, bzw. „von Natur aus“) zugemutet wird. Hannah Arendt spricht von „Bereiche[n] menschlicher Beziehungen (…), in denen Autorität natürlichermaßen ihren Ursprung zu haben schien.“20 Autorität ist dabei nicht direkt herstellbar, sondern im Grunde eine Fremdzuschreibung. Das macht auch ihre Fragilität aus. Autorität kann sozusagen als Aufruf zur „Gefolgschaft“ interpretiert werden, welche nicht durch die Vernunft bedingt ist,21 sondern mit der Überzeugungskraft der Person, mit ihrer Erfahrung und Ausstrahlung zu tun hat. So meint Autorität: Anerkennung finden aufgrund des Vertrauens in die Person. Dies wird nur dann geschehen, wenn Kinder Vertrauen fassen, weil sie ihrerseits Anerkennung erfahren und deshalb „Gefolgschaft leisten“. Dies zu erreichen ist die genuine Aufgabe von Lehrerinnen und Lehrern.
2.
Anerkennung und Leistung
Ein weiterer in bestimmten pädagogischen Bereichen zum Reizwort gewordener Begriff ist jener der Leistung. Zu negative Assoziationen würden damit hervorgerufen: Leistungsgesellschaft, Leistungsdruck, Leistungsangst, Leistungsversagen, … Allerdings führe sich Schule ad absurdum, wolle sie sich ihrer Leistung entziehen, nämlich jungen Menschen Bildung zu ermöglichen. Um Leistung zu definieren ist es wichtig, darunter sowohl den Vollzug als auch das Ergebnis einer Arbeit in Relation zu einem Gütemaßstab zu betrachten, worauf Hartwig Schröder besonders hingewiesen hat.22 Der Vollzug von Arbeit 18 19 20 21 22
Vgl. Ebd. 71 Vgl. Arendt 1957, 120 f. Ebd. 129 Vgl. Ebd. 135 Schröder, 1997
250
Christa Schnabl
ist etwas Dynamisches, Personimmanentes, wohingegen ein objektivierbares Ergebnis einen statischen Leistungsbegriff darstellt. Beide gehören zusammen, stehen zueinander in Relation: Ein Leistungsergebnis kommt nur durch Leistungsvollzug zustande, aber nicht jeder Leistungsvollzug schlägt sich in einem Ergebnis nieder – schon gar nicht immer in einem in Zahlen mess- und darstellbaren Ergebnis.23 Der Leistungsbegriff bleibt somit in gewissem Maße immer ambivalent und bewegt sich stets zwischen verschiedenen Polen: Da darf nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig gefordert werden (weil sonst einerseits Leistungsdruck und Überforderung, andererseits Langeweile und Unterforderung entstehen); es muss eine Balance zwischen Wollen und Können24 ebenso gegeben sein wie zwischen einem generalisierenden Maßstab und den je individuellen Begabungen. Wenn diese Aspekte ausgeglichen sind, kann Leistung als beglückend und beflügelnd erlebt werden und entspricht in diesem geglückten Sinn einer „Kultur der Anerkennung“. Die Leistungsforderung in der Schule begründet sich dabei besonders auch in der Förderung der Persönlichkeit der Schülerin oder des Schülers: Wer nichts fordert, fördert auch nicht. Schließlich werden Fähigkeiten durch Leistung aktiviert und Fertigkeiten entfalten sich nur durch Einüben – in einem Leistungsprozess.25 Allerdings muss auch danach gefragt werden, welche Leistungen in der Schule eigentlich erfasst werden (können?). Rolf Oerter unterscheidet zwei verschiedene Formen von Lernen: Einerseits das kurzfristige Lernen (z. B. auf konkrete Prüfungen hin), das meist nur eine Oberflächenstruktur bildet, und andererseits das langfristige Lernen, das tiefergehende Entwicklungsstrukturen aufbauen soll.26 Die Schule erfasst nun traditionell eher Leistungen des kurzfristigen Lernens. Der Zweck dieses kurzfristigen Lernens sollte jedoch nicht in erster Linie gute punktuelle Schularbeitsergebnisse o.Ä., sondern der Aufbau von Tiefenstrukturen als bleibendes Entwicklungsergebnis sein. Genau darum ginge es im Grunde auch bei den PISA-Messungen: Laut Oerter sollte PISA hauptsächlich diese Tiefenstruktur, also gerade nicht kurzfristige Lernergebnisse, die man SchülerInnen „antrainieren“ kann, erfassen. Gerade auf die Entwicklung dieser Tiefenstruktur werde in unseren Schulen jedoch zu wenig Wert gelegt. Die Frage ist dann, wie mit Leistungsvergleichsstudien umgegangen wird, wie sie beurteilt und welche Schlüsse daraus gezogen werden. Dabei sollte die Entwicklung nicht in Richtung eines „Learning to the test“ gehen, um ein paar Plätze 23 24 25 26
Vgl. ebd. 13 f. Vgl. Bucher 2005, 5 Vgl. Schröder 1997, 28 Vgl. Oerter 2005, 29 ff.
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auf einer Rankingliste wettzumachen, sondern in Richtung eines tieferen Verständnisses von Lernen im Sinne der Entwicklung von Kompetenzen und reflektierter Handlungsfähigkeit. Ergänzend muss auch darauf geachtet werden, entfremdende, überzogene und entwicklungsgefährdende Anforderungen zu vermeiden. Dies alltäglich zu realisieren ist ein bleibender Balanceakt von LehrerInnen.27 Mit anderen Worten: Leistung ist nicht der Sinn des Lebens28 und es braucht in der Schule gewiss auch „leistungsfreie Räume“29, aber – wiederum mit Martin Jäggle gesprochen: „Die personbezogene Anerkennung eröffnet (…) auch einen Raum ungeahnter Leistung.“30 Dieser Balanceakt zwischen Anerkennung vor jeder Leistung sowie Forderung/Förderung von Leistungen ist die Leistung von Lehrerinnen und Lehrern. Wie hierbei eine „Kultur der Anerkennung“ mit der Leistungsfähigkeit und -bereitschaft genau zusammenhängt, und was getan werden kann, um Neugierde und Leistung auf der Basis persönlicher Anerkennung zu fördern, muss weiterhin eine offene und stets neu zu beantwortende Fragestellung bleiben. Räume ungeahnter Leistungen zu eröffnen gehört zu den großen Herausforderungen, aber – so es gelingt – auch zu den schönsten Seiten des LehrerInnenberufs.
3.
Vom Nutzen bildungsökonomischer Betrachtungen für eine anerkennungsfundierte Schule: Gerechtigkeit als Schlüsselwert
Abschließend sei noch ein weiteres Thema aufgegriffen, das auch bei Martin Jäggle angesprochen wird, allerdings meist in einem Zusammenhang der Kritik. Es geht um die Bedeutung von ökonomischen Kategorien, sowie um die generelle Bedeutung des Messbaren für eine anerkennungsfundierte Bildung. Martin Jäggle warnt zu Recht davor, unter Bildung nur mehr die Bewältigung von Prüfungen zu verstehen bzw. die SchülerInnen nicht mehr angemessen wahrzunehmen: „Stehen SchülerInnen in erster Linie unter dem Druck ökonomisch relevanter Leistungsnachweise und weniger im Zentrum von Bildungsprozessen, dann geraten Kinder mit Migrationshintergrund und aus sozial benachteiligten Schichten stärker unter die Räder eines auf Selektion ausgerichteten Ausbildungssystems.“31 27 28 29 30 31
Vgl. ebd. 43 Vgl. Jäggle/Krobath 2010, 54 Schröder 1997, 38 Jäggle/Krobath 2010, 62 Jäggle 2010, 55
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Christa Schnabl
In diesem Zusammenhang ist auch die Befürchtung zu verstehen, dass nur all jenes schulische Relevanz erhält, was einem „Tribunal der Messbarkeit“ Stand hielte (Jäggle 2010, 54). Im Zeitalter diverser Bildungsstudien (vgl. PISA) und Bildungsmessungen ist diese Sorge auch ernst zu nehmen, zumal viele dieser Studien das Problem der angemessenen Erfassung individueller Leistungsniveaus haben. Dennoch sollte in diesem Zusammenhang auch die Bedeutung solcher Studien und Vergleiche für die Weiterentwicklung von Bildungssystemen hingewiesen werden. Selbst aus einer ethischen Perspektive ist deren Wert formulierbar. So machen diese Studien auf mögliche Problembereiche aufmerksam, rücken die Rahmenbedingungen stärker ins Blickfeld, indem ganze Systeme durch international angelegte Daten im Vergleich gesehen werden können. Betont werden soll an dieser Stelle, dass Ergebnisse solcher Studien analysiert und bewertet werden müssen. Erst deren Deutung lässt die richtigen Impulse für die zukünftige Entwicklung erkennen. Im Grunde sollte die Beschäftigung mit internationalen Leistungsvergleichen (PISA-Studien etc.) und bildungsökonomischen Fragen Teil einer „Sozialethik der Bildung“32 sein, die dem Ziel der Gerechtigkeit dient. Schließlich sind viele Ungerechtigkeiten des stark und früh differenzierenden und selektierenden Schulsystems gerade der deutschsprachigen Länder durch die Ergebnisse von Studien wie PISA und IGLU erneut ans Licht gekommen.33 Wenn es hier keine vergleichbaren Daten gäbe, würde der Ruf nach mehr Bildungsgerechtigkeit (im Sinne einer herkunftstranszendierenden Schule, in der mehr zählt, was man kann, als aus welchem Milieu oder aus welcher Kultur man stammt) viel schneller verhallen. Immerhin haben die großen Bildungsstudien zumindest neuen Wind in die Diskussion gebracht und ein höheres allgemeines Bewusstsein um die soziale Differenzierung der SchülerInnen sowie Benachteiligungen im Bildungssystem geschaffen. Der Münsteraner Erziehungswissenschaftler Wolfgang Böttcher hat herausgearbeitet, dass ökonomische Fragen pädagogischem Denken nicht automatisch entgegenstehen müssen.34 Messungen sind unter anderem auch dazu da, bestehende Ungerechtigkeiten aufzuzeigen, zu verdeutlichen und damit Veränderung zu ermöglichen. In diesem Sinne sollte die Bildungsökonomie in ihren Fragestellungen gerade darauf fokussieren, zu überprüfen, ob sich Aufwendungen für Bildung sowohl individuell als auch gesamtgesellschaftlich „lohnen“. So macht sie auch die Effekte nicht gelungener Bildungsanstrengungen sichtbar.35 Sie fragt danach, „wer
32 Heimbach-Steins 2003, 9 – eine Forderung, die auch Martin Jäggle als besonders wichtig erachtet. 33 Vgl. Schweitzer 2005, 52 34 Vgl. Böttcher 2005 35 Ebd. 38
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von Investitionen profitiert und wer sie finanziert“36, und ist somit für die Frage nach der Gerechtigkeit im Bildungssystem unerlässlich. Wem ressourcenwirksame Investitionen wichtig sind (unter Ressourcen versteht und nennt Böttcher ausdrücklich nicht nur Geld, sondern auch Zeit und Motivation), wird diese bildungsökonomische Perspektive nicht „als eine Art feindliche Übernahme der Pädagogik durch die Ökonomie“37 betrachten. Wer für Bildungsgerechtigkeit eintritt, will schließlich am Ende einer Reform auch sehen, dass die soziale Selektion messbar reduziert wurde. Auf rein ökonomische Aspekte reduziert werden darf Bildung allerdings niemals. Vielmehr kann und sollte die ökonomische Betrachtungsweise eine ergänzende Dienstfunktion am Konzept einer anerkennungsfundierten Schule ausüben – und somit Bildung nicht verhindern, sondern im Gegenteil ermöglichen, verbessern und gerechter organisieren. Bildung auch (!) unter dem Aspekt ökonomischer Fragestellungen anzusehen, kann z. B. einen „problematischen Einsatz der Mittel, kurz: (…) Verschwendung“38 aufdecken und beitragen, die Ressourcen gerechter einzusetzen. Böttcher spricht in dem Zusammenhang von „4 E“: Effektivität, Effizienz, Evidenz und Erfolg. So blickt Effektivität auf Arbeitsergebnisse (Outputs), also darauf, ob die Ziele erreicht wurden. Effizienz hilft, das Beste aus den zur Verfügung stehenden Mitteln (Kosten, Personal, Zeit, Energie) zu machen. Evidenz meint, dass (pädagogische) Maßnahmen nachweisen müssen, ihre Zwecke zu erreichen. Geschieht dies nicht, fehlt das in einem Bereich unnötigerweise eingesetzte Geld (bzw. wiederum auch Energie, Personal, Zeit, …) potenziell erfolgreicheren Projekten. Schließlich und endlich braucht es Erfolgsanreize, um Ziele zu erreichen.39 Die Ziele und die Formen pädagogischer Maßnahmen zu definieren bleibt natürlich die Aufgabe der Pädagogik. Die Einbeziehung ökonomischer Aspekte stellt in diesem Zusammenhang eine Herausforderung dar, denn natürlich kann nicht alles in der Pädagogik Relevante gemessen werden. Wo Messinstrumentarien allerdings sinnvoll und letztlich zum Nutzen der sich bildenden jungen Menschen für Verbesserungen und mehr Bildungsgerechtigkeit eingesetzt werden können, darf und soll das ruhig auch passieren. Die gefürchtete „OutputOrientierung“ ist schließlich kein Selbstzweck, sondern sollte ein Instrument zur Qualitätsverbesserung sein: Wenn das Ergebnis nicht zufriedenstellend ausfällt, kann das ein Zeichen dafür sein, den Input bzw. den Prozess zwischen In- und Output (in pädagogischen Kontexten den „Lernweg“) verändern zu müssen. Nicht dieser Paradigmenwechsel (Input – Output) selbst ist das 36 37 38 39
Ebd. 39 Ebd. 40 Ebd. 40 Vgl. ebd. 41 f.
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Christa Schnabl
„Schreckgespenst“, sondern eine trivialisierte Form davon, der es bloß um Qualitätsmessung, um Leistungsüberwachung geht und die den (entscheidenden!) Schritt zur Qualitätsverbesserung nicht vollzieht. Vor einem solch verkürzten – und der Gerechtigkeitsperspektive geradezu entgegenstehenden – Verständnis warnt auch Böttcher : „Ökonomische Überlegungen können pädagogische und organisatorische Maßnahmen zur Stärkung der Bildungsgleichheit unterstützen – nicht jedoch vulgarisierte Versionen, die wir bei den Protagonisten in der Politik leider verbuchen müssen. Diese Situation macht es den Antagonisten innerhalb des pädagogischen Milieus einfach, die Ökonomisierung zu brandmarken, wo man aber doch eigentlich nur die Trivialisierung des ökonomischen Denkens im Bildungswesen meinen dürfte.“40
Doch nicht nur die Frage danach, wer von Bildung wie stark profitiert, muss aus sozialethischer Perspektive gestellt werden, sondern auch die „Input-Seite“ verlangt nach genauerer Betrachtung: Wie werden Bildungsangebote finanziert und ist diese Verteilung „gerecht“? Dabei wird die sozialethische Relevanz der Finanzierungsseite mittlerweile deutlicher wahrgenommen, wie Gerhard Kruip feststellt: „Investitionen zeigen umso höhere positive Effekte, je früher sie im Lebenslauf einsetzen.“41 Im Interesse von mehr Bildungsgerechtigkeit müssen Pädagogik und Effizienzgedanken (durchaus kritisch) zusammen gedacht werden. Mit Verdrängung auf die Faktoren der Ökonomie zu reagieren, macht unser Bildungssystem nicht gerechter.42 Bedenkend, dass die Bildungseinrichtungen überwiegend öffentlich finanziert werden, gebietet die damit einhergehende Verantwortung gegenüber der Zivilgesellschaft auch, dass pädagogische Aktivitäten mit Überlegungen der Sparsamkeit und Zielgerichtetheit konfrontiert werden. Die Auseinandersetzung mit den drei Aspekten Autorität, Leistung und Gerechtigkeit hatte zum Ziel, das Anliegen Martin Jäggles, eine „Kultur der Anerkennung“ in der Schule zu befördern, aus einer erweiterten Perspektive zu beleuchten und zu vertiefen. Dabei erscheint es als ein Gebot der Stunde, diese Elemente nicht auseinanderfallen bzw. unverbunden nebeneinander stehen zu lassen: Schule ist weder ohne Anerkennung noch ohne Leistung denkbar oder wünschenswert. Wenn Anerkennung mit Markus Dederich gesprochen ein Akt ist, „dem anderen Menschen neben sich einen Daseinsraum zu eröffnen und ihm mit Achtung zu begegnen“43, und wenn Schule sich als ein solcher Raum erweist (und das tut sie nicht automatisch, worauf Martin Jäggle vielfach hingewiesen hat), dann sind in ihrem Raum „mitunter sogar ungeahnte Leistungen mög40 41 42 43
Ebd. 45 Kruip 2008, 147 Vgl. ebd. 141 Dederich 2003, 4
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lich“44. Ebensowenig müssen sich Autorität und Anerkennung widersprechen, vielmehr werden Kinder und Jugendliche LehrerInnen vor allem dann als Autoritäten achten, wenn sie zuvor ihrerseits Anerkennung erfahren haben. Und schließlich steht die ethische Forderung im Raum, ökonomische Fragen unter dem Schlüsselwert der Gerechtigkeit zu betrachten. Wo dies geschieht, also wo klug und verantwortungsvoll mit Messinstrumentarien umgegangen und diese Betrachtungsweise dem höheren Ziel eines gerechteren Bildungssystems zugeordnet wird, könnte dem Ziel, eine gute Bildung (in der die Leistung der Kinder mehr Beachtung erfährt als ihre Herkunft) für möglichst viele zu verwirklichen, ein gutes Stück nähergekommen werden.
Literatur Arendt, Hannah: Was ist Autorität?, in: Dies.: Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart. Vier Essays, Frankfurt am Main 1957, 117 – 168 Böttcher, Wolfgang: Bildungsökonomie und Chancengleichheit, in: Fischer, Dietlind/ Elsenbast, Volker (Hg.): Zur Gerechtigkeit im Bildungssystem, Münster 2007, 38 – 47 Bucher, Anton A.: Einleitung, in: Bucher, Anton A./Lauermann, Karin/Walcher, Elisabeth (Hg.): Leistung – Lust und Last. Erziehen in einer Wettbewerbsgesellschaft, Wien 2005, 5–6 Dederich, Markus: Gibt es ein Recht auf Anderssein? Überlegungen zu einer Ethik der Anerkennung, in: http://www.beratungszentrum-alsterdorf.de/cont/GibteseinRechtaufanderssein(3).pdf (Zugriff am 19. 4. 2013) Dungs, Susanne: Anerkennen des Anderen im Zeitalter der Mediatisierung. Sozialphilosophische und sozialarbeitswissenschaftliche Studien im Ausgang von Hegel, L¦vinas, Butler, Zˇizˇek, Hamburg 2006. (= Villigst Perspektiven 10) Heimbach-Steins, Marianne/Kruip, Gerhard: Wir brauchen eine „Sozialethik der Bildung“!, in: Dies. (Hg.): Bildung und Beteiligungsgerechtigkeit. Sozialethische Sondierungen, Bildefeld 2003, 9 – 22 Jäggle, Martin/Krobath, Thomas: Bildung, Gerechtigkeit und Würde: Kultur der Anerkennung, in: Amt und Gemeinde 61/1 (2010), 51 – 63 Jäggle, Martin: Religiöse Pluralität als Herausforderung für Schulentwicklung, in: Jäggle, Martin/Krobath, Thomas/Schelander, Robert (Hg.): lebens.werte.schule. Religiöse Dimensionen in Schulkultur und Schulentwicklung, Wien – Berlin 2009, 265 – 280 Jäggle, Martin: Wie nimmt Schule kulturelle und religiöse Differenz wahr? Grundsätzliche Vorbemerkungen und Einblick in ein Forschungsprojekt in Wien, in: Porzelt, Burkard/ Güth, Ralph (Hg.): Empirische Religionspädagogik. Grundlagen – Zugänge – Aktuelle Projekte, Münster 2000 (= Empirische Theologie 7), 119 – 138 Kruip, Gerhard: Gerechte Bildungsfinanzierung – sozialethische Kriterien, in: Dabrowski, Martin/Wolg, Judith (Hg.): Bildungspolitik und Bildungsgerechtigkeit, Paderborn 2008, 141 – 161 44 Jäggle/Krobath 2010, 62
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Christa Schnabl
Oerter, Rolf: Die Entwicklung von Leistung und Leistungspotenzialen. Chancen und Risiken, in: Bucher, Anton A./Lauermann, Karin/Walcher, Elisabeth (Hg.): Leistung – Lust & Last. Erziehen in einer Wettbewerbsgesellschaft, Wien 2005, 21 – 44 Schnabl, Christa: Bildung und Bildungskooperation aus careethischer Perspektive – Anregungen zur Debatte, in: Heimbach-Steins, Marianne/Kruip, Gerhard (Hg.): Kooperative Bildungsverantwortung. Sozialethische und pädagogische Perspektiven auf “Educational Governance“, Bielefeld 2011 (=Forum Bildungsethik 9), 67 – 82 Schnabl, Christa: Gerecht sorgen, Grundlagen einer sozialethischen Theorie der Fürsorge, Freiburg – Wien 2005 (= Studien zur theologischen Ethik 108) Schröder, Hartwig: Leistung in der Schule. Begründung – Forderung – Beurteilung, München 1997 (= Wissenschaft und Schule 4) Schweitzer, Jochen: Deutsches Schulsystem schadet Kindern! – Die Beweise, in: Fischer, Dietlind/Elsenbast, Volker (Hg.): Zur Gerechtigkeit im Bildungssystem, Münster 2007, 48 – 54 Stojamov, Krassimir : Bildungsgerechtigkeit im Spannungsfeld zwischen Verteilungs-, Teilhabe- und Anerkennungsgerechtigkeit, in: Wimmer, Michael/Reichenbach, Roland/Pongratz, Ludwig (Hg.): Gerechtigkeit und Bildung, Paderborn 2007, 29 – 48
Raoul Kneucker
„Menschenantlitz“. Über Gleichheit und Intoleranz
Johann Wolfgang von Goethe lädt in den „Maximen und Reflexionen“ mit folgenden Worten zum Nachdenken über sich selbst, die anderen und die eigenen, die Nächsten und die Fremden ein: „Toleranz sollte eigentlich eine vorübergehende Gesinnung sein. Sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen“. Für eine Kultur der Anerkennung und gegen eine Kultur der Demütigung seien drei Sätze aus einem Aufsatz von Martin Jäggle und Thomas Krobath1 angefügt und zur Diskussion gestellt: „In der Schulentwicklung (…) müssen wir zunächst eine doppelte Sichtbeschränkung überwinden: Religionsblindheit und Organisationsblindheit. Beide (…) haben gemeinsam das Ausblenden der Differenz (…) Theologisch gewendet entspricht das Differenzdenken der Bestimmung menschlicher Würde als verdankte, zugesprochene Würde” 0. Menschenantlitz ist heute, insbesondere für die Jugend von heute, ein altmodisches Wort. Für nur wenige atmet es noch Poesie. Es riecht vielmehr nach 19. Jahrhundert. Und im 19. Jahrhundert wurde das poetische Wort auch ein Begriff der Theologie und des Staatsrechts. 0.1. Für Theologen bedeutet Antlitz mehr als Gesicht; denn es lässt ins Innere des Menschen sehen. Gottes Leuchten aus einem Menschenantlitz offenbart die „ursprüngliche Menschenwürde“2, wie in „Ecce homo“ und in „ Du edles An1 Jäggle/Krobath 2009 2 Menschenwürde fließt aus der Gottesebenbildlichkeit der Menschen. Aus der fast nicht mehr überschaubaren Bibliothek der wissenschaftlichen Literatur zur Menschenwürde weise ich nur hin auf: Rahner/Vorgrimler 241998 (Nostra Aetate 5; Gaudium et Spes 3, 12, 29). Siehe unten 2.2.1. Die hier zitierte Wendung findet sich bei Anton Geck. Theologie des Industriebetriebes. Berlin 1967. 27 ff. Geck ist Teil der theologischen Bemühungen nach dem 2. Weltkrieg, vor allem auf Grundlage der katholischen Soziallehre, in Wirtschaft und Industrie eine sozialpastorale Sicht einzubringen: Der Mensch dürfe nicht zum Mittel gemacht, vielmehr müsse er als Person bejaht werden. Siehe dazu unten Anm. 29 und Punkt 4.4 (System und Organisation Schule)
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Raoul Kneucker
gesichte“3. „Ach, neige, Du Schmerzensreiche, Dein Antlitz gnädig meiner Not“4 ist der Teil einer verzweifelten Bitte so wie die Worte „Er wende sein Angesicht Dir zu und schenke Dir Frieden“5 Segensworte sind. 0.2. In der Staatsphilosophie und im Recht steht „Antlitz“ für den Menschen als Mensch. Beides, die Anerkennung als Mensch und die Leugnung, Mensch zu sein, sind Grundelemente eines staatsrechtlichen Diskurses über Jahrhunderte, vergleichbar einer intellektuellen und politischen Reise in großen Schleifen. Die Reise in Europa beginnt – nach Vorbereitungen vor allem in der Zeit der Reformation – mit der europäischen Aufklärung; man begegnet vielen und ganz verschiedenen Reiseteilnehmern. Die Reise ist bis heute nicht zu Ende; politische Ansichten und politische Praxis beginnen immer wieder, die schon erreichte prinzipielle Übereinkunft über den Sinn der Reise und über deren Ergebnisse in den staatsrechtlichen Auseinandersetzungen in Frage zu stellen. Vor und im Zweiten Weltkrieg wurden sie verachtet, ja mit Füßen getreten, und heute sind sie wiederum in Gefahr, von bestimmten Gruppen und politischen Parteien verniedlicht oder vernachlässigt zu werden. Daher will ich die Schleifen nachzeichnen, nicht zuletzt um die Ergebnisse des Diskurses zu bekräftigen.6 0.3. Ich sehe es als einen Mangel an, dass die rechtliche Kernfrage des Diskurses bislang noch immer zu wenig und zu undeutlich herausgearbeitet wurde: Wird jeder Mensch als „Rechtsperson“ anerkannt? 1. Die Jurisprudenz sieht die „Revolution“ der Französischen Revolution in der staatsrechtlich durchgesetzten Neuformierung der natürlichen Person. Anfänglich nicht sichtbar in den Kämpfen, Exekutionen und Krisen des Umbruchs zu Ende des 18. Jahrhunderts wird sie für das 19. Jahrhundert zum Erbstück der rechtlichen Verwirklichung der Aufklärungsphilosophie: Menschen sind Rechtspersonen kraft ihres Menschseins, kraft ihrer Qualität, als Mensch frei und gleich geboren worden zu sein. Alle Menschen sind von Geburt an frei. „We hold these truths to be self-evident that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable rights, that among them are Life,
3 Siehe Johannes 19,5. Das zweite Zitat stammt aus dem Kirchenlied „O Haupt voll Blut und Wunden“, Paul Gerhardt 1656; vgl. Nr. 77 in Johann Sebastian Bach, Matthäus Passion. 4 Johann Wolfgang von Goethe, Faust I, Zwinger (Verse 3587 – 89) 5 Siehe 4 Moses 6, 24, der aaronitische Segen. Martin Luther übersetzt mit „Angesicht“, Martin Buber mit „Antlitz“ 6 Ich folge Stourzh 2011; 269 ff
„Menschenantlitz“. Über Gleichheit und Intoleranz
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Liberty, and the persuit of Happiness. That to secure these rights Governments are instituted among Men, deriving their just powers from the consent of the governed.“7 „Jeder Mensch hat angeborene, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte, und ist daher als eine Person zu betrachten. Sklaverei oder Leibeigenschaft wird (…) nicht gestattet“8. „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt (…)“9.
1.1. Juristisch ist zu unterscheiden zwischen dem physischen Menschen einerseits und seiner Anerkennung als Mensch andererseits, und zwar im Allgemeinen und überall, als eine „freie Rechtsperson“. Erst daraus folgt seine Anerkennung für eine und innerhalb einer bestimmten Rechtsordnung. An die Rechtsperson ist die Gewährleistung der Menschen- und Bürgerrechte geknüpft; denn erst die Rechtsperson kann die Grundfreiheiten und Menschenrechte genießen. Davon rechtlich getrennt, wenn auch in der Regel in den Texten miteinander verbunden, ist die Teilmenge der Grundrechte und Pflichten der Bürger und Bürgerinnen eines Staatswesens, zu dem sie gehören; das ist der Staat, zu dem eine besondere und enge Beziehung besteht und in dem die Beziehungen der Bürger und Bürgerinnen politisch und rechtlich gepflegt und gestaltet werden. Es sind mit der Aufklärung, nota bene, rechtlich zwei Schritte erfolgt: sowohl die prinzipielle Anerkennung des Menschen als Rechtsperson und damit die prinzipielle Gleichheit aller Menschen als auch die Differenzierung der Menschen in Bürger und Bürgerinnen. Es „lässt sich die Bestimmung des Menschen einteilen in 1. Bestimmung des Menschen als Mensch und 2. Bestimmung des Menschen als Bürger“, so ein bedeutendes zeitgenössisches Zitat.10 1.2. Die Lehre vom Sozialkontrakt, entwickelt in der Aufklärung zur Erläuterung der Entstehung des Staates und zur Begründung seiner Existenz, setzt logisch die Rechtsperson voraus; denn nur die gleichberechtigten, freien Rechtspersonen vermögen unter sich einen Gesellschaftsvertrag zu schließen. Als autonome Menschen, und zu ihrem eigenen Nutzen, errichten sie einen Staat und delegieren an ihn Teile ihrer eigenen, ursprünglichen, souveränen Rechte, um den Naturzustand und Kriegszustand untereinander zu beenden. In den Worten von John Locke: 7 Declaration of Independence, July 4, 1776. Für weitere zeitgenössische Texte siehe Kneucker/ Nowak/Tretter. 1992. Dokumente, 81 ff 8 § 16 Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch (ABGB) 1811. Ermacora1963, 34 ff. sieht, Franz von Zeiller, dem Hauptredaktor des ABGB, folgend, in § 16 ein „Urrecht“ mit dem Charakter eines Grundrechts; er verbindet es zu recht mit Art 1 Absatz 1 deutsches Grundgesetz über die Unantastbarkeit der Menschenwürde. Vgl. Mayer-Maly 1980, 1 ff 9 Art 1 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1949; dazu Ermacora 1977 10 Mendelssohn 1989, 462 ff
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„To avoid the state of war (wherin there is no appeal but to heaven […]) is one great reason of men’s putting themselves into society, and quitting the state of nature. (…) The natural liberty of man is to be free from any superior power on earth. The liberty of man in society is to be under no other legislative power but that established by consent.“11.
Noch deutlicher formuliert Jean Jacques Rousseau, der, von der Präzision des Römischen Rechts beeinflusst, die Gründung des Staates wie jede Gründung einer juristischen Person begreift, – was gleichberechtigte, souveräne Vertragsschließende bedingt12. Eine gleiche Position vertritt Samuel Pufendorf.13 Immanuel Kant14 und Georg Wilhelm Hegel betrachteten diesen Punkt durch die früheren Autoren bereits hinlänglich geklärt, als sie den Diskurs fortsetzten. Hegel, dem Ansatz Rousseaus folgend, diskutiert die Frage nach der Rechtsperson als Fußnote im Rahmen der Religionsfreiheit. Er verwendet als Beispiel die religiösen Minderheiten im Allgemeinen, die Juden im Besonderen: „So formelles Recht man etwa gegen die Juden in Ansehung der Verleihung selbst von bürgerlichen Rechten gehabt hätte, indem sie sich nicht bloß als eine besondere Religionspartei, sondern als einem fremden Volke angehörig ansehen sollten, so sehr hat das aus diesen und anderen Gesichtspunkten erhobene Geschrei übersehen, dass sie zu allererst Menschen sind und dass dies nicht nur eine flache abstrakte Qualität ist, sondern dass darin liegt, dass durch die zugestandenen bürgerlichen Rechte vielmehr das Selbstgefühl als rechtliche Personen in der bürgerlichen Gesellschaft zu gelten aus dieser freien Wurzel. zustande kommt.“15
Von und über Juden war nämlich immer ins Treffen geführt worden, dass sie „Fremde“, dass sie ein „anderes Volk“, sogar eine „eigene Rasse“ seien, wenngleich sie – von den Migrationen durch Vertreibungen abgesehen – Jahrhunderte „Nachbarn“, „fürstlich Beschützte“, „Gleichberechtigte“ und schließlich „Bürger und Bürgerinnen“ desselben Staates waren. An ihnen wird daher die Rechtsfrage, wer Person und wer wann Bürger und Bürgerin ist, historisch und
11 John Locke, An Essay Concerning the True Original, Extent and End of Civil Government, Second Treatise on Government, 1690, Para. 21. Siehe auch die Einleitung von Ernest Barker, in: Barker 1946, V ff, der die Texte von Locke und Rousseau enthält 12 Jean Jacques Rousseau, Le Contrat Social, 1762, Kapitel IV – VI, in Barker 1946, [Anm. 11] 13 „De Jure Naturae et Gentium“, VII, 2 (1672); dazu Denzer 1987, 41, 322 14 „Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen (…) Natur“; siehe Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 436. Dazu Goertz 2/2013, 78 15 Hoffmeister, 41955, § 270. Siehe dazu die Auseinandersetzung Rudolf Burger, Die Voraussetzungen des säkularen Rechtsstaates, mit Raoul Kneucker, Der Beitrag der Kirchen zum Aufbau Europas, beide in: Friedrich Gleißner u. a. Religion im öffentlichen Raum. Religiöse Freiheit im neuen Europa. Wien-Köln-Weimar 2007, 79 ff. und 133 ff. über einen Text Fichtes „Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution“; vgl. unten Punkt 3.3
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rechtlich am deutlichsten sichtbar ;16 an ihrem Status kann die politische Praxis der Anerkennung und Aberkennung am klarsten abgelesen werden. 1.3. Als die Israeliten sicher das andere Ufer des Roten Meeres erreicht hatten und den Feind ertrinken sahen und jubelten, wurden sie, wie die Tradition sagt, zurechtgewiesen und belehrt, dass der Untergang der pharaonischen Armee nicht mit Schadenfreude gefeiert werden darf; vielmehr sei Gott für die eigene Errettung zu danken und über die Menschen, die ihretwegen im Wasser umgekommen sind, zu trauern17. Der „Sozialkontrakt“ unter den Israeliten, wie er im Exodus geradezu vorgeformt ist, unterscheidet historisch erstmals Bürgerrechte, erklärt und bestätigt, dass alle Menschen zunächst Menschen und Rechtspersonen sind und bleiben, auch als Gegner in Kriegen und Konflikten – ein frühes Zeugnis von „Aufklärung“ vor der Aufklärung, eine Vorwegnahme der Dokumente unserer Zeit. Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 ist nicht nur bis heute Bestandteil aller französischen Verfassungen18 geblieben, sondern mit ihrer Unterscheidung von Menschenund Bürgerrechten zu einem Strukturprinzip aller zivilisierten Verfassungen geworden19. 2. „Menschenantlitz“ als die Gottesebenbildlichkeit aller Menschen ist sozusagen der theologische Ausdruck der später auch rechtlich verfassten und national und völkerrechtlich garantierten „Menschenwürde“20, weil der Menschenwürde wegen alle Menschen freie und gleiche Rechtspersonen sind. Juristisch wird damit, bei Annahme der Prinzipien der Aufklärungsphilosophie, ausgeschlossen, dass jede Rechtsordnung für sich neu bestimmt, wer Mensch und Rechtsperson sein darf. Die prinzipielle Gleichheit aller Menschen wird universell hergestellt. Über die Qualität als Mensch darf nicht mehr geurteilt werden, sie ist dem Staat und seinen Institutionen vorgegeben. Zu bestimmen sind näherhin nur die Rechte und Pflichten von Staatsangehörigen, die
16 Kneucker 2011, 21 ff (24 ff) 17 Siehe 2 Moses 14, 24 – 31, und 15, 1 – 20. In der jüdischen Tradition rügte Gott selbst die Engel, die einen Freudengesang anstimmen wollten, weil die Ägypter vernichtet waren; das wäre nicht recht, da auch die Ägypter sein Werk seien. Der von Moses und Mirjam angestimmte Gesang nach der Errettung ist denn auch ein Lobgesang Gottes. Siehe Liss 2000, 75 18 Siehe die Texte und Hinweise bei Cornelius/Mayer-Tasch 1966, 104 ff 19 Siehe Art 1 der Erklärung: „Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es. Die gesellschaftlichen Unterschiede können nur im gemeinsamen Nutzen begründet sein.“ 20 Vgl. Art 1 des deutschen Grundgesetzes, als Antwort auf die historische Erfahrung des NS Regimes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“
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über oder durch einen „Sozialkontrakt“ mit einander verbunden sind21. Nicht der Sozialkontrakt schafft die Rechtsperson, sondern umgekehrt, die Rechtspersonen schließen den Sozialkontrakt. Alle Rechtspersonen haben gleichen Rang, niemand ist einem anderen unterworfen, sie sind alle gleich souverän22. Alle Menschen „frei und gleich geboren“? Eine Provokation! Denn historisch waren immer nur bestimmte Menschen als frei geboren angesehen worden. Die Radikalität des Ansatzes der Aufklärung wird daher erst vollends verständlich aus dem Vergleich mit der gegensätzlichen Rechtslage in den Jahrhunderten zuvor und aus den Verzögerungen der Umsetzung dieser Forderung der Aufklärung bis weit ins 19. Jahrhundert hinein. 2.1. Für die weitere Argumentation ist es nicht erforderlich, die Rechtsgeschichte der (freien) Person zu rekapitulieren. In Erinnerung gerufen soll aber werden: die Geburt auf dem Territorium des oder in den Stand (üblicher Weise) des Vaters, verbunden mit der formellen Aufnahme durch ihn in die Familie und dann in die Sippe bzw. die Verleihung von etwas wie „Heimatrecht“ oder „Bürgerrecht“ (Naturalisierung) waren die beiden üblichen Integrationsinstrumente in (staatliche) Gemeinschaften, womit zugleich die Freiheit der Person verbunden war, – und sie sind bis heute die bestimmenden Elemente – allerdings des Staatsbürgerschaftserwerbs – geblieben. Da vor der Aufklärung Rechtsperson und Bürger nicht differenziert geregelt waren, verlieh eines der beiden Elemente die rechtliche Zugehörigkeit von Menschen zu einem Staat, Volk, Stamm etc., und daraus folgend, die volle Rechtsfähigkeit, die Qualität der freien Rechtsperson. Menschen, die schon potentiell freie Rechtspersonen waren, wurden darin nur mehr bestätigt. Die Geburtsregel sicherte die politische, wirtschaftliche und rechtliche Kontinuität von Familie, Stamm, Clan, Volk auf einem bestimmten Territorium; diese Standesgesellschaft war, als „Naturrecht“ begriffen, „gottgegeben“. Menschen konnten allerdings nicht nur durch Geburt frei sein; Unfreie konnten später frei werden (in die Freiheit entlassen werden) oder Freiheit gewinnen (weil „Stadtluft frei machte“23). Freie konnten ihre Freiheit verlieren (wie durch Kriegsgefangenschaft, Friedlosigkeit, Klostereintritt) und verpfänden (wie illiquide Schuldner). Unfreie konnten bestraft, festgehalten, wie Sachen 21 Siehe dazu unten Punkte 3 und 4 22 Es lohnt m. E., in Zusammenhang mit der Geschichte des Sozialkontraktes Jellinek 31960, 204 ff. bzw. Link 1979, 72 ff. nachzulesen (Nota bene: Ich spreche hier nicht die rechtlichen Fragen der Beschränkungen der Handlungsfähigkeit von Menschen an, siehe dazu § 17 ABGB, wonach durch gerichtliche Verfügungen Menschen der „Gewalt anderer“ unterliegen oder – in moderner Diktion – für die „Sachwalter“ verschiedener Art bestellt werden dürfen) 23 „nach Jahr und Tag“ unter bestimmten Bedingungen des Aufenthalts in der Stadt (des Mittelalters)
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gehandelt, getauscht, verschenkt, verkauft, getötet werden. Der Freie war rechtsfähig, der Unfreie war rechtlos.24 Es gab „Teilunfreie“, die für ihre wesentlichen persönlichen Entscheidungen (etwa Heirat) an Zustimmungen des Feudalherrn gebunden waren, oder die in ihrer Mobilität beschränkt waren, d. h. „an die Scholle gebunden“ blieben, oder ihre Abwanderung teuer bezahlen mussten. Der Fremde war rechtslos; er konnte vertrieben, abgeschafft, ausgewiesen werden. Er besaß kein Niederlassungs- und Erwerbsrecht, weil er dem Stamm oder dem Volk des Aufenthaltslandes nicht angehörte und sein eigenes Recht in diesem nicht galt. Er war u. U. zwar durch das heilige Gastrecht geschützt – zeitlich eingeschränkt und unter der Verantwortung und Haftung des Gastfreundes; oder er war geschützt durch den Königschutz oder durch besondere Verträge. Ketzer waren, weil sie nicht Glaubens- und Kultgenossen, Juden, weil sie weder Volks- noch Glaubensgenossen waren, rechtlos; allerdings wurden Juden durch teuer erkaufte Judenprivilegien z. T. geschützt.25 Über die Neuzeit hin verändert sich zwar die Rechtslage der Unfreien und Fremden, es werden aber erst im 19. Jahrhundert die Regelungen der „teilweisen Rechtsperson“ beseitigt und für alle Menschen die volle Rechtsfähigkeit festgelegt. Zwischen den europäischen Ländern ist, zeitlich betrachtet, ein deutliches West-Ostgefälle zu erkennen, in den Änderungen der Gesetze genauso wie in der Umsetzung der Gesetze über die Rechtsfähigkeit in die Rechtswirklichkeit. Viele dieser früheren Regelungen, die also vor mehr als 200 Jahren galten, sind bis heute noch tief im politischen und rechtlichen Bewusstsein der Bürger und Bürgerinnen verwurzelt; sie scheinen dort, trotz Aufklärung, bis in unsere Generation unverändert verankert geblieben zu sein. 2.2. Den revolutionären Ereignissen in der europäischen Rechtsentwicklung – Herstellung der Rechtsperson, Bauernbefreiung, Sicherung der Menschen- und Bürgerrechte, schrittweise Gewährung politischer Partizipation –, alle ausgelöst durch die Aufklärungsphilosophie am Ende des 18. und am Anfang des 19. Jahrhunderts, waren „Befreiungsereignisse“ schon vorausgegangen: ich nenne sie „Aufklärung vor der Aufklärung“, vor allem durch die Reformatoren und durch die katholischen Philosophen, die auf die Grundfrage der frühen europäischen Kolonialpolitik, insbesondere Spaniens26, antworteten, ob und wie der rechtliche Charakter der indigenen Völker zu bestimmen sei.
24 Auf rechtliche Details ist hier nicht einzugehen. Zum römischen Recht: siehe z. B. Hausmaninger/Selb. 1981,113 ff; Zum späteren europäischen Privatrecht: siehe z. B. Planitz 1948, 31 ff (beide Werke mit vielen Auflagen) 25 Vgl. Lohrmann 1990; siehe auch Lohrmann 2000 26 Siehe Schmidinger 2002; Dieses Werk enthält neben den leitenden Quellen Erläuterungen,
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2.2.1. Mit der Reformation setzt ein Prozess der Individualisierung des Menschen ein. Den Prozess eingeleitet zu haben, bedeutete, eine menschheitliche Wendung in Europa vollzogen zu haben. Es ist das bleibende Verdienst der Reformation, dass der Mensch religiös Rechtsperson wird; denn alle Menschen sind vor Gott gleich, sie werden in gleicher Weise vor Gott gerecht.27 Gott liebt alle Menschen, die an ihn glauben. Alle Gläubigen werden zu „Priestern“; denn die geistlichen Amtsträger und Amtsträgerinnen verantworten allein die öffentliche, theologisch fundierte Verkündigung des Evangeliums, die Seelsorge und Verwaltung der Sakramente. Nur diese Verantwortung ist ihnen, wenn ihnen das Amt von den zuständigen kirchlichen Organen durch Ordination übertragen wurde, vorbehalten.28 Zu den Pflichten aller Gläubigen zählt lesen lernen, vor allem um die Bibel, und zwar die hebräische Bibel und das Neue Testament, selbst lesen zu können; Schulen zu gründen und allen Gläubigen Bildung zu ermöglichen; Leistungen zu fordern und zu respektieren, weil Arbeit als Lebensgrundlage religiös überhöht wird. Die Auseinandersetzung mit der Philosophie der Aufklärung verläuft daher in „evangelischen“ Ländern und Regionen anders als in katholisch dominierten. Im 19. Jahrhundert folgt in den protestantischen ohne große Kontroversen die Anerkennung der modernen Wissenschaften und der Grund- und Freiheitsrechte29. Ein früher (religiöser) Pluralismus wird praktiziert, zumal er Ursprung und zugleich Folge der Grundrechte ist. (Die Postulate der Reformation in den evangelischen Kirchen umzusetzen, benötigte gleichwohl viel Zeit. Nicht alles „Trennende“ ist schon aufgehoben. Die Frauenordination in der Evangelischen Kirche in Österreich ist nur etwas mehr als 45 Jahre alt; die Segnung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften ist dramatisch umstritten). z. B. auch zu den Vorformen der Toleranz im Hochmittelalter (vgl. Haiden und Christen in den Kreuzzügen) und der Renaissance, 5 – 98, 177 – 211 27 An 3 Moses, 19 (insbesondere 33) sei erinnert. Siehe Art 4 „Über die Rechtfertigung“, in Confessio Augustana 1530. Als aktuelles Beispiel sei angeführt: Art 1 Abs. 2 und vor allem Abs. 4 der Kirchenverfassung der Evangelischen Kirche in Österreich, Amtsblatt 295/2012: „Als Gemeinschaft von Schwestern und Brüdern bezeugt die Evangelische Kirche Jesus Christus als Haupt der Kirche. In ihm haben alle Unterschiede der Menschen ihre trennende Bedeutung verloren. Niemand darf seinetwegen benachteiligt werden. Jede Regelung und Handlung der Evangelischen Kirche in Österreich muss sich daran messen lassen“ 28 Siehe § 1 Ordnung des geistlichen Amtes, in: Kauer/Kneucker/Pichal 2006, Bd. II, VA1; Dazu Kneucker. 2/2008, 238 ff 29 Heckel 1987, 33 ff, weist darauf hin, dass bereits Stoizismus und Humanismus die Person in ihrer unverlierbaren, unverfügbaren Menschenwürde und in ihrer sittlichen Pflicht zu begreifen suchten, dass in der Aufklärung selbstverständlich die Sicherung der Freiheit der Person angestrebt wurde, was in der deutschen Variante – unterschiedlich zur französischen – weniger religionsfeindlich verstanden wurde. Im Zuge der weiteren Säkularisierung traten allerdings eine Abkehr von bekenntnisfreien Menschenrechten und eine Fokussierung auf Staatszwecke auch in der protestantischen Theologie ein; dem (religionslosen) Individualismus wurde misstraut. Vgl. dazu auch Link 1979, 138
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2.2.2. Die Eroberung und Ausbeutung der Neuen Welt erforderte in rechtlicher Hinsicht eine Antwort darauf, ob indigene Menschen als Menschen und Rechtspersonen anzusehen sind. Die einflussreichen Schriften der spanischen Philosophen Francisco Suarez (1548 – 1617)30 und Francisco de Vitoria (1480 – 1546)31 lagen schon vor ; sie bejahten und argumentierten in naturrechtlicher, spätscholastischer Manier : Alle Menschen sind von Natur aus Gottes Geschöpfe. Staatliche Autoritätsausübung ist nicht göttlicher, sondern menschlicher Natur. Zur Annahme einer Religion darf niemand gezwungen werden. Dem Kaiser, nämlich Karl V, wird von Unregelmäßigkeiten und Übergriffen der Konquistadoren und neuen Grundbesitzer in den Kolonien berichtet; ihm liegen Beschwerden vor, die er auf der Grundlage der päpstlichen Bulle „Sublimus Dei“ 1537 prüfen lässt. Darin wird gegen Versklavung und Ausbeutung Stellung genommen. Der Kaiser beruft einen „Indienrat“ und versammelt ihn in Valladolid 1550/1551. In Valladolid stehen einander der Gelehrte Juan Gines de Sepulveda, der die Interessen der neuen Siedler vertritt, und der Dominikaner Bartolome de las Casas gegenüber, der erstere ohne Kenntnis der Lage in den Kolonien, der letztere eben aus den Kolonien zurückgekehrt. Der erstere hält die Indios für Barbaren und bezeichnet sie als inferiore Geschöpfe; er betont die göttliche Sendung Spaniens, unter den Barbaren Ordnung herzustellen und zu erhalten, wofür jede Form von Gewalt legitim sei. Las Casas hält dagegen, dass Indios frei geboren und vernunftbegabt sind, dass sie den christlichen Glauben annehmen können und sollen, weil sie als Menschen eine „Seele“ besitzen. Kirchen und Schulen mögen gebaut werden, entzogenes Eigentum sei zu restituieren.32 Der Rat von Valladolid blieb zunächst ohne Ergebnis. In der Folge wurden „neue Gesetze“ erlassen, deren Durchführung allerdings von den Konquistadoren fernab von Spanien erfolgreich blockiert wurde. Für Las Casas selbst gab es eine kaiserliche Bestätigung und eine Art „happy end“. Der Kaiser ernannte ihn zum Bischof von Chiapa und beauftragte ihn, alles zu unternehmen, damit die „neuen Gesetze“ wirksam werden können.
30 Er war von Samuel Pufendorf und Hugo Grotius hoch geschätzt; zu seinen Schriften siehe den Kommentar in Verdross 1963, 96 ff 31 Zum Thema siehe seine Schrift „de Indis“ 1532/39, in Horst/Justenhoven/Stüben 1995/1997 32 Seine Plädoyers „Aqui se contiene una disputa“ 1551 sind erhalten; sie wurden von Schneider 1938, sofort verboten, nach dem Krieg in vielen Auflagen wieder veröffentlicht, aufgegriffen und literarisch verwendet. Schneider wird als Teil der „Literatur der inneren Emigration“ katalogisiert, ist im Vergleich zu seinen vom NS Regime ebenfalls verbotenen, aber nicht deportierten „Kollegen“ der weitaus kritischere. „Las Casas“ ist in Protest gegen die Judenverfolgung geschrieben und als Metapher verstanden worden; wie bei den Juden geht es im Grunde um die Aberkennung der Menschenwürde der Indios als Leugnung der Rechtsperson.
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2.3. Die Verwirklichung der Forderung, alle Menschen seien prinzipiell als Rechtspersonen, als gleichberechtigt und gleich rechtsfähig anzusehen, wurde in Europa lange verzögert, aufgeschoben, z. T. verhindert, schließlich dennoch mit den Grund- und Menschenrechten erreicht und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts rechtlich durchgesetzt. In der Habsburger Monarchie waren es die Schritte: 1811, das „Urrecht“, d.i. die Erklärung aller Menschen zur Rechtsperson und das Sklavenverbot des ABGB; 1848, die „Bauernbefreiung“, d.i. die endgültige Aufhebung der Leibeigenschaft und ihrer Folgen; und schließlich 1867, die Erlassung des „Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger“ (das zugleich Menschenrechte enthält) im Rahmen der DezemberVerfassung.33 3. Für den Abschluss des Sozialkontraktes war die freie Rechtsperson die essentielle Voraussetzung. Der Sozialkontrakt, aus dem die Bürgerrechte folgen, war die rechtliche, abstrakt-formale Grundlage der Schaffung und der Erhaltung des Staates. Es war eben nicht die Stammes-, Volks- und Kulturzugehörigkeit. Zugehörigkeiten dieser Art sind tatsächliche, faktische Ausgangslagen, die als Motiv oder Grundlage für den Sozialkontrakt dienen können, denen aber eine rechtliche Wirksamkeit erst zukommt, wenn sie rechtlich auch zugesprochen worden war. 3.1. Daher ist Carl Schmitt, dem großen Juristen der Weimarer Republik und des Dritten Reiches34, entschieden entgegen zu treten. Es trifft rechtlich nicht zu, dass aus der Gleichheit aller Menschen „weder ein Staat, (noch eine Staatsform, noch eine Regierungsform) zu begründen“ sei; dass sie „weder ein juristisches, noch ein politisches noch ein ökonomisches Kriterium“ enthalte, dass sie vielmehr allein „dem Prinzip der Grundrechte diene“.35 Letzteres ist die für ihn typische Abwertung der liberalen bürgerlichen Grund- und Menschenrechte, die er neu fassen will, ersteres übersieht oder leugnet, dass nur der (Vertrags-) wille, der sich im Sozialkontrakt – wenn auch nur fiktiv – ausdrückt, das rechtliche Kriterium der Gründung sein kann, – abgeleitet aus der Gleichheit aller, dem so genannten allgemeinen Gleichheitssatz. Es trifft nicht zu, dass ein Volk aus sich handlungsfähig wird und sich eine Verfassung gibt, ohne dass ein Sozialkontrakt logisch vorausgesetzt wird; es trifft nicht zu, dass der Staat auf der Homogenität und Identität eines Volkes ohne Sozialkontrakt beruhe. Es könne, so Schmitt, keine „Menschheitsdemokratie“, sondern nur die Demo33 Das Staatsgrundgesetz, RGBl. 142/1867, mit mehreren Novellen nach dem Zweiten Weltkrieg, ist bis heute Bestandteil der österreichischen Bundes-Verfassung. 34 Näheres über Carl Schmitt und seine „Verfassungslehre“ bei Mantl 1975, 122 ff und 131 ff 35 Schmitt 1928, Neudruck 1965, (61 ff., 181), 226 ff, 234
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kratie aus einem Volk geben, weil in seiner Auffassung Gleichheit nach innen wirke, d. h. nur innerhalb eines Staatswesens wirksam sei. (Die Entwicklung der Menschenrechte nach dem Zweiten Weltkrieg widerlegt Carl Schmitt. Dem „historischen“ Sozialkontrakt konnten alle, die sich mit dem Staatswesen, nicht aber mit dem Mehrheitsvolk verbunden fühlen, beitreten).Volkszugehörigkeit bleibt de facto Volkszugehörigkeit, solange sie nicht ein Gemeinschaftswille und/oder ein Vertrag rechtlich relevant macht, d. h. als Kriterium für Rechte und Pflichten festlegt. Übrigens war das ja auch die Aufgabe der Rassengesetze des Nazi-Regimes; sie, die Gesetze, die diese Ideologie zu Rechtsinhalten verwandelten und die fehlende Volkszugehörigkeit bestraften, nicht die Volkszugehörigkeit als solche (übrigens zu welchem Volk? zu welcher Ethnie?) waren rechtserzeugend. So wie in der deutschen Vergangenheit, als (bei Freien) die Anerkennung der rechtmäßigen Geburt durch den Vater und die Aufnahme in die Sippe durch den Stamm den Rechtsstatus vermittelte; es vermittelte ihn nicht die Tatsache der Geburt. Davon ist aber im modernen Staat nichts mehr nachzuweisen, außer dass vernunftbegabte Menschen kraft ihrer freien und gleichen Geburt Angehörige eines Staates sein können, ihn errichten oder, wenn sie nicht emigrieren, als Nachgeborene bestätigen, erhalten und gestalten können. 3.2. Entgegen zu treten ist Schmitt auch, weil er mit der Leugnung des Kriteriums „Gleichheit“ die Behauptung verbindet, dass die Qualität der Rechtsperson nur über und nur durch die „Artgleichheit“, vulgo Volkszugehörigkeit, verliehen werde; Gleichheit sei eine “leere“ Floskel, Artgleichheit sei „substanzhaft“. Die liberalen Grundrechte seien ein Werkzeug der „Fremden“; der bürgerliche Rechtsstaat sei „jüdisch“ geprägt, wie die Weimarer Republik eine „Judenrepublik“ sei. Sie sei durch einen christlichen NS Staat zu ersetzen. Aus den artfremden, sozusagen nicht „ebenbürtigen“ und „satisfaktionsfähigen“ „Fremden“ (meine Worte) werden „Feinde“, „Volks“- und Staatsfeinde.36 Schmitt fällt also vor die Aufklärung zurück und entwickelt die Rechtsperson wieder aus der Qualität des Stammesangehörigen oder Bürgers. Er leugnet die Errungenschaft der Aufklärung und der Französischen Revolution. Dieser Rückfall hatte fatale politische Folgen; nämlich die teilweise oder die totale Aufhebung der freien Rechtsperson für gekennzeichnete, ausgegrenzte Bürger und Bürgerinnen durch Gesetze des Dritten Reiches, insbesondere durch die Nürnberger Rassengesetze 1935. Schmitt hatte daran juristischen Anteil. Nicht nur die Diskriminierungen der Ausgegrenzten waren, sondern vor allem die Leugnung ihrer Qualität als vollberechtigte Rechtsperson war damit juris-
36 Zitate aus Schmitt. Das gute Recht der deutschen Revolution, in: Westdeutscher Beobachter, Organ der NSDAP, März 1933; siehe Schraut 1934. Dazu Gross 1999, 60 ff
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tisch zu begründen – und diese Begründung war denn auch die geistige, rechtliche Grundlage der NS Rassenpolitik.37 3.3. Die Ausführungen Schmitts stehen in einem engen Zusammenhang mit dem Begriff „Menschenantlitz“; denn der zitierte Satz, oben 3.1., beginnt mit den Worten „Die Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt“. Es war Gerald Stourzh38, der dem Ursprung der Phrase, deren Rezeption in den philosophischen und politischen Diskursen und schließlich der Umdeutung und Umkehrung des Begriffes im 20. Jahrhundert nachgegangen ist. Ihm verdanken wir auch den Nach- und Hinweis auf „Es ist nicht alles gleich, was Menschenantlitz trägt – weh dem, der das vergisst“ aus einer Hetzschrift der SS; die Umkehrung der Werte könnte nicht besser dokumentiert sein. Stourzh ist zu folgen. Er soll an dieser Stelle freilich nicht nacherzählt werden, nötig ist aber eine kurze Zusammenfassung, bevor der staatsrechtliche Diskurs weitergeführt werden kann. Johann Gottlieb Fichte hat das literarische Wort „Menschenantlitz“ offenbar in einen staatsrechtlichen Begriff verwandelt. Er verwendet ihn mehrfach, in allen seinen einschlägigen Schriften, und in aller seiner Altersstufen.39 Alle, die Menschenantlitz tragen, sind vor Gott und vor dem Tode gleich. In der politischen Umbruchszeit um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert beschwört er eine „deutsche Republik“ in Freiheit, zur Sicherung der Gleichheit, dann die Reichseinheit und eine Mission der „deutschen Nation“ – wie eine Art „utopisches Deutschland“40 im Werden. Wie immer sein späterer Nationalismus verstanden werden kann, wie immer seine Bemerkungen zu Juden verstanden werden sollen, er wurde als der große deutsche politische Philosoph seiner Zeit aufgenommen, propagiert und diskutiert. Er bestimmte den staatsrechtlichen Diskurs bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts. An dem Diskurs haben vor allem teilgenommen, in einem annehmenden Sinne Ferdinand Lasalle, Eduard Bernstein und Hermann Heller – die Sozialdemokraten –, ferner deren Schüler, wie z. B. Karl Vorländer, und der frühe Gerhard Leibholz; aus anderer Sicht und politischer Provenienz zustimmend Otto Spann – und eben, in einem ganz ablehnenden Sinne, Carl Schmitt. Spann nimmt ausdrücklich auf die Gleichheit und das Menschenantlitz bei Fichte Bezug, er betont die Rechtpersönlichkeit des 37 Zum Rassismusproblem siehe Claussen 1994, insbesondere 96 ff, 115 ff, und 203 ff 38 Stourz, 2011, 269 ff; Siehe auch Gerald Stourzh; Menschenrechte und Genozid in Stourzh 2009, 103 ff (138 ff); Stourzh nennt den Prozess der Rechtszerstörung, der von Carl Schmitts Argumentation ausgegangen war, die Voraussetzung für den Genozid. 39 Lauth/Jacob 1965; vor allem die Schriften „Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution“, „Über die Würde des Menschen“, „Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters“ und die „Staatslehre“ 40 Siehe Stourzh (Anm. 35), 273 f. Vgl. auch Windelband/Heimsoeth 1957, 513
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Menschen selbst des zu verabscheuenden Kapitalverbrechers. Carl Schmitt sieht im Begriff keine „Brauchbarkeit“. So brauchbar er aber ist, die Politik des NS Regimes hat ihn tatsächlich untauglich gemacht; er wurde als Begriff vergessen. Carl Schmitt hat den Krieg überlebt. Er schreibt Briefe, verteidigt sich in Tagebüchern und Publikationen, widerruft nichts; er ist um seine eigene Rezeptionsgeschichte besorgt. Er habe richtig argumentiert, wie er meint. Den Nachkriegsmoden der „Umschulung“ wolle er nicht nachgeben, das wäre nicht „ehrenvoll“. Er will nicht Teil „der nach dem Krieg plötzlich geborenen Philosemiten“ sein. Er betont „die geistige Überlegenheit der Besiegten“. „Ich suche für mich und mein Volk Freisprechung vom Verbrechen“.41 Seine Selbstinszenierung und Selbststilisierung, wie Raphael Gross es nennt,42 gründet sich auf einen Rückzug in das Christentum. Er theologisiert seine früheren, unreligiösen Positionen. Ein christlicher Antijudaismus „ersetzt“ nun den Antisemitismus.43 Die christliche Theologie müsse nämlich eo ipso antijüdisch sein. Schmitt macht aus sich einen Deutschen des „konservativen Widerstandes“, so als ob er einem anderen Deutschland angehört hätte, und flieht ins Religiöse, zumal die Kirchen, insbesondere die katholische, nach 1945 die am wenigsten kompromittierten deutschen Institutionen waren. Schmitt distanziert sich nicht, mehr noch, er wiederholt mit neuen Argumenten seine alten Positionen. 4. „Gleichheit und Intoleranz“ ist das übergeordnete Thema des Beitrages. In welcher Beziehung stehen dazu Goethes Reflexionen? Ebenso die Forderungen von Martin Jäggle und Thomas Krobath nach einer zukünftigen Schulentwicklung, die eine „Kultur der Anerkennung“ einschließt oder ermöglichen soll? 4.1. Der Kontext des Goethe-Wortes ist nicht nachweisbar. Der wunderbare Satz, so muss ich vermuten, kann mit jeder allgemeinen Diskussion über Minderheiten in einem Staat zusammenhängen – zumal in Europa, in dem ja alle Länder ihre besonderen Minderheitsverhältnisse zu bewältigen gehabt hätten oder bewältigen sollten. Gemeint sind offenbar religiöse und autochthone ethnische Minderheiten; zum Beispiel die Protestanten in „katholischen“ Ländern, oder vice versa, die Angehörigen anderer Landesteile mit anderer Sprache und Kultur, wie es für die Habsburger Monarchie und für Preußen typisch war, die Juden überall. Das Gleichheitsverständnis bezogen auf Bürger und Bürgerinnen fordert geradezu die politische, religiöse und kulturelle Toleranz als eine vorübergehende Gesinnung. Warum sollte sie nicht zur Anerkennung führen? Sie 41 Schmitt 1993, 229 42 Gross 2005, 340 43 Den religiösen und mythischen Hintergründen und Zusammenhängen im Nationalsozialismus, auch bei Schmitt, sowie in den Rassegesetzen, geht Michael Ley nach. (Ley/Schoeps 1997, etwa ab 20 ff; Ley 1997, etwa 72 ff)
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muss es. Der Sinn liegt ja gerade in einer Gleichheit, in einem gleichen Bürgersein aller Bürger und Bürgerinnen. Und in einer vorläufigen Toleranz, und nur in der Toleranz zu verharren, beleidigt daher. Toleranz, so respektabel sie ist, ist nicht identisch mit Gleichheit, die es „vor dem Gesetz“ herzustellen gilt44. 4.2. Es ist leicht, von Diskriminierungen und Ausgrenzungen abzusehen, wenn durch Assimilation und Integration bis hin zu einem allgemeinen gleichen Heimatgefühl schon ethnische, religiöse, kulturelle Homogenität und Solidarität überwiegen. Solche Integrationsvorgänge dauern viele Generationen. Sie durch Zwang herzustellen, war nie erfolgreich – so oft es auch versucht wurde. Toleranz auf religiöse und nichtautochthone Minderheiten, selbst unter Bürgern und Bürgerinnen, bezogen, erfordert daher schon ein anderes Format des Bewusstseins und eine andere Energie der Anerkennung, auch wenn das „gleiche Menschenantlitz“ respektiert wird. Beispiele sind die Zwangstaufen der Juden, die Verfolgung der Roma und Sinti in Europa oder die Glaubenskämpfe in der Reformation und Gegenreformation bis in die Zeit der Aufklärung. Dennoch, das Goethe-Wort gilt auch da, so muss man annehmen. Wir sind heute Zeugen einer – ganz besonders in Österreich – erkennbaren ökumenischen Entwicklung als Antwort auf die sehr handfesten, später subtilen historischen Glaubensauseinandersetzungen und gegenseitigen Diskriminierungen. „Das ökumenische Bemühen ist ein historischer Prozess, der neben theologischer Einsicht, persönlicher Frömmigkeit und der Bereitschaft zum Dialog auch eine doppelte Sehnsucht voraussetzt: den Wunsch nach Wiederkehr der verlorenen Einheit – zugleich aber auch die Hoffnung auf „versöhnte Verschiedenheit“.45
Was heute zwischen Konfessionen und Religionsgemeinschaften sich zivilgesellschaftlich (nicht auch immer theologisch) anbahnt46 oder denkbar erscheint, ist in anderen Minderheitenfragen noch blockiert. Diese Entwicklung entspricht dem Sinne des Goethe-Wortes. 4.3. Das formale Band der Staatsbürgerschaft reichte in der Regel nicht aus, das geforderte Bewusstsein der Zugehörigkeit der Minderheit zum Staat und einer versöhnten Verschiedenheit herzustellen. Das haben die nach der Französischen 44 Siehe Kneucker/Welan 1975, 5 – 22 45 König 2000, 7. Der Begriff ist das Motto der „Gemeinschaft evangelischer Kirchen in Europa“ – GEKE, dem internationalen Zusammenschluss von 106 evangelischen Kirchen in Europa; er erinnert an die Formulierung „Europa in Vielfalt vereint“, die aus den Verfassungsentwürfen nicht in die Präambel des Vertrages über die Europäische Union, in der Fassung des Vertrages von Lissabon 2007, übernommen wurde. 46 Siehe Kneucker 2007, 137 ff
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Revolution „emanzipierten“ Juden in Frankreich ebenso schmerzlich erleben und erleiden müssen, wie z. B. die Tschechen, Bosniaken und Italiener in der Habsburger Monarchie, zu schweigen von den verdienten deutschen jüdischen Offizieren des Ersten Weltkrieges in Hitlers Deutschland. Zu beachten ist allerdings, dass das Konzept der formalen, rechtlichen Staatsangehörigkeit als einheitsbegründende Zugehörigkeit historisch relativ jung ist, vor allem in Österreich, in dem das „Heimatrecht“, also die rechtliche Beziehung zu einer politischen Gemeinde und nicht zu einem Gesamtstaat, erst in der Republik durch die Landes- und seit 1949 durch die allgemeine Staatsbürgerschaft abgelöst wurde.47 4.4. Der Kontext der Zitate von Martin Jäggle und Thomas Krobath wird von ihnen selbst benannt: Schulentwicklung. Ist Schule, und wie kann Schule ein Übungsort für eine Kultur der Anerkennung sein? Oder in einem weiteren Sinne: wie sind pädagogische Konzepte zu denken und wie ist die Schulpraxis für die Entwicklung von Sozialkompetenzen der Lehrer und Lehrerinnen, der Schüler und Schülerinnen so einzurichten, dass sie mit dem gesellschaftlichem Pluralismus zu Rande kommen, vor allem aber Bloßstellungen, Demütigungen und Aussonderungen verhindern? Denn Demütigungen kommen nahe einer Verneinung der Rechtsperson. Politischer, religiöser, ethnischer Pluralismus, Gleichbehandlung und Gleichstellung von Minderheiten überhaupt, impliziert Differenz. Wenn Minderheiten grundrechtlich und verfassungsrechtlich geschützt sind, wenn individuell und kollektiv ein durch Grundrechte verankerter Pluralismus besteht, dann hat zwar in erster Linie der Staat diese Differenzen anzuerkennen, zu achten und zu schützen; und öffentliche Schulen zählen als staatliche Einrichtungen. Die Akzeptanz des grundrechtlich verankerten Pluralismus ist auch von Bürgern und Bürgerinnen zu erwarten, (im Sinne einer absoluten Geltung des Gleichheitssatzes, wie sie heute in der Rechtsprechung und Rechtspolitik verstanden wird48) sogar zu fordern – und wenn schon nicht rechtlich, dann moralisch in den persönlichen Entscheidungen über den individuellen und kollektiven Umgang mit Differenzen in der Gesellschaft. Wenn die Grundrechte Ursprung und Ziel des Pluralismus sind, also ein politisches und rechtliches Programm für die Achtung der Nächstenliebe und Solidarität darstellen, dann sind für die Teilnahme an dem „Programm“ zunächst die Schulen und die Bildungseinrichtungen anzusprechen und herauszufordern, dann aber auch alle anderen Personen, insbesondere wenn sie selbst Kinder erziehen oder Kinder in die Schule schicken, schließlich auch alle die Personen, die über sich selbst 47 Zur Information: Heindl/Saurer/Burger 2000; Kurnik 2004 48 Siehe Raoul Kneucker, Anm. 28
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Raoul Kneucker
reflektieren sollten, wie sie Pluralismus leben, und viertens die Organisationen, in denen Bildung und Schule stattfindet. Es ist Martin Jäggle und Thomas Krobath zu danken, dass sie darauf bestehen, im Übungsfeld Schule die drei Dimensionen des Umgangs mit Differenz pädagogisch als eine kontinuierliche Aufgabe anzuerkennen und zu gestalten: nämlich (1) in den Lehrplänen, (2) in der Selbstreflexion der Lehrer, Lehrerinnen und Erziehungsberechtigten und (3) in der Schulorganisation selbst. Gewöhnlich wird nur an Lehrpläne gedacht, wenn es um zu erwerbende soziale Kompetenzen geht; manchmal an die Ausbildung, Fort- und Weiterbildung der Unterrichtenden – obwohl damit noch nicht die tatsächlich besuchte Fortbildung und die effektive Umsetzung in die Unterrichtspraxis erfasst ist; so gut wie nie wird aber an die Organisation Schule gedacht und die Schulorganisation als Übungsfeld in den Schulentwicklungsmaßnahmen programmatisch eingebaut. Schulen sind aber eine staatlich anerkannte Leistungs- und Qualifikationsinstanz. In ihren Organisationseinheiten leben Schulen eine bestimmte, gesetzlich vorgegebene und/oder einfach praktizierte Organisationsphilosophie, d. h. sie beachten und schätzen Pluralismus – oder nicht, streben eine Kultur der Anerkennung an – oder nicht und halten Aussonderungen und Demütigungen hintan – oder nicht. Unterrichtende sind Vorbild, positiv oder negativ ; sie prägen aber nicht allein. In einer Organisation leben, prägt systemisch das spezifische Lernen von sozialen Kompetenzen junger Menschen. Organisation ist nicht nur Raum, Rahmen, Bedingung und Möglichkeit des Lernens, sondern auch ein Teil der ständigen, persönlichen Sozialisierung aller Personen in dieser Organisation, vor allem der Schüler und Schülerinnen. 4.5. Das Wort Goethes ist offenbar an die Tolerierenden gerichtet oder an Personen oder gesellschaftliche Mehrheiten, die tolerieren müssten. Im Verständnis der Zitate von Jäggle/Krobath wären es ganz besonders die Verantwortlichen der Bildungs- und Schulentwicklung. Es wird mit dem Wort eine Hoffnung, aber kein Trost für die Diskriminierten ausgesprochen. Sie waren und bleiben in der Regel ja gezwungen, „tolerant“ zu sein. Auch diese Attitude „beleidigt“. Dennoch sind stets beide Seiten aufgerufen zu bedenken, wie sie für sich selbst Toleranz und Respekt gegenüber anderen definieren, wer in ihrem Bewusstsein ihr Nächster und der „andere“ oder der „Fremde“ ist. Essentiell ist, ob ihre eigenen diskriminierenden Worte und Taten Kinder nur als Bürger und Bürgerinnen meinen oder Personen betreffen, denen sie im Grunde ihres Herzens die Qualität Mensch ganz oder teilweise absprechen, d. h. im Grunde genommen geneigt sind, den Charakter als Rechtsperson zu verneinen. Von keiner Seite, weder von den Mehrheiten noch von den Minderheiten ist dann jedoch Toleranz denkbar ; denn diese Art der Intoleranz bedeutet in der
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Regel zusätzlich zur Diskriminierung im gesellschaftlichen Leben die potentielle Gefährdung der rechtlichen, politischen, physischen Existenz der Schüler und Schülerinnen, wenn auch zunächst nur in einem schulischen Sinne, reduziert auf schulische Leistungen und Qualifikationen. Die Prägung bleibt für Kinder und Unterrichtende und Administratoren aber bestehen. Es gibt keine Toleranz der Intoleranz. Unmenschlichkeit im Rechtssinne ist im Prinzip Leugnung der Rechtsperson, aus der Demütigung, Degradierung, Aussonderung, Abschaffung, Vertreibung, Ermordung, Entsorgung folgen können. Was auch immer den Nährboden der Vernichtungsideologie des Dritten Reiches bildete, es war die Unmenschlichkeit, Menschen als Rechtsperson nicht gelten zu lassen, die in Menschen „Ungeziefer“ sah, und nicht das Menschenantlitz sehen konnte. „Weh dem, der das vergisst“.
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Raoul Kneucker
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Norbert Mette
Religiöse Erziehung und Bildung im Kontext der „Geldkultur“
„Die implizite ,Religion‘ der Leistungsgesellschaft“ ist einem Abschnitt in dem gemeinsam von Martin Jäggle und Thomas Krobath verfassten Beitrag „zum Schulentwicklungsdiskurs in Österreich“ überschrieben.1 Sie beklagen darin die zunehmende Ökonomisierung des Bildungswesens, die für die Schulen zur Folge habe, dass zugunsten der Vermittlung und Aneignung praktisch verwertbaren Wissens kaum mehr Platz für eine (kritische) Allgemeinbildung bleibe und dem Erwerb von Kompetenzen, die „für die Reproduktion demokratischer Verhandlungsformen und partizipativer Gestaltungsprozesse als Grundlage einer sich weiter demokratisierenden Gesellschaft“ benötigt würden, bestenfalls eine nachgeordnete Bedeutung beigemessen würde. Diese folgenreiche Veränderung des schulischen Curriculums ist nach Meinung der Autoren auf die implizite „Religion“ der Leistungsgesellschaft zurückzuführen, gemäß der Leistung den Sinn des Lebens ausmache und einer Person allererst die Berechtigung zu ihrem Dasein gebe. Indem diese Einstellung auch den Schulen aufoktroyiert würde, habe das zur Folge, dass ein pädagogisches Anliegen, wie etwa die Schüler/innen in den Mittelpunkt des Unterrichts zu stellen, dem von der Wirtschaft geforderten Leistungsdruck weichen müsse. „Lernen“, so bringen es die beiden Autoren auf den Punkt, „wird auf das Zustandebringen standardisierungsfähiger Output-Leistung getrimmt.“ Tendenziell gelte nur das als schulisch relevant, was „vor dem Tribunal der Messbarkeit“ Stand halte. Es soll hier nicht weiterverfolgt werden, wie in ihren weiteren Ausführungen die Autoren sich mit überzeugenden Argumenten dafür stark machen, diesem Trend zur Ökonomisierung der Schule eine Alternative entgegenzusetzen, nämlich die Schule als einen Ort zu entwickeln, an dem die Schüler/innen, aber auch alle anderen Beteiligten um ihrer selbst willen Anerkennung finden und nicht aufgrund ihrer Leistungen. Vielmehr soll im Folgenden der Hinweis von der „impliziten ‘Religion’ der Leistungsgesellschaft“ aufgegriffen und insbesondere daraufhin bedacht werden, wie sich dies – wenn es stimmt, dass die 1 Vgl. Jäggle/Krobath 2010, 54; Die folgenden Zitate sind diesem Abschnitt entnommen.
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Norbert Mette
Leistungsgesellschaft um ihrer besseren Legitimation willen (quasi-)religiöse Züge angenommen hat – auf die Sozialisation der derzeit heranwachsenden Kinder und Jugendlichen auswirkt. Soviel dürfte sicher sein: Wenn ein Leistungsdenken in einer rein ökonomischen Version zur gesellschaftlichen Leitideologie avanciert ist2, werden unweigerlich auch die Heranwachsenden von früh an durch sie zutiefst geprägt. Die Ökonomisierung von Sozialisation und Bildung setzt bereits ein, noch bevor sie das institutionelle Erziehungs- und Bildungswesen erfasst und kolonialisiert. Bis in die Kinderstube sind die wirtschaftlichen Imperative von Nutzenmaximierung und Leistungssteigerung vorgedrungen.3 Dass darin eine eminente Herausforderung für pädagogisches Handeln allgemein und religionspädagogisches Handeln speziell steckt, liegt auf der Hand: Was können sie angesichts eines solchen die Menschen deformierenden Einflusses4 bewirken?
2 Vgl. sehr pointiert dazu folgendes Zitat von Johann Baptist Metz: „Das Waren- und Tauschprinzip dieser Zivilisation hat inzwischen über den ökonomischen Bereich hinaus längst die seelischen Grundlagen unserer Gesellschaft erreicht und die Herzen der Menschen auf seine Weise kolonialisiert: Alles erscheint austauschbar, auch die zwischenmenschlichen Beziehungen, und auch bei unseren geschichtlichen Erinnerungen regiert immer weniger die moralische Verantwortung, immer mehr hingegen die als Objektivität ausgegebene Unschuld. Die rasende Beschleunigung, in der wir leben, der überstürzte Wechsel im Verbrauch und in den Moden, auch den kulturellen, gewährt kaum mehr sinnenhafte Anschauung, weil wir den Menschen und den Dingen zumeist nur nachblicken, gewissermaßen in den Rücken schauen können. So wird der Einzelne immer mehr auf Anpassung an eine abstrakt-unanschauliche, unübersichtliche Welt gewöhnt. Auch der Rekurs auf die Phantasien seiner Kindheit scheint verlegt, weil wir die mit unseren (Spiel-)Automaten erstickt haben, ehe sie sich entfalten konnten.“ (Metz 2006, 79 f) 3 Vgl. Habermas 2012, 2 4 Dazu wiederum Johann Baptist Metz: „Wohin also ist ‘der Mensch’? Immer weniger, so scheint es, ist er noch sein eigenes Gedächtnis, immer mehr nur noch sein eigenes Experiment. Alles wird technisch reproduzierbar, am Ende auch der produzierende Mensch selbst (…) Unter der quasi mythischen Totalität der technischen Rationalität droht eine Intelligenz ohne Pathos, eine Intelligenz, die keiner eigensinnigen Sprache bedarf, weil sie widerspruchslos funktioniert, eine Intelligenz, die kein Gedächtnis kennt, weil sie ja von keinem Vergessen bedroht ist: der Mensch als computerisierte Intelligenz ohne Leidempfindlichkeit und ohne Moral, kurzum die sanft funktionierende Maschine erstarrte Rhapsodie der Unschuld.“ (Metz 2006, 80)
Religiöse Erziehung und Bildung im Kontext der „Geldkultur“
1.
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Religionspädagogisches Handeln als Anfrage an ökonomisches Denken
Wie diametral sich die Eigenerfordernisse pädagogischen Handelns und die internen vom ökonomischen Kalkül gesteuerten gesellschaftlichen Mechanismen gegenüberstehen, hat Ursula Peukert instruktiv am Beispiel deren unterschiedlicher Zeitrhythmen aufgezeigt: „Aus der Perspektive eines ökonomischen Handelns, das allein an Effizienzsteigerung durch Beschleunigung und damit an verkürzten Investitionszyklen orientiert ist, muß gerade die Erziehungsarbeit mit kleinen Kindern als unproduktiv, ja systemfremd erscheinen. Diese Arbeit braucht gemeinsam geteilte, soziale Zeit und die geduldige Aufmerksamkeit auf Vorgänge, die sich weder beliebig beschleunigen noch zeitlich aufschieben lassen, und kollidiert deshalb am stärksten mit den Anforderungen an Beschleunigung und Effizienz, die den Erwerbsbereich bestimmen. Nach allem [… was sich aus den in den vorhergehenden Abschnitten des Aufsatzes dargelegten einschlägigen Forschungsbeständen ergibt, NM] folgt das Bemühen, mit dem Kind Verständigung über gemeinsam geteilte Bedeutungen auszuhandeln und so der alltäglichen Welt erst Sinn zu verleihen, einer anderen Logik. Erst aus der Erfahrung von absichtslosem Wohlwollen und einfühlender Fürsorge bildet sich die Fähigkeit des Kindes, andere Menschen als andere wahrzunehmen und anzuerkennen und eine gemeinsam geteilte Welt aufzubauen. Daß sich aus dem gemeinsamen Handeln zwischen Erwachsenen und Kindern wie in der von Kindern allmählich autonom gestalteten Interaktion unter Gleichaltrigen Anerkennungsverhältnisse entwickeln können, verbraucht Zeit und setzt Verfügung über unverplante Zeit voraus (…) Die ‘sozialisatorischen Schneckentempi’ (Heitmeyer […]) werden von den durchrationalisierten ökonomischen Zeitrhythmen jedoch zunehmend überholt und verdrängt. Diese dringen über Berufstätigkeitsnormen in den familialen Alltag ebenso wie in pädagogische Institutionen ein und setzen schon Kleinkinder Systemzwängen aus (…). Erziehungs- und Bildungsprozesse geraten damit immer mehr unter Zeitdruck, unter dem sie entgleisen oder einfach zu verschwinden drohen(…).“5
Angesichts dieses massiven Einflusses des Wirtschaftssystems auf das Erziehungssystem ist es verwunderlich, dass dem bislang in der deutschsprachigen Religionspädagogik nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet worden ist.6 Es werden zwar immer wieder gesellschaftliche Trends wie Individualisierung, Globalisierung, Enttraditionalisierung namhaft gemacht, von denen festgestellt wird, dass sie nicht zuletzt für die religiöse Erziehung erhebliche Auswirkungen zeitigen würden und mit denen man sich darum, wolle man sich nicht blindlings dem gesellschaftlichen Mainstream anpassen, kritisch-weiterführend auseinandersetzen müsse. Aber diese Auseinandersetzung wird eher auf der kultu5 Peukert 1997, 285 6 Als eine der neueren Ausnahmen vgl. Pirker 2013
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rellen und weniger auf der ökonomischen Ebene geführt.7 Das von Walter Benjamin auf den Begriff gebrachte Theorem vom „Kapitalismus als Religion“ und die Debatte darüber8 haben bislang innerhalb der deutschsprachigen Religionspädagogik keinen Nachhall gefunden, obwohl sich dieses von der Sache her aufdrängt9 : Denn wenn der Kapitalismus zur dominanten und eigentlichen Religion der Gegenwart geworden ist, dann liegt es nahe, in dem Bemühen, das heranwachsende „Humankapital“ für dieses Wirtschaftssystem gefügig zu machen, die vorherrschende Form religiöser Sozialisation heute zu erblicken. Es ist das Verdienst des Nestors der englischen Religionspädagogik, John M. Hull, genau diesen Zusammenhängen nachgegangen zu sein und zu einem der Hauptthemen seiner Forschung gemacht zu haben.10 Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildet die These, dass im Kapitalismus endgültig Geld den Platz besetzt hält, den vormals Gott innegehabt hat, und dass sowohl die Gesellschaft als auch die Menschen in ihr von der Geld(un)kultur durchdrungen sind. Wie Hull es versteht, auf der Grundlage gesellschaftskritischer Ökonomie und Theologie ein zeitgemäßes religionspädagogisches Konzept zu erarbeiten, das religiöse Erziehung als Befreiung aus der Herrschaft der Geld- und Leistungsreligion profiliert, soll im Folgenden als Anregung für eine intensivere Diskussion im deutschsprachigen Raum nachgezeichnet werden.
7 Das spiegelt sich auch in dem insgesamt einen hervorragenden Überblick über die einschlägige Debatte gebenden Beitrag von Peter Biehl 2001 wider. – Eine gediegene Kombination von ökonomischen und kulturwissenschaftlichen Beobachtungen und Analysen zum Einfluss des Konsumismus in den USA auf die Kindheit (bis in die Kirchengemeinden hinein) findet sich bei Mercer 2005. Darin, die Kinder gegen diese Konsum-Ideologie stark (resilient) zu machen, sieht sie eine vorrangige Aufgabe religiöser Erziehung heute, so wie sie in den Kirchengemeinden als Orten eines alternativen Lebensmodells zu erfolgen hätte. 8 Aus der umfangreichen Literatur seien hier angeführt Baecker 2003 (in diesem Band ist auch der Beitrag von Walter Benjamin abgedruckt); Deutschmann 1999; Fleischmann 2007 9 Thomas Ruster kommt das Verdienst zu, mit seiner Warnung, die Religionspädagogik gehe fehl, wenn sie meine, bei der Vermittlung des christlichen Gottesglaubens auf die Erfahrungsebene zurückgreifen zu können, weil gegenwärtige Erfahrungen unweigerlich vom kapitalistischen System vereinnahmt seien, diese Spur aufgegriffen zu haben (vgl. Ruster 2000). Aber indem er einer erfahrungsbezogenen Religionspädagogik die These entgegengesetzt hat, es gelte, die absolute und menschlicher Erfahrung grundsätzlich unzugängliche Fremdheit des biblischen Gottes zur Geltung zu bringen, hat sich die Auseinandersetzung mit dieser seiner Position so sehr darauf konzentriert, dass seine Behauptung, die heute Heranwachsenden seien „treue Anhänger der kapitalistischen Religion“ und „ihre gesamten Erlebnisse, ihr Lebensumfeld, die Ziele, die sie sich Leben setzen“, davon imprägniert (vgl. ebd. 199), in ihrer religionspädagogischen Brisanz zu wenig wahrgenommen und erörtert wurde. 10 Vgl. u. a.(in deutscher Übersetzung) Hull 1988, 1989, 2000 und 2001
Religiöse Erziehung und Bildung im Kontext der „Geldkultur“
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Die kulturelle und religiöse Bedeutung von Geld (John M. Hull)
Anknüpfend an materialistische Theorieansätze, die ihren analytischen Fokus auf den wechselseitigen Zusammenhang zwischen Sein und Bewusstsein, Basis und Überbau richten, geht Hull davon aus, dass auch zwischen dem religiösen Bewusstsein und der jeweils gegebenen Gesellschaftsstruktur eine Wechselwirkung besteht.11 Dabei dürften allerdings, betont er, die Zusammenhänge zwischen Basis und Überbau nicht als statisch angesehen werden, sondern als von Epoche zu Epoche in Veränderung begriffen. So gelte beispielsweise für die Spiritualität, dass sie zwar in den stofflich-konkreten Formen des gemeinschaftlichen Zusammenlebens wurzele; aber würde man sie nur als einseitig durch diese materielle Basis determiniert betrachten, würde übersehen, dass auch dem Überbau bzw. dem „gesellschaftlichen Imaginären“ – den Hull von Cornelius Castoriadis übernommen hat und bevorzugt, weil er differenziertere Analysen ermöglicht12 – eine außerordentliche Vitalität und Reproduktivkraft innewohne, die umgekehrt auf die Basis zurückwirken würden. So lässt sich nach Hull beispielsweise besser nachvollziehen, dass der liberale Kapitalismus im 19. Jahrhundert eine liberale, individualistische und nach innen gewendete Form von Spiritualität hervorgebracht habe, die die damalige ökonomische Basis widerspiegele, während im Zuge der Weiterentwicklung des Kapitalismus mit der Verlagerung des wirtschaftlichen Schwergewichts von der Produktion auf die Konsumation und mit dem Bedeutungszuwachs des Symbolwertes der Waren gegenüber ihrem Gebrauchs- und Tauschwert neue Formen von Spiritualität entstanden seien, die im Shopping ihren kennzeichnenden Ausdruck fänden. Hull beschreibt sie wie folgt: „Die Grundbedürfnisse des Menschen, seine Identität, sein Selbstbild einschliesslich seiner Lebensziele und Ansprüche an Liebe, Sexualität und so weiter, alles das wird vom modernen Marketing und Konsum manipuliert. International vereinheitlichte Strategien zur Vermarktung einer breitgefächerten Palette von Produkten, die allesamt nur symbolischen Wert haben, branden Woge um Woge auf uns zu… Die Sphäre des Tagtraums, der Phantasie, die Fokussierung auf das Wecken von Sehnsüchten, die Benennung von Dingen, der Aufbau von Freundschaften, die Anreicherung der Welt der inneren Objekte, die Erfahrung dessen, was einen Menschen befriedigt – die Liste der Aspekte von Spiritualität mit ihren samt und sonders von der Bewusstseinsindustrie unserer Tage geformten Bestandteilen könnte endlos verlängert werden.“13
11 Vgl. Hull 2000e, bes. 103 – 111 12 Vgl. ebd. 105 – 107 13 Ebd. 111
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Marktforschung und Design hätten nur einen Zweck, nämlich herauszufinden und bereitzustellen, was Menschen sich wünschen würden. Dabei würden selbst diese Wünsche geschickt manipuliert. Aber trotzdem stille das darauf abgestimmte Produkt das Begehren des Konsumenten. „Deswegen“, so fährt Hull wörtlich fort, „ist Shopping für manche Menschen ein freudiges Erlebnis. Die oberhalb der Befriedigung von Grundbedürfnissen angesiedelten Phantasien und geistigen Energien werden gebunden in dem Erlebnis, dass man sich durch Shopping selbst verwandeln kann. Es verschafft einem ein gutes Gefühl, befriedigt aber nie.“14 Als weiteren Faktor für die vom modernen Kapitalismus hervorgebrachte Form der Spiritualität führt Hull die Rolle an, die das Geld in der heutigen Gesellschaft einnimmt.15 Nach Hull ist das Geld in der heutigen Gesellschaft zur globalen Macht schlechthin geworden, weswegen er sie als „Geldkultur“ identifiziert. In einer Rekonstruktion der Entwicklung, die das Geld seit seiner Erfindung genommen hat, zeigt er auf, wie das Geld eine immer abstraktere Bedeutung annahm und schließlich „zu dem Ding“ wurde, das „die allen anderen Dingen zugeschriebene sozialen Werte verkörperte“16. Als Mittel zu allen Zwecken wurde es zum Selbstzweck. Was das heißt, erläutert Hull wie folgt: „Als reinster allgemeiner und flexibelster Ausdruck des menschlichen Willens und Begehrens erlangte das Geld rasch Autonomie, eine Autonomie, die reine Verkörperung oder reine Abstraktion (je nach dem, ob man das konkrete Wesen des Symbols oder seine universelle Bedeutung betonte) der Autonomie von Wille und Vernunft des Menschen war.“17
Diese Autonomie des Geldes, die sich dahingehend auswirkt, dass nicht länger der Mensch über es verfügt, sondern umgekehrt es über den Menschen verfügt, wird nach Hull umso unangreifbarer, als es göttliche Eigenschaften für sich in Anspruch nimmt und sich mit einer numinosen Aura umgibt: Geld wird als der Ursprung aller Dinge zur allmächtigen und allgegenwärtigen Kraft, von der alles andere abhängt und die alles durchdringt. Kurz: Geld ist zur Religion geworden. Dermaßen sakral überhöht wird erfolgreich das Bewusstsein dafür verdrängt, dass Geld ein Produkt des Menschen ist. Der Einsicht, die den Menschen aus der Abhängigkeit vom Geld befreien könnte, verweigert sich dieser, weil er sich dem lieber durch Flucht in Selbsttäuschungen bzw. Illusionen entzieht und die Annehmlichkeiten, die eine Partizipation an der Geldkultur mit sich bringt, genießt. Mit ihrer Verkündigung eines „Wohlstandsevangeliums“18 tragen Kräfte 14 15 16 17 18
Ebd. Vgl. ebd. 112 f Vgl. Hull 2000d, bes. 78 – 81 Ebd. 79 f Hull 2000c, 66; Hull 2000 f. 127
Religiöse Erziehung und Bildung im Kontext der „Geldkultur“
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aus den Reihen der Kirchen dazu bei, den in Selbsttäuschung Befangenen ein gutes Gewissen zuzusprechen. Mit seinen Analysen zur Geldkultur und -religion zielt Hull auf eine – wie er sie selbst programmatisch nennt – „Pädagogik der Emanzipation von der Herrschaft des Geldes“19. Dabei setzt er wie Paulo Freire seinen Schwerpunkt auf die Erwachsenenbildung, weil die Aufklärung über die vorfindlichen strukturellen Gegebenheiten und ihre Legitimationsideologien hohe Anforderungen an ihren intellektuellen Nachvollzug richte. Aber da die Geldkultur bereits erhebliche Auswirkungen auch auf die Kindheit und Jugend zeitigt, und zwar bis ins schulische Curriculum hinein, bezieht er diesen Bereich in seine Überlegungen mit ein.
3.
Widerstandsnester der Geldkultur: kleinkindliche Beziehung und Religion
Wie sehr die Geldkultur Kinder und Jugendliche erfasst und prägt, stellt sich für Hull wie folgt dar20 : Sehr kleine Kinder seien gegen Geld immun; „sie“, so charakterisiert Hull ihre Besonderheit, „leben in schlichtem Vertrauen und im Angewiesensein auf jene, die sie lieben und aufziehen.“21 Aber je älter sie würden, desto schneller würden sie lernen, „dass unter Erwachsenen Geld als Schlüssel zum Glück“22 gelte. Geld werde auch für sie nach und nach „zum allgemeinsten Ausdruck für Zuwendung“23. Jugendliche ab 16 Jahren würden alles nur noch nach seiner Zweckdienlichkeit beurteilen. Insgesamt gesehen werde durch die Geldkultur die Sozialisation der Heranwachsenden so ausgerichtet, dass sie ihr mehr und mehr ausgeliefert würden. Zuversichtlich stimmt Hull, dass das nicht immer gelinge, weil Heranwachsende noch ein waches Auge für Ungerechtigkeit hätten: „Das kindliche Gespür für gegenseitige Fairness, für den Gedanken, dass jeder einmal an die Reihe und zu seinem Recht kommen muss, wird im mittleren und späten Jugendalter vom Eintreten für Gerechtigkeit und von einer immer fundierteren Bejahung des Sinns menschlicher Gemeinschaft abgelöst, und die empörende Aushebelung menschlicher Werte durch die Geldkultur wird von unseren jungen Leuten oft heftig abgelehnt.“24 19 20 21 22 23 24
Hull 2000 g, hier: 140 Vgl. Hull 2000d, bes. 131 – 135 Ebd. 125 Ebd. 132 Ebd. Ebd. 134
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Leidenschaftlich ist Hull bestrebt, „Widerstandsnester“ ausfindig zu machen, die das Potential für eine Transformation der vorfindlichen Geldkultur aufweisen. Als beispielhaft für eine wahrhaft menschliche Gesellschaft verweist er auf die erste Beziehung zwischen Mutter und Säugling oder die zwischen einem Kleinkind und seiner ersten erwachsenen Bezugsperson. Hier erblickt er ein „Modell von wechselseitiger Abhängigkeit, von Interdependenz, bei der anstelle eines vorab vereinbarten Preises die Gegenseitigkeit des Austauschs im Vordergrund steht“25. Schwäche und Stärke würden ausgetauscht und sich einander wechselseitig ergänzen. Überwindung der Geldkultur bedeutet nicht, dem Geld eine totale Absage erteilen zu wollen. Nicht das Geld an sich ist für Hull das Problem, sondern die Weise, wie mit ihm umgegangen wird: Es kann immer mehr für eigene Zwecke angehäuft werden – auf Kosten der Ausbeutung anderer; es kann aber auch mit anderen geteilt werden – zugunsten einer gerechteren Verteilung zwischen Armen und Reichen. Das ständige Streben nach Geld mache eine Kultur krank; es sei nicht in der Lage, den Menschen zu einem ihr Leben wirklich erfüllenden Sinn zu verhelfen und unterminiere ein solidarisches Miteinander. Es gelte darum – und das ist die Vision, die Hull seiner Meinung nach heute mit Tausenden und Abertausenden teilt und der er gemeinsam mit diesen Vielen zum praktischen Durchbruch verhelfen will –, „unsere Geldkultur in eine Kultur des erlösenden Teilens zu verwandeln und so das Leben der Menschen zu verändern“26. Als eines der möglichen Widerstandsnester – neben der erwähnten kindlichen Lebenswelt und dem Gerechtigkeitssinn der Jugendlichen; als weiteres nennt Hull „die freie und spontane menschliche Sexualität“27 – macht Hull die Religion aus, allerdings eine Religion, die sich nicht zur Anpassung an den heutigen gesellschaftlichen Mainstream hat korrumpieren lassen und einer Spiritualität der Innerlichkeit und des Wohlstands frönt, sondern die sich auf ihren ursprünglichen Geist zurückbesinnt, wie er für das Christentum in der biblischen Tradition aufbewahrt und immer neu zu entdecken ist. So verweist er beispielsweise darauf, wie häufig in der Bibel – und zwar sowohl im Alten als auch im Neuen Testament – von Gott die Rede ist; Jesus habe sich häufiger über Geld als übers Beten geäußert.28 Summarisch kommt Hull zu dem Befund: „Obwohl in einer begrifflichen Fassung, wie sie von Gesellschaften der vorkapitalistischen Produktionsweise zu erwarten ist, die von Landwirtschaft und Handel und eben nicht von Industrieproduktion geprägt sind, gibt die Bibel dennoch aussage25 26 27 28
Ebd. 132 Hull 2000a, hier: 29 Hull 2000 f, 124 Vgl. ebd. 125. Verweise auf Bibelstellen finden sich ebd. 125 – 127; Hull 2000a, 16 – 18
Religiöse Erziehung und Bildung im Kontext der „Geldkultur“
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kräftige Hinweise zur Falschheit von Tauschbeziehungen (Mk, 8,35 – 37) und zum diametralen Gegensatz von Gnade und dem Wert von Gütern (Jes 52,3; 55,1 – 3). Die trügerischen Eigenschaften des Geldes werden auf verblüffende Weise beleuchtet (Ps 49,5 – 9, Lk 12,16 – 21), nicht minder die Ausbeutungsverhältnisse, die entstehen, wenn Reichtum in den Händen weniger konzentriert ist (Jak 5,1 – 6). Die Werte des Lebens in der Gemeinschaft und im Königreich Gottes stehen den Werten einer auf Tauschbeziehungen beruhenden Gesellschaft diametral gegenüber (Lk 6,20,24).“29
Bisweilen würden die Werte dieses Himmelreichs sogar in Geldbegriffen ausgedrückt (z. B. Mt 13,44), aber in paradoxer Weise: Die Werte des Glaubens, der Gnade sowie der Liebe seien etwas völlig anderes als die verführerischen Werte des Geldes; sie würden das Bild einer neuen Gesellschaft offenbaren, eines Gottesreichs, in dem das Geld dazu diene, „unsere Solidarität und unsere Freiheit zu erweitern“, und nicht mehr unser Herr und Gott sei, der uns in sein Ebenbild verwandele.30 Konsequenterweise ergebe sich von daher, so fordert Hull, für die Kirche die Aufgabe, nicht das Geld der Welt zu verwalten, sondern den Armen die Frohe Botschaft zu verkünden. Wörtlich schreibt er : „In diesem Zusammenhang ist es notwendig, dass die Kirche den falschen Umgang mit Geld (an dem sie selbst Anteil hat) anprangert und die mit der Kirche verbundenen Männer und Frauen in die Lage versetzt, zwischen Geld als Mittel der Ausbeutung der Armen und Geld als Mittel zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit zu unterscheiden.“31
4.
Religiöse Bildung als Ideologiekritik der Geldkultur
Einen solchen kritischen Standpunkt zum Kapitalismus zu vermitteln zugunsten des Subjektwerdenkönnens der Menschen in Solidarität, fordert Hull konkret von den religiösen Erziehungs- und Bildungsprogrammen der Kirchen ein. „Ein Effekt der Geldkultur besteht darin“, so schreibt er, „dass Religiosität verinnerlicht wird. Viele zeitgenössische Schriften über Spiritualität vermitteln den Eindruck, es handele sich dabei um eine Kultivierung von Sensibilität. Nach meiner Überzeugung ist das eine Projektion der Geldkultur (…) Die Geldkultur bringt ihr eigenes Abbild der Gesellschaft hervor. Die Gesellschaft ist eine Ansammlung von Individuen. So spricht der Geldgott. Der wahre und lebendige Gott sagt demgegenüber : Wir sind alle ein Leib, obwohl wir viele sind, denn wir essen alle von einem Brot. Das ist die Ausdrucksweise des lebendigen Gottes, in dessen Metaphorik die Gesellschaft keine Ansammlung von Individuen, sondern ein organisches Ganzes ist. Religiöse Erziehung findet statt, wenn junge 29 Hull 2000b, 43 30 Vgl. Hull 2000 f, 127 31 Hull 2000d, 94
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Norbert Mette
Leute inspiriert werden, für andere zu leben. So sollte eine Spiritualität beschaffen sein, die diese Bezeichnung verdient.“32 Dasselbe gilt für die Erwachsenenbildung. Nüchtern geht Hull davon aus, dass eine religiöse Erziehung und Bildung, die als ideologiekritische Aufklärung angelegt seien33 und sich der Deformation der Menschen durch die Geldkultur widersetzen würden, indem sie ihnen Alternativen bewusst werden ließen und sie umzusetzen begännen, müsse mit erheblichem Widerstand seitens der herrschenden gesellschaftlichen Kräfte rechnen.34 Aber der biblisch fundierte Glaube diene nun einmal nicht den Interessen einer Konsumgesellschaft, in der die Bedingungen für den Reichtum weniger die Propagierung von Konkurrenz und Ichbezogenheit vieler sei.35 Im Gegenzug hält Hull daran fest, dass um der Schaffung eines menschenfreundlichen Zusammenlebens willen eine spirituelle Erziehung benötigt werde, die in zwei Schritten vorgehe: „aus dem eigenen Schmerz heraus zum Leiden der Welt, und aus dem eigenen Glück zu einer umfassenden Freude“36. Nach ihm handelt es sich dabei um eine Vision, zu der Männer und Frauen aller Glaubensrichtungen beitragen könnten.37
Literatur Baecker, Dirk (Hg.): Kapitalismus als Religion, Berlin 2003 Bates, Dennis/Hull, John: A critical appreciation, in: Ders./Durka, Gloria/Schweitzer, Friedrich (Eds.): Education, Religion and Society. Essays in honour of John M. Hull, London – New York 2006, 6 – 31 32 Hull 2000a, 25 33 Vgl. Hull 2000b, 46 – 48; Hull 2000d, 89 – 94. “Die Lektüre des Kapitals (sc. von Karl Marx, NM) schärft unser Gehör für das, was an unserem kirchlichen Leben hohl klingt. Wir lernen, Hintergrund und Vordergrund zu vertauschen, auf die Füsse zu stellen, was vorher auf dem Kopf stand, und begreifen auf diese Weise, warum für Christen im Kapitalismus das Glaubensbekenntnis inzwischen mit einem Makel behaftet ist. Die Klarheit christlicher Texte erschliesst sich nicht mehr von selbst, das christliche Selbstverständnis ist nicht frei von Zweideutigkeit, wir können nicht mehr davon ausgehen, dass christlicher Glaube so ist, wie er zu sein meint und vorgibt. Den Täuschungen muss eine vom Reich Gottes inspirierte christliche Theologie entgegengesetzt werden. Das Kapital zu lesen, kann dazu beitragen, dass christliche Erziehung, wie wir sie verstehen und praktizieren, klarer und überzeugender wird.“ (Hull 2000b, 48 f) 34 Vgl. Hull 2000c, 62 35 Vgl. Hull 2000e, 118 36 Hull 2000 f, 139 37 Zur weiteren Ausarbeitung dieses Programms bes. für den schulischen Religionsunterricht und die Schulentwicklung vgl. Hull 1998, 1999 und 2001; darüber hinaus ist dieser Ansatzes einer politisch-theologischen Religionspädagogik im umfangreichen Œuvre von John M. Hull ausführlich entfaltet; vgl. dazu überblicksartig Bates 2006
Religiöse Erziehung und Bildung im Kontext der „Geldkultur“
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Biehl, Peter : Gott oder Geld. Eine theologische Skizze in praktischer Absicht, in: Ders. u. a. (Hg.): Gott und Geld (JRP 17), Neukirchen-Vluyn 2001, 145 – 174 Deutschmann, Christoph: Die Verheißungen des absoluten Reichtums. Zur religiösen Natur des Kapitalismus, Frankfurt am Main – New York 1999 Fleischmann, Christoph: Kapitalismus als Religion, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 51 (1/2007) 77 – 58 Jürgen Habermas im Gespräch „Vom Schwinden der Solidarität“, Interview von Lothar Schröder in Rheinische Post-Online am 10. 12. 2012 (http://www.rp-online.kultur/ vom-schwinden-der-solidaritaet-1.3101079; Zugriff am 7. 1. 2013) Hull, John M.: Menschliche Entwicklung in der modernen kapitalistischen Gesellschaft, in: Nipkow, Karl Ernst u. a. (Hg.): Glaubensentwicklung und Erziehung, Gütersloh 1988, 211 – 227 Ders.: Ideologien und die Bewußtseinsindustrien. Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen einer spätkapitalistischen Gesellschaft, in: Preul, Reiner u. a. (Hg.): Bildung – Glaube – Aufklärung. Zur Wiedergewinnung des Bildungsbegriffs in Pädagogik und Theologie, Gütersloh 1989, 171 – 185 Ders.: Gott und Geld. Ausgewählte Schriften Band 2, Berg am Irchel 2000 Ders.: Erzieherische Werte in der Geldkultur, in: Hull 2000, 5 – 31 (2000a) Ders.: Marx, die Moderne und das Geld, in: Hull 2000, 32 – 52 (2000b) Ders.: Geld, Moderne und Moral, in: Hull 2000, 53 – 76 (2000c) Ders.: Christliche Erziehung in der kapitalistischen Gesellschaft, in: Hull 2000, 77 – 98 (2000d) Ders.: Die Zweideutigkeit religiöser Werte, in: Hull 2000, 99 – 118 (2000e) Ders.: Religiöse Erziehung, Religion und die Geldkultur, in: Hull 2000, 119 – 139 (2000 f) Ders.: Mit Gott feilschen, in: Hull 2000, 140 – 160 (2000 g) Ders.: Wettbewerb und spirituelle Entwicklung, in: Biehl, Peter u. a. (Hg.): Gott und Geld (JRP 17), Neukirchen-Vluyn 2001, 175 – 189 Jäggle, Martin/Krobath, Thomas: Bildung, Gerechtigkeit und Würde: Kultur der Anerkennung. Ein Beitrag zum Schulentwicklungsdiskurs in Österreich, in: Amt und Gemeinde 61 (1/2010) 51 – 63 Mercer, Joyce Ann: Welcoming Children. A Practical Theology of Childhood, St. Louis/ Missouri 2005 Metz, Johann Baptist: Memoria passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft, Freiburg im Breisgau 2006 Peukert, Ursula: Der demokratische Gesellschaftsvertrag und das Verhältnis zur nächsten Generation, in: Neue Sammlung 37 (2/1997) 277 – 293 Pirker, Viera: Wer hat, dem wird gegeben? Zur bildungspolitischen Problematik der Ressourcen(un)gerechtigkeit in einer identitätsbildenden Religionspädagogik, in: Könemann, Judith/Mette, Norbert (Hg.): Bildung und Gerechtigkeit. Zur politischen Dimension der Religionspädagogik, Ostfildern 2013 (i.E.) Ruster, Thomas: Der verwechselbare Gott. Theologie nach der Entflechtung von Christentum und Religion, Freiburg im Breisgau 2000
Thomas Krobath
Rechtfertigung als Anerkennung. Von der Aktualisierung der Rechtfertigungslehre im Kampf um Anerkennung in der Leistungsgesellschaft zu einer Erneuerung ihres Anliegens in Aufnahme des Anerkennungsdiskurses In der Schule begegnet man liebenswerten und förderungswürdigen jungen Menschen, die man als bedürftige und leistungsfähige Kinder und Jugendliche wahrnehmen kann – vor der Beurteilung ihrer schulischen Leistungen, damit sie in ihrem Stellenwert nicht auf eine Wahrnehmung aufgrund ihrer Leistungen reduziert werden. Das nennt der Wiener Religionspädagoge Martin Jäggle eine „Kultur der Anerkennung vor jeder Leistung“. Mit dieser griffigen Formel zog Martin Jäggle ein Resümee zur ersten internationalen Tagung der Initiative lebens.werte.schule im Jahr 20081 und gab einen programmatischen Ausblick, der zum nächsten Kongress „Kultur der Anerkennung“ im Jahr 2012 führte.2 Ungeachtet der differenzierenden Verankerung des Slogans, dass eine in der Schule strukturell verankerte Kultur der Anerkennung „ganz andere Leistungen“3 von Schüler/innen und Lehrer/innen ermöglichen würde, geriet die Formel sofort in den seither immer wieder geäußerten Verdacht einer einseitigen, wenn nicht fundamentalen Leistungsfeindlichkeit4. Der Satz berührt den Nerv der „impliziten ,Religion‘ der Leistungsgesellschaft“5, in der Leistung zur legitimatorischen Funktion einer Daseinsberechtigung erhoben wird.6 In umgekehrter 1 Siehe die Pressemeldung zur Tagung auf kathweb vom 08. 05. 2008, nachzulesen unter : http:// lebenswerteschule.univie.ac.at/content/site/symposium/symposium2008/article/254.html (2. 7. 2013). Die Beiträge zur Tagung „Religiöse Dimensionen in Schule und Schulentwicklung“ finden sich im Tagungsband Jäggle/Krobath/Schelander 2009 2 Siehe den mittlerweile erschienenen Tagungsband Jäggle/Krobath/Stockinger/Schelander 2013 3 Martin Jäggle auf kathweb vom 08. 05. 2008 (siehe Anm. 1) 4 „Es gab einen breiten Konsens, dass sich die Schule stärker an den jungen Menschen und ihren Möglichkeiten orientieren soll, dass es um eine Schule und um Bildung geht, die identitätsfördernd ist. Die Bedeutung einer Anerkennung vor jeder Leistung fand leider nicht die gleiche Zustimmung“ (Jäggle 2008, 5) 5 Jäggle/Krobath 2010, 54; Sie äußerte sich auch in der Rezeption des Zitats der „Anerkennung vor jeder Leistung“ als „Anerkennung von Leistung“ in einer Pressemeldung des epd-online zur Eröffnung des Kongresses 2012 am 3. Mai 2012, wurde aber aufgrund einer Rückmeldung umgehend korrigiert. 6 Zur Entlarvung der Ideologie der Leistungsgesellschaft siehe z. B. Hartmann 2002
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Thomas Krobath
Vereinseitigung tappt aber auch die unbedachte Rede von Anerkennung in die Legitimationsfalle, wenn systemische Ungleichheiten außen vor bleiben und über persönliche Anerkennung indirekt gerechtfertigt werden.7
1.
Kultur der Anerkennung vor jeder Leistung
Der hohe Stellenwert schulischer Leistungsbewertung hat seinen Grund. Leistung war der Kampfruf eines sich aus den Zwängen von Abstammung und Geburt emanzipierenden Bürgertums im Streben nach gesellschaftlichem Ansehen als Verdienst aufgrund eigener Tätigkeit und Werke. Leistung ist im Kampf um Anerkennung zur Ideologie geworden: Als Leistungsprinzip rechtfertigt sie kapitalistische Verteilungsverhältnisse (leistungsgerecht) und wird als Maßstab des beruflichen Arbeitens zur „Quelle der Anerkennung“ und der Identitätsbildung von Beschäftigten, die sich zentral über Leistungen im Beruf speist.8 Anerkennung von Leistung unterliegt heute einem Strukturwandel, der die Prinzipien geltender Anerkennungsordnungen fragwürdig werden lässt. „Viele Teilnehmer am wirtschaftlichen Leben werden für ihre Leistungen eben gerade nicht anerkannt“9. Im Zuge gesellschaftlicher Veränderungen konkurrieren „inkompatible Vorstellungen darüber (…), was besonders anerkennungswürdige Leistungen sind“10. Anerkennung wird auch dadurch „prekärer“, dass sie „nicht mehr an ,Leistung‘ in einem herkömmlichen Sinne normativ gekoppelt ist, sondern als Leistung schlicht das gilt, was faktisch monetären und sozialen Erfolg verspricht“11. Unter solchen Vorzeichen verwundert es nicht, wenn das bestehende notenbasierte Leistungsbewertungssystem in der Schule als „Kennzeichen einer im Wesen zutiefst undemokratischen Institution“12 und als einer möglichen Kultur der Anerkennung in der Schule13 widersprechend angesehen wird. Im Zentrum der Leistungsbeurteilung steht nicht das Subjekt, sondern es geht um unterkomplexe und eindimensionale Leistungsprodukte, die 7 8 9 10 11 12 13
Schluß 2013, 153 Voswinkel/Wagner 2013, 75 f. Honneth/Stahl 2013, 292 A.a.O., 292 f. A.a.O., 293 Beutel/Beutel 2010, 10 Henkenborg skizziert sie unter der Leitlinie des Demokratielernens entlang der drei Anerkennungsformen (Honneth 1992) als Selbstvertrauen durch emotionale Zuwendung, Selbstachtung durch kognitive Achtung und Selbstschätzung durch soziale Wertschätzung (Henkenborg 2007, 99 ff.). Jäggle/Krobath entwerfen eine Schulkultur der Anerkennung mit Bezug auf die drei allgemein verbreiteten Aspekte der Schulentwicklung (Unterrichts-, Personal- und Organisationsentwicklung) als Leitperspektive für Prozesse der Schulentwicklung (Jäggle/Krobath 2013, 19 ff.)
Rechtfertigung als Anerkennung
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standardisiert bewertet werden können, zu undifferenzierten Ergebnissen führen und primär Selektionsentscheidungen dienen.14 „Anerkennung vor jeder Leistung“ rückt die Person in den Mittelpunkt und damit auch ihre Leistungen und Leistungsfähigkeit, aber bestimmt das Subjekt nicht anhand seiner Leistungen. Es geht nicht um das Abtrennen der Leistungen von den Personen oder umgekehrt, beides gehört zusammen, aber in der Reihenfolge, die nicht Leistungen zum Wertmaßstab über die Existenz von Personen macht. Mit dieser Differenzierung von Person und Leistung darf bei einem Religionspädagogen an die rechtfertigungstheologische Unterscheidung zwischen Person und Werk15 erinnert werden, die es nahe legt, in diesem Beitrag den Bezügen zwischen „Anerkennung“ und „Rechtfertigung“ nachzugehen. Anerkennung der Person führt zur Förderung ihrer Leistungen infolge einer grundsätzlich zugetrauten Leistungsfähigkeit. „Die Verweigerung des Zutrauens von Leistung im schulischen Zusammenhang läuft faktisch auf eine Verweigerung der Anerkennung der Person hinaus, (…) die (…) in einem nicht unwesentlichen Moment durch seine Leistung sichtbar wird“16. Diese Zusammengehörigkeit, nicht aber Gleichsetzung von Person und Leistung, wird auch in Martin Jäggles Vision von Schule beachtet, „in der es Anerkennung vor jeder Leistung gibt, in der es möglich ist, Mensch zu sein und Mensch zu werden, die Angst mindert und zu ungeahnten Leistungen herausfordert (…)“17. Schüler/innen brauchen zuerst die Gewissheit, dass sie unverfügbar wertvolle Menschen sind, die Freude an ihren Fähigkeiten und Lust auf ihr Können entwickeln. LehrerInnen können nicht über den Wert der SchülerInnen entscheiden, sondern ihnen helfen, ihre Potentiale zu entfalten und die größtmögliche Umsetzung ihrer Gaben fördern. Eine auf Wissensvermittlung und Fachkompetenz reduzierte Schulbildung wird den Kindern und Jugendlichen nicht die Grundlage geben, die sie zur Entfaltung ihrer Möglichkeiten am dringendsten brauchen: das Gefühl, angenommen zu sein.
14 Siehe dazu Schönig 2010, 169 f. 15 Übereinstimmend mit Jäggle hier auch die Religionspädagogen Biehl und Johannsen: „Das Ansehen der Person des Lernenden ist nicht von der Beurteilung der Leistung abhängig. Der Heranwachsende ist nicht auf seine Vergangenheit (z. B. auf eine bestimmte Schülerrolle) festzulegen, sondern auf seine noch nicht realisierten Möglichkeiten hin anzusprechen. Er ist als Person schon sehr viel mehr, als er durch Bildung aus sich machen kann“ (Biehl/ Johannsen 2002, 220). 16 Schluß 2013, 154 17 Jäggle 2008, 4
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2.
Thomas Krobath
Kultur der Anerkennung und die christliche Botschaft der Rechtfertigung
Bildung lässt sich, durchaus bereits religionspädagogisch-theologisch gesehen, als Annehmen und Einlösen der Vor-Gabe zu Freiheit und Anerkennung bestimmter Menschen unter dem Vorbehalt verstehen, dass wir menschliche Leistungen und ihre Resultate nicht zur (göttlichen) Vollkommenheit verklären. Diese Perspektive ist mit der Orientierung an einer Kultur der Anerkennung vor jeder Leistung kompatibel, welcher theologisch auch das Rechtfertigungsdenken entspricht18 und die beide ein Menschenbild implizieren, das die heutige Leistungsideologie deutlich hinterfragt. Der Zusammenhang zwischen dieser Orientierung an einer Kultur der Anerkennung vor jeder Leistung und der christlichen Botschaft der Rechtfertigung ist somit, zumindest für protestantische Ohren, evident.19 Wir müssen uns unsere Anerkennung und unser Lebensrecht, unseren Wert und unsere Würde nicht erst verdienen, weil uns dies alles immer schon von Gott gratis mit unserem Dasein gegeben ist. Als Menschen kommen wir von einem grundsätzlichen Ja Gottes her, Wert und Würde sind uns als Geschöpfe Gottes, als Gottes Ebenbilder, bedingungslos zugesprochen. Aller zwischenmenschlichen Anerkennung liegt – theologisch gesehen – das Anerkanntsein der Person durch Gott, Subjektkonstitution durch geschenktes Sein, voraus: dass Gott uns, um Christi willen, trotz unserer Sünde oder angesichts unserer Verstrickung in entfremdete Lebensverhältnisse bedingungslos gerecht spricht, annimmt, anerkennt. Damit können das Daseinsrecht und die Würde des Einzelnen nicht an moralische Bedingungen geknüpft werden. Sehr wohl ergibt sich aus dem Zuspruch der Gerechtmachung, aus der Entlastung von der Selbstsorge, aus der unbedingten Anerkennung durch Gott eine weiterreichende, eine weiter zu gebende Verantwortung den Mitmenschen gegenüber : in einer Anerkennung als gerechtfertigte Mitgeschöpfe mit den daraus resultierenden praktisch-politischen Konsequenzen, wie z. B. der Bewahrung der Menschenwürde sowohl in grund-
18 „Die große Chance der Rechtfertigung als Leitperspektive für Bildung besteht im Blick auf Schülerinnen und Schüler darin, ihnen ein Bewusstsein ihres unverfügbar vorgegebenen Wertes zu vermitteln, das seinerseits – gerade weil es nicht erst durch Leistung zu verdienen ist – Lust am Erproben der eigenen Fähigkeiten und Kräfte und insofern Lust an Leistung und am Erfolg weckt“ (Härle 2007, 67) 19 Unabhängig von einer oberflächlichen konfessionellen Assoziation kann dieser Zusammenhang bei einem theologisch und philosophisch versierten Religionspädagogen wie Martin Jäggle als zugrunde liegende Konstruktions- oder Reflexionsbasis angenommen werden. Siehe auch den in diesem inhaltlichen Zusammenhang angebrachten Hinweis auf das Rechtfertigungsdenken bei Jäggle/Krobath 2010, 61
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sätzlichen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als auch in konkreten Situationen. Eine Stellungnahme der Bundesvereinigung Evangelischer Eltern und Erzieher im Jahr 2002 zur PISA-Debatte lautete: „Wir brauchen eine ,Kultur der Anerkennung‘ für unsere Kinder und Jugendlichen!“ Sie begründet sich mit der protestantischen Tradition der Rechtfertigung in moderner Ausdrucksweise und bedient sich damit einer sachlichen und sprachlichen Brücke zum Anerkennungsdenken: „Die Bundesvereinigung Evangelischer Eltern und Erzieher bittet Eltern und alle, die in Bildung und Erziehung Verantwortung tragen, insbesondere auf Folgendes zu achten: 1. Als Christen leben wir von der bedingungslosen Annahme durch Gott. Dies wollen wir Kinder und Jugendliche spüren lassen. Deshalb setzen wir uns für eine Kultur der Anerkennung im Erziehungs- und Bildungswesen ein. Die PISA-Debatte darf nicht auf das wirtschaftlich Verwertbare und auf den Leistungsvergleich eingeengt werden. Bildung und Erziehung dienen der Förderung der Kinder und Jugendlichen und sind Ausdruck ihrer Hochschätzung. Es geht darum, in welcher Atmosphäre Kinder und Jugendliche bei uns aufwachsen. Kinder sind ein Geschenk Gottes. Sie sollen spüren, dass sie willkommen sind“20.
Eine Kultur der Anerkennung erscheint hier als positive Konsequenz eines gelebten Rechtfertigungsglaubens, sie wirkt als Gestaltungsoption eines auf Rechtfertigung beruhenden Selbst- und Weltverständnisses. Ist der zum Ausdruck gebrachte Zusammenhang zwischen Rechtfertigungsglauben und Anerkennungsforderung über eine bloße Assoziation hinaus stichhaltig und tragfähig? Gehen Rechtfertigungsverkündigung und Rechtfertigungslehre, deren Plausibilität für die Moderne angezweifelt wird, gar im heutigen Anerkennungsdenken auf, in dem sie womöglich ein aktuelles sprachliches Repertoire gefunden zu haben scheinen? Gibt es auch Wege einer wechselseitigen konstruktiven Anregung für beide sich unterschiedlichen disziplinären und historischen Bedingungen verdankenden Konzeptionen der Begründung einer die konstitutive Sozialität des Menschseins integrierenden Identitätslogik? Im Aufnehmen dieser Fragen kann von der Annahme ausgegangen werden, dass in der Rechtfertigungstheologie und im hohen Stellenwert des Rechtfertigungsgedankens besonders für die protestantische Theologie bereits die Einsicht in die konstitutive Bedeutung der Anerkennung für die Identität der Subjekte und für die Sittlichkeit ihrer Sozialbezüge ausgebildet ist, aber aufgrund theoretischer und terminologischer Festlegungen noch nicht in dem Ausmaß zum Ausdruck kommen kann, dass in ihr eine dem Erkenntnisstand des Anerkennungsdiskurses angemessene Theologie der Anerkennung zur Verfügung stehen würde. Es lässt sich jedoch eine Entwicklung von einer zweckdienlichen Über20 Eisenach, 13./14. Sept. 2002, http://www.eltern-bee.de/stellung01.htm
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Thomas Krobath
nahme der Anerkennungsterminologie in einer sich damit aktualisiert wähnenden und sich darum nicht selber befragenden Rechtfertigungstheologie hin zu einer diskursiven Auseinandersetzung mit möglichen Konsequenzen für das Rechtfertigungsdenken hinsichtlich der Entfaltung ihres Anerkennungspotentials beobachten.
3.
Anerkennungsdiskurse
Die Spuren der Anerkennungsdiskurse, die Martin Jäggle aufnimmt, beginnen mit den 90er Jahren. 1992 erscheint Charles Taylors einflussreiche Untersuchung zur Politik der Anerkennung im Kontext von Multikulturalismus21, die für Martin Jäggle aus seinem Diskursfeld des interkulturellen und interreligiösen Lernens heraus zu einem wichtigen Anknüpfungspunkt wird22. Im selben Jahr erscheint auch Axel Honneths Studie „Kampf um Anerkennung“23, mit der der deutschsprachige Anerkennungsdiskurs (und nicht nur dieser) durch seine breite Rezeption einen nachhaltigen Denkanschub erfährt. 1993 wird Annedore Prengels seither mehrfach aufgelegte „Pädagogik der Vielfalt“ veröffentlicht, in 21 Deutsche Ausgabe Taylor 1993 22 Die Rezeption Taylors erfolgt dezidiert erst 2006. Auf der Suche nach Modellen eines respektvollen Umgangs mit Anderen im Kontext religiöser Pluralität beruft sich Martin Jäggle auf Taylors „Kultur der gegenseitigen Anerkennung“ (Jäggle 2006a, 136.148; Jäggle 2006b, 33 f., wo eine „Kultur gegenseitiger Anerkennung“ titelgebend für diese Publikation fungiert). Es handelt sich bei dieser Formulierung vielleicht um eine Zusammenstellung aus „gegenseitige[r] Anerkennung“ (Taylor 1993, 42; Taylor spricht nicht von einer Kultur, sondern von einer Politik der Anerkennung) und der Rede von einer „Kultur der Anerkennung der Anderen in ihrem Anderssein“ von Johann Baptist Metz (Metz 1988, 86), die Jäggle schon davor rezipiert (Jäggle 2000, 120; in dieser Publikation findet sich noch kein Bezug auf Taylor). Metz taucht hier im Kontext eines ebenfalls rezipierten Beitrags des Befreiungstheologen Paulo Suess auf, der das missing link in der Kombination der Formulierungen darstellen könnte. Suess setzt sich kritisch mit dem von Metz eher abstrakt gebrauchten Kulturbegriff auseinander (Suess 1995, 75 f.), der eine eurozentristische Brille beinhalte, und kommt zur Schlussfolgerung: „Wer das Anerkennungsparadigma zu Ende denkt, wird irgendwann eingestehen müssen, dass es sich dabei nicht nur um die Anerkennung der Anderen durch die Einen, sondern um die gegenseitige Anerkennung aller handelt“ (A.a.O., 80, zitiert auch bei Jäggle 2000, 120). „Reziproke Anerkennung“ ziele auf solidarische Gerechtigkeit. „Auch die Anderen können ja ihre Alterität nicht für sich alleine, sondern nur als anerkannte und anerkennende Alterität wünschen“ (Suess 1995, 80). Jäggles Aufnahme des differenztheoretischen Anerkennungsdiskurses mündet in seine Suchrichtung nach einem Umgang mit religiöser Pluralität in der Schule: „Wäre nicht Schule ein bevorzugter Ort, an der eine ,Kultur gegenseitiger Anerkennung‘ angeregt werden kann und sollte?“ (Jäggle 2006b, 34), wobei er hier ausdrücklich auch die Besonderheiten jeder einzelnen Schule ins Spiel bringt und die Realisierung im Rahmen von Schulentwicklungsprozessen verortet. Das wird von Jäggle in der Folge ausführlicher entwickelt, siehe z. B. Jäggle 2009. 23 Honneth 1992
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der sie Pädagogik der Vielfalt in expliziter Aufnahme des Ansatzes von Honneth „als Pädagogik der intersubjektiven Anerkennung zwischen gleichberechtigten Verschiedenen“ versteht.24 Ebenfalls 1992 erscheint eine religionspädagogisch begründete elementartheologische Auseinandersetzung mit zentralen Inhalten des christlichen Glaubens zum Zwecke ihrer angemessenen Erschließung hinsichtlich ihrer Lebensrelevanz für heute. Darin weist Lachmann die zu aktualisierende Bedeutung der Rechtfertigungslehre anhand des menschlichen Bedürfnisses nach Anerkennung auf.25 Diese verbreitete Publikation gibt einen Einblick in den unabhängig vom zeitgleich erneuerten Anerkennungsdiskurs bereits vorhandenen Gebrauch der Anerkennungskategorie in der Theologie, speziell in der Theologie der Rechtfertigung. Auf der Tagung des Lutherischen Weltbundes in Helsinki 1963 wurde die protestantische „Verlegenheit, wie sie [die Kirche] das Evangelium verkündigt – ob sie es nun unter dem Bild der Rechtfertigung oder in anderen Begriffen tut“26, zum Thema. Die Rechtfertigungsbotschaft scheitere am mangelnden Gottesbewusstsein der modernen Menschen. „Kann der Mensch in der heutigen geistigen Gesamtlage durch die Verkündigung der Kirche so auf die Wirklichkeit Gottes hingewiesen werden, dass er zur Frage nach der Rechtfertigung seiner Existenz vor Gott geführt wird?“27 Unter dieser Frage arbeiten sich seither protestantische Theologen weltweit an dem Aufweis einer Gegenwartsbedeutung der Rechtfertigungslehre ab. Das Unternehmen der Rettung der Rechtfertigungslehre betrifft die Grundlagen protestantischen Selbstverständnisses und erweckt den Eindruck, als müsse dem modernen Menschen angesichts „einer neuen Form der Gottlosigkeit“28 seine existentielle Not vor Augen geführt werden, um ihn für eine unbestreitbare Wahrheit wieder zugänglich zu machen. Das geschieht auch gleich zu Beginn des offiziell verabschiedeten Dokuments „Rechtfertigung heute“, indem die historische Differenz zur Reformation mit der Ablöse der Frage nach dem gnädigen Gott durch die Sinnfrage markiert wird.29 Die Sinnfrage nötige den Menschen zur Rechtfertigung seiner eigenen 24 Prengel 2006, 62; Die Pädagogik der Anerkennung wird einer der wichtigsten Referenzpunkte für Martin Jäggles Suche nach einem gerechten Umgang mit Vielfalt (Jäggle 2000, 119): „Indem sie Missachtung im Bildungswesen zu vermeiden sucht, fördert sie persönliche Bildungsprozesse (…) und wirkt den schädlichen Folgen des im Bildungssystem vorherrschenden Selektionsprinzips entgegen“ (Prengel 2006, 62) 25 Lachmann 1992, 87 ff. 26 Lutherischer Weltbund 1965, 387 27 A.a.O., 525 28 Ebd. 29 A.a.O., 524; Dieser Topos ist eine in der theologischen Auseinandersetzung des 20. Jahrhunderts mit dem Schwinden der Wirksamkeit der kirchlichen Verkündigung in Mitteleuropa bekannte plakative Zuspitzung, die zumeist als Verlagerung auf die Frage nach der Existenz Gottes benannt wird. Kritisch hat sich Karl Barth bereits 1953 darauf bezogen: „Als
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Thomas Krobath
Existenz. „Daher ist die Menschheit voll von Vertrauen auf die eigene Leistung. Sie ist voll von dem Verlangen nach Anerkennung und Ruhm. Sie ist aber auch voll von gegenseitiger Anklage und Verurteilung“30. Damit wird Anerkennung zur Charakterisierung der Lebenssituation des modernen Menschen im Dienste ihrer Erschließung für die Verkündigung der Rechtfertigung, wie es auch in einem aktuellen Text auf den Punkt gebracht wird: „Die Rechtfertigungsbotschaft richtet sich an den Menschen, der, modern gesprochen, um seine Anerkennung kämpft“31. Der Kampf um Anerkennung markiert die in der theologischen Literatur zur Rechtfertigung häufig benannten Veränderungsprozesse gegenüber dem 16. Jahrhundert, vor allem das Umschlagen der Theodizee zur Anthropodizee32 und die „Tribunalisierung der modernen Lebenswelt“33 zum irdischen Gerichtshof als Ausdrucksformen einer „Säkularisierung der Anerkennungsfrage“34 und bekommt somit die Funktion einer zeitdiagnostischen Negativfolie zum Erweis der Gegenwartsrelevanz der Rechtfertigungslehre. Gleichzeitig werden, wie es das Dokument von Helsinki 1963 vorführt, die traditionellen Formulierungen der Rechtfertigungslehre häufig ungebrochen wiederholt. Gibt es auch einen modernen Begriff für die sich auf der Negativfolie abhebende positiv zu besetzende Rechtfertigungsbotschaft? Wenn aber nur nach der Erneuerung der Frage Luthers nach einem gnädigen Gott gesucht, nicht aber die Konstruktion der Antwort hinterfragt wird, gerät die von Tillich in das Bild einer Ellipse mit zwei Brennpunkten gebrachte gegenseitige „Abhängigkeit von existentiellen Fragen und theologischen Antworten“35 in eine ziemliche Schieflage.36 Tillichs eigene Deutung der Rechtfertigungslehre prägt ganz entscheidend viele Erneuerungsansätze vor allem auch in der didaktischen Thematisierung. Er bestimmt den Charakter einer existentiellen Frage als Frage nach der Gewissheit, die der Mensch zwar aus sich selbst zu beantworten sucht, aber in der Bedrohtheit und in der Entfremdung der eigenen
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ob der Mensch des 16. Jahrhunderts nicht gerade damit, dass er nach dem ihm gnädigen Gott, nach dem Recht seiner Gnade fragte, in einer Radikalität, neben der das Fragen des modernen Menschen eitel Leichtsinn ist, nach Gott selbst, seiner Existenz gefragt hätte!“ (Barth 1953, 591; Hervorhebungen im Original). Abgesehen davon, dass Barth die Frage nach der Existenz Gottes als Radikalisierung der Frage nach dem gnädigen Gott in Frage stellt, ist auch der theologische Umgang mit den Fragen der Menschen, oder mit dem, was Theologen für die bedrängenden Fragen der Menschen halten, zu problematisieren. Lutherischer Weltbund 1965, 524 Körtner 2012, 4 (an der Stelle mit Verweis auf Honneth 1992, irrtümlich als Honneth 1991 angegeben) Marquard 1980, 83 Körtner 2010, 34 Härle 2005, 17 Tillich 1981a, 21 Kritisch-konstruktiv reflektiert Härle 2005, 67 ff. die protestantische Suche nach der Gegenwartsbedeutung der Rechtfertigungslehre.
Rechtfertigung als Anerkennung
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Existenz nicht aus sich gründen kann. Tillich interpretieret den Akt der Rechtfertigung als „Gottes Annahme des Unannehmbaren, Gottes Teilnahme an der Entfremdung des Menschen“37, die für den Menschen zur „Annahme des Neuen Seins“38 wird. Der aufnehmende Glaube des Menschen „muss bejahen, dass er von Gott bejaht ist; er muss die Bejahung bejahen, (…) bejahen, dass man bejaht ist“39.
4.
Kampf um Anerkennung in der Leistungsgesellschaft – theologische und sozialwissenschaftliche Sichtweisen
Mit den Stichworten „Annahme“ und „Bejahung“ scheint die moderne Theologie eine zeitgemäße Übersetzung ihrer Rechtfertigungsbotschaft gefunden zu haben. Das kommt in dem auch aufgrund der Jahresübereinstimmung von 1992 beispielhaft herangezogenen Text von Lachmann deutlich zum Ausdruck. Die gestörte Existenz des Menschen werde „durch Sündenvergebung und Rechtfertigung gleichsam entstört“, die Menschen können sich auf ein „unbedingtes Angenommensein“ durch Gott verlassen40 : „Wir sind von Gott so, wie wir sind, unbedingt angenommen – das ist für den Christen die entscheidende Annahme; daraus folgen alle anderen Annahmen!“41 Im darauf folgenden Kapitel wird die gestörte Existenz der Menschen unter dem Stichwort „Anerkennung“ als „Kampf um die eigene Selbstbehauptung“42 unter der „Erbarmungslosigkeit dieses ,Leistungsgottes‘“43 beschrieben: „Ständig unter Leistungszwang, Zugzwang, Erfolgszwang müssen wir uns selbst vor dem Forum unserer Umwelt, vor der Gesellschaft, vor uns selbst rechtfertigen. Fixiert auf unsere Leistungen, von unserer Anerkennungssucht beherrscht und stets darauf aus, nur uns selbst zu bestätigen – eine leider nur allzu wahre Zustandsbeschreibung unseres täglichen Lebens!“44. Die Wahrheit dieser Zustandsbeschreibung oszilliert zwischen kritischer Zeitdiagnose ohne fundierter empirischer Bezugnahme und einer theologischen 37 Tillich 1981b, 260 f. 38 Tillich 1981a, 190 39 A.a.O., 192. Jüngel spricht vom Ja als dem göttlichen Urwort des Seins, indem „allein dieses göttliche Ja das Urwort ist, dem sich alles nicht-göttliche Sein verdankt“. Für den Menschen hat das zur Konsequenz: „Das menschliche Ja bejaht also immer schon von Gott bejahtes Sein“ (Jüngel 2006, 89). 40 Lachmann 1992, 93 41 A.a.O., 94 42 Ebd. 43 A.a.O., 95 44 A.a.O., 96
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„Polemik gegen die menschliche Werkgerechtigkeit“45, wie Lachmann selber sie Paulus zuschreibt. Sozialwissenschaftliche und theologische Kategorien verschwimmen ineinander und bekommen eine moralisierende Ausrichtung. Die seit 1992 erfolgenden Präzisierungen und Differenzierungen der Anerkennungsdiskurse lassen vermuten, dass eine oberflächliche Rezeption von (oder Bezugnahme auf) Honneths „Kampf um Anerkennung“ vor dem Hintergrund des theologisch bereits diagnostizierten Kampfes um Selbstbehauptung bloß zu einer Umbenennung desselben führt46, sofern keine Auseinandersetzung mit Honneth oder anderen geführt wird47. Honneth greift das die europäische Moderne seit Hobbes durchziehende Motiv des sozialen Kampfes auf, das im Hegelschen Modell aus dem Kampf um wechselseitige Anerkennung darauf beruhende identitätsverbürgende Institutionen schafft und Möglichkeiten individueller und sozialer Freiheit erscheinen lässt48. Über diese Ideenschiene möchte Honneth die normativen Grundlagen einer kritischen Gesellschaftstheorie rekonstruieren und als anerkennungstheoretisches Konzept der Sittlichkeit ausarbeiten. Es geht ihm um die „Frage, inwiefern die Anerkennung eine Praxis darstellt, die für die menschliche Lebenspraxis normativ von Bedeutung sein soll“49. Seine Antwort entwickelt die Möglichkeit einer ungestörten Selbstbeziehung auf der Grundlage der von ihm herausgearbeiteten intersubjektiven Anerkennungsformen der Liebe, des Rechts und der Solidarität50 : „Nur die Person, die sich von den Anderen in bestimmter Weise anerkannt wissen kann, vermag sich so vernünftig auf sich selber zu beziehen, dass sie im vollen Sinn des Wortes ,frei‘ genannt werden kann“51. Honneth sieht in der individuellen Autonomie den zentralen, in modernen Gesellschaften wirksamen ethischen Wert, der über wechselseitige Anerkennungsverhältnisse Individuen und gesellschaftliche Ordnung, Gerechtigkeitsvorstellungen und Freiheitsgedanken verknüpft.52 Dieser Ansatz bezieht sich immer wieder kritisch auf die real aufweisbaren gesellschaftlichen Anerkennungsordnungen und ihre Verände45 Ebd. 46 So kann Körtner völlig plausibel den Kampf um Anerkennung „auf Schritt und Tritt“ bereits in den biblischen Geschichten entdecken, der aber im Sinne eines verfehlten Gottesverhältnisses als Ausdruck von Sünde zu verstehen sei. „Sie [die Sünde] bildet die Tiefenstruktur des Kampfes um Anerkennung“ (Körtner 2012, 5). Eine Rezeption Honneths in rein theologischer Begrifflichkeit bzw. im Menschenbild der Selbstbehauptung verbaut sich den Zugang zu dessen Ansinnen der Entwicklung normativer Grundlagen aus den Formen wechselseitiger Anerkennung. 47 Z. B. auch bei Bühler, der Honneths Buchtitel zur Charakterisierung unserer „Epoche als eine mit Anerkennung geizende“ heranzieht (Bühler 2000, 62 f.) 48 Honneth 1992, 11 ff. 49 Honneth 1994, 325 50 Honneth 1992, 148 ff. 51 Honneth 1994, 325 f. 52 Honneth 2011, 36 f.
Rechtfertigung als Anerkennung
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rungsprozesse, die empirisch erforscht und soziologisch analysiert werden.53 In gesellschaftlichen Konflikten geht es auch um die normativen Ordnungen, wonach Anerkennung zugewiesen oder wofür Missachtung erfahren wird. Die Kriterien der Anerkennung unterliegen einer ständigen Auseinandersetzung. Der sozialwissenschaftliche Befund konstatiert einen „Strukturwandel der Anerkennung“54, der an Prozessen der De-Institutionalisierung geltender Normen der Anerkennung bei gleichzeitigen Ansätzen einer Re-Institutionalisierung von Anerkennung abgelesen wird und „Anerkennung unsicher und fragil“ macht.55 Im Gefolge der zunehmenden Ökonomisierung aller gesellschaftlichen Bereiche tritt mit der Verschiebung von der Input- zu einer Outputorientierung die ökonomische Dimension von Leistung in den Vordergrund. „Anerkannt wird somit nicht mehr in erster Linie die aufgewendete Leistung, sondern der Erfolg der Leistung – also nur noch die Leistung, die sich lohnt“56. Eine hohe Wertigkeit hat heute die Norm des Leistungserfolgs, über den das ökonomische Kriterium des Markterfolgs befindet. „Was sich nicht gut verkaufen lässt, ist als Leistung wertlos geworden, weshalb Leistungen nicht nur erbracht, sondern auch erfolgreich abgesetzt werden wollen“57. Erfolg bleibt in diesen Wirkungszusammenhängen des permanenten Vergleichs immer relativ, er braucht andauernde Steigerung, um seinen Status als Erfolg zu behaupten. Die Auswirkungen auf die betroffenen Menschen scheinen fatal, sind sie doch „unablässig in einer Flucht nach vorn gefangen, die auf längere Sicht selbst wieder zum Scheitern verurteilt ist“58.
5.
Anerkennung als anthropologisches Problem der Theologie
Soviel zum theologischen Anspruch einer wahren Zustandsbeschreibung des Zeitalters der unterstellten „Anerkennungssucht“. Zurück zum Text von Lachmann ist jedoch der weitere Aspekt seiner Aufnahme des Anerkennungsbegriffs zu berücksichtigen, der den Menschen als „das auf Anerkennung angewiesene Wesen“59 sieht. Aus der Beschreibung alltäglicher Situationen der Akzeptanz und der Ablehnung heraus vermittelt Lachmann die anthropologische Einsicht in das menschliche Grundbedürfnis nach Anerkennung, die wir „brauchen (…), 53 54 55 56 57 58 59
Siehe dazu die in Honneth/Lindemann/Voswinkel 2013 versammelten Studien. Voswinkel/Lindemann 2013, 8 A.a.O., 13 Voswinkel/Wagner 2013, 79 Neckel 2004, 67 A.a.O., 69 Lachmann 1992, 94
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um leben zu können“60. Dieses Grundbedürfnis wird sogleich wieder auf die theologische Zeitdiagnose bezogen: „Und wie bekommt man das alles bei uns, in unserer Gesellschaft? Indem man etwas leistet! Bei uns kommt es darauf an, was einer leistet!“61 Bei allem berechtigten Aufzeigen der Leistungsideologie scheint diese Engführung der anthropologischen Ausgangslage doch auch dem theologischen Leistungsgedanken der Werkgerechtigkeit geschuldet zu sein, sodass der Kampf um Anerkennung sehr schnell zum „Mittel der Rechtfertigung und Anerkennung vor Gott und den Menschen“62 wird. Indem Rechtfertigung vor Gott die für den Menschen nötige Anerkennung bietet, wird der Weg des christlichen Glaubens als „ein wahrhaft bedürfnisorientierter Weg“63 ausgezeichnet. Das Angewiesensein auf Anerkennung wird philosophisch-anthropologisch vor allem durch Todorov in seiner Aufarbeitung des Anerkennungsdenkens seit Rousseau weiter zugespitzt auf die konstitutive soziale Abhängigkeit des Menschen, die ihn zu einem aus Beziehungen gebildeten „Kollektivsingular“64 macht. Die eigene Sozialität integriert im Wechselspiel auch die Subjektivität des Anderen. Am Beispiel der Liebesbeziehung beschreibt Todorov die „Grundlage der gelungenen Anerkennung (…). Das bloße Verlangen, das du an mich richtest, nämlich dich in deinem Dasein anzuerkennen, bringt mir die Bestätigung meiner Existenz ein: ich bin als derjenige anerkannt, den du brauchst“65. Die Aufnahme der anthropologischen Erkenntnisse in die unaufhebbare Angewiesenheit des Subjekts auf Anerkennung durch die anderen bleiben in Theologie und Verkündigung der Rechtfertigung zunächst die Folie, der Anknüpfungspunkt, die Vorbereitung für die Rechtfertigungserkenntnis. Das heute in den deutschsprachigen lutherischen Kirchen verbreitete Büchlein „Christus vertrauen“66 beginnt zeitgemäß mit dem ersten Kapitel unter dem Titel „Wir brauchen Anerkennung“67. Das zweite Kapitel kommt mit der Überschrift „Vor dem Richterstuhl“68 sogleich zur ungebrochen juristischen Auslegung und Ausformung der Rechtfertigung, indem auf das biblische Menschenbild verwiesen wird, „nach dem der Mensch sich selbst, sein Handeln immer vor an-
60 61 62 63 64 65 66
A.a.O., 95 (kursiv im Original) Ebd. A.a.O., 97 A.a.O., 96 (kursiv im Original) Todorov 1998, 167 (Todorovs Anthropologie erschien zuerst 1995 in Paris) A.a.O., 131 Hirschler 2012. Das ist nicht irgendeine Publikation am Markt der Meinungsvielfalt, sondern ein vom Amt der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands herausgegebenes Büchlein. 67 A.a.O., 7 68 A.a.O., 9
Rechtfertigung als Anerkennung
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deren Menschen und im Letzten vor Gott rechtfertigen muss“69. Ist es das genannte Menschenbild, das die Menschen dazu zwingt? „Dass der Mensch sich, sein Tun, sein Verhalten (…) rechtfertigen will, hängt damit zusammen, dass er nach Anerkennung verlangt. Es ist dem Menschen wesentlich, anerkannt zu werden“70, heißt es im Evangelischen Erwachsenenkatechismus, dem maßgeblichen gebildeten Glaubensbuch im deutschsprachigen Protestantismus. Auch in ihm bleibt „Anerkennung“ in der 7. aktualisierten Auflage von 2006 im Rang eines menschlichen Bedürfnisses, über das die erfüllende Folie der Rechtfertigung durch Gott gelegt werden kann. Mit einer deutlichen Aufwertung des Anerkennungskonzepts wartet hingegen die gänzlich neu bearbeitete 8. Auflage 201071 auf: „Anerkennung“ ist einerseits in den ersten Satz des Rechtfertigungskapitels und andererseits in die Rechtfertigungsterminologie selbst aufgestiegen. Das Kapitel beginnt mit dem Verweis auf die als Problem apostrophierte Angewiesenheit auf Anerkennung: „Der Begriff Rechtfertigung verweist auf ein grundlegendes anthropologisches Problem mit großer theologischer Bedeutung. Der Mensch macht von klein auf die Erfahrung, dass er auf die Anerkennung von Menschen angewiesen ist“72. Differenziert werden hier Ambivalenzen in der Erfahrung von Anerkennung benannt und das Angewiesensein auf Anerkennung als Horizont einer Aktualisierung der Frage nach dem gnädigen Gott angezeigt. Sodann wird die Botschaft der Rechtfertigung als Botschaft der Anerkennung vorgestellt: „Im Zentrum des christlichen Glaubens steht die ungeheure Behauptung, dass jeder Mensch (…) von Gott gerechtfertigt wird, also Anerkennung und Annahme bei Gott findet. (…) Wer aber bei Gott Anerkennung findet, der ist unwiderruflich, der ist definitiv anerkannt“73. Die Beschreibung der menschlichen Situation mit der modernen Anerkennungsterminologie muss sich auch auf eine aktuelle Übersetzung der Rechtfertigungsbotschaft auswirken. Ist das eine modische Anpassung der Verkündigungssprache oder steckt dahinter auch eine theologische Aufnahme der Anerkennungsterminologie?
69 Ebd. 70 Kießig u. a. 2000, 233. Den Zusammenhang von Rechtfertigung und Anerkennung bestimmen auch Biehl und Johannsen in der juristischen Lesart: „Die Suche nach Anerkennung wird darauf zurückgeführt, dass er das Leben als ständige Beweisaufnahme versteht“ (Biehl/ Johannsen 2002, 208). 71 Brummer u. a. 2010 72 A.a.O., 288 73 A.a.O., 290
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6.
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Rechtfertigung als Theologie der Anerkennung
In der modernen protestantischen Theologie wird einerseits der sprachliche Begriff der Rechtfertigung problematisiert und in Frage gestellt, andererseits gelangt im Zuge der Interpretationen der Rechtfertigung als Bejahung und Annahme auch der Begriff der Anerkennung über die anthropologisch-phänomenologische Ebene hinaus zu rechtfertigungstheologischen Würden. Eine Theologie der Anerkennung74 muss „Anerkennung“ auch in der Explikation des Gottesgedankens verankern, als vorgängiges Handeln Gottes in einem Anerkennungsgeschehen zwischen Gott und den Menschen entfalten. In der Struktur des Rechtfertigungsgedankens geht es um die Konstitution des menschlichen Subjekts durch den Zuspruch Gottes, durch den Freispruch des in der Terminologie des Gerichtsparadigmas der Selbstbehauptung vor Gott angeklagten („sündigen“) Menschen durch die vorgängige und einseitige Überwindung der Gottesferne durch Gottes Gnade. Diese Struktur kann auch als Anerkennung des Menschen durch Gott in der Weise zum Ausdruck gebracht werden, dass die göttliche Anerkennung allen menschlichen Anerkennungsakten vorausgeht, menschlichen Anerkennungsverhältnissen konstitutiv zugrunde liegt und damit als vorgängige und unbedingte Anerkennung asymmetrisch bestimmt wird. Anerkennung durch Gott ist der Ermöglichungsgrund der Anerkennung dieses Anerkanntseins wie auch der Anerkennung der Anderen. Asymmetrische Anerkennung begründet somit den Glauben als Antwort der Anerkennung und die im gelebten Glauben übernommene soziale Verantwortung in der Gestaltung symmetrischer Anerkennungsverhältnisse. Es geht also theologisch um eine dreifache Strukturierung der Anerkennungsbeziehungen: 1. Gott – Mensch (vorgängige Anerkennung als Geschenk) 2. Mensch – Gott (Glauben als responsive Anerkennung, Anerkennung wird wechselseitig) 3. Mensch – Mensch (wechselseitige Anerkennung) Rechtfertigung als vorgängige Anerkennung durch Gott wird prominent in der Rechtfertigungsschrift von Eberhard Jüngel dargelegt, in der sich das zuletzt angeführte Zitat aus dem Evangelischen Erwachsenenkatechismus zum guten Teil wortwörtlich schon zwölf Jahre davor findet.75 Ausgehend vom Phänomen
74 Eine explizite theologische Bestimmung des Anerkennungsbegriffs findet sich bereits in Karl Barths Kirchlicher Dogmatik vor allem als Bestimmung des christlichen Glaubens als Anerkennung des Wortes Gottes, z. B. markant in Barth 1953, 847 ff. 75 „Im Zentrum des christlichen Glaubens steht die ungeheure Behauptung, dass der zu Recht Beschuldigte, dass der Mensch, der vor Gott ganz und gar im Unrecht ist und deshalb Sünder oder auch Gottloser genannt zu werden verdient, von Gott gerechtfertigt wird, also Aner-
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der Anerkennung als eines menschlichen Grundbedürfnisses und der relationalen Existenzweise, die als Bezugsgrößen des Dranges nach Selbstrechtfertigung gesehen werden, kommt das göttliche Anerkennungshandeln als Freispruch ins Spiel des Gerichtsverfahrens, das auch bei Jüngel das rechtfertigungstheologische Paradigma bleibt. Wer sich aus Verantwortung heraus „rechtfertigen muss, der scheint allerdings im Unrecht zu sein“76. Die zentrale Frage für die Rechtfertigungstheologie ist für Jüngel die Frage nach dem Freisprechen des Schuldigen: „Kann man auch den, der im Unrecht ist, rechtfertigen?“77 Der von Gott freigesprochene Gerechtfertige ist eine „von Gott unwiderruflich anerkannte Person“78. Das impliziert auch Aussagen über Gott. „Ist Gott der den Menschen Rechtfertigende, dann ist damit auch gesagt, wer oder was Gott ist. Denn Rechtfertigung impliziert Anerkennung. Anerkanntwerden verlangt aber danach, dass der Anerkannte sich seinerseits auch anerkennen lässt. Deshalb geschieht Rechtfertigung allein durch Glauben. Sich-anerkennenlassen wiederum impliziert das Ereignis der Erkenntnis des Anerkennenden durch den Anerkannten. Im Ereignis der Anerkennung vollzieht sich solches Erkennen, insofern sich der Anerkennende zu erkennen geben muss, wenn seine Anerkennung überhaupt etwas besagen soll. Von einem schlechthin Unbekannten, aber auch von einem nur mehr oder weniger Bekannten kann sich niemand anerkennen lassen“79. Die dreifache theologische Strukturierung der Anerkennungsrelationen lässt sich bei Jüngel erkennen, sie wird aber von ihm nicht weiter ausgeführt. Außer an den zitierten Stellen wird die Anerkennungsterminologie zur Interpretation des Rechtfertigungsgeschehens nur marginal herangezogen80, sodass sie sich auf wenige zentrale Spitzenaussagen beschränkt. In analoger Weise knüpft Körtner an das aus dem Verantwortungsbegriff resultierende moralische Anerkennungskriterium an81 und weist auf die enge Verbindung zwischen dem ethischen Moment der Verantwortung und der Rechtfertigung hin, die als Gerechtsprechung des Sünders das ethische Subjekt konstituiert und die er auch als „Anerkennung des Sünders“82 bezeichnet. Die
76 77 78 79 80 81 82
kennung bei Gott findet. Wer aber bei Gott Anerkennung findet, der ist unwiderruflich, der ist definitiv anerkannt“ (Jüngel 2006, 6; erste Auflage 1998; kursiv im Original). Ebd. (kursiv im Original) Ebd. (kursiv im Original); Die Antwort findet sich in dem in der Anmerkung 68 angeführten Zitat. A.a.O., 228, mit allen Konsequenzen für die zwischenmenschliche Anerkennung Anderen gegenüber „allen ihren möglichen Leistungen und Erfolgen zuvorkommend“ (Ebd.) Jüngel 1982, 314. Der Fokus ist hier nicht die Rechtfertigungslehre, „Anerkennung“ bleibt in diesem bekannten Werk mit dieser Anführung singulär. Für Jüngel 2006 kann noch auf die Seiten 52, 154 und 176 verwiesen werden. Körtner 1999, 74 f. A.a.O., 102
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theologische Pointe sei, dass „aller zwischenmenschlichen Anerkennung das Anerkanntsein der Person – und zwar auch derjenigen, welche eigentlich das Recht auf Anerkennung schuldhaft verwirkt hat – durch Gott vorausliegt“83. Die „unverdiente Anerkennung und Annahme durch Gott“ begründet Rechtfertigung „als asymmetrisches Anerkennungsverhältnis“84.
7.
Anerkennungsdiskurse und die Gabe der Rechtfertigung
Der so entfaltete Einsatz der Anerkennungsterminologie in der Rechtfertigungstheologie85 kommt zunächst noch ohne eine weitergehende Auseinandersetzung mit den modernen Anerkennungsdiskursen aus. Die theologische Betonung des notwenigen asymmetrischen Moments des Rechtfertigungs-Anerkennungsgeschehens legt die Vermutung nahe, dass die Grundlegung reziproker symmetrischer Anerkennungsverhältnisse durch die Anerkennungstheorie z. B. in der Honneth’schen Ausprägung zu einem Problem werden könnte, wenn nach der Devise „entweder Gnade oder Leistung“86 jedwede Wechselseitigkeit in der Anerkennung unter den Verdacht einer Leistungsgerechtigkeit fällt und aus der radikalen Einseitigkeit des Rechtfertigungsgeschehens ausgeschlossen werden muss. Jürgen Werbick nennt das die „Logik einander ausschließender letzter Ursachen“, der er mit der „,Wechselwirkungs‘Logik der Anerkennung und Würdigung“87 weitergehende Perspektiven eröffnen möchte. In einer Rechtfertigung verstanden als „Gabe der Anerkennung“88 geht es um Anerkennung des konkreten Menschen, der nicht nur zum Sünder schlechthin abstrahiert wird, um „eine Bejahung, die mich bejaht, nicht nur als Exemplar einer Gattung von Sündern, die das ja alle in der gleichen Weise nicht verdient haben“89. Die Brücke der Theologie zu den Anerkennungsdiskursen wird an diesem und anderen Punkten durch Ricoeur und seine Verbindung des Anerkennungsdiskurses mit dem Gabediskurs eröffnet. Ricoeur schlägt vor, einen alternativen Zugang zur Idee des Kampfs im Prozess der wechselseitigen Anerkennung „in befriedeten Erfahrungen wechselseitiger Anerkennung zu suchen, die auf symbolischen Vermittlungen beruhen, die sowohl der Rechtssphäre als 83 Ebd. Ebenso in Körtner 2011, 59 84 Körtner 1999, 166 (kursiv im Original) 85 Z. B. auch bei Biehl/Johannsen 2002, 208ff; Moxter 2002, 27 ff.; Härle 2005, 15 ff.; Korsch 2005, 374; Meyer 2007, 181 f. 86 Jüngel 2006, 153 87 Werbick 2011a, 310 88 A.a.O., 313 89 A.a.O., 312 (kursiv im Original)
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auch derjenigen des Warenaustausches entzogen sind“90. Im Akt des Schenkens mit seinen Vollzugsformen von Gabe und Gegengabe entdeckt Ricoeur einen befriedeten Weg der Anerkennung, den er wie folgt resümiert: „Vielleicht bleibt der Kampf um Anerkennung unendlich: doch die Erfahrungen tatsächlicher Anerkennung im Austausch von Gaben, vor allem in ihrer festlichen Gestalt, bringen dem Kampf um Anerkennung die Gewissheit, dass seine Motivation, die ihn vom Machthunger unterscheidet und vor der Faszination der Gewalt schützt, weder Schein noch eitel ist“91. Eine wichtige Erkenntnis seines Weges vom Erkennen über das Wiedererkennen zum Anerkanntsein liegt darin, dass die Wechselseitigkeit der Anerkennung nicht auf der Überwindung von Asymmetrie beruht. Die der Anerkennung „originäre Asymmetrie“ stelle für die wechselseitige Gestalt der Anerkennung sogar einen „Segen“ dar, da sie die Bedeutung des „zwischen“ in den wechselseitigen Beziehungen bewahre, an die Unersetzlichkeit der einzelnen Partner erinnere und „die Wechselseitigkeit vor den Fallen der Verschmelzungseinheit“ schütze.92 Mit Bezug auf Ricoeur wird in der neueren Lutherforschung „Rechtfertigung als gegenseitige Anerkennung von Gott und Mensch“93 anhand detailreicher und differenzierter Textbefunde neu entdeckt. Der Kampf um gegenseitige Anerkennung zwischen Gott und Mensch nimmt in biblischen Geschichten und in Luthers Auslegungen die Form der Wortwechsel an. In ihnen geschieht Anerkennung als „heilsam kommunikative[s] Beieinander von Gott und Mensch“94. Es kommt dabei nicht zu einer einfachen Übertragung der Einsichten in die Wechselseitigkeit der Anerkennung auf das Verhältnis zwischen Gott und Mensch95, sondern zu einer mit Luther gut belegbaren „Erweiterung eines Modells der Einseitigkeit (Gott gibt, der Mensch empfängt) mit einem Modell der 90 Ricoeur 2006, 274 91 A.a.O., 306 92 A.a.O., 324; Schick nennt das eine „vorausgesetzte und in der Anerkennung betätigte Asymmetrie“ (Schick 2009, 72), die darin bestehe, dass ich in meinem Anerkanntwerden vom praktischen Urteil anderer abhängig bin. Für Honneth scheint wechselseitige Anerkennung nicht auf einer strikt verstandenen Symmetrie zu beruhen. In der Auseinandersetzung mit der kognitivistischen Engführung der formalen Gleichheitsbedingungen der Habermas’schen Diskursethik sieht Honneth durch seine Differenzierung der Anerkennungsformen auch die Notwendigkeit, „Einstellungen der asymmetrischen Verantwortung, wie sie der Fürsorge oder der Wohltätigkeit zugrunde liegen“ (Honneth 2000, 166), in die praktischen Gerechtigkeitsdiskurse einzubeziehen. 93 Bayer 2009, 91 94 A.a.O., 96 95 Eine Übertragung ist dadurch unmöglich, da das Verhältnis des Schöpfers zum Geschöpf „durch die radikale Einseitigkeit und Prävenienz des Handelns dessen bestimmt ist, der ex nihilo, d. h. schlechthin unbedingt und ungeschuldet ins Leben ruft, rechtfertigt (…)“ (a. a. O., 101). Die Einseitigkeit dieses Satzes kontrastiert die Intention des Textes, wie sie z. B. in der Formulierung deutlich wird, dass „Rechtfertigung und Anerkennung (…) gleichzeitig auch als Ansehen und Angesehenwerden geschieht“ (a. a. O., 104).
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Gegenseitigkeit“96, das Gott und Mensch in unterschiedlicher, aber aufeinander bezogener Weise als Geber versteht. Gottes Gabeninitiative bleibt darin gewahrt, dass das Geben des Empfängers als Teil der Gabe Gottes, oder wie Werbick es ausdrückt, als „Gott-gegebenes Mitwirken-Können“97, anzusehen ist. Rechtfertigung ist als Rechtfertigung des Sünders erst „zu ihrem Ende gekommen (…), wenn Gott und Mensch einander als Geber anerkennen, das heißt, wo das Wort sowohl Möglichkeit als auch Wirklichkeit menschlichen Gebens schafft“98. Mit der Logik der Gabe der Anerkennung wird der Kampf um Anerkennung überwunden. „Nur wenn der Geber seine Macht mit dem Empfänger teilt, kann er im eigentlichen Sinn seine Gabe geben. Das darf eben der Kern von Luthers Rechtfertigungslehre sein“99. Der Gabediskurs trägt dazu bei, die „Initialgabe der göttlichen Anerkennung“100 zu bewahren, ohne die Gabe der menschlichen Geberfähigkeit und Anerkennung Gott gegenüber als Teil eines wechselseitigen Anerkennungsgeschehens in einer falsch angesetzten Alternative zwischen einem symmetrischen und einem asymmetrischen Anerkennungsdenken ausschließen zu müssen. Die Logik der Anerkennung bringt noch einen weiteren das Rechtfertigungsgeschehen erhellenden Gesichtspunkt in die Auseinandersetzung ein. In der Betonung der Einseitigkeit in der Rechtfertigung Gottes allein aus Gnade wird auch die Negativfolie des Sünder-Seins des Menschen als grundlegende anthropologische Voraussetzung hervorgehoben.101 Aufgrund der zerstörerischen Wirkung der Sünde hat der Mensch „eigentlich das Recht auf Anerkennung schuldhaft verwirkt“102. Wenn es aber dennoch in der Rechtfertigung zu einer Anerkennung der Person durch Gott kommt, Gott also im Menschen mehr als die Sünde sieht, dann wirkt der Hinweis auf die theologische Unmöglichkeit, aus menschlicher Beschaffenheit oder Vorleistung heraus vor Gott als gerecht gelten zu können, in einer anerkennungsterminologischen Fassung, eigentlich kein Recht auf Anerkennung zu haben, in Hinblick auf die menschlichen Wesensbestimmungen und Anerkennungsformen irritierend. Das Aufweisen dessen hingegen, was die Gerechtmachung des Sünders durch Gott im Menschen bewirkt, kann die Logik der Anerkennung ohne schroffe Gegenüberstellung positiv unterstützen. Im Akt der Anerkennung wird demjenigen, der anerkannt wird, eine neue Identität zugesprochen und er wird in dieser anerkannt. Die Konstitution der anzuer96 97 98 99 100 101
Holm 2009, 32 Werbick 2011b, 158 Holm 2009, 37 f. A.a.O., 42 Hoffmann 2011, 170 „Es ist schlechterdings nicht ,Gutes im Sünder‘ anzuerkennen, was zum Rechtfertigungsgeschehen einen Beitrag zu leisten vermag“ (Jüngel 2006, 152 f.) 102 Körtner 2012, 6
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kennenden Identität bildet das Zentrum der Anerkennung. Das wird von Bedorf in seiner Analyse der dreistelligen Anerkennungsrelation herausgearbeitet. Anerkennung vollzieht sich nicht in der zweistelligen Struktur der Anerkennung von y durch x, sondern als „dreistellige Relation, in der x y als z anerkennt“103. Dadurch kommt es zur Spannung, dass eine Identität zwar bestehen muss, die als Bezugspunkt einer Anerkennung durch andere vorausgesetzt wird, diese aber zugleich nicht identisch sein kann mit der durch Anerkennung erst gestifteten Identität. Identität ist nicht selbstverständlich gegeben, sondern steht in der Anerkennung auf dem Spiel. „Wenn etwas anerkannt werden soll, (…) dann wird nicht nur bestätigt, was bereits bekannt ist, sondern es wird eine Identität gestiftet, die der Anerkennung bedarf“104. Anerkennung wird somit als eine Bewegung, als ein Prozess der Identifizierung verstanden, der nicht einfach zum Stillstand kommt.105 Theologisch kann das als schöpferische Anerkennung ausgedrückt werden: Rechtfertigung als Anerkennung ist ein „schöpferischer Akt von Seiten Gottes: Gott anerkennt den Sünder, aber natürlich nicht als solchen, (…) der Sünder wird gerecht in den Augen Gottes“106.
8.
Gottes Gerechtigkeit und Anerkennung
Ist die Differenzierung der dreistelligen Anerkennungsrelation bereits ausreichend und ist die zentrale Frage der Rechtfertigungstheologie im Diskurs mit dem Anerkennungsparadigma bislang überhaupt in den Blick gekommen? Der Dreh- und Angelpunkt der Rechtfertigungstheologie ist das Verständnis der Gerechtigkeit Gottes als normative Grundlage, die anerkennungslogisch gedacht der weiterführenden Perspektive zusätzlicher Anerkennungsrelationen bedarf. Reisinger weist darauf hin, dass die Relation z für Dritte kenntlich sein muss und inhaltlich umweltrelational zu verstehen sei.107 Drei Relata scheinen somit die Fülle der Anerkennungsbezüge noch nicht angemessen abzubilden. Schick kennt fünf Relata: neben den beiden Subjekten des Anerkennungsaktes den Stoff, dem in der Anerkennung ein neuer Status verliehen wird, wobei die Statuszuweisung allgemeinen Zuordnungsregeln (das fünfte Relatum) folgt.108 103 Bedorf 2010, 122. „Nur so kann der Tatsache Rechnung getragen werden, dass die anzuerkennende Identität nicht mit der Identität des Anerkannten zusammenfällt“ (Ebd.). Die dreistellige formale Struktur des Anerkennens wird zuerst von Reisinger 2000 ausdifferenziert. 104 Bedorf 2010, 121 105 A.a.O. 124 ff. 106 Hoffmann 2011, 171 (kursiv im Original) in ausdrücklicher Aufnahme der Bedorfschen formalen Struktur 107 Reisinger 2000,10 f. 108 Schick 2009, 71
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Damit wird der Öffentlichkeitsbezug von Reisinger in die Anerkennungsstruktur integriert. Hilfreich scheint mir in diesem Zusammenhang die Analyse von Anerkennungsakten als Formen der Adressierung, aus der hervorgeht, dass Anerkennen immer vor einem „normativen Horizont sprachlich bzw. materiell etablierter Geltungen“109 stattfindet. Ohne Einbeziehung der in Anerkennungsakten implizit oder explizit wirksamen Normativität wird eine dreistellige Strukturrelation der Anerkennung auch hinsichtlich ihrer fruchtbaren Anregung in der anerkennungstheoretischen Reflexion der Rechtfertigungstheologie zu wenig wirksam. In der Theologie der Rechtfertigung geht es um die vor Gott gültige ungebrochene menschliche Teilhabe an der Gemeinschaft mit Gott. In der Gerechtmachung durch Gott werden die Gott und sich selber entfremdeten Menschen als TeilhaberInnen am Bündnis, das Gott mit den Menschen eingegangen ist, anerkannt. Ein gelingendes Zusammenleben der Menschen untereinander und in der Gemeinschaft mit Gott wird nach den biblischen Vorstellungen normativ mit der Gerechtigkeit Gottes verbunden. In ihr kommt auch die Spitze der reformatorischen Entdeckung Luthers zum Ausdruck. Das Ringen um die Anerkennung vor Gott war in seiner Wahrnehmung durch Ängste vor dem strafenden Gericht Gottes belastet. Die strafende (aktive) Gerechtigkeit des Richters überwindet Luther mit der Erkenntnis, dass Gott die Menschen aus Barmherzigkeit gerecht macht (passive Gerechtigkeit)110. Gerechtigkeit wird von Luther nicht mehr als Inbegriff göttlicher Forderungen verstanden, sondern als „eine Gabe, die Gott verschenkt“111. Luther umschreibt sein neues Verständnis der Gerechtigkeit Gottes mit unterschiedlichen Ausdrücken und kann Gottes Anerkennungshandeln auch ohne Rechtfertigungsbegrifflichkeit und Gerichtssemantik ausdrücken. Das zeigt deutlich, dass der theologische Gebrauch der Begriffe „Rechtfertigung“ und „Gerechtigkeit“ von den Bedeutungen im Alltagsgebrauch oder in philosophischen Definitionen zu unterscheiden ist. Die deutschen Ausdrücke „Rechtfertigung“ und „Gerechtigkeit“ gelten heute in der Theologie übereinstimmend als unzulängliche Übersetzungen der biblischen Begriffe und Vorstellungen, die aber noch immer von einer nahezu ungebrochenen Wirkung sind und somit eine biblisch und reformatorisch angemessene Rekonstruktion der Gerechtmachung Gottes und ein Neuverstehen der Rechtfertigungsbotschaft behindern. Die Grundbedeutung des hebräischen Sedaka ist in der deutschen Sprache mit den angemessenen Übersetzungen „Gemeinschaftsgemäßheit“ und „Gemeinschaftstreue“112 nur schwer wieder zu geben, hat aber mit landläufigen 109 110 111 112
Balzer/Ricken 2010, 73 Siehe die detailgenauen Analysen und Darstellungen in Härle 2005, 7 ff. 81 ff. Meyer 2007, 183 Thiel 2007, 110 f. Das forensische Bild vom Gericht Gottes beschreibt nicht den Kern der
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Gerechtigkeitsvorstellungen nichts zu tun. „Gemeinschaftsgemäßheit“ ist mehr ein Sprachfeld denn ein Begriff, sie bezeichnet „ein Beziehungsgefüge, das prozesshaften Charakter hat und sich an der Vorstellung einer umfassenden Wohlordnung orientiert bzw. diese intendiert“113. Gottes Gemeinschaftstreue, Gemeinschaftskraft, Bundestreue machen die Menschen „gerecht“, also gemeinschaftsfähig Gott gegenüber und verantwortungsfähig im praktischen Zusammenleben. Diese Bedeutungsverschiebung im Verständnis von „Rechtfertigung“ eröffnet ein weitergehendes Feld der Auseinandersetzung mit einem Anerkennungsdiskurs, der die moralische Grammatik von Lebensformen untersucht, in denen wechselseitige Anerkennung sowohl subjektive Selbstbeziehung als auch soziale Beziehungen begründet und ermöglicht.114 Gerechtmachung in Gemeinschaftsgemäßheit und Anerkennung betreffen normative Grundlagen der Selbst- und Sozialkonstitution und übersteigen somit die Grenzen menschlicher Verfügbarkeit und Gestaltungsmacht. Damit sich die Theologie von ihrem (protestantischen) Zentrum der Gerechtmachung her diesem Diskurs stärker aussetzen kann, bedarf es noch einiger traditionskritischer Rekonstruktionsarbeit. Wilfried Härle ist der einzige namhafte deutsprachige lutherischeTheologe, der hier eine „Sprachnot erheblichen Ausmaßes“115 konstatiert. Die neueren Versuche, Rechtfertigung über Anerkennung und Gabe zu erschließen, geben Anlass zur Hoffnung, dass hier noch ein kreatives Potential für theologische Innovation entfaltet werden wird. Theologie der Gerechtmachung bringt als Theologie der Anerkennung deutlicher und neu zum Ausdruck, worum es der Rechtfertigungslehre geht: dass Gott den Menschen Liebe, Anerkennung und Freiheit schenkt und sie dieses Geschenk im Glauben annehmen und in menschlichen Sozialbezügen leben können, „dass die Gerechtigkeit Gottes das Recht und die Anerkennung des Anderen fundiert“116. Eine Kultur der Anerkennung vor jeder Leistung wäre in diesem Zusammenhang ein möglicher Beitrag auf dem Weg zu menschengerechteren Lebensformen.
113 114 115 116
göttlichen Beziehungsgestaltung, sondern einen möglichen Wirkungsbereich, nicht aber eine adäquate Bestimmung der Grundbedeutung. Ebenso Härle 2005, 87 Härle 2005, 87 (kursiv im Original); Ein umgangssprachliches deutsches Äquivalent scheint es nicht zu geben (A.a.O., 13). Siehe Honneth 1992 sowie weitere Härle 2005, 13. „In sprachlicher Hinsicht befinden wir uns, was diese Thematik anbelangt, in einer vorreformatorischen, ja sogar in einer vorbiblischen Situation“ (ebd.). Moxter 2002, 35
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Thomas Krobath
Literatur Balzer, Nicole/Ricken, Norbert: Anerkennung als pädagogisches Problem. Markierungen im erziehungswissenschaftlichen Diskurs, in: Schäfer, Alfred/Thompson, Christiane (Hg.): Anerkennung, Paderborn 2010, 35 – 87 Barth, Karl: Die Kirchliche Dogmatik IV/1, Zollikon – Zürich 1953 Bayer, Oswald: Angeklagt und anerkannt. Religionsphilosophische und dogmatische Aspekte, in: Knuth, Hans Christian (Hg.): Angeklagt und anerkannt. Luthers Rechtfertigungslehre in gegenwärtiger Verantwortung, Erlangen 2009, 89 – 107 Bedorf, Thomas: Verkennende Anerkennung. Über Identität und Politik, Berlin 2010 Beutel, Silvia-Iris/Beutel, Wolfgang: Beteiligt oder bewertet? Zum Spannungsfeld von Leistungsbeurteilung und Demokratiepädagogik, in: dies. (Hg.): Beteiligt oder bewertet? Leistungsbeurteilung und Demokratiepädagogik, Schwalbach/Ts. 2010, 9 – 24 Biehl, Peter/Johannsen, Friedrich: Einführung in die Glaubenslehre. Ein religionspädagogisches Arbeitsbuch, Neukirchen-Vluyn 2002 Brummer, Andreas u. a. (Hg. im Auftrag der Kirchenleitung der VELKD): Evangelischer Erwachsenen Katechismus: suchen – glauben – leben. 8., neu bearbeitete und ergänzte Auflage, Gütersloh 2010 Bühler, Pierre: Ablass oder Rechtfertigung durch Glauben, Zürich – Freiburg im Breisgau 2000 Härle, Wilfried: Menschsein in Beziehungen. Studien zur Rechtfertigungslehre und Anthropologie, Tübingen 2005 Härle, Wilfried: Christlicher Glaube in unserer Lebenswelt. Studien zur Ekklesiologie und Ethik, Leipzig 2007 Hartmann, Michael: Der Mythos der Leistungseliten, Frankfurt am Main – New York 2002 Henkenborg, Peter : Elemente einer „demokratiepädagogischen Topik“, in: Beutel, Wolfgang/Fauser, Peter (Hg.): Demokratiepädagogik. Lernen für die Zivilgesellschaft, Schwalbach/Ts. 2007, 86 – 109 Hirschler, Horst: Christus vertrauen. Was Rechtfertigung heute bedeutet, Hannover 22012 Hoffmann, Veronika: Rechtfertigung als Gabe der Anerkennung, in: Ökumenische Rundschau 60 (2/2011), 160 – 177 Holm, Bo Christian: Rechtfertigung als gegenseitige Anerkennung bei Luther, in: Knuth, Hans Christian (Hg.): Angeklagt und anerkannt. Luthers Rechtfertigungslehre in gegenwärtiger Verantwortung, Erlangen 2009, 23 – 42 Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt am Main 1992 Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Mit einem neuen Nachwort, Frankfurt am Main 1994 Honneth, Axel: Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Philosophie, Frankfurt am Main 2000 Honneth, Axel: Das Recht der Freiheit. Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit, Berlin 2011 Honneth, Axel/Stahl, Titus: Wandel der Anerkennung. Überlegungen aus gerechtigkeitstheoretischer Perspektive, in: Honneth, Axel/Lindemann, Ophelia/Voswinkel,
Rechtfertigung als Anerkennung
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Stephan (Hg.): Strukturwandel der Anerkennung. Paradoxien sozialer Integration in der Gegenwart, Frankfurt am Main 2013, 275 – 300 Honneth, Axel/Lindemann, Ophelia/Voswinkel, Stephan (Hg.): Strukturwandel der Anerkennung. Paradoxien sozialer Integration in der Gegenwart, Frankfurt am Main 2013 Jäggle, Martin, Wie nimmt Schule kulturelle und religiöse Differenz wahr? Grundsätzliche Vorbemerkungen und Einblick in ein Forschungsprojekt in Wien, in: Porzelt, Burkhard/Güth, Ralph (Hg.): Empirische Religionspädagogik. Grundlagen – Zugänge – Aktuelle Projekte, Münster 2000, 119 – 138 Jäggle, Martin: Der christliche Religionsunterricht und die Anderen, in: Essmann, KarlRichard/Mayerhofer, Erhard (Hg.): Leben im Gespräch. Impulse für eine zeitgemäße Religionspädagogik, Wien 2006, 135 – 154 (= 2006a) Jäggle, Martin: Schritte auf dem Weg zu einer Kultur gegenseitiger Anerkennung. Religionspädagogische Impulse zum religiösen Lernen in der pluralen Gesellschaft, in: Bastel, Heribert Göllner, Manfred/ders./Miklas, Helene (Hg.): Das Gemeinsame entdecken – das Unterscheidende anerkennen. Projekt eines konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts, Wien 2006, 31 – 42 (= 2006b) Jäggle, Martin: Anerkennung vor jeder Leistung. Interview mit Martin Jäggle, in: Das Wort. Evangelische Beiträge zu Bildung und Unterricht 3/2008, 4 – 5 Jäggle, Martin: Religiöse Pluralität als Herausforderung für Schulentwicklung, in: ders./ Krobath, Thomas/Schelander, Robert (Hg.): lebens.werte.schule. Religiöse Dimensionen in Schulkultur und Schulentwicklung, Wien – Berlin 2009, 265 – 280 Jäggle, Martin/Krobath, Thomas: Bildung, Gerechtigkeit und Würde: Kultur der Anerkennung. Ein Beitrag zum Schulentwicklungsdiskurs in Österreich, in: Amt und Gemeinde 61 (1/2010), 51 – 63 Jäggle, Martin/Krobath, Thomas: Kultur der Anerkennung in der Schule. Eine Einführung, in: dies./Stockinger, Helena/Schelander, Robert (Hg.): Kultur der Anerkennung. Würde – Gerechtigkeit – Partizipation für Schulkultur, Schulentwicklung und Religion, Baltmannsweiler 2013, 11 – 33 Jäggle, Martin/Krobath, Thomas/Schelander, Robert (Hg.): lebens.werte.schule. Religiöse Dimensionen in Schulkultur und Schulentwicklung, Wien – Berlin 2009 Jäggle, Martin/Krobath, Thomas/Stockinger, Helena/Schelander, Robert (Hg.): Kultur der Anerkennung. Würde – Gerechtigkeit – Partizipation für Schulkultur, Schulentwicklung und Religion, Baltmannsweiler 2013 Jüngel, Eberhard: Gott als Geheimnis der Welt, Tübingen (1977) 41982 Jüngel, Eberhard: Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens, Tübingen (1998) 52006 Kießig, Manfred u. a. (Hg. im Auftrag der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands): Evangelischer Erwachsenen Katechismus: glauben – erkennen – leben. 6., völlig neu bearbeitete Auflage, Gütersloh 2000 Korsch, Dietrich: Glaube und Rechtfertigung, in: Beutel, Albrecht (Hg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 372 – 381 Körtner, Ulrich: Evangelische Sozialethik. Grundlagen und Themenfelder, Göttingen 1999 Körtner, Ulrich: Reformatorische Theologie im 21. Jahrhundert, Zürich 2010 Körtner, Ulrich: Anerkennung, Rechtfertigung und Gerechtigkeit als Kernbegriffe Diakonischer Ethik, in: Dederich, Markus/Schnell, Martin W. (Hg.): Anerkennung und
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Thomas Krobath
Gerechtigkeit in Heilpädagogik, Pflegewissenschaft und Medizin. Auf dem Weg zu einer nichtexklusiven Ethik, Bielefeld 2011, 47 – 76 Körtner, Ulrich: Rechtfertigung – Botschaft für das 21. Jahrhundert, in: Standpunkt. Zeitschrift des Evangelischen Bundes in Österreich, Heft 209/2012, 3 – 10 Lachmann, Rainer : Grundsymbole christlichen Glaubens. Eine Annäherung, Göttingen 1992 Lutherischer Weltbund (Hg.): Offizieller Bericht der Vierten Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes, Helsinki, 30. Juli – 11. August 1963, Berlin – Hamburg 1965 Marquard, Odo: Rechtfertigung. Bemerkungen zum Interesse der Philosophie an der Theologie, in: Giessener Universitätsblätter Heft 1/1980, 83 – 85 Metz, Johann Baptist, Wider die zweite Unmündigkeit. Zum Verhältnis von Aufklärung und Christentum, in: Rüsen, Jörn/Lämmert, Eberhard/Glotz, Peter (Hg.): Die Zukunft der Aufklärung, Frankfurt am Main 1988 Meyer, Karlo: Rechtfertigung, in: Hübener, Britta/Orth, Gottfried (Hg.), Wörter des Lebens. Das ABC evangelischen Denkens, Stuttgart 2007, 181 – 185 Moxter, Michael: Rechtfertigung und Anerkennung, in: Dober, Hans Martin/Mensink, Dagmar (Hg.): Die Lehre von der Rechtfertigung des Gottlosen im kulturellen Kontext der Gegenwart, Stuttgart 2002, 20 – 42 Neckel, Sighard: Erfolg, in: Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne, Lemke, Thomas (Hg.), Glossar der Gegenwart, Frankfurt am Main 2004, 63 – 70 Prengel, Annedore: Pädagogik der Vielfalt, Wiesbaden (1993) 32006 Reisinger, Peter : Sozialsystem und Anerkennung, in: Schild, Wolfgang (Hg.), Anerkennung. Interdisziplinäre Dimensionen eines Begriffs, Würzburg 2000, 9 – 24 Ricoeur, Paul: Wege der Anerkennung, Frankfurt am Main 2006 Schick, Friederike: Kampf um Anerkennung im philosophischen Diskurs, in: Knuth, Hans Christian (Hg.): Angeklagt und anerkannt. Luthers Rechtfertigungslehre in gegenwärtiger Verantwortung, Erlangen 2009, 69 – 87 Schluß, Henning: Anerkennung als pädagogische Kategorie – drei Thesen, in: Jäggle, Martin/Krobath, Thomas/Stockinger, Helena/Schelander, Robert (Hg.): Kultur der Anerkennung. Würde – Gerechtigkeit – Partizipation für Schulkultur, Schulentwicklung und Religion, Baltmannsweiler 2013, 151 – 158 Schönig, Wolfgang: Demokratisierung der Schule durch eine pädagogisch akzentuierte Leistungsbeurteilung? Überlegungen zur Arbeit am Leistungsethos der Schule, in: Beutel, Silvia-Iris/Beutel, Wolfgang (Hg.): Beteiligt oder bewertet? Leistungsbeurteilung und Demokratiepädagogik, Schwalbach/Ts. 2010, 166 – 182 Suess, Paulo: Über die Unfähigkeit der Einen, sich der Anderen zu erinnern, in: Arens, Edmund (Hg.): Anerkennung der Anderen. Eine theologische Grunddimension interkultureller Kommunikation, Freiburg im Breisgau 1995, 64 – 94 Taylor, Charles: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt am Main 1993 Tillich, Paul: Systematische Theologie, Band II, Stuttgart (1958) 71981 (=1981a) Tillich, Paul: Systematische Theologie, Band III, Stuttgart (1966) 31981 (=1981b) Thiel, Winfried: Gerechtigkeit als Gemeinschaftsgemäßheit. Alttestamentliche Perspektiven, in: Glauben und Lernen 22 (2007), 110 – 120 Todorov, Tzvetan: Abenteuer des Zusammenlebens. Versuch einer allgemeinen Anthropologie, Frankfurt am Main 1998
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Voswinkel, Stephan/Lindemann, Ophelia: Einleitung, in: Honneth, Axel/Lindemann, Ophelia/Voswinkel, Stephan (Hg.): Strukturwandel der Anerkennung. Paradoxien sozialer Integration in der Gegenwart, Frankfurt am Main 2013, 7 – 15 Voswinkel, Stephan/Wagner, Gabriele: Vermessung der Anerkennung. Die Bearbeitung unsicherer Anerkennung in Organisationen, in: Honneth, Axel/Lindemann, Ophelia/ Voswinkel, Stephan (Hg.): Strukturwandel der Anerkennung. Paradoxien sozialer Integration in der Gegenwart, Frankfurt am Main 2013, 75 – 120 Werbick, Jürgen: Vergewisserungen im interreligiösen Feld, Berlin 2011 (=2011a) Werbick, Jürgen: Selbst-Gegebenheit als Gottesgabe, in: Ökumenische Rundschau 60 (2/ 2011), 155 – 159 (=2011b)
Regina Polak
Anerkennung: Eine Herausforderung für Kirche und Pastoral. Ein Versuch
1.
Anerkennung statt Liebe und Gerechtigkeit?
Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt. Joh 13,34 – 35
Mit der Botschaft vom Reich Gottes (Mk 1,15), wie sie Jesus von Nazareth durch sein Leben und Wirken, Sterben und Auferstehen bezeugt, wird die Liebe aus der Sicht des Glaubens zum entscheidenden Maß aller menschlichen Praxis. „Der Glaube an die Kraft der Liebe ist das eigentliche Zentrum des Christentums, das an einen Gott zu glauben einlädt, der Mensch geworden ist und uns gezeigt hat, was es heißt, zu lieben.“1 Der Sozialethiker Clemens Sedmak entwickelt das Potential der Liebe: Aufgrund ihrer „personalen Kraft“ kann sie „Strukturen der Sorge“ bilden2 ; durch ihre „institutionelle Kraft“ kann sie „Strukturen der Eintracht“ fördern3 ; schließlich ermöglicht es die „politische Kraft“ der Liebe, Glaubwürdigkeit und Hoffnung in den politischen Raum einzubringen4. Sedmak zeigt, dass ein christliches Verständnis von Liebe untrennbar mit der Verantwortung für Gerechtigkeit verbunden ist und folgert daraus spezifische Aufgaben für die Kirche. Von diesen Zusammenhängen zwischen Liebe und Gerechtigkeit erzählt auch die Bibel. In der alttestamentlichen Tradition ist die Rede vom Reich Gottes zuinnerst verbunden mit der Zusage und Verheißung der Gerechtigkeit Gottes sowie der Verpflichtung zu einer den Geboten Gottes entsprechenden Gerechtigkeitspraxis.5 Mit Jesus von Nazareth bekommt die Botschaft vom Reich Gottes 1 2 3 4 5
Sedmak 2007, 15 Ebd. 45 – 83 Ebd. 84 – 108 Ebd. 109 – 135 Vgl. z. B. Vanoni/Heininger 2002; Lohfink 1989
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Regina Polak
eine zentrale Stellung im Glauben und ein spezifisches Gepräge: Die Liebe wird zum entscheidenden Merkmal, Kriterium und Ziel göttlicher und sodann menschlicher Gerechtigkeit; sie wird zum „Medium“, in dem sich das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit verwirklichen. Die Gerechtigkeit wird umgekehrt zur Form der Liebe, denn ohne den Einsatz für Gerechtigkeit kann sich die Liebe nicht entfalten.6 Liebe und Gerechtigkeit gehören untrennbar zusammen. Die Kirche7 steht für diese Botschaft ein. Ihr Selbstverständnis, „in Christus Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschen“ (LG 1) zu sein, kann sie nur in einer Pastoral verwirklichen, die sich im Horizont der Liebe und Gerechtigkeit des Reiches Gottes vollzieht. Angesichts der spirituellen Tiefe und politischen Kraft eines solch herausfordernden „Pastoral-Programmes“ könnte man fragen: Wozu soll sich die Kirche mit der Frage nach der Anerkennung auseinandersetzen? Neben solch erhabenen Begriffen wie Liebe und Gerechtigkeit wirkt dieses Wort zunächst doch recht blass, wie eine Art „Soft-Variante“ von Liebe und Gerechtigkeit. Zudem lässt sich der Begriff auch nicht in der Bibel finden, er erscheint theologischen Überlegungen daher zunächst sogar etwas artfremd.8 Warum also soll sich die Kirche mit Konzepten und Modellen der Anerkennung befassen? Zunächst sei ein historischer Grund benannt: Die Kirche muss mit Blick auf ihre über 2000jährige Geschichte beschämt und schuldbewusst erkennen, dass sie an der Verwirklichung einer Praxis von Liebe und Gerechtigkeit immer wieder gescheitert ist, ja diese sogar verraten hat. Freilich gab es immer wieder Personen, Bewegungen und Orden, die der Botschaft vom Reich Gottes in ihrer Zeit konkrete Gestalt gegeben haben. Aber vor allem am Verhalten der Kirche gegenüber jenen, die anders oder gar nicht glauben, sieht man ihr fundamentales Problem: im ausgrenzenden und gewaltförmigen Umgang mit „Ketzern“, mit Protestanten und Atheisten und vor allem mit Juden zeigt sich der Verrat am Evangelium. Erinnern muss sich die Kirche auch an die Millionen Menschen, die mithilfe kirchlicher Verkündigung angehalten wurden, Armut, Not, Gewalt und Unterdrückung zu ertragen und meinten, sich nicht gegen politische oder kirchliche Ungerechtigkeit wehren zu dürfen. Eine Kirche, die die Botschaft vom Reich Gottes und den damit verbundenen inneren Zusammenhang von Liebe und Gerechtigkeit vergessen hatte, konnte Leid, Unrecht und Ungerechtigkeit 6 Zu diesen komplexen Zusammenhängen vgl. Tillich 1955 7 Ich meine in diesem Beitrag mit Kirche immer die Katholische Kirche. 8 Demgegenüber : Anerkennung ist zwar nicht Thema, aber durchaus Rhema, also der Sache nach Gegenstand der Bibel: Vgl. z. B. Popp 2010, der eine 1 Petr zugrundeliegende Theologie der Anerkennung herausarbeitet. In der evangelischen Theologie hat der Begriff sogar eine zentrale Bedeutung in der Auseinandersetzung mit der Theologie der Rechtfertigung, vgl. den Beitrag von Thomas Krobath in diesem Band.
Anerkennung: Eine Herausforderung für Kirche und Pastoral
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verharmlosen und verschleiern sowie innerkirchliche und politische Gewaltverhältnisse beschönigen, verleugnen und sogar spirituell überhöhen. Auch heute lassen sich mit dem Verweis auf die „Liebe“ brennende Probleme der Kirche verharmlosen und Kritiker an der Kirche und/oder ihren Lehren zu Verrätern oder Ungläubigen erklären. Da wird der „Aufruf zum Ungehorsam“ der „Pfarrer-Initiative“9 – bei aller inhaltlich berechtigten Kritik an ihm – per se als Verrat am kirchlichen Gehorsam wahrgenommen. Wer als Katholik der rechtlichen Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften zustimmt – vielleicht sogar aus Glaubensgründen, kann in den Verdacht geraten, nicht rechtgläubig zu sein: Praktizierte Homosexualität gilt als nicht-legitime Form von Liebe, ja sogar als Sünde. Der jahrzehntelang verschleiernde Umgang mit Klerikern, die des sexuellen Missbrauchs an jungen Menschen schuldig geworden sind, geschah auch aus „Barmherzigkeit“ mit den Schuldigen und „vergaß“ die Frage nach der Gerechtigkeit für die Opfer. Die Kirche hat offenkundig immer noch Schwierigkeiten mit Liebe und Gerechtigkeit, wenn es konkret wird. Im Hintergrund der benannten Beispiele aber lassen sich Konflikte um Anerkennung entdecken: Menschen erwarten von der Kirche die Anerkennung ihrer Sorgen und Nöte; die Anerkennung ihrer Lebensformen; die Anerkennung von Gewalt und Leid, die Menschen in der Kirche erfahren haben. Die Schwierigkeiten der Kirche mit Liebe und Gerechtigkeit werden durch einen zweiten, soziologischen, Grund verschärft, der eine Auseinandersetzung mit Konzepten der Anerkennung nahelegt: Seit dem Zweiten Weltkrieg haben in Europa sowohl im gesellschaftlichen als auch im wissenschaftlichen Diskurs vielfältige, ambivalente und bisweilen extreme Bedeutungsverschiebungen stattgefunden, was das Verständnis von Liebe10 und Gerechtigkeit11 betrifft. Pastoral findet heute in einem Kontext pluraler und widersprüchlicher Verständnis- und Praxisformen von Liebe und Gerechtigkeit statt. Die Kirche hat diese Veränderungen bisher nicht im entsprechenden Ausmaß wahrgenommen, geschweige denn, theologisch gewürdigt12 – und wenn, dann primär defizitorientiert13. So wird dann über Privatisierung, Emotionalisierung sowie wachsende
9 Vgl. http://www.pfarrer-initiative.at/, 6. Juli 2013 10 Vgl. z. B. Dux 1994; Hahn 1998 11 Die Fülle der Literatur zum Gerechtigkeitsdiskurs kann ich hier nicht wiedergeben, da dieser nahezu alle Disziplinen von der Philosophie, Sozialethik bis zur Politikwissenschaft umfasst. 12 Als Ausnahme zeigt Maria Widl beispielsweise, dass sich in der Forderung nach Anerkennung des Verschiedenen und der damit verbundenen Option für die Gerechtigkeit die postmoderne Form zeigt, nach Wahrheit zu fragen, vgl. Widl 2000. 13 Man denke an die massiven Vorbehalte gegenüber der Gendertheorie von Seiten Papst Benedikts XVI.; an die nach wie vor dominierenden naturrechtlichen Zugänge zu Fragen der Sexual-, Familien- und Eheethik; übersehen wird die theologische Dimension der unzähligen globalen Initiativen vor allem junger Menschen, die sich weltweit für Gerechtigkeit
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Bindungslosigkeit der Menschen in der Liebe geklagt, ohne wahrzunehmen, welche „Qualitätsverbesserungen“ der Liebe z. B. im Bereich von Psychotherapie oder Lebensberatung entwickelt werden. Oder man beklagt den Verfall von gesellschaftlichen und politischen Werten und Normen und nimmt nicht wahr, wie z. B. im Anerkennungsdiskurs Werte wie Liebe und Gerechtigkeit in säkularer Form neu interpretiert und ausverhandelt werden. Damit bin ich bei den Fragen, die mich zum Verfassen dieses Beitrages motiviert haben: Könnte die Rezeption des wissenschaftlichen Anerkennungsdiskurses die Kirche dabei unterstützen, ihre Pastoral zu reflektieren? Worin bestünde dann der Beitrag der Anerkennungstheorien und -modelle zu einem tieferen Verständnis der Praxis von Liebe und Gerechtigkeit?14 Ich gehe dabei von der These aus, dass der Anerkennungsdiskurs eine ausgezeichnete Möglichkeit eröffnet, die Botschaft vom Reich Gottes in wesentlichen Dimensionen zu schärfen und zu konkretisieren. Ich vermute, dass Anerkennung eine strukturbildende Dimension sowohl der Liebe als auch der Gerechtigkeit ist, insofern sich diese als Praxis15 verwirklichen. Anerkennung könnte sich dabei als eine Praxisform erweisen, die Liebe und Gerechtigkeit konkretisiert und beide verbindet. Die Auseinandersetzung mit Konzepten der Anerkennung kann und soll dabei keinesfalls die zentrale theologische Bedeutung von Liebe und Gerechtigkeit schmälern oder gar ersetzen.16 Aber mithilfe von Theorien und Modellen der Anerkennung kann die Kirche ihr Handeln aus neuen, ungewohnten Perspektiven betrachten lernen. Dieser Beitrag ist ein erster Versuch, damit verbundene pastoraltheologische Fragestellungen und Spannungsfelder auszuloten.
einsetzen, wenn bemäkelt wird, diese seien „nur humanistisch“ orientiert; ähnlich dann die Kritik an der Caritas, sie müsse sich deutlicher von säkularen NGOs abgrenzen. 14 Die umgekehrte Frage wäre selbstverständlich auch interessant: Worin könnte der Beitrag der christlichen Rede und Praxis von Liebe und Gerechtigkeit für den Anerkennungsdiskurs bestehen? Aber das wäre eine eigene Studie. 15 Liebe und Gerechtigkeit sind aus theologischer Sicht auch Dimensionen Gottes, sie erschöpfen sich also nicht im Handeln von Menschen. Darauf kann ich hier aber nicht näher eingehen. 16 Es wäre interessant, über den Zusammenhang philosophisch und theologisch vertieft nachzudenken. Ist Anerkennung ein praktisches Scharnier, in der die Liebe im Modus der Gerechtigkeit konkret wird? Ist Anerkennung Voraussetzung oder Folge von Liebe und Gerechtigkeit? Sind Liebe und Gerechtigkeit Modi, in denen Gott die Menschen anerkennt? … usw.
Anerkennung: Eine Herausforderung für Kirche und Pastoral
2.
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Anerkennung als praktisch-theologische Kategorie?
Martin Jäggle ist Religionspädagoge und Praktischer Theologe. Beides verpflichtet ihn zu einer Rezeption der „Zeichen der Zeit“. Der Anerkennungsdiskurs der Gegenwart ist aus theologischer Perspektive ein solches „Zeichen der Zeit“. Im wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Ringen um angemessene Verständnis- und Praxisformen von Anerkennung findet – so wie Marie-Dominique Chenu die „Zeichen der Zeit“ versteht17 – ein umfassender Transformationsprozess des kollektiven Bewusstseins statt, in dem sich die Energien und Hoffnungen der Gesellschaft auf ein friedliches, gerechtes und gutes Zusammenleben bündeln. Nie zuvor in der Geschichte ist die Frage nach dem Zusammenleben der Menschen in einem solch globalen Ausmaß gestellt worden. Aus theologischer Sicht liegt im damit verbundenen Ringen um Anerkennung auch die Möglichkeit, sich der Präsenz Gottes auf neue Weise bewusst zu werden. Der Deutung Hans-Joachim Sanders folgend18 kann auch der gesellschaftliche und politische „Kampf um Anerkennung“ (Honneth) als „Zeichen der Zeit“ wahrgenommen werden, denn dabei kämpfen Menschen um ihre Würde und um die Anerkennung der Anderen, gleich ob ungläubig oder gläubig. Wo dies geschieht, findet aus der Sicht des Glaubens eine Suche nach Gott statt. Basierend auf der Solidarität der Gläubigen mit allen Menschen ist die Kirche verpflichtet, sich auf diesen „Kampf“ einzulassen – auch um einer zeit-gerechten Erkenntnis Gottes willen. Ausgangspunkt der religionspädagogischen Auseinandersetzung Martin Jäggles mit der Frage nach der Anerkennung ist die plurale Gesellschaft. Allerdings „bildet (diese) nicht das Problem, sondern den Kontext der Überlegungen.“19 Pluralität ist zunächst ein Faktum; Jäggle ist auf der Suche nach einer Theorie des Pluralismus. Im Zentrum steht die Frage nach Differenz. Jäggle bezieht sich dazu auf Nipkow: „Pluralität ist in ihrem Kern Differenz; darum bildet der Umgang mit Differenz den Knoten des Pluralismusproblems.“20 Die Auseinandersetzung mit Pluralität und Differenz ist dabei begleitet von der Überzeugung, dass die Fragen nach Einheit und Wahrheit nicht aufgegeben werden dürfen. Konzepte einer „kulturellen bzw. religiösen Überlegenheit (durch Exklusion/Ausschluss oder Inkorporation/Vereinnahmung)“21 sind allerdings ebenso wenig vertretbar wie Relativismus. So formuliert Jäggle mit Ziebertz, dass „Kommunikation als Weg der Einheitsstiftung und Wahrheits-
17 18 19 20 21
Vgl. Chenu 1965, 32 Vgl. Sander 2010; 2012 Jäggle 2000, 119, Erg. RP Nipkow 1998, 176 Jäggle 2000, 119
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findung theologisch und pädagogisch zu entfalten“22 ist. – Weitergedacht stellt sich sofort die Frage, wie die Kirche diesen Weg pastoral(theologisch) entfalten kann. Denn Pluralität ist auch für sie Ausgangspunkt ihres Handelns und die Frage nach der konkreten Gestalt(ung) von Einheit und einem menschen- und gottesgerechten Verständnis von Wahrheit gehört zu einer der brennendsten Herausforderungen der Gegenwart. Folgt man Martin Jäggle, entscheidet sich an ihrem Umgang mit Differenz, ob sie ihr Wesen und ihren Auftrag einlöst. Pluralität hat bei Jäggle nichts zu tun mit beliebiger Vielfalt, praktiziertem Relativismus oder wertloser Beliebigkeit23, sondern ist mit Rekurs auf Charles Taylor nur als „werthaltige“ Pluralität möglich, nämlich als „Kultur der gegenseitigen Anerkennung (mutual recognition)“24. Eine solche geht weit über Respekt und Toleranz hinaus und verlangt nach rechtlichen und politischen Konsequenzen. Deshalb darf die gesellschaftliche Situation nicht nur in erster Linie und ausschließlich unter der Perspektive der Pluralität in den Blick genommen werden, weil sonst „Fragen nach Macht und Ohnmacht, nach Inklusion und Exklusion, nach dem Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen wie Bildung, Einkommen u. a., nach sozialen und politischen Konflikten“25 in den Hintergrund treten und bedeutungslos erscheinen. Anerkennung hat bei Martin Jäggle also immer auch eine politische Bedeutung und ist mit der Frage nach der Gerechtigkeit verbunden. Die Kirche kann durch ein solches Verständnis angeregt werden, ihr gesellschaftspolitisches Engagement unter der Perspektive der Anerkennung zu prüfen. Herausfordernder scheint es allerdings, die internen kirchlichen Strukturen entlang der Anliegen Martin Jäggles zu reflektieren: Fördern und ermöglichen diese eine werthaltige, gegenseitige Anerkennung oder behindern sie diese? Wirken sie inklusiv oder exklusiv – und wer wird durch Ausschluss unsichtbar in der Kirche? Wie steht es um den Zugang der Gläubigen zu den Ressourcen der Kirche – zu Personen, Gemeinden und Gemeinschaft, zu Macht und Ämtern, zu christlicher Bildung, aber auch zu Raum, Zeit und Geld? Wie steht es um Gerechtigkeit innerhalb der Kirche? Das Konzept der Anerkennung kann so für pastoraltheologische Fragestellungen fruchtbar gemacht werden. Auch Martin Jäggle verortet seine religionspädagogischen Überlegungen durchaus theologisch, wenngleich eher behutsam, primär zwischen den Zeilen und selten ausgeführt. Ab und an findet sich eine explizit theologische Explikation: „Theologisch gewendet, entspricht das Differenzdenken der Bestimmung menschlicher Würde als verdankte, zugesprochene Würde.”26 Oder die Theologie zeigt sich in seinem Verständnis von 22 23 24 25 26
Ziebertz 1995, 91 Vgl. Jäggle 2009, 269 Taylor 1997 (1992), vgl. Jäggle 2009, 269 Jäggle 2009, 266 Jäggle/Krobath 2010, 57
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Bildung, die er auch als Beitrag zur „Reich-Gottes-Praxis“27 versteht. So bringt er auch immer wieder das Instrument der „Reich-Gottes-Verträglichkeitsprüfung“28 ins Gespräch und fragt: „Welchen Minimalanforderungen muss z. B. eine Schule genügen, um ’Reich-Gottes-Praxis’ erkennbar werden zu lassen?“29 Urs Eigenmann hat eine solche Reich-Gottes-Verträglichkeitsprüfung auch für die Kirche entwickelt.30 Eine Rezeption der religionspädagogischen Überlegungen Martin Jäggles in Kirche und Pastoral wäre jedenfalls wünschenswert. Sie bedürfte allerdings einer explizit formulierten theologischen Grundlegung; nicht weil eine solche fehlt, sondern weil zu befürchten steht, dass die Mehrzahl (deutschsprachiger) Theologen die theologischen Implikationen dieser Arbeit nicht wahrnimmt.31
3.
Anerkennung, Theologie und Kirche
Der Begriff der Anerkennung spielt in der deutschsprachigen katholischen Theologie bisher eine marginale Rolle. Rezipiert und reflektiert wird er vor allem in jenen Disziplinen, die sich der Aufgabe stellen, Theologie im Horizont aktueller Gegenwartsfragen zu treiben.32 Zurzeit scheinen mir dies in erster Linie jene Fundamentaltheologien zu sein, die sich im Anschluss an Emmanuel L¦vinas oder in Auseinandersetzung mit Johannes Baptist Metz der Frage nach der Anerkennung der Anderen als Anderer stellen.33 Dieses Schattendasein ist umso erstaunlicher, als der Begriff Anerkennung derzeit in verschiedensten Wissenschaften – in der Neurobiologie und Psychoanalyse, in Politikwissenschaft und Soziologie, in den Migrationswissenschaften und vor allem in der Pädagogik – nachgerade „boomt“.34 Hängt diese Ignoranz des Anerkennungsdiskurses auch mit den schwierigen Fragen zusammen, die dabei verhandelt werden? – Wie können und sollen Theologie und Kirche in einer pluralen Welt die „Anderen“, die nicht zur Kirche gehören (wollen), wahrnehmen? Welche theologische Bedeutung und Würde haben diese für den Glauben und die KirJäggle/Krobath 2010, 58 Dieses hat Thomas Krobath in Anlehnung an Urs Eigenmann entwickelt, vgl. Krobath 2009 Jäggle/Krobath 2010, 59 Eigenmann 2010 Leider gehört die Religionspädagogik innerhalb der theologischen Disziplinen zu den am wenigsten wertgeschätzten Disziplinen: Sie wird von vielen als Applikationswissenschaft verstanden und in ihrem heuristischen Wert für die Theologie kaum anerkannt. 32 Im Anschluss an das Zweite Vatikanum wäre dies Aufgabe aller theologischen Disziplinen; faktisch wird diese Aufgabe aber ausgewählten Fächern zugeteilt, v. a. der Praktischen Theologie. 33 Vgl. in diesem Band den Beitrag von Johann Reikerstorfer. 34 Vgl. ausführlich Jäggle/Krobath 2013, 11 ff.
27 28 29 30 31
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che? Wie soll man sich ihnen gegenüber verhalten und mit ihnen zusammen leben? Worin besteht die je konkrete Verantwortung für Gerechtigkeit angesichts der pluralen „Anderen“? Wie müssen sich Selbstverständnis und Praxis von Theologie und Kirche verändern, um „den Anderen“ besser gerecht zu werden? Praktisch jedenfalls ist die Kirche in Europa durchaus verstrickt in die zeitgenössischen Auseinandersetzungen um Anerkennung. Dies betrifft zum einen ihr Engagement in der Gesellschaft und die damit verbundene politische Verantwortung. Die zeitgenössischen Prozesse des „Strukturwandels der Anerkennung“35 nehmen auch die Kirche in die Pflicht, denn sie bergen soziales Konfliktpotential. So beschreibt z. B. Axel Honneth36, dass in den Zentren westlicher Gesellschaften Bürgerrechte zunehmend weniger als symbolische Zeichen wechselseitiger Achtung wahrgenommen werden, sondern privatistisch als Instrumente individueller Leistungsabsicherung gedeutet werden. Dies führt dazu, dass in diesen Gesellschaften zwei Gruppen einander gegenüberstehen: die Gruppe der rechtlich zufriedenstellend bis gut abgesicherten Bürger, die ihre soziale Anerkennung aber immer weniger aus diesen Rechten beziehen, und ein wachsender Kreis von Ausgeschlossenen, die überhaupt erst die Aufnahme in das Verhältnis rechtlicher Anerkennung erkämpfen. Besonders virulent wird dies angesichts der steigenden Zahl von Immigranten, Asylsuchenden und illegalen Einwanderern: Bürgerrechte werden ihnen gegenüber zu Mitteln der Abwehr umgedeutet. Auch in der Sphäre der Wirtschaft werden Raum und Chancen für Anerkennung geringer. Gesellschaftliche Arbeit hat in weniger qualifizierten Schichten ihren Charakter als vertraglich abgesicherte, verlässliche Einkommensquelle weitgehend verloren, die Zahl der Dauerarbeitslosen wächst, und die Zahl jener, die an einem normativ geordneten Leistungswettbewerb teilnehmen können, der Anerkennung ermöglicht, wird geringer. Die Zahl der rechtlich und ökonomisch exkludierten bzw. von Exklusion bedrohten Menschen nimmt zu. Für die Kirche verbindet sich dies mit der Verantwortung, sich an deren Seite für die soziale, rechtliche und politische Anerkennung dieser Gruppen einzusetzen. Der „Kampf um Anerkennung“ findet aber auch innerhalb der Kirche statt. Innerkirchliche Konflikte zwischen Klerikern und Laien, zwischen Kirchenleitung und Gemeinden, zwischen dem Vatikan und den Ortskirchen; Konflikte zwischen verschiedenen kirchlichen Gruppierungen, zwischen „Konservativen“ und „Progressiven“; Konflikte rund um Bischofsernennungen und Diözesanreformen sind auch als Anerkennungskonflikte zu verstehen. Dies gilt ebenso für die Auseinandersetzungen rund um die (pastorale und theologische) Aner35 Honneth/Lindemann/Voswinkel 2013 36 Vgl. Honneth 2013, 28 – 33
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kennung von Lebensformen wie z. B. wiederverheirateten Geschiedenen, unverheiratet zusammenlebenden Paaren, gleichgeschlechtlichen Partnerschaften. Gerungen wird um die theologische Anerkennung wissenschaftlicher Erkenntnisse (z. B. in der Bioethik), von vom kirchlichen Lehramt abweichenden theologischen Positionen oder von gesellschaftspolitischen Standortbestimmungen. Schließlich stehen den immer noch reichen und mächtigen katholischen Ortskirchen des Nordens die armen Ortskirchen des Südens gegenüber, deren Lebens- und Glaubenssituation ebenfalls nach Anerkennung verlangt. Die aktuellen Schwierigkeiten im Bereich der christlichen Ökumene (z. B. Anerkennung evangelischer Kirchen als Kirche) und der Ökumene mit den Religionen lassen ein weiteres Feld erkennen, in dem die Frage nach Anerkennung virulent ist. Die Kirche hat also gute Gründe, sich mit dem Anerkennungsdiskurs auseinanderzusetzen. Dies könnte ihr helfen, ihre internen und externen Konflikte besser zu verstehen. Anerkennung ist eine „Zeugenotion“37: ein Begriff, in dem sich die gesellschaftlichen und daher auch kirchlichen Probleme und Herausforderungen begrifflich verdichtet artikulieren und in dem sich zugleich eine mögliche Lösung andeutet.
4.
Was ist Anerkennung?
Anerkennung wird alltagssprachlich vor allem mit Wertschätzung, Respekt und Lob in Verbindung gebracht. Der Begriff hat dabei eine primär idealistischappellative, normative Funktion und wird zumeist auf den Bereich persönlicher Beziehungen bezogen. Der Ertrag, den ein solches Verständnis für die Pastoral (theologie) hat, ist freilich begrenzt, verstärkt es vermutlich eine ohnedies schon dominant individualisierend-normative Pastoral, die in moralisch vorbildhaften persönlichen Tugenden und zwischenmenschlichen Beziehungen den zentralen Ausdruck des Glaubens sowie den wichtigsten Schlüssel zur Lösung kirchlicher Probleme sieht. Die Forderung nach Anerkennung würde in diesem Zusammenhang im besten Fall Verhaltensveränderungen nach sich ziehen, die im schlechtesten Fall sogar taktisch für Eigeninteressen missbraucht werden könnten38 ; in jedem Fall wäre Anerkennung, so verstanden, ein schwacher und problematischer Ausdruck von Liebe und Gerechtigkeit und würde den christlichen Glauben banalisieren. Der wissenschaftliche Anerkennungsdiskurs hat demgegenüber mehr an 37 Max 1999, 5 38 Z.B. durch Wertschätzung und Lob gezielt erwünschte Glaubensformen fördern und indirekt andere abwerten; einen solche Instrumentalisierung lässt sich auch beobachten, wenn in pädagogischen Zusammenhängen Anerkennung als Mittel zur Verhaltensmanipulation oder Leistungssteigerung eingesetzt wird.
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Potential für kirchliche (Selbst)Erkenntnis zu bieten. So ermutige ich dazu, sich mit der Vielfalt der Bedeutungsdimensionen dieses schillernden Konzepts auseinanderzusetzen. Dabei kann ich hier nur erste Hinweise geben. Wie Balzer und Ricken zeigen, lässt sich der Begriff Anerkennung auf viele verschiedene Weisen definieren.39 Ihnen zufolge beschreibt er a) eine moralische, b) eine kulturelle sowie c) eine paradoxe Praxis sowie d) eine Dimension von Praktiken.40 So lassen sich mithilfe dieses Begriffes a) ethische Probleme rund um Fragen von Würde und Respekt ebenso reflektieren wie die Frage, welche Bedingungen Menschen die Erfahrung einer unbeschädigten Selbstbeziehung, eines positiven Selbstverhältnisses sowie einer intakten Identitätsbildung ermöglichen; b) Fragen rund um Differenz und Partizipation erörtern, insbesondere in kulturellen und politischen Zusammenhängen, in denen es um die rechtlichen und sozialen Ansprüche von Minoritäten in multinationalen und multiethnischen Gemeinschaften geht; c) Konstitutions- und Machtproblematiken durchleuchten, da der Begriff der Anerkennung auch Strukturen menschlichen Seins und Daseins erschließen kann; dabei zeigt sich vor allem die „Epigenesis“41 des Selbst vom Anderen her als wesentliche Erkenntnis.42 Schließlich ist Anerkennung nicht nur ein eingrenzbares Phänomen in der sozialen Welt, sondern ein Strukturmoment jeder menschlichen Kommunikation und Praxis – daher auch der Pastoral. Damit stellt sich die Frage nach der Adressierung: Wer wird von wem wie angesprochen und vor welchem (normativen) Horizont sprachlich bzw. materiell etablierter Geltungen zu wem gemacht – und mit welchen Interessen?43
39 Balzer/Ricken 2010, 39 – 38 widmen sich den Bedeutungsfacetten des Begriffes. 40 Balzer/Ricken 2010, 48 – 78; Jäggle/Krobath 2013, 13 setzt sich mit dieser Kategorisierung auseinander. 41 Balzer/Ricken 2010, 63 42 Alle drei Bedeutungen eröffnen auch der Pastoral Möglichkeiten der Selbstreflexion, z. B. a) Fördert oder behindert Pastoral ein positives Selbstverhältnis und eine intakte Identität? b) Wie steht es um das Zusammenleben mit Migranten und Migrationsgemeinden innerhalb und außerhalb der Kirche? Finden diese ausreichend soziale und rechtliche Möglichkeiten zur Partizipation vor? Werden Differenzerfahrungen als Glaubenserfahrung und konstitutiv für den Prozess der Ekklesiogenese wahrgenommen? c) Wird in der Pastoral berücksichtigt, dass Menschen auch den eigenen Glauben anderen verdanken und wie wird dies systematisch und strukturell sichtbar? 43 In Anlehnung an Balzer/Ricken 2010, 73; ins Pastorale gewendet z. B.: Wer wird von wem als gläubig oder ungläubig, katholisch oder nicht-katholisch bezeichnet? Welche Zuschreibungen verbinden sich mit den Begriffen Kleriker und Laien? uvm.
Anerkennung: Eine Herausforderung für Kirche und Pastoral
5.
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Spannungsfelder rund um Anerkennung
Im Folgenden konzentriere ich mich auf drei Spannungsfelder, die sich angesichts der Bedeutungsvielfalt des Begriffes der Anerkennung ergeben. Ich versuche, exemplarisch Anknüpfungspunkte zu pastoraltheologischen Fragestellungen im Horizont einer Pastoral von Liebe und Gerechtigkeit zu erarbeiten. Dabei verzichte ich auf eine eindeutige Definition von Anerkennung. Auch bei Martin Jäggle habe ich eine solche nicht gefunden. Dies könnte durchaus absichtlich der Fall sein, um die kritische Auseinandersetzung mit einem polysemen, ambivalenten Begriff nicht vorschnell definitorisch abzubrechen und für Reflexion offenzuhalten. Ich verstehe den Begriff dabei als hermeneutische Kategorie, die für die Pastoral wichtige Fragen identifizieren und eine orientierende Handlungsperspektive bereitstellen kann. Denn im Zentrum steht eine differenzierte Wahrnehmung von Beziehungen – sowohl auf personaler als auch auf struktureller Ebene innerhalb der Kirche und im Blick auf die Beziehungen zwischen Kirche und Gesellschaft.
5.1.
Anerkennung, Beziehungen und Wahrheit
Anthropologie und Psychologie44 lehren, dass Anerkennung unverzichtbar ist für die Entwicklung personaler Identität und unbeschädigter intersubjektiver Beziehungen. Anerkennung ermöglicht Identitätsbildung. Zugleich müssen sich Menschen mit den vorgefundenen Kriterien für Anerkennung auseinandersetzen.45 Sozialen Beziehungen und deren Qualität sowie dem Lebensraum, in dem sich diese entwickeln, kommt daher eine konstitutive Bedeutung für das Mensch-Werden zu. 5.1.1 Sphären der Anerkennung Es ist insbesondere das Verdienst Axel Honneths, eine Ethik der Anerkennung46 entwickelt zu haben, die auch der Kirche helfen könnte, ihre internen und externen Anerkennungsstrukturen zu reflektieren, in denen sich Identität und zwischenmenschliche Beziehungen bilden. Der interne Strukturzusammenhang zwischen Selbstverwirklichung und positiver Selbstbeziehung einerseits und wechselseitiger Anerkennung andererseits bildet dabei den heuristischen 44 Vgl. Todorov 1996 (1995); vgl. auch den Beitrag von Helga Kohler-Spiegel in diesem Band. 45 Vgl. Jäggle/Krobath 2013, 11 46 Kompakt dargestellt bei Balzer/Ricken 2010, 48 – 52
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Schlüssel zum Verständnis der normativen Dimension von Anerkennung.47 Anerkennung bildet die ethische Basis in jenen drei Sphären, die Honneth als zentral im „Kampf um Anerkennung“48 identifiziert. Als erste Sphäre nennt Honneth den Raum der Primärbeziehungen wie Liebe und Freundschaft, in denen subjektive Bedürfnisse und Affekte anerkannt werden. Das klingt für pastoraltheologische Ohren selbstverständlich. Aber wenn man an jene unzähligen Konflikte, Probleme und Lebensformen denkt, die nicht den Vorstellungen des kirchlichen Lehramtes entsprechen, erkennt man rasch, dass auch innerkirchlich die Sphäre von Liebe und Freundschaft keinesfalls selbstverständlich ein Ort der Anerkennung ist. Wie viel unsichtbares Leid lässt sich in den Biographien von Gläubigen finden, deren Erfahrungen öffentlich nicht zur Sprache kommen dürfen, weil sie kirchlichen Normen widersprechen – wiederverheiratete ReligionslehrerInnen, unsichtbare Partnerinnen von Priestern, homosexuelle Priester usw.? Welche Folgen hätte es für Kirche und Theologie, in diesen Fragen den Anerkennungsdiskurs ernst zu nehmen? Könnte Anerkennung in dieser Sphäre dazu beitragen, kirchliche Ethik und Moral menschengerechter zu reformulieren? Was könnten umgekehrt der christliche Glaube oder das kirchliche Lehramt zu einer kritischen Vertiefung des Anerkennungsdiskurses beitragen? In der zweiten Sphäre, der Sphäre von Wertgemeinschaften bzw. Solidarität, werden spezifische Fähigkeiten und Eigenschaften von Individuen bzw. ihre jeweiligen Leistungen anerkannt. Hier könnte man aus pastoraltheologischer Sicht z. B. fragen: Wie steht es um die Anerkennung von Glaubens- und Kirchenerfahrungen von Laien in der Kirche? Welche Rolle spielen diese bei der Generierung von Theologien, lehramtlichen Stellungnahmen oder Pastoralkonzeptionen? (Wie) Werden religiöse Erfahrungen von Menschen, die nicht zur Kirche gehören, als relevant für die Theologie oder die Ekklesiogenese anerkannt? Wie können marginalisierte Gruppen in Kirche und Gesellschaft ihre Begabungen in Theologie und Pastoral einbringen, ihre Erfahrungen mitteilen – Kinder und Jugendliche, Arbeitslose, Gefangene, Obdachlose, kranke und alte Menschen, Migranten, … usw.? Setzt sich die Kirche ausreichend ein für diese Gruppen – auch für ihre gesellschaftliche und kirchliche Teilhabe? In der dritten Sphäre, der Sphäre der Rechtsverhältnisse, wird die moralische Zurechnungsfähigkeit von Personen anerkannt. Könnte man nicht das Kirchenrecht einmal unter dieser Perspektive gegen den Strich lesen? Berücksichtigt dieses die moralische Zurechnungsfähigkeit von Menschen ausreichend? Nimmt die Kirche überhaupt wahr, dass ihre internen Rechtsverhältnisse und Strukturen eine fundamentale Rolle dabei spielen, ob und wie Menschen 47 Vgl. Balzer/Ricken 2010, 51 48 Honneth 1992
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Selbstachtung und Würde erfahren und unbeschädigte intersubjektive Beziehungen entwickeln können? Die herausfordernde Frage, wie es um die Sphäre der Beziehung zu Gott bestellt ist, die aus theologischer Sicht hier zu ergänzen wäre – als Dimension, die in allen Sphären präsent ist – lässt sich hier nur andeuten. Wie müssten die Sphäre von Liebe und Freundschaft, die kirchliche Werte- und Solidargemeinschaft und kirchliche Rechtsstrukturen gestaltet sein, dass sich Menschen von Gott anerkannt erfahren können und Gott ihrerseits anerkennen können?
5.1.2 Intersubjektivität sozialer Beziehungen Noch komplexer wird die Frage nach den Beziehungen in der Kirche und zwischen Kirche und Welt angesichts der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis von der „Interpretativität des Sozialen“49. Was ist damit gemeint? Menschliche Beziehungen sind nicht nur psychische oder geistige Realitäten, sondern verwirklichen und manifestieren sich als solche wesentlich in sozialen Handlungen. Das soziale Handeln und dessen Bedeutung wiederum ist komplex und konstitutiv eingebettet in verschiedene Relevanzstrukturen. Es unterliegt ständiger Interpretation. „Wir interpretieren beständig die Äußerungen und Handlungen der anderen uns (aber auch Dritten) gegenüber und passen beständig die Standortbestimmungen an das an, was gerade ,der Fall‘ sein könnte.“50
Je nach Perspektive bzw. Bestimmung des Kontexts gewinnen Handlungen ihren je spezifischen Sinn und damit auch verschiedene Bedeutung für die beteiligten Subjekte. Das Geschehen zwischen Menschen ist unhintergehbar interpretativ. Sinn und Bedeutung sozialer Handlungen oder Äußerungen erschließen sich nicht unmittelbar und lassen sich niemals letztgültig bestimmen. Sie lassen sich nur über die Perspektivität sozialer Interaktion in Kommunikationsprozessen erheben. Das bedeutet nicht, dass es keine Normen, Regeln oder Erwartungen gibt oder geben darf. Aber weil eben niemand in der autoritativen Position ist, über das Gelingen oder Misslingen von Kommunikation zu entscheiden oder die „Normalität“ von Handeln und dessen Sinn normativ zu definieren, müssen sich Menschen ständig in sozialen Interaktionen – „Beziehungen“ – bemühen, Sinn und Bedeutung zu erschließen, Grenzen zu errichten oder zu überschreiten, Regeln zu formulieren oder ihnen Geltung zu verschaffen. Sozialen Situationen wohnt deshalb das Moment der Ungewissheit unaufhebbar inne. Was „der Fall ist“, ist nicht immer automatisch evident und es gibt auch keinen übergeord49 Vgl. zum folgenden Schäfer/Thompson 2010, 19 ff. 50 Schäfer/Thompson 2010, 19
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neten Beobachterstandpunkt. Dieser Unbestimmtheit des Sozialen ist auch nicht durch die Verpflichtung auf ein Allgemeines – wissenschaftliche Erkenntnisse, universale Regeln, absolute und/oder religiöse Wahrheiten oder Werte – beizukommen. Das Allgemeine muss sich immer auf eine Situation beziehen und deckt diese nicht ab. Soziale Interaktion ist also wesentlich intransparent: „Reaktionsmuster, Handlungsformen, Normalitätserwartungen bestehen nicht an und für sich“51. Dies wird auch durch den Appell an Anerkennung, durch die man einander Verlässlichkeit ermöglichen soll, nicht aufgelöst. Die Ungewissheit des Sozialen lässt Anerkennung als affirmative, bestätigende Praxis fragwürdig werden. Das Verkennen – nicht als Missverständnis oder Fehler – sondern als Unmöglichkeit, die eigene Position oder die des anderen vollständig zu erfassen, wird unvermeidlich. Für pastorale Verantwortungsträger kann diese Erkenntnis eine empfindliche Kränkung sein. Sie verfügen nicht über die Autorität, Sinn und Bedeutung des christlichen Glaubens anderen gleichsam normativ zu erklären oder gar vorzuschreiben. Auch die pastorale Praxis – Verkündigung und Katechese, liturgisches und diakonales Handeln – unterliegen der Interpretation der Menschen, Gläubiger wie Nicht-Gläubiger. Sinn und Bedeutung des christlichen Glaubens können auch in der Pastoral nur kommunikativ erschlossen werden und hängen eng mit Rezeptions- und Situationskontext zusammen. Selbst das kirchliche Lehramt kann nicht darüber verfügen, ob und wie es interpretiert wird. Der Appell, die universale Wahrheit des Christentums anzuerkennen und dem kirchlichen Lehramt gegenüber gehorsam zu sein, wird da wenig helfen: Differenz und Konflikte werden so nur verschleiert oder unterdrückt und kommen in ihrer Produktivität für das Lernen und Verstehen des Glaubens nicht angemessen in den Blick. Eine Kirche, die meint, die Interpretativität des Sozialen ignorieren zu können, kann nur auf institutionelle Macht zurückgreifen – und unter zeitgenössischen Freiheits-Bedingungen wird sie dabei Menschen verlieren. Angesichts der Unbestimmtheit des Sozialen und der Möglichkeit des Verkennens glauben zu lernen, wird für eine machtgewöhnte Kirche zur pastoralen Herausforderung. Pastorale Verantwortungsträger sind nicht (mehr) in der „starken Gestaltungsposition“ und ihre Möglichkeiten, Menschen in Lebensund Glaubensfragen „dort abzuholen, wo sie stehen“, sind begrenzt52 – auch wenn man noch so intensiv die Bedürfnisse und Besonderheiten „pastoraler Adressaten“, z. B. durch die Milieu-Studien, kennt. Auch die Hoffnung, durch Authentizität und Transparenz, z. B. persönlicher Glaubenszeugnisse, Menschen für den Glauben gewinnen zu können, wird enttäuscht. Das Wissen und Verstehen des Anderen lässt sich niemals von der je eigenen Perspektive abziehen, 51 Schäfer/Thompson 2010, 20 f. 52 Ähnlich wie bei Pädagogen, vgl. Schäfer/Thompson 2010, 21
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ebenso wenig die Eingebundenheit in eine konkrete Situation. Anerkennung als Ideal zu verstehen, führt angesichts der Interpretativität des Sozialen also nicht sehr weit. Kein Weg führt daran vorbei, sich auf der Basis von Anerkennung den Chancen und Risken zwischenmenschlicher Kommunikation auf Augenhöhe auszusetzen, im Wissen, dass Verkennen ein notwendiges Element dabei ist. Anerkennung lässt die Beziehungen zwischen Menschen also keinesfalls einfacher werden, sondern legt ihre Komplexität und Abgründe überhaupt erst frei. Aber wird so die theologische Würde von Beziehungen nicht überhaupt erst und viel deutlicher sichtbar : wenn Menschen einander nicht – und sei es durch Verständnis – vereinnahmen können? Bekommt der Glaube, dass Gott die Liebe ist, dadurch nicht einen konkreten, praktischen Sinn – weil die Liebe jene Kraft ist, in der das Verkennen einen Platz haben kann? In menschlichen Beziehungen können Gottes Liebe und Gerechtigkeit erfahrbar werden. Sie sind nicht nur eine Folge der Liebe zu Gott, sie sind als solche Orte bzw. das Medium, in denen sich Gott ereignen kann. Wenn sie auch nicht ident sind mit der Beziehung zu Gott, sind sie doch die herausragenden Orten, in denen auf Gott verwiesen werden oder dieser aufleuchten kann. Dass sich menschliche Beziehungen daher dem Zugriff entziehen und ihr Verständnis der Interpretation bedarf, ist dann mehr als naheliegend. Anerkennung kann in diesem Zusammenhang bedeuten, die Unverrechenbarkeit des Menschen ebenso wahrzunehmen wie die Uneinnehmbarkeit Gottes. Die interpretative Kraft von Menschen könnte doch dann als Ausdruck ihrer Würde vor Gott erkannt werden, der sie mit Geist begabt hat, damit sie ihn in Freiheit erkennen und lieben können? Beziehungen und die ihnen korrespondierende Praxis in allen LebensSphären haben so gesehen eine fundamentaltheologische Bedeutung. Sie haben eine gnoseologische Funktion für die Gotteserkenntnis. Die Anerkennungspraxis in den Sphären Liebe, Solidarität und Recht hängt daher eng mit der Frage nach der Erkenntnis der Wahrheit des Glaubens zusammen. Diese Wahrheit erschließt sich aus biblischer Sicht in Geschichte und Gesellschaft – basierend auf der Glaubenserfahrung, dass Gott den Menschen treu zur Seite steht. Anerkennung, Kommunikation und Partizipation in allen Lebensbereichen sind daher nicht nur zeitgemäße pastorale Methoden, sondern theologisch elementar für die Bildung von Glaube und Kirche. Wer gehofft hat, durch moralisch konnotierte Anerkennungs-Praxis pastorale Beziehungen verbessern und Menschen für die Kirche gewinnen zu können, wird enttäuscht sein. Denn möglicherweise muss die Kirche in einem ersten Schritt überhaupt erst schmerzvoll erkennen, dass sie in den Sphären von Liebe, Solidarität und Recht, innerhalb wie außerhalb, der Anerkennung von Menschen und deren Erfahrungen zu wenig Aufmerksamkeit zollt und vielleicht sogar die
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theologische Würde menschlicher Beziehungen und sozialer Praxis unterschätzt. Aber ermöglicht vielleicht diese Enttäuschung eine tiefere Weise, nach Gott zu fragen?
5.2
Anerkennung und Macht
Das Phänomen der Anerkennung ist zuinnerst verbunden mit Macht. Anerkennungspraxis findet immer in sozialen Zusammenhängen statt, die vorgegeben sind und die sich der Einzelne nicht ausgesucht hat. Das gilt auch für pastorale Zusammenhänge. Das Handeln der Kirche vollzieht sich in gesellschaftlich-kulturell-politischen Zusammenhängen. Innerhalb der Kirche finden sich soziale, kulturelle, rechtliche und religiöse Vorgegebenheiten, denen sich auch die Gläubigen nicht entziehen können. Das Leben und Lernen des Glaubens vollzieht sich in Macht-Zusammenhängen. 5.2.1 Anerkennung und Unterwerfung Nach Judith Butler53 suchen Menschen nach Anerkennung der eigenen Existenz angesichts von Kategorien, Begriffen und Namen, die sie selbst nicht hervorgebracht haben. Sie suchen nach Zeichen ihrer Existenz außerhalb ihrer selbst – in Diskursen, die zugleich dominant und indifferent sind. Es gibt keine Existenz ohne Unterordnung, ohne Unterwerfung, und jede Subjektwerdung hat ihren Preis. Dieser Prozess vollzieht sich nach Butler keinesfalls deterministisch. Normen, Regeln, Lehren werden nicht einfach übernommen. Die vorgegebene Macht existiert nicht einfach; ohne Einfluss auf die Personen und ohne deren Reaktualisierung kann sie gar nicht wirken. Personen setzen sich mit dieser Macht, von der sie abhängig sind, auseinander. Sie ringen dabei um Anerkennung, weil sie diese brauchen und begehren. Damit ist der Prozess der SubjektWerdung grundsätzlich unabschliessbar. Das gilt auch in Fragen des Glaubens: Auch die Subjekte der Kirche existieren nicht immer schon, sondern werden erst solche, indem sie sich Bedingungen unterwerfen, die sie nicht gemacht haben. Der Prozess des Glaubens-Lernens ist so gesehen auch ein Ringen um Anerkennung in der Auseinandersetzung mit vorgegebenen Institutionen, Lehren, Kulturen des Glaubens. Wie wäre die Macht-Dimension der Kirche so zu gestalten, dass die hier beschriebene Unterwerfung keine gewaltvolle und keine unter die Kirche ist, sondern die freie Anerkennung Gottes zum Leitmotiv hat? 53 Vgl. zum Folgenden Butler 1997
Anerkennung: Eine Herausforderung für Kirche und Pastoral
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An einigen Beispielen sei erläutert, wie sich diese Problematik konkret zeigen kann. Da ist z. B. eine Bibelrunde, die regelmäßig gemeinsam die Schrift auslegt. Aufgrund unterschiedlicher Bildungsniveaus, sprachlicher Ausdrucksvermögen oder theologischer Kenntnisse sowie schlichtweg diverser Lebenserfahrungen werden dabei nicht alle Teilnehmer die gleichen Erkenntnismöglichkeiten haben. Es werden auch nicht alle den gleichen Wahrheitsanspruch für ihre Interpretation geltend machen können oder wollen. In einer Gesellschaft der Experten wird zudem den hauptamtlichen Theologen mehr Deutungskompetenz zugeschrieben werden. Wie verträgt sich diese Situation mit der Vorstellung, dass kraft der Taufe alle Gläubigen einen Zugang zur Bedeutung der Schrift haben können und die Erkenntnisse aller Gläubigen für die Kirche relevant sind? Wie kann sich diese Glaubensüberzeugung in einem Raum, in dem es MachtUnterschiede der Deutungskompetenz gibt, zum Ausdruck bringen, ohne dass dabei der Beliebigkeit der Deutungen Vorschub geleistet wird?54 Bei einer kirchlichen Veranstaltung werden die anderssprachigen Gemeinden einer Diözese von der Moderatorin als Migrationsgemeinden vorgestellt.55 Im Anschluss daran stellt sich heraus, dass sich viele Gemeindemitglieder in dieser Bezeichnung nicht wiederfinden. Sie signalisiert ihnen, dass sie nicht zur Diözese gehören und „Fremde“ sind. Während sich die Moderatorin für die kulturelle Differenz sensibel erweisen wollte, fand in der Wahrnehmung der Betroffenen die Etablierung einer exkludierenden Diskriminierung durch eine Vertreterin der Ortskirche statt. An diesem Beispiel zeigt sich, dass die Machtproblematik besonders dort virulent wird, wo sich Pastoral im Kontext von Praktiken der Marginalisierung und Missachtung, z. B. von MigrantInnen, bewegt. Die Moderatorin agiert im Namen der Anerkennung, verschärft aber als Vertreterin der mächtigeren Mehrheit die Problematik. Eine Religionslehrerin verliert den Glauben. Sie findet aber für ihre schwierige Situation gute Lösungen. So erzählt sie den älteren Schülern von ihrer Situation. Bei den jüngeren Schülern spricht sie nicht mehr im „Wir“-Modus, sondern erzählt den Kindern, „dass Christen glauben (…)“.56 In einer Vorlesung, in der ich dies erzählte, fand daraufhin eine heftige Diskussion darüber statt, ob jemand, der den Glauben verliert, weiterhin einen kirchlichen Beruf oder ein kirchliches Amt ausüben kann oder darf. Welchen Glauben muss jemand haben, um ein kirchliches Amt ausüben zu dürfen? Wie viel Platz dürfen religiöse Zweifel und Krisen bei „professionellen Christen“ haben? Die Religionslehrerin 54 Womit nicht gesagt ist, dass Experten zwangsläufig die angemessenere Deutung haben. 55 Die Moderatorin war ich selbst. 56 Dies geht auf ein Interviewtranskript von Martin Jäggle zurück, das ich in einer meiner Vorlesungen verwende.
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hatte, wie sie später erkannte, den Glauben an einen „Westentaschengott“ verloren und den Glauben an den „ganz anderen“ Gott gewonnen. Wer darf mit welchen Gründen wem aberkennen, ein gläubiger Mensch zu sein? Alle Beispiele verweisen auf die gern übersehene Machtproblematik innerhalb der Kirche. Die Sensibilität für diese Dimension von Anerkennung ermöglicht der Kirche, Dynamiken von Zuschreibungen und allgemein die Repräsentationen von Akteuren in pastoralen Zusammenhängen zu analysieren und zu problematisieren – ohne dabei die Illusion zu haben, diese ließen sich durch Redlichkeit gänzlich auflösen. 5.2.2 Anerkennung und Konstitution Anerkennung stützt und unterstützt nicht nur Selbstverständnisse und Weltverhältnisse (oder Kirchenverhältnisse), sondern bringt diese auch hervor bzw. verändert sie. Anerkennung hat einen konstitutiven Charakter für das Menschsein. Darin besteht ihre Macht. In der Auseinandersetzung mit Hegels Paradoxon der Anerkennung hat die Psychoanalytikerin Jessica Benjamin57 dies herausgearbeitet. Anerkennung ist ihr zufolge nicht nur notwendig für das Selbstwertgefühl, sondern bezieht sich grundsätzlich auf das Gefühl, ein Selbst zu sein. Erst durch die Anerkennung der Anderen kann das Eigene als sinnvoll erlebt werden. Anerkennung vollzieht sich dabei im Spannungsfeld zwischen zwei Polen: a) zwischen der Selbstbehauptung, d. h. dem Bedürfnis danach, sich selbst als unabhängige, autonome Urheberin des eigenen Tuns erleben zu können, im eigenen Tun als selbständig anerkannt zu werden und dabei ein Selbst werden zu können – und b) dem Streben, zugleich von einem anderen anerkannt zu werden, der sich selbst als unabhängiges Selbst erweist. Differenz zwischen Menschen ist daher konstitutiv für diese Spannung: Nur wenn der andere nicht bloß die Ausweitung des eigenen Selbst ist, ist eine solche Anerkennung überhaupt möglich. Anerkennung geschieht als Prozess zwischen Selbstbehauptung und dem Streben nach Anerkennung durch den Anderen. Wird diese Spannung aufgelöst oder bricht zusammen, verwandelt sich die Macht, die diesem Geschehen innewohnt, in Gewalt und Unterdrückung des einen durch den anderen. Die paradoxale Logik der Anerkennung besteht darin, zugleich ein Streben nach dem Selbst und nach dem Anderen zu sein. Dieses Strukturmoment ist konstitutiv für die menschliche Existenz. Unabhängigkeit gibt es nur, weil und indem es eine vorgängige, bezogene Abhängigkeit vom Anderen gibt. Zugleich gibt es Anerkennungsformen, die das Selbst beeinträchtigen und schädigen können, wenn die Unabhängigkeit aberkannt wird. Aus dieser Sicht vollzieht sich Anerkennung als „Doppel von Bestätigung und 57 Vgl. Benjamin 1993 (1988)
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Versagung“58. Sich dem anderen entziehen, ihm etwas versagen oder ihm zu widerstreiten ist nicht das Gegenteil von Anerkennung, sondern genauso wie die Bestätigung ein notwendiges Element von Anerkennung. „Anerkennung erschöpft sich nicht in affektiver, wohlwollender und wertschätzender Zustimmung, sondern umfasst auch kognitive Akzeptierung und impliziert notwendigerweise Versagung und Negation.“59 Konflikte und Kampf, die sich damit verbinden, sind Elemente der Anerkennung. Für das pastoral mehrheitlich vorfindbare Verständnis von Liebe und Gerechtigkeit können diese Erkenntnisse eine heftige Irritation bedeuten. Selbstbehauptung, Kampf, Konflikte, Widerstand und Versagung gelten zumeist nicht als Ausdruck, sondern als Gegenteil von Liebe. Das Anerkennungsverständnis von Jessica Benjamin ermöglicht es der Kirche, Konflikte aus einer tieferen Perspektive wahrnehmen zu lernen. Kircheninterner Widerstand muss dann nicht per se als Illoyalität und Verrat an der Liebe, sondern könnte sogar als Ausdruck von Liebe und Streben nach Gerechtigkeit wahrgenommen werden. Kritik an der Kirche von außen könnte als Ausdruck von Anerkennung der Kirche und Streben nach Anerkennung durch die Kirche gelesen werden. Die Erkenntnisse Jessica Benjamins lassen weiters fragen: Wie hält es die Kirche mit dem Streben ihrer Gläubigen nach einem unabhängigen Selbst? Und berücksichtigt sie in ihrer Pastoral, wie sehr Menschen in ihrer Selbstwerdung – auch im Glauben – einander brauchen? Der Theologie sind die Beziehungs- und Machtdynamiken, die Butler und Benjamin beschreiben, keinesfalls fremd. Menschen sind konstitutiv aufeinander angewiesen und miteinander verbunden, unabhängig davon, ob sie dem zustimmen oder nicht. Dieser zwischenmenschliche „Verflechtungszusammenhang“60 – die konstitutive Relationalität des Menschen – obliegt nicht der persönlichen Entscheidung, er ist vorgegeben. Diese Erfahrung ist Grundlage einer biblischen Anthropologie. Auch an der fundamentalen Bedeutung, die die Gemeinschaft für den Glauben hat – sei es die alttestamentliche qahal oder die neutestamentliche ekklesia – spiegelt sich diese existenzielle Bezogenheit wider. Die menschliche Gemeinschaft ist der vorgegebene Raum, in dem Menschen miteinander leben und leben müssen. Die jüdische bzw. christliche Gemeinde kann auch als Versuch wahrgenommen werden, im Rahmen dieser Vorgegebenheit im Horizont des Glaubens zu lernen, einander und Gott anzuerkennen, d. h. diese Vorgegebenheit aus dem Glauben heraus zu gestalten. Denn aus theologischer Sicht ist auch die Beziehung zu Gott für den Menschen eine vorgegebene: Er kann sich zu ihr frei verhalten, sie anerkennen oder ablehnen; aber 58 Balzer/Ricken 2010, 65 59 Balzer/Ricken 2010, 65 60 Elias 2001 (1987)
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er kann sie als solche nicht folgenlos negieren. Die biblische Anthropologie weiß auch – wie die psychoanalytischen Anerkennungstheorien –, dass die in diesem Lernprozess größte Herausforderung der Umgang mit Macht ist. So ist die Sünde bereits im Alten Testament als Gewalt beschrieben (Gen 6,11), zu der Macht mutiert, wenn Menschen einander und Gott nicht anerkennen. Die Bibel lässt sich demnach auch lesen als Lernprozess, wie mit Macht menschlich umgegangen werden kann. Wie ein roter Faden zieht sich die Kritik an inhumaner Machtausübung und damit verbundener Gewalt von Menschen gegenüber Menschen durch die Heilige Schrift. Mit der Umdeutung von Macht als Dienst, den lebensförderlichen Machterweisen durch Dämonenaustreibungen und Heilungen, der Ohnmachtspraxis und dem Kreuzestod des Jesus von Nazareth wird eine alternative Logik der Macht erkennbar, die eine bleibende Herausforderung für die Praxis der Kirche ist. Die säkularen Anerkennungstheorien können dabei helfen, die damit verbundenen Dynamiken im Kontext der Gegenwart konkret zu benennen. 5.2.3 Macht als Lebensermöglichung Menschen benötigen einen vorgegebenen Raum, um sich in und mit ihm auseinanderzusetzen. In diesem Sinn kann vorgegebene Macht auch lebensförderlich und sogar notwendig sein, um Mensch zu werden. Judith Butler hat auch auf diese Facette der Macht aufmerksam gemacht.61 Es geht nicht nur um eine selbstbezogene Sehnsucht nach Anerkennung, sondern auch um die Sehnsucht nach dem Anerkanntwerden durch die Anderen. Der Mensch ist ein ex-statisches Selbst: Er ist grundsätzlich von sich selbst entfernt und genügt sich nicht selbst. „Sehen wir der Tatsache ins Gesicht. Wir werden von dem jeweils anderen zunichte gemacht. Und wenn nicht, fehlt uns etwas.“62 Was Butler hier beschreibt, ist eine Erfahrung, die Menschen im Kampf um Gerechtigkeit, aber auch in der Liebe immer wieder machen können: Es ist ein Ringen und ein Kampf, sich vom Anderen das eigene Selbst geben zu lassen – und beides geht nicht ohne Verwundungen vonstatten. Es sind ja gerade die Erfahrungen von Unterwerfung, die Menschen dazu veranlassen, um Anerkennung zu kämpfen. Die spirituelle Dimension, an die man sich dabei erinnert fühlen mag, kann hier nur angedeutet werden. Die Erzählung vom Kampf Jakobs bei Penuel, das Ringen Hiobs mit Gott, aber auch viele Biographien von christlichen Mystikern beschreiben Erfahrungen der Unterwerfung, die in der Auseinandersetzung mit der Macht Gottes möglicherweise konstitutiv dafür sind, Gott in Situationen des Lebenskampfes als den je Größeren erkennen und solcherart lieben zu lernen. 61 Vgl. zum Folgenden Balzer/Ricken 2010, 67 – 70 62 Judith Butler, zitiert nach Balzer/Ricken 2010, 69
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Wo finden sich allerdings in der Pastoral Raum und Zeit für solche Erfahrungen und vor allem kompetente Personen, die bereit sind, sich ihnen gemeinsam mit anderen zu stellen? 5.2.4 Pastoraltheologische Folgerungen Damit bin ich bei der Frage nach den Folgerungen, die sich aus dieser Sicht von Anerkennung für die Pastoral ergeben. Die Wahrnehmung von Anerkennung als „Ort der Macht“63 ermöglicht der Kirche, sensibler zu werden für die konstituierende Macht ihrer internen Normen, Begriffe, Kategorien und Regeln sowie ihrer internen Kultur und Struktur. Diese können lebensförderlich und lebenszerstörend sein. Ausgangspunkt ist die Erkenntnis der Epigenesis des Selbst vom Anderen her, die aus theologischer Sicht auch das Werden des Selbst von Gott her umfasst. Eine Pastoral der Liebe und Gerechtigkeit wäre dann eine, in der das Handeln auf allen Ebenen der Kirche zuallererst dazu diente, Menschen dabei zu begleiten, dass sie Gott und einander anerkennen lernen – in der Weise, wie die Verfasser der Bibel die Liebe und Gerechtigkeit Gottes als heilend und erlösend für den Menschen erfahren haben. Die Institution der Kirche und ihre Strukturen müssten sich danach bemessen lassen, ob sie diesem Ziel dienen. Die Praxis, die sich damit verbindet, wäre im Horizont der Anerkennungsmodelle von Butler und Benjamin eine, die das Streben nach Selbstbehauptung und nach der Anerkennung durch den Anderen in Spannung hält. Bestätigung, Fürsorge, Bewahrung, Unterstützung, Verantwortung füreinander auf der einen Seite, Förderung, Ermutigung zu Eigenverantwortung, aber auch Versagung und Negation auf der anderen Seite, die Fähigkeit zu Konflikt und Widerspruch gehören dabei untrennbar zusammen. Eine so verstandene Pastoral wird Menschen fördern und fordern, bewahren und zur Bewährung ermutigen und erkennt in Konflikten und Spannungen Wachstumsmöglichkeiten. Weil eine solche Praxis paradox ist und nicht eindeutig festlegbar ist, wäre dies auch ein Anlass, sich der kirchlichen Machtverhältnisse immer wieder neu zu vergewissern: Dienen sie der Entwicklung eines autonomen Selbst, das sich zugleich von Gott und den anderen bilden lässt? Was hieße ein solches Verständnis für Leitung in der Kirche? Wie könnte sich das Verhältnis zwischen Klerus und Laien verändern? Wie könnten Prozesse der Entscheidungsfindung in der Kirche aussehen? Welche produktive Rolle könnten dabei Konflikte und Kampf spielen? Wie sähen katechetische Prozesse in einer Logik der Anerkennung aus? Wie könnte sich das Verhältnis zu jenen gestalten, die außerhalb der Kirche stehen – insbesondere zu den Skeptikern und Kritikern? 63 Judith Butler, zitiert nach Balzer/Ricken 2009, 69
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Eine Kirche, die die paradoxe und konstitutive Logik der Macht erkennt und gestaltet, könnte zugleich selbstbewusster und bescheidener werden. Sie könnte sich der lebensgestaltenden Möglichkeiten innewerden, die die ihr vorgegebenen Traditionen bergen und einen Raum eröffnen, in der sich in Auseinandersetzung mit diesen Glauben bilden kann. Zugleich könnte sie lernen, dass sie Menschen nicht im Glauben formen oder gar festlegen kann; ohne die Dynamiken von Anerkennung zu respektieren, bergen Versuche dieser Art Gewalt. Die Kirche könnte auch erkennen, wie sehr sie selbst der Anerkennung der Anderen ihrer selbst bedarf, um sie selbst zu werden und den ihr geoffenbarten Glauben „tiefer erfassen, besser verstehen und angemessener verkünden“ (vgl. GS 44) zu können. Die Auseinandersetzung mit der Machtfrage ermöglicht es ferner, sich des Zusammenhangs von Sozialität und Individualität in Kirche und Gesellschaft bewusst zu werden und Macht im Sinne jener Liebe und Gerechtigkeit gestalten zu lernen, für die der Glaube einsteht. Sie könnte sich vom Ideal verabschieden, ein perfektes Vorbild sein zu müssen und stattdessen gemeinsam mit anderen lernen, den eigenen Macht-Raum als einen zu gestalten, in dem Menschen einander und Gott anerkennen lernen.
5.2.5 Gott anerkennen Offen bleibt die Frage: Was bedeutet die Macht Gottes im Horizont der menschlichen Sehnsucht nach Anerkennung? Dürfen sich Menschen auch gegenüber Gott behaupten? Im Judentum ist es erlaubt, mit Gott zu streiten.64 Warum nicht auch im Christentum? Und: Ist dies ein „Kampf um Anerkennung“? Hier könnten die Überlegungen Paul Ricoeurs weiterführen, der einer Wahrnehmung von Anerkennung primär als Kampfgeschehen skeptisch gegenübersteht, weil dieser immer auch machthungrig, gewaltförmig und unersättlich werden kann.65 Nach Ricoeur ist der Kampf um Anerkennung dann kein „schlechtes Unendliches“, wenn der Austausch von Gaben zwischen Verschiedenen und die damit verbundene Dankbarkeit füreinander dessen Motivation bildet.66 Der Wunsch, die eigenen Gaben zu verschenken und die des Anderen zu empfangen, schützt das Streben nach Anerkennung vor Machthunger und Gewaltförmigkeit. Wäre, was für die Beziehungen zwischen Menschen gilt, nicht auch in der Beziehung zu Gott eine hilfreiche Sichtweise? Ginge es im Kampf mit Gott dann vielleicht darum, seine Gaben dankbar zu empfangen, zu entdecken 64 Vgl. Elie Wiesel: „Nur in der jüdischen Tradition ist es dem einzelnen Menschen erlaubt, sich gegen den Himmel zu erheben.“, Wiesel 2008, 54 65 Vgl. Ricoeur 2006 66 Ricoeur 2006, 306
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und zu entfalten? Birgt die Dimension der Dankbarkeit, die Ricoeur ins Spiel bringt, nicht auch ein Befriedungspotential für diesen Kampf ? Auch in den Kämpfen um Anerkennung, die die Kirche im Inneren und mit der Welt führt, könnte jeweils (selbst)kritisch geprüft werden, ob die Durchsetzung von Eigeninteressen im Zentrum steht – oder ob darum gekämpft wird, dass alle Beteiligten ihre Gaben in Kirche und Welt einbringen können. Wäre der Kampf um Anerkennung dann nicht auch ein Kampf um die Anerkennung Gottes? Welche Rolle könnte dabei die Eucharistie spielen, in deren Zentrum die Danksagung und der Lobpreis Gottes stehen? Im Ringen mit Gott könnte gelernt werden, wie sehr der Mensch der Anerkennung durch Gott bedarf und dass dazu auch die Selbstbehauptung vor Gott gehört. Müssten dann aber nicht Klage, Zweifel und Streit mit Gott in Gebet, Liturgie, Gemeindealltag eine größere theologische und spirituelle Bedeutung bekommen – als konstitutiv für den Prozess des Glaubenlernens? Mystische Traditionen wissen darum, dass das Ringen mit Gott und die damit verbundene „Unterwerfung“ den Menschen in paradoxer Weise „größer“ macht – d. h. ihn ermächtigt zu einem menschlicheren Menschsein, indem er seine Grenzen und Gottes Macht bejaht. Wo sind jene Orte in der Kirche, in denen solches riskiert, erprobt, bedacht werden kann?
5.3
Anerkennung, Alterität, Alienität
Versteht man Anerkennung als intersubjektives, relationales Geschehen, das sich in den Sphären von persönlichen, gesellschaftlichen und rechtlichen Beziehungen in einer paradoxalen Logik inmitten vorgegebener Räume vollzieht, die immer auch von Asymmetrien und Macht gekennzeichnet sind, stellt sich die Frage: Welche anthropologische und theologische Bedeutung hat das AndersSein der Menschen füreinander? Wie kann Anerkennung so verstanden werden, dass man sich dem Anderen nicht verschließt und ihm gerecht wird? Denn der Andere ist zum einen derjenige, auf den man als ergänzungsbedürftiger Mensch existenziell verwiesen ist – und zum anderen als Anderer niemals vollkommen erkenn- und verstehbar. Auch wenn Menschen unhintergehbar sozial verwoben sind, entziehen sie sich zugleich und sind füreinander unverfügbar. Anders formuliert: Menschen sind einander nahe in ihrer Verwiesenheit aufeinander und gleich in ihrer Würde, unabhängige, nicht durch andere festlegbare Subjekte zu sein. Zugleich sind sie einander fern und fremd aufgrund ihrer grundlegenden Differenz voneinander. Löst man diese Spannung einseitig auf, birgt dies zwei Gefahren: die Versuchung, Differenz zu leugnen, einander der Fremdheit zu berauben und einander zu vereinnahmen – und das Risiko, Dif-
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ferenz zu einem Mittel der Zuschreibung werden zu lassen bzw. auf Differenz festzulegen. In jüngeren sozial- und geisteswissenschaftlichen Studien67 versucht man, diese Crux durch ein Verständnis von Identität zu lösen, das Identität nicht als feststehende, einheitliche oder homogenisierende Wirklichkeit begreift, das sozialen oder diskursiven Phänomenen gleichsam ontologisch essentiell zuvor liegt, sondern sich in sozialen Prozessen und durch Kommunikation temporär und kontingent bildet. Identität ist nicht selbstreferentiell, sondern entsteht in relationalen Zusammenhängen. Güte, Nachsicht, Empathie spielen dabei eine wichtige Rolle.68 Ausgangspunkt der Begegnung ist das Nicht-Wissen, das NichtKennen des Anderen sowie die Erkenntnis, dass das Verkennen des Anderen ein grundlegendes Merkmal menschlicher Beziehungen ist. Anerkennung beschreibt in einem solchen Verständnis einen Prozess, indem Menschen einander wechselseitig ihre je eigene Andersheit eröffnen. Sie zeigen einander, dass sie in dem, was sie tun und einander mitteilen, gerade nicht aufgehen. Annäherung und Distanzierung finden gleichsam zeitgleich statt. Damit wird das Anderssein aber nicht mehr kategorial und kriteriologisch faßbar. Der Andere wird zwar als „differente Quelle von Differenzen“69 zu mir anerkannt, aber die Differenz ermöglicht nicht mehr Zuschreibung. Praktisch bedeutet das, sich von einer allzu raschen, affirmativen Praxis zu lösen und den Raum des Nicht-Wissens und Nicht-Kennens des Anderen zu öffnen, in dem sich dieser zeigen kann, ohne auf das, was er zeigt, festgelegt zu werden: Es geht darum, einander nicht zu rasch zu verstehen. Martin Jäggles Überlegungen zur zentralen Bedeutung von Differenz im Kontext einer Kultur der Anerkennung verweisen in eine ähnliche Richtung. Pointiert betont er immer wieder, dass Identität überhaupt erst im Bewusstsein von Differenz entstehen kann. Differenz ist der Ermöglichungsgrund von Denken – und ich ergänze: Differenz ist der Ermöglichungsgrund von Beziehung. Die Art der Wahrnehmung und Interpretation dieser Differenz entscheidet maßgeblich über Verständnis und Qualität einer Anerkennungskultur. Differenz ist keine essentialistische Eigenschaft, auf die Menschen festgelegt werden, sondern eine Erfahrung, die Erkenntnis und Beziehung ermöglicht. Nicht die Beseitigung von Differenz ist dann Sinn und Ziel von Beziehung, um möglichst rasch das Gemeinsame zu identifizieren, sondern die Wahrnehmung von Differenz als Ermöglichungsgrund von Beziehung. Nähe und Fremdheit können dabei gleichermaßen wachsen. Hilfreich für ein angemessenes Verständnis solcher Prozesse ist die Unter67 Vgl. Schäfer/Thompson 2010, 26 – 29 68 Vgl. Schäfer/Thompson 2010, 27 69 Schäfer/Thompson 2010, 28
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scheidung zwischen Alterität und Alienität. Während das Anders-Sein der Alterität – einer von zweien zu sein – stärker auf die Verbundenheit verweist, d. h. auf den gemeinsamen Boden eines Dritten, das Menschen zueinander in Beziehung bringt und darin hält, steht beim Anders-Sein der Alienität stärker das Moment des Fremden im Zentrum, das sich in der Beziehung und Begegnung zwischen Menschen immer wieder zeigt: die Erfahrung, dass der Andere sich einem völligen Verständnis entzieht und entzogen bleibt.70 Menschen sind so miteinander auf dem Boden des gemeinsamen Mensch-Seins in der einen Welt miteinander verbunden – aber zwischen ihnen kann das Fremde erfahren werden. Dieses ist kein Objekt und auch keine Eigenschaft, sondern eine Beziehungsqualität, in der das je Eigene, Vertraute fremd wird. Ein so verstandenes Fremdes ist ein Anspruch an das Eigene, das zur Antwort verpflichtet – sich aber nicht in Vertrautheit auflösen lässt. Diese Erfahrung widerfährt einem. Man kann sich ihr aber auch bewusst aussetzen, indem man dem Anderen entsprechend Raum eröffnet. Anerkennung kann so auch heißen: Dem Fremden, das zwischen Menschen ist, bewusst Raum und Zeit einräumen und sich voneinander befremden lassen sowie gemeinsam nach dem Anspruch dieses Fremden fragen, das sich da zeigt. Diese Erfahrungen lassen sich schöpfungstheologisch nachvollziehen. Zu der Gott verdankten Würde des Menschen gehört auch die Fremdheit sich selbst und anderen gegenüber. Dem Menschen wohnt ein Geheimnis inne, das sich nicht wie ein Rätsel entschlüsseln lässt. Als Gottes Geschöpfe sind Menschen untereinander in Einheit verbunden und zugleich einander fremd. Die Sünde als Störung dieser Polarität zeigt sich darin, einander der Fremdheit zu berauben und die Anerkennung dieser Fremdheit zu verweigern. Dies gilt auch in der Beziehung zu Gott, der in Christus zugleich ganz nahe und doch ein bleibend entzogener, fremder bleibt. Wissen Gläubige, vor allem „professionelle“ Christen, nicht allzu rasch, wer und wie Gott ist? Findet der fremde Gott, der dem Menschen gegenüber fundamental different ist, Raum und Zeit in der Pastoral? Die Erfahrung, dass Nähe und Distanz in der Beziehung zu Gott und den Menschen im gleichen Ausmaß wachsen können, ist eine zutiefst mystische.71 Die Tradition hat dies die Lehre von der analogia entis genannt: Je größer die Erkenntnis Gottes, umso mehr wird bewusst, dass er der bleibend Unbekannte ist. Wahrnehmung und Anerkennung von Differenz ist nicht nur eine ethische, es ist auch eine theologisch-spirituelle Frage, denn im Erleben von Differenz kann sich Gott zeigen. Ist Anerkennung dann nicht auch eine spirituelle Praxis? Angesichts von Alterität und Alienität ließe sich erfahren, dass die Wahrheit 70 Vgl. Polak/Jäggle 2013, in Anlehnung an Gmainer-Pranzl 2012 71 Zu denken ist z. B. an die Mystikerin Marguerite Porete, die Gott den „Fern-Nahen“ (Loinpres) nennt.
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Gottes zugleich zutiefst vertraut und vollkommen fremd sein kann.72 Dem gemeinsamen Fragen nach Gott käme so eine genuin spirituelle Bedeutung zu. Wäre dies nicht die Anerkennung des Geheimnisses Gottes? Was sozialwissenschaftlich oder theologisch evident ist, ist keinesfalls selbstverständliche kirchliche Wirklichkeit: Von der Alterität und Alienität von Menschen und vom Geheimnis Gottes auszugehen und den Umgang mit Differenz als Schlüsselfrage zu identifizieren. Zugunsten des Universalen – im Appell an Einheit, Gemeinschaft, Liebe – werden Differenz und Fremdheit allzu oft als Störung erlebt und ignoriert. Vermutlich liegt dies daran, dass die Erfahrung von Differenz und Fremdheit auch mit Irritation, Schmerz, Leid und unauflösbaren Fragen verbunden sein kann. Ein Glaube, der sich primär als Trost und Heimat versteht und keine Fragen offen lässt, wird solchen Erfahrungen ausweichen. Aus der Sicht der Anerkennungstheorie gehören Irritation, Leid und Schmerz aber ebenso notwendig zum Menschsein wie Zweifel, Unsicherheit, Leid und Schmerz zu einem Glauben, wie ihn die Bibel beschreibt. Wie steht es z. B. um den Alltag in Gemeinden, um die Ehe- und Familienpastoral, um Mission und Verkündigung, um den Umgang mit anders- oder nichtreligiösen Menschen, mit MigrantInnen innerhalb und außerhalb der Kirche? Wissen viele pastoral Verantwortliche nicht zu rasch, was dem Anderen fehlt, was er braucht, wie er sein sollte? Wird Liebe nicht in der Regel mit Aufhebung von Differenz und Fremdheit gleichgesetzt? Wird im Engagement für Gerechtigkeit Differenz ausreichend berücksichtigt? Eine Praxis der Liebe und Gerechtigkeit, in der Alterität und Alienität sowie die Anerkennung von Differenz angemessen Raum finden, könnte Einstellungen, Haltungen und Werte verändern. Verkündigung, Caritas und Liturgie könnten sich selbstkritisch fragen: Bleiben in der Verkündigung Fragen offen, ja werden solche überhaupt gestellt? Lässt man sich durch jene, für die man caritativ sorgt, im Selbstverständnis, in der eigenen Lebenspraxis irritieren? Kann sich im Gottesdienst die Fremdheit Gottes zeigen? Anerkennung im Bewusstsein von Alterität und Alienität könnte Vorstellungen homogener kirchlicher Gemeinschaft oder friktionsfreier, harmonischer Einheit produktiv irritieren. Die derzeit forcierte missionarische Identitätspolitik der Kirche müsste selbstkritisch innehalten. Der Ökumene der Kirchen könnten sich neue Denk- und Praxishorizonte eröffnen. Denn Anerkennung in diesem Verständnis entlarvt die Vorstellung, man müsse zuerst eine gesicherte Identität haben und in sich völlig eins sein, ehe man sich Anderen zuwendet, als irreal. Aber wäre umgekehrt eine Praxis der Anerkennung nicht eine ausgezeichnete Möglichkeit, auf neue und vertiefte Weise zu lernen, was es bedeutet, 72 Auch Christus, in dem Gott ganz nahe gekommen ist, bleibt ein Fremder, vgl. z. B. Erga migrantes caritas Christi 15.
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eine wahrhaft katholische Kirche zu sein – eins in versöhnter Verschiedenheit und Vielfalt? Martin Jäggles wiederkehrende Fragen könnten so auch für die Kirche umformuliert werden:73 Wie nimmt sie Differenz wahr? Wie geht sie mit Diversität und Differenz um – im Inneren wie im Äußeren? Die Wahrnehmung von Differenz ist dabei nicht nur eine moralische, sondern eine eminent theologische Frage: Anerkennungspraxis ist ein glaubens- und theologiegenerativer Ort, ein locus theologicus.74 Praktisch hieße dies, nicht primär die eigene Glaubenswahrheit durchzusetzen, sondern sich dafür einzusetzen, dass auch die Wahrheit der Anderen von diesen selbst zur Sprache gebracht werden kann. Daraus folgt dann die Herausforderung, die eigene Wahrheit im Horizont der Wahrheit der Anderen zu reformulieren. Was hieße das für die Theologie in Forschung und Lehre? Welche Konsequenzen hätte dies im Umgang mit der Binnenpluralität der Kirche? Wie wäre christliche Mission zu denken und zu leben? Es gehört zu den speziellen Merkmalen im Denken Martin Jäggles, ein besonderes Augenmerk für die Verletztheit und Verletzbarkeit des Menschen zu haben.75 Diese sind nicht nur Anlass zur Fürsorge, sondern haben auch theologischen Erkenntniswert. Denn das verletzbare Subjekt ist sich nicht nur seiner eigenen Verletzbarkeit bewusst, sondern weiß auch um jene der anderen und um die Angewiesenheit auf Anerkanntsein. So geht es Martin Jäggle weniger darum, zu lernen, wie man die Anerkennung des Eigenen durchsetzt, sondern um das Ringen, den Anderen in seiner Andersheit anerkennen zu lernen – als religionspädagogisches und theologisches Anliegen.
6.
Zum Abschluss: Schmerzende Fragen
Der genuine Beitrag Martin Jäggles, in Zusammenarbeit mit Thomas Krobath, besteht darin, die Leistungsfähigkeit des polysemen Konzepts der Anerkennung in organisationstheoretische Fragestellungen für Schulentwicklungsprozesse aufzunehmen. Das Modell einer „Kultur der Anerkennung“, das beide dabei entwickelt haben, zeichnet sich vor allem durch seinen strukturellen Zugang aus. Anerkennung wird dabei nicht primär als normativ-idealisierende, individualethische „Tugend“ oder pädagogische Haltung verstanden, sondern „dezidiert als Systemqualität: als eine Organisationskultur der Anerkennung.“76 In dieser bringt sich die „unausgesprochen wirksame Gesamterfahrung, gewissermaßen 73 74 75 76
Vgl. Jäggle/Krobath 2013, 19; Jäggle/Krobath 2010, 60 Vgl. Polak/Jäggle 2012 Jäggle/Krobath 2013, 16 Jäggle/Krobath 2013, 21
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das kollektive Bewusstsein in einer Schule in verdichteter Form zum Ausdruck.“77 Jäggle spricht auch vom „Geist“78 einer Organisation. – Man muss als Theologin nicht gleich an den Heiligen Geist denken, um das Potential dieses Zugangs für die Kirche zu erkennen. Aber insofern dieser auch aus theologischer Sicht auf Strukturen und Institutionen angewiesen ist, um für Menschen wahrnehmbar zu werden79 bzw. durch menschen- und lebensfeindliche Strukturen auch entstellt werden kann, finden sich im Modell von Jäggle und Krobath zahlreiche Anknüpfungspunkte für eine Selbstreflexion der Kirche. Zu fragen wäre dann nach den „konkreten Rahmenbedingungen und Prägungseinflüssen“80 der Kirche, in denen Menschen in der und durch die Kirche leben und glauben lernen. Anerkennung ist zunächst ein anthropologisches Grundbedürfnis, aber wenn die damit verbundenen Anerkennungsprozesse zeitgenössisch primär in Organisationen stattfinden, kann sich auch die Kirche fragen, inwiefern Anerkennung eine „Systemqualität“ ihrer Organisationskultur ist:81 Prägt sie Kommunikationsformen, Entscheidungsprozesse in der Kirche? Werden von Entscheidungen Betroffene einbezogen, gehört und beteiligt, direkt oder stellvertretend? Sind diese Prozesse transparent? Gibt es Zeit, Raum und Ressourcen für organisationale Selbstreflexion? Wie wird Differenz dabei öffentlich sichtbar? Eine solche Kultur wäre auch in der Kirche heterogen und konfliktreich, würde nicht nivellieren und muss nicht glatte Lösungen erzwingen. Vielfalt und Auseinandersetzung, Differenz und Konflikt würden öffentlich sichtbar und als Potential für die Ekklesiogenese gewürdigt. Die Bildung des Glaubens und dadurch auch die Bildung der Kirche würden von solchen Anerkennungsprozessen leben. Martin Jäggle und Thomas Krobath sprechen im Zusammenhang mit Schule von organisationaler Differenzblindheit, die sich dort als Organisations-, Religions- und Menschenblindheit kennzeichnen lässt.82 Wenn ich die Kategorie Differenzblindheit ekklesiologisch weiterdenke, muss sich die Kirche am Ende vielleicht weitaus schmerzhafteren Fragen stellen: An welchen Blindheiten leidet sie? Was wäre, wenn die Kirche immer wieder an Menschenblindheit und Gottesblindheit litte?
77 78 79 80 81 82
Jäggle/Krobath 2013, 22 Jäggle/Krobath 2013, 14 Vgl. Kehl 2000 Jäggle/Krobath 2013, 14 Vgl. zum Folgenden Jäggle/Krobath 2013, 15 Jäggle/Krobath 2009
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Publikationen von Martin Jäggle zur Thematik
Jäggle, Martin/Krobath, Thomas/Stockinger, Helena/Schelander, Robert (Hg.): Kultur der Anerkennung. Würde – Gerechtigkeit – Partizipation für Schulkultur, Schulentwicklung und Religion, Hohengehren 2013 Jäggle, Martin/Krobath, Thomas: Kultur der Anerkennung in der Schule. Eine Einführung, in: Jäggle, Martin/Krobath, Thomas/Stockinger, Helena/Schelander, Robert (Hg.): Kultur der Anerkennung. Würde – Gerechtigkeit – Partizipation für Schulkultur, Schulentwicklung und Religion, Hohengehren 2013, 11 – 33 Jäggle, Martin/Rothgangel, Martin/Schlag, Thomas (Hg.): Religiöse Bildung an Schulen in Europa. Teil 1: Mitteleuropa, Göttingen – Wien 2013 (Wiener Forum für Theologie und Religionswissenschaft 5.1) Rothgangel, Martin/Aslan, Ednan/Jäggle, Martin (Hg.): Religion und Gemeinschaft. Die Frage der Integration aus christlicher und muslimischer Perspektive, Göttingen – Wien 2013 (Religion and Transformation in Contemporary European Society, 3) Jäggle, Martin/Stockinger, Helena: Religionssensible Schulentwicklung : Das Projekt lebens.werte.schule, in: Bertels, Gesa/Hetzinger, Manuel/Laudage-Kleeberg, Regina (Hg.): Interreligiöser Dialog in Jugendarbeit und Schule, Weinheim und Basel 2013, 132 – 140 Polak, Regina/Jäggle, Martin: Diversität und Convivenz. Miteinander Lebensräume gestalten – Miteinander Lernprozesse in Gang setzen, Festschrift für Richard Potz, Wien 2013, i.E. Polak, Regina/Jäggle, Martin: Gegenwart als locus theologicus. Für eine migrationssensible Theologie im Anschluss an Gaudium et spes, in: Jan-Heiner Tück (Hg.): Erinnerung an die Zukunft. Das Zweites Vatikanische Konzil, Freiburg – Basel – Wien 2012, 570 – 598 Jäggle, Martin/Krobath, Thomas: Bildung, Gerechtigkeit und Würde: Kultur der Anerkennung. Ein Beitrag zum Schulentwicklungsdiskurs in Österreich, in: Amt und Gemeinde. Heft 1, 61/2010, 51 – 63 Krobath, Thomas/Jäggle, Martin: Evaluation auf gleicher Augenhöhe. Reflexion auf Schulentwicklung im Dialog zwischen LehrerInnen und LehramtsstudentInnen, in: Schönig, Wolfgang/Baltruschat, Astrid/Klenk, Gerald (Hg.): Dimensionen pädagogisch akzentuierter Schulevaluation, Baltmannsweiler 2010, 167 – 187 Jäggle, Martin: Lebenswerte Schule. Schulpastoral in Österreich, in: Diakonia. Heft 3/ 2010, S. 184 – 189
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Publikationen von Martin Jäggle zur Thematik
Jäggle, Martin/Krobath, Thomas/Schelander, Robert (Hg.), unter Mitwirkung von Strutzenberger, Edda/Bastel, Heribert: lebens.werte.schule. Religiöse Dimensionen in Schulkultur und Schulentwicklung. Wien – Berlin 2009 Jäggle, Martin/Krobath, Thomas/Schelander, Robert: Religiöse Dimensionen in der Schule. Vom scheinbaren Randthema zu zentralen Fragen der Schulentwicklung, in: Jäggle, Martin/Krobath, Thomas/Schelander, Robert (Hg.), unter Mitwirkung von Strutzenberger, Edda/Bastel, Heribert: lebens.werte.schule. Religiöse Dimensionen in Schulkultur und Schulentwicklung. Wien – Berlin 2009, 11 – 22 Jäggle, Martin/Krobath, Thomas: Schulentwicklung für eine Kultur der Anerkennung. Pädagogische, organisationsethische und religionspädagogische Akzente, in: Jäggle, Martin/Krobath, Thomas/Schelander, Robert (Hg.), unter Mitwirkung von Strutzenberger, Edda/Bastel, Heribert: lebens.werte.schule. Religiöse Dimensionen in Schulkultur und Schulentwicklung, Wien – Berlin 2009, 23 – 60 Jäggle, Martin: Religiöse Pluralität als Herausforderung für Schulentwicklung, in: Jäggle, Martin/Krobath, Thomas/Schelander, Robert (Hg.), unter Mitwirkung von Strutzenberger, Edda/Bastel, Heribert: lebens.werte.schule. Religiöse Dimensionen in Schulkultur und Schulentwicklung, Wien – Berlin 2009, 265 – 280 Jäggle, Martin: Pluralitätsfähiger Umgang mit den Anforderungen an den Religionsunterricht, in: Österreichisches Religionspädagogisches Forum 17/2009, 54 – 57 Jäggle, Martin: Anerkennung vor jeder Leistung. Interview mit Martin Jäggle, in: Das Wort. Heft 3/2008, 4 – 5 Jäggle, Martin: Die Schule – ein Ort interreligiöser Verständigung?, in: Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur (Hg.), „… das ginge eigentlich die ganze Welt etwas an!“ Interreligiöser Dialog an österreichischen Schulen, Wien 2008, 5 – 7 Jäggle, Martin: The Task of School in Multireligious Europe, in: Pusztai, Gabriella: Religion and Education III. Education and Church in Central- and Eastern-Europe at First Glance, Budapest 2008, 143 – 151 Jäggle, Martin: Interreligiöses Lernen – römisch-katholisch, in: Verkündigung und Forschung. Heft 1, 52/2007, 19 – 31 Jäggle, Martin: Religiöse Pluralität in Europa – Religionen und Religionslosigkeit, in: Bock, Irmgard/Dichtl, Johanna/Herion, Horst/Prügger, Walter (Hg.): Europa als Projekt. Religiöse Aspekte in einem politischen Kontext, Berlin 2007, 51 – 67 Jäggle, Martin: Schritte auf dem Weg zu einer Kultur gegenseitiger Anerkennung. Religionspädagogische Impulse zum religiösen Lernen in der pluralen Gesellschaft, in: Bastel, Heribert/Göllner, Manfred/Jäggle, Martin/Miklas, Helene (Hg.): Das Gemeinsame entdecken – Das Unterscheidende anerkennen. Projekt eines konfessionellkooperativen Religionsunterrichts, Wien 2006, 31 – 42 Jäggle, Martin: Der christliche Religionsunterricht und die Anderen, in: Katechetische Blätter 131/Heft 2/2006, 131 – 134 Jäggle, Martin: Der christliche Religionsunterricht und die Anderen, in: Essmann, KarlRichard/Mayerhofer, Erhard (Hg.): Leben im Gespräch. Impulse für eine zeitgemäße Religionspädagogik, Wien 2006, 135 – 154 Jäggle, Martin: „Ich bin Jude, Moslem, Christ …“ Impulse für eine Didaktik interreligiösen Lernens. Ein Erfahrungsbericht aus Wien, in: Religionsunterricht an höheren Schulen 49/2006 211 – 214
Publikationen von Martin Jäggle zur Thematik
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Jäggle, Martin: Interkulturelle Kommunikation, in: European Journal of Mental Health 1/ Heft 1 – 2/2006, 73 – 89 Jäggle, Martin: (Religiöse) Verschiedenheit lebbar und beherrschbar machen. Die Prioritäten des Instituts für Religionspädagogik und Katechetik der Universität Wien, in: Christlich Pädagogische Blätter 119/2006 144 – 145 Jäggle, Martin: Interreligiöses Lernen als Unterrichtsprinzip, in: Katechetische Blätter, Heft 6, 127/2002, 406 – 409 Jäggle, Martin: Wie nimmt Schule kulturelle und religiöse Differenz wahr? Grundsätzliche Vorbemerkungen und Einblick in ein Forschungsprojekt in Wien, in: Porzelt, Burkard/ Güth, Ralph (Hg.): Empirische Religionspädagogik. Grundlagen – Zugänge – Aktuelle Projekte, Münster 2000 (= Empirische Theologie 7), 119 – 138
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Altmeyer, Stefan: PD Dr., Seminar für Religionspädagogik, religiöse Erwachsenenbildung und Homiletik, Katholisch-Theologische Fakultät, Universität Bonn Aslan, Ednan M.A.: Univ.-Prof. Dr., Leiter des Instituts für Islamische Studien am Institut für Bildungswissenschaft, Universität Wien Bastel, Heribert: Mag. Dr., Institutsleiter Sekundarstufenpädagogik (Aus- und Weiterbildung), Pädagogische Hochschule Oberösterreich Breinbauer, Ines: Univ.-Prof.in Mag.a Dr.in, Institut für Bildungswissenschaft, Universität Wien Habringer-Hagleitner, Silvia: Univ.-Doz.in Dr.in, Assistentin, Institut für Katechetik, Pädagogik und Religionspädagogik, Katholisch-Theologische Privatuniversität Linz Hödl, Hans Gerald: ao. Univ.-Prof. Mag. Dr., Vizedekan der Katholisch-Theologischen Fakultät, Studienprogrammleiter, Institut für Religionswissenschaft, KatholischTheologische Fakultät, Universität Wien Homolka, Walter: Rabbiner Professor Dr., Berlin, Rektor des Abraham-Geiger-Kollegs für die Ausbildung von Rabbinerinnen und Rabbinern an der Universität Potsdam und Honorarprofessor an deren Philosophischer Fakultät Jackson, Robert: Research Consultant to and former Director of Warwick Religions and Education Research Unit at Warwick University (UK); Professor of Religious Diversity and Education at the European Wergeland Centre, Oslo (Norway) Kneucker, Raoul F.: Honorarprofessor Dr., Wien, Sektionschef i.R. für wissenschaftliche Forschung und internationale Angelegenheiten im Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur, Oberkirchenrat i. R. für juristische Angelegenheiten der Evangelischen Kirche A.B. in Österreich Kohler-Spiegel, Helga: Dr.in Prof.in, Institut für Bachelor Studiengänge, Schulpraktische Studien und Praxisschulen, Pädagogische Hochschule Vorarlberg Krobath Thomas: Dr., Vizerektor der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien/ Krems, Lektor an der Universität Wien Lehner-Hartmann Andrea: ao. Univ.-Prof.in Mag.a Dr.in, Privatdozentin, stv. Vorständin, Institut für Praktische Theologie, Religionspädagogik und Katechetik, KatholischTheologische Fakultät, Universität Wien Mette, Norbert: em. Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c., Institut für Katholische Theologie, Fakultät Humanwissenschaften und Theologie, Technische Universität Dortmund
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Miklas, Helene M.Ed.: Mag.a Dr.in Prof.in, Institut für Ausbildung von LehrerInnen Wien, Kirchliche Pädagogische Hochschule Wien/Krems, Vizerektorin i.R. Mitropoulou, Mourka Vasiliki: Assistant Professor, School of Theology, Faculty of Theology, Aristotle University of Thessaloniki, Greece Muchová, Ludmila: Ph.D., Institutsvorständin, Lehrstuhl für Pädagogik, Theologische Fakultät, Südböhmische Universität Polak, Regina: Associate Prof.in MMag.a Dr.in, MAS, Institut für Praktische Theologie, Pastoraltheologie und Kerygmatik, Katholisch-Theologische Fakultät, Universität Wien Prettenthaler, Monika: Mag.a Dr.in, Institut für Katechetik und Religionspädagogik, Katholisch-Theologische Fakultät, Universität Graz Reikerstorfer, Johann: em. Univ.-Prof. DDr., Institut für Systematische Theologie, Katholisch-Theologische Fakultät, Universität Wien Roebben, Hubertus (Bert): Univ.-Prof. Dr., Institut für Katholische Theologie, Fakultät für Humanwissenschaften und Theologie, Technische Universität Dortmund Scharer, Matthias: o. Univ.-Prof. Dr., Leiter des Fachbereichs Katechetik/Religionspädagogik und Fachdidaktik, Institut für Praktische Theologie, Katholisch-Theologische Fakultät, Universität Innsbruck Schelander, Robert: ao. Univ.-Prof. Mag. Dr., stv. Vorstand des Instituts für Religionspädagogik, Studienprogrammleiter, Evangelisch-Theologische Fakultät, Universität Wien Schnabl, Christa: ao. Univ.-Prof.in Mag.a Dr.in, Vizerektorin der Universität Wien Schönig, Wolfgang: Prof. Dr., Lehrstuhl für Schulpädagogik, Philosophisch Pädagogische Fakultät, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt Strutzenberger-Reiter, Edda: Dr.in, Institut für Praktische Theologie, Religionspädagogik und Katechetik, Katholisch-Theologische Fakultät, Universität Wien Weirer, Wolfgang: ao. Univ.-Prof. Mag. Dr., Institut für Katechetik und Religionspädagogik, Katholisch-Theologische Fakultät, Universität Graz